Verhängnis und Verheißung der Geschichte: Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im vierten Buch Esra und in der syrischen Baruchapokalypse 9783666532160, 9783525532164

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Verhängnis und Verheißung der Geschichte: Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im vierten Buch Esra und in der syrischen Baruchapokalypse
 9783666532160, 9783525532164

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Wolfgang Harnisch Verhängnis und Verheißung der Geschichte

WOLFGANG

HARNISCH

Verhängnis und Verheißung der Geschichte Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syr. Baruchapokalypse

G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1969

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Ernst Käsemann und Ernst Würthwein 97. Heft der ganzen Reihe

G e d r u c k t m i t U n t e r s t ü t z u n g der S t i f t u n g V o l k s w a g e n w e r k u n d des M a r b u r g e r U n i v e r s i t ä t s b u n d e s U m s c h l a g : Christel S t e i g e m a n n . — © Vandenhoeck & R u p r e c h t . G ö t t i n g e n 1969. — P r i n t e d i n G e r m a n y . — O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es n i c h t gestattet, das Buch oder T e i l e daraus auf foto- oder akustomechanischem W e g e zu vervielf ä l t i g e n . G e s a m t h e r s t e l l u n g : H u b e r t & Co., G ö t t i n g e n .

VORWORT Die vorliegende Untersuchung ist unter gleichem Titel im November 1967 von der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen worden. Für den Druck wurde sie bearbeitet und geringfügig gekürzt. Aufrichtig danken möchte ich an dieser Stelle meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor D. Ernst Fuchs, der mich zum Studium apokalyptischer Texte ermutigte, die Arbeit anregte und ihr reichliche Förderung zuteil werden ließ. Für Rat und Kritik bin ich Herrn Professor Dr. Otto Kaiser, für hilfreiche Hinweise Herrn Professor Dr. Werner Georg Kümmel zu Dank verpflichtet. Mein Dank gilt auch den Herren Professoren D. Ernst Würthwein und D. Ernst Käsemann sowie dem Verlag für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der .Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments'. Die Drucklegung wurde durch die großzügige Unterstützung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, der Stiftung Volkswagenwerk, des Marburger Universitätsbundes und des Herrn Verwaltungsdirektors der Philipps-Universität ermöglicht. Den genannten Gremien habe ich ebenso zu danken wie der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mir nach dem Vikariat zur Fortsetzung des Studiums verhalf. Beim Lesen der Korrekturen waren mir Herr Dr. theol. Norbert Schneider und Herr Dr. theol. Gerd Schunack behilflich. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Wehrda, im Dezember 1968

INHALT Vorerwägungen I. Die Aufgabe II. Zur Quellenjage A. Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik I. Die Problemstellung in 4Esr 1. Die Frage nach der Verläßlichkeit des Wortes Gottes . . . Exkurs I: Traditionsgeschichtliche Bemerkungen zur Struktur der Volksklagelieder in 4Esr 2. Die Universalität der Sünde und das Problem der Verheißung 3. Zusammenfassung 4. Erwägungen zur literarischen Absicht des Verfassers (Die Frage nach dem eigentlichen Subjekt der Äußerungen des Visionärs) Exkurs II: Der Verhängnisgedanke in ApkMos und VitAd II. Die Problemstellung in sBar B. Der apokalyptische Geschichtsentwurf Erster Hauptteil: Die Zwei-Äonen-Lehre (Der apokalyptische Dualismus) I. Der Begriff ,01am' und seine Verwendung in 4Esr und sBar (Semasiologische Voruntersuchung) II. Die Geschichte als die unheilvolle Zeit dieses Äons 1. Die Rückführung der Geschichte auf den Fall Adams . . . 2. Die Konfrontation der Geschichte mit dem Eschaton . . . 3. Die Zeit dieses Äons als Geschichtsobjektivation III. Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung 1. Die antispekulative Funktion der Lehre vom Gesetz . . . a) in der Esraapokalypse aa) Der Nachweis der Unentschuldbarkeit der Sünder bb) Die Aussagen über den ,bösen Trieb' cc) Die abschließende Zurechtweisung Esras durch den Offenbarungsengel

9 9 15 19 19 19 20 42 58

60 68 72 89 89 90 106 106 120 131 142 142 142 146 165 175

8

Inhalt

b) in der syr. Baruchapokalypse aa) Die Fassung der Vergeltungslehre in sBar 15,1-8 bb) Der Nachweis der Rechtmäßigkeit des göttlichen Gerichts cc) Die Deutung des adamitischen Falls sBar 54,14f.l9 dd) Das eschatologische ,ius talionis' ee) Der Verweis auf Dt 30,19 ff) Die Paränesen Baruchs gg) Die paränetischen Abschnitte in der Ep. Bar. . . . 2. Die Gerechten als Adressaten des künftigen Äons

178 180 188 194 198 201 208 215 222

IV. Das dialektische Verständnis der Geschichte in 4Esr und sBar (Zusammenfassung)

240

Zweiter Hauptteil: Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs (Der apokalyptische Determinismus)

248

I. Die Funktion der , Geschichtsapokalypsen' in 4Esr und sBar 1. Die Adlervision (4Esr 11,1-12,35) 2. Die Zedernvision (sBar 36-40) 3. Die Wolkenvision (sBar 53-74)

249 250 257 260

II. Die Neutralisierung der Naherwartung durch den Gedanken der Determination der Zeit 1. Die Behandlung der Frage nach dem eschatologischen Termin 4Esr 4,33-43 a) Bemerkungen zum rückwärtigen Kontext (4Esr 4,26-32) b) Die Vorstellung von der prästabilierten Zahl der Gerechten und die Theorie vom Maß der Zeit c) Die Behauptung der Unaufhaltsamkeit der eschatologischen Wende 2. Die Apologie der Zeitenfolge 4Esr 5,41-49 3. Dieser Äon als notwendiges Durchgangsstadium (4Esr 6,59-7,16) 4. Die theozentrische Zeitauffassung in sBar 5. Ergebnisse

268 270 270 276 288 293 302 306 318

C. Schlußbetrachtung

323

Abkürzungsverzeichnis

329

Literaturverzeichnis

331

Stellenregister

349

VORERWÄGUNGEN

I. Die Aufgabe Das Phänomen der Apokalyptik beansprucht seit einiger Zeit wieder in gesteigertem Maße die Aufmerksamkeit der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft. Die Frage nach dem Wesen, der Herkunft und Geschichte apokalyptischen Denkens im nachexilischen Judentum steht erneut im Vordergrund des theologischen Interesses. Eine zufriedenstellende Lösung der damit zusammenhängenden Probleme scheint heute indessen ebensowenig in greifbare Nähe gerückt wie auch nur eine allgemein anerkannte Klärung des Begriffs der Apokalyptik. „Was Apokalyptik ist, ist umstritten." 1 Zwar besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß man zwischen dem apokalyptischen Schrifttum, einer bestimmten Art von Offenbarungsliteratur, und den apokalyptischen Vorstellungen, zwischen Apokalyptik im Sinne einer literarischen Erscheinung und Apokalyptik im Sinne „eines theologisch-weltanschaulichen Phänomens" 2 zu unterscheiden habe 3 . Kontrovers ist jedoch bereits die Frage, welche Schriften im einzelnen als apokalyptisch zu bezeichnen und der apokalyptischen Literatur zuzurechnen sind 4 . Die Suche nach einem eindeutigen Ordnungsmerkmal ist vor allem dadurch erschwert, daß sich die apokalyptischen Bücher — als literarische Einheiten betrachtet — einer präzisen formgeschichtlichen Bestimmung entziehen: „Entgegen immer wieder auftauchenden Behauptungen muß betont werden, daß die Apokalyptik in literarischer Hinsicht keine besondere ,Gattung' repräsentiert. Sie ist im Gegenteil in formgeschichtlicher Hinsicht ein mixtum compositum, das überlieferungsgeschichtlich auf eine sehr komplizierte Vorgeschichte schließen läßt."® Angesichts der schon bei der Sichtung des Quellenmaterials auftretenden Schwierig1 H. D. BETZ, Zum Problem des religionsgeschichtlichen Verständnisses der Apokalyptik, ZThK 63/1966, 392. 2 G. v. RAD, Theologie des Alten Testaments, Bd. II, 4. Aufl. 1965, S. 316. 8 Vgl. H. R I N G G R E N , R G G 3 1 , 4 6 4 ; Ph. V I E L H A U E R , Die Apokalyptik, bei

HENNECKE3, B d . I I , 4 0 8 ; D . RÖSSLER, G e s e t z u n d G e s c h i c h t e , S . 4 3 . 4 V g l . n u r H . R I N G G R E N , e b d . , m i t D . RÖSSLER, a . a . O . S . 4 3 f . D . RÖSSLER -wird von W. G. K Ü M M E L der Einwand geltend gemacht,

Gegen

daß er „die Quellen für unsere Kenntnis der Apokalyptik willkürlich beschränkt" (Jesus und Paulus, in: Heilsgeschehen und Geschichte, GA 1933-1964, S. 450). 5 G. v. RAD, a.a.O. S. 330 Anm. 28.

10

Yorerwägungen

keiten nimmt nicht wunder, daß auch die Ansichten über den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Apokalyptik, über ihre Beziehungen zur Prophetie und weisheitlichen Überlieferung, über die Träger apokalyptischer Denkweise und ihre Stellung zur essenischen Bewegung, zum Rabbinismus und zur Qumrangemeinschaft z. T. stark voneinander abweichen. Ebenso divergent sind die Auffassungen darüber, was sachlich als Leitgedanke apokalyptischer Theologie zu gelten hat, welche Tendenzen und Motive als typisch apokalyptisch zu bezeichnen sind1. In Anbetracht dieser Sachlage scheint es wenig geraten, dem Widerstreit der Meinungen auf den Grund zu gehen, ohne die Quellen selbst zu Wort kommen zu lassen. Da nun aber die gegenwärtige Auseinandersetzung um die Apokalyptik insonderheit dadurch belastet ist, daß Texte verschiedenen Alters und ungleichartigen Gepräges angeführt und als Beleg dieser oder jener Gesamtauffassimg in Anspruch genommen werden, empfiehlt es sich, die Quellenauswahl von vornherein zu begrenzen. Wie CTTLLMAITN ZU Recht feststellt, leidet die „neuerdings geführte Diskussion über die positive oder negative Bewertung der Apokalyptik . . . darunter, daß in dieser Hinsicht zwischen den einzelnen Apokalypsen überhaupt nicht unterschieden wird"2. Der damit indirekt geltend gemachten Forderung nach einer differenzierteren Fragestellung sucht die vorliegende Abhandlung dadurch zu entsprechen, daß sie bewußt auf eine umfassende Erörterung der apokalyptischen Theologie verzichtet und sich mit der Untersuchung zweier ähnlich geformter und sachlich benachbarter Apokalypsen begnügt, die zudem allem Anschein nach ungefähr ein und derselben Zeit und wohl auch dem gleichen Milieu entstammen. Wenn auch eine genaue Datierung beider Bücher nicht 1 Zur neueren Diskussion vgl. insbesondere S. B. FBOST, Old Testament Apocalyptic; H. H. ROWLEY, The Relevance of Apocalyptic, 3. Aufl. 1963; 0.PLÖGER, Theokratie und Eschatologie; G.V.RAD, Theologie des AT, Bd. I I , 1. Aufl. 1960, S.31^328; Neufassung des Abschnitts in der 4. Aufl. 1965, S. 315337; D. RÖSSLEB, Gesetz und Geschichte; Ph. VIELHATTER, beiHennecke 3 ,Bd.H, 408ff.; R. BULTMANN, Geschichte und Eschatologie, S. 30ff.; R. SCHNACKENBTJBG, Gottes Herrschaft und Reich, S. 23-47; D. S. RUSSELL, The Method and Message of Jewish Apocalyptic; W. PANNENBEBG (R. RENDTORIT, U. WILCKENS, T. RENDTOUFF), Offenbarung als Geschichte, 2. Aufl. 1963; J. MOLTMAIW, Theologie der Hoffnung, 4. Aufl. 1965, S. 120ff.; F.HAHN, Christologische Hoheitstitel, S. 142ff.; S. SCHULZ, Komposition und Herkunft der Johanneischen Reden, S. 151 ff.; K. SCHUBERT, Das Zeitalter der Apokalyptik, in: SEINE Rede geschah zu mir. Einübung in das Alte Testament, S. 461ff.; — E. KÄSEMANH", Die Anfänge christlicher Theologie, in: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. II, S. 82 ff.; DEBS., Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, ebd. S. 105ff.; G. EßELING, Der Grund christlicher Theologie, ZThK 58/1961, 227ff.; E.PUCHS, Über die Aufgabe einer christlichen Theologie, ebd. 245ff.; P. STUHLMACHEB, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, S. 145ff.; O. CULLMANN, Heil als Geschichte (bes. S. lOff. 61fF.). 2 Heil als Geschichte, S. 63.

11

Die Aufgabe

möglich ist, läßt sich mit Sicherheit sagen, daß sie nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. verfaßt wurden. Das 4.Esrabuch (4Esr) entstand wahrscheinlich gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, die syrische Baruchapokalypse (sBar) vermutlich einige Zeit später, sicher aber vor dem Beginn des BarKochbaAufstandes1. Beide Schriften, die als Dokumente der Spätphase apokalyptischen Denkens anzusehen sind, sollen im folgenden im Blick auf das in ihnen zur Geltung kommende Zeit- und Geschichtsverständnis untersucht werden. Die Wahl dieser Fragestellung, die eine thematische Behandlung der in 4Esr und sBar dominierenden Problemkreise erlaubt und dazu nötigt, die hier wie dort vertretene Gesamtanschauung und Denkrichtung zu erörtern, ist nicht zuletzt durch die gegenwärtige Diskussionslage mitveranlaßt. In seiner Studie über „Gesetz und Geschichte"2 hat R Ö S S L E R ebenfalls die Frage nach der apokalyptischen Geschichtsauffassung aufgeworfen und nachzuweisen versucht, daß die Apokalyptik im Unterschied zur angeblich ungeschichtlich denkenden pharisäischen Orthodoxie den Entwurf „einer universalen Theologie der Geschichte" zur Geltung bringe, „die zum Bezugssystem und zur Grundlage für das Verständnis des Menschen und für die Interpretation von Sünde und Gerechtigkeit werden konnte"3. 1 Vgl. VIOL. I I , X L I X f . X C I f f . ; Ch. SIGWALT, Die Chronologie des 4. Buches Esdras, BZ 9/1911, 146ff.; O. P L Ö G E R , R G G s I I , 699; D E R S . , R G G 3 1, 902; O. EISSFELDT, Einleitung in das Alte Testament, 3. Aufl. 1964, S. 848f. 852f. Die Annahme, daß zwischen 4Esr u n d sBar literarische Beziehungen vorauszusetzen sind, läßt sich auf Grund der augenfälligen Verwandtschaft beider Apokalypsen nicht von der H a n d weisen (vgl. VIOL. I I , L X X X I f f . ) . U m s t r i t t e n ist allerdings die Frage, welcher der beiden Schriften die Priorität z u k o m m t

(vgl.

den

Forschungsbericht

V . RYSSELS,

bei

E . KAUTZSCH,

A P I I , 405ff.).

Die vor allem von E . S C H U B E R (Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter J e s u Christi, 4. Aufl., Bd. I I I , S . 309if.), J . W E L L H A U S E N (Zur apokalyptischen Literatur, i n : Skizzen u n d Vorarbeiten VI, S. 248f.) u n d V. R Y S S E L (a.a.O.) erwogene Lösung, nach der sBar vor 4 E s r anzusetzen ist, scheint heute k a u m noch Anklang zu finden. Man rechnet vielmehr weitgehend mit der Priorität der Esraapokalypse: „ D a Baruch einen viel unselbständigeren Eindruck macht als I V Esra, wird Baruch als der abhängige Teil zu beurteilen sein." (O.EISSFELDT, a . a . O . S . 8 5 3 ; e b e n s o H . GTJNKEL, b e i E . K A U T Z S C H , A P I I , 3 5 1 ; R . H . P F E I F F E R , History of New Testament Times, S . 89f.; O. P L Ö G E R , R G G ' I ,

902; A.WEISER, Einleitung in das Alte Testament, 6. Aufl. 1966, S. 381 f.) Diese Auffassung verdient sicher den Vorzug, obwohl die f ü r die Priorität von 4 E s r vielfach geltend gemachten Sachargumente — wie noch zu zeigen sein wird — auf einer Fehleinschätzung bestimmter Einzelaussagen beruhen u n d d a r u m nicht stichhaltig sind. Man wird ferner in Rechnung stellen müssen, daß beide Schriften „gemeinsames Traditionsgut verwertet haben, so z.B. die Antiquitates Biblicae des Pseudo-Philo" (A. WEISER, ebd. S. 383). 2 Untersuchungen zur Theologie der jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie (WMANT 3), 1960. 3 E b d . S. 112.

12

Vorerwägungen

Die „knappe und vereinfachende, aber in gewissem Sinne immerhin suggestive Arbeit" RÖSSLEBS 1 fordert insofern zu einer kritischen Stellungnahme heraus, als sie die apokalyptischen Texte zu einflächig behandelt und bei der Auswertung des Quellenmaterials viel zu pauschal verfährt. R Ö S S L E R befaßt sich im zweiten Hauptteil seiner Untersuchung 2 vornehmlich mit drei apokalyptischen Büchern: dem äthiopischen Henochbuch, dem 4. Buch Esra und der syr. Baruchapokalypse, ohne den unterschiedlichen historischen Ort und den verschiedenen Charakter dieser Schriften in Rechnung zu stellen. Seine Absicht besteht darin, die „Bindung dieser Texte an eine gemeinsame Grundkonzeption" 3 herauszuarbeiten und die theologische Vorstellungswelt und Denkrichtung der angeblich allen drei Schriften zugrunde liegenden „apokalyptische(n) Tradition" 4 zu eruieren. Die „Frage nach der jeweils besonderen Ausprägung der Tradition in den einzelnen Texten, also nach ihrer Geschichte", wird als zweitrangig ausgeschaltet: Zwar darf die „Tatsache einer gemeinsamen Grundkonzeption der apokalyptischen Texte . . . nicht darüber täuschen, daß ebendiese Konzeption in jedem Text unter ihm spezifisch eigenen Gesichtspunkten und in einem je besonderen Zusammenhang verarbeitet worden ist. Die Frage nach der apokalyptischen Tradition muß aber gerade ganz bewußt das jeweils Eigene des Textes ausklammern und zurückstellen. Das Recht dazu bedarf keiner Begründung. Die gemeinsame Überlieferung muß erst bekannt sein, bevor das Eigene gerade von daher erfaßt werden kann." 6 Es fragt sich jedoch, ob die Existenz einer dem Einzeltext vorgegebenen apo1

Charakteristik O. CULLMANNS (a.a.O. S. 42). Die Untersuchung D. R Ö S S hat vielfach Zustimmung erfahren; vgl. z . B . U. W I L C K E N S , Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, in: Offenbarung als Geschichte, S. 46 ff.; DEBS., Die Bekehrung des Paulus als religionsgeschichtliches Problem, ZThK 56/1959, 282ff.; DEBS., ThW VII, 503f.; W. LEBS

SCHMITHAIS,

Paulus

und

Jakobus,

S. 15 A n m . 3 ;

L . MATTEBN,

Das

Ver-

ständnis des Gerichtes bei Paulus, S. 9ff.; O. BÖCHEB, Der johanneische Dualismus im Zusammenhang des nachbiblischen Judentums, 8. 161 f. — Zur Kritik der Position D. R Ö S S L E B S ist jetzt auf die ausführliche Stellungnahme von A. NISSEN, Tora und Geschichte im Spätjudentum (NovTest IX/1967, 241-277) aufmerksam zu machen (doch vgl. schon W. G. KÜMMEL, Jesus und Paulus, a.a.O. S. 450; Ph. VIELHADEB, bei HENNECKE3, Bd. II, 416f.; A. STBOBEL, Die apokalyptische Sendung Jesu, S. 36ff.; DEBS., Kerygma und Apokalyptik, S. 126ff.; J. MAIEB, Die Vorstellung v o m Gottesvolk in der nachtalmudischen Zeit, Judaica 22/1966, 70 Anm. 17; B. GEBHARDSSON, Memory and Manuscript, S. 20 Anm. 1; W. R. MUBDOCK, History and Revelation in Jewish Apocalypticism, Interpretation XXI/1967, 167ff.). 2 Vgl. a.a.O. S. 43ff. 8 Ebd. S. 44. 4 Ebd. — Der Begriff ist im Sinne D. RÖSSLEBS nicht auf das in den Apokalypsen verarbeitete traditionelle Material, sondern auf die sich in den genannten Schriften angeblich durchhaltende gedankliche Grundkonzeption (die Dogmatik der apokalyptischen Theologie) zu beziehen. 5 A.a.O. S. 44.

Die Aufgabe

13

kalyptischen Tradition überhaupt nachgewiesen werden kann, ohne daß gleichzeitig die Frage nach der Stellung und dem Gewicht dieser ,Tradition' in der jeweiligen Apokalypse aufgeworfen und erörtert wird. RÖSSLER stellt eine Reihe gleichartiger Einzelaussagen und Vorstellungskomplexe zusammen, ohne sich in jedem Fall darüber Rechenschaft abzulegen, ob diese als Bestandteile einer apokalyptischen Tradition ausgegebenen Elemente überhaupt ohne weiteres aus dem vorliegenden Zusammenhang gelöst werden können und inwiefern gerade sie als typisch ,apokalyptisch' zu gelten haben. Ist es erlaubt, einzelne, „unter systematischen Gesichtspunkten" 1 ausgewählte und gruppierte Aussagen einer bestimmten Tradition zuzuweisen, ohne daß die zwischen diesen Aussagen z. T. unverkennbar bestehende sachliche Spannung in Betracht gezogen wird? Setzt die Interpretation bestimmter Abschnitte aus 4Esr und sBar nicht voraus, daß die sich aus der dialogischen Form beider Apokalypsen ergebenden Auslegungsschwierigkeiten bedacht und zureichend geklärt sind? Diese Fragen werden von RÖSSLER entweder nur beiläufig in Blick genommen oder bewußt überspielt 2 . Die Problematik seiner Arbeitsweise beruht auf ihrer Einseitigkeit. Er hätte die traditionsgeschichtliche Fragestellung mit der redaktionsgeschichtlichen verbinden und seine Argumentation von daher ständig auf ihre Stichhaltigkeit und Beweiskraft überprüfen müssen. Um der Einebnung der Texte, wie sie z.B. durch die genannte Monographie RÖSSLERS heraufbeschworen wurde, entgegenzuwirken, orientieren wir unsere Untersuchung im folgenden an der Frage nach der literarischen Absicht, welche die Verfasser von 4Esr und sBar verfolgen. Wir suchen also — anders als RÖSSLER — gerade das hinter der Einzelapokalypse als ganzer stehende besondere Sachanliegen zu ermitteln, um innerhalb dieses Rahmens der sich in den Texten überall aufdrängenden, in der Tat zentralen Frage nach dem apokalyptischen Verständnis von Zeit und Geschichte nachzugehen. Die Fachwörter ,Apokalyptik', ,apokalyptisch' werden im folgenden als Hilfsbegriffe verwendet und dienen ausschließlich zur Kennzeichnung derjenigen theologischen Konzeption, welche die Verfasser von 4Esr und sBar zur Geltung zu bringen suchen. Wir gehen also von der seit GTTNKEL und VIOLET fast allgemein anerkannten Voraus1

Ebd. D. R Ö S S L E R sieht sieh zwar gezwungen, in einem am Schluß angefügten Exkurs wenigstens am Rande auf das „spezielle Problem des Gesetzes im IV. Esra" einzugehen (vgl. a.a.O. S. 106ff.). Doch tritt gerade hier die Unzulänglichkeit seiner Arbeitsweise zutage (zur Kritik muß auf die folgenden Ausführungen verwiesen werden; siehe bes. unten S. 66 Anm. 1 und S. 152 Anm. 2). 2

14

Vorerwägungen

setzung der Einheitlichkeit beider Schriften aus1, ohne damit leugnen zu wollen, daß hier wie dort ältere Traditionen verschiedener Herkunft und ganz unterschiedlichen Alters verarbeitet wurden. Die lange Zeit vorherrschende Annahme, beide Apokalypsen seien das Werk einer sekundären Redaktion, die verschiedene, ursprünglich selbständige Quellenstücke kompiliert und mit mehr oder weniger Erfolg einander angeglichen habe2, ist — weil sie „die eigentümliche Überlieferungsform apokalyptischen Schrifttums (verkennt)"3 — immer stärker auf Ablehnung gestoßen. Weitgehend besteht Übereinstimmung darüber, daß der „kompendienartige Charakter"4 der beiden Apokalypsen derartige Teilungshypothesen verbietet. In Anbetracht dieses Sachverhalts erscheint es als berechtigt, die Frage nach dem sich in 4Esr und sBar abzeichnenden Zeit- und Geschichtsverständnis an der beiden Schriften zugrunde liegenden Gesamtkonzeption zu orientieren, durch welche die z. T. disparaten Einzelstoffe umspannt und zusammengehalten werden5. Dieses Arbeitsvorhaben macht freilich umfangreiche und eingehende Analysen der Einzeltexte erforderlich; denn die literarische und theologische Intention der Apokalyptiker läßt sich nur dann aufspüren, wenn man den Stellenwert der Einzelaussage innerhalb des Gesamtentwurfs genau beachtet, den Sachzusammenhang und das Textgefälle berücksichtigt und die Zielsetzung der jeweiligen Gedankenbewegung ins Auge faßt. Die Art der Aufgabenstellung nötigt ferner dazu, eine Reihe weiterer Problemkreise in die Erörterung einzubeziehen, die indirekt mit der ausdrücklich thematisierten Sachfrage zusammenhängen. Dabei handelt es sich insonderheit um das Problem des apokalyptischen Verständnisses der Verheißung und ihrer Adressaten, um die Frage nach der Auffassung von Sünde und Gesetz, Leben und 1 Zur Auffassung der Einheitlichkeit von 4Esr vgl. (u.a.) H . GTOTKEL, bei E. KAUTZSCH, A P II, 350f. (,,. . . daß das Buch durch einen ganz elenden Redaktor zusammengeschustert worden sei, ist eine Mißhandlung der schönen Schrift" [ebd. 351]); VIOL. II, X L I I f f . ; H. H . ROWLEY, a.a.O. S. 156ff.;

O . PLÖGER, R G G 3 I I , 6 9 8 ; A . W E I S E R , a . a . O . S . 3 8 0 — z u s B a r v g l . VIOL. I I ,

L X X V f f . ; H . H . ROWLEY, a.a.O. S. 157ff.; O. PLÖGEB, RGG 3 I, 902;A.WEISER, a.a.O. S. 383. 2 Vgl. vor allem R. KABISCH, Das vierte Buch Esra auf seine Quellen untersucht; E. DE FAYE, Les apocalypses juives, S. 155ff.; B o x , bei R. H. CHABLES, A P II, 549ff.; C. C. TORREY, The Apocryphal Literature, S. 116ff.; — R . KABISCH, Die Quellen der Apokalypse Baruchs, J p T h XVIII/1892, 66ff.; E . DE FAYB, a.a.O. S. 192ff.; R.H.CHARLES, The Apocalypse of Baruch, S. L U I f f . ; DEBS., bei R. H . CHARLES, A P II, 474ff. — siehe die Tabelle V . RYSSELS, b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 4 0 8 . 8

O. PLÖGEB, R G G 3 1 , 902. * O. PLÖGER, R G G 3 I I , 698. 6

Vgl. F . C. BURKITT, Jewish and Christian Apocalypses, S . 41 f.; J . W E L L Zur apokalyptischen Literatur, a.a.O. S. 233f.; E. BRANDENBURGER, Adam und Christus, S. 27 ff. 54£f.

HAUSEN,

15

Zur Quellenlage

Tod, Heil und Verderben, schließlich um den durch das Stichwort ,Naherwartung' angezeigten Sachverhalt. Wir suchen im folgenden zunächst die hinter 4Esr und sBar stehende Fragestellung zu erfassen (Abschnitt A), um uns dann dem in beiden Apokalypsen zur Geltung gebrachten Geschichtsentwurf selbst zuzuwenden (Abschnitt B). Der erste Hauptteil dieses Abschnitts gilt einer Untersuchung des apokalyptischen Dualismus. Dort soll die Bedeutung und Funktion der Zwei-Äonen-Lehre innerhalb des apokalyptischen Denkens erörtert werden. Der zweite Hauptteil richtet sich auf den apokalyptischen Determinismus und behandelt die Theorie von der Nezessität des Zeitablaufs.

II. Zur Quellenlage Jede Untersuchung, die sich mit dem 4. Buch Esra und der syr. Baruchapokalypse auseinandersetzt, hat von vornherein dem Tatbestand Rechnung zu tragen, daß beide Schriften nicht in ihrer Originalfassung greifbar sind. Bei den vorliegenden Texten beider Apokalypsen handelt es sich durchweg um Sekundärübersetzungen. Diese gehen hier wie dort auf verschollene griechisch geschriebene Vorlagen zurück, die allem Anschein nach wiederum selbst jeweils die Wiedergabe einer wohl in Palästina entstandenen semitischen Urschrift darstellen1. Das 4. Esrabuch ist in einer lateinischen, 1 Die A n n a h m e , d a ß die vorliegenden Versionen v o n 4 E s r (über eine griech. Mittelstufe) auf eine semitische U r s c h r i f t z u r ü c k z u f ü h r e n sind, h a t sich in neuerer Zeit m e h r u n d m e h r durchgesetzt. U m s t r i t t e n ist allerdings die F r a g e , o b d a s Original in hebräischer oder aramäischer Sprache v e r f a ß t war. Die e r s t g e n a n n t e Möglichkeit w u r d e u. a. zunächst v o n J . WELLHAUSEN (Zur apok a l y p t i s c h e n L i t e r a t u r , a . a . O . S. 234FF.; vgl. aber ebd. S. 234 A n m . 3);

H . GTTNKEL ( b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 3 3 ) ; B o x

( b e i R . H . CHARLES, A P I I ,

547ff.) u n d VIOLET (I, X I I I ; I I , XXXIFF.) erwogen. F ü r die zweite Möglichkeit (die s p ä t e r a u c h v o n J . WELLHAUSEN bevorzugt wird [vgl. E i n l e i t u n g in die drei ersten Evangelien, 2. Ausg. 1911, S. 124 A n m . 1]) plädieren v o r allem L. GRY (Les dires p r o p h é t i q u e s d ' E s d r a s [IV. Esdras], I , XXIIIFF.); C. C. TORREY (vgl. a . a . O . S. 122); R . H . PFEIFFER, a . a . O . S. 8 1 u n d

J.BLOCH

(The Ezra-Apocalypse W a s it w r i t t e n in H e b r e w , Greek or Aramaic, J Q R X L V I I I , 1957/58, 279ff.; DERS., W a s T h e r e a Greek Version of t h e Apocalypse of E z r a ? , J Q R X L V I , 1955/56, 309ff.; BLOCH bezweifelt allerdings k a u m zu R e c h t die A n n a h m e einer griech. Zwischenstufe). F . ZIMMERMANN (Underlying D o c u m e n t s of I V E z r a , J Q R L I , 1960/61, 107ff.) v e r m u t e t , d a ß 4 E s r auf eine hebr. G r u n d s c h r i f t zurückgeht, die zunächst ins Aramäische, d a n n ins Griechische u n d schließlich ins Lateinische übersetzt w u r d e (vgl. die Z u s a m m e n fassung ebd. 133f.). D a s in F r a g e stehende P r o b l e m k a n n i m R a h m e n dieser Arbeit n i c h t weiter verfolgt werden. „ A m wahrscheinlichsten ist i m m e r n o c h , d a ß die sprachliche Entwieklungslinie v o m Hebräischen über das Griechische z u m Lateinischen g e f ü h r t h a t . . ." (W. SCHRÄGE, Die Stellung zur W e l t bei Paulus, E p i k t e t u n d in der Apokalyptik, Z T h K 61/1964, 140 A n m . 37; ebenso O. PLÖGER, R G G 3 I I , 697 f . ; O. EISSFELDT, a . a . O . S. 849; A.WEISER, a . a . O .

16

Vorerwägungen.

syrischen, äthiopischen, armenischen, ferner in zwei arabischen und in einer altgeorgischen Übersetzung erhalten. Außerdem existieren Fragmente einer saidischen Version (4Esr 13,29-46). Die genannten Textzeugen sind von sehr unterschiedlichem Wert. Nach allgemeiner Ansicht kommt der lat. Überlieferung die größte Bedeutung zu. Beachtung verdienen insbesondere der aus dem neunten Jahrhundert stammende Codex Sangermanensis, als dessen Hauptmerkmal die Lücke nach 7,35 anzusehen ist 1 und der die Quelle sämtlicher Vulgatatextformen darstellt, ferner der wenig jüngere Codex Ambianensis sowie die in der Bibel von Alcalä enthaltene Textfassimg (Codex Complutensis). Eine ausführliche Beschreibung und kritische Würdigung aller bekannten lat. Handschriften findet sich bei VIOLET, Die Esra-Apokalypse (IV. Esra), 1. Teil (GCS 18), S. XV-XXIX (Einleitung). Aus der Reihe der orientalischen Versionen ist vor allem die der lat. Tradition nahestehende, von CERIANI 2 herausgegebene syr. Übersetzung hervorzuheben, welche der (aus dem sechsten Jahrhundert stammenden) syr. Bibel der Ambrosiana zu Mailand angehört. Sie wird von SCHÜRE» als die nach der lat. „beste und zuverlässigste" Version bezeichnet3. Während der äthiop. Text (kritische Ausgabe von DILLMANN), der dem syr. an Wert nicht ganz gleichkommt, noch Rückschlüsse auf die Textgeschichte erlaubt, sind die beiden arab. Übersetzungen (die längere wurde von EWALD, die kürzere von GILDEMEISTER ediert4) „wegen der großen Freiheiten, welche sich ihre Verfasser erlaubt haben, nur von untergeordneter Bedeutung"8. Viele Abweichungen und Ergänzungen weist auch der in der Mechitharisten-Ausgabe der armen. Bibel abgedruckte armen. Text auf6, der jedoch — wie VIOLET im zweiten Teil seines Werkes (Die Apokalypsen des Esra und des Baruch in deutscher Gestalt [GCS 32]) einräumt — „unserer höchsten Aufmerksamkeit trotz aller S. 378. 381). Dasselbe gilt für sBar, obwohl auch hier die Möglichkeit, daß die Schrift ursprünglich aram. verfaßt war, nicht auszuschließen ist (vgl. VIOL. II, L X I I f f . L X V I I f f . ; O . P L Ö G E B , R G G 3 I, 9 0 2 ; O . E I S S F E L D T , a . a . O . S. 8 5 3 ; A . WEISER, a . a . O . S. 381).

1 Vgl. R. L. BENSLY, The Missing Fragment of the Latin Translation of the Fourth Book of Ezra; B. M. METZGEB, The „Lost" Section of I I Esdras ( = I V Ezra), J B L LXXVI/1957, 153ff. 2 Monumenta sacra et profana V/1, 41 ff. Vgl. jetzt auch die auf dieser Edition basierende kritische Textausgabe der syr. Version von R. J. B I D A W I D , in: Vetus Testamentum syriace, 1966. 3

4

E . SCHÜBEB, B d . I I I , S . 3 3 2 .

Bibliographische Angaben zu den Texteditionen v o n A. D I L L M A N N , und J . GILDEMEISTER finden sich bei E . S C H Ü B E B , Bd. III, S . 333f., und VIOL. I, X X X f f . H . EWALD 5

6

E . SCHUBER, e b d . S . 3 3 3 .

Vgl. V I O L . I, X L . Die von J. H. P E T E B M A U N (auf Grund des Vergleichs v o n vier Hss.) angefertigte lat. Übersetzung dieses Textes findet sich bei A. H I L G E N T E L D , Messias Judaeorum, 378-433 (wieder abgedruckt in V I O L . I).

Zur Quellenlage

17

seiner Willkürlichkeiten, Freiheiten u. s. f. würdig ist" 1 . Die georg. Version vermag die Aufgabe einer kritischen Textherstellung nicht sonderlich zu fördern, da sie „möglicherweise . . . nur die Weiterübersetzung aus einem Gliede der dritten Stufe ist, selber also in die vierte gehört" 2 . — Wir greifen im folgenden vorwiegend auf die Textausgabe V I O L E T S (GCS 18) zurück, in der ein kritisch erstellter lat. Text, eine deutsche Übersetzung der syr., äthiop. und arab. Versionen sowie der armen. Text (nach der lat. Übersetzung P E T E R M A N N S ) synoptisch dargestellt sind. Im übrigen werden die Textausgaben B E N S L Y S (lat. Version)3 und C E R I A N I S (syr. Version)4 sowie die verschiedenen, auf einem kritischen Vergleich sämtlicher Versionen beruhenden deutschen, englischen und französischen Übersetzungen von 4Esr herangezogen5. Angesichts der weitverzweigten Textüberlieferung des 4. Esrabuches überrascht die schmale Bezeugung, welche die syr. Baruchapokalypse aufweist. Abgesehen von dem Schlußteil des Buches, der sogenannten ,Epistola Baruch' (sBar 78-87), die durch mehrere Handschriften repräsentiert wird und „vermutlich eine gesonderte Überlieferungsgeschichte gehabt (hat)" 6 , ist der Text dieser Apokalypse nur in der oben erwähnten syr. Bibel der Mailänder Ambrosiana erhalten 7 . Allerdings wurde in jüngster Zeit das Vorhandensein von zwei weiteren Fragmenten aus sBar (Kp. 44,9-15; 72,1-73,2) bekannt 8 . Diese Stücke, die „in zwei syrischen Lektionarhandschriften des 13. Jahrhunderts" 9 enthalten sind, stimmen jedoch mit der Mailänder Handschrift im wesentlichen überein und sind nur im Blick auf die Frage nach der liturgischen Verwendung des Buches innerhalb der christlichen Kirche von Belang 10 . Daß sBar auch über den syr. Sprachbereich hinaus Bedeutung erlangte, läßt sich aus „einem griechischen, 1

A.a.O. XXVIII. VIOL. I, X L I ; eine lat. Übersetzung dieser Version ist bei L. GRY, a.a.O. II, 420-444 abgedruckt. 3 The Fourth Book of Ezra. 4 S. o. S. 16 A N M . 2. 2

5 H . GUNKEL, b e i E . K A U T Z S C H , A P I I , 352FF. ; B o x , b e i R . H . CHARLES, A P I I , 5 6 1 f f . ; VIOL. I I , 1 - 2 0 2 ; P . RIESSLER, 2 5 5 f f . ; L . G R Y , L e s d i r e s p r o p h é -

tiques d'Esdras (IV. Esdras), Bd. I/II. Die Textrekonstruktion L. GRYS wirkt oft sehr hypothetisch; vgl. die Rezension J. A. MONTGOMERYS (JBL LX/1941, 201 ff.) : "The reliability of Gry's results is contradicted by the many extravagant tours de force that he perpetrates in his rewriting of the ancient text." (ebd. 202) "The work is of amazing acriby, but is full of unwarranted critical deductions." (ebd. 203). 6 7

O . PLÖGER, R G G 3 I , 9 0 2 . V g l . VIOL. I I , L V T f f .

8 Vgl. W. BAARS, Neue Textzeugen der syrischen Baruchapokalypse, VT X I H / 1 9 6 3 , 476ff. 9 Ebd. 477. 10 Vgl. ebd. 477f.

2 Harnisch, Verhängnis

18

Vorerwägungen

zu den Oxyrhynchus Papyri gehörigen, Fragment des 4. oder 5. Jahrhunderts" schließen, „das — mit großen Lücken — Kap X I I 2 - X I I I 2 und XIII 11-XIV 3 enthält"1. Wir benutzen im folgenden den von C E R I A N I (in Monumenta sacra et profana, V/2, 113ff.) veröffentlichten Text, ferner die von K M O S K O bearbeitete Ausgabe (PatrologiaSyriaca 1/2, 1068ff.) sowie die gängigen deutschen und englischen Ubersetzungen2. 1 2

W . BAARS, e b d . 4 7 7 ; v g l . VIOL. I I , L X I I I f . V . RYSSEL, b e i E . K A U T Z S C H , A P I I , 4 1 3 f f . ; R . H . CHABLES, T h e

Apo-

calypse of Baruch; DERS., bei R. H. CHABLES, A P II, 481ff.; VIOL. II, 205ff.; P . RIESSLER, 5 5 ff.

A. D I E A P O R I E D E R V E R H E I S S U N G ALS G R U N D P R O B L E M D E R A P O K A L Y P T I K P. STUHLMACHER hat kürzlich das Problem „der Relevanz besonders apokalyptischer Eschatologie in der nachösterlichen Gemeinde" erörtert 1 und in diesem Zusammenhang „die Frage nach der Machtergreifung Gottes (als) die Grundfrage genuiner Apokalyptik" zu definieren versucht 2 . Man wird diese prägnante Formulierung wohl dahingehend zu präzisieren haben, daß in der Apokalyptik das Ereignis der Offenbarung der in der Gegenwart verborgenen Macht Gottes in Frage steht. Bevor wir im einzelnen untersuchen, in welcher Weise die apokalyptische Theologie die an diesem Problem aufbrechende Aporie zu lösen versucht, empfiehlt es sich, erst einmal die genannte Ausgangsposition genau zu fixieren. Es wird also zunächst unsere Aufgabe sein nachzuzeichnen, in welcher Weise die ,Grundfrage genuiner Apokalyptik' in den uns beschäftigenden apokalyptischen Texten konkret zur Sprache kommt, und auszuarbeiten, worauf sie eigentlich abzielt. Ferner ist zu prüfen, ob der Apokalyptiker selber als der Fragende erscheint, oder ob ihm das Thema, dem sein Hauptinteresse gilt, nicht vielmehr von anderer Seite gestellt wird, so daß das Grundproblem ,genuiner Apokalyptik' als ein der Apokalyptik bereits vorgegebenes Motiv aufzufassen wäre.

I. Die Problemstellung in 4Esr 1. Die Frage nach der Verläßlichkeit des Wortes Gottes In dem Visio I - I I I umfassenden dialogförmigen ersten Hauptteil der Esraapokalypse (3,1-9,25) 3 wird an exponierter Stelle, nämlich jeweils zu Beginn der drei Gesprächsgänge, die das apokalyptische 1

Eindeutige Verkündigung, E v T h 24/1964, 493. Ebd. ANM. 27. Vgl. DEES., Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, S. 145 f.: Die „Frage nach der Machtergreifung Gottes, bzw. nach seiner Gerechtigkeit" ist „als eines der beherrschenden Grundthemen aller apokalyptischen Schriften" zu bezeichnen. 3 Zur Disposition der Esraapokalypse vgl. O. PLÖGER, RGG 3 II, 698; O. EISSFELDT, a.a.O. S. 847. — .Visionen' im eigentlichen und engeren Sinn enthält nur der dem zweiten Hauptteil der Apokalypse angehörende Abschnitt 2

2 *

20

Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

Denken von Grund auf bewegende und in Spannung versetzende Frage nach der Machtergreifung Gottes thematisiert und im Blick auf das Problem der Wahrheit der Verheißung Gottes expliziert1. Es handelt sich im engeren Sinn um die drei Abschnitte 4Esr 3,28-36; 5,28-30 und 6,55-59, in denen Esra seine Klagen, die sachlich als Anklagen Gottes zu charakterisieren sind, vorbringt. Bezeichnenderweise hat der Verfasser der Apokalypse diesen Klagepartien jeweils z. T. breit angelegte bekenntnisartige bzw. hymnische Stücke vorangestellt, die wir im folgenden mitzuberücksichtigen haben, da sie die Klagen motivieren und ihr sachliches Recht einschärfen. Diese Bekenntnisse des Sehers (3,4-27; 5,23-27; 6,38-54) differieren zwar in Form und Inhalt nicht unerheblich2, sind aber von der einheitlichen Tendenz bestimmt, Gott als den Schöpfer der Welt und erwählenden Herrn Israels zu prädizieren. In scharfem Kontrast zu diesen Gottesprädikationen erheben sich anschließend die vorwurfsvollen Fragen nach der Wahrheit der in der Erwählung begründeten und insofern schon in der Schöpfung verfügten Prärogative des Gottesvolkes — die Klagen über den Widerspruch zwischen Gottes im Gesetz verbürgtem Heilswillen und der heil-losen Wirklichkeit geschichtlicher Erfahrung. Exkurs

I:

Traditionsgeschichtliche Bemerkungen zur der Volksklagelieder in 4Esr

Struktur

E s ist nicht zu verkennen, d a ß die genannten Reden Esras (3,4-36; 5,23-30; 6,38-59), die sichtlich als Exposition der ersten drei Gesprächsgänge der Apokalypse gedacht sind u n d die Hauptprobleme der folgenden Dialoge fixieren, eine den alttestamentlichen Volksklageliedern verwandte F o r m aufweisen. Auch in den Klageliedern der israelitischen Volksgemeinde, die weitgehend „kultische F o r m u l a r e " 3 darstellen u n d „in einer a n heiliger Stätte einberufenen Klagefeier" 4 , „in einem großen kultischen Klagezeremoniell vorgetragen" 5 wurden, ist bezeichnenderweise die Schilderung der N o t (d. h. die eigentliche Klage) häufig mit einer Rückschau auf das vergangene Heils4 E s r 9,26-13,58 (siehe dazu u n t e n S. 249 Anm. 3). Der erste Hauptteil (3,19,25) stellt einen in drei Abschnitte gegliederten Dialog zwischen dem Visionär (Esra) u n d einem Offenbarungsmittler dar. Der Einfachheit halber wird im folgenden die übliche Bezeichnimg ,Visio' f ü r alle sieben Unterabschnitte der Apokalypse beibehalten (zur Sache vgl. VIOL. I I , X L f . ) . 1

2

Vgl. P h . VIELHAUER, b e i HENNECKE3, B d . I I , 411.

4 E s r 3,4r-27 enthält ein pragmatisch gefaßtes Summarium der Geschichte Israels von der Erschaffung Adams bis zur Zerstörung Jerusalems (587 v. Chr.); 5,23-27 läßt sich als Erwählungs-, 6,38-54 als Schöpfungshymnus kennzeichnen. 8 H . G U N K E L / J . B E G R I C H , Einleitung in die Psalmen, S. 11. 4

6

H . - J . KRAUS, B K X V , S. 514.

E b d . S. 427.

Die Problemstellung in 4 E s r

21

handeln J a h w e s verbunden 1 . So findet sich in P s 44 vor dem eigentlichen Klageteil, der Klage u n d Bitte u m f a ß t (V. 10-27), „eine hymnische Darstellung des Heilswirkens Jahwes bei der L a n d n a h m e " 2 (V. 2—4), die von einer „auf diesem Heilsereignis basierende(n) Vertrauensäußerung" 3 (V. 5-9) begleitet wird. Dieser Introitus (V. 2-9), der J a h w e seine grundlegenden Heilstaten vor-hält u n d dem aller Bedrängnis standhaltenden Vertrauen auf die göttliche Macht u n d Hilfe Ausdruck verleiht, motiviert die folgende Klage. Nach K R A U S enthält der Rückverweis auf die vergangene geschichtsmächtige T a t Jahwes den „verborgenen Appell: J a h w e möge doch erneut so machtvoll eingreifen u n d seinem hilflosen, allein auf ihn vertrauenden Volke beistehen" 4 . Eine dem A u f b a u von Ps 44 vergleichbare Disposition liegt den Pss 85 u n d 89 zugrunde (Ps 85: V. 2 - 4 Rückblick auf Jahwes Heilshandeln, V. 5 - 8 Klage u n d Bitte, V. 9-14 Heilsorakel; P s 89: V. 2-19 Hinweis auf den Heilserweis Jahwes in Schöpfung u n d David-Erwählung, V. 20-38 Rückschau auf das Gottesorakel, das David zuteil wurde u n d ihm sowie seiner Dynastie den göttlichen Schutz versprach, V. 39-52 Klagelied aus Anlaß des Niedergangs des davidischen Königtums 5 ). Ferner ist in diesem Zusammenhang auf die Pss 74 u n d 80 hinzuweisen. Beide Psalmen, die ebenfalls der G a t t u n g der Volksklagelieder angehören, enthalten ein hymnisches Mittelstück, in dem die vergangenen Heilst a t e n Jahwes gepriesen u n d verherrlicht werden (74,12-17 besingt die Taten des Schöpfergottes u n d das Schilfmeerwunder 6 — der Abschnitt h a t seinen Ort zwischen Klage u n d B i t t e ; 80,9-12 erinnert in allegorischer Sprache a n das Exodus- u n d Landnahmegeschehen, in dem Israel von Gott Heil widerf u h r — der Abschnitt steht hier zwischen zwei mit Bittrufen versehenen Klagen, vgl. V. 5 - 8 u n d V. 13ff.). Diese Übersicht m a c h t bereits deutlich, „daß die Rückschau auf J a h w e s Heilstaten ein integrierender Bestandteil des Volksklageliedes i s t " 7 . Das in der 2. Person Sg. geschehende „Hinweisen Gottes auf seine früheren Heilst a t e n " , das „die S t r u k t u r des berichtenden Lobes" erkennen läßt, h a t im Blick auf die Klage „den Sinn eines Motivs . . ., das Gott zum Eingreifen in die jetzt brennende N o t bewegen soll" 8 . Gott wird dadurch, daß er an seine vergangenen Taten erinnert wird, zum Handeln herausgefordert. Hinter d e m Appell steht jeweils unverkennbar das Vertrauen auf die Macht Jahwes, der nach der Auffassimg der betenden Gemeinde auch die gegenwärtige N o t zu wenden vermag. Dieser Sachverhalt ergibt sich aus der Stellung der hymnischen Stücke in P s 74 u n d 80, die dort das sonst häufig zwischen Klage u n d Bitte anzutreffende .Bekenntnis der Zuversicht' ersetzen 9 (vgl. auch P s 44,2-4 m i t 1 Vgl. H . G U N K E L / J . B E G R I C H , a . a . O . S . 1 3 0 ; H . - J . K R A U S , a . a . O . S . L I ; O. EISSFELDT, a . a . O . S. 151; C. WESTERMANN, Das Loben Gottes in den Psalmen, 4 . Aufl. 1 9 6 8 , S . 4 1 ff.; K . G A L L I N G , R G G 3 V, 6 7 7 f . 2

3 1

5

H . - J . KRAUS, a . a . O . S. 325.

Ebd. A . A . O . S. 326.

Zur Frage n a c h der Einheitlichkeit der Komposition von P s 89 vgl. H . - J . KRAUS, a . a . O . S. 615ff. 6 Vgl. dazu A. LAUHA, Die Geschichtsmotive in den alttestamentlichen Psalmen, S. 12-16. 71; C. W E S T E R M A N N , a . a . O . S. 41f. u n d H . - J . K R A U S , a . a . O . S. 517f. 7 8

9

H . - J . KRAUS, a . a . O . S. 589. C. WESTERMANN, a . a . O . S. 4 1 ; e b e n s o A . LAUHA, a . a . O . S. 138. Vgl. die Tabelle bei C . W E S T E R M A N N , a . a . O . S . 4 0 . C . W E S T E R M A N N

stellt zu Recht fest, daß sich zwischen dem .Bekenntnis der Zuversicht' u n d dem .Hinweis auf Gottes früheres Heilshandeln' keine scharfe Grenze ziehen läßt,

22

Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

44,5-9). Auf Grund dieser Beobachtungen wird m a n mit K R A U S annehmen dürfen, daß der Rückverweis auf die grundlegenden Heilstaten Jahwes „im Rahmen des Klage- und Bittliedes zugleich Vertrauensäußerimg und Appell an Gottes Einschreiten darstellt" 1 . Der Rückblick auf die alttestamentliche Vorgeschichte der kollektiven Klage legt den Schluß nahe, daß den hymnischen Gottesprädikationen in den drei genannten Klagereden Esras (die ebenfalls Wir-Klagen sind) eine ahnliche Funktion zufällt, wie sie dem Hinweis auf das vergangene Heilshandeln Jahwes im Volksklagelied des Psalters zukommt. E s fragt sich jedoch, ob die Abschnitte 4Esr 3,4—27; 5,23-27 und 6,38-54 tatsächlich als Vertrauensbekenntnisse des Beters gewertet werden dürfen. Der Blick auf die unübersehbare formale Analogie, die zwischen den Klagereden Esras und den angeführten Bittliedern des Volkes besteht, kann nämlich über die sich ebenso deutlich abzeichnenden Formunterschiede nicht hinwegtäuschen. Ein vorschnelles Urteil verbietet sich darum gerade auf Grund formgeschichtlicher Gesichtspunkte. Wie W E S T E R M A N N in seiner lehrreichen Untersuchung über die „Struktur und Geschichte der Klage im Alten T e s t a m e n t " 2 gezeigt hat, lassen sich drei Hauptepochen der Entwicklung der Klage unterscheiden. Die „wesentliche Besonderheit" der Klagen der Frühzeit (vgl. schon Gen 25,22; 27,46; dann J o s 7,7-9; R i 6,22; 15,18; 21,3 3 ) „besteht darin, daß sie ein in sich selbständiges Rufen zu Gott sind. Sie bedürfen keiner nachfolgenden Bitte, weil sie schon ein Flehen zu Gott implizieren" 4 . I n der Mitte der Geschichte der Klage findet sich das im Psalm gefaßte Klagelied. Es ist hier „Glied eines umfassenderen Ganzen", Teil des (in Anrede [und einleitenden Hilfeschrei], Klage, Vertrauensäußerung, Bitte und Lobgelübde zerlegbaren) Psalmgebets, „in dem auf die Klage die Bitte folgen muß, die Klage auf die Bitte hinausläuft" 5 . Die (jüdische) Nachgeschichte der alttestamentlichen Kultklage zeichnet sich dagegen dadurch aus, daß dort nun Klage und Bitte auseinanderfallen: „ I n der Spätzeit löst sich die Klage wieder aus dem Ganzen des Klagepsalms heraus und verselbständigt sich 8 . . . Aber die aus dem Klagepsalm emanzipierte Klage der Spätzeit ist etwas wesentlich anderes als die noch selbständige Klage der Frühzeit; diese ist Rufen zu Gott, Gebet im stärksten Sinne des Wortes, während jene zur Klage neben dem Gebet, außerhalb des Gebetes wird." 7 W E S T E R M A N N stützt diese These bemerkenswerterweise insonderheit auf die oben angeführten Texte aus 4Esr. Es läßt sich in der Tat nicht übersehen, daß dort (außer dem f ü r die alttestamentliche Kultklage ebenfalls konstitutiven Bekenntnis der Zuversicht und dem Lobgelübde) die als Herzstück der Gattung anzusehende Bitte fehlt. Dadurch erfährt die Klage selbst eine grundlegende Wandlung: Sie wird zur radikalen Anklage Gottes, dessen Macht sich in den Augen des Redenden obwohl s. E. beide Elemente der Klage grundsätzlich zu unterscheiden sind (vgl. a . a . O . S. 41. 44). 1 A.a.O. S. 514. Vgl. außer den genannten Psalmenstellen noch Jes 63,7-14; 51,9b. 10 (bei C. W E S T E R M A N N , a.a.O. S. 41f.). 2 ZAW 66/1954, 44-80. 3 Die zuletzt genannten Prosatexte aus der Richterzeit werden bei A . W E N D E L , Das freie Laiengebet im vorexilischen Israel, S. 123-143, behandelt. 4 C. W E S T E R M A N N , Z A W 66/1954, 68 (vgl. 48f.); siehe auch A . W E N D E L , a.a.O. S. 138ff. 5 C . W E S T E R M A N N , ebd. 4 8 ; zum A u f b a u der Klagelieder des Volkes vgl. DERS., Das Loben Gottes in den Psalmen, 4. Aufl. 1968, S. 39. 6 Der Psalm, der „die Klage aus sieh entläßt", wird Bittgebet (vgl. C . W E S T E R M A N N , Z A W 66/1954, 48. 71. 73f.). ' Ebd. 48; vgl. 75 ff.

Die Problemstellung in 4 E s r

23

als äußerst fragwürdig darstellt. „So wie die Klage nicht mehr wirklich an Gott gerichtetes Reden ist, gebiert sie aus sich den Zweifel!" 1 Von daher gesehen, erscheint es als ausgeschlossen, die einleitenden Rückverweise auf Gottes früheres Heilshandeln als Vertrauensäußerungen des Visionärs zu deuten. Sie stellen nicht mehr ein (indirektes) Bekenntnis der Zuversicht dar, auf dem die Schilderung der N o t basiert, sondern sind vielmehr selbst als Material bzw. als Argumente der Anklage zu verstehen. Der Seher erinnert Gott an sein einst gegebenes Verheißungswort, er stößt ihn genau wie Simson R i 15,18 „auf den ,schreienden' Widerspruch zwischen seinem früheren u n d seinem jetzigen H a n d e l n " 2 , (nun allerdings nicht — wie in den von W E S T B E M A N N im Anschluß an W E N D E L herausgearbeiteten frühesten Klagen —, u m sein Eingreifen zu provozieren, sondern) u m seinen Treuebruch aller Welt vor Augen zu führen u n d u m den Nachweis zu erbringen, daß auf das göttliche Wort kein Verlaß ist. Die kritische, im Zeichen der Skepsis stehende Haltung, welche die Klagereden Esras auszeichnet, t r i t t besonders deutlich in 4 E s r 3,4-36 zutage; denn dort sind die anklagenden Einwände u n d Vorwürfe des Sehers nicht auf den eigentlichen Klageteil (3,28-36) beschränkt, sondern fließen bereits in den vorhergehenden Geschichtsüberblick (3,4—27) ein, der das Heilshandeln des Schöpfers u n d erwählenden Herrn Israels hervorhebt. W E S T E R M A N N ist vollauf beizupflichten, wenn er z. St. b e m e r k t : „ D a s ganze Einleitungskapitel des IV. Esra ist eine einzige, radikale Anklage Gottes. E s liegt hier deutlich eine Parallele zum Hiobbuch vor mit dem Unterschied, daß es im IV. Esra u m das Schicksal des Volkes geht. Der Angriff auf Gottes Handeln ist gewiß nicht weniger k ü h n ; die Kritik setzt schon in der Urgeschichte ein!"3 Nach diesen formgeschichtlichen Vorbemerkungen sollen n u n die Texte im einzelnen erörtert werden. D a die einfuhrende Rede der ersten Vision (3,4—36) eine Reihe besonderer Probleme aufgibt, werden die Texte im folgenden rückläufig behandelt. Wir setzen also bei den Eingangsliedern der dritten u n d zweiten Vision ein, in denen der grelle Gegensatz zwischen Gotteslob u n d Klagerede besonders klar hervortritt.

Die dritte Vision (6,35-9,25) beginnt mit einem in die Form eines Midrasch zu Gen 1 gekleideten Hymnus auf Gott den Schöpfer (6,381 E b d . 77 (vgl. den ganzen Abschnitt 77-79). Die Klagen Esras sind zwar als Gebete stilisiert (beachte die vokative Anrede Gottes , 0 Herr, H e r r ' 3,4; 5,23; 6,38 [an anderen Stellen, so 4,38; 5,38; 6,11; 7,58. 75, bezieht sich die Formel auf den ,angelus interpres' — vgl. dazu W. M U N D L E , Das religiöse Problem des IV. Esrabuches, ZAW 47/1929, 225 u n d ebd. Anm. 3]), faktisch ist jedoch die Ebene eines wirklichen Anrufgeschehens verlassen. 2

3

C. WESTEBMANN, e b d .

68.

E b d . 78 (vgl. 49). — Abschließend ist in diesem Zusammenhang noch auf D a n 9 aufmerksam zu machen. Auch dort geht der vom ,angelus interpres' vorgebrachten Erläuterung der (Jer 25,11 f.; 29,10 erwähnten) siebzig J a h r e (vgl. D a n 9, [22] 24^-27) ein längeres Gebet Daniels voraus (Dan 9,4b-19). Auf den ersten Blick ist jedoch deutlich, daß dieses in die F o r m einer kollektiven Klage gekleidete Gebet nicht als Muster der genannten Klagereden Esras in Anspruch genommen werden k a n n (gegen R. K A B I S C H , Das vierte Buch Esra auf seine Quellen untersucht, S. 13f.). Denn es stellt keine (durch den Hinweis auf das vergangene Heilsgeschehen verschärfte) Anklage Gottes dar, sondern gilt im Gegenteil dem vorbehaltlosen Bekenntnis eigener Schuld ( D a n 9 , 4 b - 1 9 gliedert sich in Schuldgeständnis [9,4b-14] u n d Bittruf [9,1519] — vgl. O . P L Ö G E R , K A T X V I H , S. 135. 137ff.).

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Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

54) x , dessen mächtiges Wort unmittelbar ins Werk setzt, was es sagt: ,Verbum enim tuum processit et opus statim fiebat' (6,43 [vgl. Ps 33,9] 2 ). Der Hymnus endet mit der Erzählung von der Erschaffung Adams 3 und seiner Einsetzung zum Herrn über alles Geschaffene (6,54a), kulminiert aber charakteristischerweise im Gedanken der Erwählung des von Adam abstammenden Gottesvolkes: ,et ex eo educimur nos omnes, quem elegisti populum' (6,54b) 4 . — Die auf die VV. 38-54 zurückblickende Zwischenbemerkung ,Haec autem omnia dixi coram te, domine, quoniam . . (V. 55) leitet zu einem neuen Gedankengang über, in dem der Seher das mächtige Wort des erwählenden Gottes mit dem fatalen Schicksal des Gottesvolkes konfrontiert (V. 55-58) und schließlich die Frage nach der Treue Gottes als Frage nach der Verläßlichkeit seiner Verheißung aufwirft (V. 59). Hier also wird erst das eigentliche Anliegen Esras laut. Der Apokalyptiker h a t diese Klagerede Esras, welche die Aporie der Verheißung thematisiert, in eine kunstvolle F o r m gekleidet. Die W . 55-58 sind chiastisch zusammengestellt. Während im ersten Teil des Abschnitts (V. 55f.) zuerst von Israel (nos = q u e m elegisti populum, V. 54), danach v o n den Völkern (residuas autem gentes) die Rede ist, kehrt sich diese Reihenfolge in der zweiten H ä l f t e (V. 57f.) u m : Den an erster Stelle genannten Völkern (istae gentes) wird das Volk Gottes (nos autem, populus tuus) antithetisch gegenübergestellt. Innerhalb dieser doppelten Konfrontation von Israel u n d den ,gentes' sind die Gegensätze zwischen dem Sein des erwählten Volkes u n d dem Nichts-Sein der Völker, zwischen der faktischen Herrschaft der Völker u n d der Ohnmacht des Gottesvolkes mit den Gegensätzen zwischen der verheißenen Prärogative Israels u n d seinem geschichtlichen Niedergang, zwischen der Nichtigkeit der Völker im W o r t Gottes u n d ihrer furchtbaren Macht in der Wirklichkeit verschränkt, so daß nicht nur die VV. 55 u n d 56 (bzw. 57 u n d 58), sondern auch die VV. 55 u n d 58 (bzw. 56 u n d 57) einander antithetisch entsprechen. 1 Bei dem midraschartigen H y m n u s 6,38-54, der Gottes Schöpfertaten in der 2. Person Sg. besingt (,0 Herr Herr, deutlich geredet h a s t d u a m Anfang deiner Schöpfung . . .'), handelt es sich vermutlich u m traditionelles Material, das v o m Verfasser rezipiert wurde (vgl. dazu J . JERVELL, Imago Dei, S. 19f.). E r scheint allerdings den von ihm übernommenen Stoff u m V. 54 b erweitert zu haben, denn dort klingt bereits das Erwählungsmotiv an, das der folgenden Klage (6,55ff.) zugrunde liegt. — Zu 6,38ff. vgl. E . JACOB, Théologie de l'Ancien Testament, S. 117 Anm. 2 (engl. Ausgabe: S. 144 Anm. 2). a Vgl. 6,38: O domine, loquens locutus es ab initio creaturae in primo die dicens: F i a t caelum et t e r r a ! et t u u m v e r b u m opus perfecit. — Zu beachten ist in 6,38-54 die stereotype Verwendimg der Verben ,dicere' u n d ,imperare', welche die Wortgewalt des Schöpfers zum Ausdruck bringen (dixisti [V. 40. 47] ; imperasti [V. 41. 42. 45. 53]). Vgl. auch 8,22f.; 7,139 (Hebr 11,3; 2 P e t r 3,5). 3 Nur Armen liest s t a t t , A d a m ' : ,hominem'. 4 D. R Ö S S L E B h a t zu Recht auf die Parallelität der Visionsanfänge in 6,35ff. u n d 5,20ff. hingewiesen (vgl. a . a . O . S. 76 Anm. 2). W e n n er jedoch bemerkt, daß „hier das Erwählungshandeln Gottes (5,23ff.), dort sein Schöpfungshandeln (6,38ff.)" den „Ausgangspunkt bildet" (ebd.), so ist diese Feststellimg insofern irreführend, als auch der Schöpfungshymnus 6,38 ff. im Erwählungsgedanken kulminiert (vgl. 6,54b).

Die Problemstellung in 4Esr

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Der Visionär zieht zunächst das Fazit aus dem bisher Gesagten, indem er den bereits in V. 54 thematisierten Zusammenhang von Schöpfung und Erwählung expliziert: ,Dies alles habe ich vor dir, Herr, ausgesprochen, weil du g e s a g t hast (quoniam dixisti), daß du unsertwegen, +wegen des Erstgeborenen"1"1, die Welt erschaffen habest' (V. 55)2. Israel ist der Erstgeborene Gottes (vgl. Ex 4,22; Jer 31,9; Sir 36,11 L X X ) und insofern Zweck und Ziel, das ,Worumwillen' der Schöpfung (vgl. V. 54) — so lautet die Position der Verheißung (dixisti!). Der dieser Position entsprechende Gegensatz wird im folgenden Vers genannt: ,residuas autem gentes ab Adam natas d i x i s t i eas nihil esse' (V. 56a; der Satz ist wohl Jes 40,17a nachgebildet; vgl. auch Dan 4,32). Dem im Wort Gottes begründeten Sein des erwählten Volkes korrespondiert auf der Seite der übrigen Völker kein wie auch immer geartetes (Anders-)Sein, sondern ein im Wort desselben Gottes konstituiertes Nichts-Sein (dixisti eas nihil esse). Das schöpferische Gotteswort gewährt Israel das Sein, indem es den restlichen Völkern das ,Sein' verwehrt. Der Verfasser erweitert diese Aussage über das Nichts-Sein der Völker durch ein nur unwesentlich abgewandeltes Zitat aus Jes40,15 ( L X X ! ) , das er dem Visionär in den Mund legt: ,dem Speichel (aiéXm) sind sie (sc. die Völker) verglichen, und dem Tröpfeln vom Eimer hast du (sc. Gott) ihren Überfluß gleichgestellt' (V. 56 b) 3 . Die Plerophorie des Ausdrucks unterstreicht die Behauptung der Nichtigkeit der Völker coram Deo. V. 57 setzt neu ein (et nunc = nntfl [vgl. 4Esr 5,28] / xal vvv [1 adversativum bzw. adversatives Hat4]) und konstatiert den Widerspruch zwischen dem Anspruch des Wortes Gottes und der geschichtlichen Wirklichkeit der Gegenwart. Die behauptete Nichtigkeit der gottlosen Völker steht im krassen Gegensatz zu dem, was die Erfahrung lehrt: ,Jetzt aber, Herr, siehe, (wie) j e n e V ö l k e r , die f ü r nichts g e a c h t e t sind, uns beherrschen und uns zertreten6! / W i r aber (nos autem), dein V o l k , das du e r w ä h l t und >mein Erstgeborener, 1 VIOLET (II, Anm. z. St.) bezieht das aus .primogenitum' (Lat) zu erschließende jigaiTOTOKOv/'liDS wohl zu Recht auf Israel, nicht auf' .saeculum' (DViS); vgl. 6,58 (!). 2 Vgl. AssMos 1,12f.; sBar 14,18f.; 15,7; ferner sBar 21,24, wo von den Patriarchen und Gerechten die Rede ist, ,die in der Erde schlafen, um derentwillen du, w i e du g e s a g t femart!), die Welt geschaffen hast.' —• An dieser Stelle ist auf das Ineinander von Schöpfung und Erwählung bei Dtjes aufmerksam zu machen (vgl. dazu R. RENDTOKFF, Die theologische Stellung des Schöpfungsglaubens bei Deuterojesaja, Z T h K 51/1954, 7ff. l l f f . ) . 3 Vgl. PsPhilo 7,3; 12,4 (Ende). 4 Vgl. Ges-K § 154; Bl-Debr § 442,1. 5 ,Zertreten' mit Syr; Aeth; A r a b E w und Armen (Lat: ,devorare').

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Einziggeborener, Knecht (?1 — Vertrauter ?) und Geliebter< genannt hast, wir sind in ihre Hände ausgeliefert worden!' (Y. 57f.) Angesichts der überlegenen Herrschaft der Völker, die Israel, Gottes geliebtes Volk, zertreten, erweist sich die Macht des schöpferischen Gotteswortes als Illusion. Die Wirklichkeit widerlegt die Verheißung; denn das Israel von Gott selbst versprochene Sein erscheint im Horizont der geschichtlichen Erfahrung als ein Nichts-Sein. Nicht Israel, sondern die gottfeindlichen Völker sind dem Augenschein nach als die wahren Erben der Verheißung anzusprechen. So spielt der Seher die Wirklichkeit gegen Gottes Wort aus und stellt damit die Macht des an sein Wort gebundenen Gottes selber radikal in Frage. Der Abschnitt mündet aus in die alles Gesagte übersteigende Klage: ,Wenn aber die Welt unsertwegen geschaffen ist, warum haben wir nicht diese unsere Welt im Besitz? Wie lange soll es so bleiben?' (V. 59)2. In der charakteristischen Warum-Frage des Sehers ist die Aporie der Verheißung auf eine kurze Formel gebracht 3 . Warum löst Gott sein Versprechen, daß die Welt allein um Israels willen geschaffen sei, nicht ein? Muß die Macht dieses Verheißungswortes Gottes nicht fraglich bleiben, solange Israel der Antritt seines gerade in diesem Wort verbürgten Erbes, nämlich die politisch verstandene Inbesitznahme der Welt, versagt wird 4 ? Angesichts der trostlosen Situation Israels in der Gegenwart erscheint die Aussicht auf das verheißene Erbe als das Postulat einer frommen Phantasie. Wie B R A U N Z U Recht feststellt, trägt der in V. 55 (vgl. V. 54) ausgesprochene Gedanke, daß die Welt um Israels willen geschaffen sei, „mehr den Charakter eines pium desiderium, statt von einer sieghaften Wirklichkeit zu reden" 5 . Weil Israel das verheißene Erbe entzogen wird, unterliegt die Macht des schöpferischen Gotteswortes selber der Skepsis. Die für das vom Seher vertretene Denken ebenfalls typische Frage ,usquequo haec?' (,Wie lange [soll] dies [währen]?') scheint zwar von der Hoffnung getragen, daß der notvolle Zustand der Gegenwart bald ein Ende finden wird. Doch ist zu erwägen, ob sich in dieser Frage nicht ebenfalls die Skepsis bekundet, die von der Unüberbrückbarkeit der (nicht zu leugnenden) Distanz zwischen dem Jetzt und 1 H. G E E S S M A N N (bei V I O L . II, 339) liest statt ,aemulatorem' (Lat): ,familiärem' (vgl. Syr; Armen), das er auf o l x e t o g / l ^ zurückführt (vgl. Neh 1,10; Jes 63,17; 65,8f. 13ff.; Ps 34,23; 69,37; 113,1; 134,1); anders VIOLET (,Auserwählter' — vgl. seine Anm. z. St., II, 64), H. G U N K E L (.Anhänger1) und P. R I E S S L E R (,Freund'). 2 Text nach H . G U N K E L (bei E . KAUTZSCH, A P I I , 3 6 8 ) . 3 Zur ,Warum-Frage' in der alttestamentlichen Klage vgl. C . W E S T E R MANN, ZAW 66/1954, 52f. 58 (vgl. unten S. 27 Anm. 1). 1 Vgl. H. BRAUN, Exegetische Randglossen zum I. Korintherbrief, Ges. Stud., S. 183; W. FOERSTER, ThW i n , 779f. 6 Ebd. S. 182.

Die Problemstellung in 4 E s r

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dem Dann überzeugt ist. Es fällt jedenfalls schwer, das ,Wie-lange' der Klage im Sinne eines Appells an die Wortgewalt des Schöpfers zu verstehen, an die sich der Klagende allen Israel widerfahrenen Enttäuschungen zum Trotz klammert und auf die er immer noch vertraut. Gegen eine derartige (im Blick auf alttestamentliche Sachparallelen freilich naheliegende) Auslegung der Frage1 spricht insbesondere die Beobachtung, daß V. 59 c unausdrücklich in scharfem Gegensatz zu der Aussage in V. 43 steht. Die Wahrheit des dort ausgesprochenen Bekenntnisses, daß Gottes Wort ohne Säumen (statim!) das schafft, was es sagt, erscheint im Lichte der Inkonzinnität von Wort und Realität, angesichts der tiefen Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung gerade als fragwürdig und wird durch das ,Wie-lange?' (V. 59 c) nicht nur zum Problem gemacht, sondern vielmehr betont in Zweifel gezogen. Auch D. R Ö S S L E R hat darauf aufmerksam gemacht, daß „der Beginn der dritten Vision . . . in bestimmter Analogie zu dem der zweiten Vision . . . steht"2. Die erbaulich stilisierte und sachlich im Erwählungsgedanken kulminierende Rede über Gottes Schöpfungshandeln (6,38-54) hat in dem die zweite Vision feierlich einleitenden Gedicht über Israels Erwählung (5,23-27) ihre genaue Parallele. 1 Die a n Gott gerichtete Frage ,wie lange?' (¡"W-"T57) gehört (ebenso wie die ,Warum-Frage') zum Stil der Volksklagelieder (vgl. H . G U N E E L / J . B E G R I C H , a . a . O . S. 127 u n d die von C. W E S T E R M A N N , Z A W 66/1954, 53 A N M . 2, genannten Stellen P s 79,5; 80,5; 89,47; H a b 1,2 — auch P s 85,6; J e r 3,5. Beide Fragen begegnen ebenfalls in den Klagen des Einzelnen, „aber sehr viel seltener u n d offenbar in geringerer K r a f t u n d Schärfe" [C. WESEERMAIW, ebd. 58]; zur Frage ,wie lange?' vgl. P s 13; 35,17; 6,4; 90,13). Das Gott anklagende .Wielange?' stellt hier insonderheit eine Herausforderung des göttlichen Handelns d a r : Der Betende v e r t r a u t auf die Macht J a h w e s u n d sucht ihn zum Einschreiten zu bewegen. D a ß die Frage vorwiegend in diesem Sinne gemeint ist, zeigt sich deutlich a n ihrer Stellung innerhalb der Klagelieder. Sie h a t „gewöhnlich beim Übergang von der Klage zur Bitte ihren P l a t z " (H.-J. K R A U S , a . a . O . S. 551 f. zu P s 79,5 mit Verweis auf P s 6 , 4 ; 13,2; 80,13; 89,47 u n d 44,24ff.). — Ganz anders verhält es sich dagegen mit 4 E s r 6,55-59. D o r t steht die Frage bezeichnenderweise a m Schluß der Klage; die Bitte fehlt ebenso wie das f ü r die Klagepsalmen des Alten Testaments konstitutive Vertrauensmotiv (C. W E S T E RMAJNN: „Die anklagenden Fragen ,warum?' u n d ,wie lange?' ließen sich nicht völlig zum Schweigen bringen. Außerhalb des Gebetes brachen sie mit Macht wieder auf." [ZAW 66/1954, 49]). Dadurch erhält die Klage einen völlig neuen Akzent. Sie schaut faktisch nicht mehr nach der göttlichen Hilfe aus, sondern sie zielt — indem sie dem Schöpfer das a m Schicksal Israels erkennbare Ausbleiben seines Machterweises vor-hält — auf eine radikale Anklage Qottes ab. W ä h r e n d sich die Klagen der israelitischen Volksgemeinde „auf dem schmalen Grat zwischen Vorwurf u n d Urteil" bewegen, ohne zum „Verurteilen Gottes" zu werden (C. WESTERMANN, ebd. 53), gerät die Rede Esras in die Nähe der Skepsis, die Gott die Verläßlichkeit seines Wortes streitig m a c h t u n d im Grunde nicht mehr mit einer Wendung der N o t rechnet. 2 A . a . O . S . 7 6 Anm. 2 (zur Kritik der Bemerkungen D . R Ö S S L E R S s . o . S. 2 4 Anm. 4 ) .

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Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

Ebenso abrupt wie in 6,55ff. folgt auch in 5,28ff. eine Klagerede, in welcher der Widerspruch zwischen der Erwählung Israels und dem unseligen Geschick des Gottesvolkes zur Sprache gebracht und damit die Kluft zwischen Gottes Heilswillen und der unheilvollen Wirklichkeit aufgedeckt wird. Der den zweiten Gesprächsgang eröffnende Hymnus (5,23-27), der sich in neun parallel gebaute „poetische Halbverse" (VIOLET 1 ) gliedert, besingt die Israels Geschichte begründende Erwählungstat Gottes 2 . Was die VV. 23-26 (abgesehen von V. 25 b 3 ) in metaphorischer Weise artikulieren, wird am Schluß in V. 27a unverschlüsselt ausgesprochen: ,et ex omnibus multiplicatis populis adquisisti tibi populum unum' 4 . Bemerkenswert ist, daß alle vorhergehenden Verse des Abschnitts dieselbe Aussagestruktur aufweisen, wie sie in V. 27 a vorliegt (ex omnibus . . . adquisisti [tibi] . . . unum). Durchgängig wird auf den Unterschied zwischen allen und dem Einen abgehoben. Dieser in V. 23-27a auf liturgische Weise akzentuierte Unterschied zwischen ,omnes' (omnis) und ,unus' (una) hat seinen Grund im Ereignis der Erwählung (elegisti, V. 23f.; sanctificasti, V. 25b; providisti Y. 26b; adquisisti V. 27 a), d. h. aber im Ereignis des Rufes Gottes (nominasti = exdXeaaQ = , V. 26a. 25a[?] 8 ): Vor (!) allen (sc. Völkern) hat Gott das Eine (Volk) berufen. Es ist zu beachten, daß die Präp. ,ex', die den Unterschied zwischen allen und dem Einen anzeigt, weder partitive noch genealogische Bedeutung hat, sondern einem komparativischen hebr. j» entspricht, das hier exkludierenden Sinn annimmt (vgl. sBar 77,3)6. Der Hymnus definiert also das geschichtliche Sein des Einen Volkes als ein (nicht quantitativ, sondern qualitativ zu verstehendes) Mehr-(Voraus-)Sein, das sich dem seinsstiftenden Ruf Gottes verdankt. Der in dem Ruf Gottes gründende Vorrang des Einen Volkes manifestiert sich darin, daß Israel das Gesetz als Zeichen seiner Vorzugsstellung zugeeignet wurde: ,et ab omnibus probatam legem donasti huic quem desiderasti populo' (V. 27b). Wird hier der ,lex' die Auszeichnung ,ab omnibus 1

2

VIOL. I I , 31 A n m . z u m T e x t .

Die hymnische Schilderung der vergangenen Erwählungstat Gottes ist charakteristischerweise wieder in die Form der Anrede (2. Pers. Sg.) gekleidet. 3 V. 25 b wirkt innerhalb des Gesamtduktus störend, weil dort die metaphorische Redeweise bereits aufgegeben und unbildlich von Zions Erwählung gesprochen wird. 4 Zur alttestamentlichen Vorgeschichte der Erwählungsvorstellung vgl. K . K O C H , Zur Geschichte der Erwählungsvorstellung in Israel, ZAW 67/1955, 205£f. (im Blick auf 4Esr 5 , 2 7 a vgl. bes. 214ff.); vgl. ferner G. E. W B I G H T / E. L . D I E T R I C H , RGG 3 I I , 610ff.; G. S C H B E N K , ThW I V , 175f. ; M . N O T H , Die Gesetze im Pentateuch, in: Ges. Stud. zum AT, 2. Aufl. 1960, S. 124. 5

6

V g l . VIOL. I I , A n m . z u V . 2 5 a.

Vgl. VIOL. II, 31 Anm.; Ges-K § 133,1a. b (dort Verweis auf D t 14,2); zum exkludierenden Sinn der komparativisch gebrauchten Präp. ]D vgl. auch J . J E B E M I A S , Die Gleichnisse Jesu, 6. Aufl. 1962, S. 141.

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Die Problemstellung in 4Esr

probata' zuteil, so leitet sich diese Ausdrucksweise vielleicht weniger von einer Stelle wie Dt 4,8 her, wo die Tora Israels von dem Gesetz anderer Völker abgesetzt wird1, als vielmehr von Stellen wie 2Sam 22,31; Ps 18,31; 119,140; Spr30,5, die von der nariX ?n!?X Gottes reden (vgl. Ps 12,7) 2 : Das Gesetz als das (im Unterschied zu anderen Worten) echte, beständige und insofern verläßliche Wort Gottes (vgl. Ps 111,7)3 verbürgt den Seinsgewinn und begründet die Geschichte des erwählten Volkes. In V. 28 wendet sich die hymnische Rede des Sehers unvermittelt in Klage. Der Übergang zu dem nun folgenden neuen Gedankengang ist durch ein abruptes ,et nunc, domine' markiert (vgl. 6,57). Wie in 6,55-59 mißt Esra auch hier (5,28-30) die Beständigkeit des ergangenen Gotteswortes an dem Jetzt der empirischen Wirklichkeit, indem er fragt: ,Aber jetzt, Herr, warum hast du das Eine den Vielen ausgeliefert, [warum] hast du die Eine Wurzel vor den Anderen zurückgesetzt, [warum hast du] deinen Einziggeborenen unter die Vielen zerstreut?'' (V. 28)

In den anklagenden Warum-Fragen (utquid)4, die in schroffem Gegensatz zu dem vorher Gesagten stehen, kündigt sich unüberhörbar die Skepsis gegenüber der Wahrheit der Berufung des Einen Volkes an. Wie konnte Gott es zulassen, daß das erwählte Eine den Vielen preisgegeben wurde und durch die Zerstreuung unter die Vielen5 seine Einheit verlor? Hat Gott sein Wort, das seinem Volk eine unvergleichliche Vorzugsstellung zusagte, ja ihm das Recht des Einzig1 S o H . GTJNKEL ( b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 6 1 A n m . o ) ; B o x CHARLES, A P I I , A n m . z. St.) u n d P . RIESSLEB, 1 2 8 3 A n m . z. S t . 2 S o VIOL. I I , 33 A n m . z. St.

3

(bei

R.

H.

Vgl. J e s 5,24 u n d D t 33,9, wo das Wort fTl!3N mit rTlin bzw. n n . 3 parallelisiert wird. — Vgl. auch D. R Ö S S L E B , a . a . O . S. 70. 4 Vgl. oben S. 26 Aiun. 3. 5 I m Alten Testament ist von der durch Gott veranlaßten Zerstreuung Israels häufig die R e d e ; vgl. den Gebrauch des Verbs HIT (PI.) Lev 26,33; l K ö n 14,15; J e r 31,10; E z 5,10. 12; 12,14; P s 44,12; 106,27 — ( N I P H . ) Ez 6,8; ferner f l S ( H I P H . ) D t 4,27; 28,64; J e r 9,15; E z 11,16; Neh 1,8; D t 30,3; J e r 30,11 — ( N I P H . ) J e s 11,12; Ez 11,17; 20,34. 41; 28,25 u n d die f ü r Ez charakteristische Parallelisierung beider Verben E z 12,15; 20,23; 22,15; 36,19; — vgl. W. Z I M M E B L I , B K X I I I , S. 249. Der Hinweis auf die ,Zerstreuung' des Gottesvolkes 4 E s r 5 , 2 8 bezieht sich einerseits auf die (der fiktiven Chronologie von 4 E s r entsprechende) Exilszeit, spielt andererseits jedoch auch auf die faktisch vorausgesetzte Situation des J u d e n t u m s nach der Zerstörung Jerusalems durch Titus (70 n. Chr.) an. Vgl. K . L . S C H M I D T , T h W I I , 101: „Bis zum J a h r e 70 war es nicht so schwer, die Wunden der früheren Expatriation zu verwinden, weil ja trotz allem Jerusalem als die heilige S t a d t nicht n u r Mittelpunkt des heiligen Landes, sondern auch der Diaspora war u n d blieb. Nach dem J a h r e 70 aber wurde die Diaspora sozusagen heimatlos . . . E r s t jetzt ist sie wieder wie in den fernen Tagen des babylonischen Exils wirklich flV?J."

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Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

geborenen (unicus = fiovoyevrjs) einräumte, annulliert? Wie verträgt sich der tatsächliche Niedergang Israels mit der Zusage seiner Erwählung? Warum haben die, die Gottes Geboten widersprachen, die zertreten dürfen, die seinen Satzungen gehorchten? (V. 29)1 Die 1 4 E s r 5 , 2 9 lautet nach der lat. Version wörtlich: ,Et [sc. utquid] conculcaverunt qui contradicebant sponsionibus tuis eos, quifque] tuis testamentis credebant [?].' E s ist zu prüfen, inwiefern diese Formulierung dem Text des Originals entspricht. Auffällig ist vor allem der PL ,testamentis', der (in der griech. Vorlage) auf ÖLa&^xaig schließen läßt (so A. H I L G E N F E L D , Messias Judaeorum, S. 51). Dieselbe pluralische Verwendung des Begriffs liegt 4 E s r 3,32 (quae tribus crediderunt testamentis tuis sicut haec Iacob); 7,83 (qui testamentis Altissimi crediderunt) u n d 8,27 (qui t u a t e s t a m e n t a cum doloribus custodierunt [ 0 ] ; qui t u a t e s t a m e n t a cum cruciatibus servaverunt [V]) vor. Dieser Sprachgebrauch überrascht insofern, als das hebr. Äquivalent J V i ? im Alten Testament stets im Sg. begegnet (vgl. die Seitenreferenten der lat. Version von 4Esr, die an den genannten Stellen offensichtlich unter dem Einfluß der alttestamentlichen Sprachtradition z. T. ebenfalls den Sg. lesen). I n den L X X findet sich allerdings gelegentlich der Pl. Sia-Öijxcu; vgl. außer Ez 16,29:Weish 18,22; 2Makk 8,15; Sir 44,12. 18; 45,17 (vgl. auch R o m . 9,4). Wir orientieren uns zunächst an den Sirachstellen u n d vergleichen die L X X Fassung mit dem erhaltenen hebr. Text der Geniza-Hss. (zum Problem der Authentizität dieser Hss. vgl. A. A. D I L E L L A , The Hebrew Text of Sirach; Literaturhinweise bei O. E I S S F E L D T , a . a . O . S. 807f. 811f.; E . J E N N I , RGG 3 I I I , 653ff.). I n Sir 44,18 und 45,17 besitzt der Pl. diaftrjxai keinen Anhalt im hebr. Text (vgl. R . S M E N D , Die Weisheit des Jesus Sirach, S. 423. 433f.). Sir 44,12 fehlt in den Geniza-Hss. Doch schon R . S M E N D war der Ansicht, daß Hebr. den Text „offenbar mit U n r e c h t " ausgelassen habe (ebd. S. 420). Seine Vermutung, daß an dieser Stelle (wie 44,18) 2V12 anzunehmen sei, wird durch die Lesart der kürzlich entdeckten (und von Y . Y A D I N publizierten) Sirachfragmente von Masada bestätigt (DSHT "7Ö57 Dn"H33; vgl. Y . Y A D I N , The Ben Sira Scroll f r o m Masada, S. 37 u n d ebd. Anm. zu Zeile 19). P . A.H. D E B O E R h a t zu zeigen versucht, daß il'"!? hier im Sinn von ,Verpflichtung' gemeint ist (DSnt 7Ü17 a m m . Sirach X L I V 12a, in: Hebräische Wortforschung. Festschrift W . Baumgartner, S. 25ff.). Von daher gesehen, könnte dem Ausdruck Dn , "133 sachlich durchaus pluralische Bedeutung zukommen: ,Ihre Nachkommen erfüllten ihre Verpflichtungen' (so P . A. H . D E B O E B , ebd. S. 29). I n diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß der Begriff öia&rjxr] im Liber Ecclesiasticus vornehmlich f ü r pn [pin/rt|?.n] eintritt (vgl. R . S M E N D , a . a . O . S. 134; DERS., Griechisch-syrisch-hebräischer I n d e x zur Weisheit des Jesus Sirach, s . v . ; H a t c h - R e d p , • Suppl., s . v . ; E. L O H M E Y E R , Diatheke, S. 111 Anm. 1). So findet sich z.B. in der Geniza-Hs. von Sir 45,5 der suffigierte PL Vpm ( L X X : öia&rjxrjv Sg.!). Auf Grund der Beobachtung, daß diad-qxr] in Sir nicht nur ITHS (44,12a womöglich im Sinn von .Verpflichtung'!), sondern auch u n d vor allem pn/Hj^H (Sg. u n d PI.) entspricht (auch ApkMos 8 scheint öia&rjxrj Übersetzung von pfl zu sein; vgl. die entsprechende Stelle in VitAd34: .Gebot'), liegt es na,he, den Pl. .testamenta' 4 E s r 3 , 3 2 ; 5,29; 7,83 und 8,27 auf ö i a ^ « a i / 0 , p . n (nipH) zurückzuführen. I n diesem Fall wäre an den genannten Stellen nicht von den ,Bundesschlüssen' (bzw. von den ,Bundesverheißungen' — vgl. Weish 18,22; 2Makk 8,15), sondern von den .Satzungen' Gottes die Rede (vgl. 4 E s r 5,29 ArabGild; 8,27 Syr, Aeth, ArabGild). Entsprechend h a t das Verb ,credere' in 4 E s r 3,32; 5,29; 7,83 vermutlich weniger den Sinn des ,SichVerlassens', ,Sich-Festmachens', als vielmehr den des ,Treuseins', ,Gehorchens' (zur Sache vgl. A. S C H L A T T E R , Der Glaube im Neuen Testament, S. 15ff. 19; A . M E Y E R , Das Rätsel des Jacobusbriefes, S. 125 f.; W . M U N D L E , ZAW 47/

Die Problemstellung in 4Esr

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Treue Israels zum Wort Gottes blieb ohne Lohn; nicht Israel, sondern den gottfeindlichen Völkern fiel die dominierende Stellung innerhalb der Geschichte zu. Indem der Visionär unter Hervorhebung der Treue Israels Gott das Faktum der Vorherrschaft des Ungehorsams vorhält, bekundet er indirekt selber den stärksten Zweifel an der Gültigkeit der göttlichen (Bundes-)Satzungen. Gerade die aus dem Gebet herausgelöste und insofern nur noch als Anklage aufzufassende Warum-Frage stellt selbst eine Kontradiktion gegen Gottes Wort dar, die sich von der der Völker (qui contradicebant sponsionibus [sc. Altissimi]) de facto nicht unterscheidet. Analog zum Beginn des dritten Dialogs erhebt sich also auch hier die kritische Frage nach der Macht Gottes als Frage nach der geschichtlichen Evidenz seines Erwählungswortes (vgl. 5,23-27). Wie sehr die Wirklichkeit tatsächlich im Zeichen der Ferne Gottes steht, wie wenig sich das gegenwärtige Geschehen mit dem Gedanken der Erwählung in Übereinstimmung bringen läßt, zeigt der den Abschnitt beschließende Satz: ,Et si odiens odisti populum tuum, tuis manibus debet castigari' (V. 30). Angesichts der Tatsache, daß die geschichtliche Ratifikation der Erwählung ausbleibt, zieht Esra sogar die erschreckende Möglichkeit in Betracht, daß Gott sein Volk haßt. Doch wird diese Erwägung, die den Gedanken an Israels Schuld impliziert, bezeichnenderweise nicht zur Entlastung Gottes angeführt. Dem Seher stellt sich vielmehr die Frage, warum Gott Israel den Händen seiner Feinde überläßt, anstatt selber als Richter auf den Plan zu treten und die Strafe (castigare) mit eigener Hand zu vollziehen (vgl. PsSal 7,3). Selbst dann, wenn Israel sich den Zorn Gottes schuldhaft zugezogen hätte, bleibt die Tatsache unerklärlich, daß es den Heiden preisgegeben ist. So führt die Reflexion auf den göttlichen Haß nicht etwa zu einer frommen Rechtfertigung der gegenwärtigen Situation, sondern radikalisiert das sich aus dem Schicksal des Gottesvolkes ergebende Problem und verschärft damit unausdrücklich die Frage nach der Epiphanie der Macht Gottes in der Geschichte. Auch die Visio I eröffnende Rede Esras enthält zwei deutlich voneinander abgesetzte Teile, nämlich a) ein Gebet ,,in Form einer geschichtlichen Einführung" 1 (4Esr 3,4—27) und b) eine Reflexion über 1929, 229ff.; R. BTTLTMANN, ThW VI, 200f.; E. GBÄSSER, Der Glaube im Hebräerbrief, S. 79ff.). — Wenn die hier erwogene Deutung des PI. ,testamenta' in 4Esr zutrifft, wird man den 4Esr 5,29 mit ,tuis testamentis' parallelisierten PI. ,sponsionibus tuis' ebenfalls auf die gebietenden Worte und Weisungen Gottes zu beziehen haben, wie die Verwendimg des Begriffs in 4Esr 7,24 (vgl. die parallelen Begriffe ,viae, lex, legitima, opera' — Hs. L liest statt ,sponsiones': ,dispositiones') und 7,46 (vgl. die Seitenreferenten der lat. Version) beweist. 1

O. PLÖGEK, R G G 3 I I , 698.

32

Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

das paradoxe Handeln Gottes in der Gegenwart (3,28-36). Das Verhältnis der beiden Abschnitte zueinander ist jedoch nicht einfach das von Lob und Klage, wie es in den Eingangsgebeten der zweiten und dritten Vision zu beobachten war. Wohl wird Gott in dem als Gebet stilisierten ersten Teil als der alleinige Schöpfer prädiziert1, der in der Vergangenheit auf überraschende Weise in immer neuen Akten der Erwählung seinem Volk zugetan war. Betont ist eingangs (V. 4f.) von der schöpferischen Macht des göttlichen Wortes die Rede. Bekenntnisartig wird daran erinnert, daß Gott seinen Knecht Noah (und um seinetwillen alle Gerechten2) vor der Sintflutkatastrophe verschonte (dereliquisti, V. 11), daß er sich Abraham erwählte (elegisti), mit ihm einen ewigen Bund schloß und seinen Nachkommen einen immerwährenden Beistand zusagte (dixisti ei ut non unquam derelinquas semen eius — V. 13-15), daß er sich Jakob erkor (segregasti, V. 16) und seinem Samen das Gesetz gab (V. 19), daß er sich schließlich zur bestimmten Zeit David erweckte (suscitasti) und ihm befahl, seinem Namen eine Stadt zu bauen (V. 23f.). Aber von weitaus größerem Gewicht sind die danebenstehenden Aussagen über den wiederholten Abfall der Erwählten, über ihren Frevel und ihre Gottlosigkeit3, über die lawinenartig anwachsende Macht der Sünde und das allen Menschen innewohnende böse Herz. Hintergründig hat der ganze einleitende Abschnitt (3,4—27) sein Leitmotiv in der Frage nach dem Ursprung des Bösen und dem damit gestellten Theodizee1

Auch f ü r diesen Abschnitt ist die Aaredeform bezeichnend. Esra besingt das vergangene Heilsgeschehen, indem er von Gott in der 2. Pers. Sg. spricht: , 0 Herr, Herr, du hast doch a m Anfang gesprochen . . . u n d (du) hast dem Staube befohlen . . . usf.' 2

3

V g l . H . GRESSMANN, b e i VIOL. I I ,

337 A n m .

z. S t .

Der Abschnitt 4Esr 3,4-27 erinnert an die alttestamentlichen Geschichtspsalmen (vgl. insbesondere P s 78; 106). Denn dort wird die Geschichte Israels nach dem Darstellungsprinzip der deuteronomistischen Theologie in ähnlicher Weise als eine Folge göttlicher Heilserweise gekennzeichnet, die immer wieder durch den Abfall des Gottesvolkes unterbrochen wird: „Die K e t t e der Heilst a t e n Gottes ist begleitet von fortgesetzter Untreue Israels." (H.-J. K R A U S , B K XV, S . 548 zu Ps 78; vgl. ebd. S . 539ff. 726ff.; vgl. A. L A U H A , a . a . O . S . 107-110. 121. 141f.; C . W E S T E B M A N N , Das Loben Gottes in den Psalmen, 4. Aufl. 1968, S. 106f. — vgl. in diesem Zusammenhang die Feststellung E . S J Ö B E R G S , auch in der apokalyptischen Literatur sei „die Darstellung der Geschichte Israels von der deuteronomistischen Geschichtsbetrachtung gep r ä g t " — Gott u n d die Sünder im palästinischen J u d e n t u m , S. 235; vgl. ebd. Anm. 1; siehe auch A. N I S S E N , NovTest IX/1967, 273 Anm. 1; O. H . S T E C K , Israel u n d das gewaltsame Geschick der Propheten, S. 177) Die geschichtliche E i n f ü h r u n g in 4 Esr 3,4-27 unterscheidet sich jedoch von den (im Sinne der deuteronomistischen Pragmatik entworfenen) Geschichtspsalmen wesentlich dadurch, daß in ihr der Schuldcharakter der Verfehlungen Israels entschieden bestritten wird. Das göttliche Strafverhängnis erscheint zwar auch hier jeweils als eine Folge von Israels Abfall u n d Ungehorsam. Aber der Seher stellt energisch in Abrede, daß Israel für seine Sünde haftbar gemacht werden kann (vgl. dazu ausführlich u n t e n S. 42ff.).

Die Problemstellung in 4 E s r

33

problem. Bevor wir diesem Sachverhalt, der einer gesonderten Erörterung bedarf, im einzelnen nachgehen, empfiehlt es sich, zunächst das im zweiten Teil des Abschnitts (3,28-36) Gesagte ins Auge zu fassen; denn dort wird wie in den oben besprochenen Texten der zweiten und dritten Vision die Aporie der Verheißung thematisiert, allerdings derart, daß — anders als in 5,28-30 und 6,55-59 — die durch 3,4-27 vorbereitete Problematik (die Frage nach dem Verhältnis von Sünde und Schicksal) in die Überlegung einbezogen wird. Die VV. 28-36 sind zwar thematisch eng mit dem vorausgehenden Unterabschnitt V. 23-27 verbunden, greifen aber auch auf das noch vor dem Gebet in 3,1 b. 2 Gesagte zurück (et conturbatus eram . . . et cogitationes meae ascendebant super cor meum, quoniam vidi desertionem Sion et h a b u n d a n t i a m eorum qui h a b i t a b a n t in Babilone 1 ). Aus der Beobachtung, d a ß das ,ego' des Sehers erst in V. 28 wieder betont zu W o r t k o m m t (et dixi ego t u n c in corde meo — vgl. V. 4: et dixi), ergibt sich, d a ß das pragmatische Geschichtssummarium im engeren Sinn n u r die W . 4-27 umfaßt. I n V. 28 beginnt ein neuer, in sich geschlossener Gedankengang, der zwar a n das zuletzt (in V. 23-27) Gesagte a n k n ü p f t , sich jedoch in formaler u n d sachlicher Hinsicht von V. 4-27 insgesamt unterscheidet u n d mit den oben behandelten Stücken 5,28—30 u n d 6,55—59 vergleichbar ist 2 .

Wurde unmittelbar zuvor in 3,25-27 das katastrophale Schicksal der Gottesstadt mit der Sünde ihrer Bewohner in Verbindung gebracht (Et deliquerunt qui habitabant civitatem [V. 25 b]; Et tradidisti civitatem tuam in manu inimicorum tuorum [V. 27]), so erhebt sich nun die naheliegende, Gott herausfordernde Frage: .Handeln denn etwa die Bewohner Babels besser und hast du deshalb Zion 1 Vgl. die Klage 4 E s r 10,21-23 (bes. 10,23). — Der Leser denkt bei der ,Verwüstung Zions' nicht n u r an die vorausgesetzte Situation der Zeit nach 587 v. Chr., sondern auch an die ihn selbst betreffende Katastrophe der Tempelzerstörung durch R o m im J a h r e 70 n. Chr. Zur Identifizierung Babels mit R o m

i m S p ä t j u d e n t u m s i e h e BILL. I I I , 8 1 6 ; f e r n e r K . G. KUHN, T h W I , 514 u n d e b d .

Anm. 18. 19. Zur Sache vgl. auch H . - J . S C H O E P S , Die Tempelzerstörung des J a h r e s 70 in der jüdischen Religionsgeschichte, CN VI/1942, l f f . 2 V. 28 stellt die Exposition zum Folgenden dar und darf deshalb nicht als Abschlußbemerkung zu V. 23-27 gezogen werden (gegen H . G U N K E L , bei E . KAUTZSCH, A P I I , 354,

und

VIOL. I I , 7 — m i t

C. WESTERMANN, Z A W

66/

1954, 77). — Der Abschnitt 3,28-36 läßt folgende Disposition erkennen: V. 28-31 a (Gottes unbegreifliches Verhalten gegenüber den Gottlosen); V. 31 b 33 (Gottes unbegreifliches Verhalten gegenüber Israel) — beide Unterabschnitte werden durch analoge Fragen eingeleitet (vgl. V. 28 u n d 31b); V. 34-36 (das Ergebnis des Vergleichs zwischen Israel u n d den Heiden). Die zwischen 3,4-27 und 3,28ff. bestehende sachliche Differenz ist unübersehbar. Sie t r i t t vor allem darin zutage, daß in 3,28 ff. auffälligerweise jede Reflexion auf das ,cor malignum' vermieden ist (vgl. dagegen 3,20-22. 26). Doch wird m a n auch diese Feststellung k a u m als Begründung f ü r die Annahme verschiedener Quellen anführen können — gegen R. K A B I S C H , der merkwürdigerweise die Einheitlichkeit des Abschnitts 3,28-36 verkennt u n d 3,33ff. willkürlich der H a n d eines Redaktors zuschreibt (Das vierte Buch Esra auf seine Quellen untersucht, S. 23ff.). 3

Harnisch, Verhängnis

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Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

+verlassen+1V (V. 28) Die Reflexion auf die Sünde Israels zieht die Frage nach dem Verdienst seiner Feinde nach sich. Worin besteht das ,bessere Handeln' (meliora facere) Babels, das seine geschichtliche Überlegenheit (habundantia, V. 2, vgl. V. 33: habundantes 2 ) rechtfertigen und Zions Gottverlassenheit begreiflich erscheinen lassen könnte? Daß dieser Frage nur rhetorische Bedeutung zukommt, zeigen die folgenden Aussagen. Der Seher konstatiert, daß er in Babel nichts als Frevel sah: ,Als ich aber dann hierher kam und unzählige Frevel sah — wie viele Frevler sah meine Seele nun schon dreißig Jahre lang! —, da entsetzte sich mein Herz . . .' (V. 29). Gerade darin gründet sein unerträgliches Leiden, daß er mitansehen muß 3 , wie Gott die Sünder erträgt und die Frevler verschont, wie er sein Volk (populum tuum) vernichtet und seine Feinde bewahrt hat (V. 30). Die Zurückführung des politischen Mißgeschicks Israels auf dessen eigene Sünde wäre nur dann zwingend, wenn sich der Sieg Babels als Folge der Gerechtigkeit Babels erweisen ließe. De facto steht aber der Verfehlung des Gottesvolkes die weitaus größere Sünde (impietates, quorum non est numerus) seiner Feinde gegenüber. Angesichts dieses Sachverhalts erscheint es als paradox, daß Gott sein Volk untergehen läßt und Zion der Verwüstung preisgibt, während die Frevler im Glück leben und das gottlose Babel den Sieg davonträgt 4 . Die erste Aussagereihe des Abschnitts (V. 28-31 a) schließt mit dem klagenden Ausruf: ,und du hast es gar niemandem kundgetan (et non significasti nihil nemini), wie dieser, dein Weg, zu +begreifen+B sei!' (V. 31a) Diese aus der Erfahrung des ,deus absconditus' geborene Klage trägt weniger die Züge der Resignation als vielmehr die der Anklage und des Vorwurfs. Sie verrät deutlich die Haltung der Skepsis, die Israels Geschick nicht mehr mit Oott und seiner Verheißung zusammenzudenken vermag. Indem der Seher die Verborgenheit und 1

337; 2

Ich folge der syr. Version

( V I O L . I, 14; — a n d e r s VIOL. I I ; v g l . A n m . z. S t . ) .

vgl. H. G K E S S M A N N , bei

VIOL.

II,

Das Glück der Gottlosen bildet häufig den Gegenstand der Klage des Einzelnen (vgl. C. W E S T E R M A I T O , Z A W 6 6 / 1 9 5 4 , 6 4 : „Die Schilderung der Feinde in ihrem Sein wird erweitert durch die Reflexion über ihr Schicksal. Im Gegensatz zu dem harten Los des Klagenden sind sie mächtig und reich, haben Erfolg, kennen keine Not, Gottes Gerichte erreichen sie nicht.") 3 Das Verb ,videre' begegnet in 3,28-36 auffallend häufig: vgl. V. 29(2 X). 30. 33. 4 „Im Erfolg eines Volkes erweist sich nach antiker Auffassimg die Macht des von ihm verehrten Gottes und seine Gnade." (E. W U R T H W E I N , Erwägungen zu Psalm 73, Bertholet-Festschr., S. 539 [zu Ps 73,12]) Von daher gesehen, stellt sich dem Seher mit Notwendigkeit die Frage, ob es nicht sinnlos ist, dem Wort eines Gottes zu vertrauen, der seinem Volk gegenüber den Erweis seiner Macht schuldig bleibt. 5 Mit Syr (vgl. 4Esr 4,2!); das im lat. Text verwendete Verb ,derelinqui' (quomodo debeat derelinqui via haec) erklärt sich wohl aus y.aTaXeiip&rjvai statt xma^.t](p'&rivai (vgl. VIOL. I/II Anm. z. St.).

Die Problemstellung in 4Esr

35

Unbegreiflichkeit des ,Weges' (via), d. h. des .Verfahrens' Gottes1 beklagt, stellt er die kritische Frage nach dem Grund des gegenwärtigen paradoxen Geschichtshandelns Gottes. Er konfrontiert Gott mit dem Elend seines Volkes, das im Blick auf die weitaus größere Sünde Babels als unverdient erscheinen muß, und hält ihm damit die offen zutage liegende Ungerechtigkeit seines Verhaltens anklagend vor. Mit V. 31b, der die eingangs aufgeworfene rhetorische Frage in verkürzter Fassung wiederholt (Numquid meliora facit Babilon quam Sion?), beginnt eine zweite Aussagereihe. In ihr wird die in V. 2831a herausgestellte Aporie insofern verschärft, als der Seher nun im Gegensatz zu den Verfehlungen der siegreichen Feinde Gottes (V. 29) die Vorzüge und Verdienste Israels akzentuiert und damit das in Frage stehende Problem radikalisiert: ,Oder hat dich ein anderes Volk außer Israel (sc. wirklich) (an)erkannt? Oder welche Stämme haben deinen Satzungen so gehorcht wie die (sc. Stämme) Jakobs?' (V. 32) Der Verweis auf die exklusive Gotteserkenntnis Israels und die unvergleichliche Glaubenstreue der Stämme Jakobs, die — so wird man das ,crediderunt testamentis tuis' zu verstehen haben — in dem beständigen Gehorsam gegenüber den göttlichen Weisungen besteht (vgl. 5,29; 7,83)2, führt die Frage nach der Möglichkeit eines ,besseren Handelns' des gottlosen Babel ad absurdum und relativiert gleichzeitig das Faktum der Verschuldung Israels, ohne es zu überspielen (vgl. V. 34, wo im Anschluß an V. 25 wiederum von der Sünde des Gottes Volkes die Rede ist). Um so brennender wird nun die Frage nach dem Grund des Israel widerfahrenen Schicksals. Dem in V. 30 ausgesprochenen Vorwurf, daß Gott die Frevler erträgt, während er sein Volk der Vernichtung preisgibt, entspricht in V. 33 a die Feststellung, daß Israels Lohn nicht erschien und seine Mühe8 keine 1 In ähnlicher Weise ist von dem ,Weg Gottes' (via Altissimi) 4 E s r 4 , 2 (vgl. 4,4); 4, lOf.; 4,23 (PI.); 12,4 (PI.) und 5,34 (semita Altissimi) die Rede; ebenso sBar 14,8f.; 20,4 (vgl. W. MICHAELIS, ThW V, 56f.). ,Via' (bzw.,semita') bezeichnet an diesen Stellen das (unbegreifliche) Verfahren, die (unfaßliche) Verhaltensweise, Entscheidving oder den (verborgenen) Plan Gottes (vgl. Rom 11,33b). Als nächste alttestamentliche Sachparallelen zu dieser Verwendung des Wortes ,Weg' (T|~n) in Bezug auf Gott kommen die Stellen Ez 18, 25. 29 (vgl. in dem [nach W. ZIMMERLI, B K XIII, S. 807] vielleicht als Nachtrag zu bewertenden Abschnitt Ez 33,17-20 d i e W . 17. 20)und Jes 55,8f. in Betracht (vgl. auch Jes 58,2 und E x 33,13 [in L X X abgewandelt]). Zur alttestamentlichen Auffassung vom ,Weg' bzw. ,Plan' Gottes vgl. A. KUSCHKE, Die Menschenwege und der Weg Gottes im Alten Testament, StTh V/1952, 106-118, J. FICHTNER, Jahwes Plan in der Botschaft des Jesaja, in: Gottes Weisheit, Ges. Stud. z. AT, S. 27-43, und F. NÖTSCHER, Gotteswege und Menschenwege in der Bibel und in Qumran, S. 9-69, bes. S. 25-28. 2 S. o. S. 30 Anm. 1. 3 Unter der ,Mühe' (labor) Israels wird an dieser Stelle wohl die Treue (oder der Eifer?) gegenüber dem göttlichen Gesetz (vgl. ArabGild), das Ein3*

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Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

Frucht getragen hat: ,(haec [sc. tribus] Iacob,) quarum merces non comparuit neque labor fructificavit.' Mit diesem Satz beklagt der Visionär das unerträgliche Vakuum, in das hinein sich der an den Satzungen Gottes festhaltende Glaube geworfen sieht. Bemerkenswert ist, daß nach der Formulierung der ersten Verszeile (V. 33 aa) das Skandalon in dem ,Nicht-Erschienen-sein' des Lohnes Israels liegt. In Frage steht also die geschichtliche Epiphanie der dem Haus Jakobs im Fall seiner Treue zugesagten Vergeltung (vgl. Jes61,8). Damit wird aber zugleich das den Lohn verbürgende Wort Gottes selbst in Zweifel gezogen. Indem der Seher das Ausbleiben des Lohnes beklagt, macht er Gott das Unabgegoltensein der Verheißung zum Vorwurf. Die Gültigkeit und Verläßlichkeit des Wortes Gottes muß so lange zweifelhaft bleiben, als Israel die öffentliche Gewährung seines Lohnes vorenthalten wird. So kommt auch hier in V. 33 a die Aporie der Verheißung zur Sprache, indem die der Unstimmigkeit von Wort und Wirklichkeit entsprechende Inkongruenz von Treue und Lohn beklagt wird. Die kritische Frage nach der Epiphanie des Lohnes Israels ist identisch mit der kritischen Frage nach der das Wort der Verheißung bestätigenden und zugleich einlösenden Machtergreifung Gottes in der Geschichte. Wie sehr die Erwartung dieses Ereignisses der Skepsis unterliegt, zeigt V. 33b: ,Überall ja bin ich herumgekommen bei den Völkern und habe sie glückselig gesehen, aber deiner Gebote dabei nicht eingedenk.' Das „Glück der Gottlosen und die fatal geschlossene Kette ihres Reüssierens" 1 (vgl. Jer 12,1; Ps 73,3. 12) lassen den Seher gegenüber der Hoffnung auf die Israel öffentlich ins Recht setzende und seine Treue ratifizierende Epiphanie Gottes in der Geschichte skeptisch werden. An der ständigen Erfahrung des unbestreitbaren geschichtlichen Erfolges der gottlosen Völker (vidi habundantes eas) zerbricht sein Vertrauen in das geschichtsmächtige und darum Zukunft gewährende Wort Gottes. In dem Schlußabschnitt (V. 34-36) appelliert der Seher an Gott, die Verfehlungen Israels und die der ,Weltbewohner' (d. h. hier: ,der Heiden') auf der Waage zu wägen, ,daß sich zeige, wohin der Austreten für den gebietenden Willen Gottes verstanden sein (vgl. im Kontext 3,32b. 35b. 36; außerdem 7,89 und 8,27). Der Ausdruck läßt sich kaum als charakteristischer Beleg für die „spätere jüdische Stimmung" in Anspruch nehmen, „daß das Gesetz den Menschen große Lasten auferlege" (SOH.GTJNKEL, bei E. KAUTZSCH, AP II, 354 Anm. r), sondern bezeichnet einfach den entschlossenen Einsatz für die ,testamenta' bzw. ,mandata Altissimi' (vgl. den Gebrauch des Verbs 5W> in Jes 43,22; 49,4; 65,23). — Zur Formulierung vgl. Weish 3,11 (Vulg.): ,[et vacua est spes illorum et] labores sine fructu'. 1 G. v. RAD, Theologie des Alten Testaments, Bd. II, 4. Aufl. 1965, S. 210 (zu Jer 12,1-5). Vgl. in diesem Zusammenhang auch O. KAISER, Dike und Sedaqa, ZSTh N. F. 7/1965, 257 f.

Die Problemstellung in 4Esr

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schlag des Balkens sich neigt' (V. 34) 1 . Hinter diesem Appell steht nicht die Auffassung, daß die Sünde des Gottesvolkes durch die der Völker aufgewogen werde 2 , sondern vielmehr die Überzeugung, daß die Verfehlungen Israels im Vergleich mit denjenigen der gottlosen Völker überhaupt nicht ins Gewicht fallen 3 . V. 34 setzt also hintergründig voraus, daß die Schuld Israels und die Babels letztlich inkomparabel sind (vgl. V. 29). •— Dieses Verständnis von V. 34 wird durch den Kontext nahegelegt. Waren die vorhergehenden Aussagen (V. 29-33; vgl. bes. V. 32f.) von der Absicht bestimmt, die Verfehlung Israels zu relativieren, so wird im folgenden (V. 35f.) einseitig auf die Universalität der Sünde außerhalb Israels abgehoben: ,. . . wann hätten die Bewohner der Welt vor dir (sc. Gott) nicht gesündigt, oder welches Volk hätte deine Gebote so gehalten? / Einzelne Menschen (sc. unter den Heiden) zwar magst du finden, die deine Gebote beobachtet haben, Völker aber findest du nicht!' Durch diese Bemerkung über die Universalität der Sünde im Bereich der gottlosen Völker wird die Verschuldung Israels zwar nicht kompensiert, wohl aber (wie in V. 29. 32) relativiert und damit der in V. 25-27 zur Geltung gebrachte Zusammenhang von Schuld und Schicksal in Frage gestellt. Das Unglück Zions erscheint angesichts der weitaus größeren Sünde der ,Weltbewohner' als willkürlich und unbegreiflich. Die aus V. 31a herauszuhörende Frage nach dem Grund des paradoxen Geschichtshandelns Gottes, die mit der Frage nach der Wahrheit der (Israel für den Fall seines Gehorsams zugesagten) Verheißung zusammenfällt (vgl. V. 32f.), erhebt sich nach V. 34-36 in unverminderter Schärfe. I m Anschluß an 3,28-36 ist schließlich noch der zu Visio I gehörende Abschnitt 4,22-25, der ebenfalls eine Wir-Klage enthält, zu erörtern. Dort kommt die der Aporie der Verheißung Ausdruck verleihende Warum-Frage, der wir schon in 5,28 f. und 6,59 begegneten und die auch den soeben besprochenen Abschnitt 3,28-36 latent bestimmt, in expliziter Weise zur Sprache. Der Seher besteht auf der Berechtigung seiner Gott anklagenden Fragen (,Ich bitte dich, Herr, wozu ist mir denn der Verstand [zum Denken] gegeben worden?' 4 1 Text nach H. G T J N K E L (bei E. K A U T Z S C H , AP II, 354). Zu der nach K R A U S „in der ägyptischen Mythologie beheimatete(n) Anschauung von der Waage des Richtergottes" (BK XV, S. 438) vgl. im Alten Testament: Ps 62,10; Hi 31,6; Dan 5,27 — ferner: aethHen 41,1 ; 43,2; 61,8; slHen 52,15. 2 So wäre V. 34 nach der syr. Version zu verstehen (,. . . so wird sich zeigen, daß der Ausschlag des Balkens sich nicht neigt'). 3 Vgl. G. V O L K M A R , Das vierte Buch Esra, Anm. z. St. 4 ,ut[-quid] mihi datus est sensus intellegendi' (Lat). V I O L E T ( I I , Anm. z. St.) hält .intellegendi' für Zusatz. L. GRY gibt den Satz folgendermaßen wieder: „il ne m'a (point) été donné un coeur (pour être obsédé, mais) pour savoir!" (a.a.O. I, 31).

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Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

V. 22), obwohl ihm vorher vom ,angelus interpres' mit Hilfe eines Gleichnisses bedeutet wurde, daß den Irdischen die Erkenntnis des Himmlischen verschlossen sei: ,Denn wie das Land dem Walde gegeben ist und das Meer seinen Wogen, so können auch die, die auf der Erde wohnen, nur das erkennen, was auf Erden ist, aber die, die über dem Himmel sind, (erkennen) das, was über dem Himmel ist' (4,21 1 ; vgl. 4,10f.). Esra betont demgegenüber zunächst, er habe nicht nach den ,oberen Wegen' (superiores viae) fragen wollen, sondern ,nach dem, was täglich an uns vorbeizieht' (de his, quae pertranseunt per nos cotidie — V. 23a). Diese Beteuerung überrascht insofern, als der Seher im folgenden erneut die Warum-Frage aufwirft, de facto also doch die Geschichte auf den in ihr nicht mehr transparent werdenden göttlichen Plan hinterfragt. Die Aussage in V. 23 a steht aber nicht nur in Spannung zu dem unmittelbaren literarischen Kontext (vgl. V. 23b), sondern widerspricht auch offensichtlich dem in 3,31 a und 4,2(3a) Gesagten (vgl. 12,4). Bei oberflächlicher Betrachtung könnte V. 23 a als eine das Gespräch nur künstlich in Gang haltende Zwischenbemerkung erscheinen, als eine sachlich belanglose Phrase, die um der dialogischen Kontinuität willen einfließt und darum nicht gepreßt werden darf. Es ist jedoch zu erwägen, ob sich dem Vers nicht ein tieferer Sinn abgewinnen läßt. Wenn der Visionär an dieser Stelle pointiert sein Desinteresse an den ,oberen Wegen' bekundet und den Blick ausschließlich auf das Israels Leid widerspiegelnde alltägliche Geschehen richtet2, so soll damit offenbar auf eine zwar überspitzte, aber doch prägnante Weise der existentielle Charakter seines Fragens demonstriert werden. Esra fragt eben nicht theoretisch nach dem, ,was über dem Himmel ist' ([quae] super altitudinem caelorum [sc. sunt] — V. 213), sondern er befragt den Leidensweg Israels auf den ihn verursachenden transzendenten Grund (vgl. V. 23b). Als ein vom Unglück Israels Betroffener4 gibt er — im Widerspruch zu der doktrinären Erklärung des Engels (V. 21) — seiner Erfahrung Ausdruck, daß schon die Einsicht in das, ,was auf Erden ist' (qua« sunt super terram [V. 21] — quae pertranseunt per nos cotidie [V. 23a]), das menschliche Erkenntnisvermögen (intellegere . . . possunt — V. 21) übersteigt (vgl. Weish 9,16). Insofern ist für ihn gerade das irdische Geschehen, das .täglich an uns vorbeizieht', der (im strengen Sinn des Wortes) frag-würdige 1

Vgl. Jes 55,8 f. Vgl. die armen. Version: ,. . . sed melius est nobis scire eas, quae Semper nos transeunt, c a l a m i t a t e s ' . 3 Armen: ,Nam minime fruetui est mihi interrogare, quod omnibus altiua est . . .' Vgl. die Übersetzimg P. RIESSLERS : ,Ieh wollte dich nicht über Wege fragen, die zu hoch . . .' (a.a.O. 259). 4 Vgl. 4Esr 5,33-35; 8,15ff. 2

Die Problemstellung in 4Esr

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Sachverhalt. Die in V. 23 a vorgenommene Eingrenzung des Fragehorizontes hat also keineswegs den Sinn, das Thema des Dialogs auf das dem Verstand Zugängliche zu reduzieren. Die ebenso ernsthafte wie eindringliche Frage nach dem, ,was täglich an uns vorbeizieht', setzt im Gegenteil die Erfahrung voraus, daß der ,sensus [intellegendi]' (V. 22) schon der aus dem alltäglichen Geschehen resultierenden Problematik nicht gewachsen ist (und gerade darum nicht zur Ruhe kommt — vgl. V. 22). Beachtet man die polemische Tendenz der Aussage des Sehers, dann steht Y. 23 a durchaus im Einklang mit den sich unmittelbar anschließenden Warum-Fragen. Wie in 5,28 f. sucht Esra die Ursache des fatalen Schicksals Israels zu ergründen (4,23b. c): (b ) , Warum ist Israel den Heiden zur Beute1 gegeben, das Volk, das du liebtest, ruchlosen Stämmen, (c) [warum ist] das Gesetz unserer Väter ungültig gemacht2, und [warum] existieren die geschriebenen Satzungen nicht mehr3?'

Die formale und sachliche Parallelität der ersten und der letzten beiden Verszeilen erlaubt es, V. 23b.c als Doppelfrage aufzufassen. In ihr wird wiederum das Grundproblem thematisiert, mit dem sich der Verfasser von 4Esr auseinandersetzt. Die politische Katastrophe Israels, die in der Auslieferung des Gottesvolkes an die Heiden ihren Höhepunkt erreicht4, erschüttert den Glauben an die Wahrheit der Verheißung und stellt die Macht des Wortes Gottes radikal in Frage. Der Visionär erblickt in der Diskrepanz, die zwischen der Erwählung Israels und seiner geschichtlichen Ohnmacht besteht, ein unlösbares Problem. Wie kann Gott es zulassen, daß sein Volk (quem dilexisti populum — vgl. 5,27b; 6,58; sBar 21,21) öffentlich zuschanden wird — der Herrschaft ,ruchloser Stämme' achtlos preisgegeben? In der Frage steckt die bittere Erfahrung der Ferne Gottes, die der ,Bürgschaft' seines Namens widerspricht (vgl. V. 25). 1 Mit ArabEw; vgl. VIOL. II, Nachtrag S. 352. Ebenso L. GRY, a.a.O. I, 31: "Pourquoi Israël est-il une proie livrée aux Nations". 2 ,(et lex patrum nostrorum) in inritum deducta est'; im Original ist vielleicht das Verb "HD I (HOPH.) vorauszusetzen (Syr liest dasETHPA. vonbetel). 3 ,et dispositiones scriptae nusquam sunt'. Der PI. ,dispositiones' geht vermutlich auf ôia&rjxai zurück (vgl. Syr: ,Verträge'; Armen: ,testamenta'). Nach dem oben S. 30 Anm. 1 Gesagten wird man auch hier auf D'j?.n — Dipl! zurückschließen dürfen (gegen VIOL. II, Anm. z. St. ; auch H. GUNKEL übersetzt: ,Satzungen' — anders L. GRY: "L'Alliance des Écritures". "Il s'agit des Alliances mentionnées par VÉcriture . . . Allusion à rà ßißlia rov vàfiov (ßißliov ôia&Tjxr]ç), qui furent lacérés et brûlés par ordre d'Antiochus Épiphane (I Macc. I, 56, sq.) ! Ces souvenirs pouvaient renaître après la catastrophe dont les Romains étaient les auteurs." [a.a.O. I, 31 Anm. z. St.]). Für ,nusquam (sunt)' ist im Original wohl "TIS pX anzunehmen. 4 Der Verfasser sieht in der Katastrophe von 587 v. Chr. die Ereignisse des Jahres 70 n. Chr. vorabgebildet.

40

Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

In V. 23 c, dem zweiten Teil der Doppelfrage, kommt die Skepsis gegenüber der Verläßlichkeit der Verheißung offen zum Ausdruck. Der Seher konstatiert nicht nur den Widerspruch zwischen der Erwählung Israels und seiner tatsächlichen Gottverlassenheit (V. 23b), sondern er zieht überdies die Gültigkeit der im Gesetz verbürgten Verheißung expressis verbis in Zweifel. Zwingt nicht der politische Niedergang des Gottesvolkes zu der Annahme, daß Gott seinen im Gesetz verbrieften Heilswillen abrogiert hat? Dann aber wird die Frage nach dem Grund dieser Willensänderung Gottes um so dringender: , W a r u m ist das Gesetz unserer Väter ungültig gemacht, und w a r u m existieren die geschriebenen Satzungen nicht mehr?' Man kann fragen, ob an dieser Stelle eine bewußte Differenzierung zwischen der mündlichen Gesetzestradition (lex patrum nostrorum — vgl. 2Makk 6,1; 7,2.30; 3Makk 1,23; 4Makk4,23; 5,33; 16,16; Sir 8,9) und der schriftlich fixierten Tora im engeren Sinn (dispositiones scriptae) vorliegt 1 . Wichtiger ist die Feststellung, daß das in den parallelen Ausdrücken (lex patrum nostrorum — dispositiones scriptae) thematisierte Phänomen des Gesetzes hier offensichtlich als das Dokument der Erwählung, als der Garant der Bundesverheißung, in den Blick kommt. Leitend ist die Frage nach der Gültigkeit der im Gesetz garantierten Heilszusage Gottes. Die mit der Zerstörung Jerusalems verbundene Vernichtung der (im Tempel aufbewahrten) Gesetzesrollen 2 scheint eindeutig dafür zu sprechen, daß auch die im Gesetz dokumentierte Bundesverheißung ungültig gemacht, außer Kraft gesetzt ist. Diese Möglichkeit einer Abrogation der Verheißung durch Gott selber führt den Seher in eine tiefe Ratlosigkeit. Vergeblich sucht er nach einer Erklärung für diesen sein Erkenntnisvermögen übersteigenden Sachverhalt. Seine Ratlosigkeit bekundet sich auch in der unmittelbar folgenden Klage über die Kürze des Lebens (V. 24a. b), die im Rahmen des bisher Gesagten zu interpretieren ist: Die Tatsache, daß die Glieder 1 Die Behauptung D. RÖSSLERS, daß in der apokalyptischen Tradition von „einem ,mündlich überlieferten Gesetz' . . . keine Rede" sei und daß „die allgemeine Formel ,das Gesetz' . . . auch in dieser Richtung nirgends expliziert" werde (a.a.O. S. 49; vgl. ebd. S. 11), läßt sich im Blick auf die 4Esr 4,23c vorliegende Differenzierung zwischen ,lex patrum nostrorum' und dispositiones scriptae' kaum halten (vgl. F. ROSENTHAI,, Vier apokryphische Bücher aus der Zeit und Schule R. Akiba's, S. 40 Arun. 1 und ebd. S. 103; A . N I S S E N , NovTest IX/1967, 245ff. 267 Anm. 2). — Zur Sache vgl. W . B O U S S E T / H . GRESSM A I W , S. 153ff.; G . F. MOORE, Judaism, Bd. I , S. 251ff.; W . G . K Ü M M E L , Jesus und der jüdische Traditionsgedanke, in: Heilsgeschehen und Geschichte, S. 15ff.; bes. S. 17ff. (vgl. S. 22 Anm. 33 zu Jub 6,22); H. SCHLIER, Der Brief an die Galater (MeyerK 7. Abt., 12. Aufl. 1962), S. 51 f.; E. LOHSE, RGG 3 II, 1515ff. 2 Zu 4Esr4,23cj3 ist die Stelle 14,21 zu vergleichen (quoniam lex tua

i n c e n s a e s t . . .). V g l . H . GUISTKEL, b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 9 9 A n m . n .

Die Problemstellung in 4 E s r

41

des Gottesvolkes ,wie Heuschrecken' (vgl. Ps 109,23) dahinsterben, ohne der verheißenen Heilsgaben teilhaftig zu werden, scheint ebenso wie das politische Mißgeschick Israels die Nichtigkeit der geschriebenen Satzungen' zu bestätigen 1 . So mündet die an der Aporie der Verheißung aufbrechende Klage in die kritische Frage nach der Macht Gottes: ,Wir freilich sind nicht wert, E r b a r m e n zu erlangen. Was aber wird er f ü r seinen (großen) Namen t u n , der über uns ausgerufen ist?' (V. 24c. 25a)

Die kritische Frage, was Gott endlich für seinen Namen einsetzen werde (vgl. Ez 36,22; P s 7 9 , 9 u. ö. 2 ), der doch — als Pfand der Erwählung — Israel zugeeignet wurde und die Erfüllung der Verheißung verbürgt, enthält den ironischen Appell an Gott, seine Macht öffentlich unter Beweis zu stellen 3 . Der Seher fordert den Treueerweis Gottes heraus4, indem er angesichts des fatalen Schicksals Israels Gottes angeblich unverbrüchlichen Namen gegen Gott selber ausspielt. Der unüberhörbar provozierende Ton der Frage, der durch die vorangestellte Niedrigkeitsaussage (,Wir freilich, Erbarmens sind wir nicht wert') kaum entschärft wird5, verrät wiederum die Haltung der Skepsis, die in der Erwartung der Machtergreifung Gottes nur noch denWunschtraum einer frommen Phantasie zu erblicken vermag 6 . 1 4Esr 8,14 wird der Hinweis auf die Vergänglichkeit des Menschen als Argument f ü r die Sinnlosigkeit der Schöpfung angeführt (vgl. 8,4—13). Möglicherweise ist aber auch in diesem Abschnitt speziell an Israel gedacht (vgl. dazu u n t e n S. 81 Anm. 4 u n d S. 82 Anm. 1. 2). 2

3

V g l . H . GTTNKEL/J. BEGRICH, a . a . O . S . 130.

„Weil Israel nach Gottes N a m e n genannt ist (4Esr 10,22), erhebt sich angesichts seines Schicksals die Frage, was Gott f ü r seinen N a m e n t u n werde ( 4 E s r 4 , 2 5 ) ; denn durch den Untergang Jerusalems wird Gottes N a m e nicht geehrt (sBar 67,3)." (H. BIETENHABD, T h W V, 266). 4 Vgl. 4 E s r 3,15: et disposuisti ei [sc. Abraham] t e s t a m e n t u m aeternum et dixisti ei u t non u n q u a m derelinquas semen eius . . . 5 Die Anklage Gottes (V. 25 a) gewinnt durch den Gegensatz ,wir' (pertransimus; nec digni sumus) — ,er' (faciet) eher noch an Schärfe. Alles Gewicht liegt auf der Frage, was Gott im Unterschied zu seinen hinfälligen Geschöpfen zu t u n vermag (vgl. die Übersetzung P. RIESSLERS, a . a . O . 259). 6 Der Abschnitt 4 E s r 4,23b. c - 2 5 a erinnert a n die Klage des J o s u a J o s 7, 7-9 (wie aus der syr. Version ersichtlich, ist 4Esr 4 , 2 5 a nur leicht abgewandeltes Z i t a t aus J o s 7,9: ViTäH ijptf 1 ? n f r S t f r n a i [dieselbe Frage begegnet sBar 5,1]; vgl. auch 4 E s r 4,23b mit J o s 7,7; zu J o s 7,7-9 vgl. A. WENDEL, a . a . O . S. 134f.; C. WESTERMAmsr, ZAW 66/1954, 68). Nach alttestamentlichem Verständnis garantiert das Aussprechen des geoffenbarten, über Israel ausgerufenen Namens J a h w e s dessen Gegenwart (vgl. O. GRETHER, N a m e u n d Wort Gottes im Alten Testament, S. 18-25): „Israel k a n n sich auf den schem jahwe berufen u n d h a t in ihm die Garantie, daß J a h w e es nicht verderben l ä ß t . " (ebd. S. 26) Diese Uberzeugung, auf der auch die Klage J o s 7,7-9 basiert, ist dem Sprecher von 4 E s r 4,22-25 zweifelhaft geworden. Hinter der Frage 4 E s r 4,25 a steht nicht mehr das Vertrauen in die Macht des göttlichen Namens, sondern die Skepsis, die Israels Mißgeschick nur noch als den Erweis göttlicher Ohnmacht zu deuten

42

Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

Zusammenfassend ist vorläufig folgendes zu bemerken: Das Ereignis des Niedergangs Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. bildet den (durch die pseudepigraphische Einkleidung der Apokalypse absichtlich verschleierten) geschichtlichen Hintergrund aller bisher genannten Klagen Esras. Seine vorwurfsvollen Äußerungen sind jedoch nicht nur als Niederschlag der bitteren Erfahrung einer den Glauben zutiefst erschütternden Katastrophe zu werten. Sie stellen vielmehr selbst bereits einen Versuch dar, mit dieser Erfahrung fertig zu werden, sind also weniger als unmittelbarer Ausdruck des Erlebten, sondern schon als Reaktion auf das Erlebte zu verstehen. In ihnen spiegelt sich eine bestimmte Einstellung wider, die gegenüber der eigenen (negativen) Geschichtserfahrung eingenommen und durch die diese in gewisser Weise zugleich ,bewältigt' wird. Die Position, die der Visionär bezieht und die auch für den Verfasser von 4Esr offensichtlich verführerisch nahelag, ist die der Skepsis, welche Gottes Verheißung nach den Ereignissen des Jahres 70 n. Chr. als widerlegt ansieht und eine fromme Rechtfertigung des göttlichen Waltens angesichts des unseligen Geschicks Israels nicht mehr zu erschwingen vermag1. — Im folgenden soll die These, nach der die Klagen Esras als Ausdruck einer (der Erfahrung bereits überlegenen) Einstellung zu würdigen und selber schon als Versuch einer Antwort auf das Erlebte aufzufassen sind, weiter begründet und erhärtet werden. 2. Die Universalität der Sünde und das Problem der Verheißung Im Mittelpunkt der bisher erörterten Aussagen, die durchweg die Gedanken des angefochtenen Sehers wiedergaben, stand die Frage nach der Wahrheit der Verheißung. Die Reden Esras kreisten fortgesetzt um dies eine Problem, das an dem Widerspruch zwischen der Erwählung der Stämme Jakobs und ihrem Ausgeliefertsein an fremde, gottfeindliche Mächte aufbricht. Wiederholt wurde das Mißverhältnis von Bundesverheißung und geschichtlicher Wirklichkeit hervorgehoben. Bemerkenswert ist, daß die Frage nach dem Grund der politischen Ohnmacht des Gottesvolkes in den bisher behandelten Texten fast ausschließlich als Frage nach der Verläßlichkeit der ,promissio Dei', d. h. als Frage nach der Treue Gottes zu seinem im Gesetz dokumentierten Heilswort, expliziert wurde. Die Erörterung der vermag und in deren Augen sich der Gedanke an ein künftiges Eingreifen Gottes als Illusion darstellt (vgl. die Klage Esras 4Esr 10,21-23). 1 Vgl. dagegen nur die sich in ähnlicher Situation (587 v. Chr. ?) erhebende Gerichtsdoxologie Klgl 1,18a; vgl. auch Klgl 2,17 sowie 3,38 (im Zusammenhang der didaktischen Fragen 3,34ff.).

Die Problemstellung in 4 E s r

43

Schuld Israels spielte kaum eine nennenswerte Rolle. Nur an einer Stelle (3,28-36) begegnete eine Reflexion über die Sünde Israels1, aber der Blick auf die nicht zu leugnenden Verfehlungen des Gottesvolkes wurde dort im Verlauf der Argumentation vom Seher selbst abgebogen, das Gewicht der Schuld Israels durch den Hinweis auf den unermeßlichen Frevel der ,Weltbewohner' (d. h. der Heiden) bewußt relativiert. Immerhin zeichnete sich in der Frage: ,Handeln denn etwa die Bewohner Babels besser und hast du deshalb Zion +verlassen+ ?' (3,28) bereits eine bedeutsame Akzentverschiebung gegenüber denjenigen Aussagen ab, welche die Aporie der Verheißung ausschließlich hinsichtlich der Kluft zwischen dem angeblich unverbrüchlichen Wort Gottes und der seine Ohnmacht entlarvenden Realität thematisierten. Denn wo das Problem des Ausbleibens der Verheißung im Horizont des menschlichen Verhaltens erörtert wird, wo die Möglichkeit des Versagens Israels in den Blick kommt (vgl. 4Esr 3,25-27 mit 3,28. 31b), da wird die Erklärung für die Wirkungslosigkeit der göttlichen Heilszusage nicht bei Gott, sondern primär beim Menschen gesucht: Israel hätte die Verantwortung für den ihm auferlegten Leidensweg selber zu tragen, wenn es das ihm von Gott zugesprochene geschichtliche Sein nicht durch ein am Gesetz orientiertes Verhalten bewährte, die Erwählungsgnade durch Mißachtung des göttlichen Willens sträflich aufs Spiel setzte und damit den Völkern gleich wurde. Tatsächlich nimmt die in 3,28 anklingende Frage nach dem Verhältnis von Schuld und Schicksal, die mit der Frage nach dem Grund des paradoxen Geschichtshandelns Gottes eng zusammenhängt (beachte das ,propter hoc' in 3,28), in den Reden Esras einen ungleich breiteren Raum ein, als es nach den eingangs zitierten Texten den Anschein hat. Freilich ist nach dem bisher Gesagten von vornherein nicht zu erwarten, daß der Seher sich bereitfinden könnte, Gott von seiner Verantwortung für die fatale Situation seines Volkes zu entlasten. Das zeigte sich bereits in dem erwähnten Abschnitt 3,28-36, in dem das Bemühen Esras erkennbar wurde, die Verfehlungen Israels zu bagatellisieren, so daß die kritische Frage nach der Wahrheit der Verheißung am Ende in aller Schärfe bestehen blieb. Jedoch findet sich die Tendenz, die Schuld des Gottesvolkes gegenüber der Babels als unerheblich herauszustellen, in den übrigen Partien der Reden Esras nicht. Bezeichnender für die Art seines Denkens sind dagegen diejenigen Aussagen, in denen er ein erschütterndes Bild des von Generation zu Generation offener zutage tretenden Abfalls des Gottesvolkes zeichnet und die Gottlosigkeit Israels in einen 1

Vgl. auch 4 E s r 5,30 (s. o. S. 31).

Zusammenhang

44

Die Aporie der Verheißung als Grundproblem der Apokalyptik

mit der Sünde der gesamten Menschheit bringt. Der auffällige Sachverhalt, daß der Visionär an diesen Stellen unverblümt von den Verfehlungen Israels reden kann, ohne Gefahr zu laufen, in einen Selbstwiderspruch zu geraten, ohne also gezwungen zu sein, seine Gott gegenüber vorgebrachten Anklagen zu revozieren, erklärt sich offenbar daraus, daß er die Sünde hier keineswegs als Schuld, sondern vielmehr als Schicksal, als ein ebenso rätselhaftes wie unaufhaltsames Verhängnis ansieht, das die Menschheit insgesamt überkommt und dem auch Israel ausgeliefert ist. Damit stellt sich für Esra das Theodizeeproblem, soweit ,,es sich auf die Fragen nach Woher und Allgemeinheit der Sünde erstreckt" 1 . Diesem Problem kommt zwar innerhalb seiner Aussagen keine eigenständige Bedeutung zu, sondern es ist aufs engste mit der „Frage nach Sinn und Wert der göttlichen Verheißung" 2 verklammert und wird letztlich auch nur in Beziehung auf diese Frage verhandelt 3 . Doch indem der Seher das in immer neuen Klagen über die Universalität der Sünde und die Macht des Bösen breit entfaltete Problem der Theodizee in seine Grundfrage nach der Wahrheit der Erwählung Israels hineinzieht, verschärft er zugleich die Aporie der Verheißung und radikalisiert das in Frage stehende Problem der Treue Gottes zu seinem Volk. Der oben zurückgestellten Erörterung dieses Zusammenhangs haben wir uns nunmehr zuzuwenden. Ein sehr aufschlußreicher Hinweis auf die Problematik der Theodizee findet sich bereits in der bisher nur beiläufig erwähnten geschichtlichen Einführung 3,4-27. In dem Schlußabschnitt dieser als Gebet stilisierten Einleitung (3,23-27) wurde das Schicksal der Gottesstadt auf die Sünde ihrer Bewohner zurückgeführt: ,Et deliquerunt qui habitabant civitatem' (V. 25 b; vgl. den sich auf diesen Satz beziehenden V. 27). Bezeichnend ist nun, daß diese Bemerkung über das verhängnisvolle Vergehen der Bewohner Zions sofort durch den Zusatz modifiziert wird: ,in omnibus facientes sicut fecit Adam et omnes generationes eius; utebantur enim et ipsi cor malignum' (V. 26). Das Interesse des Sehers besteht also darin, das die einzelne Verfehlung (V. 25b) übergreifende Sündenschicksal der Geschichte der 1

2

E . BRANDENBURGER, a . a . O . S . 2 8 A N M . 1.

Ebd. S. 30. „Das Schicksal der Welt hat für den Seher sekundäres Interesse. Das entscheidende Problem ist das Schicksal Israels." (W. MTXNDLE, ZAW 47/1929, 237 Anm. 1; vgl. ebd. 238; vgl. auch R. KABISCH, Das vierte Buch Esra auf seine Quellen untersucht, S. 29) Unzutreffend J. KÖBERLE, Sünde und Gnade im religiösen Leben des Volkes Israel bis auf Christum, S. 651 f.: „Nach dem Eingang seines Buches sieht es sogar aus, als ob ihm die Frage, warum Gott überhaupt die Sünde der Menschen in seine Welt habe kommen und in ihr •wachsen lassen, wichtiger sei als die andere, warum Israel so viel schwerer für seine Sünde gestraft worden sei wie die andern Völker." 3

Die Problemstellung in 4 E s r

45

Menschheit zu akzentuieren. Darum hebt er hier im Anschluß an die Aussage in V. 25 b die unterschiedslose Sündhaftigkeit aller Generationen seit Adam hervor und bringt diesen unheimlichen Sachverhalt mit dem ,bösen Herzen' in Verbindung, das alle Nachkommen Adams tragen1 (vgl. V. 20ff.). Die Sünde der von der Katastrophe Zions unmittelbar betroffenen Generation ist nicht isoliert zu betrachten, sondern steht im Zeichen der Sündenverfallenheit aller Adamskinder, die sich wiederum aus dem nicht nur Adam, sondern faktisch allen Menschen innewohnenden ,bösen Herzen' (cor malignum) herleitet2. Mit einer ähnlichen, den Verhängnischarakter der Sünde noch radikaler zur Geltung bringenden Bemerkung kommentiert der Seher innerhalb desselben Geschichtssummariums das Sinaiereignis (vgl. 3,17-22 3 ). Gott gab zwar dem Samen Jakobs das Gesetz und dem Volke Israel die Gebote (V. 19b), aber er nahm das ,böse Herz' (cor malignum) nicht von ihnen, daß sein Gesetz in ihnen Frucht brächte (V. 20). ,Denn da er ein böses Herz (in sich) trug4, verging sich Adam als erster6 und ward besiegt (sc. von der Macht der Sünde) — und 1

, U t e b a n t u r ' = ,sie trugen' (aus È%nr\aavxo — WtM [?] ; QHS rPH [?]; vgl. z. St.). L . G U Y gibt den Satz passivisch wieder: " ( é t a n t égarés) eux aussi par le Coeur m é c h a n t " (a.a.O. I, 17). 2 Vgl. W . M U N D L E , ZAW 4 7 / 1 9 2 9 , 2 3 9 : „Israels Sünde ist nur ein Spezialfall der menschlichen Sündhaftigkeit ü b e r h a u p t ; diese h a t ihre Wurzel in dem bösen Keime, der das Gesetz gehindert hat, F r u c h t zu bringen." 3 Zur Theophanieschilderung 4Esr 3,18 vgl. J ö r g J E R E M I A S , Theophanie, S. 51 f. 107. 127. 162. 4 L. GRY setzt das Verb (aram.) voraus und formt den Satz folgendermaßen u m : "Car le Coeur méchant avait entraîné A d a m . . ." (a.a.O. I, 13). Ähnlich H . G S E S S M A N N (bei V I O L . I I , 337) : „ein böser Sinn trieb (ihn)". Dabei ist allerdings außer acht gelassen, daß nicht von ,sensus', sondern von ,cor' gesprochen •wird. Interessant ist die Erklärung der Stelle bei R . H . C H A R L E S , The Apocalypse of Baruch, S. 93 (Anm.): " W e should observe t h a t baiolans in I I I . 21 . . . represents vl Gottes a n z u b e t e n (vgl. V i t A d 11 ff.), d a r a u f (mit seinen Engelm ä c h t e n ) v e r b a n n t , seiner i h m ursprünglich ebenfalls eignenden — s t a t t vofiä» bzw. vo/ifj [vgl. schon G. V O L K M A R , a.a.O. 128. 249 Anm. z. St.]) investigabili . . .' 2 L. G U Y S Rekonstruktion des Textes (vgl. a.a.O. I, 287. 289) überzeugt nicht. E r stützt sich vornehmlich auf die arab. Versionen, die ihre Vorlage an dieser Stelle offensichtlich mißverstanden und eigenwillig veränderten. 3

Vgl.

VIOL. I, 2 6 4

(Anm.

zu

Syr;

Aeth);

VIOL. I I , 127 A n m .

z. St.

(mit

Verweis auf 4Esr 9,4: ,quoniain de 1his erat Altissimus locutus a diebus, qui fuerunt ante ab initio ' [= üVis? ni» «]). 4 Syr bezieht das in der Vorlage vorauszusetzende naiv rj yevia&ai (vgl. A. H I L G E N F E L D , Messias Judaeorum, S. 7 4 ) wohl zu Recht auf die Menschen (vgl. VIOL. I, Anm.). Anders Aeth: ,daß ich bereitete, bevor sie jetzt ward, ihre Welt' (ebenso L a t : ,cum essem parans eis [his], qui nunc, antequam fieret illis, saeculum'; die Wendung ,antequam fieret saeculum' begegnet auch PsPhilo 60,2).

138

Die Zwei-Äonen-Lehre

, Damals' des vorgeschichtlichen Geschehens der Schöpfung konfrontiert der Apokalyptiker das ,Jetzt' der geschichtlichen Zeit. Zu Jener Zeit' erfuhr das schöpferische Handeln Gottes keinen Widerspruch, denn es gab (damals) ja noch niemanden (außer Gott)1. ,Jetzt aber sind sie geschaffen +an bereitetem Tisch, auf unerschöpflicher Weide+ (vgl. Ps 23,1. 2. 5)2 und sind (doch) verdorben in ihrem Wesen.' Gegenüber dem ,Damals' jenes vorgeschichtlichen Geschehens erscheint die Geschichte selber als die Zeit, in der die anfängliche Einheit von Gott und Welt aufgehoben und die Harmonie zwischen dem Schöpfer und seinem Werk zerstört ist. Seit es Menschen gibt, ist die Schöpfung pervertiert: (V. 20) (a) E t consideravi saeculum meum, et ecce erat perditum; (b) et orbem meum, et ecce erat periculi: (c) propter cogitationes + eorum, qui + 3 in eo advenerunt.

Der Verfasser hat offensichtlich Gen 6,11 f. im Blick4 (vgl. V. 20a mit Gen 6,12a: nrintö nan} T^xrrnit D'nVg möglicherweise klingt auch in dem ,corrupti sunt moribus eorum' [V. 19] Gen 6,12 b an). Er erklärt das Ereignis der Entfremdung von Gott und Welt als die Folge des sündigen .Gebarens' der Weltbewohner (vgl. V. 20 c mit V. 19 Ende). Seit dem Einbruch der (im Verhalten der Menschen sichtbar werdenden) Sünde ist die Schöpfung entartet. Das dem Menschen als (immerwährende?) Bleibe zugedachte ,saeculum' präsentiert sich dem Anblick Gottes als die verdorbene, im Zustand der ,Gefahr' (vgl. sBar 56,10) befindliche Welt(zeit) — was sachlich nichts anderes besagt, als daß die ursprünglich gute Schöpfung nun als ,saeculum hoc', nämlich als die unheilsträchtige Zeit dieses Äons, erscheint (vgl. wieder 4Esr 7,12 und die Kennzeichnung der ,Wege dieses Äons' als ,periculorum plenae'). Der Apokalyptiker rekurriert an dieser Stelle nicht explizit auf die Sünde Adams, die ihm sonst als Ursache der Depravation der Schöpfung gilt. Es ist jedoch zu vermuten, daß für sein Verständnis die Aussagen von Gen 6,11 f., auf die er sich deutlich bezieht, durchaus 1 Die Aussage verschweigt anscheinend absichtlich das Vorhandensein der Engel. Liegt Polemik gegen dualistische Spekulationen vor? (Vgl. die oben berührte Vorstellung von der Rebellion Satans und die im Spätjudentum verbreitete Lehre vom Engelfall; s. o. S. 71 [Exkurs II]; ferner S. 114f.) Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Nichterwähnung des Engelfalls in V. 19f., was um so auffallender ist, als der Verfasser in V. 20 auf Gen 6,12 anspielt (vgl. J. KEÜLEBS, a.a.O. S. 26). 2 Anspielung auf den paradiesischen Zustand der Schöpfung (vgl. H. G U N K E L ,

b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 8 4 A n m . m ) . 3

Statt ,quae' (Lat); vgl. die syr. Version.

4

S o a u c h H . GUNKEL, b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 8 4 A n m . n ; VIOL. I I , 1 2 8

Anm. z. St. Diese Beobachtung widerspricht der Rekonstruktion des Textes durch L. GBY (vgl. a.a.O. I, 289).

Die Geschichte als die unheilvolle Zeit dieses Äons

139

im Gefälle jener folgenschweren Tat Adams liegen1. Auf jeden Fall hat er nicht die Verfehlungen der Menschheit insgesamt, sondern lediglich die der Sintflutgeneration im Auge, wenn er den korrupten Zustand der Welt auf das korrupte Verhalten der Menschen zurückführt. Nicht erst das Anwachsen des Bösen im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte, sondern schon die unüberholbare Sünde des Anfangs bewirkte den Verfall der Schöpfung. Dem entspricht es, daß das (göttliche) Urteil über die Schöpfung: ,et ecce erat perditum' — nicht erst am Ende, sondern bereits am Anfang der Geschichte gefällt wird. — Bemerkenswert ist, daß der Verfasser von 4Esr auf eine ausgesprochen spekulative Beantwortung der Theodizeefrage verzichtet. Er konstatiert lediglich das Faktum, daß die von Gott geschaffene Welt ab ovo verdorben ist ,propter cogitationes +eorum, qui+ in eo advenerunt', stellt aber keine Reflexionen über die Herkunft der Sünde des Anfangs an 2 . Wie die folgenden Aussagen zeigen, vermochte die Perversion der Schöpfung den Heilsentwurf Gottes jedoch nicht gänzlich in Frage zu stellen. Der Widerspruch, den Gott selber von Seiten seiner Geschöpfe erfährt, hindert ihn nicht daran, seine Schöpfermacht durchzusetzen : (V. 21) ,Ich sah es und verschonte ein klein wenig und rettete mir die Beere von der Traube und den Sproß von dem Walde. (V. 22) So gehe denn dahin die Menge, die nutzlos geschaffen ist; und gerettet werde meine Beere und mein Sproß, die ich mit vieler Mühe gemacht habe.'

Wie in V. 20 Gen 6,11 f. (z. T. wörtlich) aufgenommen war, so erinnert V. 21 an das Ereignis der Bewahrung Noahs (und seines Geschlechtes) vor der Sintflutkatastrophe (vgl. Gen 7,23; 8,18 — dem oben in V. 21 genannten ,peperci' entspricht genau das in 4Esr 3,11 auf Noah bezogene ,dereliquisti'). Allerdings ist sofort ergänzend anzumerken, daß der Apokalyptiker das im Sintflutgeschehen sichtbar werdende errettende Handeln Gottes eschatologisch interpretiert. Er versteht die Verschonung Noahs typologisch als Vorausdarstellung der endzeitlichen Bewahrung der Gerechten 3 . Als Gott der Entartung 1 Bemerkenswert ist, daß an dieser Stelle der naheliegende Rekurs auf den Engelfall vermieden ist. 2 Dies gilt auch im Blick auf die oben (S. 107ff.) erörterte Aussage 4Esr 7,11 f. Auch dort fragt der Apokalyptiker nicht hinter das Faktum der Gebotsübertretung Adams zurück (vgl. dagegen die eingangs besprochenen Äußerungen des Sehers 4Esr 3,20-22; 4,30; 7,116 [s. o. S. 44ff.]). 3 So auch J. HEHLERS, a.a.O. S. Í77 (vgl. dagegen P. VOLZ, a.a.O. S. 37). Belege zur eschatologischen Noahtypologie und der Parallelisierung von Sintflut und Weltende im Spätjudentum bei A. STROBEL, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 97 Anm. 5 (vgl. ebd. S. 289f.); vgl.

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Die Zwei-Äonen-Lehre

seiner Schöpfung ansichtig wurde, rettete er (sich) ,die Beere von der Traube und den Sproß von dem Walde' (sc.) für den künftigen Äon! Es handelt sich in 4Esr 9,21 f. also nicht um eine Beschreibung der Erwählung Israels1, sondern um die der Bestimmung eines eschatologischen Rests, der (im Gegensatz zu der übrigen Menschheit) unversehrt aus dem Endgericht hervorgeht2. Der eschatologischen Errettung einer unscheinbar kleinen Anzahl von Gerechten wird die Vernichtung der überaus großen Menge aller übrigen entsprechen. Daß der Text in diesem Sinne zu interpretieren ist, ergibt sich einmal aus der in V. 21 f. vorliegenden eschatologisch geprägten Terminologie. Im Unterschied zu den aus der Erwählungstradition stammenden Verben ,eligere, segregare, suscitare, nominare, sanctificare, adquirere, providere, diligere, desiderare' (vgl. 4Esr 3,13f. 16. 23; 5,23-27) wird mit den Verben ,salvare' und ,servare' (bzw. ,perire') vornehmlich das eschatologische Handeln Gottes an den Frommen (bzw. an den Gottlosen) bezeichnet (vgl. nur 4Esr 7,20. 60f.; 8,3. 41. 55; 9,13. 15; aber auch 7,27. 85. 95; 13,23)3. Der eschatologische Bezug der Aussagen in 4Esr9,21 f. ist außerdem eindeutig durch den Kontext gesichert. Von 4Esr 7,17ff. an kreist der Dialog fortgesetzt vor allem um die Frage, warum der künftige Äon nur einer geringen Zahl von Gerechten vorbehalten bleibt (vgl. 4Esr 7,17f. 48. 139; 9,15f. einerseits mit 4 Esr 7,20. 50ff. 60f. ; 8, lff. 41. 51ff. 55 und 9,13 andererseits). auch O. B E T Z , a.a.O. S. 55; W. S T A E R K , Soter II, S. 44-46; B I L L . I I I , 773. — Vgl. in diesem Zusammenhang auch sBar 57,1-3. Nach der Schilderung der verhängnisvollen Tat Adams (der auch der Engelfall untergeordnet wird) und nach einer kurzen Bemerkung über das Sintflutgeschehen (vgl. 56,5-16) wird (an der Stelle Noahs) Abraham als Garant der Hoffnung auf den erneuten Olam und der Verheißung künftigen Lebens eingeführt. 1 So z.B. in PsPhilo28,4 (einer mit 4Esr 9,18-22 verwandten Aussage): ,Sed memor ero temporis eius quod fuit ante secula in tempore quo non erat homo (vgl. 4Esr 9,18), et iniquitas non erat in eo, cum dixi u t fieret seculum (vgl. 4Esr 9,18) et laudarent me qui venturi erant in eo. E t plantabo mihi vineam grandem, et de ea eligam plantationem (vgl. 4Esr 9,21), et disponam eam, et nominabo eam nomine meo, et erit mea Semper' (Text nach G. K I S C H , a.a.O. 194). Die zwischen PsPhilo 28,4 und 4Esr 9,18-22 bestehenden traditionsgeschichtlichen Querbeziehungen sind unverkennbar. Man wird aber die sich noch stärker abzeichnenden Unterschiede nicht übersehen dürfen. Kennzeichnend f ü r die zitierten Sätze aus PsPhilo 28,4 ist die enge Verbindung von Schöpfungs- und Erwählungsgeschehen. Das Sintflutereignis, das 4 Esr 9, 18-22 im Mittelpunkt des Interesses steht (vgl. 9,20), bleibt ganz außer Betracht. Insofern wäre es verfehlt, PsPhilo 28,4 zur Interpretation von 4 E s r 9 , 2 1 f . heranzuziehen. 2 Vgl. im Kontext die Aussagen 9,15f. und 9,17 (vor allem das Stichwort .Gericht' in 9,17c — siehe dazu ausführlich unten S. 233fF.). Unter der Voraussetzung, daß es sich bei der ,Beere' und dem ,Sproß' (9,21 f.) nicht um Israel, sondern u m den Kreis der Gerechten handelt, die sich auf Grund ihrer Verdienste durch das Endgericht hindurchzuretten vermögen, ist gegen die literarische Zusammengehörigkeit der Verse 9,14^17 und 9,18ff. nichts einzuwenden (gegen P . VOLZ, a.a.O. S. 37). 3 Siehe auch unten S. 149 Anm. 1.

Die Geschichte als die unheilvolle Zeit dieses Äons

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Der Abschnitt 4Esr 9,18-22 bestätigt also die oben aufgestellte These, daß die Geschichte in der apokalyptischen Theologie scharf von der Schöpfung unterschieden und als die von vornherein im Schatten des Unheils liegende Zeit dieses Äons ausgelegt wird. Als die ,Gott entfremdete Schöpfung' steht die Geschichte von Anfang an in einem radikalen Gegensatz wie zu Gott selber so zu der .idealen Vorzeit' der noch unverletzten Eintracht von Gott und Welt. Ahnlich wie in 4Esr 7,11 ff. gilt auch 4Esr 9,18 ff. der anfängliche Einbruch der Sünde, der die korrupte Verfassung dieses Äons verschuldete, als Ursache dafür, daß die eigentliche Schöpfungsabsicht Gottes vereitelt und der Vollzug des göttlichen Heilsentwurfs suspendiert wurde. Die geschichtsauslösende Sünde des Anfangs hatte „eine völlig neue Situation geschaffen" 1 . Zwar wurde die göttliche Verheißung nicht abrogiert, aber ihre Erfüllung transzendiert nun die Geschichte (vgl. 4Esr 4,26c. 27. 29), und ihr Adressat ist nicht mehr Gesamtisrael. Denn das schöpferische Wort Gottes wird nicht innerhalb der heilsleeren Zeit dieses Äons, sondern erst im künftigen Äon eingelöst, und es führt auch dann nicht das Heil des erwählten Volkes, sondern ausschließlich das der kleinen Schar der Gerechten herbei (quae in temporibus i u s t i s repromissa sunt — 4Esr 4,27). Aus diesem Sachverhalt ergibt sich zwingend, daß nicht die Geschichte, wohl aber der künftige Äon durch das göttliche Verheißungswort konstituiert ist — m. a. W.: nicht dieser unheilvolle und von Gott faktisch preisgegebene Äon, sondern der wocAgeschichtliche, ausschließlich den Gerechten vorbehaltene Zeitraum des Eschaton ist nach apokalyptischer Auffassung durch das ,verbum promissionis' begründet 2 . Damit hängt ein Weiteres zusammen: Wenn Gott seine Schöpfungsabsicht erst im künftigen Äon realisiert, so folgt daraus mit Notwendigkeit, daß er nicht innerhalb der Geschichte auf den Plan tritt, sondern erst am Ende erscheint, wenn dieser Äon versiegelt wird. I n diesem Zusammenhang ist auch auf die Vorstellung zu verweisen, daß die Gerechten bis zum Akt des eschatologischen Gerichts in ,Kammern' verwahrt werden und erst nach Ablauf der Zeit dieses Äons den ihnen zustehenden Lohn in Empfang nehmen: Gott wird die ,animae iustorum' nicht aufstören und nicht aufwecken, bis das 1

So richtig D. R Ö S S L E R , a.a.O. S. 75. Zutreffend bemerkt N . N . G L A T Z E B : „Dem Apokalyptiker wird es unmöglich, für diese verkehrte Welt das Heil zu erschauen; er läßt sie in sich selbst verfallen." „Seine Hoffnung gilt einer Zukunft, die erst nach der Vernichtung dieses Aeons anheben kann." (Untersuchungen zur Geschichtslehre der Tannaiten, S. 15) „In dem, nach der Vernichtung dieses Aeons begründeten neuen, erfüllt sich für den Apokalyptiker all das, was die Geschichte nicht zu bewirken vermochte: das Durchdringen der göttlichen Gerechtigkeit, der Sieg eines göttlichen Heilsplanes, eine Vergeltung für Gut und Böse" (ebd. S. 25). 2

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Die Zwei-Äonen-Lehre

angesagte Maß erfüllt ist (4Esr 4,37 c)1. Der Geschichtsablauf selber ist durch den Entzug Gottes bestimmt. Erst wenn das von Anfang an festliegende Maß der Zeiten voll ist, wird dieser Äon dem Schicksal der Gottferne entrissen: ,Et respexit Altissimus super sua tempora, et ecce finita sunt, et saecula eius conpleta sunt' (4Esr 11,44). Zusammenfassend läßt sich sagen: „Der ,Gott' der Apokalyptik ist der der Geschichte ferne ,Gott'. " 2 Er wird nicht mehr als der sich kontingent offenbarende Begleiter des geschichtlichen Geschehens verstanden, sondern rückt in eine äußerste Distanz zur Geschichte. Nicht der „Satz, daß Gott seinem Plan entsprechend die Geschichte bis hin zu jedem Ereignis lenkt, und daß er, indem er seinen Plan verwirklicht, in jedem Geschehen selbst handelt, ist die schlechthin wesentliche Voraussetzung des apokalyptischen Denkens" 3 , sondern vielmehr der Gedanke, daß dieser Äon als ganzer im Zeichen der Ferne Gottes steht. Aber diese Aussage enthält nur die eine Seite der Sache. Denn der apokalyptischen Behauptung der geschichtlichen Ferne Gottes entspricht das apokalyptische Postulat der ati/?ergeschichtlichen Nähe Gottes. So wie Gott in einer vorgeschichtlichen Urzeit (als der Schöpfer) präsent war, so wird er nach apokalyptischer Auffassung am Ende dieses Äons (als Richter der Gottlosen und Retter der Gerechten) erneut auf den Plan treten 4 .

III. Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung 1. Die antispekulative Funktion der Lehre vom Gesetz a) in der Esraapokalypse Wir haben bereits dargelegt, daß die Zwei-Äonen-Lehre zumindest in der Esraapokalypse polemisch konzipiert ist. Sie enthält eine erste und zugleich grundlegende Antwort auf die Fragen, denen sich der 1

Siehe dazu ausführlich unten S. 277 ff. E. JÜNGEL, a.a.O. S. 287 Anm. 1; vgl. auch G.KITTEL, Die Religionsgeschichte und das Urchristentum, S. 64. 3 D. RösstEB, a.a.O. S. 60. Ähnlich auch H. H. R O W L E Y , der als Grundsatz apokalyptischen Denkens behauptet, ". . . that God is in control of history. He is not an indifferent spectator of human affairs . . ." (a.a.O. S. 167). 4 Vgl. W. B O U S S E T - H . GBESSMANN, S. 361: „Weltschöpfung und Weltgericht sind eben die beiden großen Augenblicke, in denen sich Gott betätigt, in denen er .erscheint', .kommt', ,hervortritt'." Vgl. ebd. S. 358: „Der Glaube der Frommen dieser Zeit konzentriert sich sichtlich auf die fernste Vergangenheit und auf die letzte Zukunft, auf Schöpfung und Gericht. Gott ist der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erde, und er ist der gerechte und furchtbare Bichter der Welt." (Vgl. in diesem Zusammenhang auch J . K E U L E B S , a.a.O. S. 146f.; O. BETZ, a.a.O. S. 49 und ebd. Anm. 5.). 2

Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung

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Apokalyptiker konfrontiert sieht und die er durch die fiktive Gestalt des Esra vorbringen läßt 1 . Zwar wird dem Visionär zunächst eindringlich die Unerforschlichkeit der Wege Gottes demonstriert (vgl. im ersten Gesprächsgang die Abschnitte 4Esr 4,1-11. 13-21; entsprechend im zweiten: 4Esr 5,33-40). Aber schon in Visio I gibt der ,angelus interpres' seine anfängliche Zurückhaltung auf und gewährt dem Seher Einblick in das Rätsel der Geschichte. Hatte Esra zuvor nachdrücklich die Gültigkeit und Verläßlichkeit der göttlichen Verheißung in Frage gestellt, so wird ihm bereits 4Esr4,26c-29 die Weisung zuteil, daß die Geschichte (als ,saeculum hoc') insgesamt dem Unheil verfallen ist und darum die Möglichkeit verwirkt hat, Schauplatz der Heilsepiphanie zu sein. Damit werden die vorwurfsvollen Fragen und Klagen des Visionärs als unbegründet zurückgewiesen. Denn die Heilsgaben, deren Realität Esra in Zweifel zieht, sind überhaupt erst in einem jenseitigen, «acAgeschichtlichen Zeitraum zugänglich (vgl. 4Esr4,27 mit 7,14). Dieser Äon, der erfüllt ist von Trauer und Ungemach, muß als ganzer vergehen, wenn das verheißene Heil epiphan werden soll: (4,28) Seminatum est enim maluxn +de quo + me interrogas +de eo+, et necdum venit destrictio ipsius. (29) Si ergo non mensum fuerit, quod seminatum est, et discesserit locus, ubi seminatum est malum, non veniet ager, ubi seminatum est bonum.

Diese prinzipielle Auskunft des Offenbarungsengels wird später (4Esr 7,1-16) dadurch erweitert und vertieft, daß die Unheilsverfassung dieses Äons auf den Fall Adams zurückgeführt und die Geschichte als ein Verhängnis dargestellt wird, das sich unaufhaltsam und Verderben bringend vollzieht 2 . Der Verweis auf die folgenschwere Verfehlung Adams führt die von Esra vertretene These ad absurdum, daß der Geschichtsverlauf selber die Unglaubwürdigkeit der ,promissio Dei' bezeugt. Es wird sichergestellt, daß die Geschichte notwendigerweise im Schatten des Unheils steht, weil sie im Fall Adams begründet und durch dieses fatale und irreparable Faktum bleibend bestimmt ist. „Die Sünde des ersten Menschen hatte zur Folge, daß das Heil dieser Welt entzogen und in die Künftigkeit des kommenden Äon verlegt wurde." 3 Der Verfasser von 4Esr begegnet dem (in den Warum-Fragen Esras explizit gestellten) Problem der Aporie der Verheißung also mit einer dualistisch konzipierten Zeit lehre, nach welcher der gesamte Weltenlauf in zwei Äonen zerfällt. Betont wird die zwischen beiden 1 2 3

Siehe dazu oben S. 19-67. Siehe oben S. 106ff. D . RÖSSLER, a . a . O . S. 74.

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Die Zwei-Äonen-Lehre

,Weltzeiten' bestehende qualitative Differenz hervorgehoben und — wie wir oben ausgeführt haben — immer wieder darauf hingewiesen, daß Gott seine Heilszusage erst im künftigen Äon einlösen wird. Dabei fällt alles Gewicht auf die Feststellung, daß dieser Äon von Grund auf verdorben ist und wesenhaft im Zeichen der Leiden und des Todes steht. Die Geschichte wird als die durch Adam verschuldete Zeit der Schmerzen und Nöte, der Gefahren und Drangsale, der Krankheiten, der Trübsale und der Vergänglichkeit ausgelegt und damit als ein Seinsgeschick charakterisiert, dem sich niemand zu entziehen vermag. Die negativen Implikationen dieses dualistischen Zeitschemas der apokalyptischen Theologie liegen auf der Hand: Wenn alles Geschehen durch die Sünde des ersten Menschen negativ determiniert und die Geschichte von vornherein und insgesamt als Unheilszeit qualifiziert ist, so sind Fatalismus und ethische Indifferenz die naheliegenden Konsequenzen auf Seiten derjenigen, die zwangsläufig dem Geschehen dieses Äons ausgesetzt sind. Die apokalyptische Behauptung, daß dieser Äon von Gott faktisch preisgegeben wurde, leistet einerseits der Überzeugung Vorschub, daß die geschichtliche Existenz überhaupt sinnlos ist 1 . Andererseits weckt sie sofort die kritische Frage nach den Adressaten des eschatologischen Heils2. Für wen führt Gott die nachgeschichtliche Heilszeit herbei, wenn alle ausnahmslos und doch ohne ihre Schuld ein und demselben Unheilsverhängnis unterworfen sind, das sich als Geschichte vollzieht ? Müßte nicht der Universalität des geschichtlichen Elends eine Universalität des eschatologischen Glücks entsprechen? Verhält es sich etwa so, „daß Israel jetzt lediglich die ,Engen' der Geschichte zu erdulden" hat, „um dann sicher zum Heil zu gelangen" 3 ? (Eine derartige Frage legt sich vor allem im Blick auf das in 4Esr 7,11-16 Ausgeführte nahe.) Dem Verfasser von 4Esr sind alle diese Probleme nicht unbekannt. Der weitere Verlauf des Dialogs ist darum auch deutlich von seinem Bemühen geleitet, die negativen Konsequenzen der von ihm zur Geltung gebrachten Zwei-Äonen-Lehre abzubiegen. Wir haben schon mehrfach festgestellt, daß innerhalb der für die Position des Verfassers kennzeichnenden Aussageschicht von 4Esr wie auch in sBar der Fall Adams merkwürdigerweise nicht für das sündige Verhalten der Menschheit verantwortlich gemacht wird. Die Geschichtswirksamkeit des adamitischen Falls erstreckt sich nach den Aussagen der Offenbarungsreden ausschließlich auf die in den Leiden und im Todesverhängnis zutage tretenden Übel dieses Äons, nicht aber auf die 1 2 3

Vgl. die oben erörterten Klagen Esras. Vgl. nur 4Esr 7,17f. 45ff. D . RÖSSLER, a . a . O . S. 75.

Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung

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Sünde1. Die Verfasser beider Apokalypsen verzichten offenbar bewußt darauf, die Sünde unter die negativen Folgen der Verfehlung Adams zu subsumieren. Hier wie dort soll offensichtlich der Anschein vermieden werden, als seien alle Menschen ausnahmslos und in jeder Hinsicht Objekte des durch Adam ausgelösten Seinsgeschicks. Die Radikalität des dualistischen Ansatzes wird also bereits an entscheidender Stelle eingeengt bzw. relativiert. Dem entspricht es, daß der künftige Äon nach apokalyptischer Anschauung keineswegs allen Weltbewohnern—nicht einmal der Gesamtheit des erwählten Volkes— offensteht, sondern nur einem kleinen Teil der Menschheit zugedacht ist. Worin liegt aber das Kriterium, nach dem sich die Zahl der Erwählten bestimmt? Woran orientiert sich die Entscheidung über Heil und Unheil im Eschaton? Mit diesen Fragen berühren wir das Problem des Verhältnisses von Gesetz und Zwei-Äonen-Lehre, das einer eingehenden Erörterung bedarf. Schon vorweg läßt sich vermuten, daß der Lehre vom Gesetz innerhalb der apokalyptischen Geschichtskonzeption eine antispekulative Funktion zufällt. „Der jüdische Apokalyptiker verweist . . . auf den kommenden Äon nicht nur als auf die Befreiung von diesem [sc. in der Sünde Adams begründeten und sich als Geschichte vollziehenden] Verhängnis. Wird der gebannt auf die Verhängnisse dieses Äons starrende und durch dessen Minderwertigkeit gefangene Blick zurückgewiesen und auf den kommenden Äon hingelenkt, so bedeutet das hier zugleich die Konzentration auf die Stellung gegenüber dem Gesetz, die über die Zugehörigkeit zum kommenden Äon entscheidet."2 Weil sich nach apokalyptischer Auffassung an der geschichtlichen Stellung zum Gesetz das eschatologische Heil oder Unheil entscheidet, kommt dem Gesetz eine Mittlerrolle zwischen diesem und dem künftigen Äon zu. Die Starre des dualistischen Zeitschemas der beiden Weltzeiten wird damit in gewisser Weise wieder abgeschwächt3, die These von der radikalen Diskontinuität der beiden Äonen durch die Behauptung der Kontinuität des Gesetzes zumindest eingeschränkt. Die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes innerhalb der apokalyptischen Theologie soll zunächst an Hand einer Reihe von Aussagen aus der Esraapokalypse erörtert werden. 1 Unzutreffend S. A A X E N (a.a.O. S . 1 8 7 Anm. 2 ) : „In 4Esr und Syr Bar wird die Bolle Adams beim Eintritt der Sünde in die Welt besonders stark betont. Sonst wird die Schuld an der Sünde gern den gefallenen Engeln zugeschrieben . . . " 2 E. B R A N D E N B U R G E R , a.a.O. S. 57. — Völlig unbegründet ist die Behauptimg W. B A L D E N S P E R G E R S , erst „der Gegensatz gegen das Christenthum" habe bewirkt, „daß in der Assumptio, in den Apokalypsen Esra . . . und Baruch . . . die Geltung des Gesetzes eingeschärft wird . . ." (a.a.O. S. 113 Anm. 2). 3 Vgl. F. Ch. P O R T E R , a.a.O. S. 153f.

10

Harnisch, Verhängnis

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Die Zwei-Äonen-Lehre

aa) Der Nachweis der U n e n t s c h u l d b a r k e i t der S ü n d e r Am Ende des schon mehrmals erwähnten Abschnitts 4Esr 7,1-16 wird der Seher aufgefordert, nicht der Faszination des Gegenwärtigen zu erliegen, sondern sich das Zukünftige zu Herzen zu nehmen (V. 16; vgl. V. 13. 15). Der Verweis auf den künftigen Äon scheint die Fragen, mit denen der Seher ringt, zureichend und abschließend zu beantworten. Aber Esra wirft ein (7,17f.): (V. 17) ,Herr, Herr, siehe, in deinem Gesetze hast du bestimmt, daß die Frommen dies erben sollen, die Sünder aber umkommen. (V. 18) So können denn die Frommen die Engen ertragen, in Hoffnung auf die Weiten, die Sünder aber haben die Engen erduldet und sehen die Weiten (doch) nicht.'

Diese Aussage steht im Widerspruch zu einer Fülle gegenteiliger Äußerungen des Sehers, in denen die Totalität des Sündenschicksals behauptet und die Existenz von ,Gerechten' von Grund auf bezweifelt wird 1 . Man könnte allerdings die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Esra auch hier das Vorhandensein von Gerechten nur als irrealen Fall zur Diskussion stellt, de facto indessen wie sonst davon ausgeht, daß niemand dem Schicksal der Sünde zu entrinnen vermag. I n diesem Fall beklagten seine Worte die trostlose Situation aller Menschen, die darin besteht, daß alle die Leiden dieses Äons erdulden müssen, ohne sich der Hoffnung auf die verheißene Heilszeit getrösten zu können 2 . Es ist jedoch äußerst fraglich, ob man die Stelle derart belasten darf. Die Möglichkeit, daß der Apokalyptiker auch in 7,17f. die gegnerische Front zu Wort kommen läßt, hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Vielmehr ist zu vermuten, daß die VV. 17 f. lediglich als Exposition der folgenden Rede des Engels dienen und sachlich bereits diejenige Position anzeigen, die der Verfasser von 4Esr vertritt. Dies wird deutlich, wenn man die Worte des Sehers mit der Antwort des Offenbarers vergleicht. Die Zurechtweisung Esras in V. 19 (,Sei nicht Richter mehr als +der Starke4" und nicht Weiser mehr als der Höchste!') vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß seine Klage durch die Erwiderung des Engels eigentlich nicht korrigiert oder entkräftet, sondern im Gegenteil eher bestätigt wird. „Aus der Klage, die Esra stellvertretend vorbringt, wird eine Anklage gegen den Menschen" 3 : (V. 20) ,Mögen lieber die Meisten der Lebenden ins Verderben gehen, als +daß+ Gottes Gebot und Vorschrift verachtet werde! 1 2

Siehe die oben S. 42 ff. erörterten Aussagen. Vgl. z.B. 4Esr 7,62-69 (bes. 7,67ff.); 7,116f. 119-126.

3

E . BRANDENBURGER, a . a . O . S . 3 2 (z. S t . ) .

Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung

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(V. 21) D e n n Gott h a t den Lebenden, sobald sie zum Leben kamen, feierlich erklärt, was sie t h u n sollten, u m das Leben zu erwerben, u n d was sie halten sollten, u m nicht der Strafe zu verfallen. (V. 22) Sie aber waren ungehorsam u n d widersprachen i h m ; (V. 23) sie erdachten sich eitle Gedanken / u n d ersannen sich ruchlose Lügen; dazu behaupteten sie, daß der Höchste nicht sei, u n d k ü m m e r t e n sich u m seine Wege 1 n i c h t ; (V. 24) sein Gesetz verachteten sie, seine Weisungen2 leugneten sie; seinen Geboten glaubten sie nicht, seine Werke vollbrachten sie nicht. (V. 25) Darum, o Esra, Eitles den Eitlen, Fülle den Vollkommenen.' 3 R Ö S S L E R stellt zu Recht fest, daß der Abschnitt 7 , 1 7 - 2 5 (in dem der Offenbarer erstmalig das Gesetz thematisiert) eng mit dem unmittelbar zuvor Gesagten zusammenhängt 4 . Der in 7,2 ff. begonnene Gedankengang kommt erst in 7,25 zum Abschluß. Der Seher wird also nicht bloß darüber aufgeklärt, daß dieser Äon infolge der Sünde Adams insgesamt dem Unheil verfallen ist (vgl. 7, llf.). Er wird auch nicht nur auf den künftigen Äon verwiesen 6 und davon überzeugt, daß es sinnlos ist, die eschatologische Wende antizipieren zu wollen (vgl. 7,14). Sondern er empfängt darüber hinaus eine ausführliche Instruktion über die Bedeutung des Gesetzes. Daraus ergibt sich, daß sich der Apokalyptiker nicht damit begnügt, den Verhängnischarakter der Geschichte zu demonstrieren und den Gedanken von der eschatologischen Aufhebung dieses Äons zu proklamieren. Er ergänzt die prinzipiellen Ausführungen des Abschnitts 7,2-16 vielmehr durch eine ebenso prinzipielle Erörterung des Gesetzes in 7,17 flf. und wehrt auf 1

Bei den ,viae' handelt es sich an dieser Stelle (wie 4 E s r 7 , 7 9 [vgl. Syr; A e t h ; A r a b E w ] ; 7,88; 8,56; 9,9; 14,31 — vgl. sBar 14,5) eindeutig u m die dem Menschen von Gott gebotenen Wege (vgl. W. M I C H A E L I S , T h W V, 57). Zum Gebrauch von ,via' in Bezug auf das göttliche Verfahren, den Plan, Ratschluß Gottes siehe oben S. 35 Anm. 1. Die doppelseitige Verwendung des Wortes entspricht der Ambivalenz von TJT7. (vgl. F . N O T S C H E R , Gotteswege und Menschenwege in der Bibel u n d in Qumran, S. 25ff. 28ff.). Eine Gleichsetzung von ,via' im Sinne des göttlichen Planes u n d ,via' im Sinne des von Gott gebotenen Verhaltens wird in 4Esr nirgendwo explizit vollzogen. Insofern erscheinen die auf dieser Voraussetzung basierenden Erwägungen D. R Ö S S L E R S zur apokalyptischen Auffassung vom Gesetz (vgl. a . a . O . S. 52f.) als imbegründet und sachlich falsch. 2 L a t : ,sponsiones' — wohl im Sinne der gebotenen Weisungen Gottes (zur Kritik der Übersetzung H . G U N K E L S [,Bündnisse'] s. o. S. 30 Anm. 1). 3 Text nach H . G U N K E L , bei E . K A U T Z S C H , A P I I , 369f. 4 Vgl. a . a . O . S. 76 (s. ebd. Anm. 3). 5 So z . B . W . M U N D I L , Z A W 4 7 / 1 9 2 9 , 2 4 2 ; E . S J Ö B E R G , Gott und die Sünder im palästinischen J u d e n t u m , S. 228. 10*

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Die Zwei-Äonen-Lehre

diese Weise eine Reihe von Mißverständnissen ab, die sich nach dem in 7,2-16 Gesagten einstellen könnten. Beide Aussagereihen stehen also nicht beziehungslos nebeneinander, vielmehr wird die ZweiÄonen-Lehre durch die folgende ausführliche Explikation der geschichtlichen Funktion des Gesetzes vor Mißdeutungen abgesichert und im Sinn des Verfassers präzisiert. Was besagen die Darlegungen des Apokalyptikers zum Thema des Gesetzes konkret? Zunächst ist festzustellen, daß es sich bei der in V. 17 genannten ,lex' zweifellos um das Israel durch Mose überantwortete Gesetz Gottes handelt 1 . Der Vers könnte im Blick auf eine Stelle wie Dt 8,1 formuliert sein 2 . Freilich wird man nicht übersehen dürfen, daß die alttestamentliche Bundesverheißung im vorliegenden Zusammenhang eindeutig ins Eschatologische gewendet ist. Nicht das geschichtliche Geschick Israels, sondern die eschatologische Zukunft der Gerechten und der Sünder ist nach der Auffassung des Apokalyptikers in den Bestimmungen des göttlichen Gesetzes festgelegt. Beides — das den Gerechten zugesagte Erbe (quoniam iusti haereditabunt haec) und das den Gottlosen angedrohte Verderben (impii autem peribunt) — bezieht sich nicht mehr auf innergeschichtliche Ereignisse, sondern auf Heil und Unheil im Eschaton 3 . Auch in V. 21 wird die Mosetora thematisiert, wenn es — wohl im Anschluß an Dt 30,19 (eine in der Tradition des Spätjudentums häufig zitierte Stelle4) — heißt: ,Mandans enim mandavit deus 8 venientibus, quando venerunt, quid facientes viverent, et quid observantes non punirentur.' Die Aussage entspricht sachlich genau dem, was der Verfasser dem Visionär bereits in V. 17 in den Mund gelegt hatte. Wieder ist zu beachten, daß die (dem ,haereditare' und ,perire' von V. 17 [vgl. V. 20] korrespondierenden) Verben ,vivere' und ,puniri' — im Unterschied zu den Begriffen C'H — H3T3 bzw. nía — nbbp' in Dt 30,19 6 — auch an dieser Stelle eschatologischen 1 2

3

Vgl. auch D.

R Ö S S L E R , a.a.O. S. 50. V g l . H . G U N K E L , b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 6 9 A n m . i.

Siehe dazu unten S. 149 Anm. 1. Vgl. Sir 15,16f.; AssMos 3, l l f . ; Bar 4,1; 4Esr7,129; s B a r l 9 , l ; (46,3); abgewandelt im Sinne des Zwei-Wege-Schemas slHen 30,15 (A); TestAss 1,5 und an einer Reihe von Stellen der rabbinischen Literatur (vgl. B I L L . I, 460ff.; W. M I C H A E L I S , ThW V, 58ff.) — vgl. auch G. B A U M B A C H , Der Dualismus in der Sektenrolle . . ., S. 82 (und ebd. Anm. 219); DERS., Qumrän und das Johannesevangelium, S. 37 Anm. 79; E. B R A N D E N B U R G E R , a.a.O. S. 57; W. R. M U R D O C K , Interpretation XXI/1967, 173. 5 Der Gebrauch von ,deus' in 7,19-21 ist verdächtig, da der Gottesname in 4Esr sonst vermieden und durch Umschreibungen ersetzt wird (vgl. V I O L . II, 69 Gesamtanmerkung z. St.). 8 Die Israel im Kult zugesprochene Lebenszusage Dt 30,19 (die mit der Verheißung des Landes und des rechten Gottesdienstes eng zusammengehört) meint ein vom Segen Jahwes begleitetes und durch ihn gesteigertes, langes 4

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Sinn tragen 1 . Hinter V. 21 steht die Meinung, daß sich an der Stellung gegenüber dem Gesetz im gegenwärtigen Äon das Geschick des einzelnen im künftigen Äon entscheidet2. u n d glückliches Dasein (vgl. G. v. RAD, „Gerechtigkeit" u n d „ L e b e n " in der Kultsprache der Psalmen, i n : Ges. Stud. zum AT, S. 234ff.; DERS., T h W I I , 845 [vgl. ebd. Anm. 82], 846; W . ZIMMERLI, B K X I I I , 399f. 406ff. [zu E z 18 vgl. auch M. NOTH, Die Gesetze im Pentateuch, a . a . O . S. 134 u n d ebd. Anm. 237]). U n t e r ,Tod' wird entsprechend der Verlust der im K u l t gestifteten u n d m i t dem Begriff des .Lebens' zusammengefaßten Gaben des Heils, Glücks, der Ehre, der Sicherheit u n d des Gedeihens verstanden (vgl. Chr. B A R T H , a . a . O . S. 59. 65). 1

V g l . J . KÖBERLE, a . a . O . S. 6 5 2 ; E . BRANDENBURGER, a . a . O . S. 57.

Vom

,Leben' als der eschatologischen Existenz im künftigen Äon, die der Sterblichkeit nicht mehr unterworfen ist, wird in 4Esr an folgenden Stellen gesprochen (meist in verbaler Ausdrucksweise): 7,48. 60. 66f. 82. 92. 129. 131. 137f.; 8,3. 6. 39. 41. 54 (vgl. Syr; Aeth); 9,13. 15; 14,22. 30. I n der richtigen E r kenntnis, daß es sich bei ,Leben' hier u m das eschatologische Heilsgut handelt, spricht der Lateiner a n den genannten Stellen verschiedentlich von ,salus', ,salvatio', ,salvari'. — Auch N. M E S S E L konzediert, d a ß ,Leben' in den angef ü h r t e n Aussagen größtenteils als „ein Out der Heilszeit" verstanden ist (a.a.O. S. 124); er leugnet jedoch zu Unrecht, daß diesem eschatologischen Dasein der Charakter der Unsterblichkeit zukommt, u n d setzt überall recht willkürlich die intensive Bedeutung von HTI = ,das Leben behaupten', .lebenskräftig sein' voraus: „ E s ist klar, daß m a n vita u n d vivere in dem erwähnten intensiven Sinne verstehen muß, von der Behauptung des Lebens gegenüber jeder Zerstörung desselben. Aber natürlich ist nur von abnormer Zerstörung der Existenz die R e d e ; . . . d a ß der Mensch nach langem u n d reichem Leben doch einmal sterben m u ß , ist als selbstverständlich vorausgesetzt . . ." (a.a.O. S. 123 zu 4 E s r 7,129; vgl. ebd. S. 120-129) — vgl. dagegen H . G U N K E L , bei E. K A U T Z S C H , A P II, 378 A n m . b ;

J . KEULERS,

a.a.O.

S. 1 8 3 ; E . BRANDENBURGER,

a.a.O.

S. 57. Vom ,Tod' im eschatologischen Sinn ist 4 E s r 7,48. 92; 8,38 die R e d e ; auch 7,119; 8,31, wo von den ,todeswürdigen Werken' (vgl. 7,119 Armen) gesprochen wird. Vgl. ferner den Gebrauch von ,perire', ,perditio' zur Kennzeichnung des eschatologischen Unheils, das den Sündern d r o h t : 7,17. 20. 61. 131; 8,38. 55; 9,15. 33. 36; 10,10 (auch ,disperdi' 8,59; .crueiari' 9,13). Zur Sache vgl. vor allem E . BRANDENBURGER, a . a . O . S. 58 (und ebd. Anm. 1 - 3 ) ; f e r n e r J . KEULERS, a . a . O . S. 191. 2 D. R Ö S S L E R will auch diesen Sachverhalt tinter dem Aspekt des adamitischen Verhängnisses betrachtet wissen. E r unterstreicht die sachliche Korrespondenz der W . 7,11 u n d 7,17 u n d stellt zusammenfassend fest: „Die Folge des Einbruchs der Sünde besteht nicht allein darin, d a ß dieser Welt das Heil entzogen wurde u n d sie nunmehr dem Ablauf der Zeit bis zum Beginn des neuen Äon unterworfen ist, sondern ebenso darin, daß die Teilnahme a m Heil nunmehr abhängig ist von der Gerechtigkeit durch das Gesetz." (a.a.O. S. 76) W e n n diese These zuträfe, wäre das Gesetz in 4 E s r (um eine auf Paulus bezogene Formulierung H . S C H L I E R S aufzunehmen) „im Blick auf Gottes Heilswille eine Interpolation" (Der Brief a n die Galater, 13. Aufl. 1965, S. 152 zu Gal 3,19). Es gehörte nicht, wie die Rabbinen meinen, „zu den .sieben Dingen, die geschaffen sind, bevor die Welt geschaffen w u r d e ' " ; es Wäre „nicht mit der Schöpfung geschaffen", gehörte also „nicht zum Wesen, sondern zur Geschichte des Kosmos" (ebd.). Doch erscheint eine derartige Auffassung von 4 E s r 7,11 ff. 17f. 20f. als ganz unwahrscheinlich u n d völlig unbegründet. I n 7,17ff. findet sich nirgendwo ein Hinweis darauf, daß der Verfasser das .disponere' bzw. .mandare' Gottes als Folge der Verfehlung Adams verstanden haben könnte. D. R Ö S S L E R läßt außerdem völlig außer acht, daß bereits Adams Sünde als Oebotsnbertretung gekennzeichnet wird (zu der Vermutung, daß das dem A d a m auferlegte Gebot [man beachte den PI. ,constitutiones' 7,11] hier

150

Die Zwei-Äonen-Lehre

E s bleibt allerdings zu klären, wer eigentlich als der Empfänger des Gesetzes in 7,17. 20f. vorausgesetzt ist. Die allgemein gehaltene Formulierung .Mandans enim m a n d a v i t deus venientibus, quando venerunt . . .' (V. 21) erweckt den Eindruck, als handle es sich bei dem Adressaten der Gesetzesproklamation gar nicht ausschließlich u m Israel, sondern u m die gesamte Menschenwelt 1 . N u n ließe sich in der T a t denken, daß der Apokalyptiker die Geltung der Mosetora bewußt auf alle Menschen ausdehnte, u m ein den ,status electionis' gegen Gott ausspielendes Denken ins Unrecht zu setzen. Doch legt das Gesamtgefälle des Dialogs in 4 E s r Visio I - I I I eine andere Deutung von 7,21 nahe. Man Wird nicht verkennen dürfen, daß die Frage nach dem Schicksal Israels das Grundproblem darstellt, mit dem sich der Verfasser von 4Esr auseinandersetzt. E r teilt zwar keineswegs die durch den Mund Esras stellvertretend vorgebrachte Position der Skepsis, läßt sich aber von ihr doch die Thematik seiner Erörterung vorgeben. Auch sein Interesse gilt — wenigstens primär — nicht der Frage nach dem Geschick der Menschheit, sondern dem Problem der speziell Israel zugedachten Verheißung. Insofern ist k a u m anzunehmen, daß er — u m die sich zu Unrecht auf das F a k t u m der Erwählung berufende Argumentation Esras zu erschüttern — den Gegensatz zwischen Israel u n d den Völkern radikal nivellieren u n d durch die (den partikularistischen S t a n d p u n k t überschreitende) Antithese: Gerechte — Gottlose ersetzen wollte. I n diesem Zusammenhang ist auf eine Reihe von Aussagen hinzuweisen, in denen eindeutig Israel als der E m p f ä n g e r der Tora vorausgesetzt wird (vgl. 7,129-131; 9,29-37; 14,28ff. 2 ). Insofern wird m a n vermuten dürfen, daß auch in 7,21 nicht an die Heiden, sondern speziell an Israel gedacht ist: ,,,Die, die (zur Welt) kommen', von denen V. 21 die Rede ist, werden von Israel repräsentiert." 3 Der Verfasser macht demnach Israel keineswegs den Besitz der Tora streitig. Aber er wendet sich gegen den Gedanken, als sei Israel schon auf Grund dieses Sachverhalts vom Gericht ausgenommen u n d zum E m p f a n g des Heils determiniert. Nicht möglicherweise als das mosaische Gesetz in nuce verstanden ist, siehe oben S. 107 Anm. 6): Bereits A d a m war mit der göttlichen Gehorsamsforderung konfrontiert. Ebenso sieht der Verfasser von 4 E s r (wie Adam) insonderheit Israel von Gott als dem Schöpfer in Dienst genommen. 1 B o x ist sogar der Ansicht, 7,20ff. sei ausschließlich an die Heiden gerichtet: " T h e angelic reply seems to contemplate, in its reference to sinners, t h e heathen world, or world outside the chosen people, exclusively . . ." (bei R . H . C H A R L E S , A P I I , 581 Anm. z. St.; ebenso R . KABISCH, Das vierte Buch Esra auf seine Quellen untersucht, S. 63f.; J . K E U L E R S , a . a . O . S. 30. 175; G. B A U M B A C H , Der Dualismus in der Sektenrolle . . ., S. 70 [vgl. ebd. Anm. 176]). E r verweist auf die rabbinische Vorstellung, nach der die Tora am Sinai auch den Heiden angeboten, von diesen aber aus freiem Entschluß verworfen worden sei (vgl. dazu die bei B I L L . I I I , 36ff. 88f. u n d S. A A L E N , a . a . O . S. 295f. genannten Belege aus der rabbinischen Literatur). Doch zielt die Argumentation des Offenbarers nicht darauf ab, die Unentschuldbarkeit nur der Heiden zu erweisen (in diesem Fall h ä t t e sich Esra ja zu Recht auf den S t a n d p u n k t des Erwählungsglaubens gestellt!). Vielmehr soll gerade demonstriert werden, daß der Heilsgewinn nicht schon durch die Zugehörigkeit zu Israel gewährleistet ist: Der ,status electionis' schließt die Möglichkeit der Sünde u n d des ewigen Verderbens nicht aus (siehe dazu unten). 2 Vgl. aber 4 E s r 3,32-36; 5,29; 7,37. 45f., wo die Kenntnis der Gebote bei den Heiden vorausgesetzt zu sein scheint. Doch ist zu erwägen, ob an diesen Stellen tatsächlich an eine wissentliche oder nicht eher an eine zwar faktische, aber unbewußte Gebotsübertretung (bzw. -bewahrung) der Heiden gedacht ist (zu 7,37 s. u. S. 151 Anm. 2). 3 S . A A L E N , a . a . O . S . 2 0 9 Anm. 4 ; ebenso P . V O L Z , a . a . O . S . 3 0 0 .

Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung

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der ,status electionissondern der Gehorsam gegenüber der im Gesetz laut werdenden Forderung Gottes garantiert das ,Leben'. Die Heilszusage des Gesetzes gilt faktisch nur den Gerechten aus Israel, nicht jedoch dem Gesamtvolk. D a m i t rückt der sich auf Gruppen innerhalb Israels beziehende Gegensatz Gerechte — Gottlose (vgl. 7,17f.) in das Zentrum des theologischen Denkens 1 . E r überlagert die traditionelle Unterscheidung zwischen Israel u n d den (Heiden-)Völkern, ohne sie ganz zu verdrängen und außer K r a f t zu setzen 2 . 1

Vgl. auch J . K E U L E R S , a . a . O . S. 179. E r vermutet, „daß die kleine Zahl der Seligen nach Esras Überzeugung hauptsächlich dem jüdischen Volke angehört" (ebd.). D a n n erscheint es jedoch wenig geraten, den Verfasser von 4Esr überhaupt noch als ,Universalisten' zu bezeichnen, wie es J . K E U L E R S t u t : „Prinzipiell ist er zwar Universalist: Alle Menschen, Heiden u n d Juden, können selig werden, weil nicht die Volkszugehörigkeit, sondern die eigenen Taten eines jeden Menschen selig machen oder verdammen. Weil er aber annimmt, daß das jüdische Gesetz auch die Heiden bindet, sind de facto die Heiden, vielleicht außer einigen wenigen, von der Seligkeit ausgeschlossen." (ebd.). 2 Vgl. S . A A L E N , a . a . O . S. 207 f.; N . A . D A H L , Das Volk Gottes, S . 84f. Die klischeehafte, seit P . V O L Z (vgl. a . a . O . S. 63f. 78f.) u n d W. B O U S S E T H . G R E S S M A N N (S. 206ff.) beliebte Unterscheidung zwischen einer traditionellnationalen und einer apokalyptisch-universalen Eschatologie (vgl. auch J . K E U L E I I S , a . a . O . S. 143) erscheint d a r u m als revisionsbedürftig (vgl. D . R ö s s LEB, a . a . O . S. 64 Anm. 6). Allerdings ist festzustellen, daß in 4 E s r der innerjüdisch gedachte Gegensatz zwischen Gerechten u n d Sündern — vom Standp u n k t des Verfassers der Apokalypse aus gesehen — eindeutig im Vordergrund des Interesses steht. Der Gedanke, „daß an die Stelle Israels die Gemeinde der Frommen oder der Fromme als E m p f ä n g e r des Heils getreten i s t " ( P . V O L Z , a . a . O . S. 351; vgl. G. S C H R E N K , T h W I V , 189) dominiert derart, daß die (innerhalb der Offenbarungsreden) gelegentlich noch begegnende Gegenüberstellung von Israel u n d den Heiden (vgl. z.B. 4Esr 13,33-38 mit 13,39-49) a n Gewicht verliert (auf die diesbezüglichen Äußerungen des Sehers darf in diesem Zusammenhang natürlich nicht verwiesen werden; denn sie sind f ü r das Denken des Verfassers — wie gezeigt — gerade nicht kennzeichnend!). Jedenfalls wird die rigoristische Position des Apokalyptikers, nach der sich das Endgericht in unheilvoller Weise gerade auch und vor allem an den gottlosen Gliedern des erwählten Volkes auswirken wird, nicht dadurch entschärft, daß gelegentlich noch von der (als Rudiment der traditionellen Eschatologie beibehaltenen) eschatologischen Heimsuchung der Völker die Rede ist (vgl. 4 E s r 12,32f.; 13,37f.). Vgl. in diesem Zusammenhang die rabbinische Diskussion u m die Frage, ob Beschneidung allein den Israeliten vor dem Gehinnom bewahrt (s. B I L L . IV/2, 1063-1067). — So wird m a n auch eine Aussage wie 4Esr 7,37 f. nicht überbewerten dürfen. Dort wird zwar tatsächlich der Eindruck erweckt, als seien nur die Heiden (excitatae gentes), nicht aber Israel vom Endgericht betroffen — ein Gedanke, der dem in 7,17-25 Gesagten gründlich zuwiderläuft (wenn die hier vertretene Deutung dieses Textes zutrifft). Doch ist zu beachten, daß sich die Stelle innerhalb eines traditionell gefärbten Abschnitts über die Zeichen der Endzeit findet (vgl. die entsprechenden Abschnitte in Visio I und I I : 4Esr 5,1-13; 6,18-28). Wahrscheinlich übernimmt der Apokalyptiker unkritisch älteres Material, ohne damit seine zuvor geäußerte Stellungnahme revozieren zu wollen. Bezeichnenderweise h a t der Verfasser der armen. Version den Text von 4Esr 7,37 f. — sachlich zu Recht (!) — im Sinne von 7,17ff. korrigiert: ,Et tunc dicet Altissimus i u s t i s : Videte locum quietis vestrae, quem paravit vobis ab initio creaturarum; intrate dehinc et quiescite et exsultate sicut vituli emissi e vinculo! E t dicet i m p i i s e t i n i u s t i s : Videte et intellegite me, cui non serviistis, sive etiam quem abnegastis, sive etiam cuius leges contempsistis!' (Vgl. auch die Wiedergabe des Textes bei L. GRY, a . a . O . I, 155; L. GRY gibt der armen. Version den Vorzug.)

152

Die Zwei-Äonen-Lehre

Für den Verfasser von 4Esr steht der Gedanke der Erfüllbarkeit des göttlichen Willens außer Frage 1 . Er tritt entschieden der These entgegen, daß die im Gesetz festgelegten Normen des Verhaltens (quid facientes — quid observantes [v. 21]) das Vermögen derjenigen überfordern, die zur Übernahme der vom Ungemach dieses Äons bedrohten Existenz gezwungen sind. Das Gesetz enthält keine unzumutbaren Forderungen2. Die Bedingung, von deren Einhaltung die 1 Gegen E. K. D I E T R I C H , der dies zu Unrecht bestreitet (vgl. Die Umkehr [Bekehrung und Buße] im Alten Testament und im Judentum, S. 264f.). 2 D. R Ö S S L E R hat nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß in der ,apokalyptischen Tradition' der Inhalt des Gesetzes (quid facientes — quid observantes) an keiner Stelle expliziert wird (vgl. a.a.O. S. 45ff. 70ff. 77ff. lOOff.). Überall erscheint das ,Gesetz' als eine absolute Größe (dies wurde übrigens bereits von J . KETTLERS [a.a.O. S. 175] hervorgehoben; vgl. auch H. P R E I S K E R , Neutestamentliche Zeitgeschichte, S. 242f.). Auch da, wo von den .Geboten' (PI.) die Rede ist (mandata [4Esr 3,33. 35f.; 7,72]; legitima [7,24; 9,32; 13,42]; dispositiones [4,23]; constitutiones [7,11; vgl. 7,45]; sponsiones [5,29; 7,24]; diligentiae [7,37] — siehe auch oben S. 30 Anm. 1; — puqdäne [sBar44,3; 57,2; 61,6; 77,4; 79,2; 82,6; 84,1. 7]), findet sich kein Hinweis auf „eine bestimmte konkrete Forderung" (D. R Ö S S L E R , ebd. S. 46 — vgl. auch 4 E s r 7 , 7 2 ; 9,32, wo ,lex' und ,mandata' bzw. ,legitima' promiscue gebraucht werden). Nach D. R Ö S S L E R erklärt sich dieser Sachverhalt daraus, daß das Gesetz in der Apokalyptik nicht — wie im Rabbinat — als die gebietende, das Verhalten im Einzelfall regelnde Norm verstanden ist. Vielmehr sei mit dem Gesetz vornehmlich das Dokument der Erwählung gemeint, dessen geschichtliche Funktion darin besteht, „daß es dem einzelnen seine Zugehörigkeit zum Gottesvolk erhält, daß er so Glied der erwählten Gemeinde bleibt und mit auf das Heil hin geführt wird" (ebd. S. 101; vgl. S. lOOff.). Entsprechend handle es sich bei der .Gerechtigkeit' nicht um eine durch genaue Gebotsbefolgung zu erwerbende Qualifikation, sondern um das treue Festhalten am ,status electionis', um „das Sein des Gerechten . . ., dem als Glied des vorzeitlich erwählten Volkes, indem er das Gesetz bewahrt, die Zugehörigkeit zu diesem Volk erhalten bleibt" (ebd. S. 104). Diese Deutung der apokalyptischen Gesetzesauffassung unterliegt einer Reihe schwerwiegender Bedenken und vermag — aufs Ganze gesehen — nicht zu überzeugen. Zur Gesamtkritik sei an dieser Stelle (vor allem im Blick auf 4Esr) nur folgendes bemerkt: 1. D. R Ö S S L E R trennt methodisch nicht scharf zwischen den Äußerungen des Visionärs und den Antworten des ,angelus interpres' und reklamiert die durch den Mund Esras vorgebrachten Erwählungsaussagen unkritisch für die Konzeption des Verfassers von 4Esr (ebenso ohne Belegangaben U . W I L C K E N S , Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, a.a.O. S. 47f.). Er verkennt, daß der Offenbarer im Gegenzug zu der Argumentation Esras, welche die Tora tatsächlich als Dokument der Erwählung in Anspruch nimmt, das Gesetz im Sinne des gebietenden Gotteswillens geltend macht. Zwar werden die Vorschriften der Tora nirgendwo im einzelnen angeführt, doch steht eindeutig der Gedanke im Hintergrund, daß das Gesetz vomMenschen ein bestimmtes Tun (quid f a c i e n t e s ; quid o b s e r v a n t e s ) verlangt (vgl. den Verweis auf die Werke des Menschen: 4Esr 7,77; 8,33. 36; 9,7; 13,23; sBar 14,12; 48,38; 57,2 [Werke der Gebote]; 69,4 — ferner s B a r 2 , 2 ; 63,3; 85,2; siehe auch 4Esr 7,105! [gegen U. W I L C K E N S , ZThK 56/1959, 283]). Von diesem Tun (das die konkrete Gebotserfüllung nicht nur einschließt, wie D . R Ö S S L E R konzediert [vgl. a.a.O. S. 87 Anm. 4; S. 101], sondern diese selbst meint) — und nicht von einem (durch das Gesetz ermöglichten) „Bleiben im erwählten Volk" (vgl. ebd. S. 102) hängt für den Einzelnen Heil oder Unheil im Eschaton

Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung Zugehörigkeit

zum künftigen Äon abhängt, wird prinzipiell

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als erfüllbar

vorausgesetzt. Freilich leugnet der Apokalyptiker keineswegs die Tatsache, daß die meisten (wie Adam) dem Angriff des Bösen erlegen sind. Ihre Sünde äußert sich konkret als Ungehorsam und Widerspruch gegen Gott, ihr Frevel tritt darin zutage, daß sie Gott leugnen, d. h. seine Macht und Wirksamkeit in Frage stellen (V. 22. 23a.b — V. 23 b ist Zitat aus Ps 14, l 1 ). Wie V. 23 c. 24 zeigt, ist der im Verhalten der Menschen sichtbar werdende Abfall von Gott gleichbedeutend mit der Mißachtung des göttlichen Gesetzes: ab (siehe dazu auch unten S. 211 Anm, 2; ferner A. N I S S E N , NovTest IX/1967, 260ff.). 2. Die absolute, undifferenzierte Rede vom .Gesetz' (die sich traditionsgeschichtlich aus der Überlieferung der späten Weisheit herleiten läßt [vgl. M . N O T H , Die Gesetze im Pentateuch, a . A . O . S. 112-141; E. W Ü B T H W E I N , Der Sinn des Gesetzes im Alten Testament, ZThK 55/1958, 268ff.; D. R Ö S S L E R , a.a.O. S. 47ff.]) hat vermutlich den Sinn, die Unbedingtheit und Totalität des geforderten Verhaltens einzuschärfen. Sie zeigt an, daß es auf den ganzen, ungeteilten Gehorsam, die vollkommene Erfüllung des Gotteswillens ankommt (vgl. 4Esr 7,89 [siehe dazu auch unten S. 155 Anm. 1]). Dem Gedanken der Einheitlichkeit des geforderten Verhaltens entspricht die scharfe Kontrastierung von Gerechten und Sündern: Weil die Forderung absolut ist, muß zwischen Sündern und Gerechten absolut unterschieden werden (im übrigen ist gegen die von D. R Ö S S L E R vertretene Unterscheidung zwischen rabbinischer und apokalyptischer Theologie geltend zu machen, daß „sich in der apokalyptischen Literatur nirgendwo auch nur Anzeichen von antipharisäischer Polemik finden" [U. W E L C K E N S , Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, a.a.O. S. 53]). 3. D. R Ö S S L E R hätte stärker in Rechnung stellen müssen, daß es sich bei dem Gesetz in 4Esr und sBar um einen forensisch bestimmten Begriff handelt. Die Offenbarung der Tora ist — indem sie den Weg des ,Lebens' und den des ,Todes' erschließt — zugleich Kundgabe der Norm, nach der im Endgericht über Heil oder Unheil des Einzelnen befunden wird (so deutlich in sBar: vgl. 15,5f.; 19,3; 48,27. 47; 84,1 — vgl. aber auch 4Esr7,72f.: die Sünder sind im Gericht .sprachlos', weil sie von dem ihnen bekannten Gesetz überführt werden — vgl. in diesem Zusammenhang auch die Stelle J u b 1,8 in ihrem Kontext sowie PsPhilo 11,2); zur Sache vgl. A. N I S S E N , a.a.O. 264f. 1 Ps 14,1 liegt auch 4Esr 8,58 zugrunde. An beiden Stellen (4Esr 7,23b; 8,58) wird das „.Leugnen Gottes', das im Psalm den (V. 1) vom l7',D©0 (V. 2) trennt, . . . direkt angewendet auf den Unterschied zwischen iniusti . . . und iusti . . ." (D. R Ö S S L E R , a.a.O. S . 81 — vgl. 4Esr 7,17f.; 8,47. 57). Doch ist zu beachten, daß bereits in Ps 14 der Gegensatz zwischen und durch den zwischen ftX ^ B (V. 4) und ¡?,'72£ I i i (V. 5 — •>»» V. 4) abgelöst bzw. konkretisiert wird. — Die Behauptung des ,Altissimum non esse' meint in 4Esr 7,23b (vgl. 8,58) ebensowenig wie das Urteil D,rii7|? pi? in Ps 14,1 einen theoretischen, sondern einen praktischen Atheismus: „Der Gottesleugner bestreitet nicht da« Sein, sondern das konkrete Wirken Gottes." (H.-J. K R A U S , B K X V , S. 106) Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Apokalyptiker in 7,23b; 8,58 in polemischer Absicht eine Parole seiner Gegner aufgreift, die sich — wie eingangs dargelegt — nach der Katastrophe von 70 n. Chr. der Skepsis verschrieben haben und die Macht Gottes von Grund auf in Frage stellen (zur Charakteristik der Front, mit der sich der Verfasser auseinandersetzt, s. o. S. 19-67).

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Die Zwei-Äonen-Lehre (V. 23 c) et vias eius non cognoverunt (V. 24) et legem eius spreverunt et sponsiones eins abnegaverunt et legitimis eius fidem non h a b u e r u n t et opera eius non perfecerunt.

Das Faktum der Gesetzesverachtung läßt sich jedoch nicht gegen Gott und die Legitimität seiner Forderungen ausspielen. Die Sünde spricht nicht gegen die Zulässigkeit und Gültigkeit des Gesetzes, sondern fällt auf den Sünder selber zurück1. Wenn die Menschen den Willen Gottes mißachteten, obwohl ihnen allen bekannt war, ,was sie tun und was sie halten sollten', so haben sie sich das künftige Unheil selbst zuzuschreiben: Eher verfallen die meisten der Lebenden dem Verderben (perire), als daß Gottes Gesetz (quae anteposita est dei lex) verachtet wird (V. 20). Der Verweis auf das Gesetz sichert also einerseits den Schuldcharakter der Sünde und begründet andererseits die Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit aller Menschen von der Heilszeit des künftigen Äons ausgeschlossen bleibt. Die Klage Esras (vgl.

V. 18) besteht völlig zu Recht: Nur die Gerechten haben einen Ausgleich für die ihnen in diesem Äon widerfahrenen Drangsale zu erwarten, die Gottlosen dagegen ,haben die Engen erduldet und sehen die Weiten [sc. des künftigen Äons] (doch) nicht'. Die Behauptung des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen wird abschließend durch einen das apokalyptische ,ius talionis' zur Geltung bringenden Grundsatz bekräftigt: ,Propter hoc, Ezra: vacua vacuis et plena plenis!'2 (V. 25; vgl. 4Esr9,17 mit 9,14-16) Den Voll1 Zu beachten ist die antithetische Zuordnung von V. 21 u n d V. 22: ,Mandans enim m a n d a v i t deus . . .' — ,Hi autem . . .' Dem Verfasser von 4 E s r liegt es also fern, den Gesetzesweg zu kritisieren, „weil er wegen der Übertretungen nicht zum Ziele f ü h r t " (so R. B X I L T M A N N , Römer 7 u n d die Anthropologie des Paulus, in: Der alte u n d der neue Mensch in der Theologie des Paulus, S. 30 [zu 4Esr]). 2 K . K O C H f ü h r t die Stelle als Beleg d a f ü r an, daß die Vorstellung von der selbstwirkenden T a t noch im S p ä t j u d e n t u m anklingt (vgl. Z T h K 52/1955, 36 u n d ebd. Anm. 4 [siehe dazu auch oben S. 78 Anm. 2]). Doch gilt diese Behaupt u n g nur dann, wenn m a n den Vers aus seinem K o n t e x t isoliert. Berücksichtigt m a n dagegen den Zusammenhang mit dem in 7,20ff. Gesagten u n d zieht m a n ferner Sachparallelen z. St. in Betracht, so ergibt sich ein gänzlich anderes Bild. Zwar wird auch in 4 E s r der Gedanke einer Entsprechung zwischen T a t u n d Tatfolge vorausgesetzt, wie gerade die Aussage 7,25 zeigt. Aber nach der Auffassung des Apokalyptikers entscheidet sich das eschatologische Geschick des Menschen an seiner Stellung zum Gesetz. A m Ende wird das geschichtliche Verhalten jedes Einzelnen a m Gesetz (als der Norm des Gerichts) gemessen. D a n n wird sich zeigen, ob einer das Gesetz vollständig (perfecte) erfüllt (vgl. 7,89) und die vom Gesetz verlangten Werke vollbracht — oder ob er das Gesetz verachtet u n d sich der göttlichen Gehorsamsforderung entzogen h a t . J e nachdem widerfährt ihm im Eschaton entweder die Fülle (plena) oder der E n t z u g (vacua) des Heils. Der Zusammenhang zwischen T u n u n d Ergehen ist in 4Esr also durchaus juristisch gedacht: Der Täter wird durch

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kommenen, ,[qui] servierunt c u m l a b o r e Altissimo et o m n i hora sustinuerunt periculum, uti p e r f e c t e custodirent legislatoris legem' (4Esr 7,89), wird im künftigen Äon die Fülle des Heils zuteil werden 1 . Dagegen fallen die Verächter des Gesetzes am Ende der ihrem Verhalten angemessenen Strafe anheim. Eine 7,17-25 vergleichbare Aussage findet sich 7,70-74. Dort wird die Klage Esras 7,62-69 (die wir in einem anderen Zusammenhang bereits gestreift haben 2 ) zurückgewiesen. Da der ,angelus interpres' eine Äußerung des Sehers aufgreift (vgl. V. 71 mit V. 64 a) und sich eingehend mit ihr auseinandersetzt, ist es angebracht, zunächst das von Esra Vorgebrachte zu rekapitulieren. Der Text ist an dieser Stelle (7,62ff.) infolge des Traditionsprozesses s t a r k in Mitleidenschaft gezogen, der ursprüngliche Sinn durch den „Doppelschleier der Übersetzungen" 3 verdeckt. E i n Blick auf die uneinheitliche Überlieferung in den verschiedenen Versionen bestätigt diesen Eindruck. Der Abschnitt zerfällt in zwei Teile: V. 62-64 (a); V. 65-69 (b). I m ersten Teil (a) ist das Stichwort .Verstand' ( L a t : ,sensus') leitend (wir folgen weitgehend der syr. Textversion, legen aber die Verszählung des Lateiners zugrunde): (V. 62) ,. . . O, was hast d u getan, Erde, daß diese von dir geboren sind und ins Verderben gehen! das Gesetz seiner T a t ü b e r f ü h r t u n d von Gott als dem Legislator' (vgl. 7,89) einem seiner T a t genau entsprechenden eschatologischen Geschick überantwortet. 1 Als .vollkommen' (Ö'EFl = reAeiog) gilt demnach derjenige, der das Gesetz vollständig erfüllt (man beachte die Wendungen: ,cum labore' [ilXJp?], ,omni hora', ,perfecte' in der Formulierung 4 E s r 7,89; vgl. auch die Kennzeichnung der Gerechten in 8,26ff.: ,qui tibi i n v e r i t a t e servierunt', ,qui t u a testamenta c u m d o l o r i b u s custodierunt', ,qui e x v o l ú n t a t e t u u m timorem cognover u n t ' , ,qui legem t u a m s p l e n d i d e docuerunt' [Text nach Lat 0]). Gefordert ist der totale, ungeteilte Gehorsam gegenüber der a m Sinai geoffenbarten Tora, die zugleich die Norm des Endgerichts darstellt (zu 4 E s r 7 , 8 9 [ p e r f e c t e custodirent legislatoris legem] sind die D'Hñ -Aussagen der Qumranliteratur zu vergleichen; zur Sache vgl. H . B R A U N , Spätjüdisch-häretischer und frühchristlicher Radikalismus, Bd. I, S. 26 Anm. 3; S. 101 Anm. 5; G. B A B T H , Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus [in: Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium], S. 91 f.; G. K R E T S C H M A B , Ein Beitrag zur Frage nach dem Ursprung frühchristlicher Askese, Z T h K 61/1964, 53; P. J . DU P L E S S I S , TéXeioQ. The Idea of Perfection in t h e New Testament, S. 104ff.; G. D E L L I N G , T h W V I I I , 72ff. [weitere Literaturhinweise ebd. 68]). Weil es auf die Einheitlichkeit und Ganzheit des Tuns ankommt, ist in 4 E s r (wie auch in sBar) absolut vom Gesetz die Rede. Aus diesem Grund jehlt in beiden Apokalypsen „die Tendenz, das Gesetz als Kodex seiner Gebote zu objektivieren" (D. R Ö S S L E R , a . a . O . S. 87 Anm. 4). Zwar schlägt in 4Esr u n d sBar gelegentlich noch ein quantitativ orientiertes und auf die Menge der T a t bedachtes Denken durch (vgl. die Aussagen über den Schatz [Vorrat] guter Werke, den sich der Gerechte ansammelt: 4Esr 7,77; 8,33. 36; sBar 14,12; 24,1 — vgl. auch sBar 44,14). Doch wird (abgesehen vielleicht von s B a r 4 1 f . [vgl. bes. 42,6]) bezeichnenderweise nie von einem Verrechnen der guten u n d bösen T a t e n gesprochen (die Aussage 4 E s r 3 , 3 4 ist anders gemeint und hier auszuschalten [siehe dazu oben S. 36f.]). 2 3 S. o. S. 57. V I O L . I I , X L I I Anm. 1.

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Die Zwei-Äonen-Lehre Wenn nämlich der ,Verstand' aus Staub geworden ist wie die übrige Schöpfung, (V. 63) so wäre es besser [gewesen], wenn auch der Staub nicht wäre, damit der .Verstand' nicht von dort aus entstünde. (V. 64) Nun aber wächst der .Verstand' mit uns; und deswegen werden wir gequält, da wir wissend ins Verderben gehend

Die Aussagen des Textes erinnern stark an die schon erwähnte Stelle 7,116 2 . Wurde dort der ,Erde' (terra) die Schuld f ü r den Fall Adams und das durch ihn ausgelöste Sündenverhängnis zugeschrieben, so gilt sie hier als verantwortlich dafür, daß alle, die ,von ihr geboren sind', ins Verderben gehen (gemeint ist nicht das Todesgeschick, sondern der — wie sBar 48,42f. als Verhängnis verstandene — definitive Ausschluß vom Heil 3 ). Gab 7,116 die erdgebundene Herkunft Adams Anlaß zur Klage, so bringt Esra hier in ähnlicher Weise seine Verzweiflung darüber zum Ausdruck, daß der .Verstand' vom Erdenstaub abstammt. Auffällig ist auch die analoge Konstruktion der Sätze 7,63 und 7.116b: .melius [enim] erat et ipsum pulverem non esse n a t u m . . .' — ,quoniam melius erat, non dare terram Adam . . .'. Die Vermutung, daß der Abschnitt 7,62-64 eine Sachparallele zu dem Ausspruch 7,116b darstellt, läßt sich möglicherweise durch eine weitere Überlegung erhärten. Auf den ersten Blick scheint der oben (nach der syr. Version) zitierte Text einen in sich geschlossenen Gedankengang zu enthalten, der keiner näheren Erklärung bedürftig ist. Aber gerade der Leitbegriff, u m den alle Aussagen kreisen und der nicht weniger als dreimal begegnet, gibt zu Fragen Anlaß. Es klingt befremdlieh, daß ausgerechnet Esra so pointiert vom .Verstand' spricht 4 . Merkwürdig ist insbesondere die Aussage, daß der .Verstand' dem Staub der Erde entstammt (sensus factus est de pulvere — sensus inde fieret). Der dem syr. Wort m a d ' ä 5 entsprechende lat. Begriff .sensus' wird allgemein auf vovg oder öiavoia zurückgeführt und von VIOLET mit .Verstand',

von

GUNKEL,

REESSLER 6

und

GRESSMANN 7 m i t

.Vernunft'

wieder-

gegeben. E s fragt sich jedoch, ob damit der Sinn, den das Wort im Original trug, sachgemäß erfaßt und richtig getroffen ist. Schon VIOLET erwog die Möglichkeit, daß „hier v. 62ff. in .sensus' . . . "I2T stecken" könnte 8 (vgl. auch 8.6; 14,34). Diese 'Überlegung verdient insofern Beachtung, als „die Vulgata an der einen Quelle der rabbin. Lehre vom 12J.1 . . n ä m l i c h Gen. 8,21, auch 1

Zu den Korrekturen der zitierten Übersetzung VIOLETS siehe H . GBESS-

MAmsr, b e i VIOL. I I , 3 4 0 A n n . z . S t . 2

S. o. S. 52 f. Vgl. V. 62 ( = Syr V H b , 22): 'azzln labdänä; V. 64 ( = Syr V I I b, 24): 'äbdinan — sBar 48,43: 'ezal lahbälä. 4 4 E s r 4 , 2 2 wird von ihm der ,sensus i n t e l l e g e n d i ' (!) erwähnt (zu beachten ist jedoch der ganz anders geartete Sachzusammenhang dieser Stelle). 5 I n V. 62f. ( = Syr V l l b , 23) ist mit A. M. CERIAJJT statt mar'ä mad'ä zu lesen (vgl. die Konjekturbemerkung bei A. M. CEBIANI, a.a.O. 68). 3

• V g l . VIOL. I I . 8 4 f f . ; H . GTJNKEL, b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 7 3 ; P . RIESSLER

275f. 7 Siehe oben Anm. 1. 8 VIOL. II, 85 Anm. zu 7,63 (vgl. auch J. KEULERS, a.a.O. S. 28 [zu 14,34]). Zurückhaltend F. Ch. PORTER, a.a.O. S. 152: "The question whether the word yefer occurred elsewhere in the book upon the assumption of a Hebrew original (e.g., in 14:34, sensus) can hardly be answered."

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,sensus' bietet neben .cogitatio', was an der anderen Stelle Gen. 6,5 allein steht" 1 . Für die von VIOLET geäußerte Vermutung spricht ferner die Bezeichnung des jesser (hara') als ,cogitamentum (malum)' 7,92 (vgl. das synonyme Wort ,cogitatio' in Gen 6,5; 8,21 Yulg.). Auf Grund der genannten Argumente ist fast mit Sicherheit anzunehmen, daß 7,62-64 nicht der , Verstand' oder die ,Vernunft1, sondern der ,(böse) Sinn' (oder ,Trieb') thematisiert wird. Unter dieser Voraussetzung fügt sich der Abschnitt ohne weiteres in die Reihe ähnlicher Aussagen des Sehers ein. Die Vorstellung, daß der ,sensus' dem Erdenstaub entstammt, besagt sachlich nichts anderes als die Rede vom Anerschaffensein des je§ser (hara') 2 . Aus demselben Staub, der den leblosen Adamsleib hergab (3,5; vgl. 7,116b), ging auch der ,böse Trieb' hervor. Als Folge seiner erdgebundenen Herkunft ist der Mensch von vornherein mit dem Bösen behaftet und Träger des je§ser hara' 3 . Die Verwünschung der Erde findet auf diese Weise eine sehr einleuchtende Erklärung. Esra beklagt hier wie sonst die Tatsache, daß der ,böse Trieb' dem Menschen naturhaft mitgegeben und insofern von Anfang an miterwachsen ist 4 . Denn auf Grund dieses Sachverhalts ist die Folge unausweichlich, daß alle der Sünde und damit dem ewigen Verderben verfallen. Dieser bereits in V. 62 a (Syr) ausgesprochene Gedanke wird am Schluß in V. 64 variiert: ,Nunc autem nobiscum crescit sensus; et propter hoc torquemur, quoniam scientes perimus.' Wieder ist zu fragen, ob der Satz wortgetreu und sinngemäß überliefert ist. Wie die Kommentare zeigen, wird vor allem die zweite Verszeile als anstößig empfunden. GUNKEL übersetzt: ,und dadurch leiden wir Pein, daß wir m i t B e w u ß t s e i n i n s V e r d e r b e n g e h e n ' 6 . Seine Anmerkung z. St. klingt freilich wenig überzeugend:,, Der Sinn ist: uns Menschen 1

2

VIOLET (II, ebd.) — vgl. Gen 8,21 L X X :

öidvoia.

Vgl. 4 E s r 7 , 9 2 (cum eis p l a s m a t u m cogitamentum malum); 4,30 (Quoniam granum seminis mali seminatum est in corde Adam a b i n i t i o . . .). 3 Von daher gesehen, erheben sich Zweifel gegenüber der von W. BOUSSETH. GKESSMANN geäußerten These, in der spätjüdischen Literatur finde sich „nirgends eine deutliche Spur der Anschauung, daß . . . der böse Trieb (,) mit dem leiblichen Dasein der Menschen an und für sich notwendig verbunden sei. Der böse Trieb stammt nach der Oesamtauffassung nicht aus dem Leibe, sondern aus dem Herzen des Menschen." (W. BOUSSET-H. GRESSMANN, S. 404f.; vgl. auch F. Ch. PORTES, a.a.O. S. 98-135. 146ff.) Es fragt sich, ob man ,Leib' und ,Herz' in der Weise gegeneinander ausspielen darf, wie es bei W. BOUSSETH. GBESSMANN geschieht. Zwar gilt auch nach den bisher erörterten Avissagen von 4Esr das Herz des Menschen als Sitz des jesjaer hara'. Der Seher macht jedoch gerade die erdgebundene Herkunft des Menschen dafür verantwortlich, daß sich der ,böse Trieb' im menschlichen Herzen ansiedeln und dort seine verderbliche Herrschaft ausüben kann. Die darin liegende Abwertung der Leiblichkeit, die eine dualistische Anthropologie voraussetzt, scheint für das Denken der Kreise, mit denen sich der Verfasser von 4Esr auseinandersetzt, tatsächlich charakteristisch gewesen zu sein (vgl. auch J . KEULERS, a.a.O. S. 152). 4 Vgl. 4Esr 7,48: ,Increvit enim in nos cor malum . . .' Dort ist jedoch nicht vom jesaer hara', sondern vom ,cor m a l u m ' die Rede, das den Menschen (auf Grund der Herrschaft des bösen Triebes) im Laufe der Zeit erwächst (siehe oben S. 48f.). In 7,64a dagegen scheint der Gedanke vorzuschweben, daß der ,böse Trieb' dem Menschen von vornherein anerwachsen ist (zum Tempus vgl. Aeth; ArabEw — Lat; Syr lesen das Präsens). — Man könnte allerdings auch erwägen, ob in 7,48 nicht ursprünglich ebenfalls "IJT (statt gestanden hat (so VIOLET [vgl. II, 80 Anm. z. St.]). I n diesem Fall wäre 7,48 als Sachparallele zu 7,64a zu beurteilen. Beiden Aussagen läge der Gedanke zugrunde, daß der ,böse Trieb' dem Menschen von Anfang an .erwachsen' ist. 5

B e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 7 3 .

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gereicht die Vernunft nur zur Pein, weil es unsere ewigen Qualen noch verschärfen wird, daß wir mit vollem Bewußtsein leiden!" 1 V I O L E T beanstandet das Verb ,perire' und setzt im Blick auf 7,72 „Textverderbnis T3M aus "13573 voraus" 2 : ,und deshalb werden wir gequält, weil wir wissend +übertreten+ (bzw. freier: +gesündigt+) haben'. Auch diese an sich einleuchtende Konjektur läßt sich nur halten, wenn man den Begriff ,sensus' (7,62-64) im Sinn von ,Verstand' deutet und die Gesajntaussage des Abschnitts von der folgenden Antwort des Engels her interpretiert (vgl. 7,71 ff.). Die These V I O L E T S ist aber vor allem dadurch belastet, daß nun die beiden Teile der Klage Esras auseinanderfallen. Denn im folgenden (V. 65-69) wird ja gerade der Verhängnischarakter der Sünde unterstrichen und entschieden bestritten, daß die Menschen .wissend' — und das heißt doch: zwanglos, nämlich in Freiheit und im vollen Bewußtsein ihrer Schuld — dem Bösen verfallen. Außerdem ist nicht damit zu rechnen, daß die Aussagen des Engels (7,70ff.) nur zu einem Teil der Klage des Sehers (d. h. 7,65ff. — wenn man V I O L E T folgt) in Spannung stehen. Aus allen diesen Gründen wird man auch V I O L E T S Deutungsversuch verwerfen müssen. Und doch hat gerade er den Weg zu einem sachgemäßeren Verständnis des Textes gewiesen. Zunächst ist (gegen V I O L E T ) an dem ,perire' in V. 64 b festzuhalten. Dafür spricht vor allem die syr. Version von V. 62, die auch G R E S S M A N N bei der Rekonstruktion des ursprünglichen Textes in Rechnung stellt 3 (dort war bereits davon die Rede, daß die ,Erdgeborenen' ins Verderben gehen!). Indessen erhebt sich die Frage, ob nicht das Partizip ,scientes' auf einem Mißverständnis (oder einer absichtlichen Korrektur?) beruht. Folgt man dem Vorschlag V I O L E T S und identifiziert ,sensus' mit dem ,(bösen) Trieb', so wirkt das ,scientes' im Zusammenhang reichlich impassend4. Sollte etwa auch in ,scientes' der Begriff ,sensus' stecken ? Daß eine derartige Erwägung nicht abwegig ist, läßt sich an Hand der Parallelstelle 7,72 erweisen, die auch von V I O L E T zur Interpretation von V. 64b herangezogen wird. In seiner Antwort zitiert der ,angelus interpres' zunächst (V. 71) die Aussage Esras V. 64 a. Aber auch der Anfang des folgenden Verses (Qui ergo commorantes sunt in terra, hinc cruciabuntur, quoniam sensum habentes iniquitatem fecerunt — V. 72 a. b a) erinnert an die Worte des Sehers (et propter hoc torquemur, quoniam scientes perimus — V. 64b). Die formale Korrespondenz beider Aussagen ist unübersehbar: hinc cruciabuntur, quoniam — propter hoc torquemur, quoniam; s e n s u m h a b e n t e s — s c i e n t e s ; iniquitatem fecerunt — perimus. Freilich ist sofort anzumerken, daß der Engel die Worte Esras (V. 64 b) in charakteristischer Weise abwandelt. Das erste Entsprechungsverhältnis ist nur formaler Art. Sachlich wird das Leiden, von dem der Visionär sprach (torquemur — Präs.!), nun auf die eschatologische Qual bezogen (cruciabuntur — Fut.!). An die Stelle des ,perire' (das bereits in dem ,cruciari' aufgenommen wurde) tritt das ,iniquitatem facere'. Auch ,sensus' wird in V. 71 f. in einem anderen Sinn gebraucht (dazu s. u.). Für unsere Fragestellung genügt 1 Ebd. Anm. g. Ähnlich B o x (bei R . H . C H A B L E S , AP II, 5 8 6 Anm. z. St.): "The possession of mind and reasoning powers only intensifies human sufferings at the last, because they must be endured with full knowledge and consciousness of their terrible nature; inevitable and unceasing." 2 V I O L . II, 85 Anm. z. St. (vgl. sBar 15,6). 3 S. o. S. 156 Anm. 1. 4 Auch wenn ,sensus' in 7,62—64 im Sinne von ,Verstand', .Vernunft' zu interpretieren wäre, bliebe das alleinstehende ,scientes' verdächtig. Man erwartete in diesem Fall ein Objekt wie ,peccatum' (vgl. 7,116b) oder dgl.

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jedoch der Aufweis der formalen Analogie von ,scientes' u n d ,sensum habentes'. Die Möglichkeit, d a ß das Part. ,scientes' in V. 64 b ein ,sensum habentes' (oder eine ähnliche Wendung) vertritt, ist demnach jedenfalls nicht ausgeschlossen. Auf Grund dieser Erwägungen legt sich folgende Paraphrase von Y. 64 nahe : , Nun aber ist der (böse) Sinn (von Anfang an) mit uns aufgewachsen ; und deswegen sind wir (jetzt) voller Unruhe (Angst), weil wir — da wir den (bösen) Sinn in uns tragen — (mit Sicherheit) dem (endgültigen) Verderben anheimfallen (werden).'1 Diese Deutung des Textes läßt sich freilich nur mit Vorbehalt rechtfertigen 2 . Aber der rekonstruierte Wortlaut der Klage Esras p a ß t nicht nur gut zu ähnlichen Aussagen des Sehers, sondern s t i m m t auch m i t d e m K o n t e x t überein. I m zweiten Teil seiner Rede (V. 65-69) stellt der Seher die trostlose Situation der Menschen dem glücklichen Los der Tiere gegenüber (V. 65), deren Dasein sich nicht in banger E r w a r t u n g u n d Angst verzehrt: 1 Vgl. auch L. GRY, der (a.a.O. I, 175) z. St. b e m e r k t : " L a torture du genre humain . . . vient de l'assurance, que la raison produit le péché, comme le péché produit la mort, et que les trois, raison, péché, mort, tiennent à l'homme, à l'universalité des hommes, comme sa n a t u r e même . . ." L. GRY bleibt allerdings die Antwort auf die Frage schuldig, inwiefern die ,Vernunft' (raison) die Sünde produziert. Seine Bemerkung z. St. träfe sich jedoch genau mit der hier erwogenen Deutung des Textes, wenn er ,sensus' mit .penchant' (statt mit ,raison') wiedergegeben hätte. 2 Gegen die hier vertretene Deutung von ,sensus' im Sinne von und die R ü c k f ü h r u n g von ,scientes' auf ,sensum habentes' (oder dgl.) k ö n n t e insbesondere die Aussage 7,66 geltend gemacht werden. Dort heißt es, daß die Tiere (im Unterschied zum Menschen) ,non enim sperant iudicium nec enim s c i u n t + cruciamentum + nec salutem post mortem repromissam sibi'. Die Aussage scheint den Grund f ü r die trostlose Situation des Menschen (vgl. 7,65) tatsächlich gerade darin zu erblicken, daß der Mensch (im Unterschied zum Tier) den ,sensus' ( = ratio) besitzt (vgl. 7,65 A r m e n : ,omnes generationes rationabilium') u n d d a r u m u m Heil u n d Unheil weiß. Es fragt sich jedoch, ob m a n das ,scire' in 7,66 derart hervorheben u n d zum Angelpunkt der Auslegung von 7,65 f. machen darf. I n 7,66 könnte nämlich auch darauf abgehoben sein, daß die geschichtliche Existenz des Menschen angesichts des zu erwartenden Endgerichts im Zeichen der Angst steht, während das Leben der Tiere .durch ihre R u h e und das Fehlen von [ihrer] Sorge' ausgezeichnet ist (so ArabGild V l l b , 41 [ = 7,66]). Es besteht demnach kein zwingender Grund, das ,scientes' in 7,64b von 7,66 her zu deuten (zu beachten ist auch die objektlose Stellung des .scientes'in 7,64b [siehe dazu oben S. 158 Anm.4]).—Ein sicheres Urteil ist in Anbetracht der schwierigen Quellenlage nicht möglich. Immerhin läßt sich f ü r die oben erwogene Interpretation des Textes außer den bereits geltend gemachten Argumenten noch folgendes a n f ü h r e n :

1. Die armen. Version gibt 4Esr 7,62-64 stark verkürzt wieder ( = Armen VI, 38f.). Sie übergeht sämtliche Aussagen, in denen sich nach dem Zeugnis von Lat/Syr ,sensus' bzw. m a d ' ä findet (vgl. auch ArabGild). Dieser auffällige Sachverhalt könnte mit der in Armen auch sonst bemerkbaren Tendenz zusammenhängen, alle Aussagen über den ,bösen Trieb' (bzw. das ,böse Herz') zu eliminieren (vgl. VIOL. I I , 10 Anm. zu 4,4; bezeichnenderweise fehlen im armen. Text auch die sich auf 7,62—64 beziehenden W . 7,71 f. ! Vgl. im übrigen die Stellen 4 E s r 3 , 2 0 — 2 2 . 26; 4,4. 30f.; 7,48. 92; 8,53, die von Armen entweder ausgelassen oder in charakteristischer Weise abgewandelt werden). 2. Es d ü r f t e kein Zufall sein, daß der Verfasser der aethiop. Übersetzung den Abschnitt 7,62-64 auf das ,Herz' bezieht (einige Hss. sprechen von dem , b ö s e n Herzen'), u m dessentwillen ,wir . . . v e r d a m m t werden'. Wahrscheinlich versteht er 7,62-64 vor dem Hintergrund des in 3,20ff. 26 Gesagten (vgl. auch 14,34 Aeth).

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Die Zwei-Äonen-Lehre (V. 66) ,Denn ihnen ergeht es viel besser als uns, sie warten ja keines Gerichts, und wissen nichts von Qual noch Leben, nach dem Tode ihnen versprochen! (V. 67) Uns aber, was hilft es, mit Leben begabt, aber gepeinigt zu werden mit Pein! (V. 68) Denn alle Geborenen sind sündenbefleckt, sind voller Schuld und frevelbeschwert! (V. 69) +Und kommen wir nach dem Tod ins Gericht, so wär's uns besser, nicht >gekommen< zu sein+!'

Die (auf den künftigen Aon bezogene) Verheißung ewigen, unsterblichen Lebens (der in der griech. Vorlage in V. 66 vorauszusetzende Begriff £iorj wird in der lat. Version völlig sachgemäß durch ,salus' wiedergegeben — vgl. die entsprechende Wendung ,salvati salvabimur' V. 671) ist sinnlos, da die gesamte Menschheit dem Verhängnis der Sünde unterliegt und darum am Ende mit Notwendigheit dem Gericht und ewigem Tod verfällt. Faktisch kann niemand der den Sündern angedrohten Qual entgehen — m. a. W.: alle müssen damit rechnen, vom künftigen Äon (d. h. von Rettung und Heil) ausgeschlossen zu werden. Der hier zum Ausdruck kommende Gedanke eines auf der Menschheit lastenden Sündenverhängnisses wird — wie wir gesehen haben — von Esra wiederholt vertreten. Wie wenig sich der Apokalyptiker selber mit der Gestalt des Esra identifiziert und wie weit er davon entfernt ist, sich das hinter den Worten des Sehers stehende Seinsverständnis zu eigen zu machen, geht deutlich aus der folgenden Replik des Engels hervor (V. 70-74).

Zunächst wird dem Seher entgegengehalten, daß Gott bereits vor der Erschaffung der Welt und des Menschen sein Gericht festgelegt hat: ,quando (besser: antequam [Armen] 2 ) Altissimus faciens faciebat saeculum et Adam et omnes, qui ex eo venerunt, primum praeparavit iudicium et quae sunt iudicii' (V. 70). Die Aussage bezieht sich offensichtlich auf das in V. 62f. Gesagte. Gegenüber der These Esras, daß der Mensch kraft seiner erdgebundenen Herkunft von vornherein zur Sünde determiniert und damit zwangsläufig dem Unheil preisgegeben ist, bringt der Offenbarer mit Nachdruck den Schöpfungsgedanken zur Geltung. Die Vorstellung von der Prädestination des Gerichtes Gottes unterstreicht aufs stärkste den unaufgebbaren Anspruch des Schöpfers auf sein Geschöpf3. Die Behauptung, daß das (erst am Ende dieses Äons stattfindende) Gericht schon vor der Schöpfung von Welt und Mensch festgesetzt wurde, hebt den Rechtsanspruch des Schöpfers hervor und wendet sich scharf gegen ein Denken, das die Allmacht und Schöpfertreue Gottes durch das apriorische Faktum des Bösen (terra, jesser hara') in Frage gestellt sieht. V. 70 polemisiert also 1 2

S. o. S. 149 Anm. 1. Ebenso H. Gunkel : ,Ehe der Höchste die Welt schuf. . AP II, 373; vgl. auch Viol. II, 86 Anm. z. St.). 3 Vgl. J . J e b v e l l , a. a. O. S. 30f.

(bei E. Kautzsch,

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offenkundig gegen die latent dualistische Anthropologie, von der die Äußerungen des Sehers bestimmt sind (vgl. vor allem V. 62 ff. und die oben vorgetragene Interpretation des Abschnitts, aber auch 7,116). Es versteht sich von selbst, daß damit zugleich die These von der Unvermeidlichkeit der Sünde angegriffen und ins Unrecht gesetzt wird. Explizit geschieht dies in den folgenden Versen. Dort werden — wie oben bereits angedeutet — bestimmte Worte des Visionärs aufgenommen und — „literarisch gesehen geschickt" 1 — gegen ihn ausgespielt : (V. 71)

E t nunc de sermonibus tuis intellege, quoniam dixisti, quia 2 ,sensus' nobiscum crescit: (V. 72) (a) Qui ergo commorantes sunt in terra, hinc cruciabuntur, quoniam (b) ,sensum' habentes iniquitatem fecerunt, et mandata accipientes non servaverunt ea, et legem consecuti fraudaverunt eam [,quam acceperunt 3 ].

V. 71 enthält ein wortwörtliches Zitat des in V. 64 a genannten Ausspruchs Esras (nur die Wortstellung ist geändert). Wir haben schon dargelegt, daß auch zwischen den VV. 64 b und 72 a. ba Querverbindungen bestehen. Allerdings wird die Aussage Esras vom Engel ins Gegenteil verkehrt. War vorher davon die Rede, daß die Menschen infolge des ihnen innewohnenden ,sensus' (in Sünde fielen und darum) nichts als Verderben zu erwarten haben, so wird ihnen jetzt ewige Qual angedroht, weil sie gottlos handelten und Unrecht begingen, obwohl sie im Besitz des ,sensus' waren (sensum habentes). Es ist ausgeschlossen, daß das Wort ,sensus' in beiden Fällen dasselbe besagt. Der merkwürdige Sachverhalt, daß beidemal — aber sachlich widersprechend — vom ,sensus' die Rede ist, beruht offensichtlich auf einer doppelten Verwendungsmöglichkeit des Begriffs. Beachtet man die parallele Stellung von ,sensus', ,mandata' und ,lex' in V. 72b, so liegt es nahe, ,sensus' hier (im Gegensatz zu V. 64) mit dem 31Ö4 IX? zu identifizieren6, der nach rabbinischer Lehre „der dem Göttlichen u. Ewigen zugewandte Sinn (!) des Menschen (ist), . . . Wohlgefallen 1

E.

BRANDENBURGER,

a.a.O. S. 30.

,quia' = ort recitativum (vgl. Bl-Debr § 3 9 7 , 5 ; 470,1). 3 Von VIOLET als Verdoppelung des vorangehenden .consecuti' angesehen (vgl. II, 87 Anm. z. St.). 4 Merkwürdigerweise fast durchweg ohne Artikel (vgl. BILL. IV/1, 466). 5 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Korrespondenz von (r/) dya&rj didvoia (diavoia = lat. ,sensus') TestBenj 5 , 1 ; 6,5 und to äya&öv diaßovXiov TestBenj 6,4. Die parallele Verwendung beider Begriffe ist für unsere Fragestellung insofern von Belang, als 7I(ov, xai Svo öiaßovXia, xai &vo nod^eig, xai Svo TQÖTCOVQ, xai dvo JIKEA. / Aid TOVXO ndvra Svo dvo eiaiv, Sv xarevavri rov evög. / 'OSoi ydg eloiv dvo, xaXov xai xaxov' iv olg eioi TO dvo SiaßovXta ev oregvoig rj/jMjv Siaxgivovra avrd. T e s t nach R. H . CHARLES, The Greek Versions of the Testaments of the Twelve Patriarchs, 172; zu TestAss 1,2-9 vgl. R. E. MTXRPHY, Bibl 39/1958, 336f.; E. KAMLAH, Die Form der katalogischen Paränese im Neuen Testament, S. 17Iff. Auch W. B O U S S E T - H . GRESSMANN schränken die oben angeführte These durch den Verweis auf TestAss 1 ein [vgl. a.a.O. S. 404]). Daß diaßovkiov TestAss 1,3. 5 (vgl. 1,8; TestBenj 6,4) auf zurückgeht, ist durch Sir 15,14 sichergesteEt (vgl. G. v. RAD, Die Vorgeschichte der Gattung v o n l . K o r . 13,4-7, in: Ges.

S t u d , z u m A T , S . 2 8 4 ; E . KAMLAH, a . A . O . S . 1 7 4 ) . 2 Beispiele für den indeterminierten Gebrauch von I S 1 in der rabbinischen Literatur bei B I L L . I V / 1 , 47Iff. 3 Unter dieser Voraussetzung besteht nicht der geringste Anlaß, die Verse 7,71b. 72a. b a als Glosse auszuscheiden (gegen L. GRY, a.a.O. I, 181).

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anheim (hinc cruciabuntur, quoniam . . .)• Ihre Stellung im Endgericht ist aussichtslos, denn sie haben nichts zu ihrer Entschuldigung vorzubringen: ,Et quid habebunt dicere in iudicio, vel quomodo respondebunt in novissimis temporibus?' (V. 73)1 — Aufschlußreich ist der abschließende Hinweis auf die ,Langmut' Gottes, die den Weltbewohnern (so) lange Zeit zugutekam (Quantum enim tempus, ex quo longanimitatem habuit Altissimus his, qui inhabitant saeculum . . . — V. 74). Damit gewinnt die sonst ausschließlich negativ qualifizierte Zeit dieses Äons (wieder) einen gewissen positiven Akzent: Sie gilt als die (unverdient lange) Epoche des Strafaufschubs, die allen gewährt, jedoch von den Wenigsten genutzt wurde2. Das in 7,17-25 und 7,70-74 sichtbar werdende Bemühen des Apokalyptikers, die skeptische und fatalistische Konzeption seiner Kontrahenten durch den Verweis auf das Gesetz zu widerlegen, ist ebenfalls in dem Abschnitt 7,127-131 leitend. Hatte Esra zuvor den Verhängnischarakter des Bösen hervorgehoben und den Gedanken der Unentrinnbarkeit des Sündengeschicks als Argument gegen Sinn und Wert der Verheißung angeführt (vgl. 7,116ff., bes. 7,119ff. 3 ), so wird ihm nun entgegengehalten: (V. 127) . . . Hoc est cogitamentum certaminis, quem certavit qui super terram natus est [homo 4 ], (V. 128) ut, si victus fuerit, patiatur, quod dixisti, si autem vicerit, recipiet, quod dico. (V. 129) Quoniam haec est via, quam Moyses dixit, cum viveret, ad populum dicens: >Elige tibi vitam, ut vivae !< (V. 130) Non crediderunt autem ei, sed nec post eum prophetis, sed nec mihi, qui locutus sum ad eos. (V. 131) Quoniam non +erit+ tristitia in perditionem eorum, sicut et futurum est gaudium super eos, quibus persuasa est salus.

Im Zentrum der Erwiderung des Engels steht wiederum der Verweis auf die mosaische Tora (V. 129). Unter Berufung auf Dt 30,19 wird dem Seher dargelegt, daß grundsätzlich allen die Möglichkeit offenstand, das ,Leben' zu gewinnen. Mose hatte allen6 den ,Lebensweg' gewiesen, indem er den Inhalt des Gesetzes proklamierte (vgl. Dt 30, 1

Siehe dazu auch oben S. 152 Anm. 2 (Ziffer 3). Zu 4Esr 7,74 siehe auch unten S. 316ff. 3 Siehe dazu oben S. 51 ff. 56f. 4 ,Homo' ist wohl kommentierende Glosse — neben ,qui super terram natus est' ( = der .Erdgeborene' als Bezeichnung für den Menschen) überflüssig. 5 Gedacht ist offensichtlich an Israel (s. o. S. 150f.). 2

11*

164

Die Zwei-Äonen-Lehre

15. 19). Insofern lag es in der Hand jedes einzelnen, sich (durch ein am Gesetz orientiertes Verhalten) das ,Leben' zu erwählen 1 . Unter ,vita' ist an dieser Stelle (im Unterschied zu a™n in Dt 30,19 — vgl. Dt 30,15) zweifellos das endgültige, unverletzliche ,Leben' im eschatologischen Sinn verstanden. Die „alte Aussage" ist „deutlich ins Eschatologische gewendet: ,Leben' meint jetzt ewiges, unsterbliches Leben im kommenden Äon; ,Tod' zunächst einfach das Gegenteil davon, nämlich Ausschluß von der zukünftigen Welt, von Rettung und Heil" 2 . Ähnlich wie in 7,20ff. sucht der Offenbarer die Auffassung Esras durch zwei Argumente zu widerlegen: 1. die Teilnahme am künftigen Heil hängt ausschließlich von der Wahl des im Gesetz angebotenen Lebensweges ab — ausschlaggebend für das endzeitliche Geschick des einzelnen ist einzig und allein seine verantwortliche Entscheidung dem Gesetz gegenüber; 2. Gott hat niemanden über die Kriterien in Unkenntnis gelassen, nach denen die Heilszugehörigkeit des einzelnen festgestellt wird. Von daher erweist sich die Klage Esras über das traurige Los der Sünder letztlich als grundlos. Denn die vom Unheil Betroffenen haben ihr Schicksal in Wahrheit selber verschuldet, indem sie wider besseres Wissen den göttlichen Willen verachteten und den Predigern des Gesetzes den Glauben verweigerten (vgl. V. 130). , Deshalb wird keine Trauer sein über ihren Untergang, sondern Freude über der Gläubigen Leben!' (V. 131) Damit ist eindeutig klargestellt, daß über „Leben und Tod im eschatologischen Sinne . . . allein die verantwortlichen Taten der Menschen selbst (entscheiden)" 3 . Der Verfasser von 4Esr übernimmt zwar die Vorstellung eines durch die Sünde Adams ausgelösten Todesverhängnisses, bezieht dies aber lediglich auf das Faktum der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. „Während also allein Adams 1 ,Elige tibi vitam, ut vivas!' entspricht dem ¡Vnri JVÖ1? O^n? PHnSl aus Dt 30,19b (der Schluß T|5nr] HRN ist in der lat. Version ausgelassen). Der Verfasser des syr. Textes hat das Zitat unter Verwendung von Dt 30,15 und 30,19b (Schluß) sekundär aufgefüllt. — Zu ,via' (im Sinne des ,Lebensweges') vgl. Jer 21,8 (siehe auch F O R B E S / C H A R L E S ZU slHen 3 0 , 1 5 , bei R . H. C H A R L E S , AP II, 449 Anm. z. St.). Der Apokalyptiker kombiniert Dt 30,19 mit Jer 21,8, spricht aber im Unterschied zu der dort jeweils vorausgesetzten Doppelseitigkeit von ,Leben' und ,Tod' allein vom ,Leben' (bzw. dem ,Lebensweg'). In 7,131 dagegen begegnet die (der Antithese von ,Leben' und ,Tod' korrespondierende) Gegenüberstellung von ,salus' und ,perditio'. Daran wird ersichtlich, daß es sich in 7,129 um verkürzte Ausdrucksweise handelt (vgl. auch 4Esr 14,22: ,. . . ut possint homines invenire s e m i t a m , et, qui voluerint vivere, in novissimis v i v a n t ' ) . Zur Sache vgl. jetzt auch O. H. S T E C K , a.a.O. S. 179f. 2 E. B R A N D E N B U R G E R , a.a.O. S. 5 7 (ebenso P. R I E S S L E R , 1 2 8 3 Anm. z.St.; Box, bei R . H . C H A R L E S , AP 1 1 , 5 9 1 Anm. z.St. [siehe dazu auch oben S. 1 4 9 Anm. 1]). 3 E. B R A N D E N B U R G E R , a.a.O. S. 58.

Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung

165

Tat die Ursache für den irdisch-weltlichen Tod aller Menschen ist und deren Tun darauf keinen Einfluß hat, so ist für den eigentlichen Tod eines Menschen allein sein eigenes Tun die Ursache und Adams Tat völlig irrelevant." 1 Dieser Sachverhalt beweist, daß der Apokalyptiker den Verhängnisgedanken weit weniger radikal verwendet, als dies in den von ihm bekämpften Kreisen offensichtlich der Fall war. bb) Die Aussagen über den ,bösen Trieb' Mit welcher Entschiedenheit der Verfasser der Esraapokalypse an dem Gedanken der persönlichen Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen festhält 2 , wird auch aus den Eingangsversen (7,127f.) des soeben angeführten Abschnitts ersichtlich. Dort ist von einem ,Kampf' die Rede, ,den jeder kämpfen muß, der auf Erden [als Mensch] geboren ist' 3 . Vergleicht man 7,127f. mit 7,92, so kann kein Zweifel darüber bestehen, um welchen ,Kampf' es sich hier handelt. Die Sachparallele 7,92 lautet: . . . quoniam cum labore multo certati sunt, u t vincerent cum eis plasmatum cogitamentum malum, u t non eas seducat a vita ad mortem. 1

2

E . BRANDENBURGER,

ebd.

D a ß auch in 4 E s r der Gedanke der Entscheidungsfreiheit des Menschen zur Geltung kommt, wurde in der traditionellen Auslegung dieser Schrift meist verkannt. Man orientierte sich weitgehend an den Äußerungen des Visionärs und n a h m die von ihm vorgebrachten Klagen über das universale Sündenverhängnis unkritisch f ü r die Position des Verfassers in Anspruch (siehe dazu oben S. 60fF.). Zutreffender urteilen n u r diejenigen Exegeten, die auf die Disparatheit der Einzelaussagen u n d die Widersprüchlichkeit der Gedankenf ü h r u n g in 4 E s r aufmerksam machen oder sogar die sachliche Prävalenz der Weisungen des Engels hervorheben (vgl. W. M U N D L E , ZAW 47/1929, 229fF. 243ff.; L . V A G A N A Y , a . a . O . S. 51 ff.; E . S J Ö B E R G , Gott u n d die Sünder im palästinischen J u d e n t u m , S. 229 Anm. 5; E . L O H S E , Märtyrer u n d Gottesknecht, 2. Aufl. 1963, S. 14f.; W. F O E R S T E R , Neutestamentliche Zeitgeschichte, 3. Aufl. 1959, Bd. I, S. 210; H . P R E I S K E R , Neutestamentliche Zeitgeschichte, S. 241 f.; E . G A U G L E R , Das S p ä t j u d e n t u m , i n : Mensch und Gottheit in den Religionen, S. 291; E . B A I , L A , Das Problem des Leides in der Geschichte der israelitisch-jüdischen Religion,in: E Y X A P I Z T H P I O N [Festschrift H . G U N K E L ] , 1. Teil, S. 258f.; O. K u s s , a.a.O. S. 266f.; J . B E C K E R , Das Heil Gottes, S. 119 Anm. 1 — vgl. auch schon W . B O U S S E T - H . G R E S S M A N N , S. 405). Doch gelangt keiner der Genannten zu der Erkenntnis, daß der Verfasser der Apokalypse den von Esra vertretenen S t a n d p u n k t bekämpft. Man begnügt sich durchweg mit der Feststellung des .sowohl — als a u c h ' : Der Apokalyptiker (!) bezweifelt einerseits zutiefst das Vermögen des Menschen, der Sünde Herr zu werden. „Aber ebenso stark hält er doch andererseits a n dem Gedanken fest, d a ß Sünde nicht Naturnotwendigkeit ist, daß der Einzelne verantwortlich ist f ü r sein Tun, und daß der Unterschied zwischen Gerechten und Gottlosen auf dem freien Willen der einzelnen u n d ihrer Entscheidung f ü r und gegen das Gesetz b e r u h t . " (W. B O U S S E T - H . G R E S S M A N N , S. 405). 3 Text nach S. 163 Anm. 4).

H . GUNKEL,

bei

E . KAUTZSCH,

A P

II,

377

(vgl. dazu oben

166

Die Zwei-Äonen-Lehre

N a c h dieser A u s s a g e z e i c h n e n sich die G e r e c h t e n i n s o n d e r h e i t d a d u r c h aus, d a ß sie , m i t großer M ü h e ' (oder: , g r o ß e m Eifer'?) — d. h. u n t e r E i n s a t z ihrer g a n z e n E x i s t e n z — d e n i h n e n a n e r s c h a f f e n e n ,bösen Sinn' b e k ä m p f t u n d s e i n e m H e r r s c h a f t s a n s p r u c h w i d e r s t a n d e n h a b e n 1 . E n t s p r e c h e n d w i r d a u c h 7 , 1 2 7 f . z u v e r s t e h e n sein. B e i d e m . K a m p f ' , der j e d e m , E r d g e b o r e n e n ' (vgl. 7 , 6 2 Syr) a u f e r l e g t ist, h a n d e l t e s sich k o n k r e t u m die A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e m , b ö s e n Trieb' (vgl. nur die auffällige Ü b e r e i n s t i m m u n g der T e r m i n o l o g i e : c e r t a m e n , c e r t a v i t , v i c t u s fuerit, vicerit [ 7 , 1 2 7 f . ] ; certati s u n t , v i n c e r e n t [ 7 , 9 2 ] ; v g l . a u c h 3 , 2 1 ) 2 . D i e s e n K a m p f t r e t e n alle u n t e r d e n g l e i c h e n B e d i n g u n g e n a n : „ d a r i n s i n d A d a m u n d seine N a c h k o m m e n völlig gleichgestellt"3. A b e r nur diejenigen, die a u s i h m als Sieger herv o r g e h e n u n d d e n , b ö s e n Trieb' t a t s ä c h l i c h b e z w u n g e n h a b e n , e m p 1 Es ist verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht worden, daß die „Vorstellung vom .anerschaffenen' bösen u n d guten Trieb merkwürdig der Vorstellung von den (übergreifenden) entgegengesetzten Geistern 1 QS 3i3ff. korrespondiert" (E. BRANDENBURGER, a . a . O . S. 33 Anm. 6; vgl. auch Test J u d 20). Der Zusammenhang zwischen der Zwei-Geister-Lehre u n d der Vorstellung von den beiden Trieben wird u. a. von B. OTZEN, Die neugefundenen hebräischen Sektenschriften u n d die Testamente der zwölf Patriarchen, S t T h VII/1954, 139; E.SCHWEIZER, Gegenwart des Geistes u n d eschatologische Hoffnung bei Zarathustra, spätjüdischen Gruppen, Gnostikern u n d den Zeugen des Neuen Testamentes, in: Neotestamentica, S. 161 f.; vgl. ebd. S. 161 Anm. 37; H . W . HUPPENBAUER, Der Mensch zwischen zwei Welten, S. 31 Anm. 100, S. 118; F . NOTSCHER, Zur theologischen Terminologie der Qumran-Texte, S. 84 Anm. 13; O. J . F . SEITZ, N T S VI, 1959/60, 82ff.; E . KAMLAH, a . a . O . S. 173ff. erörtert; vgl. bereits W . B O U S S E T - H . G R E S S M A N N , S. 4 0 3 Anm. 1. E s h a t den Anschein, als sei die „Lehre von den zwei Trieben . . . die psychologische Reduktion des ursprünglich metaphysisch verstandenen Dualismus von Gut u n d Böse" (R. I. Z. WERBLOWSKY, a . a . O . S. 107). „ D e r F ü r s t des Lichts u n d der Geist der Unreinheit sind, logisch betrachtet, die metaphysischen Hypostasen des guten u n d bösen Triebs. Historisch besehen ist aber das Gegenteil wohl richtiger: Der gute u n d der böse Trieb sind die rabbinische Verschiebung ins Psychologische und damit die weitere Verharmlosung des ihnen unwillkommenen Dualismus." (ebd. [Hervorhebungen von mir] — vgl. auch R . EPPEL, Le pietisme juif dans les Testaments des douze Patriarches, S. 124ff. [ " L a conception dualiste du monde avec ses deux principes opposés est transportée dans la n a t u r e humaine." — ebd. S. 124]) Schon in 1 QS 4,23 zeichnet sich die Tendenz ab, den K a m p f der beiden entgegengesetzten K r ä f t e ins Innermenschliche hineinzuverlegen (der Streit der Geister der Wahrheit u n d des Frevels k o m m t im menschlichen Herzen [SS 1 ?!] zum Austrag — anders F. NÖTSCHER, a . a . O . S. 80: die beiden Geister „streiten u m das Herz . . . des Mannes"; doch vgl. DERS., Gotteswege u n d Menschenwege in der Bibel u n d in Qumran, S. 92: „Sie streiten u m das Herz [oder g a r : im Herzen, wie m a n auch übersetzen kann] des Menschen . . ."); vgl. auch T e s t J u d 20 mit TestAss l , 3 f f . ; 3. 2 Zum Stichwort , K a m p f ' siehe auch 1 Q S 4 , 2 3 (3,"1). Dort erscheint der Mensch jedoch nicht (wie in 4Esr 7,92. 127f.) als Subjekt, sondern als Objekt des in seinem Herzen zum Austrag kommenden K a m p f e s (vgl. auch E . B R A N DENBURGER, a . a . O . S. 33 Anm. 6). I n diesem Zusammenhang sei auch auf eine (möglicherweise demselben Anschauungskreis entstammende?) Aussage aus ApkMos 28 aufmerksam gemacht; dort spricht Gott zu A d a m : (ojrco? . . .) r v E/V? Barmherzige< genannt. / Denn wenn du dich über uns, die wir keine [guten] Werke haben, erbarmen willst, dann wirst du >Erbarmer< genannt werden' (V. 31 f.). Nicht die Gerechten bedürfen der Hilfe des Höchsten, sondern die Sünder, die keinen Schatz von Werken besitzen: ,Darin eben wird deine Güte, Herr, sich zeigen, wenn du dich derer erbarmst, die keinen Schatz von Werken haben' (V. 36; vgl. V. 33) 4 . 1 Text nach der von der fränkischen Gruppe (0) repräsentierten lat. Version.—Zur formalen Struktur dieser Sätze vgl. dieBitte J o n a t h a n s PsPhilo 62,11. 2 Spanische Textgruppe (3*); bei VIOL. I, 234, Kol. I I . 3

4

B e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 8 1 A n m . b . So ist mit V I O L E T zu lesen. Der in einem

Zweig der lat. Überlieferung () neben ,bonitas' begegnende Begriff ,iusticia' (vgl. ArabGild) d ü r f t e als sekundäre Ergänzving zu beurteilen sein.

Die Geschichte als die begrenzte Zeit der Entscheidung

237

An der Art und Weise, wie das Gebet Esras beantwortet wird, zeigt sich wieder das beachtliche literarische Geschick des Verfassers. Die Erwiderung des Offenbarers ist so formuliert, daß zunächst der Eindruck entsteht, die Bitten des Sehers fänden Gehör: ,Wie richtig hast du geredet1, und gemäß deinen Worten wird es auch . . . geschehen' (V. 37; vgl. V. 402). In Wahrheit wird Esra mit seinen eigenen Worten widerlegt 3 : (V. 38) Quoniam vere non cogitabo super plasma eorum, qui peccaverunt, aut mortem aut iudicium aut perditionem, (V. 39) sed iocundabor super iustorum figmentum, peregrinationis quoque et salvationis et mercedis receptionis.

Diese Sätze beziehen sich deutlich auf das in V. 26-28(-30) Gesagte: „Der Engel meint das Gebet des Esra, Gott möge an die Gerechten und nicht an die Sünder denken. Diese Worte sind Wahrheit, aber freilich in ganz anderem Sinne, als Esra gemeint hat!" 4 (Vgl. den bereits erwähnten Abschnitt 7,62-74, wo sich eine „ähnliche geistreiche Umkehrung der Worte Esras durch den Engel findet"6.) Gott wird im Eschaton tatsächlich der Gerechten gedenken, aber nicht, um ihre Verdienste den Sündern zukommen zu lassen, sondern um sie selbst dem Heil zuzuführen, das ihnen allein vorbehalten ist. Unbeirrt hält der Offenbarer an der Behauptung der Exklusivität des Heils der Gerechten fest. Gott kümmert sich nicht um das Unheilsgeschick der Sünder, sondern er freut sich ausschließlich an der ,Heimkehr' der Frommen, an ihrer Rettung und ihrem Lohnempfang (vgl. 7,60f. 131). Damit wird deutlich: Die Anerkennung, die den Worten Esras zuteil wird, ist ironisch gemeint®. Faktisch läuft die Antwort 8,37ff. auf eine Ablehnung der Fürbitte des Sehers hinaus. Wer darauf 1 So mit H . G B E S S M A N N , bei V I O L . II, 3 4 1 Anm. z. St., und L. G E Y , a.a.O. I, 261. Die Aussage ,Recte locutus es aliqua' geht vermutlich auf dArj&wi ¿MXrjaag ri zurück und darf darum nicht im Sinne eines partiellen Zugeständnisses ( , e i n i g e s hast du richtig gesagt') gedeutet werden (gegen H. G U N K E L ,

b e i E . KAUTZSCH, A P H , 3 8 1 ; B o x , b e i R . H . CHABLES, A P I I , 5 9 6 ; VIOL. I I , 1 1 5 ; P. R I E S S L E R , 2 8 4 ; E . B B A N D E N B U B G E B , a.a.O. S. 3 0 ) . 2

,Und wie du gesagt hast, so ist es.' (Aeth; auch H. G B E S S M A N N [bei, II, 341 Anm. zu 8,37] folgt der aethiop. Version; die Seitenreferenten lesen: ,Und wie ich gesagt habe . . .'). 3 Dieser Sachverhalt wird z . B . von P . V O L Z verkannt (vgl. a . a . O . S. 3 0 1 ) . Sein Mißtrauen gegenüber der Integrität des vorliegenden Textes erscheint darum als imbegründet. 4 H. G U N K E L , bei E. K A U T Z S C H , AP II, 381 Anm. 1; vgl. auch J. K Ö B E B L E , a.a.O. S. 659. VIOL.

5

6

H . GUNKEL,

ebd.

Der ironische Klang der göttlichen Antwort wird allerdings nur und erst dann deutlich vernehmbar, wenn man das in 8,37 Gesagte im Sinne eines uneingeschränkten Lobes versteht (siehe dazu oben Anm. 1).

238

Die Zwei-Äonen-Lehre

vertraut, Gott werde sich schließlich auch der Sünder annehmen, befindet sich in einem verhängnisvollen Irrtum: Sicut enim agricola serit super terram semina multa et plantationis multitudinem plantat, sed non in tempore [non] omnia, quae seminata sunt, salvabuntur, sed nec omnia, quae plantata sunt, radicabunt, sie et qui in saeculo seminati sunt: non omnes salvabuntur. (8,41)

Mit diesem Gleichnis wird die Vorstellung einer änoxardaraaig ndvrcov noch einmal unmißverständlich zurückgewiesen. Der Offenbarer erinnert an den natürlichen Wachstumsprozeß, bei dem sich zwangsläufig Verluste einstellen, um das Verlorengehen vieler Menschen als ein Geschehen erscheinen zu lassen, „das sich naturgemäß so ereignen muß" 1 . Die eschatologische Rettung aller Lebenden ist genauso unmöglich wie die Ernte alles Gesäten. Wie der Bauer von vornherein damit rechnen muß, daß nicht jedes Korn heranwächst und Frucht trägt, ebenso ist mit Sicherheit anzunehmen, daß nicht alle Weltbewohner in den künftigen Äon eingehen: ,non omnes salvabuntur'. In der folgenden Replik Esras (8,42-45) wird diese Gleichsetzung „von Naturgeschehen und Menschenschicksal als ungerecht verworfen und für das Ebenbild Gottes, ,um dessentwillen ja alles geschaffen wurde', ein anderes Gesetz gefordert, und die Gnade als Ausdruck der Beziehung von Schöpfer und Geschöpf angerufen" 2 : ,homo, qui manibus tuis plasmatus est et tuae imagini [nominatus quoniam] similatus est, per quem omnia plasmasti, — et similasti eum semini agricolae ? / Non +domine+ super nos, sed parce populo tuo et miserere haereditati tuae! tuae enim creaturae misereris' (8,44f.). Aber auch diese eindringliche Bitte des Sehers wird im folgenden erneut schroff zurückgewiesen (vgl. 8,46 ff.). Esra soll sich nicht weiter mit der Frage nach dem Schicksal der Sünder befassen, sondern seinen Blick auf die künftige Herrlichkeit der Gerechten lenken, zu denen er sich rechnen darf 3 : ,Vobis enim apertus est paradisus, plantata est arbor vitae, praeparatum est futurum tempus, praeparata est habundantia; aedificata est civitas, probata est requies, 1

E. LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, 3. Aufl. 1964, S. 122 Anm. f (innerhalb der Auslegung des Gleichnisses vom viererlei Acker Mk 4,1-9. 14-20). E. LINNEMANN macht in diesem Zusammenhang auch auf 4Esr 8,41 aufmerksam (vgl. ebd. S. 1 2 4 Anm. g). 2 N. N. GLATZEB, Untersuchungen zur Geschichtslehre der Tannaiten, S. 22. — Daß mit dem nach dem Bild Gottes geschaffenen .Menschen' hier der Jude gemeint ist, wurde bereits oben (S. 81 Anm. 4; S. 82 Anm. 2) hervorgehoben (vgl. 4Esr 8,44 mit 8,45). 3 Vgl. 4Esr 8,47-49. 51 mit 6,32; 7,76f.; 10,39.50.57; 12,36; 13,53-56; 14,7-9.

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perfecta est bonitas, ante perfecta sapientia; / radix signata est a vobis, infirmitas extincta est a vobis et +mors+ absconsa est, infernum fugit; et corruptio in oblivionem, / transierunt dolores, — et ostensus est in finem thesaurus inmortalitatis' (8,52-54).

Wieder läßt sich an der Plerophorie des Ausdrucks ablesen, daß sich hier das besondere theologische Interesse des Verfassers kundgibt. Mit überschwenglichen Worten läßt er den Offenbarer das Heil beschreiben, das der künftige Äon für die Frommen bereithält. Der Abschnitt erinnert an die breit angelegte Schilderung der siebenfältigen Freude, welche die Gerechten schon unmittelbar nach ihrem Ableben erfüllen soll (7,92-98): Sie (sc. die ,animae iustorum') freuen sich an ihrem Sieg über den ,bösen Trieb' (ordo primus — V. 92), über das ruhelose Umherschweifen der (Seelen der) Sünder1 und die jenen bestimmte Strafe (secundus ordo — V. 93), über das ihnen von Gott ausgestellte Zeugnis ihrer Treue zum Gesetz2 (tertius ordo — V. 94), über die ihnen gewährte Ruhe (requies) und die ihrer am Ende wartende Herrlichkeit (gloria) (quartus ordo — V. 95), über das Befreitsein von den Übeln dieses Äons (quintus ordo — V. 96), über die ihnen in Aussicht gestellte Doxa und Unvergänglichkeit (sextus ordo — V. 97) und schließlich über das Schauen von Gottes Angesicht, ,cui servierunt viventes et a quo incipient gloriosi mercedem recipere' (septimus ordo, qui est omnibus supradictis maior — V. 98). Der siebenfältigen Freude der Gerechten entspricht das ebenfalls in sieben Grade (viae) abgestufte Leiden, das die Gesetzesverächter noch vor Antritt ihrer eigentlichen Strafe erdulden müssen (vgl. 7,81-87). Die Trauer, die die Sünder nach ihrem Tode befällt, bezieht sich darauf, daß sie das göttliche Gesetz zeitlebens verachtet haben (via prima — V. 81), daß ihnen die Möglichkeit der Buße versperrt und der Gewinn des Lebens verwehrt ist (secunda via — V. 82), daß ihnen der Lohn der Frommen vor Augen geführt wird (tertia via — V. 83), daß sie der Qual ansichtig werden, die für sie selbst bestimmt ist (quarta via — V. 84), daß sie die von Engeln bewachten ,Kammern' erblicken, in denen sich die Gerechten befinden (quinta via — V. 85), daß sie jetzt schon der Pein verfallen (sexta via — V. 86), und endlich, daß sie vor Scham und Angst vergehen ,videntes gloriam Altissimi, coram quem viventes peccaverunt et coram quem incipient in novis1

2

V g l . E . SJÖBERG, T h W V I , 3 7 7 .

Die Aussage 7,94 bezieht sich eindeutig auf die (Seelen der) Oerechten. Sie werden (proleptisch) des Zeugnisses ansichtig, das Gott ihnen im Endgericht ausstellen wird. Darum kann die Bemerkung Chr. MÜLLERS : „4. Esr. 7,94 tritt Gott als Zeuge im Endgericht für Israel (!) gegen die Völker (!) auf . . ." (a.a.O. S. 60) — nur als glatte Fehlinterpretation der Stelle beurteilt werden.

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Die Zwei-Äonen-Lehre

simis temporibus iudicari (septima via, quae omnium supradictarum viarum maior est — V. 87)1. Die genannten Aussagen geben eindeutig zu erkennen, daß nach der Anschauung des Verfassers von 4Esr allein die Gerechten als Heilsempfänger anzusprechen sind. Die sich auf das Schicksal der Sünder beziehenden Fragen des Sehers werden im Verlauf des Dialogs immer schärfer abgewiesen oder als abwegig verworfen. Selbst das (an die Stelle der Klagen und Vorwürfe tretende) große Bittgebet Esras (8,20-36) findet kein Gehör. Bis zuletzt besteht der Offenbarer auf der Behauptung, daß sich der göttliche Heilsentwurf in exklusiver Weise auf die endzeitliche Bewahrung und Errettung der Gerechten richtet. Bis zuletzt bleibt der Grundsatz in Geltung, der dem Seher bereits 7,25 entgegengehalten wurde: ,vacua vacuis et plena plenis' (vgl. die ähnlich geformte und offenbar dasselbe besagende Sentenz 8,46: ,Quae sunt praesentia, praesentibus, et quae futura, futuris!'). Esra wird somit faktisch auf das zurückgeworfen, was er 7,45 selbst bekannt hatte: Beati [qui] praesentes et observantes, quae a te constituta sunt 2 .

IV. Das dialektische Verständnis der Geschichte in 4Esr und sBar (Zusammenfassung) Die Interpretation der bisher berücksichtigten Texte aus 4Esr und sBar hat den Nachweis dafür erbracht, daß beiden Apokalypsen — ungeachtet einzelner, sachlich unerheblicher Divergenzen — ein und dieselbe theologische Gesamtkonzeption zugrunde liegt. Aufs Ganze gesehen, entspricht die vom Verfasser der syr. Baruchapokalypse vertretene Position derjenigen Einstellung, die in 4Esr durch den Mund des Offenbarers zur Geltung gebracht wird und die — wie dargelegt — gerade den Standpunkt des Apokalyptikers sichtbar werden läßt. Die unverkennbare sachliche Verwandtschaft beider Schriften legt die Vermutung nahe, daß sie demselben Traditionsbereich angehören und das Selbstverständnis einer bestimmten Gruppe des Spätjudentums (der Zeit nach 70 p. Chr.) repräsentieren. Es zeigte sich, daß eine dualistisch konzipierte Geschichtsdeutung das zentrale Thema beider Apokalypsen darstellt. Hier wie dort ist das Bemühen leitend, der (begrifflich schon voll ausgebildeten) ZweiÄonen-Lehre Geltung zu verschaffen. Beide Schriften suchen die Er1

Vgl. auch B I L L . IV/2, 1026ff. Bei dem Spruch handelt es sich um einen zum Bekenntnis abgewandelten apokalyptischen Makarismos (vgl. K. KOCH, Was ist Formgeschichte?, S. 8). 2

Das dialektische Verständnis der Geschichte in 4Esr und sBar

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kenntnis zu vermitteln, daß sich die göttliche Heilszusage erst in einem nacAgeschichtlichen Zeitraum bewahrheiten wird: Erst der künftige Äon wird das im Wort der Verheißung angekündigte Heil herbeiführen. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Behauptung der radikalen Jenseitigkeit des Heils für das apokalyptische Verständnis der Geschichte'1. Diese Frage ist nach dem bisher Gesagten zunächst folgendermaßen zu beantworten: 1. Die Geschichte wird auf der einen Seite als die von der künftigen Heilszeit nicht bloß graduell, sondern qualitativ unterschiedene Unheilszeit gedeutet, die wesentlich im Zeichen des Todes, der Drangsale, Nöte und Schmerzen steht (s. o. Abschnitt B / II. Kp. des 1. Hauptteils). 2. Auf der anderen Seite erscheint sie als die dem Endgericht vorausgehende (befristete) Zeit der Erdscheidung, in der es für den Menschen darauf ankommt, dem im Gesetz geoffenbarten Gotteswillen im ungeteilten Gehorsam zu folgen, die Satzungen der Tora zu erfüllen und sich durch die Wahl des Lebensweges die Anwartschaft auf die Teilnahme am Heil des künftigen Äons zu sichern (s. o. Abschnitt B / III. Kp. des 1. Hauptteils). Diese Doppelantwort kennzeichnet die eigentümliche Polarität des apokalyptischen Geschichtsdenkens. Wie gezeigt, konzentriert sich das geschichtstheologische Interesse der Verfasser von 4Esr und sBar einerseits auf den Fall Adams, andererseits auf das Gesetz. Die (den Unheilscharakter der Zeit dieses Äons kennzeichnende) Vorstellung von der Geschichtswirksamkeit des adamitischen Falls und die (den Entscheidungscharakter der Zeit dieses Äons sichtbar machende) Lehre vom Gesetz bilden die beiden Pole, die den apokalyptischen Geschichtsentwurf grundlegend bestimmen. Daraus läßt sich die Erkenntnis ableiten, daß die apokalyptisch entworfene Geschichte a priori dialektisch verstanden ist. Dieser Sachverhalt soll im folgenden an Hand der wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Ausführungen erläutert werden. 1. Auszugehen ist von der Beobachtung, daß die als Hin D^iS qualifizierte Geschichte in 4Esr und sBar übereinstimmend als ein Seinsgeschick interpretiert wird, das durch die Sünde Adams in Gang gesetzt wurde. Nach apokalyptischer Auffassung beruht das sich in Leiden, Trauer, Drangsal, Not und Tod auswirkende Ungemach dieses Äons auf dem Ungehorsam des ersten Menschen. Er ist dafür verantwortlich, daß dieser unheilvolle, von Übeln und Widrigkeiten bestimmte Äon überhaupt entstand. Er verschuldete das Unheilsverhängnis, das sich nun als Hin D^iST vollzieht. 16 Harnisch, Verhängnis

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Die Zwei-Äonen-Lehre

Damit hängt ein Weiteres zusammen: Indem der Apokalyptiker die ,Geschichte' auf den Fall Adams zurückführt und sie als das Produkt der Sünde des ersten Menschen ausgibt, restringiert er zugleich den Gedanken einer Kontinuität zwischen Schöpfung und ,Geschichte'. Weil dieser Äon nicht auf das schöpferische Wort Gottes zurückgeht, sondern die Folge der verhängnisvollen Tat Adams darstellt, läßt er sich im Grunde nicht mehr als das vom Schöpfer gewollte Werk, sondern nur noch als dessen Depravation begreifen. Seine Unheilsverfassung ist nicht in der (ursprünglich auf Israels Heil abzielenden) Schöpfungsabsicht Gottes begründet, sondern beruht ausschließlich auf der folgenschweren Übertretung des Stammvaters aller Menschen. Dieser haftet nach apokalyptischer Anschauung dafür, daß die Geschichte von vornherein als Entartung der (vom Schöpfer anfänglich als ,gut' befundenen) Schöpfung erscheint. Aber nicht nur das vorgeschichtliche Geschehen der Schöpfung, sondern auch das mit dem künftigen Äon hereinbrechende eschatologische Geschehen wird in beiden Apokalypsen scharf von der Zeit der Geschichte abgehoben: „Der Dualismus der Zwei-Äonen-Lehre kennt keine Kontinuität zwischen dieser und der kommenden Weltzeit: ,Denn siehe, Tage kommen: da wird alles, was geworden ist, der Vernichtung hingegeben werden, und es wird werden, wie wenn es nicht gewesen wäre' (syr. Bar. 31,5).' £1 Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die zwischen den beiden Äonen bestehende qualitative Differenz durch die Determinative ,dieser' und ,der künftige' gekennzeichnet wird. Denn diese Vokabeln indizieren nicht nur ein zeitliches Nacheinander, sondern sie bringen auch und vor allem zum Ausdruck, daß die Beziehung zwischen der eschatologischen Zukunft und der gegenwärtigen Weltzeit antagonistischer Art ist. Wie sich dem Apokalyptiker gegenüber der eschatologischen Heilszeit die gesamte ihr vorausgehende Zeit der Geschichte als die Sphäre der Leiden und des Todes zusammenfaßt, so stellt sich ihm der ,künftige Äon' im Gegensatz zu ,diesem' als ein Zeitraum dar, in dem die widrigen Verhältnisse des N?N DVIS? endgültig aufgehoben sein werden. Diese doppelte Abgrenzung der Geschichte von der Schöpfung und der Endzeit, die damit zusammenhängende Einklammerung dieses Äons als der Sphäre des Unheils und die Rückführung der ,geschicht1 Ph. VRBLHARNEB, bei H E N K E C K E 3 , Bd. II, 413. Die im Sinne der traditionellen Eschatologie geprägten Abschnitte (vgl. 4 E s r 6 , 2 5 f f . ; 7,26-28; 9,7f.; sBar 29,1-8; 40,1 ff.; [72-74]) lassen sich demgegenüber schwerlich als Gegenargument anführen. Wie bereits oben (S. 118) hervorgehoben, ist in beiden Apokalypsen das Interesse leitend, die messianische Heilszeit in das ZweiÄonen-Schema einzugliedern und ihren episodischen Charakter zu unterstreichen (siehe dazu im einzelnen S. 256f. 259 [und ebd. Anm. 2]. 261 [und ebd. Anm. 1]).

Das dialektische Verständnis der Geschichte in 4Esr und sBar

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liehen' Umstände auf den Fall Adams sind das Resultat einer Reflexion, die das sich im Blick auf die Aporie der Verheißung stellende Theodizeeproblem zu bewältigen sucht. Wie gezeigt, ist vor allem in 4Esr die Frage leitend, warum Israel der Antritt seines von Gott selbst in Aussicht gestellten Erbes versagt bleibt. Der Apokalyptiker beantwortet diese Frage, indem er darauf verweist, daß die geschichtliche Beglaubigung der Verheißung „vom Wesen dieser Welt und damit der Geschichte her nicht möglich i s t " 1 : ,non enim capiet [sc. saeculum hoc] portare, quae in temporibus iustis repromissa sunt. Quoniam plenum mesticia est saeculum hoc et infirmitatibus' (4Esr 4,27). Diese Sätze enthalten in nuce das ganze Programm apokalyptischer Geschichtstheologie. Sie erklärt das Unabgegoltensein der Verheißung aus dem Unheilscharakter dieses Äons und begegnet dem Zweifel an der Verläßlichkeit der ,promissio' damit, daß sie diesen Äon insgesamt aus dem göttlichen Heilsentwurf ausklammert und als das Zwischenspiel einer gottfernen Zeit ausgibt. Der durch Adams Verfehlung oder — was nach apokalyptischer Auffassung dasselbe besagt — durch das Zustandekommen dieses Äons suspendierte Schöpfungsentwurf Gottes verwirklicht sich erst in einem wacAgeschichtlichen Zeitraum, der sich dadurch auszeichnet, daß er nicht mehr den Bedingungen des Hin nVl» unterliegt. Damit wird einerseits behauptet, daß die Israel zugesicherten Heilsgaben so lange unzugänglich bleiben, wie die Zeit des alten Äons andauert. Der von Übeln gezeichnete njn DViS? muß als ganzer vergehen, wenn die eschatologische Heilszeit anbrechen soll (vgl. nur 4Esr4,29). Andererseits wird klargestellt, daß das Geschick Israels notwendigerweise im Schatten sich wiederholender Niederlagen steht. Denn die Leiden des erwählten Volkes sind ja nur ein Spezialfall des umfassenden, auf der gesamten Menschheit lastenden Unheilsverhängnisses 2 . Die prinzipielle Heilsferne dieses Äons schließt die Möglichkeit aus, daß Israel im Bereich desselben zur Herrschaft gelangt. „Es gehört wesentlich zur Geschichte hinzu, daß Israel in die Hand der Völker gegeben ist." 3 2. Mit der Feststellung, daß dieser Äon nach apokalyptischer Anschauung als ein in sich geschlossener, unter dem Vorzeichen des Unheils stehender Zeitraum aufzufassen ist, wäre jedoch die in 4Esr und sBar vorliegende Geschichtskonzeption nur unzureichend gekenn1 2

D . RÖSSLER, a . a . O . S . 7 4 . V g l . H . GUNKEL, b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 5 7 A n m . f : „ D e m

Judentum

ist der Glaube an die beiden Äonen ein Trost, da sonach die einzelnen, persönlichen Leiden als Teile eines notwendigen allgemeinen Leidens erscheinen, und da ferner dem Schmerzensäon der viel überwiegende zukünftige Äon gegenübergestellt wird." 3

16»

D . RÖSSLER, a . a . O . S . 7 5 .

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Die Zwei-Äonen-Lehre

zeichnet. Es zeigte sich nämlich, daß die negative Charakteristik dieses Äons in beiden Apokalypsen an entscheidender Stelle erheblich entschärft und abgeschwächt wird. Sowohl in 4Esr als auch in sBar machte sich deutlich die Tendenz bemerkbar, die spekulativen Implikationen der Zwei-Äonen-Lehre abzubiegen. Dies wurde vor allem daraus ersichtlich, daß die Verfasser beider Schriften offensichtlich bewußt darauf verzichten, die Sünde unter die unheilvollen Wirkungen des adamitischen Falls zu subsumieren. Der Verhängnisgedanke wird auffälligerweise nicht auf das Phänomen des Bösen bezogen, so sehr er sonst im Vordergrund steht und „ein wesentlicher Bestandteil des apokalyptischen Geschichtsbildes geworden ist" 1 . Die Sünde wird weder in sBar noch in der für das Selbstverständnis des Apokalyptikers repräsentativen Aussageschicht der Esraapokalypse als die unausweichliche Konsequenz der Verfehlung Adams gedeutet, sondern betont als die von jedem einzelnen zu verantwortende Tat angesprochen. Gegenüber einem Denken, das den Fall Adams für den totalen Verlust der menschlichen Entscheidungsfreiheit haftbar macht und die gesamte Menschheit einem unabwendbaren Sündenzwang ausgesetzt sieht, bestehen die Verfasser von 4Esr und sBar auf der Behauptung der geschichtlichen Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen: , Also ist Adam einzig und allein für sich selbst die Ursache; wir alle aber sind ein jeder für sich selbst zum Adam geworden' (sBar 54,19). Eine ähnliche Relativierung der Vorstellung von der schicksalwirkenden Tat Adams zeichnete sich darin ab, daß das der Sünde des Ersten zugeschriebene Todesverhängnis lediglich auf das Faktum der „Befristung des irdisch-menschlichen Lebens" 2 , nicht jedoch auf die ewige Verdammnis bezogen wird: „Über Leben und Tod im eschatologischen Sinne entscheiden allein die verantwortlichen Taten der Menschen selbst." 3 Die merkwürdige Inkonsequenz apokalyptischen Denkens, die darin zutage tritt, daß der Verhängnisgedanke nicht vorbehaltlos übernommen und in Ansatz gebracht wird, ist ohne Zweifel sachlich begründet. Sie hängt damit zusammen, daß die Verfasser von 4Esr und sBar einerseits die prinzipielle Heilsferne dieses Äons behaupten, andererseits jedoch bestrebt sind, den sich trotz der Übertretung Adams durchhaltenden und weiterhin in Geltung stehenden Anspruch 1

E . BRANDENBURGER, a . a . O . S. 56.

2

E . BRANDENBURGER, e b d .

3 Ebd. S. 58. Ebenso A.-M. DUBARLE, a.a.O. S. 122: "Il était classique d'attribuer au péché du premier père la mort et les souffrances de la vie : parfois le ton pathétique montre combien grande et tragique apparaissait la catastrophe originelle. Cependant on réservait la liberté individuelle et l'on n'attribuait la damnation éternelle qu'aux seules fautes individuelles."

Das dialektische Verständnis der Geschichte in 4Esr und sBar

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des göttlichen Gesetzes deutlich zu machen1. Der Gedanke der Gültigkeit des Gesetzes läßt sich sinnvollerweise aber nur unter der Voraussetzung vertreten, daß die Sünde nicht als Schicksal, sondern als Schuld aufzufassen ist. Wenn das durch Adam ausgelöste und auf der Menschheit lastende Seinsgeschick zugleich alle zu Objekten der Sünde machte und die menschliche Entscheidungsfreiheit beeinträchtigte, wäre damit Sinn und Wert des Gesetzes von Grund auf in Frage gestellt. Denn wie sollte das Gesetz Frucht bringen können, wenn die Sünde dem Gesetz von vornherein überlegen wäre und alle Geborenen mit unwiderstehlicher Gewalt in ihren Bann zöge (vgl. dazu die die Übermacht des ,bösen Triebes' beklagenden Äußerungen Esras2)? Wir haben zu zeigen versucht, daß sich der jüdische Apokalyptiker gerade einer derartigen Konzeption entgegenwirft, die unter Berufung auf ein angeblich durch Adam verursachtes Sündenverhängnis alle geschichtlichen Entscheidungen des Menschen für indifferent erklärt und die eschatologische Relevanz des geschichtlichen Geschehens rundweg leugnet3. Mit Nachdruck versichern die Verfasser von 4Esr und sBar, daß die Entscheidungsfreiheit des Menschen durch Adams Vergehen nicht aufgehoben wurde. Dieser Äon steht zwar infolge der unseligen Tat des Stammvaters der Menschheit im Zeichen des Heilsentzugs und der Ferne Gottes. Aber der geschichtsferne Gott läßt sich im Bereich der Geschichte durch das Gesetz vertreten und dokumentiert damit den Anspruch, den er als Schöpfer dem Geschöpf gegenüber nach

wie vor besitzt. Er wird seine Schöpfermacht demonstrativ erweisen und sein Schöpferrecht einklagen, wenn er nach dem Zwischenakt dieses Äons als Richter auf den Plan treten und alle Weltbewohner — die Lebenden und die Toten — zur Rechenschaft ziehen wird. Darum gilt es, dem an der Tora ablesbaren Willen des Schöpfers Folge zu leisten, solange die Zeit dieses Äons währt4. Immer wieder wird in 4Esr und sBar (oft unter Verwendung von Dt 30,19) darauf verwiesen, daß das Gesetz jedem einzelnen die Frage vorlegt, ob er sich 1 Zum Verhältnis von Sinaitora und Adamgebot siehe das oben S. 107 Anm.6 Gesagte. 2 Vgl. oben S. 42ff. 3 Vgl. dazu die sich mit der hier vertretenen Auffassung berührenden, umsichtigen Ausführungen E. BRANDENBURGERS (a.a.O. S. 27-39. 54-58), auf die bereits mehrfach hingewiesen wurde. 4 Dies setzt voraus, daß die Gegenwart noch „als eine Zeit der Vorläufigkeit, des Wartens" (R. BUXTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 5. Aufl. 1965, S. 526) verstanden ist (siehe dazu unten S. 268FF.). Vgl. auch H. KOESTER, Häretiker im Urchristentum als theologisches Problem, in: Zeit und Geschichte, S. 74: „Die Intention des apokalyptischen Denkens versteht die Gegenwart unter dem Gesichtspunkt eines streng zukünftigen und damit ungeschichtlichen göttlichen Heilshandelns . . . In der Regel . . . wird die Gegenwart durch gesetzlichen Rigorismus als Vorbereitung auf das zukünftige Heil bestimmt."

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Die Zwei-Äonen-Lehre

dem Weg des Lebens anvertrauen und damit das Anrecht auf den Gewinn ewigen Heils erwerben oder ob er den Weg des Todes beschreiten und sich damit auf die Bahn des Verderbens begeben will. Alles Gewicht liegt auf der Behauptung, daß die geschichtliche Stellung des Menschen gegenüber dem Gesetz ausschlaggebend ist für seine Stellung im künftigen Äon1. Immer wieder wird darauf aufmerksam gemacht, daß sich das endzeitliche Geschick des einzelnen bereits in diesem Äon entscheidet. Aus diesen Feststellungen ergibt sich die weitere, sehr aufschlußreiche Erkenntnis, daß nach apokalyptischer Anschauung nicht die Zugehörigkeit zum erwählten Volk, sondern allein die auf Grund des Gehorsams gegenüber dem Gesetz erworbene Gerechtigkeit die Bedingung für die Heilsteilnahme darstellt 2 . Das Oesetz wird nicht mehr als Dokument der Erwählung Israels in Anspruch genommen, sondern es erscheint als die Norm des göttlichen ,ius talionis', das die (endzeitliche) Strafe der Sünder ihrer (geschichtlichen) Schuld entsprechen läßt und den (endzeitlichen) Lohn der Gerechten nach ihrem (geschichtlichen) Verdienst bemißt: Die Bewahrer des Gesetzes werden am Ende bewahrt, die Verderber dem Verderben überantwortet werden. Dies besagt, daß nicht das erwählte Volk, sondern nur der (die wahre Gemeinde repräsentierende) kleine Kreis der Frommen (aus Israel) in den Besitz der Heilsgaben gelangt, die der künftige Äon bereithält. Die eschatologische Ratifikation der Verheißung betrifft nur diejenigen, die sich zeitlebens im Gehorsam bewährt, den Kampf mit dem ,bösen Trieb' erfolgreich bestanden (4Esr) und die Forderungen des Gesetzes vollkommen erfüllt haben. Wir blicken zurück: Die sonst ausschließlich negativ qualifizierte Zeit dieses Äons gewinnt in 4Esr und sBar dadurch, daß sie auch als die dem Endgericht vorausgehende Zeit der Entscheidung betrachtet wird, wieder einen gewissen positiven Akzent. Obwohl die Verfasser beider Apokalypsen daran festhalten, daß die ,Geschichte' gegenüber dem Eschaton als Unheilszeit anzusehen ist, bringen sie doch andererseits unmißverständlich zum Ausdruck, daß für den Menschen Heil oder Unheil (im eschatologischen Sinn) in der .Geschichte' allererst auf dem Spiel stehen 3 . Sie setzen zwar einerseits den ,alten Äon' von 1 Für das Zustandekommen dieser Gesetzesauffassung scheint vor allem der Einfluß der Weisheitstradition mitbestimmend gewesen zu sein: Das (zur absoluten Größe gewordene) Gesetz wird „vom Menschen- und Gottesbild der Weisheit her mit einem neuen Sinn erfüllt. Das Handeln wird von Gott auf den Menschen verlagert, der nun selber über sein zeitliches und ewiges Heil entscheidet." (E. W ü s t h w e i n , ZThK 55/1958, 270) 2 Vgl. 4Esr 7,105b: ,omnes enim portabunt unusquisque tunc iniustitias suas aut iustitias' (vgl. J. K j e u l e r s , a.a.O. S. 179). 3 Die sachliche Nähe dieser Konzeption zu der des rabbinischen Denkens läßt sich eindrucksvoll durch das Zitat einiger Sätze R. Meyebs veranschau-

Das dialektische Verständnis der Geschichte in 4Esr u n d sBar

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dem zu erwartenden ,neuen' scharf ab, um den eschatologischen Charakter des Heils zu verdeutlichen. Andererseits sind sie jedoch gezwungen, „die enge, ja notwendige Zusammengehörigkeit" 1 von Geschichte und Eschaton zu betonen, weil sonst weder der Schöpfungsgedanke noch die Vorstellung vom Endgericht aufrechtzuerhalten wären und (wie in der Gnosis) die absolute Indifferenz des geschichtlichen Geschehens im Blick auf die Frage nach dem Heil des Menschen behauptet werden müßte. Zwar wird dieser Äon auch in der Apokalyptik zum bloßen Durchgangsstadium entwertet2. Er erscheint als die Zeit der Verborgenheit und Unerreichbarkeit des Heils. Und doch zeichnet sich die Zeit dieses Äons nach apokalyptischer Auffassung gerade dadurch aus, daß in ihr (und nur in ihr) die Adressaten des eschatologischen Heils ermittelt und namhaft gemacht werden 3 . liehen. R . M E Y E R bemerkt innerhalb seiner Ausführungen über ,Die religiöse Bedeutung des Erdendaseins' in der rabbinischen Theologie (Hellenistisches in der rabbinischen Anthropologie, S. 78ff.): „ D a m i t . . . wird die Welt u n d der irdische Mensch bedeutend positiver gewertet, als dies etwa einem Philo möglich ist. Das bedeutet jedoch auch im J u d e n t u m nicht einen völligen Optimismus u n d eine ungebrochene Stellung zur W e l t ; denn ,diese Welt' ist ja nicht ewig u n d nicht der einzige Ort, wo der Mensch zu leben h a t ; vielmehr ist sie nur die Vorstufe f ü r die ,kommende Welt'. Aber in ,dieser Welt' entscheidet sich, wer an dem .kommenden Äon' Anteil haben wird. D a es keine Seelenwanderung gibt, h a t also jeder Mensch nur einmal die Gelegenheit, sich zu bewähren oder der Sünde u n d damit dem ewigen Tode bzw. der endzeitlichen Hölle zu verfallen. Insofern k o m m t der Welt u n d der Geschichte zugleich eine zentrale Stellung im Denken des J u d e n t u m s zu . . ." (a.a.O. S. 81 f.). 1 D. R Ö S S L E R , a . a . O . S. 62. D. R Ö S S L E R verkennt allerdings, d a ß dieser Gesichtspunkt n u r die eine Seite der Sache darstellt. Von der engen Zusammengehörigkeit von Geschichte u n d Eschaton läßt sich nur d a n n sachgemäß reden, wenn m a n zugleich den Gedanken der zwischen Geschichte u n d Eschaton bestehenden qualitativen Differenz hervorhebt (s. u. Anm. 3). 2 Vgl. N. N. G L A T Z E R , Untersuchungen zur Geschichtslehre der Tannaiten, S. 17. 3 Der Sachverhalt, d a ß die .Geschichte' in 4 E s r u n d sBar einerseits (negativ) als die unheilsträchtige Zeit dieses Äons, andererseits (positiv) als die begrenzte Zeit der Entscheidung verstanden ist, kennzeichnet die eigentümliche Dialektik des (sich in diesen Schriften bekundenden) apokalyptischen Geschichtsdenkens. Diese Dialektik wird d a verkannt, wo m a n nur den negativen Aspekt hervorhebt u n d der Apokalyptik einseitig eine geschichtsverneinende Theologie zuschreibt (vgl. z . B . N. N. G L A T Z E R , a . a . O . S. 15ff.) — aber auch da, wo m a n (wie dies bei D. R Ö S S L E R der Fall ist) die Antithetik und den Dualismus der Zwei-Äonen-Lehre ignoriert u n d die These vertritt, die .Geschichte' stehe insofern im Z e n t r u m des apokalyptischen Interesses, als sie Israel (!) zum Heil hinführe u n d (als Durchgangsort zum eschatologischen Heil) selber bereits die Manifestation des göttlichen Heilshandelns darstelle (siehe dazu oben S. 135 Anm. 1).

ZWEITER HAUPTTEIL

Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs (Der apokalyptische Determinismus) Die Erkenntnis, daß die .Geschichte' in 4Esr und sBar dialektisch verstanden ist, bildet das wesentliche Ergebnis unserer bisherigen Untersuchung. Wie gezeigt, tritt der dialektische Charakter der apokalyptischen Geschichtstheologie darin zutage, daß sie die ,Geschichte' einerseits als die (durch Adams Sünde verursachte) unheilvolle Zeit der Leiden, Widrigkeiten und des Todes, andererseits als die begrenzte (vorerst aber infolge der göttlichen Langmut noch offengehaltene) Zeit der Entscheidungsfreiheit des Menschen prädiziert. Mit dieser doppelten Kennzeichnung des Wesens der ,Geschichte' suchen die Apokalyptiker den zwei Grundfragen zu begegnen, die ihnen offensichtlich vorgegeben sind und zu deren Lösung sie sich autorisiert wissen: Warum bleibt Israel das von Gott selbst verheißene Erbe entzogen? — und: Wer gelangt in den Genuß der Heilsgaben, die im Wort der Verheißung angesagt, Israel aber gleichwohl vorenthalten wurden? Wir haben darzulegen versucht, inwiefern der apokalyptische Geschichtsentwurf beiden Fragen Rechnung trägt. Die (erste) Frage nach dem Grund des geschichtlichen Geschicks Israels (die mit der Frage nach der Wahrheit und Verläßlichkeit der göttlichen Verheißung zusammenfällt) wird mit dem Hinweis auf die prinzipielle Heilsferne dieses Äons und die radikale Jenseitigkeit der Heilsgüter, die (zweite) Frage nach den wahren Adressaten der ,promissio Dei' mit dem Hinweis auf die eschatologische Relevanz der geschichtlichen Entscheidungen des Menschen und mit der Ankündigung der sich am Ende dieses Äons vollziehenden Verherrlichung der Gerechten beantwortet. Unberücksichtigt blieb bisher eine dritte Frage, der sich die Verfasser von 4Esr und sBar ebenfalls konfrontiert sehen und mit der sie sich ebenso eingehend auseinandersetzen. Es handelt sich um die Frage nach dem Termin der endzeitlichen Ereignisse, die sog. Fann-Frage. Um aufzuklären, welche Antwort die uns interessierenden apokalyptischen Schriften auf diese Frage bereithalten, untersuchen wir zunächst diejenigen Abschnitte, in denen ein in die Form der Weissagung gekleideter Geschichtsabriß vorgelegt wird.

Die Funktion der .Geschichtsapokalypsen' in 4Esr und sBar

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I. Die Funktion der ,Geschichtsapokalypsen' in 4Esr und sBar Unter den sog. ,Geschichtsapokalypsen' versteht man gemeinhin die seit Daniel in der apokalyptischen Literatur gebräuchlichen und beliebten .Geschichtsüberblicke in Futur-Form' 1 . Der „unter dem Namen eines Großen der Vorzeit"2 schreibende Apokalyptiker gewinnt visionär Einblick in den Ablauf des Weltgeschehens. Das häufig in einer Traumvision (mitunter aber auch in visionärer Ekstase) „Geschaute selbst ist Bild: entweder Bild, das die Ereignisse selbst direkt darstellt, oder Bild, das die Ereignisse indirekt, in Form von Symbolen und Allegorien schildert". „In dem letztgenannten Fall ist eine Deutung nötig. Diese wird durch einen Offenbarungsmittler gegeben."3 Der durchgängig zu beobachtende Weissagungsstil hängt 1 Ph. V I E L H A U E R , bei H E N N E C K E 3 , Bd. I I , 410 (Überschrift des 3. Abschnitts); vgl. P. V O L Z , a.a.O. S. 141ff.; D. R Ö S S L E R , a.a.O. S. 55ff. (vgl. ebd. S . 55 Anm. 5). Nach Ph. V I E L H A U E R (ebd.) sind zwei Typen dieser Geschichtsdarstellungen zu unterscheiden: „erstens diejenige, die die Weltgeschichte als ganze in den Blick nimmt, und zweitens diejenige, die bei einem bestimmten innergeschichtlichen Zeitpunkt, meist bei der Zeit des fiktiven Verfassers, einsetzt und von da das Bild bis zum Ende entwirft" (vgl. P. V O L Z , a.a.O. S. 142). Zum ersten Typ gehören die Texte aethHen 85-90 (Tiervision); 9 3 + 9 1 , 1 2 - 1 7 (Zehnwochenapokalypse); sBar 53-71 (Wolkenvision). Der zweite Typ wird durch folgende Texte repräsentiert: Dan 2 und 7; 8-12; 4Esr 11 f. (Adlervision); sBar 36-40 (Zedernvision). Vgl. im übrigen AssMos 2-10; ApkAbr 23-32 und TestLev 16—18, wo sich ähnliche Geschichtsüberblicke finden. Zur Sache siehe jetzt A. N I S S E N , NovTest IX/ 1967, 270ff. 2

P h . VIELHAUER, ebd. 408.

Ebd. 409. — Die Frage nach der „Erlebnisechtheit der apokalyptischen Visionen" (Ph. V I E L H A U E R , ebd.) läßt sich kaum derart positiv entscheiden, wie dies bei W. B O U S S E T - H . G R E S S M A U N , S. 396f. (vgl. ebd. S. 395), geschieht. Man wird jedenfalls in Rechnung stellen müssen, daß die Apokalyptik „Buchweisheit, ,Literatur', und zwar Sammelliteratur" darstellt (Ph. V I E L H A T I E R , ebd.; vgl. G. v. RAD, Theologie des AT, Bd. I I , 4. Aufl. 1965, S. 316f. 318f.; W. R . M U R D O C K , Interpretation XXI/1967, 181 f. ; H . R I N G G R E N , R G G 3 I , 465). Selbst wenn anzunehmen wäre, daß die Verfasser der apokalyptischen Schriften visionäre Erlebnisse besaßen, bleibt fraglich, „wieweit diese Erlebnisse sich literarisch niedergeschlagen haben" (Ph. V I E L H A U E R , a.a.O. 409). Was 4Esr und sBar anbetrifft, läßt sich schwerlich leugnen, daß die dort vorliegenden Visionen fiktiven Charakter tragen und im Sinne eines literarischen Stilmittels Verwendimg finden. "Celui qui raconte et décrit les visions . . . d'Esdras n'était pas le moins du monde dans l'état extatique qu'il prête à ses héros. Cette distinction une fois faite et maintenue toujours présente à l'esprit, on voit aussitôt que ces songes, ces visions, ces images, n'ont rien d'objectif; c'est un simple scénario littéraire, la rhétorique obligée du genre, comme celle du dialogue dans la tragédie; une sorte de technique spécial qui s'apprend, se transmet, se prolonge d'une apocalypse à l'autre, sans qu'aucun de ces prétendus Voyants y manque jamais. Il y a, dans cette continuité des formes, une stéréotypie qu'on ne trouve aussi immuable que dans la tradition de la tragédie classique. Rien n'implique ou ne suppose, chez des écrivains esclaves à ce point du métier, moins d'inspiration personelle 3

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

mit der „Fiktion der Vorzeitlichkeit"1 zusammen; diese ermöglicht es dem Apokalyptiker, auch die für ihn faktisch bereits vergangene Geschichte in der Form einer Zukunftsschau darzustellen. Alle Geschichtsapokalypsen münden in eine Weissagung des eschatologischen Akts, der die Geschichte abschließt und beendet. Für unsere Untersuchung, die sich auf 4Esr und sBar beschränkt, kommen folgende Texte in Betracht: 4Esr 11,1-12,35 (Adlervision); sBar 36-40 (Zedernvision); sBar 53-71 (74) (Wolkenvision). Wir verzichten im folgenden auf eine Erörterung der Einzelprobleme und stellen nur die wichtigsten Grundzüge heraus, die die Funktion der ,Geschichtsapokalypsen' im Ganzen der apokalyptischen Konzeption sichtbar werden lassen. 1. Die Adlervision (4Esr 11,1-12,35) ist folgendermaßen gegliedert: A. Das Traumgesicht Esras (11,1-12,3a — in die Vision sind verschiedene Auditionen eingelagert); B. Bitte um Erklärung (12,3b—9); C. Deutung der Vision (12,10-35). Der eigentliche Visionsbericht (A) enthält vier Hauptabschnitte: a) Die Vorstellung des Adlers (11,1-11): Esra sieht, wie ein Adler, der zwölf Flügel und drei Häupter besitzt, aus dem Meer aufsteigt. Aus den Flügeln sprießen Nebenflügel hervor, die zu kleinen und winzigen Flügeln werden (am Schluß des Abschnitts wird die Zahl dieser Nebenflügel nachgetragen: ,Und ich zählte seine Nebenflügel, und siehe, es waren acht.' — V. 11). Der Adler, dessen Häupter eine Ruhestellung einnehmen, breitet seine Flügel aus, um über die Erde und ihre Bewohner zu herrschen. Eine geheimnisvolle Stimme aus der Mitte seines Leibes befiehlt den Flügeln: ,Wachet nicht alle zusammen! Jeder schlafe zu seiner Statt 2 und wache zu seiner Zeit! / Die Häupter aber sollen bis zum Ende aufgehoben werden!' (V. 8f.) b) Die Herrschaft des Adlers (11,12-35): Nacheinander treten die zwölf Flügel des Adlers die Weltherrschaft an und verschwinden wieder. Dann erheben sich zwei der Nebenflügel; einer gelangt (für kurze Zeit) zur Herrschaft, das Vorhaben des zweiten mißlingt jedoch. »Darauf sah ich und siehe, verschwunden waren die zwölf Flügel und zwei Nebenflügel; / und an dem Leibe des Adlers blieben übrig nur die drei ruhenden Häupter und sechs Nebenflügel' (V. 22f.). — Von den (übriggebliebenen sechs) Nebenflügeln sondern sich zwei ab und begeben sich auf die Seite des rechten Hauptes. Die anderen vier erheben sich, um zu herrschen: einer verschwindet sofort, der andere noch schneller als der erste. Die zwei restlichen werden von dem mittleren Haupt, das nun erwacht und sich mit den Nebenhäuptern verbindet, verou plus de réflexion et de sens rassis." (A. S A B A T L E R , R E J 40/1900, Actes et Conférences, S. LXYII) 1 Ph. V I E L H A I I B B , a.a.O. 410. Zur Sache vgl. E. O S S W A X D , Zum Problem der vaticinia ex eventu, ZAW 75/1963, 27 ff. ; H. P. M Ü L L E R , Zur Frage nach dem Ursprung der biblischen Eschatologie, VT XIV/1964, 276ff. 2 Lat: ,in loco suo' (ebenso die Seitenreferenten). Die etwas antik anmutende Übersetzung V I O L E T S will zum Ausdruck bringen, daß der an dieser Stelle im Original vorauszusetzende Begriff womöglich nicht nur einen räumlichen, sondern auch einen zeitlichen Sinn trag (vgl. V I O L . II, 151 Anm. z. St.).

Die Funktion der .Geschichtsapokalypsen' in 4Esr und sBar

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schlungen. Nach grausamer Weltherrschaft verschwindet auch das mittlere H a u p t : ,Übrig aber blieben zwei Häupter, 'welche ebenfalls über die Erde und ihre Bewohner herrschten. / Und ich sah: Siehe, das rechte H a u p t fraß das linke' (V. 34f.). c) Auftritt und Rede des Löwen (11,36-46): Esra wird auf einen Löwen aufmerksam gemacht, der grollend und brüllend aus einem Wald hervorstürzt und (mit Menschenstimme) den Adler zurechtweist. Die Rede des Löwen ist folgendermaßen aufgebaut: V. 38f. enthält einen Botenspruch, in dem der Adler als das letzte der (aus Dan 7 bekannten) vier Tiere identifiziert wird (,Höre du, ich rede mit dir! Der Höchste spricht zu dir: / >Bist du es nicht, der übrigblieb von den vier Tieren, die ich gemacht hatte, auf daß sie herrschten in meiner Welt, und durch sie komme das Ende meiner Zeiten ?Es eile doch (THH^), beschleunige sich (n©-,rP) sein Werk, daß wir es sehen; u n d es nahe u n d komme der Rat(schluß) des Heiligen Israels, daß wir es erkennen!Non festinas tu super Altissimum; 1 Der Verzögerungsgedanke hat möglicherweise auch in 4Esr 13,26 seinen Niederschlag gefunden. Dort heißt es (innerhalb der Visionsdeutung) vom Menschensohn: ,Der ist es, den der Höchste in den langen Zeiten (multis temporibus) aufbehalten hat, um durch ihn seine Schöpfung zu erlösen . . .' (vgl. dazu A. STROBEL, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 25 und ebd. Anm. 2). Ahnliche Anspielungen auf die Länge ( = Dehnung) der Zeit lassen sich vielleicht auch aus 4Esr 6,28; 11,40 und

s B a r 2 1 , 2 4 ( z u m T e x t vgl. H . GiiEssMAinsr, bei VIOL. I I , 346 A n m . z. S t . ,

und den Nachtrag VIOLETS, ebd. 359 z. St.) heraushören.

278

Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs t u enim festinas +propter temet ipsum + , n a m 1 excelsus pro multis. (V. 35) Nonne de his interrogaverunt animae iustorum in prumptuariis suis dicentes: »Usquequo spero 2 +hic+ et quando venit fructus areae mercedis nostrae?« (V. 36) E t respondit ad eas Hieremihel archangelus et dixit: »Quando impletus fuerit numerus + similium + vobis 3 ! Quoniam in statera ponderavit saeculum (V. 37) et mensura mensuravit tempora et nuxnero numeravit tempora; et non commovebit nec excitabit, usque dum impleatur praedicta mensura.«
xal ara&fiw öiETagat; — dort ein Ausdruck der Schöpfermacht Gottes (vgl. 11,17). Zu vergleichen ist außerdem Jes 40,12; Hi 28,25 (vgl. 38,4ff.); AssMos 12,4f.; TestNaph2,3 und 4Esr 6,4b (mensurae firmamentorum). — Zur apokalyptischen Vorstellung vom (eschatologischen) Maß vgl. E. L O H S E , Märtyrer und Gottesknecht, 2. Aufl. 1963, S. 197 Anm. 9; P. V O L Z , a.a.O. S. 139f.; H. LJUNGMAN, Das Gesetz erfüllen, S. 114ff. 3 Dieser Gesichtspunkt ist insonderheit von A . S T R O B E L hervorgehoben worden (vgl. Die apokalyptische Sendung Jesu, S. 27 ff. [übrigens stammt der ebd. S. 28 angeführte Textbeleg aus 4Esr faktisch aus sBar!]). 4 Ph. V I E L H A U E R , bei H E N N E C K E 3 , Bd. II, 415. Zur Sache vgl. G. S C H O L E M , a.a.O. S. 31 ff. 1

2

H . JONAS, a . a . O .

284

Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

Dieser Grundsatz apokalyptischen Denkens kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, daß behauptet wird: ,et non commovebit nec excitabit, usque dum impleatur praedicta mensura' (Y. 37 c). Die anfängliche Zeitverfügung Gottes trägt den Charakter der Endgültigkeit und Unabänderlichkeit: Solange das bestimmte Maß der Zeit, das offenbar als Gefäß vorgestellt wird, nicht randvoll ist1, kann das den Gerechten verheißene Heil nicht in Erscheinung treten. Damit dürfte der generelle Sinn der Aussage zutreffend erfaßt sein. Zu 1 Anstelle von ,usque d u m impleatur praedicta mensura' liest ArabGild: ,bis zum E n d e der Welt' (vgl. A r m e n : ,donec veniet definitum tempus'). — N. M E S S E L bestreitet, daß ,mensura' in V. 37c m i t dem Maß des ,saeculum' u n d der ,tempora' zu identifizieren sei: „Dies ist . . . schon deswegen falsch, weil die Zeiten doch nicht voll ( = verstrichen) sein können in dem Augenblicke, d a Gott sie (!) aufwecken wird. Vielmehr ist die mensura v. 37d nichts als die v. 36 b erwähnte Zahl der Gerechten. — Saeculuxn bedeutet in der T a t , wie tempora, die gesamte Weltzeit (die Heilszeit einbegriffen). Die h a t Gott gewogen u n d gemessen, sie ist also als endliche Größe vorgestellt. Das Interesse Esras ist aber nicht, die Endlichkeit der Weltzeit, sondern die Herrschaft Gottes über sie (vgl. Esr 13ss) zu betonen; f ü r seine menschliche Betrachtung war die Weltzeit gewiß unendlich, f ü r Gott konnte das aber unmöglich gelten, er m u ß t e das Unendliche gezählt haben. Die Macht Gottes über die Weltzeit zeigt sich praktisch darin, daß er die einzelnen Perioden derselben zu einer von ihm bestimmten Zeit h e r a u f f ü h r t ; das göttliche Wägen u n d Zählen des saeculum sieht es deshalb nicht so sehr auf die Gesamtsumme als auf die Zahlen der Unterabschnitte a b . " (a.a.O. S. 66f.; vgl. ebd. S. 66 Anm. 2) Die Tendenz dieser gewaltsamen Interpretation der Stelle ist k l a r : N. M E S S E L p a ß t den Text seiner Gesamtkonzeption an, nach der die in der apokalyptischen Eschatologie zum Ausdruck kommende E r w a r t u n g auf eine zwar wunderbare, aber letztlich doch innergeschichtlich verstandene Restitution Israels bezogen ist. F ü r die Apokalyptik stellt sich nach der Auffassung N. M E S S E L S die Heilszeit als die im Zeichen des Sieges Gottes stehende Endphase der geschichtlichen Entwicklung dar. Der neue Äon ist nicht transzendenter Art, sondern die innergeschichtliche Fortsetzung des alten Äons (zustimmend F . NEUGEBATTER, I n Christus, S. 94 Anm. 15: Die „sogenannten universalistischen Züge (dienen) nur als kosmischer R a h m e n der Herrlichkeit Israels"). „ D a ß die Zeiten endigen, altern usw., bedeutet deshalb nicht, daß die Weltzeit oder die Weltgeschichte vor der Heilszeit a u f h ö r t , sondern daß sie mit der Heilszeit ihr Ende, ihre schließliche Entwickelungsstufe erreicht." (N. MESSEL, ebd. S. 66) — Wie wenig diese von N. M E S S E L mit Nachdruck vertretene These (vgl. ebd. passim) mit den Texten im Einklang steht, zeigt eine kritische P r ü f u n g seiner Auslegung von 4 E s r 4 , 3 6 f . E s ist völlig abwegig u n d durch nichts nahegelegt, ,praedicta mensura' (V. 37c) auf .numerus + similium+ vobis' (V. 36b) zu beziehen; vielmehr spricht der enge Zusammenhang der Verszeilen V. 36 c. 3 7 a - c eindeutig dafür, ,mensura' in V. 37 c m i t dem Zeitmaß zu identifizieren, von dem in V. 37 a expressis verbis die Rede war (mensura mensuravit tempora) —

s o P . VOLZ, a . a . O . S. 1 3 9 f . , u n d H . GUNKEL, b e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 5 8

Anm. c (die Argumentation N. M E S S E L S beruht außerdem auf der sehr fragwürdigen Prämisse, daß in V. 37 c als Objekt der Verben ,commovere' u n d ,excitare' das Wort ,tempora' vorauszusetzen ist [siehe dazu unten!]). Ebensowenig ist N. M E S S E L im Recht, wenn er unter ,saeculum' (V. 36 c) ,die gesamte Weltzeit (die Heilszeit einbegriffen)' versteht; nach 4,26f. m u ß dieser Äon als ganzer vergehen, wenn ,Gott seine Verheißimg wahrmachen soll. Diesem (aus einer Reihe kleinerer Äonen bestehenden?) ,saeculum' ist ein Maß gesetzt, von dessen ,Vollsem' die Erfüllung der (die .Geschichte' transzendierenden) Verheißung abhängt.

Die Neutralisierung der Xaherwartung

285

fragen bleibt allerdings, worauf sich der erste Teil des Satzes (et non commovebit nec excitabit) konkret bezieht. Auffällig ist, daß ein Objekt fehlt. Dieser Sachverhalt wird merkwürdigerweise in keiner der neueren Übersetzungen beanstandet. Man bezieht den Satz durchweg ohne nähere Begründung auf die unmittelbar vorausgehenden Aussagen (V. 36 c. 37 a. b) und ergänzt stillschweigend als Objekt der Verben ,commovere' und ,excitare' ein ,ea' ( = .tempora') 1 . In diesem Fall wäre darauf abgehoben, daß Gott den Zeiten so lange fernbleibt, bis das ihnen von Anfang an auferlegte Maß vollgeworden ist. Er wird die Zeiten erst dann ,stören' (bzw. ,anrühren') und .aufwecken', wenn sie ihr Vollmaß erreicht haben. Gegenüber dieser auf den ersten Blick auch gar nicht abwegig erscheinenden Deutung des Textes erheben sich jedoch schwerwiegende Bedenken. Das Verb ,commovere' begegnet in der Esraapokalypse zwar verschiedentlich in eschatologisch geprägten Zusammenhängen, wird aber nirgendwo auf Ausdrücke der ,Zeit' bezogen. Es kennzeichnet die das Ende dieses Äons signalisierende ,Erschütterung' der Erde (,fundamenta terrae' 6,16; vgl. 6,13ff.; 10,26 und sBar 32,1 — vgl. auch die Schilderung der Sinai-Theophanie 4Esr3,18) oder den endzeitlichen .Aufruhr' der Völker (5,5). Dagegen wird das im Sinne eines eschatologischen terminus technicus gebräuchliche Verb ,excitare' 4 E s r 7 , 3 1 tatsächlich auf einen Zeit-Begriff, nämlich ,saeculum', appliziert. Indessen handelt es sich bei dem ,saeculum', das erweckt werden soll (,excitabitur'), an der genannten Stelle bezeichnenderweise nicht um den gegenwärtigen, vergänglichen Aon, sondern um den künftigen, der ,jetzt schläft' 2 (,qui nondum vigilat saeculum' — ihm wird das ,corruptum [saeculum]' 3 gegenübergestellt; vgl. sBar 25,3: ,. . . dann erwacht die Zeit [sc. jener Welt]'). Man könnte demnach vermuten, daß auch 4Esr 4,37 c eher an den neuen Äon gedacht ist, der am Ende dieser Welt-Zeit zum Leben erwacht und „auf supranaturale Weise, durch göttliches Eingreifen und ohne menschliches Zutun, aus dem Jenseits herein(bricht)" 4 . Allerdings müßte dann als Objekt des Satzes ein längerer Ausdruck (z.B. ,saeculum futurum') ausgefallen sein, was nicht eben wahrscheinlich ist. Es erhebt sich darum die Frage, ob sich der Aussage noch ein anderer Sinn abgewinnen läßt. Beachtet man, daß die W . 36 f. an die 1 So H . GÜNSEL, bei E.KAUTZSCH, A P II, 358; P. RIESSLER, 260; L. VAG A N A Y , a.a.O. S. 6 9 ; N . M E S S E L (S. O. S . 2 8 4 Anm. 1); V I O L . II, 19;— B o x (bei R. H. C H A R L E S , AP II, 567) ergänzt ,things': 'Neither will he move nor stir things'; ganz anders der Rekonstruktionsversuch L. G U Y S : 'Et il ne +ramassera

pas les gerbes dans l'aire+ avant que soit complet le nombre des gerbes!' (a-a-O. I, 39). 2

3 4

H . GCTNKEL, b e i E . K A U T Z S C H , A P I I ,

370.

S. o. S. 101 Anm. 1. P h . VIELHAUER, bei HENUECKE3, B d . II, 412.

286

Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

,animae iustorum' gerichtet sind, so liegt es nahe, den Satz ,et non commovebit nec excitabit' auf diese selbst zu beziehen und als Objekt ein ,vos' zu ergänzen 1 . V. 37c besagt dann, daß Gott die in den Vorratskammern (prumptuaria) aufbewahrten ,Seelen der Gerechten' erst dann aus ihrer Ruhe aufstören und auferwecken wird, wenn das vorherbestimmte Zeitmaß erfüllt ist 2 . Der Vorzug dieser Deutung gegenüber den erwähnten Interpretationsversuchen liegt nicht nur darin, daß sie den Gebrauch der Verben ,commovere' und ,excitare' einleuchtender zu erklären vermag, sondern auch darin, daß sie dem Anredecharakter der Antwort Jeremiels besser gerecht wird. Wenn unsere Auslegung von V. 37 c zutrifft, enthält die Rede des Engels zwei analoge Aussagen, die ein und denselben Grundgedanken variieren: 1. Die Seelen der (verstorbenen) Gerechten empfangen den ihnen zustehenden Lohn erst dann, wenn die festgesetzte Zahl der Heilsteilnehmer voll ist (V. 36 b). 2. Sie werden nicht eher aus ihren Ruhekammern entlassen (eigentlich: fortbewegt) und auferweckt, bis das von Gott bestimmte Maß der Zeiten (d. h. dieses Äons) seine Fülle erreicht hat (V. 36c. 37). Die Pointe des Abschnitts liegt in den parallelen Sätzen: ,quando impletus fuerit numerus +similium+ vobis'— und: ,usque dum impleatur praedicta mensura'. Sie bringen übereinstimmend die These zum Ausdruck, daß der Anbruch des Eschaton von bestimmten, im Plan Gottes vorgesehenen Faktoren abhängt (Vollwerden des ,numerus [iustorum]' und der ,praedicta mensura [temporum]') und aus diesem Grund nicht vorfristig eintreten kann3. Überblickt man den Gedankengang 4,26-37, so zeigt sich, daß der Verfasser bemüht ist, die eschatologische Naherwartung durch den Gedanken der Determination des Zeitenablaufs zu entspannen. Das ,Bald' wird durch den Hinweis auf die Eigengesetzlichkeit des ,festinare Dei' eingeschränkt und mit dem deterministischen ,Erst dann, wenn' verklammert. Alles Gewicht liegt auf der Feststellung, daß sich die (beschleunigte) Bewegung dieses Äons nach einer göttlichen Notwendigkeit vollzieht, die vom Menschen weder erkannt noch beeinflußt werden kann. Der Anbruch der Heilszeit hängt davon ab, daß das bestimmte Maß erfüllt wird, das Gott den Zeiten gesetzt hat. 1 Möglicherweise hat der griech. Übersetzer die Suffixendung übersehen (wenn sie nicht bereits in der Vorlage ausgefallen war). 2 Vgl. in der oben (S. 272) angeführten Stelle PsPhilo 19,13 den Satz: ,quoniam festinabo excitare vos dormientes'. — Zur Vorstellung vom eschatologischen ,Vollmaß' s. o. S. 283 Anm. 2; ferner S. 267 Anm. 1. 3 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Erklärung des ,Meeres' in der Deutung der Menschensohnvision 4Esr 13,52: ,Gleichwie niemand zu erforschen oder zu wissen vermag, was in der Tiefe des Meeres ist, ebenso kann auch niemand (von denen) auf Erden meinen Knecht schauen noch seine Begleiter, außer +zu seiner Zeit und an seinem Tage + .' Der Heilbringer bleibt bis zu dem determinierten Termin seiner Ankunft verborgen.

Die Neutralisierung der Naherwartung

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Die eschatologische Eile des Schöpfers richtet sich nicht nach den Wünschen u n d Bedürfnissen der Geschöpfe, sondern nach der feststehenden Zahl der Gerechten, die noch vor Ablauf der Zeit dieses Äons zu erreichen ist. Aus diesen Gründen m u ß die Möglichkeit eines Aufschubs des Eschaton immer mit einbehalten werden. Der Termin des Endes bleibt unbestimmbar, weil allein Gott die Fristen gemessen, die Äonen gewogen h a t und weil die Bedingungen, von deren Erfüllung die eschatologische Bestätigung der Verheißung abhängt, göttlicher N a t u r sind. Wie die Äußerungen des ,angelus interpres' 4,34-37 zeigen, wird die Wann-Frage im Grunde als verfehlt zurückgewiesen u n d abgebogen. Der Apokalyptiker sucht unter Hinweis auf den festliegenden göttlichen P l a n den Leser davon zu überzeugen, daß es weniger darauf ankommt zu erfahren, wann das erwartete Ende dieses Äons eintrifft, sondern darauf zu wissen, daß es zur festgesetzten Zeit — nach Ablauf einer bestimmten Frist — mit Notwendigkeit eintreffen wird. Damit gibt er allerdings zugleich unfreiwillig zu erkennen, daß die Erwartung der Nähe des Endes von ihm selbst als Problem empfunden wird. Wenn STROBEL. behauptet, die Anwendung der in einer theozentrischen Zeitauffassung verankerten Theorie „vom Ausbleiben und Aufhalten der Heilszeit" hebe ,,die Spannung der Naherwartung" nicht auf, sondern diene nur dazu, „der gerade bei dieser Haltung [sc. der Naherwartung] leicht aufbrechenden Skepsis und Ungeduld die gefährliche Spitze zu nehmen" 1 , so verkennt er, daß eine derartige Reflexion bereits eine erhebliche Distanz zu unbefangener Erwartung voraussetzt. Wenn der Apokalyptiker daran interessiert ist, die Hoffnung auf das baldige E n d e der gegenwärtigen Welt-Zeit durch den Hinweis auf das Determiniertsein der Zeiten in der Schwebe zu halten, so dokumentiert er damit gerade, daß das Erwartete nach seinem Dafürhalten vorerst noch fern ist. E r ist nicht in der Lage, den angefochtenen Glauben uneingeschränkt der Nähe des Heils zu vergewissern, sondern sieht sich im Gegenteil gezwungen, die unleugbare Distanz zwischen dem J e t z t u n d dem D a n n mit Hilfe des Theorems von der ,necessitas temporum' doktrinär zu begründen 2 . Die Aussagen des Abschnitts 4Esr 4,34-37 stellen jedenfalls eher eine Apologie des ,Noch-nicht' als eine Rechtfertigung des ,Bald' dar. 1 A . S T R O B E L , Untersuchungen zum S . 3 3 . Vgl. L . V A G A N A Y , a.a.O. S . 7 2 :

eschatologischen Yerzögerungsproblem, "N'était-ce pas, d'ailleurs, le meilleur moyen de piquer la curiosité, sans causer de trop arriéres déceptions?" 2 Vgl. L. V A G A N A Y , a.a.O. S. 68ff. Von daher gesehen, erscheint die von A. S T R O B E L vertretene Gesamtbeurteilung des apokalyptischen Zeitdenkens als nicht unproblematisch. A. S T R O B E L macht zu Recht darauf aufmerksam, daß die Apokalyptik schon früh gezwungen war, die Frage nach dem Ausbleiben der Verheißung theologisch zu beantworten. S. E. löste sie das sich beunruhigend in den Vordergrund schiebende Problem des ,Aufhaltens' der

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

c) Die Behauptung

der Unaufhaltsamkeit

der eschatologischen

Wende

Abschließend ist noch auf die Verse 4,38-43 einzugehen, in denen sich der Verfasser mit einem offenbar naheliegenden Gegenargument auseinandersetzt. Der Einwand, der wieder durch den Mund Esras vorgebracht wird, lautet: (V. 38) O dominator domine, sed +ecce +1 nos omnes pleni sumus impietate! (V. 39) E t ne forte propter nos prohibeatur iustorum area, propter peccata inhabitantium super terram!

Der Seher gibt zu bedenken, daß das Vollwerden der Zahl der Gerechten und damit der ihnen in Aussicht gestellte Lohnempfang durch die universale Gottlosigkeit in Frage gestellt sein könnte. Wie soll die bestimmte Zahl der Gerechten erreicht werden, wenn auf Erden nur endzeitlichen Erlösung, indem sie — unter Berufung auf prophetische Tradition, besonders H a b 2,3 — die Vorstellung der Naherwartung mit dem Lehrsatz einer ,theozentrischen Zeitbetrachtung' (Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 28) verklammerte und die Gewißheit der Nähe des Heils aus der Irreversibilität des Planes Gottes ableitete. Der Hinweis auf die Unbeirrbarkeit göttlicher Zeitverfügung h a t (nach A. S T R O B E L ) die Doppelfunktion, einerseits eine allzu enthusiastische, schnell in Resignation umschlagende Naherwartung zu zügeln, andererseits „dessen ungeachtet den Glauben an ein baldiges Kommen der verheißenen Heilszeit" aufrechtzuerhalten (ebd. S. 9 [zu 1 QpHab 7,5-12]; vgl. ebd. S. 78). „Vielleicht kann man sogar sagen, daß die angespannte Erwartung in eine vertiefte, weniger problematische Hoffnung umgesetzt wird. Es ist eine für zeitgemäße Begriffe mit sehr gewichtigem theologischen Argument gefahrlos gemachte Naherwartung oder wenigstens ein theologischer Versuch in dieser Richtung." (ebd) A. S T R O B E L würdigt diese f ü r damalige Verhältnisse „ideale dialektische Sicherung der Naherwartung" (ebd. S. 34) als eine beachtliche Leistung apokalyptischer Theologie, ohne der Problematik solcher Dialektik ansichtig zu werden. Weil er die theonom begründete apokalyptische Konzeption einseitig an der anthropozentrisch orientierten Lösung des Verzögerungsproblems, wie sie von einem bestimmten Zweig tannaitischer Tradition bezeugt wird (vgl. ebd. S.23ff.[s.o. S.280Anm.4]), mißt, überspielt er von vornherein jeden weiter gefaßten sachkritischen Einwand: Vor dem Hintergrund einer Theologie rabbinischer Prägung, die das Kommen des Endes von der menschlichen Bußfertigkeit abhängig macht, m u ß sich die apokalyptische Auffassung, die den Termin des Eschaton dem göttlichen Zeitregiment anheimstellt, vorteilhaft abheben. Doch die Frage, wie es mit dem existentiellen Ernst einer lehrhaft abgesicherten, faktisch entschärften, ja gefahrlos gemachten ,Naherwartung' bestellt sei, bleibt bei A. S T R O B E L ungedacht. Wenn er behauptet, die Apokalyptik erhalte die „Spannung der Naherwartung" (ebd. S. 33) gerade dadurch aufrecht, daß sie den Aufschub der Zeiten als in dem umfassenden Geschichtsplan Gottes vorgesehen erklärt, identifiziert er voreilig das Bewußtsein des Apokalyptikers mit seiner faktischen Existenz. Gerade die Tatsache, daß sich die Apokalyptik genötigt sieht, die Naherwartung mit dem Lehrsatz der traditionellen theonomen Zeitauffassung zu begründen und zu sichern, beweist, daß sie faktisch erweicht ist und nur noch mühsam als ,locus de novissimis' beibehalten wird (vgl. die Ausführungen Ph. V I E L H A T I E R S zu 2Petr [bei H E N H E C K E 3 , Bd. I I , 434], die sachlich bereits auf die von 4Esr und sBar vertretene spätjüdische Theologie apokalyptischer Prägung zutreffen). 1

[vgl.

,Ecce' mit Syr; Aeth. — Lat hat ,et' (möglicherweise aus ,ecce' verlesen V I O L . I I , 1 9 Anm. z. St.]).

Die Neutralisierung der Naherwartung

289

Gottlose leben? Hinter dieser Frage steht offenbar die Ansicht, daß das Nicht-Eintreffen bzw. Aufgehaltenwerden des Eschaton primär auf die Sünde der Menschen zurückzuführen ist. Diese Auffassung läßt sich mit einer Lehrmeinung tannaitischer Herkunft vergleichen, die „das aufhaltende Moment mit der Unbußfertigkeit des Volkes" identifiziert 1 und die Sünde Israels dafür verantwortlich macht, daß Gott den Seinen das versprochene Heil bislang vorenthielt. Es fragt sich allerdings, ob der Verfasser von 4Esr eine derartige Konzeption, wie sie z.B. von seinem Zeitgenossen R. Eliezer vertreten wurde 2 , im Auge hat. Man wird eher erwarten dürfen, daß das in V. 38 f . Gesagte diejenige Position widerspiegelt, als deren Sprecher Esra auch sonst auftritt. Es ist daran zu erinnern, daß der Seher wiederholt die Universalität der Sünde beklagt, um damit Sinn und Wert der Verheißung in Frage zu stellen 3 . Setzt man nun voraus, daß das ,prohiberi' in V. 39a nicht den zeitweiligen Aufschub, sondern das definitive Ausbleiben der Ernte der Gerechten meint 4 , so läßt sich die Aussage unschwer mit den eingangs erwähnten Klagen Esras vereinbaren. Der Seher gibt seiner Befürchtung Ausdruck, daß der Anbruch der Heilszeit infolge des allumfassenden Sündenverhängnisses, das die Menschheit überkam, für immer und endgültig aufgehalten, d. h. verhindert wird. Weil alle Menschen Sünder sind (,nos omnes pleni sumus impietate'), kann die vorgeschriebene Zahl der Gerechten nie erreicht werden. Darum steht zu befürchten, daß auch die von Gott in Aussicht gestellte ,Ernte der Gerechten' Illusion bleibt — ein Wunsch1 A . S T B O B E L , Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 23. 2 pTaan 1,1 (63d): R. Eliezer (b. Hyrkanos, um 90) hat gesagt: Wenn die Israeliten nicht Buße tun, so werden sie in Ewigkeit nicht erlöst werden, s. Jes 30,15: ,Durch Buße u. Ruhigbleiben wird euch Rettung werden' (nach B I L L . I , 162; vgl. B I L L . IY/2, 1013ff. [siehe dazu auch oben S . 280 Anm. 4 ] ) . 3 Siehe dazu ausführlich oben S. 42-60. 4 Im Sinne des definitiven Ausbleibens von Regen, Saat und Ernte wird man wohl auch die Verzögerungsaussagen aethHen 80,2 f. zu interpretieren haben: (V. 2) ,In den Tagen der Sünder werden die Jahre verkürzt werden, ihre Saat wird sich in ihren Ländern und auf ihren Feldern v e r z ö g e r n , alle Dinge auf Erden werden sich ändern und z u i h r e r Z e i t n i c h t erscheinen; der Regen wird a u s b l e i b e n , und der Himmel [ihn] f e s t h a l t e n . (V. 3) In jenen Zeiten werden die Früchte der Erde s i c h v e r z ö g e r n , zu ihrer Zeit n i c h t w a c h s e n , und die Baumfrüchte werden in ihrer Zeit z u r ü c k g e h a l t e n w e r d e n . ' (Text nach B E E R , bei E . K A U T Z S C H , AP II, 2 8 5 ) Daß mit dem .Verzögern' nicht ein zeitweiliger Vorgang, sondern ein endgültiges Geschehen gemeint ist, geht aus den parallelen Verben .ausbleiben', .festhalten', ,zurückgehalten werden', .nicht erscheinen', .nicht wachsen' deutlich hervor (vgl. in diesem Zusammenhang die lehrreichen Ausführungen A. S T R O B E L S über den Unterschied des Verzögerungsdenkens im hebr.-jüdischen und im griech. Bereich [ebd. S. 161-170]).

19 Harnisch, Verhängnis

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träum, dessen Erfüllung durch das auf der Menschheit lastende Sündengeschick unmöglich gemacht ist. Die Antwort des Offenbarers (V. 40-48) entkräftet den Einwand Esras durch ein Bildwort (V. 40 [41a]) sowie durch einen aus depi Bildwort entwickelten Vergleich (V. 41b. 42). Das in die Form einer (indirekten) rhetorischen Frage gekleidete Bildwort hat argumentativen Charakter1: (V. 40) Vade et interroga praegnantem, si, quando impleverit novem menses suos, adhuc poterit matrix eius retiñere foetum in semetipsa.

Die Antwort lautet selbstverständlich: ,Non potest, domine!' (V.41a) Die Schwangere kann die Geburt nicht verhindern, wenn ihre Zeit gekommen ist. Daraus folgt sachlich: Das eschatologische Heil wird mit derselben Notwendigkeit in Erscheinung treten, mit der die Geburt Ereignis wird2. Das Bildwort verdeutlicht also weniger die ,Unentrinnbarkeit'3 als vielmehr die Zwangsläufigkeit des Vollzugs der großen Wende, die die ,Ernte der Gerechten' herbeiführt. Ein aus dem Bildwort gesponnener Vergleich ergänzt die in V. 40 enthaltene indirekte Antwort und modifiziert sie zugleich: (V. 41b) I n inferno prumptuaria animarum matrici adsimilata s u n t : (V. 42) Quemadmodum enim festinabit, quae parit, effugere necessitatem partus +et [sc. liberari] a cruciatu puerperii+, sie et haec festinat reddere ea, quae commendata sunt +eis+ ab initio 4 . 1 Vgl. R . B U L T M A N N , Die Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl. 1957, S. 46. 195. 2 Vgl. 4Esr 14,16 ArabEw: ,Denn n o t w e n d i g muß dieser Äon sich auflösen und altern . . 3 So W. S C H R Ä G E , ZThK 61/1964, 143 z. St. (der Begriff enthält ein Moment des Drohenden und ist darum hier ungeeignet). — Nach J . J E R E M I A S (Die Gleichnisse Jesu, 6. Aufl. 1962, S. 151 Anm. 6) bringt der Vergleich mit der Schwangeren 4Esr 4,40 „die Sicherheit des Anbruchs des Endes trotz langer Wartezeit" zum Ausdruck. 4 Zum Wortlaut des Textes ist folgendes zu bemerken: 1. ,in inferno prumptuaria' (V. 41b) wird von der Hs. A ( = Ambianensis) des lat. Textes gelesen (ebenso R . L. B E N S L Y ) . V I O L E T (I, 44) nimmt im Blick auf andere lat. Lesarten mit Syr; Aeth (einige Hss.) Nebenordnung von ,infernum' und ,prumptuaria' an und liest: ,Infernum + et + prumptuaria'. L. GRY folgt ArabGild (,Ebenso ist die Hölle f ü r die Seelen ähiüich der gebärenden Mutter'): 'Le se'ol pour les ämes est semblable au sein +pour le foetus+!' (a.a. O. 1. 41) Diese Übersetzimg h a t den Vorzug der Einlinigkeit und Klarheit. Ihr widerspricht, daß der Doppelausdruck Scheöl-Kammern in drei Versionen begegnet. 2. ,+et [liberari] a cruciatu puerperii +< (V. 42 a) ist Ergänzung des armen. Textes — von V I O L E T (II, 20 Anm. z. St.) als echt angesehen. 3. ,haec festinat' (V. 42 b) erklärt sich aus ravra anevöei (A. H I L G E N T E L D ,

Die Neutralisierung der Naherwartung

291

Das Bild erscheint hier unter einem etwas anderen Gesichtspunkt. War zuvor die Passivität der Frau unterstrichen und die Geburt als ein sich zwangsläufig abspielendes Ereignis dargestellt, so begegnet die Frau nun mehr aktiv als diejenige, die das Ende ihrer Leiden innerlich vorwegnimmt und den Geburtsakt zu beschleunigen sucht. Betont ist der Gedanke der Eile, in dem auch das .tertium comparationis' des Vergleichs zu sehen ist: Wie die Schwangere ihrem Tag entgegeneilt, um möglichst rasch von ihren Schmerzen befreit zu werden (,festinabit, quae parit, effugere necessitatem partus'1), so ,beeilen' sich die (in der Scheol befindlichen?) ,Kammern', die ihnen anvertrauten ,animae iustorum' (vgl. 4,35) zurückzuerstatten (,haec festinat reddere ea, quae commendata sunt +eis+ ab initio'). — Es ist nun aber zu beachten, daß die aus dem Vergleich zu entnehmende Zusage des beschleunigten Anbruchs der Endzeit ihr Korrektiv in dem vorangehenden Bildwort V. 40 hat: Die Gebärende entrinnt ihrer Angst erst zu der ihr von der Natur bestimmten Zeit (,quando impleverit novem menses suos'2 — vgl. 4,36b. 37cß). Ebenso können die Kammern das von ihnen Bewahrte nur zur bestimmten Zeit freigeben. Ihr ,Eilen' ist ein bestimmter, in seiner Bewegung genau festgelegter ,Lauf'. Nicht zufällig wird das Bild der Gebärenden gewählt, denn an ihm läßt sich sowohl der Gedanke der Beschleunigung als auch der des Bestimmtseins der Zeit demonstrieren. In der Antwort des ,angelus interpres' ist also wiederum die Vorstellung der Beschleunigung mit der Theorie der Nezessität verschränkt : Die beschleunigte Bewegung der Zeit ist determiniert durch ihr Ende, das zu seiner Zeit eintreffen wird. Sie vollzieht sich nach einer ihr innewohnenden Notwendigkeit3. Damit wird die Reflexion Messias Judaeorum, S . 4 6 ) . Zu ,quae commendata sunt' ist mit H. GTTNXEL und V I O L B T ,eis' zu ergänzen. 4. ,Necessitas' (V. 42 a) hat hier die Bedeutung ,Angst, Trübsal, Not, Bedrängnis' und geht auf dvdyxr) zurück. Das entsprechende hebr. Wort heißt " I S , H 1 S , „das die Enge und Bedrücktheit zum Ausdruck bringt" (W. GRTXNDMAHfN,T ThW I, 349 [vgl. Zeph 1,15 L X X ] ) . Ob in 4 E s r 4 , 4 2 eine Anspielung auf die endzeitliche Drangsal vorliegt (vgl. 4Esr 13,19 [siehe dazu W. S C H R Ä G E , a.a.O. 143 Anm. 54]), läßt sich nicht sicher entscheiden. 5. In V. 42b (der Sachhälfte des Vergleichs) entspricht ,festinat' dem in V.42a auf die Gebärende bezogenen ,festinabit' (gnom. Futur, so mit Hs. C [ = Complutensis] zu lesen); ,reddere' bezieht sich auf das (in V. 41 a negierte) ,retinere' von V. 40 zurück. 1 Vgl. in diesem Zusammenhang auch 1 QH 3,10 (siehe dazu J . M A T E R , Die Texte vom Toten Meer, Bd. II, S. 76 Anm. z. St.). 2 Vgl. die armen. Version: ,mulier non poterit ante definitum tempus parere' (V. 40); ,mulier veniente tempore festinat' (V. 42). — Vgl. Gen 25,24. 3 Der Gedanke des Bestimmtsems der Zeit begegnet in 4Esr an anderen Stellen u. a. auch in folgenden Varianten der orientalischen Texte: Eine arab. Version zu 7,42ff. ( = 7,40 ArabEw) lautet: ,Und diese Dinge müssen notwendigerweise geschehen . . . [Und] dies ist das Maß jener beschlossenen 19*

292

Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

von V. 38f. entschieden zurückgewiesen. Das Verhalten der Menschen vermag die planmäßig abrollende Bewegung der Zeit weder in positiver noch in negativer Hinsicht zu beeinflussen. So kommt auch der Sünde im Blick auf den göttlichen Heilsentwurf keine prohibitive Bedeutung zu. Alles Gewicht liegt auf der Behauptung der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs 1 . Die vom Visionär in Zweifel gezogene Epiphanie des Heils wird unabhängig von der Disposition des Menschen — nämlich zu dem Gott vorbehaltenen Termin — Ereignis werden. Zu beachten ist, daß der Offenbarer die von Esra vertretene These, nach der alle Menschen als Sünder anzusprechen sind, an dieser Stelle faktisch übergeht. Sie wird jedenfalls hier noch nicht explizit widerlegt. Die Aussagen 4Esr 4,40-43 wären jedoch sinnlos, wenn sie nicht das Vorhandensein von Gerechten als selbstverständlich voraussetzten. Sie enthalten also bereits eine indirekte Kritik an der Behauptung der Universalität der Sünde. Die Frage, ob das eschatologische Heil überhaupt seine Adressaten finden wird, bleibt außer Betracht. Was der Apokalyptiker zur Geltung zu bringen sucht, ist vielmehr die Einsicht, daß sich die den Gerechten versprochene .Ernte' zwangsläufig einstellen wird, wenn ihre Zeit gekommen ist2. Dann — am Ende Dinge u n d ihre O r d n u n g . . .' (vgl. A r a b E w zu 7,123 [ = 7,91]: ,und d a s P a r a d i e s n o t w e n d i g erscheinen m u ß . . .'). 7,75 (donec v e n i a n t t e m p o r a illa) liest A e t h : ,bis seine Zeit [oder: die b e s t i m m t e Zeit] k o m m t ' ; A r a b G i l d : ,bis die festgesetzte Zeit sich erfüllt h a t ' . Z u 7,95 h e i ß t es in ArabGild ( = 7b, 68): ,bis die Zeit h e r a n k o m m t , die G o t t ihnen [sc. denen, die Gottes Gebote gehalten h a b e n ] b e s t i m m t h a t . ' Vgl. a u c h die a r a b . Version (ArabGild) zu 11,44: , D a w a n d t e sich der H ö c h s t e der Zeit zu, welche er begrenzt u n d b e s t i m m t h a t ' ; ferner 9,18 (ArabGild): ,. . . u n d ich versammele meine Schöpfung zu d e m Termine, d e n ich ihnen festzusetzen beliebt h a b e ' . Vgl. schließlich a u c h den Z u s a t z des a r m e n . Textes zu 9 , 2 2 : ,Sic fiet et hoc s t a b i t , et sie definitum est a me, e t nihil ex iis praeteribit, donec fiet iudicium et finis v e r b o r u m m e o r u m . ' 1 „ D a r a u s g e h t hervor, d a ß I V . E s r a keineswegs einfach m i t der Schulm e i n u n g R . Eliezers, seines Zeitgenossen, ü b e r e i n s t i m m t . Offenkundig liegt der T o n nicht auf der G o t t e s f u r c h t u n d B u ß f e r t i g k e i t des Volkes als eschatologischen Bedingungen. G o t t h a t einen eigenen M a ß s t a b . I n seinem E n t s c h l u ß ist er u n a b h ä n g i g v o n der Sündenerkenntnis der Menschen. Der T e r m i n des E n d e s ist von i h m festgelegt." (A. S T R O B E L , U n t e r s u c h u n g e n z u m eschatologischen Verzögerungsproblem, S . 28; vgl. auch L. V A G A N A Y , a . A . O . S. 68ff.). 2 Wie wenig der Verfasser v o n 4 E s r bereit ist, einem eschatologischen E n t h u s i a s m u s das W o r t zu r e d e n u n d die E n d z e i t e r w a r t u n g d u r c h präzise T e r m i n a n g a b e n zu stimulieren, zeigt sich auch a n d e m folgenden A b s c h n i t t 4 E s r 4,44-50. D o r t wird die F r a g e Esras, ,si plus q u a m praeteriit h a b e t venire, a u t p l u r a p e r t r a n s i e r u n t super nos' (V. 45), d u r c h ein „visionäres Gleichnis" (P. VOLZ, a . a . O . S. 137) dahingehend b e a n t w o r t e t , d a s Maß der Vergangenheit sei bei weitem größer als das des (bis z u m E s c h a t o n ) noch a u s s t e h e n d e n Z e i t q u a n t u m s : ,Sicut enim crescit pluvia amplius q u a m g u t t a e et ignis amplius q u a m f u m u s (vgl. V. 47-49), sie s u p e r h a b u n d a v i t q u a e t r a n s i v i t m e n s u r a , s u p e r a v e r u n t a u t e m g u t t a e et f u m u s ' (V. 50). Diese allgemein gehaltene Ausk u n f t s u c h t zwar den E i n d r u c k der N ä h e der e r w a r t e t e n eschatologischen Z u k u n f t zu erwecken. Aber sie rechnet nichtsdestoweniger m i t einem — w e n n

Die Neutralisierung der Naherwartung

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dieses Äons — wird dem Seher offenbart werden, was er schon jetzt (,zu dieser Zeit' — ArabGild) zu schauen begehrt: ,Tunc tibi demonstrabitur de his, quae concupiscis videre' (V. 43 — vgl. V. 26!). 2. Die Apologie

der Zeitenfolge

4Esr

5,41-49

Auch der Dialog 4Esr 5,41-49 kreist um die Frage nach dem Termin des Endes, wenngleich von dem ,Wann' nicht ausdrücklich die Rede ist. Der Verfasser setzt sich zunächst mit der traditionellen Auffassung auseinander, nach der nur die in der Endzeit lebende (letzte) Generation des verheißenen Heils teilhaftig wird1. Er legt Esra die Worte in den Mund : ,Sed ecce, domine, tu +promittis+2 his, qui in fine sunt; et quid facient, qui ante nos sunt, aut nos aut hi, qui post nos?' (V. 41) Wie wenig der Apokalyptiker selber der Ansicht ist, daß nur der am Ende übrigbleibende Rest von den eschatologischen Ereignissen betroffen wird, zeigt sich an der Antwort des ,angelus interpres' (V. 42) : (a) ,Dem +Kreise + will ich mein Gericht vergleichen: (b) wie f ü r die Letzten keine Verspätung (tarditas), so f ü r die Ersten keine Verfrühung (velocitas) !' Der Sinn dieses kunstvoll geformten Verses läßt sich kaum eindeutig rekonstruieren. Das Verständnis des Textes wird schon dadurch erschwert, daß das oben mit .Kreis' wiedergegebene Wort unterschiedlich überliefert ist. auch noch so kleinen — Abstand zwischen dem J e t z t und dem Dann. Das Eschaton kommt bezeichnenderweise nicht als datierbares Ereignis (vgl. dagegen PsPhilo 19,15 [Ende]), geschweige denn „als eine schon die Gegenwart zu ihrem Anfang machende nahe Zukunft in den Blick" (Formulierung E. JÜTSFGELS, a.a.O. S. 154), sondern es wird als ein zwar nicht mehr fernes, aber doch erst nach Ablauf einer gewissen Frist zu erwartendes Geschehen behauptet (vgl. in diesem Zusammenhang auch H . BBAUN, Spätjüdischhäretischer und frühchristlicher Radikalismus, Bd. I I , S. 46 Anm. 1 : „Beide Seiten . . ., Synoptiker und Sekte, sind sich einig darin, daß eben diese kurz vor dem Ende lebende Generation böse ist, während eine so ausgesprochene Endnähe dem nicht-apokalyptischen Judentum, ja auch dem 4. Esra [4,47-52; 5,41; 14,9-17] fernliegt." Vgl. DERS., Das Alte Testament im Neuen Testament, ZThK 59/1962, 25f. : „Denn die neutestamentliche Intensität der Naheschatologie eignet noch nicht der alttestamentlichen und auch nicht der außerkanonisch vor der Entdeckung Qumrans bekannten Apokalyptik, sondern erst der f ü r Qumran bezeugten Naherwartung.") — Man wird ferner nicht übersehen dürfen, daß der Apokalyptiker der Belehrung 4,47-50 die in 4,3343 zur Geltung gebrachten Kautelen vorausschickt. Das in 4,47-50 Gesagte steht also im Zeichen des unmittelbar zuvor ausgesprochenen eschatologischen Vorbehalts (vgl. L. VAGANAY, a . a . O . S. 68f.). Dieser Sachverhalt ist u m so bemerkenswerter, als PsPhilo 19,14 f. •— die Sachparallele zu 4Esr 4,44r-50 (vgl. dazu L. GRY, La date de la fin des temps, selon les révélations ou les calculs du pseudo-Philon et de Baruch, R B X L Vin/1939, 337ff.) — keiner derartigen Absicherung unterliegt, vielmehr direkt an die eschatologische Weissagung 19,13 (vgl. 4Esr 4,26c) anschließt. 1 S. o. S. 231 Anm. 5. 2

M i t VIOLET (I, 7 6 ; v g l . I I , 3 8 A n m . z . S t . ) .

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen. Ablaufs

Während Lat (in Übereinstimmung mit Syr, ArabEw und Armen) ,Corona' (.Kranz') liest, findet sich in der aeth. Version das Wort ,Ring' (ArabGild bietet eine sehr freie Wiedergabe des Textes). Offenbar haben alle Übersetzer Mühe, den Vers sinngemäß zu tradieren. Die Vermutung, daß die verwandten Wörter ,Kranz' und ,Ring' auf yvQoq (bzw. Mfl) zurückgehen 1 , scheint naheliegend, ist aber nicht zwingend. Möglicherweise stand im Original ein Wort wie .Reigen' (%ooig; ^inö), wofür GTHSTKEL plädiert 2 . Aber auch dann bleibt zu fragen, worin eigentlich die innere Beziehung zwischen dem einleitenden Vergleich (a) und der angehängten Anwendung (b) besteht. Ist daran gedacht, daß sich im Reigen (bzw. im Kreis) die Ersten und die Letzten berühren? I m Blick auf die Frage des Sehers wäre in diesem Fall darauf abgehoben, daß — wie im Reigen — die Letzten vor den Ersten nichts voraushaben: Der eschatologische Gerichtsakt Gottes betrifft ohne Ausnahme alle Menschen, „nicht bloß die Spätesten, d . h . die, die in den letzten Tagen leben" 3 (vgl. V. 45, wo Esra — möglicherweise in Anspielung auf das in V. 42 Gesagte — davon spricht, Gott werde am Ende alle auf einmal zum Leben erwecken). Allerdings ist zu beachten, daß in der Anwendung des Vergleichs (b) gar nicht die von Esra (V. 41) erwogene Vorzugsstellung der Letzten, sondern im Gegenteil eine ihnen u. U. drohende .Verspätung' bzw. ,Verzögerimg' (tarditaa) negiert wird, die sich f ü r die Betroffenen ebenso nachteilig auswirken würde wie die ,Verfrühung' (velocitas) der Ersten. Vielleicht erklärt sich die Inkonzinnität des Verhältnisses von Frage und Antwort daraus, daß der in die Form eines synonymen ,parallelismus membrorum' gekleidete Satz V. 42 b 4 ältere Tradition darstellt und erst ad hoc mit dem übergeordneten Vergleich (V. 42 a) verbunden wurde.

Angesichts der bestehenden Unklarheiten läßt sich nur vermuten, daß es dem Verfasser darum geht, das Judicium Dei' als ein alle Generationen betreffendes Geschehen auszuweisen: Im Blick auf das Eschaton gibt es für den Menschen weder ein ,Zu-früh' noch ein , Zu-spät'. Gott wird das Endgericht in der Weise herbeiführen, daß der Unterschied zwischen Ersten und Letzten keine Rolle mehr spielt6. Diese Auskunft veranlaßt Esra zu der weiteren Frage (V. 43): ,Nec enim poteras facere, qui facti sunt et qui sunt et qui futuri sunt, in unum, ut celerius iudicium tuum ostendas?' Der Einwand des Offenbarers, die ,Schöpfung' (hier = Menschenwelt) solle nicht mehr eilen als der Schöpfer — außerdem sei der (alte) Äon nicht in der Lage, alle Generationen auf einmal zu ertragen (V. 44)8, vermag ihn nicht zu überzeugen. Er stellt vielmehr die Gegenfrage (V. 45): 1 2 3 4

6 6

S o VIOLET, I I , 3 9 A n m . z. S t . B e i E . KAUTZSCH, A P I I , 3 6 3 (vgl. e b d . A n m . c). P . VOLZ, a . a . O . S. 2 3 3 . V I O L E T vermutet im Original (vgl. I I , Anm. z. St.):

i n a pH trctfio. 1 ? ]? n n x p s t r h n x S i n ? Vgl. sBar 30,2b; 51,13. Siehe dazu ausführlich unten S. 298ff.

Die Neutralisierung der Naherwartung

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(a) ,Wie hast du (dann) zu deinem Knechte sagen (können), du werdest die von dir geschaffene Schöpfung zusammen beleben? 1 (ba) Wenn du sie also zusammen beleben wirst (ß) und die Schöpfung (sie dann) erträgt, (y) könnte sie nicht auch jetzt die Seienden zugleich ertragen?'

Die Argumentation ist umständlich und macht einen gekünstelten Eindruck. Dies wurde offensichtlich schon früh empfunden, wie die starke Divergenz der älteren Übersetzungen beweist 2 . Sehr aufschlußreich ist die armen. Version. Sie weicht zwar aller Wahrscheinlichkeit nach nicht unerheblich vom Original ab, scheint aber den Text an entscheidender Stelle sachgemäß ergänzt und verbessert zu haben: ,Quomodo dixit Altissimus convertere omnes humanas creaturas? nam si . . . omnes simul surgere faciet, quoscunque inveniet illo tempore, vivos una cum mortuis, et quando surgent et renovabit omnes et excipiet omnes in illo mundo et colliget, cur nunc hic mundus non potuit excipere omnes simul?'

Der Visionär begründet seinen in eine Frage gekleideten Einspruch durch einen Syllogismus, der sich (unter Berücksichtigung des armen. Textes) folgendermaßen paraphrasieren läßt: Wenn es gelten soll, daß Gott am Ende die gesamte Menschheit auf einmal wiederbeleben 3 und (vor dem Akt des Endgerichts zunächst alle) in ,jenen Äon' aufnehmen wird, ist nicht einzusehen, warum nicht schon ,dieser Äon' 4 alle Generationen auf einmal ertragen könnte. 1 Die Frage scheint sich auf 5,42 zurückzubeziehen (so H . GUnkel, bei E . K a u t z s c h , A P I I , 363 Anm. e), obwohl dort nicht ausdrücklich vom ,vivificare' die Rede ist. 2 Das Verständnis des (nach der Übersetzung Viouets [II, 40] zitierten) Verses ist besonders durch die unsichere Bezeugung der zweiten Vershälfte erschwert. Während ArabGild V. 45 b ganz ausläßt, bietet Lat nur den zweiten Teil (ß; y). Die armen. Überlieferung enthält einen stark veränderten Text. Die übrigen Versionen weichen nicht unerheblich voneinander ab. — Während R . L. B e n s l y in seiner Textausgabe von 4Esr den in L a t fehlenden V. 45 ba durch den Text der syr. Version ersetzt (,si ergo viventes vivent in unum' [vgl. a.a.O. 19]), folgt V i o l e t an dieser Stelle wohl zu Recht der aethiop. Version. Dort ist vom ,Beleben' als dem (sinngemäß: eschatologischen) Werk Gottes die Rede: ,Wenn du sie aber zusammen belebst . . .' (vgl. ArabEw) — eine Aussage, die man nach V. 45 a (vivificans vivificabi + s+) auch erwartet (vgl. 4Esr 7,137; 8,13). — Überzeugend ist in der Rezension V i o l e t s ferner die Wiedergabe von .praesentes' in V. 45 b y (Lat) mit ,die Seienden', denn nur so ergibt sich im Abschluß an V. 43 eine sinnvolle Aussage (siehe dazu bereits oben S. 102f.). 3 Vgl. PsPhilo 19,12: ,Et excitabo te et patres tuos de terra +Egipti+ in qua dormietis, et invenietis s i m u l et inhabitabitis habitationem inmortalem que non tenetur in tempore' (Text nach G. Kisoh, a.a.O. 165). Vgl. auch sBar 30,2 ('akhedä = ,simul'; zu beachten ist der Auferstehungsgedanke in sBar 30,1) und 4Esr 6,20 b (Libri aperientur ante faciem firmamenti et omnes videbunt s i m u l ) . 4 Vgl. die armen. Version. I m lat. Text findet sich an dieser Stelle der (personifizierte) Begriff ,creatura', der hier wohl den Sinn von ,saeculum' annimmt. Darauf läßt V. 44 schließen, wo das (in V. 45 hß auf ,creatura' bezogene) Verb

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

Nun darf nicht übersehen werden, daß sich dieser Beweisgang auf die Frage V. 43 zurückbezieht: Wäre es für Gott nicht möglich gewesen, alle zum (natürlichen) Leben Bestimmten auf einmal zu schaffen (,in unum facere')? Die Berechtigung dieser Frage soll durch die Berufung auf das, was am Ende geschieht (V. 45a), nachgewiesen werden. Esra schließt von dem ,vivificare' als dem eschatologischen Werk Gottes, in dem alle eingeschlossen sein werden, auf ein mögliches, sich auf alle gleichzeitig beziehendes Tun Gottes als des Schöpfers (facere)1. Die Vorstellung, von der die in V. 43 ausgesprochene Frage geleitet ist, mutet phantastisch an 2 . Es wäre jedoch verfehlt, sie als spekulativ abzutun, ohne ihr auf den Grund zu gehen. Auch die Erklärung N. MESSELS, mit „der wunderlichen Frage" wolle der Verfasser des 4Esr „nur eine Gelegenheit zur Einschärfung des Gedankens erhalten, die Menschheit habe ihre bestimmte Zahl von Generationen (nl. ehe der neue Äon erscheinen kann), und diese Zahl sei noch nicht voll" 3 , vermag nicht ganz zufriedenzustellen. N. MESSEL warnt zwar mit Recht davor, den fragenden Seher mit dem Apokalyptiker zu identifizieren: „Die höchste Weisheit des Buches ist das, was Gott spricht, und die ist es eben, die Esra [sc. der Verfasser des 4Esr] verkünden will." 4 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Apokalyptiker seine Konzeption in Auseinandersetzung mit einem ganz anders gearteten Denken expliziert. Darum konfrontiert er die Aussagen des Engels, die im wesentlichen seine eigene Intention erkennen lassen, mit denen des Visionärs, die für die gegnerische Position Zeugnis ablegen 5 . Man wird also auch die Worte Esras auf das ihnen möglicherweise zugrundeliegende Selbstverständnis befragen müssen, um von daher das spezifische Interesse des Apokalyptikers (das sich gerade nicht in den Äußerungen des Visionärs, sondern vornehmlich in denen des ,angelus interpres' ausspricht) ermitteln und die Richtung seines Denkens herausheben zu können. Um zu verstehen, warum sich eine derartige Vorstellung, wie sie von Esra in den VV. 43 und 45 geltend gemacht wird, überhaupt auf,sustinere' (vgl. PsPhilo 7,2) mit ,saeculum' verbunden ist: ,Non potest festinare creatura super creatorem, nec sustinere saeculum, qui in eo creati sunt, in unum' (vgl. auch 4,27: ,non enim capiet [sc. saeculum hoc] portare . . .'). — ,Creatura' hat dagegen in den W . 44. 45 a die gängige Bedeutung , Menschen weit' (vgl. V. 45a Armen: ,omnes humanas creaturas'); siehe dazu N. MESSEL, a.a.O. S. 29ff.; F. ZIMJOSBMANN, J Q R LI, 1960/61,114. 1 Die Wendung ,in unum facere' (aus 7FP HB'5? ? — vgl. VIOL. II, 39 Anm. z. St.) bedeutet: ,auf einmal schaffen' (so H . GUNKEL, bei E. KAUTZSCH, A P II, 363; vgl. die aethiop. Version). VIOLETS Übersetzung ,zusammen tun' (II, 39) verwischt die Korrespondenz zwischen ,facere' (V. 43) und ,vivificare' (V. 45). 2 Das Ungewöhnliche der Fragestellung wird verschiedentlich hervorgehoben (vgl. W. WICHMANN, a.a.O. S. 44; W. MUNDLE, ZAW 47/1929, 236). 3 4 A . a . O . S. 30 Anm. 1. Ebd. 6 S. o. S. 60ff.

Die Neutralisierung der Naherwartung

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drängt, müssen wir das mit ihr eigentlich Gemeinte aufspüren. Welches Anliegen verbirgt sich hinter dem Wunsch nach einer Gleichzeitigkeit aller Weltbewohner (zu beachten ist das in den VV. 43-45 nicht weniger als fünfmal begegnende, betont herausgestellte ,in unum')? Hier ist zunächst auf das von uns bisher übergangene Fragemotiv aufmerksam zu machen: ,ut celerius iudicium tuum ostendas' (V. 43b). Dem Visionär geht es um das beschleunigte Kommen 1 des Endgerichts. Er weiß, daß das ,iudicium Dei' nur unter der Voraussetzung in Erscheinung treten kann, daß zuvor alle zum Leben Bestimmten in diesen Äon eingetreten sind 2 . Wenn nun Gott alle in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft je Lebenden — die Ersten und die Letzten (vgl. V. 41 f.) — auf einmal geschaffen hätte, dann (so räsoniert Esra) wäre die Prämisse für das Erscheinen des Gerichts mit dem Ablauf des (ein und derselben Zeit angehörenden) Lebens aller erfüllt. Die aus der Länge dieses Äons erwachsende Anfechtung 3 wäre nicht nur aufgehoben, sondern von vornherein vermieden. Das zuletzt Gesagte erhellt zwar die Logik des Räsonnements, beantwortet aber noch nicht hinreichend die Frage nach dem eigentlichen Grund einer derartigen Aussage wie der von V. 43 (vgl. V. 45). An welchem Ort läßt sich dasjenige Dasein antreffen, das den Wunsch nach einem Gleichzeitigsein der gesamten Menschenwelt ausspricht und darin die Lösung der eigenen geschichtlichen Problematik erblickt? Die Antwort auf diese Frage liegt auf der H a n d : Wo sich der Gedanke einstellt, es wäre besser gewesen, Gott hätte gleich alle auf einmal ins Leben gerufen — wo also die (mit der Wirklichkeit schlechterdings nicht zu vereinbarende) Fiktion der Gleichzeitigkeit edler Generationen geltend gemacht wird, da erscheint die sich geschichtlich erstreckende Zeit selbst als etwas Anstößiges und Befremdliches. Der Satz Esras ,Nec enim poteras facere, qui facti sunt et qui sunt et qui futuri sunt, in unum . . .' setzt de facto die Erfahrung der Nichtigkeit der Weltgeschichte voraus und bringt eben diese Erfahrung zur Sprache. Er intendiert im Grunde nicht nur die E n t f e r nung' 4 des Abstandes, der vom Ende trennt (,ut celerius iudicium tuum ostendas'), sondern stellt — weit radikaler — den Sinn und die Notwendigkeit dieser Welt-Zeit überhaupt in Frage (vgl. V. 43 Armen: 1 Auf dem .celerius' (vgl. Syr; Aeth; ArabEw — Armen: subito) liegt das Schwergewicht der Aussage. 2 I m Unterschied zu 4 E s r 4 , 3 6 ist in 5,41 ff. also nicht an den ,numerus iustorum' (vgl. sBar30,2), sondern an die Gesamtzahl aller zum Leben Bestimmten gedacht. 3 Bei G. V O L K M A R (a.a.O. 32) tragen die Verse 5,41-54 die Überschrift: „Warum steht das Gericht erst in der Ferne bevor?" 4 „Entfernen besagt [sc. eigentlich] ein Verschwinderunachen der Ferne, d. h. der Entferntheit von etwas, Näherung." ( M . H E I D E G G E R , Sein und Zeit, S. 105).

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

,. . . ut subito praetereat hic mundus'). Dies wird deutlich, wenn man sich klarmacht, daß Esra eigentlich das Ende der als nichtig verstandenen Weltgeschichte in die Zeit des Anfangs vorzuverlegen sucht 1 . Wie stellt sich nun der Apokalyptiker selbst zu der ihm anscheinend von anderer Seite entgegengehaltenen Fiktion? Er läßt die Frage Esras zunächst folgendermaßen beantworten: ,Non potest festinare creatura super creatorem, nec sustinere saeculum, qui in eo creati sunt, in unum' (V. 44). Die hypothetische Erwägung des Sehers wird unter Hinweis auf die unantastbare Souveränität des Schöpfers als abwegig und anmaßend verworfen. Gott läßt sich — was den Ablauf der Zeit dieses Äons und die Aufeinanderfolge der Perioden betrifft — keine Vorschriften machen. Alles geschieht so, wie es im anfänglichen Dekret des Schöpfers bestimmt ist. Esra sollte verstehen, daß der Mensch die einmal getroffene Verfügung des Schöpfers nicht umzustoßen und dem göttlichen Heilsentwurf nicht vorzugreifen vermag. Wer die Notwendigkeit des Nacheinander der Generationen anzweifelt und das gesamte Weltgeschehen um der sofortigen Epiphanie des Endgerichts willen auf ein Minimum zu reduzieren sucht, vergreift sich am Recht und an der unumschränkten Macht des Schöpfers, der diesem (in der Tat unheilvollen) Äon nun einmal eine bestimmte Frist gesetzt hat und seine Aufhebung nicht vor dem Ablauf der festgelegten Zeitenfolge zulassen kann. Dieser Gesichtspunkt wird in den folgenden VV. 46-48 durch ein Gleichnis präzisiert: (Y. 46) Et dixit ad me: Interroga matricem mulieris et dices ad eam: +Decem+ si paris, quare per tempus? Roga ergo eam, ut det decem in unum. (V. 47) Et dixi: Non utique poterit, sed secundum tempus. 1 Auf Grund dieser Erwägungen legt sich wenigstens der Verdacht nahe, daß die Aussagen 4 E s r 5 , 4 3 . 45 möglicherweise ebenfalls eine sich bereits gnostischem Denken nähernde Position repräsentieren. Denn wo diese Welt völlig negiert, der Sinn der Schöpfung von Grund auf in Zweifel gezogen und der Verlauf des innerweltlichen Geschehens als ein letztlich überflüssiges, dem Heil des Menschen sogar abträgliches Zwischenspiel aufgefaßt wird, befindet man sich zumindest in der Nähe eines radikal dualistischen Denkens. •— Vgl. in diesem Zusammenhang die vorwurfsvolle, an den Schöpfer (!) gerichtete Frage Esras 8,14: ,Si ergo perdideris, qui tantis laboribus plasmatus est tuo iussu facili ordine, +et utquid+ fiebat?' — Die hier erwogene Deutung von 5,43. 45 stellt freilich nicht mehr als eine Hypothese dar, die sich nur mit Vorbehalt rechtfertigen läßt. Sie stimmt jedoch mit der Beobachtung überein, daß die vom Seher vorgebrachten Fragen, Klagen und Einwände nicht selten ausgesprochen gnostische Züge aufweisen, wie wir an anderer Stelle zu zeigen versuchten (s. o. S. 42ff. 65ff.).

Die Neutralisierung der Naherwartung (V. 48)

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Etdixitadme: E t ego [te] dedi matricem terrae his, qui seminati sunt super eam per tempus 1 .

Der Vergleichspunkt steckt offensichtlich in dem ,per tempus', das im Griechischen einem xarä xaigov, im Hebräischen einem in»? entspricht2. Die Bildhälfte zeigt seinen Sinn an: Der Mutterschoß kann nicht zehn Kinder auf einmal gebären, sondern er bringt jedes zu seiner Zeit, d. h. nach und nach, zur Welt. Dadurch, daß das Bild von der ,matrix' in den applikativen Teil des Gleichnisses übernommen wurde (V. 48), ist (jedenfalls in der lat. Version) eine klare Entsprechung von Sach- und Bildhälfte nicht mehr ersichtlich. Was gemeint war, läßt sich mit Hilfe eines der beiden arab. Texte (ArabGild) erschließen. Dort ist die Stringenz des Vergleichs gewahrt, wenn es heißt: ,Ebenso ist die Erde; sie gleicht der gebärenden Mutter, welche ihre Kinder nicht auf einmal zu gebären vermag;' (V. 48 — zu ergänzen wäre sinngemäß nach V. 47: ,sondern jedes zu seiner Zeit zur Welt bringt'). Daraus geht hervor: ,terra' und ,matrix' sind insofern miteinander vergleichbar, als beiden ein ,per tempus' zukommt. Sowenig der Mutterschoß fähig ist, alle Kinder zusammen hervorzubringen, sowenig vermag die Erde 3 , alle Geschöpfe auf einmal zu ertragen — oder allgemeiner formuliert: sowenig trifft für die Erde ein ,in unum' zu (vgl. V. 43. 45). In Rücksicht auf das in V. 43—45 Gesagte läßt sich das Fazit positiv auch folgendermaßen formulieren: Wie die Geburt jeweils zu ihrer Zeit Ereignis wird, so geschieht auch in diesem Äon alles zu seiner Zeit. Das heißt m. a. W.: Für den Ablauf der gegenwärtigen Welt-Zeit ist ein bestimmtes Nacheinander konstitutiv. Dieser Gedanke soll wahrscheinlich auch durch den abschließenden Vergleich verdeutlicht werden: ,Quemadmodum enim infans non parit nec ea, quae senuit, adhuc, sie ego disposui a me creatum saeculum' (V. 49). Auch hier ist ein ,per tempus' vorausgesetzt: Mit der gegenwärtigen Welt-Zeit verhält es sich so wie mit der Frau, die nur 1 V. 48 wird von V I O L E T (II, 41) folgendermaßen -wiedergegeben: .Ebenso habe ich die Erde zum (Mutter-)Schoß gemacht für die, die von Zeit zu Zeit auf sie +kommen sollten+.' Zur Begründung verweist er (ebd. Anm. z. St.) darauf, daß ,dedi (matricem terrae)' aus J]3 (mit doppeltem Akk. = machen zu) erklärt werden könne (ebenso H . GTTNEEL, bei E. K A U T Z S C H , AP II, 363; Box, bei R. H. C H A B L E S , AP II, 573 [beide lesen statt .terrae' mit Syr .terram'] — vgl. jedoch N . M E S S E L , a.a.O. S. 31 Anm. 1). 2 Die im Original vorauszusetzende Wendung iflV3 (zu seiner Zeit, zur rechten Zeit [vgl. z.B. Dt 11,14]) wird nur 4Esr 5,47 mit .secundum tempus' wiedergegeben. Sonst heißt es ,per tempus' (4Esr 5,46. 48; 11,8; 13,57) oder ,in tempore' ( 4 E s r 3 , 9 ; 8 , 4 1 . 4 3 ; 10,16; 11,20; 14,32). ,Secundum tempus' scheint eine Analogiebildung zu ,per tempus' zu sein. Daher ist es überflüssig, mit G . V O L K M A R ( a . a . O . 33) ,per (tempus)' zu konjizieren. 3 Das Bild von der ,matrix' fordert ,terra' als Entsprechungswort (vgl. Gen 1,24). In V. 49 erscheint wieder ,saeculujn' (vgl. V. 44).

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablauts

zu ihrer Zeit fähig ist, Kinder zu bekommen. Dies besagt: In diesem Äon geschieht alles nach Maßgabe einer von Gott im voraus fixierten Reihenfolge (vgl. die aeth. Version von V. 49: ,Und wie das Kind niemals +gebären+ kann, noch die, welche alt geworden ist, ebenso habe auch ich g e m ä ß i h r e r Z e i t die Welt angeordnet, die ich geschaffen habe' — ,similiter et ego disposui per tempus mundum quem creavi' 1 ). „Der Weltplan Gottes ist von Anfang an genau und bis ins einzelne geregelt und es verläuft alles mit der Notwendigkeit einer Maschine . . .", so charakterisiert VOLZ 2 treffend die apokalyptische Zeitauffassung. In dem Offenbarungswort 4Esr 5,46-49 hat diese Konzeption, nach der der Verlauf dieses Äons durch den Plan Gottes determiniert ist, ihren prägnanten Ausdruck gefunden. Damit ist die Frage Esras zureichend beantwortet. Der Visionär wird auf die unergründliche Disposition des Schöpfers verwiesen, nach der sich alles mit Notwendigkeit zeitigt. „Es gilt im göttlichen Haushalt der große Grundsatz: alles hat seine Zeit und alles hat sein Maß, das Große und das Kleine, das Weltganze und seine Teile, räumlich betrachtet und zeitlich betrachtet; alles hat seinen Tag, seine bestimmte Stunde, seine Zeitdauer; so auch die eschatologischen Akte und das Ende." 3 Der Verfasser der armen. Übersetzung hat diesen Grundsatz apokalyptischen Denkens im Vergleich mit den übrigen Versionen von 4Esr 5,43 ff. noch schärfer akzentuiert. So ergänzt er das Diktum des Offenbarers V. 44 durch den Zusatz: ,Scio, quod decrevit Altissimus secundum tempus et in tempore facere, quidquid futurum sit et (non possunt festinare creaturae . . .)' und fügt in V. 48 die Worte an: ,(Itidem et terra non potest hoc facere, quoniam utero similis est) et tempora constituere [non potest] et iussa est in obedientia stare'. Obwohl diese Sätze wohl als sekundäre Erweiterungen des ursprünglichen Textes zu beurteilen sind, ist einzuräumen, daß sie mit der Intention des Apokalyptikers übereinstimmen und seine Auf1

Nach A. HILGENFELD, Messias Judaeorum, 274. A.a.O. 141. — Nach N. N. GLATZEB (Untersuchungen zur Geschichtslehre der Tannaiten, S. 20) erscheint in 4Esr „der Plan Gottes, von dem immer wieder die Rede ist, als etwas Starres, von einer blinden Notwendigkeit geleitet, und Gott selbst nur als der Verwalter dieser Notwendigkeit". Vorsichtiger urteilt P. VOLZ: Die apokalyptischen Zeitbestimmungen „stehen zwar nicht über Gott als höhere Notwendigkeit, denn sie stammen von Gott; aber Gott ändert nichts an seinen Festsetzungen . . ." (a.a.O. S. 140). Die v o n D . RÖSSLER (a.a.O. S. 59f. [vgl. ebd. S. 59 Anm. 4]) gegen diese Auffassung vorgebrachten Argumente sind ebensowenig überzeugend wie seine eigene Interpretation der apokalyptischen Vorstellung v o m Geschichtsplan. Die von ihm angeführten Belege vermögen die Beweislast für seine These nicht zu tragen (zur Kritik der Position D. RÖSSLEKS siehe bereits oben S. 142). 3 P. VOLZ, a.a.O. S. 138; vgl. ebd. S. 140: „An diesen Zeit- und Maßbestimmungen kann niemand etwas ändern und niemand kann gegen sie etwas machen." 2

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fassung sachgemäß explizieren. Sie unterstreichen, daß sich das gesamte Weltgeschehen nach einer dem göttlichen Dekret entsprechenden Gesetzmäßigkeit vollzieht. Der Ablauf der Zeiten läßt sich nicht forcieren (vgl. V. 44 ArabEw: ,Die geschaffenen Kreaturen haben über die Beschleunigung der Dinge nicht mehr Macht als der Schöpfer . . .'). Die Offenbarung des Judicium Dei', von dem zu erwarten ist, daß es die Frevler dem Verderben ausliefern, die Gerechten aber der Ernte ihres Lohns zuführen wird, kann nicht erzwungen werden. Alles nimmt seinen Lauf, wie es nach dem anfänglichen Entschluß des Schöpfers vorgesehen ist. In der Aufeinanderfolge der Zeiten waltet eine Notwendigkeit, die — weil sie in dem verborgenen Plan Gottes gründet — dem menschlichen Einblick verschlossen bleibt. Der Seher wird also auch hier nicht vorbehaltlos der Nähe des umgehend in Erscheinung tretenden Gerichtes Gottes vergewissert, sondern über die in den geschichtlichen Abläufen verborgen herrschende Notwendigkeit belehrt: Alles geschieht so, wie es geschehen muß. Damit ist keineswegs in Abrede gestellt, daß der Lohnempfang der Gerechten tatsächlich von dem Vergehen des ,saeculum hoc' abhängt: Der unmittelbare Zugang zum Heil ist so lange verlegt, wie der gegenwärtige, durch Adams Sünde zustandegekommene Äon fortbesteht. Dem Apokalyptiker geht es lediglich darum, die sich in den Worten Esras bekundende Zeiteinstellung durch den Gedanken zu widerlegen, daß die Gesamtdauer der heillosen Zeit dieses Äons bereits am Anfang festgelegt wurde. Die endzeitliche ,Versiegelung' dieser Welt-Zeit, ,die vergehen soll' (4Esr 6,20), tritt erstein, wenn die vorherbestimmte Generationenfolge abgeschlossen, der prästabilierte numerus iustorum' erreicht, das bestimmte Maß der Zeiten erfüllt (vgl. 4Esr 4,36f.) und die Erniedrigung Zions vollendet sein wird1 (,quando

suppleta fuerit humilitas Sion' — 4Esr 6,19; vgl. Dan 9,24) 2 . 1 Vgl. L. VAGAUAY, a.a.O. S. 68f.: "Toutefois les jours qui précéderont la fin ne seront pas abrégés. Personne ne peut rien changer au cours du monde tel qu'il a été fixé dès le principe. Dieu lui-même ne peut modifier ses arrêts . . . Nous lisons cependant au chapitre IV, 26: ,Saeculum festinans festinat prœterire'. Volz a cru découvrir dans ce passage l'enseignement de 'l'abréviation des temps' avant la période messianique . . . C'est peut-être exagérer la portée du texte. L'auteur ne semble pas avoir en vue autre chose que la proximité de la fin du monde. Il répète d'ailleurs plusieurs fois dans la suite que rien ne peut avancer ou retarder 'le grand jour du jugement', pas même les péchés des habitants de la terre (IV, 38-43)." 2 Im folgenden Abschnitt (4Esr 5,50-55) wird dem Seher zwar mit Hilfe eines Gleichnisses bedeutet, daß die Schöpfung (Lat: ,creatura' — Armen: ,terra') bereits gealtert ist und ihre Jugendkraft überschritten hat (5,55; vgl. 14, lOff. 16). Doch läßt auch diese bewußt zurückhaltend formulierte Behauptung der Nähe des Endes die Terminfrage letztlich offen. Der ,Alterstod' dieses Äons wird als nicht mehr fern in Aussicht gestellt, aber er ist jetzt eben

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

3. Dieser Äon als notwendiges Durchgangsstadium,

(4Esr

6,59-7,16)

In die gleiche Richtung weist auch die Antwort, die dem an der Verläßlichkeit des ,verbum Dei' zweifelnden und die Wahrheit der göttlichen Verheißung in Frage stellenden Visionär 7,3b-16 zuteil wird. Dieser an anderer Stelle bereits herangezogene Abschnitt1 ist hier noch einmal zu berücksichtigen, weil er ebenfalls mit der Frage nach der Dauer dieses Äons zusammenhängt. Wir erinnern uns, daß die Klage Esras 6,55-59 2 mit den Worten ausklang: ,Et si propter nos creatum est saeculum, quare non hereditatem possidemus nostrum saeculum? Usquequo haec?' (6,59) RÖSSLER hat die Ansicht vertreten, die folgenden Äußerungen des ,angelus interpres' (7,2-25) nähmen nur auf den ersten Teil der Frage des Sehers Bezug (,warum haben wir nicht diese unsere Welt im Besitz?'3), während der zweite Teil (,wie lange soll es so bleiben?'3) erst 7,26ff. — nämlich „mit einer eingehenden Schilderung des Weltgerichts" — beantwortet werde4. noch nicht erreicht. — Man wird außerdem nicht übersehen dürfen, daß die Ankündigung des ,Bald' (wie in 4 E s r 4,44-50) durch den zuvor geltend gem a c h t e n Gedanken der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs (5,43-49; vgl. 4,34-43) eingeschränkt u n d entschärft ist (vgl. auch die Prädestinationsaussagen des folgenden Abschnitts 6,1-6 [siehe dazu E. M E Y E R , Ursprung u n d Anfänge des Christentums, Bd. I I , S. 343]; V I O L E T [II, 43 Anm. zu 5,56 u n d 6,1] vermutet, daß der Abschnitt ursprünglich vielleicht auf die Wann-Frage antworten sollte [vgl. die armen. Version], I n diesem Fall wären allerdings die W . 1 u n d 6 der vorliegenden Textfassimg als sekundär zu beurteilen). — I n diesem Zusammenhang verdient auch die Beantwortung der Frage n a c h der Äonenwende in 4 E s r 6,7-10 Beachtung. Möglicherweise ist die Allegorie von der gehaltenen Ferse Esaus (vgl. 6,8ff.) ebenfalls von der Tendenz bestimmt, die eschatologische E r w a r t u n g zu retardieren. Wie A. S T B O B E L (Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 37ff.) gezeigt h a t , scheint auch an dieser Stelle „der Gedanke vom Aufhalten der E n d z e i t " anzuklingen (ebd. S. 38): „Die Gedanken kreisen in eigentümlicher Weise u m das Bild der gehaltenen Ferse (Dp^)' . . . Tatsächlich findet sich die Gleichsetzung von ,Ferse' u n d .Letztes E n d e der Weltzeit' in der rabbinischen Überlieferung a n verschiedenen Stellen vollzogen. Die Beziehung konnte hergestellt werden, wenn der Begriff der Ferse (als ,Gekrümmte') f ü r semitisches Denken t a t sächlich die Bedeutung des Hemmens, Hinderns oder Aufhaltens in sich schloß. Aber auch abgesehen davon bietet sie sich irgendwie f ü r eine auf Assoziationen beruhende Beweisführung, welche in der Synagoge die übliche war, an. F ü r den W o r t s t a m m 3 P 5 7 ist 3 D S ? ein ebenbürtiges Äquivalent. Letzterer Begriff wird bei den Rabbinen bevorzugt f ü r die Aussage über das ,Zurückgehaltenwerden' der messianischen Zeit bzw. f ü r die Aussagen, d a ß Gott vorläufig an sich hält, a n diesem vergehenden Äon zur Zeit noch festhält. Die Sekte vom Toten Meer wußte darum, daß sich f ü r die Frommen das E n d e hinauszieht u n d die letzte Zeit von Gott noch angehalten wird. K ö n n t e nicht auch IV. Esra mit der vielsagenden Allegorie auf diese Vorstellung Bezug nehmen ? Spielt nicht gerade auch in seiner Vorstellungswelt das Bild von der im Mutterleibe zurückgehaltenen F r u c h t eine besondere Rolle?" (Ebd. S. 38f. [zu 4Esr 6,8ff. vgl. auch F . ZIMM E R M A N N , J Q R LI, 1960/61, 126f.]) 1 2 S. o. S. 106ff. Siehe dazu oben S. 23ff. 3 Text nach H . G U N K E L , bei E . K A U T Z S C H , A P I I , 3 6 8 . 4 A . a . O . S. 76.

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Diese These hält einer näheren Nachprüfung nicht stand. Das in 7,26ff. Gesagte ist schwerlich als Antwort auf das ,usquequo haec' aufzufassen, da Esra dort keineswegs eine Belehrung über die Dauer der gegenwärtigen Welt-Zeit empfängt, sondern darüber aufgeklärt wird, was am Ende und nach dem Ende dieses Äons geschehen soll1. Es wäre außerdem merkwürdig, wenn der Verfasser die zweite Frage des Sehers erst nach einem längeren Zwischenstück beantworten ließe, ohne den Leser eigens darauf hinzuweisen. Unterzieht man den Abschnitt 7,3b-16 einer genaueren Analyse, so zeigt sich, daß hier bereits beide Fragen Esras berücksichtigt werden. Dieser Sachverhalt wird nur dadurch verschleiert, daß die dem ,quare' geltende Erwiderung mit derjenigen, die das ,usquequo' betrifft, verschränkt ist. Der Offenbarungsengel beantwortet die 6,59 ausgesprochene Klage zunächst mit zwei Gleichnissen. Das erste Gleichnis (7,3b-5) erzählt von einem weiten Meer, das nur einen engen, flußähnlichen Zugang besitzt: , Wenn nun jemand darauf aus wäre, zu jenem Meer zu gelangen, um es anzusehen oder zu +befahren+2, wie könnte er die Weite erreichen, ohne vorher die Enge durchquert zu habenV (V. 5) 3 Das zweite Gleichnis

(7,6-10a) handelt von einer in einer Ebene befindlichen reichen Stadt, die nur über einen schmalen und gefährlichen Pfad zu erreichen ist: Gesetzt den Fall, jene Stadt wäre einem Mann als Erbteil hinterlassen, wie könnte der Erbe sein Erbteil antreten, ohne zuvor den Engpaß

durchschritten zu habenV (V. 9)4 In beiden Gleichnissen wird auf eine Enge abgehoben, die den glatten Zugang zu einem erstrebenswerten Ziel (Meer, Stadt) verlegt. Beide Gleichnisse kulminieren in ähnlichen Fragen, in denen zum Ausdruck gebracht wird, daß das Durchqueren der Enge die notwendige Voraussetzung für das Erreichen der Weite (bzw. des Erbes) darstellt. Das in den Konditionalsätzen V. 5 und V. 9 steckende temporale Moment (vgl. die armen. Version) darf nicht übersehen werden: Man gelangt erst dann zur Weite des Meeres, wenn zuvor der enge Zugang passiert wurde — der Erbe der reichen Stadt tritt erst dann seine Erbschaft an, wenn er vorher den Engpaß durchschritten und die Gefahren des Abgrunds bestanden hat. Was mit den beiden Gleichnissen demonstriert werden soll, geht deutlich aus der folgenden Anwendung hervor (7,10b-14). Dort wird 1 Der Abschnitt 4Esr7,26ff. bezieht sieh also nicht auf ein ,usquequo?', sondern auf ein ,quid?'. Dem Seher wird vor Augen geführt, was geschieht, wenn das Ende geschieht: ,Denn siehe, es werden Tage kommen, da die Zeichen gesehen werden, die ich dir gesagt habe, und verborgen wird die Stadt, die jetzt erscheint usf.' (7,26 Aeth). 2 Vgl. H. G r a m , bei E. K A U T Z S C H , AP II, 368 Anm. t. 3 ,. . . si non (Armen ergänzt: a n t e a ) transierit angustum, in latitudinem venire quomodo poterit*. 4 Armen: ,si non, qui volet illud haereditate accipere, a n t e a transeat per augustum, non potest acquirere haereditatem.'

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

zunächst — wie bereits erwähnt1 — Adams Gebotsübertretung dafür verantwortlich gemacht, daß Israel das verheißene Erbe vorenthalten wurde. Denn Adams Sünde hatte zur Folge, daß Gott die Schöpfung seinem Gericht unterwarf: Da wurden die Wege dieses Äons eng (angusti), mühevoll und schmerzbeladen, mit Leiden und Trübsal behaftet (vgl. V. 12). Damit ist die einleitende Warum-Frage Esras definitiv beantwortet. Der Offenbarer macht den Seher jedoch sofort darauf aufmerksam, daß die Israel gegebene Zusage nicht für immer und endgültig abrogiert, sondern daß das verheißene Heil lediglich aus diesem Äon entfernt und in die Jenseitigkeit und „Künftigkeit des kommenden Äon verlegt wurde" 2 : ,Aber die +Wege+ des künftigen Äons sind breit und geschützt und bringen Frucht der Unsterblichkeit' (V. 13)3. Das Erbe Israels bleibt bestehen, denn „die Künftigkeit des Heiles bedeutet ja gerade nicht seine Aufhebung" 4 . Allerdings hängt der Gewinn des Heils nun vordringlich davon ab, daß zunächst die Enge dieses Äons durchquert wird: ,Bevor also die Lebenden nicht wirklich eingegangen sind in diese Engen und Nöte, können sie nicht empfangen, was ihnen aufbewahrt ist' (Si ergo non ingredientes ingressi fuerint, qui vivunt, angusta et vana, haec non poterunt recipere, quae sunt reposita [V. 14]). Damit ist der Anschluß an die W . 3b-10a hergestellt; denn gerade zu der in V. 14 unverhüllt ausgesprochenen Erkenntnis suchten ja die zuvor genannten Gleichnisse zu verhelfen. Der Offenbarer will dem Seher die Einsicht vermitteln, daß dieser Äon ein zwar notvolles, aber doch notwendiges Durchgangsstadium darstellt: Die Heilsgaben, die im künftigen Äon bereitliegen (,quae sunt reposita'), werden erst dann zugänglich gemacht, wenn die Lebenden durch die Drangsale und Übel dieses Äons hindurchgegangen sind. Es ist nicht zu verkennen, daß diese Auskunft zumindest eine indirekte Antwort auf das ,usquequo haec' (6,59b) enthält. Esra wird darüber belehrt, daß die sich in die Länge ziehende „arge W e l t . . . der notwendige Durchgang für die kommende gute" 6 ist und daß die Heilsgüter, die Gott den Seinen vorbehalten hat, infolge der Sünde Adams erst dann empfangen werden können, wenn die Menschen sich den Mühen und Nöten dieses Äons unterworfen haben8. Das bisher Gesagte läßt sich möglicherweise noch durch eine weitere Überlegung erhärten und präzisieren. Der Verfasser von 4Esr 1

S. o. S. 106ff.

2

D. RÖSSLER, a.a.O. S. 74.

3

Zum Text s. o. S. 107 Anm. 3. 4; S. 108 Anm. 3.

4

D . RÖSSLEB, ebd. H . GUNKEL, bei E . KAUTZSCH, A P I I , 368 ( Ü b e r s c h r i f t zu 7,1-16).

5

Daß V. 14 insbesondere auf die zweite Frage des Sehers Bezug nimmt, hat der Verfasser der armen. Übersetzung klar erkannt: ,Nam si +non+ prius introibunt per angustum et tenuem tramitem huius mundi, et ingressi non longamines [oder: patientes] erunt, non acquirent paratam iis felicitatem, quae ante mundum erat.' 6

Die Neutralisierung der Naherwartung

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äußert verschiedentlich die Ansicht, daß die Seelen der Gerechten bis zum Tag des Gerichts in Kammern aufbewahrt werden1 und ihren Lohn erst dann in Empfang nehmen können, wenn die Zeit dieses Äons endgültig abgelaufen ist 2 . Insofern wird auch 7,14 nicht die Meinimg vorliegen, daß jeder, der das leidvolle Dasein in diesem Äon hinter sich gebracht hat, sofort nach seinem Tod in den Genuß der von Gott bereitgehaltenen Heilsgaben gelangt. Vielmehr dürfte der Gedanke vorschweben, daß der Zugang zum eschatobgischen Heil erst dann freigegeben wird, wenn alle Generationen in der vorgesehenen Reihenfolge die Enge dieses Äons durchquert haben3. Sollte diese Deutung des Textes zutreffen, dann suchte der Apokalyptiker die Fragen nach dem Termin des Endes und nach der Dauer der gegenwärtigen Unheilszeit auch an dieser Stelle durch den Hinweis auf den unergründlichen göttlichen Plan zu unterlaufen. Bevor die Heilszeit in Erscheinung treten kann, müssen alle von Gott zum geschichtlichen Dasein berufenen Menschen die Bedrängnisse und Nöte dieses Äons durchlitten haben. Angesichts dieser Notwendigkeit erscheint es als ein ebenso fragwürdiges wie überflüssiges Unterfangen, die Frage ,wie lange noch?' überhaupt aufzuwerfen. Denn kein Mensch kennt die Zahl derjenigen, denen die Durchquerung der Engen dieses Äons auferlegt ist 4 . Es ist müßig, den Blick gebannt auf die unseligen Verhältnisse dieses Äons zu richten und nach dem Termin ihrer Aufhebung Ausschau zu halten, weil allein Gott der Folge der Generationen ansichtig ist, die diesen unheilvollen Äon durchlaufen müssen. Von daher wird einsichtig, daß die Belehrung des Offenbarers mit den vorwurfsvollen Worten ausklingt: .Warum betrübst du dich also, +daß+ du vergänglich bist? warum erregst du dich, +daß+ du sterblich bist? / Warum n i m m s t du dir n i c h t die Z u k u n f t zu H e r z e n , s o n d e r n nur die Gegenwart?' (7,15f.) 5 Das ,corruptibilis (mortalis) esse' des Menschen gehört zum Ungemach dieses Äons, dem alle Geschöpfe zwangsläufig unterworfen sind. Darum sollte sich Esra nicht durch das Faktum der Vergänglichkeit und des Todes beeindrucken lassen, sondern seine Hoffnung auf den künftigen Äon setzen, der zu seiner Zeit hereinbrechen wird und von dem mit Sicherheit zu erwarten ist, daß er Früchte der Unsterblichkeit mit sich bringt (vgl. V. 13)®. 1 2 3 4 5

6

Belege sind oben S. 125 Anm. 2 angeführt. Vgl. 4Esr 4,36f. (siehe dazu oben S. 276-287). Vgl. 4Esr 5,43-49 (siehe dazu oben S. 293-301). Vgl. sBar 23,3-5 (s. u. S. 312ff.). Text nach H. GUNKEL, bei E. KAUTZSCH, A P II, 369.

In V. 15 könnte allerdings auch eine Anspielung auf die zuvor geäußerte Befürchtung Esras vorliegen, noch vor Anbruch der Endzeit sterben zu müssen (vgl. 4,24. 33. 51). In diesem Fall zielten die Aussagen in V. 15f. insonderheit 20 Harnisch, Verhängnis

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Zusammenfassend läßt sich sagen: Der Verfasser beantwortet die Frage ,usquequo haec?' indirekt damit, daß er das ,saeculum hoc' als ein notwendiges Durchgangsstadium zu begreifen lehrt, das zunächst von allen passiert werden muß. Die Dauer dieses Äons bemißt sich nach der vorherbestimmten Zahl der Generationen, denen das Durchleiden der Widrigkeiten und Übel der gegenwärtigen WeltZeit auferlegt ist. Bevor nicht alle ,Weltbewohner' die Engpässe dieses Äons durchquert haben, kann niemand in den Besitz des Erbes gelangen, das einst Israel verheißen wurde. Die Aussage 4Esr 7,14 (vgl. 7,3b-10a) ordnet sich damit zwanglos in die Reihe der zuvor behandelten Texte ein, in denen der Gedanke der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs ebenfalls von ausschlaggebender Bedeutung war. 4. Die theozentrische Zeitauffassung in sBar Noch stärker als in 4Esr steht in sBar die Wann-Frage im Vordergrund des Interesses. Da hier das über Zion verhängte Unheil von Anfang an auf Gott selbst zurückgeführt und als ein befristetes Geschehen ausgegeben wird 1 , spielt die Frage nach dem Termin des Endes naturgemäß eine weitaus größere Rolle als die in 4Esr dominierende, Sinn und Wert der Verheißung überhaupt in Zweifel ziehende Warum-Frage. Es wird sich zeigen, daß der Verfasser von sBar eine ganz ähnliche Antwort auf die Frage nach dem ,Wann?' bereithält wie der Autor der Esraapokalypse. Wir werfen zunächst einen Blick auf den Dialog sBar 16-20,2, der mit der Klage Baruchs beginnt: ,Herr, Herr, sieh, unsere Jahre sind jetzt (so) wenig und böse; und wer kann in dieser Kürze das Unermeßliche erben?' (16) Wie ein Vergleich mit der Sachparallele 4Esr 4,33 zeigt, sind diese Worte von der Skepsis diktiert. Von ihr läßt sich Baruch dazu verleiten, die Möglichkeit zu erwägen, daß der Anbruch der Heilszeit über seine knapp bemessene Lebensfrist hinausliegen könnte 2 . Der Verfasser sucht das damit gestellte Problem des darauf ab, den Seher von der Belanglosigkeit seines (vorzeitigen) Todes zu überzeugen. Wenn die Sterblichkeit des Menschen zu den Verhängnissen dieses Äons zu zählen ist, die in der künftigen Heilszeit aufgehoben sein werden, dann spielt die Frage, ob Esra noch vor dem Ende vom Tod ereilt wird, letztlich 1 keine Rolle mehr. S. o. S. 73. 2 In der Frage könnte allerdings auch generell darauf abgehoben sein, daß die kurze Lebensfrist den Menschen daran hindert, die zum Erwerb des Heils erforderliche Qualifikation zu erreichen. In diesem Sinn scheint E. S J Ö B E R G den Text aufzufassen: „Auch das kurze Leben des Menschen, das nicht die Möglichkeit gäbe, das unermeßlich Große der kommenden Seligkeit zu erwerben, ist keine Entschuldigung." (Gott und die Sünder im palästinischen Judentum, S. 2 3 1 Anm. 3 ; vgl. auch E. B R A N D E N B U R G E R , a.a.O. S. 3 6 ) Berück-

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,vorzeitigen' Todes zunächst durch die Behauptung zu bagatellisieren, die Länge der Lebenszeit des Menschen sei im Blick auf seine Stellung vor Gott völlig belanglos: ,Nicht gelten bei dem Höchsten lange Zeit noch auch kurze Jahre!' (17,1) Diese These wird im folgenden an Hand einer Gegenüberstellung von Adam und Mose verdeutlicht: Sowenig Adam einen Nutzen daraus zog, daß er 930 Jahre am Leben blieb (er verschuldete ja durch seinen Ungehorsam das Todesverhängnis und verkürzte die Jahre seiner Nachkommen), sowenig hat es Mose geschadet, daß seine Lebensfrist nur 120 Jahre betrug (denn er wurde auf Grund seines Gehorsams gewürdigt, Israel das Gesetz zu vermitteln [vgl. 17,2-4]) 1 . Damit ist erwiesen, daß die Geltung des Menschen vor Gott einzig und allein von der gehorsamen Erfüllung des göttlichen Willens, nicht aber von der Länge der Lebenszeit abhängt (vgl. Weish 4,7ff.!). Der Apokalyptiker überspielt also das sich in der Klage sBar 16 bekundende Interesse am Termin des Eschaton, indem er die Frage, ob der Heilsgewinn nicht durch die Kürze des Lebens in Zweifel gestellt sei, abblendet und statt dessen das Problem des rechten Gehorsams in den Vordergrund rückt (vgl. 18,1 f.; 19,1 ff.). Schon daran läßt sich möglicherweise ablesen, daß er selbst nicht mehr ernstlich von der Nähe des Heils überzeugt ist; denn die „Frage der Ethik wird dort wieder beherrschend, wo die präsentische Eschatologie verblaßt und nur noch die Erwartung des strengen, individuellen Gerichtes bleibt" 2 . Die Schlußsätze des Abschnitts scheinen allerdings eine andere Beurteilung der Einstellung des Verfassers zu fordern. Dem Seher wird dort nämlich folgende, an 4 E s r 4 , 2 6 c (vgl. PsPhilo 19,13) erinnernde eschatologische Belehrung zuteil (20,1 f.): (V. 1) ,Denn siehe, es kommen Tage, da werden die Zeiten mehr eilen als die vorigen, und die Fristen rascher laufen als die vergangenen, und die Jahre schneller entschwinden als die jetzigen! (V. 2) Deshalb habe ich jetzt Zion entrückt, auf daß ich mehr eile und die Welt zu ihrer Zeit heimsuche.13

Baruch erhält zunächst eine Aufklärung darüber, daß in der Frist vor dem Ende alles Geschehen in komprimierter Weise ablaufen und vergehen soll (vgl. 48,30b. 31) 4 . Das Kommen und Gehen der Jahre sichtigt man jedoch die Sachparallele 4 E s r 4 , 3 3 als Interpretationskriterium, dürfte der oben erwogenen Deutung von sBar 16 der Vorzug gebühren. Sie erscheint jedenfalls als ebensogut vertretbar. 1 Siehe dazu auch oben S. 115f. 202f. 2 P. S T U H L M A C H E R , Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, S . 173 (zu 4Esr). 3 Zur Übersetzung des Textes vgl. V I O L . I I , 2 3 0 und ebd. Anm. z. St. 4 Die Einleitung ,es kommen Tage, da . . .' kennzeichnet den eschatologischen Akzent der Belehrung. Die Wendung dient häufig als Einführung einer Endzeitschilderung (vgl. z.B. 4Esr 5,1; 6,18; sBar 24,1; 31,5). Zur alttestament20*

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wird sich dann — im Unterschied zur gesamten vorhergehenden Zeit — überschlagen, die Zeitbewegung eine unvorstellbare Geschwindigkeit annehmen 1 . V. 2 unterstreicht, daß dieser Prozeß durch das gegenwärtige Unglück Jerusalems 2 nicht etwa beeinträchtigt oder aufgehalten, sondern im Gegenteil sogar gefördert wird: Gott hat Zion den Seinen entrissen, um desto eiliger die Welt heimsuchen 3 zu können. Die Katastrophe Zions beweist also keineswegs die Ohnmacht des göttlichen Wortes, wie die Skepsis behauptet, sondern entspricht vielmehr der Absicht des Höchsten, das Ende nun beschleunigt herbeizuführen. Man wird indessen nicht übersehen dürfen, daß die Ankündigung des ,B a ld' auch an dieser Stelle einem Vorbehalt unterliegt. Der Apokalyptiker versäumt nicht, darauf hinzuweisen, daß die Welt zu ihrer Zeit (bezabneh) heimgesucht werden soll. Die durch die Entrückung Zions ermöglichte ,Eile' Gottes, die den beschleunigten Verlauf der folgenden endzeitlichen Ereignisse allererst verursacht, hat ihr eigenes Maß und ihre eigene Gesetzlichkeit 4 . Damit ist der nahelichen Vorgeschichte des Ausdrucks vgl. G. v. Bad, ThW II, 945ff. (bes. 948f.); vgl. außerdem H. Gbessmajstn, Der Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie, S. 141 ff.; S. Mowinckel, Psalmenstudien, Bd. II, S. 229ff.; P. Volz, a.a.O. S. 163ff.; O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, 2. Aufl. 1963, S. 30, und ebd. Anm. 27; K.-D. Schunck, Strukturlinien in der Entwicklung der Vorstellung vom ,Tag Jahwes', VT XIV/1964, 319ff. 1 Es liegt nahe, sBar 20,1 f. ausschließlich auf die Schrecken der Endzeit zu beziehen, die Gott in barmherziger Weise beschleunigt vorübergehen läßt, um die Seinen zu schonen (vgl. die Frage des Sehers sBar 26: ,Wird denn die künftige Bedrängnis lange Zeit dauern, (und) jene Not wohl viele Jahre anhalten?' — vgl. auch die Vorstellung der Amputation der Zeit Mk 13,20 [siehe dazu oben S. 272 Anm. 4]). Aber die letzte Drangsal ist nach apokalyptischer Anschauung nur die äußerste Verdichtung einer als Leiden verstandenen Geschichte. Insofern handelt es sich in sBar 20,1 f. im Grunde nicht nur um ein schnelles Verstreichen der mit furchtbaren Ereignissen erfüllten Zeit vor dem Ende, sondern um das beschleunigte Vorbei der immer schon als Passion verstandenen Geschichte im ganzen (vgl. auch A. Funkenstein, a.a.O. S. 57: „Für die Apokalyptik . . . ist die Endzeit die radikale Steigerung der mala und ihre plötzliche Überwindung; das eschatologische Drama setzt unvorbereitet ein, oder anders: nur innerhalb der letzten Zeitabschnitte kennt die Apokalyptik eine .Vorbereitung' der bevorstehenden Aufhebung von Natur und Geschichte.") 2 Gedacht ist ohne Zweifel an die Katastrophe der zweiten Tepipelzerstörung (vgl. C. Clemen, Die Zusammensetzung des Buches Henoch, der Apokalypse des Baruch und des vierten Buches Esra, ThStKr LXXI/1898, 233). Der fiktive Rahmen der Apokalypse ist an dieser Stelle durchbrochen. 3 .Heimsuchen' ist terminus technicus für Gottes Kommen zum eschatologischen Akt (vgl. P. Volz, a.a.O. S. 164f.) und wird im Syrischen entweder durch se'ar (so an der oben besprochenen Stelle sBar 20,2) oder durch peqad ppD] (sBar 24,4; 54,17; 83,2 — vgl. die syr. Version von 4Esr 5,56 und 9,2) wiedergegeben. In 4Esr 6,I8f. (Syr) erscheinen beide Verben in paralleler Stellung. Im Lateinischen findet sich durchgängig das Verb ,visitare' (vgl. 4Esr 5,56; 6,18; 9,2 [ebenso PsPhilo 19,12; 26,13 u. ö.]). 4 Dieselbe Verklammerung des Gedankens der Beschleunigung mit dem des Bestimmtseins der Zeit findet sich Jes 60,22b (siehe bereits oben S. 273 Anm. 2).

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liegende Gedanke, daß das Ende infolge der intensivierten Bewegung der Zeiten vorfristig eintreten könnte, von vornherein abgebogen. Das eschatologische Ereignis der Machtergreifung Gottes kann nicht vor dem festgesetzten Zeitpunkt stattfinden. Es ist zu vermuten, daß der Apokalyptiker mit dem bezabneh überspitzte Erwartungen zu dämpfen sucht. Er bemüht sich zwar einerseits darum, den Niedergang Jerusalems auf die göttliche Geschichtslenkung zurückzuführen, macht aber andererseits einschränkend geltend, daß der letzte eschatologische Akt zu der allein Gott vorbehaltenen Zeit, unabhängig von aller menschlichen Kalkulation, herbeigeführt werden wird. Die in dem bezabneh 20,2 nur anklingende theozentrische Zeitauffassung wird 22,1-24,2 ausdrücklich zur Geltung gebracht. Die Aussagen des Abschnitts sind von derselben Tendenz bestimmt, die in 4Esr zu beobachten war. Sie zeigen, daß der Verfasser von sBar ebenfalls den Gedanken der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs in Ansatz bringt, um die eschatologische Erwartung von aller Terminspekulation zu befreien und damit zu entschärfen. Baruch hatte zuvor in einem breit angelegten Gebet (21,4—25) die Frage nach der Dauer der unheilvollen Zeit dieses Äons aufgeworfen (,Bis w a n n bleibt bestehen das Vergängliche und bis w a n n dauert fort der Sterblichen Zeit? und w i e l a n g e Zeit werden die Weltwanderer sich besudeln mit vielem Frevel?') und unter Berufung auf die göttliche Barmherzigkeit die Bitte geäußert, Gott solle doch endlich seinen Machterweis antreten und seine Herrlichkeit öffentlich unter Beweis stellen: ,So befiehl doch in Gnaden [in misericordia] u n d stell her, was d u bringen wolltest [eigentlich: zu bringen g e s a g t hast]; auf d a ß deine K r a f t b e k a n n t werde denen, die wähnen, daß deine Langmut Schwäche sei . . . So +nimm weg4- n u n das sterbliche Wesen, u n d schilt jetzt den Engel des Todes; es zeige sich deine Herrlichkeit, u n d kund werde die Größe deiner P r a c h t ! Versiegelt werde die Unterwelt, d a ß sie Tote nicht mehr empfange; erstatten sollen die

Kammern die Seelen, die darin schmachten! Denn viel sind die Jahre +nach

Eine unmittelbare traditionsgeschichtliche Abhängigkeit der Stelle sBar 20,2 von J e s 60,22 b besteht offensichtlich nicht. Trotzdem könnte J e s 60,22 b die Formulierung in sBar 20,2 indirekt beeinflußt haben. Diese Vermutung liegt deshalb nahe, weil die genannte Prophetenstelle zur selben Zeit in der rabbinischen Diskussion eine Rolle spielt. R . Jehoschua (um 90 n. Chr.) beruft sich gegenüber R . Eliezer (der die Unbußfertigkeit des Volkes f ü r das Ausbleiben der messianischen Heilszeit verantwortlich macht) auf J e s 60,22 b ; vgl. BILL. I, 163: „ E s heißt doch aber J e s 60,22: Ich, J a h v e , will es zu seiner Zeit HRS? beschleunigen (also h ä n g t die Erlösung ab von dem dafür festgesetzten Zeitp u n k t u. nicht von der Buße!)." R. Jehoschua vertritt demnach die Auffassung, „daß der Erlösungstermin noch nicht der Vergangenheit, sondern noch der Z u k u n f t angehöre; er hält deshalb an der alten Anschauung fest, daß die messian. Erlösung, ganz unabhängig von Israels Verhalten, zu der ein f ü r allemal bestimmten Zeit erfolgen werde" (BILL. I, ebd.; vgl. A. STBOBEL, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 23. 65). Die Verwandtschaft dieser Konzeption mit der des sBar ist offensichtlich.

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unserer menschlichen Meinung+1 seit den Tagen Abrahams, Isaaks und Jakobs . . . Jetzt aber zeige eilends deine Herrlichkeit und verzögere nicht das von dir Verheißene!' (vgl. 21,18-25)

Dem Seher wird daraufhin ein Offenbarungswort 2 mitgeteilt, das sieben (jeweils mit einer Frage versehene) Bildworte enthält (22,2-8): ,>Baruch, Baruch! Warum erregst du dich? (a) Wer einen Weg wandert, ohne ihn zu vollenden, [ . . . ] ? (b) Oder wer ein Meer befährt, ohne den Hafen zu erreichen, kann der befriedigt sein? (c) Oder wer jemandem verspricht, ihm ein Geschenk zu geben, ohne es zu überreichen, — ist das nicht Vorenthaltung? (d) Oder wer ein Land besät, ohne zu seiner Zeit seine Früchte zu ernten, verdirbt der sich nicht das Ganze ? (e) Oder wer eine Pflanze einsetzt, ohne daß sie bis zu der gebührenden Zeit wächst, darf, der sie gepflanzt hat, erwarten, von ihr Früchte zu empfangen? (f) Oder wenn ein schwangeres Weib außer der Zeit gebiert, tötet sie nicht sicherlich ihr Kind? (g) Oder wer ein Haus baut, ohne es zu decken und fertigzustellen, — kann das etwa ein Haus genannt werden? Sage mir dies zuvor !< (23,1) Ich antwortete und sprach: >Nein, Herr, H e r r U '

U m die Pointe dieser Bildworte, die allesamt argumentativen Charakter tragen, zu ermitteln, stellen wir zunächst diejenigen Aussagen zusammen, die sachlich miteinander verwandt sind. Es lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: Zur ersten Gruppe gehören die Glieder a - c und g, also die Worte von der nicht vollendeten Wanderung, von dem nicht erreichten Hafen, vom nicht eingelösten Versprechen und vom nicht fertiggestellten Haus. In diesen Sprüchen ist darauf abgehoben, daß ein bestimmtes Vorhaben nicht zu Ende gebracht, ein bestimmter Plan nicht (vollständig) durchgeführt wird. Die jeweils angehängten Fragen evozieren eine Stellungnahme des Sehers 3 . Ihm soll das Einverständnis abgewonnen werden, daß es in der Tat mißlich ist, wenn jemand einen Vorsatz nicht (ganz) ausführt, auf halbem Weg stehenbleibt oder ein Werk nicht vollendet. Die drei übrigen Sprüche (d-f), die wiederum analog gebaut sind und eine zweite 1

S. o. S. 282 Anm. 3. Das Offenbarungsgeschehen umfaßt nach der einleitenden Bemerkung 22,1 Vision und Audition: ,Et fuit post haec et ecce aperti sunt caeli et vidi et virtus d a t a est mihi et vox de excelsis audita est et dixit mihi . . .' (Text nach M. KMOSKO, a.a.O. 1105). 3 Vgl. R . BULTMAJSTN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl. 2

1 9 5 7 , S . 1 9 7 f . ; E . FUCHS, H e r m e n e u t i k , S . 2 2 2 f .

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Gruppe bilden, entfalten denselben Sachverhalt unter einem anderen Gesichtspunkt. Es ist unschwer zu erkennen, daß es hier jeweils auf das (negierte) bezabnäh (bzw. lezabnä [dezäddeq läh]) ankommt. Was der Verfasser im Auge hat, geht eindeutig aus den Gliedern e und f hervor. Bei der Geburt, die zur ,Unzeit' geschieht und den Tod des Kindes zur Folge hat (f), kann es sich nur um eine vorzeitige Niederkunft handeln (vgl. 4Esr 6,21). Ebenso ist bei dem anderen Beispiel (e) daran gedacht, daß die Pflanze vor der Erntezeit abstirbt oder eingeht und darum fruchtlos bleibt. Analog dazu wird man auch das vorhergehende Bildwort (d) zu interpretieren haben. Diese Aussage dürfte ebenfalls auf ein ,Zu-früh' und nicht auf ein ,Zu-spät' abzielen: Der Bauer bringt sich nicht deshalb um das Ganze, weil er die Erntezeit versäumt, sondern weil er das Korn vorfristig (d. h. in unreifem Zustand) einbringen will. Wieder ist als selbstverständlich vorausgesetzt, daß Baruch den Fragen des Sprechers, die jeweils ein Urteil über den zur Diskussion gestellten Sachverhalt implizieren, beipflichten muß. Alles, was vor der naturgegebenen Zeit geschieht, ist wertlos: Das zu früh gemähte Korn bringt keinen Ertrag — die Pflanze, deren Wachstum vor der Erntezeit nachläßt, bleibt ohne Frucht — das vorzeitig geborene Kind kommt tot zur Welt. Nach diesen Vorbemerkungen ist die Frage zu erörtern, inwiefern die genannten Aussagen dem Anliegen des Visionärs Rechnung tragen. Worin besteht die Entsprechung zwischen dem Stoff der Bildworte und der verhandelten Sache 1 ? Die Antwort liegt auf der Hand: Baruch soll zu der Einsicht gebracht werden, daß der Plan Gottes in der vorgesehenen Weise zur Durchführung gelangen muß — anders gewendet : er soll selbst zu der Überzeugung kommen, daß die Heilszeit nicht vorfristig in Erscheinung treten kann. Die Erfüllung der Verheißung ist an einen bestimmten Termin gebunden, der seit Urzeiten festliegt und den zu erforschen dem Menschen versagt bleibt. Dies besagt: Die Epiphanie der göttlichen Doxa findet nicht eher statt, bis der determinierte Zeitpunkt erreicht und die dem alten Äon gesetzte Frist insgesamt abgelaufen ist. RYSSEL und RIESSLER haben zu Recht festgestellt, daß die Aussagen 22,2 ff. de facto auf eine Zurechtweisung Baruchs hinauslaufen 2 . Die sich in den Worten des Sehers meldende Skepsis (die allerdings durch die Patina des Gebetsstils überdeckt ist) wird mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des geschichtlichen Ablaufs ad absurdum geführt, die Herausforderung des göttlichen Machterweises als voreilig und unbillig verworfen. 1

Vgl. E. LiNNEMAirar, Gleichnisse Jesu, 3. Aufl. 1964, S. 31 ff. Vgl. V. RYSSEL, bei E. KAUTZSCH, A P II, 419 (Überschrift zu sBar 21-26); P. RIESSLER, a.a.O. 69 (Überschrift des Kp. sBar 22). 2

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Daß damit die literarische Absicht des Verfassers zutreffend gekennzeichnet ist, ergibt sich aus dem folgenden Abschnitt 23,2-5, der eine Art Anwendung des zuvor in der Form der Bildrede Gesagten enthält. Der Seher wird zunächst bei seiner eigenen Stellungnahme (vgl. V. 1) behaftet: ,Wozu erregst du dich also über etwas, das du nicht weißt? Und warum ängstigst du dich wegen einer Sache, die dir nicht vertraut

istV (V. 2) Diese Fragen sind nicht als tröstende Beschwichtigung, sondern als Tadel aufzufassen. Baruch wird auf die Sinnlosigkeit seines Verlangens hingewiesen und dazu aufgefordert, sich nicht mehr um das zu kümmern, was allein Sache des allwissenden Gottes ist: (V. 3) ,Denn wie ich die Menschen nicht vergessen habe, die gegenwärtig leben, u n d diejenigen, die dahingegangen sind, so gedenke ich (auch) derer, die ^werden sollen + 1 u n d derer, die (einst) kommen. (V. 4) Denn als A d a m sündigte u n d der Tod verhängt wurde über alle, die geboren werden, d a wurde die Menge derer, die geboren werden sollten, gezählt und jener Zahl der Ort zugerichtet, wo die Lebenden wohnen u n d wo die Toten a u f b e w a h r t werden sollten. (V. 5) Solange also, wie die vorhergesagte Zahl (noch) nicht voll ist, k o m m t die Schöpfung ( = Menschenwelt) [sc. weiterhin] zum Leben: 2 denn mein Geist schafft Leben, u n d die Unterwelt n i m m t die Toten auf.' 3

Die theozentrische Zeitauffassung, der sich der Verfasser von sBar verpflichtet weiß, tritt in diesen Aussagen deutlich zutage. Baruch wird darüber belehrt, daß die Gesamtzahl der Nachkommen Adams bereits am Anfang der Geschichte festgesetzt wurde (vgl. 21,10; 48,46). Die Dauer der gegenwärtigen Welt-Zeit ist demnach durch die Zahl aller zum Leben bestimmten Menschen determiniert. Erst wenn alle, die von Gott zum geschichtlichen Dasein ausersehen wurden, in diesen Äon eingetreten sind, kann die eschatologische Heilszeit herbeigeführt werden. Der Geist Gottes wird nicht aufhören, die Lebenden zu schaffen (vgl. Jes 57,16), und die Scheol wird ohne 1

2

Vgl. VIOL. I I , 239 A n m . z. S t .

V. 5 a lautet wörtlich: ,Nisi ergo compleatur numerus praedictus, non vivet creatura' (M. RMOSKO, a . a . O . 1106. 1109). Setzt m a n diese Textfassung als ursprünglich voraus, wäre hier vom eschatologischen „Aufleben der Schöpfung" (so A. STROBEL, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 32) die Rede. Doch damit läßt sich die Aussage V. 5 b nur schlecht vereinbaren; denn daß die Unterwelt noch nach dem eschatologischen A k t weiterhin Tote aufnimmt, k a n n schwerlich gemeint sein (vgl. 21,22ff.). Eine in sich geschlossene Gedankenfolge ergibt sich indessen, wenn m a n die Negation im Nachsatz von V. 5 a streicht (so auch H . G B E S S M A N N , bei V I O L . I I , 346 Anm. z. St., u n d V I O L E T [vgl. die Selbstkorrektur ebd. 360 Anm. z.St.]). 3 Die Übersetzung V I O L E T S ist nur in V . 3b. 4 wörtlich übernommen (vgl. VIOL. I I , 239).

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Unterlaß die Toten in sich aufnehmen, bis die vorherbestimmte Zahl der Weltbewohner erreicht ist 1 . Weil Gott sich ein für allemal an sein Dekret gebunden und sein Handeln auf den Plan abgestellt hat, ist der Versuch einer Einflußnahme seitens des Menschen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn Baruch an die Wortgewalt und Barmherzigkeit des Schöpfers appelliert und damit seine Bitte um eine baldige Aufhebung des gegenwärtigen Unheilsverhängnisses motiviert, verkennt er, daß der Weltplan Gottes keinen vorzeitigen Eingriff zuläßt und daß alles in der vorgeschriebenen Weise seinen Lauf nehmen muß. Darum ist es auch verfehlt, den Termin des Eschaton ergründen zu wollen; denn die Faktoren, von denen die Dauer dieses Äons abhängt, entziehen sich nun einmal menschlicher Erkenntnis 2 . Baruch erhält keinen Aufschluß darüber, auf welche Zahl die Nachkommenschaft Adams beschränkt wurde 3 . Ihm wird nur offenbart, daß Gott ,die Menge derer, die geboren werden sollten', gezählt und die endzeitliche Versiegelung der Unterwelt von dem Vollwerden des ,numerus praedictus' abhängig gemacht hat. — Man wird nicht fehlgehen mit der Vermutimg, daß der Apokalyptiker mit dieser deterministischen Konzeption die eschatologische Erwartung entspannen und in eine vom Terminproblem nicht mehr belastete Zukunftshoffnung umwandeln will4. Er sucht den angefochtenen Glauben „des in gemessener Frist bevorstehenden Sieges Gottes" 5 zu vergewissern, ohne sich auf eine Diskussion über den genauen Zeitpunkt dieses eschatologischen Geschehens einzulassen. Denn das Maß 1 Vgl. sBar 42,7b: Am Ende wird dem Staub befohlen: ,Erstatte, was nicht dein eigen ist, und stell her alles, was du bewahrt hast für seine Zeit (lezabneh).' 2 Vgl. in diesem Zusammenhang die durch den Seher vorgebrachten Gottes prädikationen sBar 21,4ff. (vgl. bes. 21,8); 48,2ff.; 54,lff., die allesamt vom Gedanken der Macht des Schöpfers über den Zeitenablauf beherrscht sind und übereinstimmend zum Ausdruck bringen, daß nur Gott allein um das Ende des geschichtlichen Geschehens weiß (vgl. 21,8; 48,3; 54,1). Des weiteren ist auf die Stellen sBar 56,2-4; 69,2; 81,4 zu verweisen. Überall handelt es sich um Aussagen, „die den Ablauf der Zeiten durchweg als allein von Gott bestimmt betrachten" (A. S T R O B E L , Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 32). Von daher gesehen, erheben sich gegen die verbreitete Annahme, der Verfasser von sBar habe den Anbruch des Eschaton für das Jahr 119 n. Chr. erwartet, schwerwiegende sachliche Bedenken. Im Blick auf die theozentrische Zeitauffassung des Apokalyptikers erscheinen jedenfalls alle Versuche, die aus dem Abschnitt sBar 27,1-28,2 eine Terminspekulation herauslesen wollen (vgl. VIOL. II, XCII; L. GRY, R B XLVIII/1939, 345ff.), als suspekt und unglaubwürdig. 3 Siehe dazu oben S. 280 Anm. 4. 4 Gegen M. F R E E D L Ä N D E R , der — weil er die in sBar deutlich vernehmbare retardierende Tendenz verkennt — zur gegenteiligen Ansicht gelangt (Geschichte der jüdischen Apologetik als Vorgeschichte des Christenthums, S. 150ff.). 5 G. EßELING, ZThK 58/1961, 233 (Hervorhebung von mir).

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der bis zum Ende noch ausstehenden Frist ist nur Gott bekannt und widersteht allen Berechnungsversuchen des Menschen. Mit sBar 23,6 beginnt ein dritter Gedankenkomplex, der durch den Neueinsatz ,Weiter ist es dir vergönnt, zu hören' deutlich von den vorhergehenden Aussagen abgesetzt ist und die Verse 23,6-24,2 umfaßt. Der Abschnitt enthält eine eschatologische Belehrung, die den Seher darüber informiert, ,was nach diesen Zeiten kommen soll' (23,6). Auffällig ist der als Begründung angefügte Satz: ,denn nahe daran, zu kommen, ist wahrlich mein Heil, und nicht mehr ferne wie vordem' (23,7) — eine Zusicherung, die nach dem in 22,2-23,5 Gesagten insofern überrascht, als sie die dort zur Geltung gebrachten Kautelen wieder aufzuheben scheint. Aber bei dieser Aussage (23,7) handelt es sich offensichtlich um ältere prophetische Tradition (vgl. die fast gleichlautende Vorlage Jes 46,13aa), die bereits zu einer beliebig manipulierbaren Formel erstarrt ist und innerhalb des vorliegenden Zusammenhangs nicht etwa aktualisiert, sondern bloß „künstlich als Dogma rezitiert"1 wird. Der Verfasser von sBar „wäre kein Apokalyptiker gewesen, hätte er nicht [sc. theoretisch] unverkürzt an der Naherwartung festgehalten, hätte er sie nicht zugleich auch, soweit möglich, entschärft"2. Er sucht immer wieder dem Eindruck entgegenzuwirken, als wolle er einer unbefristeten und letztlich zeitlosen Erwartung das Wort reden3, unterstreicht andererseits jedoch um so mehr, daß die Erfüllung der Verheißung der göttlichen Zeitdisposition unterliegt, die ihr eigenes Maß hat und alle menschliche Kalkulation mit Sicherheit ins Unrecht setzen wird. Der Gedanke der Determination des geschichtlichen Geschehens, der eindeutig im Vordergrund des Interesses steht, klingt aller Wahrscheinlichkeit nach auch in den Schlußsätzen des Abschnitts an. Dem Seher wird zunächst eröffnet, daß am Ende dieses Äons (nach diesen Zeiten — vgl. 23,6) der eschatologische Gerichtsakt stattfinden wird, der die Sünde der Frevler und die Gerechtigkeit der Frommen ans Licht bringen soll (24,1). Dann heißt es: ,Und zu jener Zeit wirst du und viele, die mit dir sind1, die Langmut des Höchsten schauen, welche (währt) s t e t s v o n Geschlecht zu Geschlecht, der seine Langmut übt an allen Geborenen, den Sündern und den Gerechten' (24,2). 1

2

F o r m u l i e r a n g P h . VIELHAÜERS (bei HENNECKE 3 , B d . I I , 434) z u 2 P e t r .

A. STBOBEL, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem,

S. 34. 3

Vgl. sBar 20,6; 48,30b. 31. 39b; ferner aus der Ep. Bar.: sBar 82,2b; 83,1. 6f.; 85,10. 4 S o m i t V . RYSSEL, b e i E.KAUTZSCH, A P I I , 4 2 1 ; M. KMOSKO, 1 1 0 9 ; v g l . VIOL. I I , 240 AIUN. z. St.

a.a.O.

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Der Sinn dieser Aussage wird deutlieh, wenn man eine Reihe von Sachparallelen hinzuzieht. I n dem vorhergehenden Gebet Baruchs (21,4-25) findet sich die Bitte (21,21): ,Und zeige denen, die unwissend gesehen haben, was uns und unserer Stadt begegnet ist [gemeint sind diejenigen, die die Langmut Gottes als Schwäche deuten — V. 20], + daß deine bisherige Zurückhaltung Langmut ist+' (nach einem anderen Konjekturvorschlag V I O L E T S könnte der letzte Satzteil auch folgendermaßen gelesen werden: ,daß es Langmut ist, die dich bisher zurückgehalten hat' 1 ). Zu vergleichen ist außerdem die f ü r das Verständnis des Begriffs nagirut ruhä besonders aufschlußreiche Stelle sBar 12,4: ,Denn sicher zu seiner Zeit [vgl. 13,6] erwacht über dich der Grimm, der jetzt durch die Langmut wie durch Zäume gehemmt ist.' 2 Was Baruch nach der oben genannten Aussage 24,2 vorerst noch verschlossen bleibt, h a t Gott dem Mose bereits antizipierend enthüllt; denn er zeigte ihm damals ,die Zurückhaltung des Zorns und die Größe der Langmut' (59,6). I n allen genannten Aussagen „schwebt der übergeordnete Gedanke an das Nichtkommen des eschatologischen Heils zufolge eines hemmenden Faktors vor" 3 , der selbst mit der göttlichen Langmut identifiziert wird.

Auf Grund dieser Beobachtung legt sich folgende Deutung von 24,2 nahe: Die eschatologische Schau der Langmut des Höchsten, die Baruch in Aussicht gestellt wird, ist gleichbedeutend mit der Offenbarung des göttlichen Geschichtsgeheimnisses. Am Ende werden die Erwählten erkennen, daß das lange Ausbleiben der Verheißung mit der langen Geduld Gottes zusammenhing — daß es Langmut war, die Gott daran gehindert hat, unverzüglich einzugreifen und den Seinen helfend beizustehen4. Der Apokalyptiker kombiniert also das Motiv des ,praedictus numerus natorum' (23,2-5; 48,46) mit dem der ,longanimitas Dei£ (24,2 u. ö.), um zum Ausdruck zu bringen, daß der Ablauf der Zeiten determiniert ist und daß die Verzögerung des Eschaton auf einem göttlichen Vorsatz beruht. Die Verwendung 1

Der Satz ist in der vorliegenden Textfassung verdorben; V I O L E T S Rekonstruktion stützt sich auf die sachlich benachbarte Aussage sBar 12,4b (vgl. V I O L . II, 236 Anm. z. St.; vgl. auch A. S T R O B E L , a.a.O. S . 30). 2 S. o. S. 77 Anm. 5. 3

4

A . STROBEL, e b d . S. 31.

I n diesen Sachzusammenhang gehört auch die Aussage sBar 51,11. Dort heißt es von den Gerechten: ,. . . vor ihnen werden sich die Räume des Paradieses ausbreiten, und es wird sich ihnen zeigen die erhabene Schönheit der Wesen unter dem Throne und alle die Heere der Engel, w e l c h e j e t z t d u r c h m e i n W o r t z u r ü c k g e h a l t e n w e r d e n , so daß sie nicht gesehen werden, und d u r c h d e n B e f e h l z u r ü c k g e h a l t e n w e r d e n , so daß sie an ihren Orten stehen, b i s i h r e A n k u n f t k o m m t . ' Dem entspricht sachlich genau, was Baruch in dem Gebet 48,2ff. von Gott bekennt: ,[Und] durch's Wort stellst her du, was nicht (mehr) war, und h ä l t s t f e s t , w a s n o c h n i c h t k o m m t , m i t g r o ß e r K r a f t ' (48,8b). V I O L E T macht darauf aufmerksam, daß beide Halbverse nicht auf das gleiche hinauslaufen, „sondern die erste Hälfte redet von der Wiederherstellung dessen, was nicht mehr war, und die zweite von der Herstellung, beziehungsweise Zurückhaltung dessen, was noch nicht war, also von zwei gleich wunderbaren Erweisungen der göttlichen Macht" (a.a.O. I I , 266 Anm. z. St.; vgl. A. S T B O B E L , a.a.O. S. 31 f. z. St.; abwegig F . Z I M M E R M A N N , J T h S XL/1939, 154 z. St.).

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beider Motive entspricht seinem Interesse, die Unzulässigkeit der Wann-Frage nachzuweisen; denn die Länge der Geduld Gottes (vgl. 59,6), von der die Dauer dieses Äons abhängt, läßt sich genauso wenig vorausberechnen wie die Zahl der zum Leben bestimmten Nachkommen Adams. Beides entzieht sich menschlicher Erkenntnis, bleibt innergeschichtlich verborgen und wird erst dann offenbar, wenn der eschatologische Akt eingetreten ist und der göttliche Geschichtsplan vor den Erwählten entschleiert wird. S T K O B E L hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß der für unser Empfinden „anscheinend nur psychologische Begriff der Langmut' im hebräischen Sprachgebrauch einen ausgesprochen chronologischen Bedeutungsgehalt hat" 1 . In sBar scheint der Ausdruck naglrut ruhä jedenfalls die im göttlichen Plan festgelegte Zeit der ,langen Geduld' Gottes zu kennzeichnen, die das Kommen des eschatologischen Gerichts retardiert. Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch die Aussage 4Esr 7,74, in der das langmütige Verhalten Gottes gegenüber den Sündern bezeichnenderweise nicht als ein Akt der (den starren Plan korrigierenden) Barmherzigkeit und Bundestreue, sondern als eine in der festgesetzten Zeitenordnung begründete Notwendigkeit gedeutet wird: ,Quantum enim tempus, ex quo longanimitatem habuit Altissimus his, qui inhabitant saeculum, et (— adv. xai) non propter eos, sed propter ea, quae providit tempora' (vgl. 4Esr 4,36c. 37). Der einschränkende Zusatz (.allerdings nicht ihretwegen, sondern wegen der vorherbestimmten Zeiten' 2 ) schärft ausdrücklich ein, daß Gott sich nicht von der Rücksicht auf die Zeitnot der Gesetzesverächter leiten ließ, als er den Strafaufschub 1 A.a.O. S. 31. Dafür spricht nicht nur der Sachzusammenhang, in dem der Begriff jeweils erscheint, sondern schon die Ausdrucksweise der syr. (wie auch der hebr.) Sprache selbst. Das syr. Wort für .Langmut' lautet naglrut ruhä (vgl. 4Esr 9,12 [Syr]; sBar 12,4; 21,20f.), was eigentlich .Länge des Geistes (Sinnes, Gemüts)' bedeutet (vgl. den Ausdruck HIT K o h 7 , 8 [vgl. Sir 5,11]); nagirutä ('length of time, duration' [J. P A Y N E SMITH, a.a.O. s. v.]) ist Derivat von negar, im PE. = 'to be long, lengthy (of time), to continue, last', im APH. (mit jaumätä) = 'to prolong his days, live long; to be a long time, remain, continue, last', (mit ruhä) 'to be longsuffering, patient; to defer, delay' (J. P A Y U E SMITH, a.a.O. s . v . ) — vgl. z.B. 4 E s r 7 , 7 4 ( = 7b,33 Syr); sBar 85,8. Der im Syrischen deutlich erkennbare chronologische Sinn der Ausdrücke ,Langmut, langmütig sein' dominiert ebenfalls im Hebräischen; vgl. die Wendung ETSgt (Spr 14,29; 15,18; 16,32; E x 34,6; Num 14,18 u. ö.) sowie '•pi* (Spr 25,15). "pXhat im HIPH. die Bedeutung ,lang machen, in die Länge ziehen' (Ges-Buhl, s. v.); vgl. auch N e h 9 , 3 0 im KAL = .ziehen', ,in die Länge ziehen', ,dauern lassen' [Ges-Buhl, s. v.]). Vgl. auch

A . STROBEL, e b d . S . 3 0 A n m . 4 . 2 Vgl. dagegen die Aussage PsPhilo 30,7: ,(Et ecce nunc Dominus inviscerabitur vobis in hodierna die,) non propter vos sed propter testamentum suum, quod disposuit patribus vestris et pro iuramento quod iuravit, ut non desereret vos usque ad finem.' (Text nach G. KISCH, a.a.O. 200).

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veranlaßte. Die lange Periode der ,longanimitas' beruht nicht auf einem Akt göttlicher Kondeszendenz, sondern geht auf einen längst gefaßten Entschluß des Schöpfers zurück. Sie setzt den ursprünglich vorgesehenen Heilsentwurf keineswegs außer Kraft, sondern stellt vielmehr selbst ein Moment im göttlichen Geschichtsplan dar und dient gerade seiner Verwirklichung. Der „Grundsatz der gültigen, an Strenge gebundenen Ordnung"1, der die Auffassung von der ,necessitas temporum' fundiert, dominiert also in 4Esr derart, daß auch die Zeit der Geduld Gottes als eine von Anfang an determinierte Frist ausgelegt und in dem alles umfassenden, stereotypen Plan untergebracht wird2. Nach einer der arab. Versionen von 4Esr 7,74 (ArabEw 7,65) hat Gott die Zeit seiner Langmut sogar prolongiert, nicht etwa um der Menschen allein willen, sondern vor allem in Hinsicht darauf, daß ,die Zahl der Zeiten erfüllt werde, die er verzögert (!) hat, damit sie seiner Rede gemäß würden' (quam multis temporibus Deus prolongavit patientiam suam erga homines huius saeculi! at non propter vos solos prolongavit longanimitatem suam, sed ut numerus temporum, quae distulit, compleretur, ut convenirent verbo eius3). Diese Version weicht vermutlich stark vom Original ab. Sie erweist sich vor allem dadurch als sekundär, daß sie die Härte der Aussage ,et non propter eos' (Lat; vgl. Syr, Aeth) wieder abzuschwächen sucht (,at non propter vos solos . . .'). Die freie Wiedergabe des Nachsatzes (der Verfasser bezieht sich offensichtlich auf 4Esr 4,36c. 37) stellt jedoch eine sachgemäße Explikation des ursprünglich Gemeinten dar: 1 N. N. G L A T Z E R , Untersuchungen zur Geschichtslehre der Tannaiten, S. 21. 2 Dieser Gesichtspunkt wird auch von J . M O L T M A N N (Theologie der Hoffnung, S. 122) innerhalb seiner Ausführungen zur apokalyptischen Theologie in Rechnung gestellt: „An die Stelle der Treue Gottes, der m a n die Erfüllung der verheißenen Z u k u n f t in seiner Freiheit zutraut, t r i t t — der Plan Gottes, der von Urzeiten an festliegt und den die Geschichte sukzessive enthüllt. Aus einer geschichtlichen Theologie wird eine Geschichtstheologie, u n d aus einer geschichtlichen Eschatologie wird eine eschatologische Geschichtsbetrachtung. Ebenso wie in der heilsgeschichtlichen Theologie des 18. J a h r h u n d e r t steckt in der Apokalyptik ein vernehmlicher Deismus des fernen Gottes." Dem entspricht die kritische Feststellung G. G L O E G E S , in der Apokalyptik sei „die Freiheit des Gotteshandelns von der Zwangsläufigkeit des Heilsplanes fast verzehrt" (a.a.O. S . 124; vgl. auch M . B U B E R , Die Brennpunkte der jüdischen Seele, in: K a m p f u m Israel, S. 62ff.). 3 Lat. Übersetzung nach A. H I L G E N F E L D , Messias Judaeorum, 344 (in der dortigen Zählung: [VI,] 47f.). — A. S T R O B E L schreibt diesen Text in seiner Monographie (Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 90) irrtümlicherweise der syr. Baruchapokalypse zu (vgl. die auf demselben I r r t u m beruhende u n d d a r u m sinnlose Anm. 5 [ebd.]). Seine Bemerkung, d a ß die arab. Fassung (ArabEw) stärker anthropozentrisch ausgerichtet ist u n d damit Grundgedanken der Konzeption R . Eliezers aufnimmt, besteht vielleicht zu Recht (vgl. 4 E s r 7,65 A r a b E w mit 4Esr 7,96. 98 A r a b E w [bei V I O L . I, 169. 211. 213]; vgl. A. S T R O B E L , ebd. S. 90f.). Nur gilt dies im Unterschied zur lat. Version derselben Apokalypse (4Esr)!

318

Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

Wenn Gott den Tag des Gerichts hinausschiebt, so geschieht dies in Rücksicht auf die vorherbestimmte Zahl der Zeiten, die erfüllt werden muß. 5. Ergebnisse Überblicken wir das in diesem Abschnitt Gesagte, so zeigt sich, daß die Verfasser von 4Esr und sBar um eine Neuorientierung der (nach der Katastrophe des Jahres 70 n. Chr.) problematisch gewordenen eschatologischen Erwartung bemüht sind. Sie beantworten die unausweichlich gestellte Wann-Frage der Skepsis mit dem Hinweis auf den unergründlichen göttlichen Plan, erklären das lange Ausbleiben der Verheißung aus der Vorsehung des Schöpfers und beschwören den angefochtenen Glauben, den Widrigkeiten dieses Äons vorerst noch standzuhalten und geduldig auf den nach Ablauf der festgesetzten Fristen mit Sicherheit in Erscheinung tretenden Sieg Gottes zu warten. Es ist nicht zu verkennen, daß sie ihre auf einen radikalen Determinismus hinauslaufende Zeitlehre „in den Dienst eines Trostamtes stellen. Sie wollen damit den Anfängen des Zweifels wehren und die Gefahr einer durch den Niedergang Jerusalems heraufbeschworenen Resignation im Keim ersticken. Indem sie den beunruhigenden Sachverhalt, daß sich die Erfüllung der Verheißung immer weiter hinauszieht, auf die anfängliche Absicht Gottes zurückführen und die seit Urzeiten festliegende Zeitverfügung des Schöpfers für die Verzögerung des Eschaton verantwortlich machen, versuchen sie, die durch enttäuschte Erwartung bewirkte Skepsis aufzufangen und die Hoffnung auf die zur bestimmten Stunde mit Notwendigkeit eintretende Erlösung der Gerechten erneut zu befestigen. Um die Gewißheit dieser Hoffnung zu demonstrieren, berufen sich beide auf die Zuverlässigkeit und Unbeirrbarkeit des göttlichen Geschichtsplanes: „Gott ist der Herr der Zeit und als solcher verbürgt er das Kommen der Heilszeit ungeachtet der menschlichen Disposition." 2 1 G. v. RAD, Theologie des AT, Bd. II, 1. Aufl. 1960, S. 320 (dort nicht hervorgehoben; vgl. Bd. II, 4. Aufl. 1965, S. 325 — vgl. 4Esr 14,13; sBar 78,5; 54,4; 82,1; ferner 4Esr 12,8; sBar 43,1 ; 44,7; 81,4); ähnlich H. R I N G G R E N , RGG 3 I, 465f. : Die (apokalyptische) Offenbarung „will den Glaubensmut der Frommen in schweren Zeiten stärken (zB Dan in der Verfolgung unter Antiochus IV., 4Esr nach dem Fall Jerusalems)" (ebd. 465). „Sofern die A. [sc. Apokalyptik] den Bedürfnissen einer Notzeit entsprach, hatte sie . . . einen konkreten Auftrag (4Esr)" (ebd. 466). Vgl. auch J. M O L T M A N N , Theologie der Hoffnung, S. 122: „Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß sich in den spekulativen Apokalypsen immer auch ein adhortatives Moment findet. Es ist die Adhortation zur Perseveranz im Glauben des Gerechten: wer beharrt bis ans Ende, der wird selig werden." (Mk 13,13b; vgl. die paränetischen Aussagen in sBar [bes. 44,7; 83,4]; siehe dazu auch A. S T R O B E L , Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 33). 2 A . S T B O B B L , ebd. S . 3 2 ; vgl. auch L . V A G A N A Y , a.a.O. S . 7 0 (zu 4Esr): "Comment calmer l'impatience de ceux qui voulaient précipiter l'avènement

Die Neutralisierung der Naherwartung

319

Diese theologische Reflexion verrät jedoch andererseits um so deutlicher, daß man nicht mehr wagt, die Behauptung der Nähe des Heils ungeschützt zur Geltung zu bringen. Wohl ist in 4Esr und sBar verschiedentlich davon die Rede, daß dieser Äon nun mit Macht seinem Ende entgegeneilt. Hier wie dort wird die Nähe der zu erwartenden Machtergreifung Gottes mittels der Vorstellung der Zeitbeschleunigung in Aussicht gestellt. Doch sind die das ,Bald' promulgierenden Aussagen von anderen überlagert, in denen sich deutlich eine retardierende Tendenz abzeichnet 1 . In beiden Apokalypsen dominiert der Gedanke, daß alles seinen vorherbestimmten Lauf nehmen muß und daß der Anbruch der Heilszeit von gewissen, im göttlichen Plan vorgesehenen Faktoren abhängt, die sich dem Einblick des Menschen entziehen. Die Naheschatologie wird zwar nicht preisgegeben, sondern grundsätzlich als ,locus de novissimis' beibehalten; faktisch ist sie jedoch bereits erweicht bzw. durch das Theorem der ,necessitas temporum' entschärft und gefahrlos gemacht 2 . Die Intention der Verfasser, die eschatologische Erwartung mit Hilfe des ,pendulae expectationis incertum' in der Schwebe zu halten, bekundet sich insbesondere in den häufig wiederkehrenden ,per tempus'-Aussagen. Sie findet ihren Niederschlag aber auch darin, daß vom genau fixierten Maß der Zeiten, von der feststehenden Zahl der Gerechten (oder aller zum Leben Prädestinierten) und von der im göttlichen Plan von vornherein einberechneten Frist der Langmut gesprochen wird: Bevor das als Gefäß vorgestellte Zeitmaß nicht randvoll ist, bevor die bestimmte Zahl der Gerechten (bzw. der Nachkommen Adams) nicht erreicht, die vorgesehene Frist des Strafaufschubs nicht durchmessen ist, kann das Eschaton nicht hereinbrechen 3 . Solange das Vollmaß der unheilvollen Zeit dieses Äons ausdu royaume, sinon en leur répétant que l'on ne pouvait devancer l'heure marquée par Dieu?" 1 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von E. F U C H S zur synoptischen Apokalypse Mk 13 parr. (Hermeneutik, S. 205ff.). 2 Vgl. A. SABATIER, REJXL/1900, Actes et Conférences, L X X V I I : In 4Esr wird der Seher darüber belehrt, "que le mal doit avoir son cours . . . qu'il y a une succession nécessaire dans les événements et que le commencement et la fin ne peuvent venir ensemble. On voit par là que l'attente se lassait et que la foi qui avait donné naissance à cette littérature apocalyptique était en train de se refroidir et de s'éteindre." 3 Bei dem prästabilierten ,numerus iustorum' (bzw. ,natorum'), der determinierten ,mensura temporum' und der festliegenden Frist göttlicher Langmut handelt es sich — wie oben bereits hervorgehoben — um Faktoren, die den Ablauf des geschichtlichen Geschehens latent bestimmen. Die apokalyptische Lehre, wie sie in 4Esr und sBar greifbar wird, vermittelt also gerade keinen Einblick in die Geheimnisse des göttlichen Geschichtsplans, sondern wahrt den Vorbehalt Gottes, indem sie sich mit der Kundgabe der Faktizität solcher Determinationsfaktoren begnügt und den festgesetzten eschatologischen Termin als von Gott festgesetzt zu verstehen gibt.

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Die Lehre von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs

steht, ist Gott daran gehindert, sein Versprechen einzulösen und das den Gerechten verheißene Heil herbeizuführen. Der Gang der Geschichte läßt sich weder aufhalten noch forcieren; vielmehr geschieht alles so, wie es geschehen muß. Auch die beschleunigte Bewegung der Zeiten, die die Frist vor dem Ende auszeichnet, bewirkt keine vorfristige Aufhebung des durch Adam ausgelösten Unheilsverhängnisses, sondern unterliegt selber dem Vorbehalt des göttlichen 8sl1 — anders formuliert: sie richtet sich nach der Eile Gottes, die ihr eigenes Maß hat. Als Ergebnis dieser Beobachtungen halten wir fest: Überall da, wo in den zuletzt behandelten Texten der Gedanke der Determination zur Sprache kommt, ist unverkennbar das Interesse leitend, die Naheschatologie zu entspannen und von aller Terminspekulation zu befreien 2 . Beachtet man den literarischen Zusammenhang, in dem die Vorstellung von der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs geltend gemacht wird, so zeigt sich, daß mit ihr jeweils der Nachweis der Imponderabilität des eschatologischen Termins erbracht werden soll. Die Lehre von der Determination des weltgeschichtlichen Geschehens dient hier also gerade nicht dem fragwürdigen Unternehmen, „das Ende zahlenmäßig auszurechnen" 3 , sondern begründet im Gegenteil den Verzicht des Apokalyptikers auf alle derartigen Berechnungsversuche 4 . Der Grundsatz, „daß alles Zeit und Stunde hat" und daß „nur Gott Tag und Stunde seiner Pläne (weiß)" 5 , wird in polemischer Weise gegenüber denjenigen Kreisen ausgespielt, die nach dem Scheitern aller früheren eschatologischen Spekulationen die Wahrheit der Verheißung in Frage zu stellen beginnen und eine definitive Belehrung über die Dauer dieses Äons und den Zeitpunkt des Endes 1

Zur Sache vgl. E. FASCHEB, Theologische Beobachtungen zu Sei, in: Neutestamentliche Studien für R. Bultmann, S. 228ff. ; E. LOHSE, Märtyrer und Gottesknecht, 2. Aufl. 1963, S. 199 Anm. 7 ; E. FUCHS, Muß man an Jesus glauben, wenn man an Gott glauben will?, in: GA Bd. III, S. 267f.; DERS., Uber die Selbstbeherrschung als Bedingung einer christlichen Existenz im Selbstverständnis des Apostels Paulus, ebd. S. 321 f. 2 Vgl. L. VAGANAY, a.a.O. S. 71 (zu 4Esr): "Toutefois notre pseudo-prophète ne se hasarde pas dans des calculs très précis"; vgl. ebd. S. 72: ". . . notre auteur évite au contraire avec soin de donner des chiffres . . . Il se contente de données vagues et générales." 3 P. VOLZ, a.a.O. S. 141 (ähnlich L. VAGANAY, a.a.O. S. 70: "Cette conception déterministe de l'histoire n'a pas seulement pour but de rassurer les lecteurs impatients ou découragés, elle permet encore aux auteurs d'apocalypses de fixer exactement l'epoque de la fin du monde."). i Gegen Ph. VCELHAUER, der ähnlich wie P. VOLZ feststellt: „Da alles zeitlich genau determiniert ist, kann man das Ende dieses Äons berechnen." (bei HENNECKE3, Bd. II, 415) Zutreffend urteilt G. SCHOLEM, a.a.O. S. 26f. 5

P . VOLZ, e b d .

Die Neutralisierung der Naherwartung

321

verlangen. Von daher gesehen, ist RÖSSLER zuzustimmen, wenn er kritisch feststellt: „Die allgemeine und konventionelle Formel von der .spätjüdischen' oder .apokalyptischen' Eschatologie, der als einzige theologische Tendenz das .Berechnen des Endes' zugestanden wird, reicht nicht aus, um den religionsgeschichtlichen Tatbestand angemessen und vollständig zu beschreiben." „Die Charakterisierung der auf diese Weise ins Auge gefaßten Apokalyptik als ein Versuch, .das Ende zu berechnen', ist überdies sachlich falsch."1 1

A.a.O. S. 110 (Hervorhebung von mir); vgl. auch A. STROBEL, Die apokalyptische Sendung Jesu, S. 27ff.; DEBS., Kerygma und Apokalyptik, S.85fF.

21 Harnisch, Verhängnis

C. S C H L U S S B E T R A C H T U N G Als wichtigstes Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist festzuhalten, daß sich der (in 4Esr und sBar geltend gemachte) apokalyptische Geschichtsentwurf im Grunde einer Negation verdankt 1 . Wie dargelegt, handelt es sich bei dieser Negation um den Zweifel an der Wahrheit und Verläßlichkeit des göttlichen Verheißungswortes. Der Israels Geschick gegen Gott ausspielende, die Macht des ,verbum promissionis' radikal in Frage stellende Zweifel hat als einer der Faktoren zu gelten, die das Zustandekommen der in 4Esr und sBar vertretenen Zeit- und Geschichtsauffassung maßgeblich beeinflußt lind veranlaßt haben. Damit soll jedoch keineswegs behauptet werden, daß die von den Verfassern beider Schriften zur Geltung gebrachte theologische Konzeption selbst als Produkt der Skepsis zu beurteilen sei. Die apokalyptische Theologie, wie sie in 4Esr und sBar greifbar wird, lebt selbst nicht im .Element' der Skepsis, sondern sucht deren Einfluß im Gegenteil gerade einzudämmen und die durch sie heraufbeschworene Gefahr abzuwehren. Sie hängt aber mit der Skepsis insofern mittelbar zusammen, als sie durch jene allererst auf den Plan gerufen und zu einer entschiedenen Stellungnahme veranlaßt wurde. Selbst eine Gegenbewegung zum Zweifel, weiß sich die Apokalyptik doch gerade dem Anspruch der Skepsis ausgesetzt und durch sie zu einem eigenständigen, ihr überlegenen theologischen Entwurf herausgefordert. Dieser Sachverhalt geht besonders deutlich aus dem literarischen Aufriß der Esraapokalypse hervor. Wie gezeigt, beruht die dialogische Form dieser Schrift offensichtlich auf der Absicht des Verfassers, seine eigene Konzeption vor dem Hintergrund eines ganz anders gearteten Denkens vor Augen zu führen. Er läßt durch den Seher ein bestimmtes Seinsverständnis zu Wort kommen, das unverkennbar die Züge der Skepsis trägt, um demselben die eigene, durch den Mund des Offenbarungsengels wahrgenommene Position entgegenzusetzen (vgl. dazu die Ausführungen des Abschnitts A I dieser Arbeit [S. 19ff.], besonders die des Paragraphen A I 4 [S. 60ff.]). Spuren einer ähnlichen Auseinandersetzung lassen sich auch noch in sBar feststellen, wenn1 Anlehnung an eine Formulierung von E . F U C H S aus der Vorlesung ,Theologie des Neuen Testaments* (WS 1957/58 — vgl. das Vorlesungsscriptum vom SS 1966, S. 26).

21*

324

Schlußbetrachtung

gleich hier die Gestalt des Sehers kaum noch als Repräsentant einer Front, die der Apokalyptiker bekämpft und gegen die er polemisiert, in Erscheinung tritt (siehe dazu oben den Abschnitt A l l [S. 72ff.]). Sachlich stimmt das theologische Interesse des Verfassers von sBar, das sich nicht nur in den Worten des ,angelus interpres' bekundet, weitgehend mit dem des Autors von 4Esr überein, so daß man wohl bei beiden Schriften mit einer ähnlich gelagerten Frontstellung rechnen darf. Wir haben nachzuweisen versucht, daß die in beiden Apokalypsen geltend gemachte, polemisch konzipierte Zwei-Äonen-Lehre insonderheit darauf abzielt, das Problem des Ausbleibens der Verheißung zu lösen und in eins damit die unausweichlich gestellte Warum-Frage des Zweifels zu beantworten (vgl. die den ersten Hauptteil des Abschnitts B zusammenfassenden Bemerkungen S. 240ff.). Mit ihr soll die Position der Skepsis, die den Untergang Jerusalems (70 n. Chr.) als den deutlichsten Beweis für die Niederlage des göttlichen Wortes ausgibt, das Faktum der Leiden Israels als Argument einer Gottes Ohnmacht entlarvenden Anklage aufbietet und unter Berufung auf ein angeblich durch Adam verschuldetes (letztlich aber auf der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur beruhendes [4Esr]) Sündenverhängnis Sinn und Wert des Gesetzes in Frage stellt, erschüttert und ins Unrecht gesetzt werden. Dem Gesprächspartner wird zunächst eingeräumt, daß auf der Menschheit tatsächlich ein Verhängnis lastet, das durch die Tat des Protoplasten in Gang gesetzt wurde. Die .Geschichte' selbst ist als eine unheilvolle, im Zeichen der Widrigkeiten und Drangsale stehende Zeit aufzufassen: als ein Seinsgeschick, für dessen Zustandekommen nicht der Schöpfer, sondern ausschließlich die verhängnisvolle Tat Adams verantwortlich gemacht werden muß. Von daher gesehen, erklärt sich der Mißerfolg des erwählten Volkes als ein notwendiges Geschehen. Israel konnte des von Gott versprochenen Heils nicht teilhaftig werden, weil die durch Adams Übertretung verschuldete, als ntn D^iS? qualifizierte ,Geschichte' von vornherein und insgesamt unter dem Vorzeichen des Heilsentzugs steht. Der geschichtliche Weg des Gottesvolkes ist zwangsläufig von Leiden und von dem Widerfahrnis des Unglücks beschattet, weil er sich eben innerhalb der unheilsträchtigen Zeit dieses Äons vollzieht. Dies besagt jedoch nicht, daß die Verheißung für immer und endgültig außer Kraft gesetzt und aufgehoben ist. Mit Nachdruck treten die Verfasser von 4Esr und sBar der Auffassung entgegen, nach der das göttliche Wort durch das geschichtliche Geschick Israels widerlegt und als unglaubwürdig erwiesen sei. Beide widersetzen sich entschieden dem Eindruck, als sei die Verheißung annulliert. Adams Tat hatte

Schlußbetrachtung

325

lediglich zur Folge, daß ihre Erfüllung für die Dauer dieses Äons unmöglich gemacht wurde. Die göttliche Zusage steht weiterhin in Geltung, aber ihre .Ratifikation' bleibt einem wocAgeschichtlichen Zeitraum vorbehalten. Sie erfüllt sich erst im künftigen Äon, der das von Gott in Aussicht gestellte Heil bereithält. Die weitergehende Frage, wer zum Empfang dieses Heils berufen, wer als der wahre Adressat der Verheißung anzusprechen sei, wird in beiden Apokalypsen mit dem Hinweis auf das Gesetz beantwortet: An der Stellung zum Gesetz, die der einzelne in diesem Äon einnimmt, entscheidet sich sein Ergehen im künftigen Äon. Gegenüber einem Denken, das unter Berufung auf die Mosetora Gott das Ausbleiben seiner Verheißung vorhält und die Bürgschaft der Erwählung als Dokument einer gegen Gott gerichteten Anklage mißbraucht, nehmen die Verfasser von 4Esr und sBar das Gesetz als ,ius talionis' in Anspruch, als die unparteiische Norm des Gerichts, nach welcher das geschichtliche Verhalten des Menschen gemessen und die Entscheidung über sein eschatologisches Geschick gefällt wird. Hier wie dort liegt alles Gewicht auf dem Gedanken, daß die Kenntnis des Gesetzes jeden einzelnen dazu befähigt, die zum Empfang des Heils notwendige Qualifikation zu erlangen. Hier wie dort wird mit Nachdruck die Behauptung der Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit des Menschen ausgesprochen. Beide Apokalyptiker bestreiten also energisch die Grundthese ihrer Kontrahenten, nach welcher das durch die Verfehlung Adams ausgelöste Seinsgeschick zugleich alle zwangsläufig zu Objekten der Sünde macht. Sie übernehmen zwar die Vorstellung von der Geschichtswirksamkeit des adamitischen Falls, sind aber gleichzeitig bemüht, deren spekulative Implikationen abzuschwächen und die Sünde aus den verhängnisvollen Wirkungen der Tat Adams auszugrenzen. Beide machen geltend, daß der Mensch trotz seiner Gebundenheit an die schicksalhaften Zusammenhänge dieses Äons in der Lage ist, das Leben im Sinne des eschatologischen Heils zu gewinnen. Wie gezeigt, suchen sie dem Geschehen des alten Äons dadurch einen gewissen positiven Akzent abzugewinnen, daß sie es als die (befristete) Zeit der Bewährung kennzeichnen, in der für den Menschen ewiges Leben und ewiger Tod allererst auf dem Spiel stehen. So sehr sie einerseits betonen, daß dieser Äon das Zwischenspiel einer gottfernen Zeit darstellt, die im Zeichen der radikalen Jenseitigkeit und Unerreichbarkeit des Heils steht, suchen sie doch andererseits ebensosehr dem Eindruck entgegenzuwirken, als sei das geschichtliche Geschehen im Blick auf die Frage nach dem Gewinn oder Verlust des Heils völlig irrelevant und belanglos. Denn nur diejenigen, die sich im Bereich der ,Geschichte' als Gerechte erweisen, sind als die Adressaten der Verheißung zu betrachten. Dieser Äon hat zwar als die aus

326

Schlußbetrachtung

dem göttlichen Heilsentwurf ausgeklammerte Episode der Heilsferne zu gelten, aber seine relative Bedeutung liegt darin, daß er den Gerechten (aus Israel!) dazu verhilft, sich im Kampf mit dem Bösen als untadelig zu bewähren und sich dadurch für die Heilsteilnahme zu qualifizieren. Daraus wird ersichtlich, daß die apokalyptische Geschichtskonzeption, wie sie in 4Esr und sBar zutage tritt, dialektisch bestimmt ist. Beide Apokalyptiker suchen die ,Geschichte' einerseits als die in sich geschlossene, als Übel definierte Zeit des Hin nbia zu begreifen, deren Wesensmerkmal die Heilsferne darstellt. Andererseits sehen sie in ihr jedoch auch die dem Endgericht vorausgehende Zeit der Entscheidung, die allen Gesetzeskundigen die Möglichkeit eröffnet, das Anrecht auf den Besitz der eschatologischen Heilsgaben zu erwerben (siehe dazu wieder oben S. 240ff., Schluß des ersten Hauptteils von Abschnitt B). Es zeigte sich schließlich, daß die Verfasser von 4Esr und sBar den Standpunkt einer theozentrischen Zeitauffassung vertreten (siehe dazu oben S. 318 ff., Schlußparagraph des zweiten Hauptteils von Abschnitt B). Diese erlaubt es ihnen, die eschatologische Erwartung zu entspannen und von aller Terminspekulation zu entlasten. Beide bringen nachdrücklich den Gedanken zur Geltung, daß der Zeitenablauf seit Urzeiten festliegt und daß der Anbruch des Eschaton von bestimmten Faktoren (vgl. z.B. die [verborgene] Zahl der Gerechten) abhängt, die allein der göttlichen Verfügung unterliegen. Zwar wird das Ende hier wie dort als nah in Aussicht gestellt. Doch liegt alles Gewicht auf dem einschränkenden Zusatz, daß die von Gott bewirkte Beschleunigung der letzten Zeitphase ihr eigenes Maß besitzt und sich nach einem verborgenen Gesetz vollzieht. Allen Berechnungsversuchen des Menschen wird der Gedanke der Nezessität des geschichtlichen Ablaufs entgegengehalten — die herausfordernd gestellte Wann-Frage als unbillig und unzulässig verworfen. Hier wie dort ist das Interesse leitend, den unleugbaren, als unerträglich empfundenen Hiatus zwischen dem Jetzt und dem Dann als notwendig, d. h. als im göttlichen Plan vorgesehen zu behaupten und die Verzögerung des Eschaton als gottgewollt zu erklären. Indem beide Apokalyptiker dem eschatologischen Vorbehalt Gottes Rechnung tragen, suchen sie die Hoffnung auf das zur bestimmten Zeit mit Sicherheit eintreffende Ende zu stärken, ohne damit dem Enthusiasmus Vorschub zu leisten. Man wird diesen durch die Negation der Skepsis erzwungenen Entwurf apokalyptischen Denkens als eine theologische Apologie der Verheißung kennzeichnen dürfen. Sie sucht die Wahrheit des göttlichen Wortes zu rechtfertigen und der faktisch dominierenden Erfahrung der Ferne Gottes standzuhalten. Freilich ist dieser apokalyp-

Schlußbetrachtung

327

tische Versuch einer Theodizee von vornherein dadurch belastet, daß er das Problem der Aporie der Verheißung doktrinär, und das heißt: prinzipiell, bewältigen will. Der angefochtene, den Angriffen der Skepsis ausgesetzte Glaube wird nicht mehr nur zum neuen Hören des verläßlichen Gotteswortes ermutigt und dazu aufgefordert, sich in diesem Wort festzumachen und zu bergen 1 , sondern er wird darüber hinaus zur Übernahme einer Lehre verpflichtet. Es erhebt sich die Frage, ob diese den apokalyptischen Geschichtsentwurf promulgierende Lehre nicht in fataler Weise mit dem ,verbum promissionis' konkurriert, so sehr sie sich selbst gerade diesem Wort schuldig weiß und um seine Geltung besorgt ist. Es fragt sich, ob die Apokalyptik nicht doch „in eine letztlich abstrakte Geschichtskonstruktion ausbiegt"2, um die durch die Skepsis hervorgerufene Glaubenskrise zu überwinden und das infolge der Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. entstandene religiöse Vakuum auszufüllen. Andererseits läßt sich jedoch nicht verkennen, daß die Verfasser von 4Esr und sBar ungleich schwierigere Probleme zu bewältigen hatten, als dies in den vorausgegangenen Generationen der Fall war. Wenn sie es trotzdem unternahmen, „aus ihrem geistigen Raum heraus unter dem ganzen Einsatz ihrer . . . Erkenntnisse den großen Anfechtungen in der Öffentlichkeit zu begegnen" 3 , so muß dies als eine beachtliche Leistung verantwortlichen theologischen Denkens respektiert werden. Beide Apokalyptiker sind keine Enthusiasten, sondern im Grunde eher nüchterne, schrifterfahrene Gelehrte, die das von ihnen als wahr Erkannte immer neu und anders zu sagen wissen. Ihre Bücher, die wohl am zutreffendsten als Zeugnisse einer pharisäischen Apokalyptik zu kennzeichnen sind 4 , gewinnen ihre Dignität nicht erst dadurch, daß sie unter dem Decknamen eines Großen der Vergangenheit veröffentlicht werden. Was beide Schriften in Wahrheit legitimiert, ist nicht das in Anspruch genommene Pseudonym, sondern die Kraft der hier wie dort zur Geltung gebrachten Aussagen. 1

Vgl. E . F U C H S , RGG 3 IV, 436f. ; G. S C H U N A C K , a . a . O . S . 65FF. E. F U C H S , Zur Frage nach dem historischen Jesus. Ein Nachwort, in: GA Bd. III, S. 21 (Hervorhebung von mir). 3 G. v. R A D , Theologie des AT, Bd. I I , 1 . Aufl. I 9 6 0 , S . 3 2 1 . 4 Vgl. K . S C H U B E R T , Das Zeitalter der Apokalyptik, a.a.O. S. 479 (beide Apokalypsen stehen an „dem Grenzübergang der Apokalyptik in den Pharisäismus" [ebd.]); DERS., Die Religion des nachbiblischen Judentums, S. 36 und S.216 Anm.4; E . G A U G L E R , Das Spätjudentum, a.a.O. S.290; U . W X L C K E N S , ZThK 56/1959, 285 (zu 4Esr); A. S T R O B E L , Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, S. 27. 29; DERS., Kerygma und Apokalyptik, S. 126ff.; G. S C H O L E M , a.a.O. S. 21ff. — gegen D. RÖSSIJERS Behauptung der Unvereinbarkeit von pharisäischer und apokalyptischer Theologie (vgl. z.B. a.a.O. S. 110). Zur Sache vgl. auch K . S C H U B E R T , Die jüdischen Religionsparteien im Zeitalter Jesu, in: Der historische Jesus und der Christus unseres Glaubens, S. 40ff. 2

Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen sind in der Regel aus : Die Religion in Geschichte u n d Gegenwart, 3. Aufl., hrsg. von K . Galling, Tübingen 1957ff., übernommen. Gelegentlich wird auch das Abkürzungsverzeichnis des T h W (Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, begr. von G. Kittel, hrsg. von G. Friedrich, Stuttgart 1933ff.) benutzt. Folgende (von R G G abweichende) Abkürzungen sind gesondert anzuführen: W . BAUER, W B

=

W . BAUER,

Griechisch-deutsches

Wörterbuch

zu

den

Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, 5. Aufl. Berlin 1958 BILL. I - V = H . L. S T R A C K / P . B I L L E R B E C K , K o m m e n t a r zum Neuen Testament aus Talmud u n d Midrasch, Bd. I - I V , 3. Aufl. München 1961; Bd. V, München 1956 W . B O U S S E T - H . G R E S S M A N N = W . B O U S S E T , Die Religion des J u d e n t u m s im späthellenistischen Zeitalter, 3. Aufl. hrsg. von H . G R E S S M A N N (HNT 21), Tübingen 1926 R . BULTMANN, N T = R . BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 5. Aufl. Tübingen 1965 R . H . CHARLES, A P = The Apocrypha a n d Pseudepigrapha of the Old Testament in English, hrsg. von R . H . CHARLES, Oxford 1913 HENNECKE3 = Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hrsg. von E . HENNECKE; 3. Aufl. hrsg. von W. Schneemelcher, Tübingen 1959-1964 E . KAUTZSCH, A P = Die Apokryphen u n d Pseudepigraphen des Alten Testaments, hrsg. von E . KAUTZSCH, Tübingen 1900 (Neudruck 1921) P. RIESSLER = P. R I E S S L E R , Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, Augsburg 1928 E. SCHÜRER = E . S C H Ü R E R , Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. I - I I I , 4. Aufl. Leipzig 1901-1909 Bei Textzitaten finden folgende Zeichen und Abkürzungen Verwendung: ++ [ ] II * 4Esr sBar L a t (lat.) Syr (syr.) Aeth (aethiop.)

= = = = = = = = =

Konjektur Ergänzung Versabschnitt erste H a n d des MS das vierte Buch Esra die syrische Baruchapokalypse lateinische Version (von 4Esr) syrische Version äthiopische Version

Abkürzungsverzeichnis

330 ArabEw (arab.) ArabGild (arab.) Armen (armen.) Ep. Bar. Hs. Kp. V. ( W . ) par. (parr.) VIOL. I VIOL. I I

= = = = = = = =

arabische Version, hrsg. von H. E W A L D arabische Version, hrsg. von J . G I L D E M E I S T E B armenische Version (übersetzt von J . H. P E T E R M A N N ) Epistola Baruch Handschrift Kapitel Vers(e) Parallele(n) = B . V I O L E T , Die Esra-Apokalypse ( I V . Esra). Erster Teil: Die Überlieferung (GCS 18), Leipzig 1910 = B. V I O L E T , Die Apokalypsen des Esra und des Baruch in deutscher Gestalt (GCS 32), Leipzig 1924

Alle wicht näher gekennzeichneten Zitate aus 4Esr (Überlieferung und deutsche Übersetzung) und sBar (deutsche Übersetzimg) sind den beiden Textausgaben V I O L E T S ( V I O L . I / I I ) entnommen (die alte Verseinteilung wurde beibehalten; gelegentlich ist die Zeichensetzimg geändert). Kursivdruck eines Textzitates (bzw. von Teilen eines Textzitates) kennzeichnet die eigene Übersetzung (bzw. Änderung einer übernommenen Übersetzung). Das Syrische wurde nach den „Instruktionen für die alphabetischen Kataloge der preußischen Bibliotheken vom 10. Mai 1899, 2. Ausg. in der Fassung vom 10. August 1908" (Nachdruck Wiesbaden 1961) transkribiert (hilfreiche Hinweise für das Transkriptionsverfahren verdanke ich Herrn Dr. W. Hage [Maxburg]).

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