Untersuchungen zum späten Cicero
 9783666251207, 9783525251201

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HYPOMNEMATA H E F T 29

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN UND

ZU I H R E M

ZUR

ANTIKE

NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle / Hartmut Erbse Christian Habicht / Günther Patzig / Bruno Snell

Heft 29

VANDENHOECK

& RUPRECHT

IN GÖTTINGEN

KLAUS

BRINGMANN

Untersuchungen zum späten Cicero

VANDENHOECK& RUPRECHT I N GÖTTINGEN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

© Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1971. — Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Arbeit, mit der ich mich im Sommersemester 1969 an der Philipps-Universität Marburg/Lahn habilitierte, handelt von der — zumindest äußerlich gesehen — fruchtbarsten Schaffensperiode des Schriftstellers Cicero: den Jahren 46—44 v.Chr. Die große Zahl und der Voraussetzungsreichtum der in dieser Zeit entstandenen Schriften dürften es rechtfertigen, einige Bemerkungen darüber vorauszuschicken, was von dieser Arbeit erwartet werden darf und was nicht. Ciceros philosophische Schriften stellen bekanntlich Problemkreise der hellenistischen Philosophie dar. Einen Beitrag zu diesen griechischen Voraussetzungen oder gar den , Quellen' Ciceros zu leisten, ist hier nicht beabsichtigt. Auch geht es nicht um den ,Politiker' Cicero oder um die äußere Biographie. Untersucht wird vielmehr folgendes: die Beziehungen zwischen der Lebenssituation Ciceros und dem Charakter seiner Werke oder, anders ausgedrückt, die komplizierte Verbindung von βίος θεωρητικός und βίος πρακτικός. Eine repräsentative Auswahl aus dem reichen Werk jener Jahre soll ins Blickfeld gerückt, analysiert und auf ihre Absicht hin geprüft werden. Was die philosophischen Schriften angeht, so soll ihr innerer Zusammenhang ebenso verdeutlicht werden wie der Aufbau einiger dieser Schriften und die Stellungnahme Ciceros zu den angeschnittenen Problemen. In diesem Zusammenhang war auch die Frage zu berühren, welchen Einfluß Antiochos auf Ciceros Denken ausgeübt hat. Die Art, wie ich über Cicero zu schreiben mich bemüht habe, bedarf noch eines kurzen Hinweises. Daß man Cicero nicht mehr so lesen kann wie die philosophisch Interessierten des achtzehnten Jahrhunderts, die in Ciceros philosophischen Schriften Probleme ihrer Zeit behandelt und ihr eigenes Ideal vorgebildet fanden, liegt auf der Hand: So sehr hat das auf historische Erklärung gerichtete neunzehnte Jahrhundert die Perspektive auch des heutigen Betrachters festgelegt. Man weiß, daß gerade im vorigen Jahrhundert das Bild Ciceros ebenso sorgfältig im Detail wie negativ in der Tendenz gezeichnet wurde. Dem Verdikt eines Drumann und eines Mommsen ist in neuerer Zeit, nicht zum mindesten in Deutschland, eine — vor allem von philologischer Seite getragene — Apologetik gefolgt, deren forcierter Enthusiasmus kaum zu einer sachgerechteren Würdigung Ciceros geführt hat. Angesichts dieser wenig befriedigenden, 5

wenn auch historisch verständlichen, Einstellung zu Cicero habe ich mich bemüht, sine ira et studio zu schreiben und von meinem Autor die, wie ich glaube, notwendige Distanz zu wahren. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft habe ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses zu danken, meinem Freund und Kollegen, Herrn Dr. Dieter Flach, Marburg, für zahlreiche wertvolle Hinweise und für seine Unterstützung beim Korrekturlesen. Marburg/Lahn, im Juli 1970

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Klaus Bringmann

Inhalt Einleitung Brutus Orator

9 13 41

Paradoxa Stoicorum

60

Von der Politik zur Philosophie Das philosophische Werk: Motive und Absichten Hortensius und Académica

72 90 Ill

De finibus und Tusculanen

138

Physik und Theologie im philosophischen Werk Ciceros Die Rückkehr zur Politik De gloria Laelius de amicitia De officile

171 182 196 206 229

Schlußbetrachtung 251 Exkurse 256 I. Zur Frage der Echtheit von De optimo genere oratorum 256 II. Über das Verhältnis von Lucullus- und Cicerorede in den Académica pr 261 III. Zur Frage der Überarbeitung von De natura deorum . . . . 266 IV. Panaitios' Werk über die Pflichten als Vorlage für Ciceros Laelius de amicitia? V. Zur Interpretation des Matiusbriefes (Fam. 11,28) Literaturverzeichnis Verzeichnis der behandelten Sachprobleme

268 270 278 285

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Einleitung Am 25. September 47 v. Chr. wurde Cicero von Caesar in schonender und ehrenvoller Weise begnadigt. Damit war Cicero von der bedrohlichsten Belastung, der Ungewißheit über sein persönliches Schicksal, befreit. In den wenigen Jahren, die sein Leben noch währte, entstand ein umfangreiches literarisches Werk, das sich durch eigene Prägung von den Werken der fünfziger Jahre abhebt und durch seine formale und inhaltliche Vielfalt Staunen weckt. Es beansprucht auch vom historischen, nicht nur vom literarischen Standpunkt hohes Interesse. Soweit es in die Zeit nach Caesars Ermordung fällt, setzt es in gewisser Weise den politischen Kampf für die res publica mit literarischen Mitteln fort. Es wird seit einiger Zeit davor gewarnt, beide Bereiche, das Literarische und das Politische, den Schriftsteller und den Staatsmann, isoliert zu sehen1, ohne daß die Forschung aus dieser Warnung alle notwendigen Folgerungen schon hätte ziehen können. Gerade in den Jahren, in denen das Spätwerk entstand, treten Spannung und innere Beziehung, in denen die beiden Ciceros Dasein bestimmenden Lebensformen, der βίος πρακτικός und der βίος θεωρητικός, zueinander stehen, mit exemplarischer Deutlichkeit zutage; und so wäre es wenig sinnvoll, eine Untersuchung über das literarische Werk vorzulegen, die dessen Verhältnis zum öffentlichen Bereich nicht berücksichtigte. Die Aufgabe, die Teilaspekte aus ihrer Isolierung herauszulösen und die Zusammenhänge aufzuweisen, stellt sich auch noch in einem engeren Sinne; denn für das literarische Werk hatten sich die Aufgliederung und isolierte Behandlung nach Sachgebieten und literarischen Gattungen — man pflegt philosophische und rhetorische Schriften, Briefe und Reden zu sondern2 — weitgehend durchgesetzt. Die wissenschaftliche Debatte über die Werke der fünfziger Jahre hat zwar einiges über den inneren Zusammenhang und die verwandte Tendenz und Zielsetzung der Reden, der rhetorischen und der staatstheoretischen Schriften ausmachen können3, aber für die Interpretation 1

Vgl. H. Fuchs, Mus. Helv. 4, 1947, 187. Die Anlage des Cicero-Artikels der RE, in dem Cicero als Politiker, die rhetorischen, die philosophischen Schriften, die Briefe und Fragmente (eine eigene Behandlung der Reden durch J. Stroux ist nicht mehr zustande gekommen) gesonderte Darstellungen erhalten haben, kann als typisch für dieses traditionelle Verfahren gelten. 8 Vgl. etwa K. Büchner, Cicero, 491 f. mit Literatur. 2

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des Spätwerkes scheinen sich die dort gewonnenen Erkenntnisse noch wenig ausgewirkt zu haben — trotz der methodischen Anregungen, die F. Klingner in seinem Cicero-Essay gegeben hat 4 . Der Grund hierfür wird zu einem nicht geringen Teil in den besonderen Schwierigkeiten zu suchen sein, die dem Verständnis des ciceronianischen Spätwerkes entgegenstehen. Seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat die Frage nach den Quellen der philosophischen Schriften die Forschung sehr stark beschäftigt und die meisten Energien auf sich gezogen. So Wichtiges und Klärendes dabei auch zutage getreten ist, so widerspruchsvoll und zweifelhaft blieben viele Ergebnisse im einzelnen ; und — was bezeichnender ist — Cicero selbst trat hinter den Philosophen, deren Werke seinen philosophischen Schriften zugrunde liegen, immer stärker zurück: Die hellenistischen Systeme waren es, die man aus Cicero zurückzugewinnen suchte; was von ihm selbst blieb, waren die Ungeschicklichkeiten und Mißverständnisse, durch die der Dilettant die Originale entstellt haben sollte5. Und als es darum ging, Ciceros 'Arbeitsweise' zu klären oder gar seine schriftstellerische Kunst zu würdigen und das 'Eigene' von den Vorlagen abzuheben, da stellte sich einem solchen Vorhaben hemmend in den Weg, daß die Werke, die Cicero benutzte, weder erhalten sind noch — von wenigen Ausnahmen abgesehen — unabhängig von Cicero rekonstruiert werden können ; und so mußte es der Forschung versagt bleiben, für Ciceros philosophische Schriften etwa das zu leisten, was R. Heinze für den Epiker Vergil gelungen war. Neben die schwer lösbaren Probleme der Quellenforschung tritt noch eine andere, kaum geringere Schwierigkeit: In welcher inneren Beziehung die rhetorischen Schriften des Jahres 46 zu den philosophischen der Jahre 45/44 stehen oder die politischen Reden und Briefe zu den allem Politischen fernstehenden Erörterungen über Erkenntnistheorie und Individualethik, scheint zunächst undurchschaubar und legt die Vermutung nahe, daß beim späten Cicero Disparates ohne Zusammenhang nebeneinandersteht. Zwar ist hier die Erkenntnis hilfreich, daß bei Cicero, anders als bei einem Autor, dessen Werk sich aus rein literarischen Voraussetzungen folgerichtig entwickelt, der äußere Anlaß und die äußere Situation auf Thematik und Tendenz des Werkes in nicht geringem Maße eingewirkt haben; aber ob diese Erklärungsweise allein ausreicht oder ob sie ergänzungsbedürftig 4 Rom. Geisteswelt, llOff. In dem Cicero-Buch K.Büchners, das sich im Ansatz eng an Klingners Aufsatz anschließt, vermag gerade die Behandlung des Spätwerkes nicht zu befriedigen. M. Greizers neues Cicero-Buch, auf der Grundlage des RE-Artikels "Cicero als Politiker' fußend, betont die biographisch-historischen Aspekte stärker als die des literarischen Werkes. 5 Zur Problematik der 'Quellenforschung' vgl. P. Boyancé, REL 14, 1936,

288ff.

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ist — etwa im Hinblick darauf, daß die einzelnen Werke aus sich heraus Tendenzen entwickeln, die den Übergang zu einer neuen Thematik vorbereiten —, bleibt zu fragen und muß in der Einzelinterpretation geklärt werden. Caesars Alleinherrschaft verschloß Cicero die Möglichkeit, seinem Rang entsprechend an der Leitung der res publica teilzunehmen. Die auf diese Weise erzwungene Muße ist vor allem den 'studia' und litterae' zugute gekommen. Und doch ist daraus nicht zu schließen, daß Leben und Werk zwischen der Rückkehr nach Rom (Oktober 47) und Caesars Ermordung (15. März 44) eine undifferenzierte, geschlossene Einheit bilden. Das literarische Werk des Jahres 46 hebt sich deutlich von den Schriften der Jahre 45/44 ab : An die Stelle der thematischen und formalen Vielfalt, die für die Werke des Jahres 46 charakteristisch ist e , tritt die Beschränkung auf die Philosophie und die literarische Form des Dialogs. Und während Cicero im Jahre 46 keineswegs auf freimütige politische Meinungsäußerungen verzichtete, hat er sich im Jahre 45/44 am weitesten von allem Politischen zurückgezogen. Wie konnte es zu diesem auf den ersten Blick erstaunlichen Bruch kommen? Man macht meist den Tod Tullías im Februar 45 dafür verantwortlich : Die seelische Erschütterung habe den im Innersten getroffenen Vater auf die Heilmittel der Philosophie verwiesen. Aber so Richtiges hier auch gesehen ist, so unvollständig ist diese Erklärung doch im ganzen. Am ehesten lassen noch die Consolatio und, in geringerem Maße, der Hortensius etwas davon verspüren, daß die Beschäftigung mit der Philosophie einem Bedürfnis nach Trost entsprungen ist. Aber die zahlreichen folgenden Werke sind viel stärker durch eine bloß literarische Absicht geprägt: den Römern die griechische Philosophie in lateinischer Sprache darzustellen, und schon der Hortensius war dazu bestimmt, als προτρεπτικός είς φιλοσοφίαν das neue literarische Vorhaben einzuleiten. Daß nur der äußere Anlaß, Tullías Tod, ihn dazu veranlaßt hätte, an eine umfassende Darstellung der hellenistischen Philosophie heranzugehen, erscheint von vornherein wenig wahrscheinlich. Daß im Jahre 46 die verschiedensten äußeren Anlässe und inneren Antriebe sich kreuzen, macht die Schwierigkeit, aber auch den Reiz der Beschäftigung mit den Schriften dieses Jahres aus. Es wird sich zeigen lassen, daß sich in literarischen Werken wie privaten Äußerungen die Geschlossenheit und Einheit von Leben und Werk ankündigen, wie sie in der Zeit von Tullías Tod bis zu Caesars Ermordung durch die Hinwendung zur Philosophie gegeben sind. Die letzte Lebensphase (vom 15. März bis zum 9. Dezember 43) ist dann in zunehmendem 6

Rhetorisches, Philosophisches und Politisches sind in die verschiedenen literarischen Formen des Dialogs, der Lehrschrift, der Diatribe, der Rede gefaßt: Brutus, Orator, Paradoxa Stoicorum, Cato, Pro Marcello, Pro Ligario.

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Maße durch den Kampf um die res publica bestimmt, doch so, daß das philosophische Anliegen weiterwirkt und sich in eigentümlicher Weise mit dem politischen verbindet. Nicht nur, daß neben philosophischen Schriften die philippischen Reden stehen: das Politische wird in die philosophischen Erörterungen einbezogen, und umgekehrt scheinen auch Ciceros politische Haltung und der Stil7 der politischen Reden von der Beschäftigung mit der Philosophie, der Umsetzung des Griechischen ins Lateinische, beeinflußt zu sein. ' Vgl. hierzu H. Müller, Cic.'s Prosaübersetzungerl, 148ff.

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Brutus Als Cicero am 1. Mai des Jahres 51 nach Kilikien aufbrach, hatte er gerade die sechs Bücher De re publica veröffentlicht. Unvollendet geblieben war das Werk über die Gesetze, das dazu bestimmt war, De re publica zu ergänzen. Wie Cicero hier den Nachweis zu erbringen suchte, daß im römischen Staat das Ideal der Staatstheoretiker verwirklicht sei, so sollte in De legibus die Rechtsordnung dieses Staates im Naturrecht der Philosophen begründet werden. Statthalterschaft, Bürgerkrieg und der Aufenthalt in Brundisium erzwangen eine Unterbrechung der literarischen Arbeit, und als Cicero nach fast fünf Jahren neu begann, knüpfte er nicht mehr da an, wo er im Jahre 51 hatte abbrechen müssen. Das erste Werk, das nach der Begnadigung durch Caesar entstand, ist ein Dialog über die Geschichte der römischen Redekunst, der Brutus 1 . Wie fern Cicero damals seinem älteren literarischen Werk stand, hat er in Brut. 15f. selbst deutlich gemacht. Dort dankt er Atticus für die Widmung des Liber annalis, kündigt eine Gegengabe an und bittet um Nachsicht, wenn er durch diese Gegengabe den Wert des Empfangenen nicht werde aufwiegen können; denn weder aus neuer Ernte noch von dem, was er bereits in der Scheuer geborgen habe, vermöge er zu nehmen: . . ., nec ex conditis, qui iacent in tenebrie et ad quos omnis nobis aditus, qui paene solis patuit, obstructus est. Die Annahme, daß Cicero damit De legibus meint, ist zwar umstritten 2 , bleibt aber, genau besehen, die einzige Möglichkeit, die zitierte Stelle zu verstehen. Denn die Ankündigung Ciceros, er wolle ein Werk auf der Grundlage der historisch-chronologischen Forschungen des Atticus, die im Liber annalis niedergelegt waren, verfassen und dem Freunde zueignen, verbietet es, die eingebrachten Früchte, 'ad quos omnis aditus . . . obstructus est', mit einem Geschichtswerk zu identifizieren3, und an die άνέκδοτα wird man schon deshalb nicht 1 Vgl. Atticus' Worte in § 19: . . .; iam pridem enim conticuerunt tuae litterae. Nam ut illos de re publica libros edidisti, nihil a te sane postea accepimus. 2 Vgl. die Übersieht über die verschiedenen Erklärungsversuche bei E. A. Robinson, Harv. Stud. 60, 1951, 143f.: Man bezog die zitierte Stelle auf die άνέκδοτα, auf ein Geschichtswerk oder auf De legibus. 3 Plutarch, Cic. 41 berichtet, wohl der Biographie des Tiro folgend, von dem offenbar ins Jahr 46 gehörenden Plan (der Textzusammenhang weist auf dieses Jahr), ein Geschichtswerk zu verfassen — und zwar sollte nicht mehr die Geschichte der eigenen Zeit, wie es im Jahre 52 noch beabsichtigt war, sondern

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denken dürfen, weil dieses Werk auch zur Zeit des Triumvirats, genauer : vor Ausbruch des Bürgerkrieges, inopportun war und Cicero an eine Veröffentlichung ebensowenig wie im Jahre 47/46 hätte denken können. Das Bild der fructus conditi, 'qui iacent in tenebria et ad quos omnis nobis aditus, qui paene solis patuit, obstructus est', ist nur dann sinnvoll, wenn es sich auf ein begonnenes, aber noch nicht vollendetes Werk bezieht und wenn zwischen der Arbeit an diesem Werk und dem Jahre 47/46 ein Ereignis eingetreten ist, das die Wiederaufnahme der Arbeit zu verhindern geeignet war. Beide Voraussetzungen treffen am ehesten, wenn überhaupt auf eines der Werke Ciceros, auf De legibus zu. In De or. 1,187 ff. hatte Cicero in knappen Umrissen die Methode entwickelt, nach der das ius civile in eine klare Systematik zu bringen sei: dadurch, daß die Dialektik auf dén ungegliederten Stoff angewandt werde4. Daß er diese Aufgabe selbst in Angriff zu nehmen beabsichtigte, wird in § 190 angedeutet: Si enim aut mihi (sc. Crasso) facere licuerit, quod iam diu cogito, aut alius quispiam aut me impedito occupant aut mortuo effecerit, ut primum omne ius civile in genera digerat . . . Wie Gellius bezeugt®, hat Cicero ein Buch verfaßt, das den Titel trug 'De iure civili in artem redigendo'. Wenn es sich dabei um eines der Bücher De legibus handeln sollte — Sicherheit ist hier freilich nicht zu gewinnen® —, so wäre deutlich, warum er seinen Plan nicht zu Ende führte : Ser. Sulpicius Rufus hatte inzwischen — so wenigstens stellt es Cicero dar 7 — das geleistet, was er, Cicero, zu tun beabsichtigt hatte: Hic enim adtulit hanc artem omnium artium maxumam quasi lucem ad ea, quae confuse ab aliis aut respondebantur aut agebantur. Dialecticam mihi videris dicere, inquit (sc. Brutus). Aber auch wenn das Buch 'De iure civili in artem redigendo' nichts mit De legibus zu tun hat, bliebe die Wahrscheinlichkeit, daß Cicero in Brut. 16 auf De legibus anspielt: Niemand war so wie er, der die griechische Philosophie wie kein anderer Römer kannte, dazu befähigt, die positive Rechtsordnung im Naturrecht der Philosophen zu die gesamte römische Geschichte von der Urzeit an in ihrer Verknüpfung mit der griechischen Sage und Geschichte dargestellt werden: vgl. S. Häfner, Die lit. Pläne Cic.'s, 87 ff. 4 Zu Ciceros Programm einer wissenschaftlichen Jurisprudenz vgl. H. J . Mette, lus civile in artem redactum, Göttingen 1954, 50ff. 5 Noct. Att. 1,22,7; vgl. Quint., Inst. or. 12,3,10. 6 Vgl. A. Wilkins, Komm. z. De or. 1,190 mit Hinweisen auf ältere Stellungnahmen zum Problem. 7 Brut. 162f.: Wenn Sulpicius seine an der griechischen Philosophie gewonnene methodische Schulung auch an juristische Probleme herantrug (vgl. Mette, a.a.O. 8ff.), so hat er doch kein systematisches Lehrbuch, wie es Cicero vorschwebte, verfaßt; auch hatte er in Q. Mucius Scaevola, cos. 95, einen Vorgänger: Pomponius, Dig. 1,2,2,41.

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begründen, und das Erlebnis des Bürgerkrieges war Grund genug, daß er um die Jahreswende 47/46 keinen Zugang zu einem auf die Rechtsordnung eines idealen Rom bezogenen Werk finden konnte8. P. Groebe bestimmte aufgrund von Par. Stoic. 5 die Wochen des niedrigsten Sonnenstandes, also die Monate Februar, Intercalane und März 46, als Entstehungszeit des Brutus9. E.A.Robinson dagegen datiert den Beginn der Arbeit in den Oktober/ November 47 und rekonstruiert die Entstehungsgeschichte des Brutus so 1 0 : Die Übersicht über die römischen Redner sei etwa im Januar 46 abgeschlossen gewesen, Cicero habe jedoch dann den ursprünglichen Plan, das Thema vom rein literarhistorischen Standpunkt abzuhandeln, geändert und die Absicht gefaßt, Kritik an den politischen Verhältnissen einzubeziehen. Darüber sei es zu Meinungsverschiedenheiten mit Brutus und Atticus gekommen; während dieser Zeit habe Cicero den Brutus beiseite gelegt und De optimo genere oratorum11 ausgearbeitet. Erst im März habe er dann das größere Werk vollendet und publiziert. Diese Hypothese begegnet den größten Schwierigkeiten: Der Text des Brutus bietet keine Handhabe, das Politische als Zusatz von einem ursprünglich ganz unpolitischen Zusammenhang abzulösen, und die beiden Stellen, Att. 13,22,1 und Quint., Inst. or. 5,10,9, aus denen Robinson den Widerspruch des Brutus und Atticus gegen die politische Polemik des ciceronianischen Brutus herausliest, geben keinen Anhalt für die Vermutung, daß die politische Tendenz des Werkes Gegenstand einer Kontroverse gewesen sei, mehr noch : Att. 13, 22,1 hat mit dem Brutus überhaupt nichts zu tun, und die Annahme, das Brieffragment Ad M. Brutum bei Quintilian, a.a.O. nehme auf die politischen Äußerungen des Brutus Bezug, beruht auf einer unbeweisbaren, nicht einmal wahrscheinlichen Vermutung 0 . E. Schmidts12. Robinson glaubt, aufgrund von Att. 13,12,3 beweisen zu können, daß Cicero schon im Herbst 47 mit der Arbeit am Brutus begann: Quod ad me de Varrone scribis, seis me antea orationes aut aliquid 8 Anders K. Ziegler in seiner De-legibus-Ausgabe, Heidelberg 1950, 9: E r vermutet, daß in Brut. 16 das Bild des Ackers, der viele Jahre unbestellt blieb, um ausgeruht um so reichere Früchte — d. h. weitere Werke imbestimmten Inhalts — zu tragen, das Versprechen enthalte, die Arbeit an De legibus wiederaufzunehmen: Mit ager meine Cicero wohl das fünf Jahre liegengebliebene Werk. Das scheitert schon daran, daß ager bildlich für animus steht. Cicero denkt an die lange Unterbrechung seiner literarischen Arbeit und wünscht, daß sein Geist wie ein Acker, der lange ruhte, reichere Früchte hervorbringe. 8 Hermes 65, 1920, 105ff. ( = Drumann-Groebe, Gesch. Roms VI, 683ff.). 10 Harv. Stud. 60, 1951, 137ff. 11 Zur Frage der Echtheit dieses Werkes vgl. Exkurs I, 256 ff. 12 Briefwechsel, 244.

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id genus solitum scribere ut Varronem nusquam possem intexere. Postea autem quam haec coepi φιλολογώτερα, iam Varrò mihi denuntiaverat magnam sane et gravem προσφώνησαν. Biennium praeteriit, cum ille Καλλιππίδης adsiduo cursu cubitum nullum processerit, ego autem me parabam ad id quod ille mihi misisset ut 'αύτω τω μέτρω . . 1S. Aus diesen Angaben läßt sich zwar errechnen, daß Varrò etwa im September 47 Cicero die Widmung eines Werkes ankündigte, aber die Inversion der Tempora in dem Satz: 'Postea autem quam haec coepi φιλολογώτερα, iam Varrò mihi denuntiaverat . . sichert die Priorität der Ankündigung Varros. Cicero will erklären, warum er Varrò noch nichts gewidmet habe: Früher habe das der Charakter seiner Werke (orationes aut aliquid id genus) nicht zugelassen, und nach dem Beginn seiner mehr wissenschaftlichen Arbeiten14 habe er sich deswegen zurückgehalten, weil Varrò bereits eine Widmung angekündigt hatte und er, Cicero, ihm nicht zuvorkommen wollte1B. Wie alle Indizien gegen Robinsons Datierung sprechen, so unhaltbar erweist sich auch seine Hypothese zur Entstehung des Brutus, wenn man ihr Kernstück, die Annahme, daß das Politische in einen rein literarhistorischen Kontext später eingefügt wurde, am Text des Brutus auf seine Stichhaltigkeit prüft. Der Brutus handelt von der Geschichte einer Kunstgattung in Rom, der Beredsamkeit. Mit dieser Thematik ist von vornherein ein politischer Aspekt dadurch gegeben, daß der Wirkungskreis des Redners Kurie und Forum ist und die Redekunst wegen ihrer öffentlichen Funktion in weit stärkerem Maße mit Politik verknüpft ist als alle übrigen Zweige der Literatur. Die römische Redekunst hatte der Bürgerkrieg zum Verstummen gebracht: Von daher gesehen fügt sich die Zeitkritik, an der im Brutus kein Mangel ist, zur Thematik des Werkes. Über die ältere Auffassung, die das Politische in der bloßen Klage über den Verlust der res publica sah, suchte M. Geizer hinauszukommen, indem er besonderen Nachdruck auf eine positive poli13

TAPhA 80, 1949, 368ff. Was mit 'these more erudite compositions' (Shackleton Bailey, Cicero's Letters to Atticus Y, 201) gemeint ist, ob sie mit dem Brutus einsetzen oder erst mit dem Hortensius, ist nicht ganz deutlich. Die Untersuchungen von H. Kuch, ΦΙΛΟΛΟΓΟΣ, Berlin 1965, 60ff. und Φιλόλογος bei Cicero, Helikon 4, 1964, 99 ff. haben freilich die enge Beziehimg des Begriffs auf das theoretischphilosophische Werk dargetan. Dies und die Tatsache, daß Cicero den φιλολογώτερα die orationes aut aliquid id genus (rhetorische Schriften?) gegenüberstellt, sprechen für das philosophische Werk, von dem am 23. Juni 45 der Hortensius, Catulus und Lucullus vorlagen und De finibus so gut wie abgeschlossen war. 16 Vgl. auch Shackleton Bailey, a.a.O. 366: . . ; and E.A.Robinson's chronological discussion in Trans. Am. Phil. Ass. 80 (1949), pp. 368ff. is therefore built on sand.' 14

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tische Absicht legt, die Cicero im Brutus geleitet habe 16 : Caesar sollte lesen, was Cicero von der Lage der res publica hielt, und aufgefordert werden, die Republik als ein 'zweiter Sulla' wiederherzustellen. Gegen diesen Versuch, die nicht zu leugnende politische Tendenz des Werkes als versteckte Forderung an Caesar zu verstehen, erheben sich jedoch Bedenken 17 . Zunächst ist daran zu erinnern, daß der Brutus zu einer Zeit verfaßt wurde, als der Krieg in Afrika noch nicht entschieden war und Cicero also nicht wissen konnte, welcher Partei die Aufgabe einer politischen Neuordnung zufallen würde. Nicht nur, daß es unklug und unangemessen gewesen wäre, wenn er sich schon im März 46, wenigstens indirekt, an Caesar gewandt hätte : Nirgends vermag die Interpretation der zahlreichen auf Politisches bezüglichen Stellen 18 einen konkreten politischen Vorschlag aufzuzeigen oder kann sie auch nur wahrscheinlich machen, daß Cicero durch den Brutus Einfluß auf Caesar gewinnen wollte. Die scharfe Verurteilung des Bürgerkrieges und die Klage über die Lage der res publica weisen denn auch in eine ganz andere Richtung: nämlich die der Selbstrechtfertigung gegenüber den optimatischen Standesgenossen, die ihm seine vermittelnde Haltung verübelten. Der Brutus setzt ein mit einem Nachruf auf Ciceros großen Rivalen in der Redekunst, Q. Hortensius Hortalus, der im Jahre 50, kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges, gestorben war. Dieser Nachruf gliedert sich in drei Abschnitte: Der erste (§§1-3) ist ganz dem Schmerz und der Trauer über den Tod des Hortensius gewidmet; der zweite (§§ 4-6) prägt den aus der Konsolationsliteratur stammenden Gedanken, daß der Tod für den Verstorbenen zur rechten Zeit eingetreten sei und man ihn deshalb für glücklich halten müsse, in der Weise aus, daß die Katastrophe des Bürgerkrieges als Nebenthema anklingt : Lebte Hortensius noch, müßte er nicht nur wie alle anderen die freie res publica entbehren, sondern dazu noch die Verödung des Forums auf das schmerzlichste empfinden. Der dritte Abschnitt (§§ 7-9) löst sich ganz von dem Ausgangspunkt: Die Kritik an der Zeit wird ohne Bezug auf Hortensius' rechtzeitiges Sterben vorgetragen und verdichtet sich zu der Befürchtung, daß in einem Staat, in dem die Bürger die Waffen gegeneinander erheben, für die Beredsamkeit und alles, was durch sie verkörpert ist, das auf Einsicht, Klugheit und Ansehen gegründete Wirken des Staatsmannes in einem wohlgeordneten Gemeinwesen, kein Raum mehr ist: Equidem angor 16

Philol. 93, 1938, 128ff.; Cicero, RE, 1008ff. und auch Cicero, 26öff. Vgl. K. Büchner, Cicero, 326; in seinen Darlegungen überzeugt vor allem, daß aus Brut. 227 nicht ein Angebot an Caesar herausgelesen werden kann, unter welchen Bedingungen die Wiederherstellung der res publica möglich sei. 18 Umfangreichste Sammlung dieser Stellen findet sich bei S. J. Adamczyk, Political Propaganda in Cicero's Essays, 29ff. 17

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animo non consili, non ingeni, non auctoritatis armis egere rem publicam, quae didiceram tractare quibusque me adsuefeceram quaeque erant propria cum praestantis in re publica viri tum bene moratae et bene constitutae civitatis (§7). Gerade als der Staat der auctoritas et oratio boni civis am dringendsten bedurfte, wurde das patrocinium pacis aus Irrtum oder Furcht ausgeschlossen, und die Machthaber griffen zu den Waffen, 'quibus illi ipsi, qui didicerant eis uti gloriose, quem ad modum salutariter uterentur non reperiebant' (§ 8). Von der Erfahrung der Gegenwart her, in der politische Macht und politische Einsicht auseinanderfallen, erhält die Glücklichpreisung der Vorfahren, denen es vergönnt war, beides zu vereinen 19 , ihren aktuellen politischen Bezug. Es ist der Schmerz über den Bürgerkrieg, der den Kontrast zu der wohltuenden Erinnerung an die großen Männer der Vergangenheit bildet: Quorum memoria et recordatio in maxumis nostris gravissimisque curis iucunda sane fuit, cum in eam nuper ex sermone quodam incidissemus (§9). Als man zu den Waffen griff, verödete das Forum und fand die Beredsamkeit zusammen mit der freien res publica in dem Augenblick, in dem sie zur höchsten Vollendung gelangt war, ein gewaltsames Ende : Sic Q. Hortensi vox exstincta fato suo est, nostra publico (§ 328). Eigene Erfahrung und geschichtliche Besinnung führten in gleicher Weise zu der Erkenntnis, daß Beredsamkeit und eine freie res publica ihrem Wesen nach zusammengehören: Nec enim in constituentibus rem publicam nec in bella gerentibus nec in impeditis ac regum dominatione devinctis nasci cupiditas dicendi solet. Pacis est comes otique socia et iam bene constitutae civitatis quasi alumna quaedam eloquentia 20 . Aus der Klage über die zerstörte res publica und die verstummende Redekunst hebt sich nirgends ein Vorschlag heraus, wie dieses Unglück überwunden werden könnte. Der Krieg dauerte an, und man mußte mit noch Schlimmerem rechnen, als bereits geschehen war 21 . Schon als der Krieg ausbrach, war das patrocinium pacis ausgeschlossen worden: Wie sollte man auf Vernunft mitten im Kriege rechnen? Die Frage, wer die Schuld am Bürgerkrieg trage, beantwortet Cicero, bei aller Kritik an den Anhängern Caesars22, nicht mit einer 19 Itaque ei mihi videntur fortunate beateque vixisse cum in ceteris civitatibus tum maxume in nostra, quibus cum auctoritate rerumque gestarum gloria tum etiam sapientiae laude perfrui licuit (§ 9). 20 §45; vgl. De or. 1,30; 2,33. 21 Nam et praeteritorum recordatio est acerba et acerbior exspectatio reliquorum (§ 266). 22 Vgl. die Bemerkungen zu Curios imperium in §§ 281 f. oder die allgemeine Polemik in § 24 : . . . eoque magis ista dicendi laude delector, quod cetera, quae sunt quondam habita in civitate pulcherrima, nemo est tam humilis, qui se

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einseitigen Beschuldigung Caesars : Saepe enim inter nos impendentis casus deflevimus, cum belli civilis causas in privatorum cupiditatibus inclusas, pacis spem a publico Consilio esse exclusam videremus 23 . Daß die Ursache des Bürgerkrieges letztlich im persönlichen Machtstreben der Führer beider Parteien lag, hatte Cicero schon im Dezember 50 ausgesprochen 24 . Auch er hat keinen Zweifel daran gelassen, daß die Entschlossenheit der Optimaten, Caesar in die Knie zu zwingen, den Ausbruch des Krieges provozierte. Am 25. Dezember 50 fand er in einer Unterredung mit Pompeius die Optimaten nicht einmal gewillt zu einem friedlichen Ausweg 26 , und als er noch Anfang Januar 49 durch Vermittlungsvorschläge das Schlimmste verhüten wollte und zuerst Caesar, dann auch Pompeius geneigt schienen, darauf einzugehen, scheiterte er an der Intransigenz der geschworenen Feinde Caesars 26 : Vieta est auetoritas mea non tarn a Pompeio -— nam is movebatur —, quam ab eis, qui duce Pompeio freti peropportunam et rebus domesticis et cupiditatibus suis illius belli victoriam fore putabant 2 7 . Die Klage des Proömiums (§7): r Quod si fuit in re publica tempus ullum, cum extorquere arma posset e manibus iratorum civium boni civis auetoritas et oratio, tum profecto fuit, cum patrocinium pacis exclusum est aut errore hominum aut timore' und die Bemerkung des Brutus in § 266 : '. . . doleo nihil t u a m perpetuam auetoritatem de pace valuisse' beziehen sich in erster Linie auf das Verhalten der Optimaten und erst in zweiter auf das Caesars 28 . Diese Auffassung wird auch dadurch gestützt, daß Cicero in zahlreichen Briefen des Jahres 46 sein Verhalten in derselben Weise wie im Brutus schildert. An L. Mescinius Rufus schrieb er im April 46, zuerst sei es ihm darum gegangen zu verhindern, daß ein Mann stärker würde, als mit einem ehrenvollen Frieden vereinbar wäre, dann, als sich herausgestellt hatte, daß die militärische Macht die Überlegenheit über den 'consensus bonorum' gewann, wenigstens den Krieg mit dem Stärkeren zu vermeiden und den Frieden unter allen Umständen zu bewahren; hätte Pompeius ihn nicht beneidet: et ipse non aut posse adipisoi aut adeptum putet ; eloquentem neminem video factum esse victoria (ähnlich § 330). •* § 329; vgl. §§ 7ff. 24 Att. 7,3,4: De sua potentia dimicant homines hoc tempore periculo civitatis. 26 Att. 7,8,4: Quod quaeris ecquae spes pacificationis sit, quantum ex Pompei multo et accurato sermone perspexi, ne voluntas quidem est. 28 Vgl. M. Gelzer, Cicero, RE, 991 f. 27 Fam. 6,6,6; vgl. 4,1,1 (Anfang April 49) und 16,12,2. 28 Dieser hatte sich erst viel später, als nämlich Pompeius und die Konsuln nach Griechenland abgereist waren, um den Krieg vom Osten aus zu fuhren, offen ablehnend gegen einen letzten Versuch Ciceros gewandt, einen Ausgleich zu vermitteln: vgl. Att. 9,11 und IIa; ferner 9, 18 und 8,9. 19

beatua esset et omnes boni (Fam. 5,21,2). Und hätte man auf ihn gehört, dann wären Pompeius und die vielen im Krieg umgekommenen Republikaner noch am Leben: Qui si me audissent, quamvis iniqua pace, honeste tarnen viverent 29 . Auch wäre Caesar, wie er später an A. Caecina schrieb 30 , nicht zu so unumschränkter Machtfülle gelangt, wie er sie durch den Bürgerkrieg tatsächlich erreichte: . . .; nolo enim hunc (sc. Caesarem) de me optime meritum existimare ea me suasisse Pompeio, quibus ille si paruisset, esset hic quidem clarus in toga et princeps, sed tantas opes, quantas nunc habet, non haberet. Ebensowenig wie im Jahre 49 ließ Cicero im Jahre 46 einen Zweifel daran, daß in seinen Augen die Sache der Gegner Caesars die bessere war, daß man sich aber nicht auf einen Krieg hätte einlassen dürfen: . . .; non enim iis rebus pugnabamus, quibus valere poteramus, Consilio, auctoritate, causa, quae erant in nobis superiora, sed lacertis et viribus, quibus pares non eramus 31 . Nicht zufällig lehnen sich diese Formulierungen eng an die Klagen im Proömium des Brutus an: Dahinter steht die schmerzliche Einsicht, daß das Schlimmste hätte vermieden werden können, wenn nur die Stimme der Vernunft, das patrocinium pacis, sich gegen die Entschlossenheit der irati cives, den Konflikt mit Waffengewalt auszutragen, hätte durchsetzen können. Man hatte auf das vermittelnde Wort des Redners und Staatsmannes nicht hören wollen, und so hatten im Bürgerkrieg die res publica und die Redekunst zugleich ihr Ende gefunden. In der Klage über den Untergang des wohlgeordneten Staatswesens und der Beredsamkeit offenbart sich, wie aus der Thematik des Werkes die Kritik an den politischen Zuständen hervorwächst, aber nirgends ergibt sich ein Anhaltspunkt dafür, daß Cicero mit dem Brutus speziell auf Caesar einwirken wollte. In De oratore hatte Cicero an die Stelle des bloß technischen Jugendwerkes De inventione etwas Ausgereifteres geben wollen32 und hier das Ideal eines Redners entworfen, der über alles Schulmäßige frei 29

Fam. 7,3,6: honeste deshalb, weil ihre Sache die bessere war: Armis enim inferiores, non causa fuissent. 30 Fam. 6,6,5 ; schon im Dezember 50 wollte er den Frieden erhalten, um eine Alleinherrschaft — mochte der Tyrann Caesar oder Pompeius heißen — zu verhindern: Pace opus est; ex victoria cum multa mala tum certe tyrannus exsistet (Att. 7,5,4). 31 Fam. 4,7,2 an M.Marcellus; daß ein Krieg, nachdem man Caesar erst einmal hatte mächtig werden lassen, nicht riskiert werden durfte, war Ciceros Meinimg schon vor Ausbruch des Krieges: Att. 7,5,5 und 3,4; 7,5f. Dazu stimmt die Rechtfertigimg seiner politischen Haltung in Briefen des Jahres 46 : Fam. 5,21,2; 6,6,4ff. 32 Vgl. De or. 1,5 (wo die Anregung des Bruders betont wird): Vis enim . . ., quoniam, quae pueris aut adulescentulis nobis ex commentariolis nostris incollata ac radia exciderunt, vix sunt hac aetata digna et hoc usu . . ., aliquid eisdem de rebus politius a nobis perfectiusque proferri.

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verfügt und durch die Weite seiner Bildung, vor allem durch die Einbeziehung der Philosophie, die Trennung zwischen res und verba in einer philosophisch fundierten Redekunst überwindet. In De inventione hatte sich dieses Ideal nur im Proömium angedeutet 33 : Erst in De oratore vermochte Cicero, die traditionellen Lehrstücke ganz auf sein eigenes Anliegen zu beziehen34. So deutlich sich hier die innere Folgerichtigkeit heraushebt, mit der sich das früh Angelegte entfaltet, so wenig scheint sich der Brutus in diese Entwicklungslinie zu fügen. Nun lassen schon die Schwierigkeiten, die das Werk einer Einordnung in eine bestimmte literarische Gattung bereitet, vermuten, daß Cicero im Brutus ein besonderes Anliegen verfolgt, das bis in die Form des Werkes bestimmend gewesen ist. Flavius Blondus ergänzte den überlieferten Titel 'Brutus' nach Analogie des 'Cato maior de senectute' und 'Laelius de amicitia' um den Zusatz 'de oratoribus claris'. Damit wird das Werk in eine von Aristoteles' Schriften περί ποιητικης und περί ποιητών ausgehende Tradition gestellt: In hellenistischer Zeit hatte sich der Brauch entwickelt, neben die Darstellung einer τέχνη die auf ein breiteres Publikum berechnete Übersicht περί τεχνιτών treten zu lassen 36 . Durch F. Leos Forschungen wurde der Gattungscharakter der Schriften dieses Typus genau bestimmt : In die kurze, einem bestimmten äußerlichen Schema folgende Darstellung eines βίος wurden Angaben über die Werke des Künstlers eingefügt und die einzelnen βίοι nach chronologischem Gesichtspunkt aneinandergereiht 34 . Vorausgeschickt wurde dem Hauptteil eine Vorrede, deren Topik und Aufbauschema H. Dahlmann geklärt hat 3 7 : Die praelocutio der Schriften περί τεχνιτών ist, ähnlich wie die der Werke περί τέχνης, durch die beiden Themenkreise 'ars' und 'artifex' bestimmt, von denen der auf die ars bezügliche Teil eine an die Stichworte άρχή, εΰρεσις, αΰξησις und ακμή angelehnte Übersicht über die Entwicklung einer Kunst von den Anfängen bis zur Reife bot. F. Leo war der Auffassung gewesen, daß der Brutus zwar Merkmale der 33

Zu dessen Bedeutung vgl. K. Büchner, Cicero 58. So gewiß Ciceros Ideal, eloquentia und sapientia in einer philosophischen Redekunst zu vereinen, äußerlich mit Piatons Forderung im Phaidros übereinstimmt und sich in einen über Aristoteles (vgl. I. Düring, Aristoteles, Heidelberg 1966, 132f.) bis zu Philon und Antiochos führenden Traditionsstrom einfügt, so eigentümlich ciceronianiech ist alles einzelne geprägt und so unsicher haben sich alle Zuweisungen des Philosophie-Exkurses in 3,54-143 an einen bestimmten Philosophen erwiesen: vgl. K. Barwick, Das rednerische Bildungsideal Cic.'s, 6 und 38 f. 36 Vgl. F. Leo, Die griech.-röm. Biographie, lOOff. und H. Dahlmann, Stud. ζ. Varrò 'De poetis', 6. 36 A.a.O. 11 ff.; zur typischen Form des einzelnen βίος: 27; zu ihrer Zusammenfügung zu biographischen Sammelbüchern: 134f. 37 A.a.O. 5£f. 34

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Schriften 'De claris oratoribus' aufweise (dazu zählt vor allem die "enumeratio oratorum': so Cicero selbst in § 319), sich aber weder in diese Tradition noch in die andere der Stiluntersuchungen ganz einfüge 38 . Dagegen hat sich H. Dahlmann gewandt und die Einordnung des Brutus unter die Schriften περί τεχνιτών vor allem darauf gestützt, daß dem Abschnitt über die griechischen Redner, §§ 25-51 (genauer: § 25-38; denn die Synkrisis zwischen Griechen und Römern in §§ 39ff. gilt ihm als selbständiger Zusatz Ciceros), das praelocutorische Schema zugrunde liege : § 25 berühre kurz die für den ars-Teil konventionellen Punkte: έννοια, τέλος, die Frage, ob die Redekunst auf έμπειρία oder φύσις beruhe oder eine τέχνη sei, und schließlich die Teile der Redekunst. In § 26 werde die εΰρεσις und άρχή der Beredsamkeit bestimmt; und in § 27ff. stelle Cicero die einzelnen Redner Griechenlands in die vom Schema vorgezeichnete Entwicklungslinie: άρχαί (27f.), αΰξησις (29ff.) und άκμή (32ff.). Abgesehen davon, daß sich gegen die Anwendung des praelocutorischen Schemas auf §§ 25-38 begründete Bedenken vortragen lassen 39 , ist gegen Dahlmanns Zuordnung des Werkes zu den Schriften περί τεχνιτών einzuwenden, daß der Gedanke einer stufenweise fortschreitenden Entwicklung nicht auf die (angebliche) Vorrede beschränkt ist, sondern auch der Übersicht über die römischen Redner, also dem ganzen Hauptteil zugrunde liegt. Anstelle des Nebeneinanders von praelocutio — nur sie gab die schematischen Grundzüge einer Entwicklung — und tractatio, in der die einzelnen vitae chronologisch aufgereiht wurden, steht bei Cicero die in großen Zügen parallel laufende Entwicklung der griechischen und römischen Redekunst 40 . Eine römische Literaturgattung im Zusammenhang mit dem griechischen Gegenstück zu betrachten, lag für die römische Kunstkritik nahe. Die lateinische Literatur hatte im dritten Jahrhundert mit der Übertragung griechischer Werke begonnen, und als es dann später darum ging, in den griechischen Kunstformen Eigenes zu gestalten, da blieben die großen griechischen Autoren das Vorbild, denen eine gleichwertige Leistung an die Seite zu stellen höchstes Ziel blieb 41. 38 A.a.O. 219: . . denn Ciceros Absicht ist nicht, περί ένδόξων Ρητόρων zu schreiben. Eher würde Ρητόρων χαρακτήρες zutreffen ; aber damit wäre wieder der historische Charakter der Schrift nicht bezeichnet.' 39 Vgl. K. Büchner, Cicero, 507 ; zu bedenken ist auch, daß der Abschnitt schon deshalb nicht die Funktion einer praelocutio im Sinne Dahlmanns haben kann, weil in ihm ein Abriß der griechischen, nicht der römischen Beredsamkeit gegeben wird. 40 Beide Bereiche, die griechische und die römische Beredsamkeit, sind durch das Stück, das Dahlmann als selbständigen Zusatz Ciceros betrachtet, §§ 39ff., miteinander in der Weise verknüpft, daß Griechisches und Römisches synchronisch verglichen werden. 41 Hier ist als erster Ennius, der 'alter Homerus', zu nennen: vgl. F. Leo, Gesch. d. röm. Literatur, Berlin 1913, 165f.

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Die römische Literaturkritik stand von Anfang an unter dem Eindruck dieses Sachverhaltes und suchte den ästhetischen Wert eines Werkes dadurch zu bestimmen, daß sie danach fragte, in welchem Maße die imitatio des griechischen Musters gelungen war 42 . Der weitere Schritt, der Vergleich einer ganzen literarischen Gattung der römischen Literatur mit dem griechischen Äquivalent, ist ebenfalls sehr früh getan worden: von Accius43. In diese römische Tradition fügt sich auch die Zusammenstellung von Griechischem und Römischem in Ciceros Brutus ein. Cicero hat freilich den Typus der Schriften περί ενδόξων ρητόρων nicht bloß in dem Sinne bereichert, daß er in der Aufzählung der einzelnen Redner die Entwicklung der Redekunst sichtbar werden ließ und, der Lage der römischen Literatur und Literaturkritik entsprechend, die griechischen Redner den römischen voranstellte. Denn während in den Schriften περί ενδόξων ρητόρων das Biographische im Mittelpunkt stand und die wenigen Angaben über das Werk (Titel, Daten etc.) in die Darstellung des βίος eingefügt waren 44 , ist bei Cicero alles Biographische in den Hintergrund gedrängt — abgesehen von einer gleich zu erwähnenden scheinbaren Ausnahme — und die rednerische Befähigung und Stilprägung der einzelnen in den Vordergrund gerückt. Auch der sogenannte autobiographische Schlußteil 46 steht dazu nicht im Widerspruch, wenn man seine Funktion im Zusammenhang des Brutus bedenkt: Cicero wollte nicht selbst, um nur dies zu nennen 46 , über die eigenen Vorzüge sprechen, wenngleich das ganze Werk auf ihn als auf das τέλος der römischen Entwicklung zuläuft: Indem er einen Überblick über seinen Bildungsgang gibt, beschränkt er sich darauf, die Voraussetzungen seiner eigenen Leistung, nicht diese selbst, deutlich zu machen. Der Brutus erscheint somit als ein Werk, das Merkmale der Gattungen περί τεχνιτών, περί χαρακτήρων und der Autobiographie in sich vereinigt, aber sich doch in keine der bekannten literarischen Gattungen ganz einfügt. Gerade der Brutus zeigt, wie der 'Zwang' der Gattungstradition seine Grenzen an der Tendenz oder dem Anliegen 42

Vgl. A. Reiff, interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern, Diss. Köln 1959, 112ff. Damit, daß Varrò die Vollendung einer römischen Gattung im Erreichen des höchsten griechischen Vorbilds sah, rechnet H. Dahlmann, a.a.O. 63 zusammen mit 50f. 43 So F. Leo, Gesch. d. röm. Literatur, 389ff. aufgrund von fr. 16 Morel; zur Parallelität von Accius' Didascalica und Ciceros Brutus: "Der Verfasser stand im Mittelpunkt und war das Ziel der Darstellung, wie Cicero im Brutus.' 44 Daß die vitae der Dichter in Varros De poetis nach dem von Leo herausgearbeiteten Schema Leben-Werk-Tod verfaßt waren, hat Dahlmann, a.a.O. 107 gezeigt. 46 §§305-324; vgl. dazu G. Misch, Gesch. d. Autobiographie I, 347ff. 4e Weitere Gesichtspunkte unten 31 f.

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eines Schriftstellers finden kann : Dadurch, daß in der Aufzählung der römischen Redner der Nachdruck auf das Stilistische gelegt wird und zugleich alles darauf bezogen ist, daß in Ciceros Art zu reden sich die Entwicklung der Redekunst vollendet, erscheint sein Redestil als der Bezugspunkt, von dem aus sich die Anlage des Ganzen, die Verknüpfung verschiedener Gattungstraditionen, verständlich machen läßt. Der aktuelle Anlaß, der Cicero dazu brachte, seine bis dahin unbestrittene Meisterschaft in der Redekunst apologetisch zu behaupten, ist noch deutlich 47 . Zwischen den Jahren 54 und 47 war es in Rom zu einer Reaktion gegen den herrschenden Redestil und damit gegen Ciceros Art zu reden gekommen. Wenigstens über die theoretische Seite dieses Stilstreites, den die Gegner Ciceros mit dem Anspruch führten, sie verträten das attische genus dicendi gegen eine entartete 'asianische' Beredsamkeit, läßt sich aus Ciceros Brutus und Orator eine — wenn auch notwendig einseitig akzentuierte — Vorstellung gewinnen. E. Norden hat den Streit zwischen Cicero und seinen Gegnern als Teil einer die ganze nachklassische Prosa durchziehenden Auseinandersetzung zwischen altem, attischem, und neuem, asianischem, Stil verstehen wollen, als seien 'Asianismus' und 'Attizismus' nicht polemische Schlagworte, sondern Bezeichnungen für objektive, festumrissene Sachverhalte 48 . Trotz der wohlbegründeten Einwände von Wilamowitz 49 gegen diese Betrachtungsweise ist immer wieder versucht worden, den 'römischen Attizismus' aus übergreifenden, allgemeineren Zusammenhängen zu erklären 60 . Aber weder die Rückbesinnung auf die große attische Vergangenheit, wie sie in der griechischen Reichshälfte mit Dionysios von Halikarnassos kenntlich wird, noch der Rückgriff auf die attische bildende Kunst, wie sie im ersten Jahrhundert v. Chr. zu beobachten ist, noch bestimmte grammatische Schulrichtungen 61 oder die stoische Rhetorik haben 47

Vgl. W. Kroll, Komm. z. Brutus, XVIff. und Orator, Iff. Antike Kunstprosa I, 131 ff. 49 Hermes 35, 1900, Iff. 60 Vgl. die Übersicht, die A. Desmouliez, REL 30, 1952, 169ff. über diese Versuche gibt. Er selbst behauptet seinerseits einen Zusammenhang zwischen der Rückwendung zu den großen attischen Meistern der bildenden Kunst und dem Attizismus der Redner. 81 Gemeint ist die analgetische Richtung der Grammatik (hierher gehört auch die These, daß zwischen puristischen Bestrebungen des Scipionenkreises und dem Attizismus eine direkte Verbindung bestehe). Der Gedanke geht auf Th. Mommsen zurück, Rom. Gesch. III 7 , 578, und wurde von E. Norden, a.a.O. 184ff. weitergeführt. Obwohl W.Kroll, Komm. z. Orator, 11 Aran. 1 und 12 Anm. 1 das Notwendige dazu gesagt hatte, ist ein Zusammenhang doch wieder behauptet worden: G.L.Hendrickson, AJPh. 47, 1926, 234ff.; vgl. neuerdings A. Dihle, Hermes 85, 1957, 170ff. 48

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nachweisbar etwas mit dem Stilideal zu tun, mit dem sich Cicero in Brutus und Orator auseinandersetzt. Denn während nicht zu leugnen ist, daß während der Kaiserzeit im griechischen Bereich der 'Attizismus' viele Aspekte von Sprache und Literatur geprägt hat, insofern als hier die großen attischen Vorbilder in Wortschatz, Wortbildung, Stil und Inhalt kanonisch wurden, ist er in Rom nichts anderes als das Schlagwort eines Stilideals, das in Reaktion zur Redeweise eines Cicero und Hortensius aufkam und in einem kleinen Personenkreis für eine begrenzte Zeit Geltung besaß62. Über ihre stilistischen Meinungsverschiedenheiten haben Calvus und Brutus auf der einen und Cicero auf der anderen Seite korrespondiert53. Tacitus und Quintilian haben später, als sie auf den Streit zwischen Cicero und den Attizisten eingingen, diesen Briefwechsel noch eingesehen: 'Es ist genügend bekannt, daß es auch Cicero nicht an mißgünstigen Kritikern gefehlt hat, denen er aufgeblasen, geschwollen, nicht straff genug, über alle Maßen weitschweifig, überströmend und zu wenig attisch erschien.' Dann zitiert Tacitus wörtlich84: . . . Ciceronem a Calvo quidem male audisse tamquam solutum et enervem, a Bruto autem, ut ipsius verbis utar, tamquam fractum atque elumbem. Auf denselben Kreis polemischer Wendungen führt auch Quintilian: 'Dennoch wagten ihn seine Zeitgenossen anzugreifen, er sei zu geschwollen, asianisch, überschäumend, reich an Wiederholungen, von frostigem Witz, in der Wortfügung gebrochen, weitschweifig und, was am meisten zu meiden ist, für einen Mann zu weichlich.'55 Die Attizisten kritisierten an Cicero den Prosarhythmus und die damit zusammenhängende Periodenkunst, sie wandten sich unter dem Schlagwort des Gesunden und Attischen gegen einen Redestil, der ihnen zu überladen und pathetisch erschien, und forderten statt dessen einen trockeneren, sparsamer figurierten Stil, der durch klare 52

So in Anschluß an Wilamowitz A. E. Douglas, Class. Quart. 49, 1955, 241 ff. ; vgl. auch die vorzügliche Diskussion des Problems bei R. G.Austin, Komm. z. Quint., Inst. or. 12,10,16. 53 Der Briefwechsel zwischen Cicero und Calvus war schon im Jahre 46 einem größeren Publikum bekannt. In Fam. 15,21,4 versichert Cicero dem Trebonius, daß er seine Briefe in der Erwartung, daß sie veröffentlicht würden, von vornherein für einen größeren Leserkreis stilisiert habe. Der Briefwechsel mit Brutus wurde im Jahre 46 geführt: Zeugnisse bei W.Kroll, Komm. z. Orator, 2 Anm. 1 ; wie es scheint, wurde die Korrespondenz über den besten Stil erst nach dem Orator, der durch sie veranlaßt wurde, beendet, ohne daß eine Einigung erzielt werden konnte; vgl. Att. 14,20,3. 84 Dial. 18,4f.; genau genommen sind nur Brutus' Worte wörtliches Zitat: vgl. E. Wölfflin, Enervis und der Redner Calvus, Arch. f. Lat. Lex. 13, 1904, 438. 65 Quint., Inst. or. 12,10,12; zur stilkritischen Terminologie vgl. Austin, Komm. z. Stelle (167ff.) und E. Norden, a.a.O. 219ff.

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Argumentation und schlichte Darlegung auf den Verstand und nicht so sehr auf die Affekte wirken sollte: Wenigstens in der Theorie86 vertraten sie offenbar ein Stilideal, das sich mit dem genus tenue, dem schlichten Stil der antiken Stilkritik, identifizieren ließ. Denn wie es für die große Bewußtheit literarischen Lebens in Rom überhaupt kennzeichnend ist, entstand zusammen mit der neuen Redekunst ihre theoretische Begründung und wurde das eigene Anliegen durch Berufung auf ein griechisches Vorbild verdeutlicht ; ja, man stellte das eigene Ideal und die bekämpfte Stilrichtung in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang : Die hellenistische Beredsamkeit, zu der Cicero und Hortensius gerechnet wurden, hob man als Verfall und Entartung von der Redekunst der attischen Epoche ab und verdeutlichte den Vorrang der eigenen Redeweise dadurch, daß man den Anspruch erhob, die großen attischen Stilmuster — besonders Lysias — ins Römische umzusetzen. Dem Ideal des Attischen entsprach auf der anderen Seite das Asianische als abwertende Bezeichnung für die ganze hellenistische Redekunst. Dies erscheint um so eigenartiger, als nach Cicero weder alle Vertreter des genus Asianum aus Asien stammten (so Timaios von Tauromenion, nach Brut. 325) noch alle asiatischen Redner 'asianisch' redeten: Wenn Freisein von Verspieltheiten eine Eigenschaft der Attiker sei, heißt es in Brut. 315 von dem Rhetor Menippos, dann könne dieser Redner, der aus Asien stammte, zu den attischen Rednern gerechnet werden. Aber in Orat. 24f., wo davon die Rede ist, wie viel bei der Ausbildung eines Redestils von der Zuhörerschaft abhängig ist, bringt auch Cicero die Entstehung der asianischen Redeweise mit dem unkultivierten Geschmack des asiatischen Publikums in Zusammenhang 57 . Wenige Jahre zuvor, in De or. 3,43, war bei der Konfrontierung von Asiaten und Athenern nur an die Aussprache des Griechischen gedacht und fehlte jede Beziehung auf Stilfragen 88 . Immerhin war hier ein Ansatzpunkt dafür gegeben, gewisse sprachliche Eigenarten in Stilunzulänglichkeiten umzudeuten. Der Grammatiker Santra, ein Zeitgenosse Ciceros, und andere haben den 56

Die Redepraxis der sogenannten Attizieten läßt sich wegen des Verluste ihrer Reden nicht mehr überprüfen; da aber Calvus, der Hauptgegner Ciceros, nach zeitgenössischen Berichten keineswegs ohne Leidenschaft und rednerische Kraft zu sprechen pflegte (vgl. A. D. Leeman, Orationis Ratio I, 138ff. mit Belegen), ist davon auszugehen, daß Cicero die Verhältnisse etwas zurechtgerückt hat. 57 Itaque Caria et Phrygia et Mysia, quod minime politae minimeque elegantes sunt, asciverunt aptum suis auribus opimum quoddam et tamquam adipatae dictionis genus . . . 68 . . . tarnen eruditissimos homines Asiáticos quivis Atheniensis indoctus non verbis, sed sono vocis nec tam bene quam suaviter loquendo facile superabit. 26

Begriff 'asianisch' so verständlich machen wollen: Die Einwohner Kleinasiens hätten, ohne schon über eine genügende Ausdrucksfähigkeit zu verfügen, bereits beredt erscheinen wollen, indem sie das, was man mit einfachen Worten hätte ausdrücken können, zu umschreiben begannen 69 . Diese Herleitung eines Stilmangels aus dem sprachlichen Unvermögen ist schon deshalb problematisch, weil auch für die Rhetoren Kleinasiens Griechisch Muttersprache war, und so spricht gerade das Zeugnis Santras dafür, daß der Begriff 'asianisch' eine polemische Bezeichnung für das Negative, Abzulehnende gewesen ist und man sich erst nachträglich bemühte, einen Zusammenhang zwischen Stilpolemik und Herkunftsbezeichnung zu konstruieren. Als die Attizisten die Kategorien Abstieg und Verfall auf die hellenistische Beredsamkeit anwandten, bot sich ihnen die Abwertung des Asiatischen an, die im Nationalbewußtsein des Griechentums seit dem fünften Jahrhundert eine Rolle spielte und dazu geführt hatte, den nationalen Gegensatz zur moralischen Antithese zwischen Barbarisch-Üppigem und Männlich-Gesundem zu steigern 60 . Waren damit die Anhaltspunkte dafür gegeben, einen Stilgegensatz mit den Begriffen 'attisch' und 'asianisch' zu verdeutlichen, so scheint das übrige stilkritische Vokabular durch die Bilder und Wortprägungen beeinflußt zu sein, durch die Kallimachos die eigene Art zu dichten vom epischen Stil abgegrenzt hatte. F. Klingner hat darauf hingewiesen, daß in Stilmetaphern wie 'redundantia' und Verwandtem das kallimacheische Bild des großen assyrischen Stromes weiterwirkt®1, im 'opimum et tamquam adipatae dictionis genus' das παχύ γράμμα von fr. 398 Pfeiffer 62 und die verwandte Formulierung des Aitienprologsβ3. So kann F. Klingner sagen: 'Die Attizisten haben sich, um 69 Quint., Inet. or. 12,10,16: Quod quidam, quorum et Santra est, hoc putant accidisse, quod paulatim sermone Graeco in próximas Asiae civitates influente nondum satis periti loquendi facundiam concupierint, ideoque ea, quae proprie signari poterant, circumitu coeperint enuntiare ac deinde in eo perseverarint. 60 Belege bei A. Eichhorn, Βάρβαρος quid significaverit in litteris Graecis, Diss. Leipzig, 1904, 17ÍF. 91 In Apoll. 108ff. : Άσσυρίου ποταμοΐο μέγας ¡bóo, άλλά τά πολλά/λύματα γης καΐ πολλόν έφ'ΰδατι συρφετόν έλκει. 62 Vgl. Catull 95,10 : At populus tumido gaudeat Antimacho. 83 Fr. 1,23f. Pfeiffer: . . . τό μέν θΰος δττι πάχιστον/θρέψαι τή]ν Μοϋσαν δ' ώγαθέ λεπταλέην. Vgl. dazu Pfeiffers Komm. ζ. Stelle und E. Reitzenstein, Zur Stiltheorie des Kallimachos, Festschr. R. Reitzenstein, Leipzig 1931, 31 ff. (für den Zusammenhang und alles einzelne des Aitienprologs sei auf W. Wimmel, Kallimachos in Rom, Hermes Einzelschr. 16, 1960, 71ff. verwiesen). Auch die Vorstellung des Barbarischen, Unhellenischen hat Kallimachos schon zur Verdeutlichimg dessen herangezogen, was schlechtes Dichten sei: V. 13ff. des Aitienprologs.

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die hellenistische Redekunst zu verurteilen, in etwa der Grundbegriffe bedient, mit denen Kallimachos das verurteilte, was ihm schlechte, unreine Kunst schien.' 64 Wie Kallimachos für die Dichtkunst, so sahen die Attizisten für die Redekunst im Feinen, Schlichten und Gesunden das Stilideal schlechthin. In der Person des Calvus, der zugleich die attizistische Reaktion anführte und einer der führenden Dichter des neoterischen Kreises war®5, wird der Zusammenhang zwischen kallimacheischer Dichterkritik und attizistischer Stilkritik in besonders augenfälliger Weise deutlich. Das den Attizisten eigentümliche Geschichtsbild hat Cicero nicht in Frage gestellt, wenigstens nicht, soweit es sich auf die griechische Entwicklung bezieht: Die attische Epoche war auch ihm der Höhepunkt der griechischen Redekunst und die spätere Zeit, verglichen mit der attischen, Abstieg und Verfall. Aber während die Attizisten die römische Beredsamkeit mit der hellenistischen zusammennahmen, hat Cicero die römische Entwicklung nicht so dargestellt, daß sie mit der griechischen synchron verläuft, sondern so, daß sich der Aufstieg bis zur Höhe der attischen Beredsamkeit um mehr als 250 Jahre später im römischen Bereich wiederholt. Themistokles (ca. 480) war in Athen, Cethegus (cos. 204) in Rom der erste, dessen Bedeutung als Redner bezeugt ist 66 ; und in der Redeweise Ciceros fand die Entwicklung der römischen Beredsamkeit, wie die griechische in Demosthenes, ihre Vollendung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die praelocutiones der Schriften περί τεχνιτών insofern ein Analogon zur Anlage des Brutus aufweisen, als sie die Geschichte einer τέχνη nach dem Schema άρχή, αυξησις, τέλος darstellen. Dabei konnte die Konzeption einer sich nach einer festen Abfolge vollziehenden Entwicklung auf äußere Gesichtspunkte wie Ansehen und Verbreitung einer Kunst oder deren Bedeutung für die menschliche Gesellschaft bezogen werden, aber auch auf die einer τέχνη immanenten künstlerischen bzw. technischen Möglichkeiten67. Der Gedanke, daß die Entwicklung einer Kunstgattung in der Verwirklichung dessen besteht, was δυνάμει in ihr an64

Stud. ζ. griech. u. röm. Literatur, 652. «5 Vgl. C. J. Fordyce, Komm. z. Catull, Oxford 19653, zu c. 14 und 50. ββ Vgl. § 28 mit § 67 : Post hanc aetatem aliquot annis, ut ex Attici monumentis potest perspici, Themistocles fuit, quem constat cum prudentia tum etiam eloquentia praestitisse (28). Quem vero exstet et de quo sit memoriae proditum eloquentem fuisse et ita esse habitum, primus est M. Cornelius Cethegus, cuius eloquentiae est auctor et idoneus quidem mea sententia Q. Ennius . . . (57). 67 Vgl. H. Dahlmann, a.a.O. 7ff.; die einzelnen Gesichtspunkte sind nicht immer scharf voneinander getrennt: So ist in der praelocutio zu Suetons De grammaticis die Vorstellung von der inneren Entwicklung mit der vom Wachsen ihres äußeren Ansehens verknüpft. 28

gelegt ist, geht letztlich auf Aristoteles zurück 88 : Γενομένης (δ') ουν άπ' αρχής αυτοσχεδιαστικής . . . κατά μικρόν ηύξήθη προαγόντων 6σον εγίγνετο φανερόν αύτής· καί πολλάς μεταβολάς μεταβαλοϋσα ή τραγωδία έπαύσατο, έπεί εσχε τήν αυτής φύσιν. Von der Literaturkritik wurde er auf die Kunst übertragen : Xenokrates von Sikyon und Antigonos von Karystos legten den aristotelischen Entwicklungsgedanken ihren Darstellungen der bildenden Künste zugrunde : In Rom ist es Varrò gewesen, der im Anschluß an die griechischen Kunstkritiker die Entwicklung der bildenden Kunst wie der Dichtung nach jenem Entwicklungsschema darstellte 89 . In Brut. 70-76 gibt die Verteilung der epischen Dichter Livius, Naevius und Ennius auf die drei Stufen άρχή, αυξησις, άκμή die Auffassimg Varros wieder, wie sie in De poetis niedergelegt war 70 . Das Prinzip, die Geschichte einer Kunst von ihren primitiven Anfängen bis zu ihrer Vollendung zu verfolgen, ist also kein originaler Gedanke Ciceros71, wohl aber ist er der erste gewesen, der den aus peripatetischer Kunstbetrachtung stammenden Entwicklungsgedanken auf die Geschichte der römischen Beredsamkeit angewandt hat und so zu einem vertieften historischen Verständnis des einzelnen gelangt ist: Von der Einsicht her, daß über die Anfänge einer Kunst nicht nach dem Maßstab, der am Stadium der Vollendung gewonnen wurde, geurteilt werden dürfe 72 , wurde eine ausgewogene Würdigung des älteren Cato als Redner überhaupt erst möglich : daß sich in seiner Redeweise zuerst die Merkmale des genus tenue ausprägten, daß diese seine geschichtliche Bedeutung nicht durch mangelnde stilistische Glätte gemindert werde, sondern der noch nicht ausgefeilte, altertümliche Stil durch die noch primitive Entwicklungsstufe bedingt gewesen sei73. Daß die weitere Entwicklung der Tendenz zur Glättung und Verfeinerung folgte, hebt Cicero deutlich hervor. In M. Aemilius Lepidus 88

Poetik 1449a9ff. (über die Tragödie). Vgl. dazu A. Kalkmann, Die Quellen der Kunstgeschichte des Plinius, Berlin 1898, 72ff. Über die Zusammenhänge von Kunst- und Literaturkritik vgl. H. Jucker, Vom Verhältnis der Römer zur bildenden Kunst der Griechen, Frankfurt 1950, 126ff. und R. G. Austin, Quintilian on Painting and Statuary, Class. Quart. 38, 1944, 17ff. 70 Vgl. Dahlmann, a.a.O. 38f. 71 M. Barchiesi, Nevio epico, Padua 1962, 21ff. neigt etwas dazu, Ciceros Selbständigkeit zu überschätzen. 72 Vgl. Brut. 71: 'nihil est enim simul et inventum et perfectum' und Orat. 169: Nec ego id quod deest antiquitati flagito potius quam laudo quod est. 73 Zur Zeitbedingtheit der Mängel Catos vgl. §§68f. : Antiquior est hui us sermo et quaedam horridiora verba. Ita enim tum loquebantur . . . Nec vero ignoro nondum esse satis politum hunc oratorem et quaerendum esse aliquid perfectius; quippe cum ita sit ad nostrorum temporum rationem vetus, ut nullius scriptum exstet dignum quidem lectione quod sit antiquius. Dann folgt der auf Varronischem basierende Exkurs über die Entwicklung der artes. 89

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traten zuerst — heißt es — der geglättete Periodenbau und die Kunstprosa der Griechen hervor: Hoc in oratore Latino primum mihi videtur et levitas aparuisse illa Graecorum et verborum comprensio et iam artifex, ut ita dicam, stilus (§96). Aber auch danach sind die bedeutendsten Redner vom Standpunkt der ciceronianischen Zeit noch längst nicht vollkommen. Die Reden eines Tib. Gracchus und C. Carbo (§§ 103-106) besitzen bei allen Vorzügen noch keinen rechten stilistischen Glanz: Nam et Carbonis et Gracchi habemus orationes nondum satis splendidas verbis, sed acutas prudentiaeque plenissumas (§ 104). Beide übertraf C. Gracchus, aber auch seiner inhaltlich wie stilistisch herausragenden Beredsamkeit fehlte noch die letzte Vollendung: Praeclare inchoata multa, perfecta non plane (§ 126). Erst in der folgenden Generation erreichte die römische Beredsamkeit mit Crassus und Antonius das Niveau der attischen : Nam ego sic existimo hos oratores fuisse máximos et in his primum cum Graecorum gloria Latine dicendi copiam aequatam (§ 138). Aber wenn Crassus und Antonius mit Demosthenes und Hypereides verglichen werden 74 , so ist zu fragen, worin Cicero den sachlichen Fortschritt der römischen Redekunst über den durch Crassus und Antonius repräsentierten Stand gesehen hat : ob er der Meinung war, daß zu seiner Zeit, am Abschluß der Entwicklung, Rom die Griechen nicht nur erreicht, sondern noch übertroffen habe. Daß selbst Crassus den ästhetischen Forderungen der ciceronianischen Zeit nicht mehr genügte und einst gefeierte Leistungen wie Crassus' Rede Pro lege Servilia nicht mehr viel galten, läßt Cicero Atticus aussprechen 78 ; und darin, daß es Ciceros Redestil ist, der alles Ältere verdunkelt hat, stimmen Atticus und Brutus überein 76 . Bereits in der Charakterisierung von Crassus und Antonius deutet Cicero an, wie ein Fortschritt über beide Redner hinaus noch möglich war. Zwar lehnt sich die Aufzählung der Vorzüge des Antonius noch ganz an das konventionelle Schema der fünf officia oratoris an (§§ 139-142), aber die Würdigung des Crassus, den Cicero noch über Antonius stellt (§ 143), fügt sich nicht mehr vollständig in diese Konvention ein: Ernst und Würde seiner Redeweise, sein sorgfältiges, doch ohne Pedanterie gewähltes 74 Quam multi enim iam oratores commemorati sunt et quam diu in eorum enumeratione versamur, cum tarnen spisse atque vix, ut dudum ad Demosthenen et Hyperiden, sie nunc ad Antonium Crassumque pervenimus (§ 138). 75 U t Polycliti doryphorum sibi Lysippus aiebat, sie tu suasionem legis Serviliae tibi magistram fuisse; haec germana ironia est (§ 296). Vgl. auch den ganzen Zusammenhang, §§ 293-297, und das, was in §§ 122-124 über Curios Rede De incestu gesagt ist. 78 §§ 122ff. ; Cicero selbst gesteht in § 123 z u : . . .; certe enim et boni aliquid adtulimus iuventuti, magnificentius quam fuerat genus dicendi et ornatius; et noeuimus fortasse, quod veteres orationes post nostras non a me quidem — meis enim illas antepono — sed a plerisque legi sunt desitae.

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Latein, seine Fähigkeit, einen Sachverhalt logisch zu entwickeln und durchsichtig darzustellen, die Fülle der Argumente und Parallelen, über die er bei der Erörterung von Recht und Billigkeit verfügte77 — das alles weist auf eine geistig vertiefte Redekunst, die sich aus der Beherrschung des rhetorischen Lehrsystems allein nicht erklären läßt. War bisher die Entwicklung der römischen Beredsamkeit in Anlehnung an die traditionelle Kunst- und Literaturkritik nach dem Gesichtspunkt einer zunehmenden Verfeinerung gekennzeichnet worden, so wird von nun an der Fortschritt nicht mehr in besserer Beherrschung des Rhetorisch-Stilistischen, sondern in einer vertieften Bildung in Philosophie, Geschichte und Jurisprudenz gesehen : Quod idcirco posui, ut dicendi Latine prima maturitas in qua aetate exstitisset posset notari et intellegeretur iam ad summum paene esse perductam, ut eo nihil ferme quisquam addere posset, nisi qui a philosophia a iure civili ab historia fuisset instructior (§ 161). Welche Bedeutung diesen Bildungsdisziplinen zukommt, hatte Cicero ausführlich in De oratore dargelegt ; im Brutus greift er hierauf zurück, um das Neue und Besondere seiner Redeweise zu erklären. Indem er, Cicero, mit einer gründlichen rhetorischen Ausbildung das Studium der Philosophie — davon ist mit besonderem Nachdruck die Rede78 —, des römischen Rechts und der Geschichte verband, vermochte er seinen Rivalen, den allmählich nachlassenden Hortensius, zu überwinden und die römische Beredsamkeit zu vollenden. Die geistig vertiefte Redekunst Ciceros ließ sich mit den Stilbegriffen, die Rhetorik und Literaturkritik zur Verfügung stellten, nicht mehr hinreichend charakterisieren, ja, sie entzog sich überhaupt einer engen, rein stilistischen Betrachtungsweise und konnte, insofern sie das Ergebnis einer umfassenden, weiten Bildung war, höchstens indirekt, von ihren Voraussetzungen her, verständlich gemacht werden. Die autobiographische Form des auf Cicero bezogenen Teils79 ist somit der angemessene, ja notwendige Ausdruck für das, was Cicero als das " §§ 143ff.; die zuletzt genannte Fähigkeit wird durch die Synkrisis mit Scaevola noch besonders betont: . . . sie in interpretando in definiendo in explicanda aequitate nihil erat Crasso copiosius; idque cum saepe alias tum apud centumviros in M'. Curi causa cognitum est. Ita enim multa contra scriptum pro aequo et bono dixit, ut hominem acutissimum Q. Scaevolam et in iure . . . paratissimum obrueret argumentorum exemplorumque copia. 78 Aufschlußreich ist der Ausdruck der Verehrung und Begeisterung, in dem Cicero von seinen philosophischen Lehrern und Studien spricht: . . totum ei (sc. Philoni) me tradidi admirabili quodam ad philosophiam studio concitatus (§ 306); . . . cum Antiocho veteris Academiae nobilissumo et prüden tissumo philosopho fui studiumque philosophiae numquam intermissum a primaque adulescentia cultum et semper auetum hoc rursus summo auetore et doctore renovavi (§ 315; vgl. § 309). 78 Vgl. dazu G. Misch, Gesch. d. Autobiographie I, 347ff.; auch J. Graff, Cic.'s Selbstauffassung, 63ff. 31

Entscheidende seiner Kunst angesehen hat. Zugleich unterlief er auf diese Weise den Angriff der Attizisten: Er zeigte, wie eng eine bloß stilistische Betrachtungsweise und wie unangemessen eine Polemik ist, die sich in den Grenzen der rhetorisch-stilkritischen Terminologie bewegte, indem er sie an dem Gegenbild seiner auf umfangreicher Bildung beruhenden, vergeistigten Redekunst maß. Diese hat er zusammenfassend so charakterisiert: 'Niemand (außer mir) ließ erkennen, daß er auf erlesenere Weise als der Durchschnitt der Menschen die Literatur studiert hatte, in der die Quelle vollkommener Redekunst enthalten ist, niemand hatte umfassend die Philosophie studiert, die Mutter alles Guten in Wort und Tat, niemand unser Recht gelernt, ein ganz und gar notwendiges Erfordernis für Privatprozesse und für das klug berechnete Verhalten eines Redners, niemand beherrschte die römische Geschichte, daß er, wenn es einmal notwendig war, Zeugen von höchster Autorität aus dem Jenseits hätte aufrufen können, niemand konnte mit einem kurzen, geistreichen Wort sich über den Gegner lustig machen und das Innere der Richter auflockern und vom Ernst ein wenig zu heiterer Stimmung und zum Lachen wenden, niemand die Rede ins Weite führen und von der besonderen Erörterung über einen bestimmten Menschen zu dem allgemeinen, abstrakten, begrifflichen Problem hinüberspielen, niemand zum Vergnügen der Hörer einen Augenblick von der Sache abbiegen, niemand den Richter zum Weinen bringen, niemand sein Inneres in die Stimmung versetzen, die Sache und Lage erforderten — und das ist doch vor allem die ureigene Fähigkeit des Redners.' 80 So entfaltete und vollendete sich in Ciceros Kunst, was bei Crassus angelegt war. Nicht nur darin, daß das τέλος, auf das die Entwicklung der römischen Beredsamkeit hinausläuft, das in De oratore dargestellte Rednerideal ist, zeigt sich der innere Zusammenhang, der den Brutus mit den Werken der fünfziger Jahre verbindet: mindestens ebenso deutlich tritt er in der Verknüpfung des Geschichtlichen mit dem Ideal zutage. In De re publica war gezeigt worden, wie dem Wechsel der Herrschaftsformen in Rom die Richtung auf die beste Staatsform, wie sie die Philosophen konstruiert hatten, immanent war, und so war das Geschichtliche, das Faktische, immer wieder auf das im ersten Buch erarbeitete theoretische Ideal, den besten Staat, bezogen worden 81 . Im Brutus ist die Chronologie, die Abfolge der einzelnen 80

Die Übersetzung von Brut. 322 folgt eng F. Klingner, Stud. ζ. griech. u. röm. Literatur, 567 f. 81 Der Zusammenhang zwischen De re publica und demBrutus hat K. Fromm, Ciceros geschichtlicher Sinn, 51 ff. herausgehoben. Jedoch ist an seiner Darstellung problematisch, daß der Fortschritt vom Brutus zum Orator (vom Geschichtlichen zum Ideal) in Parallele gesetzt wird zu der Folge vom II. zum

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Rednergenerationen und das Geschichtliche so sorgfältig, wie damals nur irgend möglich, behandelt : Atticus' Liber annalis und für Literarhistorisches vielleicht auch Varros De poetis bilden die Grundlage für die zahlreichen und präzisen absoluten und relativen Datierungen, die dem ganzen Werk ein festes chronologisches Gerüst geben 82 . Aber die Feststellung des faktisch Richtigen im historischen und chronologischen Detail ist nicht Selbstzweck, sondern bleibt immer darauf bezogen zu zeigen, wie die geschichtliche Entwicklung der Verwirklichung des Ideals stetig näher kam. Diese Fähigkeit Ciceros, alle Einzelerscheinungen auf etwas Höheres und Allgemeineres zu beziehen, ist im Streit mit den Attizisten von besonderer Bedeutung geworden : insofern nämlich, als er es vermochte, sein Rednerideal in einen großen geschichtlichen Zusammenhang zu stellen und als den Endpunkt einer zielgerichteten Entwicklung, als τέλος, verstehen zu lassen. Mit dem geschichtlichen Aspekt ist das Normative noch in anderer Weise verknüpft : nämlich so, daß auf jeder Stufe der Entwicklung in der Person der jeweils bedeutendsten Redner die χαρακτήρες, die typischen Stilarten, einander gegenübergestellt werden. Auszugehen ist von der rekapitulierenden Übersicht am Ende des Werkes : Nonne cernimus vix singulis aetatibus binos oratores laudabilis constitisse? Galba fuit inter tot aequalis unus excellens, cui, quem ad modum accepimus, et Cato cedebat senior et qui temporibus illis aetate inferiores fuerunt; Lepidus postea, deinde Carbo; nam Gracchi in contionibus multo faciliore et liberiore genere dicendi, quorum tamen ipsorum ad aetatem laus eloquentiae perfecta nondum fuit ; Antonius, Crassus, post Cotta, Sulpicius, Hortensius. Nihil dico amplius, tantum dico: si mihi accidisset, ut numerarer in multis . . .83. Schon die Gegenüberstellung von Cato und Galba in §§ 85b-90 ist als Synkrisis zweier Stilarten gestaltet: Cato repräsentiert die Vorzüge des schlichten Stils (insofern wird er, nicht ganz ohne ironischen Hintersinn, mit Lysias verglichen), Ser. Galba gewisse Züge des hohen Stils, der nicht III. Buch De re publica (so auch K. Büchner, Cicero, 333) ; denn dort ist die theoretische Erörterung über den besten Staat das Thema des I. Buches, während im II. gezeigt wird, daß die geschichtliche Entwicklung auf das im I. Buch begründete Ideal hinauslief. Über das Verhältnis des Orator zum Brutus vgl. unten 42. 82 Dazu vor allem F. Münzer, Atticus als Geschichtsschreiber, Hermes 40, 1905, 60ff. und H. Dahlmann, Stud. ζ. Varrò 'De poetis', 54ff. Zum Geschichtlich-Prosopographischen vgl. jetzt vor allem den Komm, von Α. E. Douglas, Cambridge 1966. Mit großer Genauigkeit hat Cicero die entscheidenden Etappen der Entwicklung datiert, so Cethegus und Cato in §§ 60f., die prima maturitas der römischen Beredsamkeit in § 161 oder das erste Auftreten des Hortensius in §§ 229 f. 83 § 333; der Zusammenhang bricht hier ab, die wenigen noch erhaltenen Worte ergeben keinen Sinn. 33

durch rationales Argumentieren, sondern durch Wirkung auf die Affekte den Zuhörer überreden will: Sed inter hos aetate paulum his antecedens sine controversia Ser. Galba praestitit; et nimirum is princeps ex Latinis illa oratorum propria et quasi legituma opera tractavit, ut egrederetur a proposito ornandi causa, ut delectaret ánimos aut permoveret, ut augeret rem, ut miserationibus, ut communibus locis uteretur (§ 82). Die Überlegenheit dieses Stils über den schlichten wird an zwei Beispielen dargetan : Es wird gezeigt, wie Galba in zwei berühmten Prozessen Laelius (§§ 85b-89a) und Cato (§§ 89b/90) überwand84. Die Schilderung, die Rutilius Rufus vom Auftreten des Laelius und Galba gab, ist ganz diesem Nachweis untergeordnet : Ex hac Rutiii narratione suspicari licet, cum duae sint in oratore laudes, una subtiliter disputandi ad docendum, altera graviter agendi ad ánimos audientium permovendos, multoque plus proficiat is qui inflammet iudicem quam ille qui doceat, elegantiam in Laelio, vim in Galba fuisse (§ 89). Überhaupt hat Cicero an den großen Rednern vornehmlich die Stileigenschaften hervorgehoben, die über bloße Klarheit und Sachlichkeit des Argumentierens hinausgehen. Von C. Carbo heißt es: . . ., canorum oratorem et volubilem et satis acrem atque eundem et vehementem et valde dulcem et perfacetum fuisse dicebat (§ 105); C. Gracchus war 'genere toto gravis' (§ 126). Umgekehrt kritisiert Cicero an der Redeweise des sonst hochgeschätzten M. Calidius86, daß er es nicht verstand, die πάθ-η zu erregen: . . . aberat tertia illa laus, qua permoveret atque incitaret ánimos, quam plurumum pollere diximus; nec erat ulla vis atque contentio (§ 276). Gerade die ruhige, keiner pathetischen Steigerung fähige Redeweise war es, die ihm als Ankläger des Q. Gallius einen schweren Mißerfolg eingetragen hatte. Cicero hatte in der Verteidigungsrede auf das Mißverhältnis zwischen der Ungeheuerlichkeit der Anschuldigungen und der ruhigen, unbewegten Art, wie diese Anschuldigungen vorgebracht wurden, hingewiesen und dies als Argument für Calidius' fehlende Überzeugungskraft benutzt: Sic nos summi oratoris vel sanitate vel vitio pro argumento ad diluendum crimen usi sumus (§ 278). Daß der eine Mangel des Calidius, sein Mangel an vis, die höchste und entscheidende Fähigkeit des Redners betrifft, läßt Cicero Brutus aussprechen : Quis enim non fateatur, cum ex omnibus oratoris laudibus longe ista sit maxuma, infiammare ánimos audientium et quocumque res postulet modo flectere, qui hac virtute caruerit, id ei quod maxumum 84 Cicero hat für diesen Abschnitt Rutilius Rufus' De vita sua und Catos Origines benutzt: vgl. G.L.Hendrickson, AJPh. 27, 1906, 193f. 85 W. Kroll, Komm. z. Orator, 11 und andere haben aus §§ 274ff. gefolgert, Calidius sei Attizist gewesen; das hat A. E . Douglas, Class. Quart. 49, 1955, 241 ff. widerlegt.

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fuerit defuisse (§ 279) ? Aber obwohl der Vorrang des hohen Stils an vielen Stellen dadurch hervorgehoben ist, daß ihm die stärkste Wirkung auf die Zuhörer zugeschrieben wird, verwirft Cicero dennoch nicht den schlichten, vielmehr gesteht er ihm eine wichtige Rolle unter Hinweis auf seine Funktion, das docere, ausdrücklich zu. Und der Vergleich zwischen Cotta und Sulpicius in §§ 201-204 — hier wiederholt sich, wenngleich auf einer höheren Entwicklungsstufe als bei Cato und Galba, der Vergleich zwischen hohem und schlichtem Stil — ist nicht so durchgeführt, daß die eine gegen die andere Stilart ausgespielt würde 86 : Atque in his oratoribus illud animadvertendum est, posse esse summos qui inter se sint dissimiles. Nihil enim tarn dissimile quam Cotta Sulpicio, et uterque aequalibus suis plurimum praestitit (§ 204). Die Attizisten hatten die Frage aufgeworfen, welche der drei Stilarten die beste sei, und sie, wenigstens nach Cicero, zugunsten des schlichten Stils entschieden. Demgegenüber hat Cicero die Erörterung dieser Frage schon dadurch auf ein höheres Niveau gehoben, daß er in der geschichtlichen Darstellung deutlich werden läßt, wie die einzelnen Stilarten von ihrer verschiedenen Funktion her ihre Berechtigung haben (freilich wird an einem Unterschied in der Wirkung auf den Zuhörer festgehalten) und wie seit Crassus nicht mehr eine Verfeinerung im Technischen und bloß Stilistischen für die Vollendung der Redekunst entscheidend gewesen ist, sondern eine umfassende, besonders philosophisch gerichtete Bildung. Cicero hat sich jedoch nicht nur immanent mit seinen Gegnern auseinandergesetzt, sondern hat in zwei Exkursen, die im Aufbau des Werkes zwei große Zäsuren bilden 87 , direkt zum attizistischen Stilideal Stellung genommen. Der die §§ 183-200 umfassende erste Exkurs — in ihm geht es um das Verhältnis, in dem das Urteil des Volkes zu dem der Kenner steht — ist nur locker mit dem Vorangehenden verknüpft; er schließt sich an eine kürze, fast beiläufige Bemerkung Ciceros an: Ex his Cotta et Sulpicius cum meo iudicio tum omnium facile primas tulerunt (§ 183). Um so enger ist seine Beziehung zum eigentlichen Anliegen Ciceros; auch hier ist der 'Exkurs' keine Abschweifung vom Wesentlichen, er gibt vielmehr einen direkten Einblick in die Absichten, die der Autor mit seinem Werk verfolgt. Aufbau und Gedankengang dieses wichtigen Textstückes bereiten dem Verständnis nicht geringe Schwierigkeiten. W. Kroll führte bestimmte nicht zu leugnende Wiederholungen auf 86

Freilich ist auch hier, in § 201, angedeutet, daß der hohe Stil dem schlichten relativ überlegen ist. 87 Der erste Exkurs, §§ 183-200, trennt zwei Rednergenerationen, Antonius Crassus und Cotta - Sulpicius ; der zweite, §§ 284-300, hebt den Höhepunkt des ganzen Werkes, die Synkrisis Cicero-Hörtensius, vom Vorangehenden ab.

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das Bemühen zurück, den Hauptgedanken besonders eingängig zu machen 88 . H. Fuchs glaubt, die Schwierigkeiten durch die Annahme von Doppelfassungen beseitigen zu können 89 : Cicero habe einen Teil der zuerst niedergeschriebenen Fassung, §§ 185-188 (die genaue Eingrenzung des zu tilgenden Stückes will freilich nicht ganz überzeugend gelingen) durch eine Zweitfassung, § 188 Ende 'denique hoc specimen...' bis § 192 Ende, zu ersetzen beabsichtigt, doch seien durch Schuld der Abschreiber beide Versionen im Text stehengeblieben. Zunächst ist zuzugeben, daß beide Stücke zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen : Zweimal wird gesagt, daß jeder Crassus und Antonius als die größten Redner anerkennen würde (§ 186 und § 189), und zweimal wird eine Anekdote erzählt, die verdeutlichen soll, daß der Redner auf die Anerkennung der Menge angewiesen ist (§187 und § 189). Zudem scheint der die 'Zweitfassung' einleitende Satz: 'Denique hoc specimen est popularis iudici, in quo numquam fuit populo cum doctis intellegentibusque dissensio', der fast wörtlich mit § 185 Ende übereinstimmt 90, nicht recht in den Zusammenhang zu passen, während umgekehrt der an die (vermeintliche) Zweitfassung anschließende Satz: 'Hoc tarnen interest, quod volgus interdum non probandum oratorem probat . . .' nicht mit dem Vorangehenden verknüpft zu sein scheint. H. Fuchs glaubt sich aus diesem Grund berechtigt, den Abschnitt § 188 Ende bis § 192 Ende als ein aus dem Kontext herauslösbares Stück betrachten zu dürfen; zur zusätzlichen Absicherung fügt er noch ein Argument hinzu, das, wenn es sich als richtig erweisen sollte, seine Auffassung unwiderlegbar machen würde: daß der erste Satz von § 193 sich fugenlos an den letzten vor der ausgegrenzten Zweitfassung stehenden anschließe. Auf 'Quod enim probat multitudo, hoc idem doctis probandum est' wäre also ursprünglich: 'Hoc 88

Komm. z. Brut. 188 (129). Doppelfassungen in Cic.'s Brutus, 127ff. Als weitere Doppelfassungen außer §§ 188 Ende bis 192 hat H. Fuchs § 290 und die erste Hälfte des § 327 (— admirationem excitabat) ausgegrenzt. Daß im Brutus überhaupt mit Spuren einer Überarbeitung gerechnet werden muß, hat nach R. Sabbadini, Riv. Filol. Class. 1901, 259ff. E. Norden (Aus Cic.'s Werkstatt, 2ff.) gesichert, als er zeigte, daß die zweite Erwähnung des Molo in § 312 die chronologisch irrtümliche in § 307 ersetzen sollte, diese jedoch, weil fest im Zusammenhang verankert, stehenblieb. Weitere Spuren einer Überarbeitung hat K. Barwick, Brutus-Ausgabe, Heidelberg 1949, 5 entdeckt: Während Cato (§§ 118f.) und Q. Caecilius Metellus Scipio (§212) als lebend vorausgesetzt werden, ist L. Manlius Torquatus, der zusammen mit Scipio umkam (Bellum Afr. 96), unter den im Bürgerkrieg Gefallenen genannt (§ 265). Ob auch P. Cornelius Lentulus Spinther erst nachträglich in diese Liste aufgenommen wurde (§ 268), ist nicht ganz so sicher, da der Zeitpunkt und die Art seines Todes unklar bleiben (den Angaben des Anonymus De viris illustr. urbis Romae 78,9 ist mit Zurückhaltung zu begegnen). 90 Itaque numquam de bono oratore aut non bono doctis hominibus cum populo dissensio fuit. 89

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tarnen interest, quod volgus interdum non probandum oratorem probat . . gefolgt. Hier erheben sich nun Bedenken. In § 188 war sehr nachdrücklich betont worden, daß es eines sachverständigen Urteils nicht weiter bedürfe, wenn die Wirkung des Redners auf die Zuhörer — die drei officia: docere, delectare, movere bezeichnen hier die drei möglichen Wirkungsweisen — außer Zweifel steht. Das läuft direkt auf die abschließende Sentenz zu: Quod probat multitudo, hoc idem doctis probandum est. Würde § 193 unmittelbar daran anschließen, ergäbe sich eine schwer erträgliche Härte ; denn wie könnte die Aussage, daß das Urteil über einen Redner durch die Anerkennung, die er bei der Menge findet, zu seinen Gunsten entschieden ist, neben dem Satz stehen, der das Gegenteil behauptet, daß nämlich bisweilen das Volk verkehrt urteile? Ohne Überleitung nebeneinandergestellt schließen beide Aussagen einander aus, zumal die Argumentation in § 188 eindeutig auf den zitierten Schlußsatz zuläuft. So wird zu fragen sein, ob das von H. Fuchs ausgesonderte Stück nicht die Funktion einer Überleitung hat. Diese Frage ist um so berechtigter, als die scharfsinnige Beweisführung von H. Fuchs zu dem Eingeständnis führt, daß sich die Zweitfassung, an die Stelle des zu tilgenden Stückes gerückt, nicht recht in den umgebenden Ttext einfügt 91 , und er nicht überzeugend zu erklären vermag, warum Cicero eigentlich die eine Fassung durch die andere ersetzen wollte 92 . Und wenn in §§ 184ff. und 189 ff. zum Teil dasselbe Material verwandt wird und inhaltliche wie sprachliche Entsprechungen nicht fehlen, bleibt doch noch zu fragen, ob nicht das, was für sich genommen den Eindruck bloßer Wiederholungen vermittelt, in verschiedene Zusammenhänge gerückt und verschiedenen Beweiszielen untergeordnet ist. Am Anfang und Ende des ersten Abschnitts steht die Hauptthese, die zu beweisen der Zweck des ganzen Zwischenstückes, §§ 184-188, ist: Et enim necesse est, qui ita dicat ut a multitudine probetur, eundem doctis probari (§ 184). Dem entspricht § 188: Quod enim probat multitudo, hoc idem doctis probandum est. Auch das Folgende, §§ 189f., scheint zunächst auf dasselbe Ziel hinauszulaufen, und zwar in derselben Anordnung These-Argumentation-These: . . . quis um91

A.a.O. 128ff.: 'Setzt man nun die Zweitfassung an die Stelle des Stückes, das zu verdrängen sie bestimmt gewesen ist, so wird man allerdings erkennen müssen, daß der Anschluß nach oben und nach unten nicht befriedigend gewonnen wird.' 92 Was er a.a.O. 130f. anführt, hat kein großes Gewicht; denn wenn Cicero 'die glänzende Schilderung, wie der erfolgreiche Redner auf seine Zuhörer wirkt (§ 187f.), zugunsten der nüchternen Erörterung, wie der Redner sich bei einem Mißerfolge zu verhalten habe (§ 191), beseitigt hat' und sich dabei vom Gedanken an die Attizisten leiten ließ, ist zu fragen, warum er den positiven Gedanken nicht hat stehen lassen und durch den negativen ergänzen wollen. 37

quam ex his excellere iudicatus est volgi iudicio, qui non idem a doctis probaretur (§ 189)? . . . qui volgi opinione disertissimi habiti sint, eosdem intelligentium quoque iudicio fuisse probatissimos (§ 190). Nur die superlativischen Prädikationen 'ex his excellere', 'disertissimi' und 'probatissimos' deuten den Unterschied zu §§ 184188 an. Während es dort um den allgemeinen Grundsatz ging, daß die Wirkung des Redners auf die Menge für das Urteil über ihn entscheidend ist und der Kenner nur durch die Kenntnis der rednerischen Mittel, durch die eine Wirkung erreicht wird, der Menge etwas voraushat, so wird in §§ 189f. das Allgemeine in der Weise präziser gefaßt, daß nur bei den ganz überragenden rednerischen Leistungen der Menge ein völlig unanfechtbares Urteil zugesprochen wird. Dies wird durch §§ 191f. nach der negativen Seite hin ergänzt: Über den Redner, dem die Zuhörer davonlaufen oder von dem sie sich völlig unbeeindruckt zeigen, ist ein Urteil gefällt, dem auch der Kenner nichts hinzuzufügen hat. Der gesamte Abschnitt, §§ 189-192, ist also auf den Bereich begrenzt, in dem das Urteil der Kenner dem des Volkes notwendig folgt: auf die ganz herausragenden und die ganz schlechten Leistungen. Diese Eingrenzung läßt dem Urteil des Sachverständigen einen gewissen Spielraum und öffnet damit die Möglichkeit, die Überlegenheit des Sachverständigen über den Laien in den abgesteckten Grenzen neu zu bestimmen. Gerade das aber ist die Aufgabe des folgenden, mit §194 beginnenden Abschnitts : Das Volk billigt gelegentlich auch einen mittelmäßigen Redner, während der Kenner in einem solchen Fall richtiger urteilt; denn er weiß, daß es ein besseres genus dicendi gibt. Freilich stellt sich die Übereinstimmung zwischen Kennern und Laien sofort wieder ein, wenn diese die Möglichkeit zum Vergleich mit dem besseren Redner haben 93 . Ist diese Interpretation richtig, können §188 Ende bis §192 Ende nicht aus dem Zusammenhang herausgelöst werden; dann aber ließe sich die Annahme einer Doppelfassung nicht aufrechterhalten. §§ 199f. fassen das Ergebnis der langen Erörterung zusammen: Entscheidend für die Beurteilung eines Redners ist, wie er auf die Menge wirkt ; der Kenner hat der Menge nur darin etwas voraus, daß er die rednerischen Mittel kennt und deshalb die Ursache einer bestimmten Wirkung durchschaut ( = §§ 184ff.) und daß er weiß, welches die schlechthin beste Redeweise ist, wenn das Volk mangels Vergleichsmöglichkeiten auch einmal mittelmäßige Redner billigt ( = §§ 189 ff.). Der Exkurs als Ganzes hebt deutlich die Redekunst von anderen Kunstgattungen ab, deren Zweck ausschließlich die künstlerische, 93 Belegt ist das durch ein geschichtliches Ereignis, das Rededuell zwischen Q. Scaevola und L. Crassus in einem berühmten Prozeß (§§ 194-198) : Ab utroque autem causa perorata si quaereretur uter praestaret orator, numquam profecto eapientis iudicium a iudicio volgi discreparet.

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auf das Urteil weniger Kenner berechnete Vervollkommnung ist. Die Beredsamkeit ist auf den praktischen Zweck bezogen, das Anliegen des Redners bei einer großen Zuhörermenge durchzusetzen und sie für seine Sache einzunehmen. Die Betonung des praktischen Zwecks und das Bemühen, die Rolle des Kunstkenners einzugrenzen, werden erst von der Gegenposition her ganz verständlich. Die Attizisten suchten ihrem allem Großen und Pathetischen feindlichen Ideal eine theoretische Begründung zu geben, die sich eng an Kallimachos' Kunstideal anlehnt. Während Cicero für Dichtkunst und Musik zugibt, daß es allein auf das Urteil der wenigen Kenner ankomme 84 , weist er, was die Redekunst betrifft, auf ihre spezifische Funktion hin, nämlich auf die Menge zu wirken: Von daher ist dem Ideal des l'art pour l'art, soweit es auf die Beredsamkeit angewendet wurde, die Grundlage entzogen 96 . Der Zusammenhang des ersten Exkurses mit dem zweiten wird schon dadurch deutlich, daß dieser zweite Exkurs sich an eine Charakterisierung des Calvus anschließt: Itaque eius oratio nimia religione attenuata doctis et attente audientibus erat inlustris,