Äußerung: Studien zum Handlungsbegriff in Søren Kierkegaards "Die Taten der Liebe" [Reprint 2012 ed.] 9783110830422, 9783110167306

On the basis of an interpretation of The Deeds of Love (1847) which remains close to the text, the attempt is made here

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Äußerung: Studien zum Handlungsbegriff in Søren Kierkegaards "Die Taten der Liebe" [Reprint 2012 ed.]
 9783110830422, 9783110167306

Table of contents :
Vorwort
Einleitung. Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation
1. Kapitel. Die Kreativität des Handelns als Gegenstand der Taten der Liebe
2. Kapitel. Das Sollen
I. Die Geltung des Sollens: Das Gebot der Liebe
II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens: Liebe als dialogisches Handeln
III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens: Handeln als Äußerung
IV. Fazit: Die Forderung der Liebe als schöpferische Sprache
3. Kapitel. Das Können
I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns
II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns
III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens: Versöhnung – enigmatisches Thema in vier Variationen
IV. Liebenkönnen: Handeln als Hermeneutik der Lebensbeziehungen
V. Fazit: Liebenkönnen als expressive Intentionalität
4. Kapitel. Jenseits der Phänomenologie: Das Handeln der Liebe in reflexiver Perspektive
I. Die Liebe im Diskurs
II. Handlung und Gottesbegriff
Literatur- und Abkürzungsverzeichnis

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Kierkegaard Studies Monograph Series

4

Kierkegaard Studies Edited on behalf of the

S0ren Kierkegaard Research Centre by Niels Jorgen Cappelorn and Hermann Deuser

Monograph Series

4

Edited by Hermann Deuser

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2000

Ulrich Lincoln

Äußerung Studien zum Handlungsbegriff in Sören Kierkegaards Die Taten der Liebe

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000

Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Seren Kierkegaard Research Centre by Niels Jürgen Cappelern and Hermann Deuser Monograph Series Volume 4 Edited by Hermann Deuser

The Foundation for the Seren Kierkegaard Research Centre at Copenhagen University is funded by The Danish National Research Foundation.

© Printed on acid-free paper which falls within the guidelines of the ANSI to ensure permanence and durability.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Lincoln, Ulrich: Äußerung : Studien zum Handlungsbegriff in Seren Kierkegaards „Die Taten der Liebe" / Ulrich Lincoln. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 (Kierkegaard studies : Monograph series ; Vol. 4) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1999 ISBN 3-11-016730-1

ISSN 1434-2952 © Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin All rights reserved, including those of translation into foreign languages. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopy, recording or any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher. Printed in Germany Disk conversion: OLD-Satz digital, Neckarsteinach Printing: Werner Hildebrand, Berlin Binding: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Dem Andenken meines Vaters

Vorwort „Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam die Sense wetzen, gleichsam die Gitarre stimmen, gleichsam mit einem Kinde plaudern, gleichsam aus dem Fenster spucken ... Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam die Türglocke eines Mannes ziehen um ihn zu foppen; gleichsam am Fenster einer Magd vorbeigehen und das Pflaster begucken." (Vorworte, 175)

Der Urheber dieser Zeilen, ein gewisser Nikolaus Notabene, muß wissen, wovon er spricht. Schließlich ist er der Verfasser einer Schrift, die aus nicht weniger und aus nichts anderem als acht Vorworten mitsamt einem Vorwort besteht. Der Urheber der folgenden vielen Zeilen hingegen ist noch ein rechter Anfänger in der Kunst des Verfertigens von Vorworten. Deshalb nehme ich gerne den Rat dieses Experten auf und empfehle der werten Leserin und dem werten Leser, dieses Vorwort, das nun im Begriff ist anzuheben, ebenso zu nehmen: als ein Plaudern mit einem Kind, ein Spucken aus dem Fenster, als eine Klingelpost. Ob der sich daran anschließende übermäßig seitenreiche Text mehr ist als ein bloßes Spucken oder Stimmen, überlasse ich gerne dem Urteil der geneigten Leserschaft. Eine gewisse sachliche und geradezu persönliche Nähe, die den Gegenstand meiner Arbeit mit dem erwähnten Experten N.N. verbindet, macht mich freilich mutig genug, es auf den Versuch ankommen zu lassen. Die vorliegende Untersuchung ist die geringfügig überarbeitete Fassung einer Arbeit, die im Sommersemester 1999 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. als Dissertation angenommen wurde. Und neben allem scherzhaften Spucken und Plaudern ist deshalb vor allem das Danken die eigentliche und einzige ernsthafte Aufgabe dieses Vorwortes: Mein Dank gilt zuerst Prof. Hermann Deuser. Er hat nicht nur das Entstehen dieser Arbeit mit großen Engagement und Einfühlungsvermögen begleitet; er hat mir auch immer wieder gezeigt, daß es sich lohnt, Kierkegaards Texte auf ihre theologische und religionsphilosophische Substanz zu befragen. Prof. Ingolf Dalferth und

Vili

Vorwort

Direktor Niels J0rgen Cappel0rn danke ich für die überaus lehrreichen und anregenden weiteren Gutachten. Herrn Cappel0rn und dem Kopenhagener S0ren Kierkegaard Research Centre bin ich darüberhinaus zu Dank verpflichtet nicht nur wegen der finanziellen Unterstützung bei der Drucklegung dieses Buches; auch die Teilnahme an vielen internationalen Seminaren in Kopenhagen hat zum Entstehen der Arbeit beigetragen. Insbesondere möchte ich Prof. Arne Gr0n für viele aufschlußreiche Gespräche und Hinweise danken. Daß ich auf dem Weg zu diesem Buch auch noch musizierende Philosophen wie Prof. Doug Anderson aus Penn State kennenlernen konnte, erfüllt mich mit Freude. Dem Verlag Walter de Gruyter & Co. ebenso wie den Herausgebern Niels J0rgen Cappel0rn und Hermann Deuser bin ich zu Dank verpflichtet für die Bereitschaft, die Arbeit in die Reihe „Kierkegaard Studies - Monograph Series" aufzunehmen. Der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) sowie der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig danke ich herzlich für großzügige Druckkostenzuschüsse. Besonders dankbar bin ich den Freundinnen und Freunden, ohne deren Hilfe diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Susanne Blatt, Barbara Hustedt und Katharina Kunter haben mit viel Engagement und Opferbereitschaft Teile des Manuskripts korrigiert; Christian Danz hat mir wertvolle Hilfe zum Verständnis des Deutschen Idealismus gegeben; von Gesprächen mit Heiko Schulz und Martin Schmuck habe ich mehr gelernt, als diese selbst vielleicht ahnen; Gesine Kleinschmit hat in vielen „Plaudereien" überraschende Beobachtungen zu Kierkegaard beigesteuert; ebenso anregend wie angenehm waren für mich auch stets die Gespräche im Kreis der systematisch-theologischen Sozietäten in Gießen und später in Frankfurt. Auf die Unterstützung durch Catherine und David Lincoln konnte ich mich stets verlassen. Meinen Eltern schließlich schulde ich mehr, als Worte sagen. Der letzte und größte Dank aber gilt Anne Elizabeth. Dettum, im Herbst 1999

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Einleitung Z u m Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation

1

1. Kapitel D i e Kreativität des H a n d e l n s als G e g e n s t a n d der Taten der Liebe Die Kreativität des Handelns als Gegenstand der Taten der Liebe

37

2. Kapitel D a s Sollen I.

Die Geltung des Sollens: Das Gebot der Liebe

53

1. 2. 3. 4.

53 70 80

Das Liebesgebot als Artikulation der Handlungsrelation Das Liebesgebot als Interpretation der Situation Das Liebesgebot als Erfahrung der Situation Die Frage der Normativität: Das Liebesgebot im Horizont der Pflichtenethik

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens: Liebe als dialogisches Handeln 1. Handeln als Antworten

92

104 104

X

Inhaltsverzeichnis

1.1. Die Aufgabe: Antworten als Handlungsverknüpfung Exkurs: Dialogisches Handeln in der Unwissenschaftlichen Nachschrift? 1.2. Lieben als Antworten 1.2.1. Liebe als Erfüllung (III A.) 1.2.2. Liebe als Zustimmung in Innerlichkeit (III B.) 1.2.3. Dialog und Anerkennung - ein Blick auf Fichte 1.2.4. Dialogisches Handeln und teleologische Sittlichkeit 2. Handeln als Fragen 2.1. Die Aufgabenstellung: Lieben als Fragen 2.2. Der Vollzug des Fragens 2.3. Fragen: Begehren und Intentionalität 3. Abschlußüberlegung: Die theologische Begründung dialogischen Handelns III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens: Handeln als Äußerung

104 112 116 116 133 146 155 162 163 167 172 180

190

1. Die Subjektivität der Liebe als intentionales Selbstverhältnis: Unendliche Schuld 2. Die subjektive Artikulation der Intentionalität: E r n s t . . . . 3. Die Subjektivität der Liebe: Kreative Unbestimmtheit...

191 201 206

IV. Fazit: Die Forderung der Liebe als schöpferische Sprache ..

216

3.

Kapitel

Das Können I.

Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns . . . .

221

1. 2. 3. 4.

222 229 239

Lieben als Werk und Wirksamkeit: Aufbauen Lieben als Sprechen: das Können voraussetzen Die Voraussetzung des Könnens Lieben-Können als Kreativität: Folgerungen und Aufgaben

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns . . . 1. Intention und Intentionalität

245 247 247

Inhaltsverzeichnis

1.1. Das Voraussetzen der Liebe als Behauptung: Glauben und Hoffen

XI

247

1.2. Handlungsrationalität: Glauben und Hoffen als Schlußform 1.3. Die Schlußform als subjektives Phänomen von Liebe Exkurs: „Die erste Liebe" 2. Reflexivität: Das Selbstverstehen des wirksam Handelnden

294

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens: Versöhnung - enigmatisches Thema in vier Variationen . . . .

307

1. Introduktion. Das Thema in handlungstheoretischer Perspektive: Liebe als expressive Wirklichkeit Zwischenspiel: Expressivität und transzendenter Grund ein Hinweis auf Schellings Philosophie der Offenbarung . . . 2. Erste Variation (2, V). Versöhnende Liebe als Wirksamkeit: Gesellschaft und Sprache 2.1. Öffentlichkeit als geschichtlicher Wirkungszusammenhang 2.2. Wirkung durch Formen des Reagierens: Regel, Rhetorik und Zeichen 3. Zweite Variation (2, V I ) . Versöhnende Liebe als Drittes: Leiblichkeit 3.1. Leiblichkeit als expressive Wirklichkeit: Die Beziehung der Liebe 3.2. Leiblichkeit als expressive Wirkung: Das Bleiben der Liebe als versöhnende Vitalität . . . . 4. Dritte Variation (2, V I I ) . Versöhnende Liebe als Kreativität: Expressivität 4.1. Kreativität 4.2. Expressivität und Innerlichkeit 5. Vierte Variation (2, V I I I ) . Versöhnende Liebe als „public space": Versöhnung 5.1. Versöhnung als reziproke Wiederherstellung der Beziehung 5.2. Versöhnung durch Expressivität: „public space" 6. Finale. Expressivität und Bedeutung - Versöhnung als Verständigung Nachklang: Zum expressiven Handlungsmodell in Kierkegaards Werk

263 285 289

307 321 330 330 338 352 352 358 367 367 378 382 382 388 398 412

XII

Inhaltsverzeichnis

IV. Liebenkönnen: Handeln als Hermeneutik der Lebensbeziehungen

420

1. Trauern als Grenzphänomen der Liebe 2. Die exemplarische Bedeutung der Trauer: Hermeneutisches Handeln

433

V. Fazit: Liebenkönnen als expressive Intentionalität

441

4.

421

Kapitel

Jenseits der Phänomenologie: Das Handeln der Liebe in reflexiver Perspektive I.

Die Liebe im Diskurs

447

1. Diskurs und Konflikt 2. Der stumme Tanz 3. Der erbauliche Klang des Fremden

448 453 457

II. Handlung und Gottesbegriff 1. Teleologische Bestimmtheit und reflexive Subjektivität .. 2. Gott als Wiederholung (religionsphilosophischer Handlungsbegriff) 3. Gottes Wiederholung als Liebe (theologischer Handlungsbegriff) Literatur- und Abkürzungsverzeichnis

463 463 468 483 501

Einleitung: Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation S0ren Kierkegaards Werk wird oft mit einer Neuorientierung des europäischen Denkens nach der Epoche Hegels verbunden. So ist Kierkegaard etwa für /. Habermas neben Feuerbach und Marx der dritte Repräsentant jener „Junghegelianer", die den alten Meister auf die Füße einer sinnlich und geschichtlich bestimmten Existenz stellen: „Sie [sc. Feuerbach, Kierkegaard und Marx] insistieren auf der Entsublimierung eines Geistes, der die jeweils aktuellen, in der Gegenwart aufbrechenden Gegensätze in den Sog seiner absoluten Selbstbeziehung nur hereinzieht, um sie zu entwirklichen, um sie in den Modus der schattenhaften Transparenz einer erinnerten Vergangenheit zu versetzen - und ihnen allen Ernst zu nehmen" 1 . Diese Entsublimierung des Hegeischen Geistes beschreibt Habermas als den Paradigmenwechsel von der „Bewußtseinsphilosophie" zur „Praxisphilosophie", dem er am Beispiel von Marx nachgeht 2 . Eine vergleichbare Darstellung Kierkegaards gibt Habermas nicht mehr. Doch wenn man sein Motiv aufnimmt, legt sich die Frage nahe, ob auch bei Kierkegaard von einer solchen „Entsublimierung" die Rede sein kann. Findet sich bei Kierkegaard eine Versinnlichung, eine Verleiblichung des Geistes? Kann man bei Kierkegaard einen pragmatischen oder praktischen Begriff von Geist, Vernunft und Selbst erkennen? Der Begriff des Praktischen kann in diesem Zusammenhang und ohne weiterhin an Habermas' Terminologie gebunden zu sein 1

2

Diskurs, 68. Habermas folgt in dieser grundsätzlichen Einordnung Kierkegaards der klassischen Studie von K. Löwith, Hegel, s. dort bes. 153ff. AaO. 75ff. Zu Habermas' eigener Kierkegaarddeutung vgl. Individuierung, 203f.: Habermas interpretiert die Praxisdimension bei Kierkegaard als lebensgeschichtliche Identitätsbildung durch Übernahme der eigenen Individualität gegenüber Gott; vgl. hierzu die Kritik bei A. Gr0n, Subjektivitet, 184f. Für eine weitere Einordnung Kierkegaards in die Entwicklung einer nachhegelschen Handlungsphilosophie vgl. R. Bernstein, Praxis, bes. 84-122.

2

Einleitung: Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation

als ein Vernunftverständnis verstanden werden, das von der leiblichen Bestimmtheit des Existierens und dem fundamentalen Handlungsbezug des Wissens ausgeht. Mit „leiblich" ist dabei das Ganze des relationalen Verwickeltseins eines Handelnden in seine eigene Welt gemeint: verwickelt in geschichtliche, psychische und sprachliche Vorgaben und Umwelten. Wenn Kierkegaard gegen die idealistische Tradition auf die Konkretion der Existenz dringt, ist zu fragen, inwiefern dies ein Verständnis dafür einschließt, daß die theoretischen Beschreibungen dieser Existenz wesentlich Aussagen über das leibgebundene Handeln der Existierenden, über „embodied agency" 3 sind. Die vorliegende Arbeit versucht, dieser Frage nachzugehen, indem sie nach dem Handlungsbegriff Kierkegaards fragt. Menschliches Handeln ist ein komplexes Phänomen, und entsprechend vielfältig und disparat ist jene Theoriefamilie, die unter dem Namen „Handlungstheorie" unterschiedlichste philosophische Ansätze versammelt4. Nach welchem spezifischen Begriff des Handelns kann und muß nun eine Kierkegaard-Interpretation fragen? Die eben genannten Begriffe Praxis und Leiblichkeit stellen bereits eine erste Selektion dar, die jedoch noch zu begründen ist. Und warum könnte es überhaupt Sinn machen, nach einem Handlungsbegriff bei Kierkegaard zu fragen? Warum sollte diese Frage eine spezifische Relevanz haben, die nicht schon durch bereits vorliegende Untersuchungen etwa zur Ethik oder zum Existenzbegriff Kierkegaards abgedeckt wäre? Die Frage nach der Konkretion der Existenz ist in der Kierkegard-Forschung vielfach gestellt und beantwortet worden, nicht zuletzt als Frage nach der ethischen Form dieser Konkretion.

3

4

Diesen Begriff übernehme ich von C. Taylor, der ihn aus phänomenologischer Tradition herleitet. Nach Taylor enthält der Begriff der embodied agency „a claim about the nature of our experience and thought, and of all those functions which are ours qua subject, rather than about the empirically necessary conditions of these functions. To say we are essentially embodied agents is to say that it is essential to our experience and thought that they be those of embodied beings" (Transcendental Arguments, 22); „unser Tun ist dem Bewußtsein vorgegeben" (Leibliches Handeln, 203). Der Begriff der „embodied agency" geht über den unvermittelten Gegensatz von Theorie und Praxis hinaus, der für die Junghegelianer bestimmend war (s. R. Bubner, Handlung, lOlff.). Daß diese junghegelianische Engführung für Kierkegaard gerade nicht gilt, will meine Untersuchung u.a. zeigen. Vgl. die knappe und instruktive Übersicht bei H. Poser, Probleme. Poser unterscheidet (im Anschluß an Meggle) zwischen deskriptiven, normativen, rationalen und analytischen HandlungsiAeor/en, von denen er wiederum die Frage nach einer Philosophie der Handlung als Fundamentaltheorie und „Reflexionshorizont" (ebd. 29) für die Vielfalt handlungstheoretischer Fragestellungen unterscheidet.

Einleitung: Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation

3

Auch der Begriff des Handelns wird in diesem Zusammenhang immer wieder - z.T. emphatisch - gebraucht. Doch muß dieser Tatbestand noch nicht bedeuten, daß mit seiner (ethischen) Verwendung der Handlungsbegriff selbst bereits geklärt wäre5. Im folgenden sollen einige Beispiele aus der Kierkegaard-Forschung kritisch daraufhin befragt werden, welcher Handlungsbegriff in ihrer Interpretation zum Tragen kommt. Daran anschließend kann das besondere Interesse, dem diese Arbeit nachgeht, und seine Berechtigung genauer bestimmt werden. Die folgende Diskussion von vier Kierkegaard-Interpretationen verfolgt demnach mehrere Ziele: 1. Sie soll Grundbegriffe der handlungstheoretischen Diskussion ins Spiel bringen und die Ergebnisse der Kierkegaard-Forschung im Horizont dieser Fragestellung verorten; zugleich sollen wichtige Texte Kierkegaards zur Handlungsproblematik im Spiegel ihrer Interpretation eingeführt werden. 2. Sie soll exemplarisch in die Debatte um die Ethik Kierkegaards einführen und unterschiedliche Tendenzen der Forschung aufzeigen. 3. Sie soll die Aufgabenstellung der vorliegenden Arbeit im Horizont der vorangegangenen Forschung begründen und präzisieren. Die folgenden Bemerkungen zu den einzelnen Kierkegaard-Interpretationen wollen also keine umfassende Würdigung dieser Werke sein. Es soll lediglich der Blick darauf gelenkt werden, welches Verständnis von Handlung in diesen Interpretationen zum Tragen kommt. Welcher Handlungsbegriff wird von den Autoren herausgearbeitet oder auch nur stillschweigend vorausgesetzt und angewandt, und wie ist dieser Begriff handlungstheoretisch zu bewerten? Es handelt sich also in erster Linie um eine Anfrage an das Selbstverständnis der Interpretation, während die Frage, ob diese Interpretation auch in Hinblick auf ihren Gegenstand (Kierkegaards Texte) als richtig gelten kann, zunächst noch ausgeblendet wird. Text und Interpretation werden also methodisch nicht differenziert; doch sind gelegentlich Hinweise auf andere mögliche Interpretationen der zugrundeliegenden Texte nötig. Es geht darum, diese vier Autoren mitsamt 5

Es kann als das Eigentümliche der philosophischen Frage nach dem Handeln gelten, daß hier nach einem Phänomen gefragt wird, das lebensweltlich den Status des selbstverständlich Bekannten hat und in theoretischer Form primär unter einzelwissenschaftlicher Perspektive bearbeitet wird (s. H. Poser, aaO. 12-18). Zur wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der handlungstheoretischen Frage als „Begründungsdisziplin" (Poser) der Sozial- und Kulturwissenschaften vgl. H. Joas, Kreativität, Kap.l; H. Peukert, Wissenschaftstheorie, Teil II.

4

Einleitung: Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation

ihrem Gegenstand ins Gespräch mit der handlungstheoretischen Diskussion zu bringen. Die Auswahl der herangezogenen Interpretationen ist sicherlich bis zu einem gewissen Grad willkürlich; doch zugleich geschieht sie in der Vermutung, daß sich an den vier Autoren die wichtigsten Probleme der handlungstheoretischen Interpretation Kierkegaards exemplarisch aufzeigen lassen. Ebenso sind natürlich die Ergebnisse der handlungstheoretischen Debatte, die in der folgenden Diskussion kritisch an die Kierkegaard-Literatur herangetragen werden, nicht repräsentativ für das ganze Spektrum möglicher handlungstheoretischer Überlegungen. Die Berechtigung und Auswahl dieser Anfragen kann sich jedoch letztlich allein durch den Erfolg der gesamten Untersuchung ausweisen, insofern in ihnen bereits ein Vorgriff auf die hier vertretene methodische Prämisse stattfindet: daß es sinnvoll sei, Kierkegaards Texte auf (bestimmte) handlungstheoretische Fragen zu beziehen. a) Inneres Handeln als Wiederholung: Anton Hügli Hüglis Studie 6 erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Handlungstheorie in Kierkegaards Texten zu rekonstruieren. Gleichwohl spielt der Handlungsbegriff und seine Auslegung eine wichtige Rolle. Unsere Frage wird sein, ob Hügli diesen Handlungsbegriff kritisch klärt, oder ob er einen bestimmten Begriff voraussetzt und bei Kierkegaard lediglich wiederfindet. Handeln, genauer gesagt: ethisches Handeln, ist eine der zentralen Formen, in denen Hügli zufolge bei Kierkegaard das problematische Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität vermittelt wird. Hügli interpretiert ethisches Handeln primär unter der Kategorie der Wiederholung (111). Dabei beruft er sich u.a. auf eine Passage aus Pap. IV A 156, eine Notiz, die den Wiederholungsbegriff auf mehreren Beschreibungsebenen thematisiert, ausgehend vom Handlungsphänomen: „Wenn ich handeln soll, dann hat meine Handlung im Bewußtsein, in Vorstellung und Gedanke existiert, sonst handle ich gedankenlos: ich handle nicht." (vgl. 290). Hügli ordnet diese Notiz der Hegelkritik Kierkegaards zu, die auf eine strikte ontologische

6

A. Hügli, Erkenntnis; die Seitenangaben im folgenden Abschnitt beziehen sich auf diesen Text. Zur Zitation der Texte Kierkegaards in der vorliegenden Arbeit vgl. das Literaturverzeichnis. Bei wichtigen Begriffen und Wendungen gebe ich auch den dänischen Wortlaut wieder. Gelegentliche Veränderungen der Übersetzung gegenüber der deutschen Ausgabe von Hirsch/Gerdes sind mit * gekennzeichnet.

Einleitung: Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation

5

Trennung ziele: „Es darf keine Identität von Innen und Außen, von Denken und Sein geben; denn das ethische Telos ist reine Innerlichkeit, die erst äußerlich, reiner Gedanke, der erst wirklich werden soll" (113). Der Wiederholungsbegriff wird damit ausdrücklich im Sinne der Kantischen Trennung von Pflicht und Neigung interpretiert (114). Natürlich setzt Hügli hier nicht einfach Kierkegaards Ethiktheorie mit Kants Moralphilosophie gleich. Aber durch die Analogiesetzung suggeriert er doch ein identisches Handlungsverständnis: Handeln ist dieser Sicht etwas „Äußeres", d.h. ein sinnliches Phänomen, das von dem „Inneren" des Intelligiblen ontologisch strikt zu unterscheiden ist7. „Außen" ist ausschließlich Außen, ausschließlich „Neigung" und ohne Anteil am „Innen"; Denken und Handeln sind kategorial unterschieden. Die Tendenz ist hier ähnlich wie bei Kant: Eine fundamentale Unterscheidung impliziert eine Privilegierung des Innenbereichs des Bewußtseins, und damit geht ein gleichrangiger Begriff für die empirisch-leibliche Äußerlichkeit der Handlungen, für die „Phänomenalität von Handlungen", verloren8. Hügli führt die Analyse ausdrücklich als Frage nach den „Formen und Kategorien dieses ethischen Handelns" (202) fort. Ethisches Handeln ist danach die Grundform des „subjektive(n) Inter-esse(s) zwischen Denken und Sein" (203). Hügli sieht die dualistische Bestimmung konsequent weitergeführt in Richtung auf eine Verinnerli-

7 8

S. I. Kant, Werke VII, 88; IV, 498. D. Böhler, Pragmatik, 57. Die Aussage aus Pap. IV A 156 muß dabei keineswegs im Sinne eines metaphysischen Dualismus wie bei Kant ausgelegt werden. Der Begriff der Wiederholung steht ja hier nicht nur für die Differenz, sondern ebenso für die praktische Identität von Innen und Außen in zeitlicher Differenz. Die ontologische Hierarchie, in der Kant zwischen der „praktischen Vernunft" und der lediglich ausführenden „sinnlichen" Handlung unterscheidet, ist mit dem Begriff der Wiederholung gerade nicht gewollt und auch nicht ausgesprochen. Hügli übersetzt Kierkegaards ontologische Differenzkategorie der Zeit, nämlich die Kategorie des „Sprunges", in die ontologische Differenz von subjektivem Innenbereich (Intelligibilität) und objektiviertem Außen (Verwirklichung); zu Pap. IV A 156 vgl. auch K. Schäfer, Ontologie, 304f.; D. Glöckner, Wiederholung, 74ff. An dem Verhältnis von Denkmöglichkeit und ausführender Handlung setzt auch die „dialogische" Handlungstheorie an, die L. Inglis, Dialogue für Kierkegaard rekonstruiert, vgl. ebd. 40f£ (unter Bezug auf AUN2, 42ff.). Doch zeigt Inglis' Arbeit auch das Problem dieser Interpretation: Wenn sie die Möglichkeit mit Denken und Sprechen identifiziert, muß sie das Handeln von Denken und Sprechen kategorial unterscheiden (vgl. ebd. Kap. III.); mit einem solchen Handlungsbegriff wäre jedoch die Einsicht der modernen Handlungstheorie in die sprachlich-intentionale Verfassung des Handelns nicht mehr einzuholen, vgl. ebd. 66: „By opening up possibility speech makes a way for action, but the way is not yet action."

6

Einleitung: Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation

chung des Handlungsbegriffs. Kierkegaards Theorie der „inneren Handlung", die er als Reaktion auf die Ohnmacht des subjektiven Handelns gegenüber der äußeren Geschichte konstruiere (207f., vgl. EOI, 184ff, AUN2, 42ff.), wird als ein stringentes Hineinnehmen der äußeren Handlungsform in das Innere des Bewußtseins interpretiert. Inneres Handeln sei zu verstehen als „der Entschluß, handeln zu wollen" (209), und dieser Entschluß läßt sich nach Hiigli in struktureller Analogie zur „äußeren Handlung" verstehen. Hügli zeigt diese Analogie an mehreren Punkten auf und faßt die Gemeinsamkeiten zusammen: „Hier wie dort handelt es sich um einen zeitlich bestimmten Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist in beiden Fällen eine Einheit von Notwendigkeit und Möglichkeit, in der sich der Wesensinhalt der Möglichkeit in anderer Form wiederholt" (211). Wie ist dieses Fazit zu bewerten? 1. Hügli gewinnt einen allgemeinen Handlungsbegriff, unter den er sowohl das „äußere" wie das „innere" Handeln subsumieren kann, der aber zugleich den vorher bereits im Wiederholungsbegriff ausgesagten Dualismus dieser beiden Formen festhält. Der Dualismus von Innen und Außen wird festgeschrieben. 2. Worauf die Argumentation hier zielt, ist die Handlungsstruktur des Entschlusses. Der Entschluß jedoch wird einem zweckorientiertem Handlungsmodell zugeordnet: „Äußeres Handeln bedeutet eine Vermittlung von Realität und Idealität. Die Möglichkeit wird mit Hilfe der äußeren Mittel in Wirklichkeit umgesetzt und geht damit in einen notwendigen Kausalprozeß ein"; und ebenso gilt nun auch für den Entschluß selbst, daß er „eine Vermittlung von Realität und Idealität" sei (210). Dieser Übergang ist zeitlich bestimmt durch eine „Pause der Erwartung [...] Ich stehe gleichsam in Pause und warte darauf, mein Ziel verwirklicht zu sehen" (209). Der Entschluß ist demnach in sich selbst ein verwirklichendes, herstellendes Handeln, das auf die Umsetzung selbstgesetzter Zwecke zielt. An dieser Rekonstruktion der Handlungsstruktur fallen zwei Aspekte auf: Erstens ist Hüglis Analyse einseitig durch das Aristotelische Modell der poiesis geleitet (vgl. 206ff.). Ausgehend von Kierkegaards ontologischen Überlegungen zum Bewegungsbegriff meint er, in der Struktur der poiesis das Vorbild für Kierkegaards Handlungsbegriff finden zu können. Doch dies ist eine Engführung, die eine mögliche Bedeutung des anderen Aristotelischen Handlungsbegriffes für Kierkegaard völlig vernachlässigt: des Begriffes der praxis. Zur Erinnerung: Aristoteles geht in seiner Erörterung des menschlichen Handelns von dessen grundlegender Zielgerichtetheit aus und unterscheidet dabei

Einleitung: Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation

7

die zwei wesentlichen Grundformen poiesis und praxis9. Als poiesis bezeichnet Aristoteles das herstellende Machen, dessen Produkt vom Tun selbst unterschieden ist und als selbständiges, vom Tun unabhängiges Ding in der Welt vorkommt; poietisches Tun hat eine technischobjektivierende Form. In der praxis hingegen wird der Zweck im Vollzug, d.h. als Handeln realisiert. Dazu gehört, daß sich Zweck und Akt dialektisch miteinander vermitteln in der Struktur des Worumwillen: „der Handlungsvollzug (kann) nicht als Durchführung eines unabhängig existierenden objektiven Ziels aufgefaßt werden, sondern bestimmt sich selber nur im inneren Zusammenhang mit dem erstrebten Zweck als diejenige Aktvität, die um willen seiner in Gang kommt. Losgelöst vom Vollzug ist das Worumwillen auf keine Weise gegeben und objektiv eingrenzbar" 10 . Für Aristoteles ist praxis die Form des guten Lebens, in welchem der Handelnde am Leben der Polis teilnimmt und darin zugleich die Form seiner eigenen Glückseligkeit realisiert. Im aristotelischen Praxisbegriff stehen die Einzelnen so „in einer vorhandenen Welt ethischer Ordnungen und Institutionen, daß ihr Handeln und Leben in der Bildung zur allgemeinen Form des Ethos zu ihrer Verwirklichung kommen" 11 . Praktisches Handeln können wir demnach vorläufig als intersubjektives, teil-nehmendes Handeln verstehen, in dem der Handelnde eine Lebenswelt mit anderen Akteuren teilt und auf sie hin handelt. Die mögliche Bedeutsamkeit dieses Handlungsmodells für Kierkegaard wird von Hügli abgeblendet. Auch wenn er behauptet, Kierkegaard unterscheide sich vom poiesis-Modell (207), so folgen doch die von ihm vorgeschlagenen Handlungsbeschreibungen eindeutig der Form eines technisch-herstellenden Handelns 12 . Zweitens führt die Orientierung am poietisch-technischen Handeln zu einer problematischen Sicht des Welt- und Selbstverhältnisses des 9

10 11 12

Vgl. EN 1094a, 3-5; 1140b, 3-7. Kierkegaard verweist auf diese Unterscheidung in Pap. IV C 24 und wendet sie an in EC, 197f.; als weitere Bemerkungen Kierkegaards zu Aristoteles' Handlungsbegriff (unter dem Terminus „Handling") seien genannt: Pap. IV C 17-21,26,71,125; X 5 A 31. R. Bubner, aaO. 76. J. Ritter, Moralität, 233. Zwar weist auch Hügli auf das prajcw-Modell hin, wobei er die Kierkegaardsche Trennung von „innerem" und „äußerem" Handeln als genaue Entsprechung zur Aristotelischen Differenz von praxis und poiesis interpretiert (213f.). Wenn nun aber die prará-Struktur exklusiv auf das innere (!) Handeln bezogen wird, ist es umgekehrt unmöglich, auch ein „äußeres", d.h. doch: sinnlich-leibgebundenes Handeln als praktisch-sittliches zu verstehen. Äußeres Handeln wird auf Zwecktätigkeit reduziert.

8

Einleitung: Zum Handlungsbegriff in der Kierkegaard-Interpretation

Akteurs. Hügli identifiziert Handeln bei Kierkegaard offensichtlich vorrangig als zielgerichtes Hervorbringen und freies Herstellen eines vorgestellten Objekts oder Zustande. Die auf die Realisierung selbstgesetzter Zwecke zielende Vermittlungsleistung des freien Subjekts im Gegenüber zum Kausalzusammenhang ebenso wie die „Pause der Erwartung" zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit suggerieren die Vorstellung eines Akteurs, der seiner Welt frei gegenübersteht und darin aus dieser Welt als zeitlich-leiblichen Zusammenhang prinzipiell herausgenommen ist13. Hinter diesem Verhältnis von Akteur und Welt steht letztlich ein „transzendentale(r) Solipsismus"14. Zu diesem Eindruck kommt es, weil Hügli die ontologischen Katagorien der kinesis-Thematik direkt auf die Situation des Handelns anwendet, damit aber den Handelnden, insofern er als Träger von Möglichkeiten zu denken ist, von der Wirklichkeit prinzipiell unterscheiden muß. Die Modalkategorien Wirklichkeit und Möglichkeit werden zu einem zweckrationalen Verhältnis von Bewußtsein (Zweck) und Handeln (Verwirklichung), und dies vermischt sich mit der dualistischen Deutung des Wiederholungsbegriffs. Dabei wird das äußere Handeln zunehmend irrelevant. Indem Hügli dieses objektivierende Weltverhältnis auch für den Entschluß selbst konstatiert, ergibt sich eine verobjektivierende Form auch des Selbstverhältnisses: Der innerlich Handelnde steht nicht nur der Welt, sondern auch seiner eigenen innerweltlichen Existenz und ihrer leiblichen Bestimmtheit im objekti-

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Hügli beruft sich für den zeitlichen Hiatus der „Pause" auf PB, 77; dort ist mit „Pause" allerdings nicht die Situation eines Zwecke verwirklichenden subjektiven Handelns gemeint, sondern die ontologische Struktur des geschichtlichen Werdens und die diesem Werden entsprechende Erkenntnisform („Leidenschaft der Bewunderung"). In Hüglis „Pause" drückt sich genau jene Vorstellung einer Sukzession (von einem Standpunkt jenseits der Handlungswelt aus) aus, die H. Joas als Charakteristikum einer zweckrationalen Handlungstheorie konstatiert: Ihr liege der Gedanke zugrunde, „daß zunächst im Erkennen der Welt Orientierungen gefunden werden, die dann im Handeln verfolgt werden [...] Hinter der Vorstellung, daß ein Akt der Zwecksetzung dem Handeln vorauszugehen habe, verbirgt sich also die Annahme, daß das menschliche Erkennen vom Handeln unabhängig sei oder sich doch zumindest von diesem unabhängig machen könne und solle" (aaO. 231). Vgl. Hügli: „Durch die ideelle Möglichkeit spart sich der Mensch gleichsam einen leeren Raum aus, der noch nicht mit Realität durchsetzt ist" (205). D. Böhler, aaO. 44, mit Bezug auf Kant. Am Beispiel Kants sieht Böhler den transzendentalen Solipsismus charakterisiert durch eine „nichtkommunikative Erfahrungsrelation [...] die zwischen dem wesentlich bedeutungsaktiven Erfahrungssubjekt und den passiven, eigentlich erst mit Bedeutung zu versehenden Gegenständen besteht" (ebd. 45). Zu Kants Handlungsbegriff vgl. F. Kaulbach, Kants Theorie.

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vierenden Modus des Herstellens und Ausführens gegenüber 15 . Es ist offensichtlich, daß ein solches objektivistisches Verständnis bei Hügli bereits durch sein Thema provoziert wird, insofern er durchgehend an dem Verhältnis von Subjektivität und Objektivität interessiert ist. Hügli vermag Handeln bei Kierkegaard ausschließlich unter dem Subjekt-Objekt-Verhältnis zu betrachten. Ein Begriff von Handeln als miersubjektiver, kommunikativer und insofern wesentlich leibgebundener Praxis fehlt dagegen, scheint auch von vorneherein ausgeblendet zu sein. Zusammenfassend können wir feststellen: In Hüglis Kierkegaardinterpretation treffen wir auf eine Verbindung Aristotelischer und Kantischer Motive, die in ihrem Ergebnis zu einer ontologischen und objektivierenden Unterscheidung des handelnden Subjekts von seiner welthaften und subjektiv-leibhaften Bestimmtheit führt. Die Übertragung der Modalkategorien Möglichkeit und Wirklichkeit auf das bloß herstellende Handeln eines Subjekts, das in den Dualismus der Erkenntnistheorie Kants eingezeichnet wird, führt zu einem Handlungsverständnis, dem das leibhaftige Handlungsphänomen selbst tendenziell entgleitet. Handeln ist prinzipiell sekundär gegenüber der zwecksetzenden Instanz. Insbesondere vermag diese Interpretation keinen Begriff von Praxis und Intersubjektivität für Kierkegaard zu entwickeln, zumindest keinen, der handlungstheoretisch begründet wäre. Hügli kann hierin als exemplarisch für viele andere Interpreten gelten: Kierkegaards Ausführungen zur Ethik und sittlichen Praxis werden weitgehend unter der Perspektive von (aristotelischer) Metaphysik und (kantischer) Erkenntnistheorie, d.h. unter der Perspektive der theoretischen Philosophie gesehen. Und auch der Handlungsbegriff selbst wird dabei stillschweigend unter Schemata der theoretischen Philosophie subsumiert16. Demgegenüber kann die 15

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Man könnte hier zwar von Selbstverwirklichung sprechen und den Entschluß als die entsprechende Handlungsform behaupten. Doch wäre diese Selbstverwirklichung in den Begriffen von Hüglis Interpretation offensichtlich als eine höchst instrumentalistische Form der Selbstobjektivierung vorzustellen. Dieses Argument ist Bestandteil der Kantkritik aus den Reihen der sog. Praktischen Philosophie, die ich hier auch auf die Kierkegaard-Interpretation anwende, vgl. exemplarisch O. Schwemmer, Faktum. Schwemmer kritisiert, daß Kants transzendentalphilosophische Moraltheorie durchgängig von Denkfiguren aus der theoretischen Philosophie, insbesondere durch die Kausalitätskategorie, bestimmt ist und sich damit den Blick für die Handlungswirklichkeit und die ihr eigene Geschichte verstellt. „Weil sich das theoretische Interesse auf die Normierung unseres Handelns - wie in der Logik: unseres Redens - konzentriert hat, sah man keinen Grund, sich von den allgemein üblichen und verständlichen Handlungsbeschrei-

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gezielte Frage nach dem Handlungsbegriff als ein Versuch gelten, die Erörterung der Kierkegaardschen Ethik als eine eigenständige Frage der praktischen Philosophie durchzuführen. Dies bedeutet dann aber auch, daß „die Realität des Erscheinens von Handlungen, also die Phänomenalität von Handlungen als verstehensvermittelter und verstehbarer Leistungen" 17 ernst zu nehmen ist. Die Frage ist, ob es ein solches Ernstnehmen des Handlungsphänomens bei Kierkegaard gibt, oder ob Hiigli mit seiner Darstellung Recht hat. b) Handeln und Selbstverhältnis: Helmut Fahrenbach Fahrenbachs Studie zur „Bestimmung des Ethischen und der Ethik im Zusammenhang der Existenzdialektik" Kierkegaards 18 erörtert die von uns bisher aufgeworfenen Fragen differenzierter als Hügli. Auch Fahrenbach fragt nicht nach dem Handeln in einem allgemeinen Sinne, sondern nach der Bedeutung des Ethischen bei Kierkegaard. Er will das Ethische bei Kierkegaard nicht nur als Durchgangsstadium, sondern in seiner für das gesamte Existenzverständnis fundamentalen Bedeutung interpretieren (58f.). Fahrenbach sieht Kierkegaard darin von Kant und vom Idealismus unterschieden, daß er im Existenzbegriff „gerade die ,Äußerlichkeit', den Realitätscharakter menschlichen Daseins" (7) akzentuiert. Ohne daß der Begriff „Handeln" in seiner Interpretation dominant wäre, sieht er doch das Ethische in einer bestimmten Handlungsform begründet, nämlich in dem vollzugsstheoretischen Selbstbegriff, wie er in der Krankheit zum Tode expliziert wird: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst

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bungen mit ihren selbstverständlich gewordenen Unterscheidungen zu distanzieren und eine eigene Bemühung um die .Zerlegung' der komplexen Alltagsbeschreibungen in erst zu sichtende Elementarbeschreibungen anzustrengen" (ebd. 184). In ähnlicher Weise möchte ich behaupten, daß auch die Kierkegaard-Interpretation zuweilen von theoretischen Schemata bestimmt ist, die den Blick auf das Handlungsverständnis Kierkegaards erschweren. Zur Bedeutung der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie für das Verständnis des Handlungsbegriffes vgl. auch R. Bubner, aaO., bes. Abschnitt IV. Zur Interpretation der Ethik Kierkegaards in den Spuren der Moralphilosophie Kants vgl. die Darstellungen von F. Hauschildt, Ethik; A. Hannay, Kierkegaard (Kap. VI.).; G. Marino, Reason; J. Elrod, Christendom·, R. Green, Debt. D. Böhler, aaO. 57. H. Fahrenbach, Ethik; die Seitenangaben im folgenden Abschnitt beziehen sich auf diesen Text.

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verhält, oder ist das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält" (KT, 8, bei Fahrenbach 10). Das Selbst als Verhältnis muß nach Fahrenbach als je konkretes „reflektiertes Sich-verhalten" und damit als ein „Szc/i-beziehen-auf" etwas Bestimmtes (13) verstanden werden. Dieses reale Sich-verhalten ist durch die Spannung von Idealität und Realität bestimmt, deren Synthesis als Geist, und d.h. nach Fahrenbach als „Selbstbewußtsein" (25) vollzogen wird. Selbstbewußtsein wiederum ist „Sichselbst-in-Existenz-verstehen" (49) und damit unmittelbar auf „das handelnde Selbstverhalten" (50) bezogen. Mit der Interpretation des Selbstbegriffs als realem Vollzug setzt Fahrenbach Kierkegaard ausdrücklich vom Erbe Kants ab: Die „ethische Idealität", d.h. die „mit der Existenz als solcher gesetzten Aufgabe der Synthesis des Allgemeinen und Besonderen" (175), erscheine nicht mehr wie bei Kant als abstrakter Gegensatz von Idealität und Realität, vielmehr wird dieser Gegensatz zu einer „Differenz von Momenten im Zusammenhang existierenden Selbstseins bzw. Geistseins" (174). Anders als Hiigli ordnet Fahrenbach die Kierkegaardsche Ethik nicht einem Kantischen Dualismus, sondern dem idealistischen Geistbegriff zu. Fahrenbach rekonstruiert damit einen hermeneutischen Handlungsbegriff, in dem jedes Handeln als reflexives Sich-Verhalten sichtbar wird und so auf ein bestimmtes Selbstverständnis verweist. In der hermeneutischen Funktion des Aufzeigens von „Möglichkeiten des Selbstverständnisses" (59) liege die Bedeutung des Ethischen, mit dem Kierkegaard gegen die Hegeische Einheitsphilosphie auf einer Existenzbestimmung als „Gegensatz-verhältnis" (57) pocht. Die Welthaftigkeit und Leiblichkeit des Handelns ist auf diese Weise offenbar nicht aus der Begriffsbestimmung des Ethischen herausgefallen, sondern scheint ein integrales Bestandteil zu sein. Besonders die hermeneutische Kategorie des Verstehens scheint die konkrete Realität des Handelnden einzubeziehen und damit zugleich die „handlungsorientierte" Intention von Kierkegaards Freiheitsbegriff 19 aufnehmen zu können. Aber bedeutet das auch, daß die konkrete Existenzbestimmung der Grund der Handlung ist? Bedeutet es, daß damit eine leibliche Bedingtheit oder Form von Freiheit gedacht werden kann? „Ethische Selbstwahl vollzieht sich im Weltbezug - wenn auch nicht aus ihm, sondern aus der personalen Mitte des Selbstseins" (82, mit Be19

H. Deuser, Kierkegaard, 139; vgl. ebd. 136, Anm. 36: Fahrenbachs Interpretation entspreche „Kierkegaards existenz-dialektischem Interesse an .Realisation'." Zum Begriff der „Realisation" vgl. H. Fahrenbach, Korrektiv 218ff.

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zug auf E02). Ist dies so zu verstehen, daß leibliches, durch Geschichte, Triebhaftigkeit und Affektivität in die Welt kommunikativ verstricktes Handeln auf einen Akt freier, weltloser Spontanität zurückzuführen ist? Anders gefragt: Kommt hier nicht der Gegensatz von Innen und Außen doch wieder herein, diesmal als die Unterscheidung eines basalen, hermeneutisch gedachten „Sich-verhalten" von einem nachgeordneten „Handeln" in die Welt hinein? Wie aber ist das Verhältnis dieser beiden Formen zu denken? Als kausales Verhältnis von Ursache und Wirkung? Oder als logisches Verhältnis?20 Kierkegaards hermeneutisches Sich-verhalten soll ja einerseits nicht transzendental verstanden werden (32, Anm.l, vgl. 164f.), andererseits aber interpretiert Fahrenbach diese Grundstruktur als Selbstbewußtsein (s.o.). Ist in solch einer Bewußtseinstheorie Handeln noch ein integraler Bestandteil oder lediglich ein Appendix? Können Bewußtsein und Handeln noch auf einer Ebene verstanden werden? Daß dies nicht so ist, wird deutlich an Fahrenbachs Interpretation der Kierkegaardschen Ethik als einer „genetischen" Theorie des „Selbstbewußtwerdens des Selbst in seiner endlich-unendlichen Existenzsituation" (164/165), in Analogie zu Fichtes Theorie der Genesis des Endlichkeitsbewußtseins. Das Prinzip dieser Genesis ist dann nämlich 20

Vgl. H. Fahrenbach, Sich-Verhalten. In diesem späteren Aufsatz thematisiert Fahrenbach explizit die Handlungstheorie und ihre Bedeutung für die Gesellschaftstheorie. Die entscheidenden Elemente seiner Kierkegaard-Interpretation tauchen hier wieder auf. Interessant für uns ist, wie das Verhältnis von Sich-Verhalten und Handeln bestimmt wird: Die „Bestimmung verstehenden Sich-Verhaltens als Grundstruktur menschlicher Lebenstätigkeit" wird mit Verweis auf Kierkegaard vorgenommen (ebd. 188); am Sich-Verhalten setzt die „entscheidende Grundmöglichkeit und Aufgabe menschlichen Daseins" an (ebd. 192). Diese Grundstruktur will Fahrenbach aber vom praktischen Handeln prinzipiell unterscheiden, und zwar offenbar i.S. einer Unterscheidung von Einheitspunkt und welthafter Differenzstruktur. Er beklagt eine verbreitete „Dominanz bzw. Fundamentalisierung der produktiv-praktischen Verhaltensart bzw. des Handelns als sozial-anthropologischer Basisbestimmung" (ebd. 196) und fährt fort: „die eminente sozial-anthropologische Bedeutung des Handelns berechtigt nicht dazu, das Handeln oder auch die umfassendere produktiv-praktische Verhaltensart als schlechthin fundamental zu setzen, d.h. selbst als grundlegend-umfassende Basisstruktur anzunehmen, die in der Lage wäre, den anthropologischen Bezugsrahmen zu fundieren. Diese Funktion kann m.E. nur die Basisbestimmung des Sich-Verhaltens in ihrer strukturellen Differenzierung erfüllen, und diese schließt die Weisen des Handelns ein, aber fällt nicht damit zusammen" (ebd. 197). Handeln ist hier eine spezifische Tätigkeitsform, die durch das Sich-Verhalten überhaupt erst ihre „Konstitution" bzw. die „Bedingung der Möglichkeit praktischen Verhaltens" (ebd. 198) erhält. In ähnlicher Weise erscheint im Kierkegaardbuch das Sich-Verhalten als transzendentaler Grund des Handelns im Rahmen einer idealistischen Selbstbewußtseinstheorie.

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ebenso wie bei Kant und Fichte das Bewußtsein der Freiheit (als Sollen, Aufgabe oder „Frei-sein-können", 173)21. Dann scheint sich aber auch Kants „Kausalität durch Freiheit"22 als Prinzip der genetischen Handlungserklärung bei Kierkegaard nahezulegen: das Freiheitsbewußtsein bewirkt - kausal - die konkrete Handlung. Dies würde aber letztlich wieder eine Bestimmung der Handlung von außerhalb der Handlung bedeuten 23 . Es ist wichtig, auf die Differenz zu achten: Das Problem liegt nicht in der Unterscheidung von hermeneutischem Selbstverhältnis und Handeln, sondern in ihrem Verhältnis zueinander. In welchem Sinne ist das Selbstverhältnis konstitutiv für „äußeres" Handeln? Und wenn das basale Sich-Verhalten als der Vollzug von Subjektivität zu verstehen ist - ist damit dieser Vollzug auch schon als eine Handlung 21

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Vgl. H. Fahrenbach, Korrektiv, 219: Kierkegaards Problemstellung betrifft „primär die Konstitution des moralischen Bewußtseins selbst, dessen rationale Auslegung die Kantische Moralphilosphie darstellt. Das heißt: Kierkegaards Fragestellung zielt auf die Voraussetzung der Kantischen Moralphilosophie, das Pflichtbewußtsein, dessen Faktizität und Präsenz im sittlichen Bewußtsein der moralphilosophischen Auslegung vorausliegt und doch als solche konkret unaufgeklärt bleibt." Mit Bezug auf die Ontologie hat dagegen K. Schäfer auf die Kant-Kritik der ClimacusSchriften aufmerksam gemacht: Climacus zufolge „muß Kant das Sein (genauer gesagt das Wirklichsein) eines Sachverhalts als ein ,Accessorium' zum begriffenen Möglichsein verstehen" (aaO. 123). In analoger Weise ist eine reflexionstheoretische Kierkegaard-Deutung in der Gefahr, die Handlung zum bloßen „Accessorium" gegenüber dem begrifflichen Denken (nämlich der Synthese von Allgemeinem und Besonderem im Selbstbewußtsein) zu machen. I. Kant, Werke IV, 428, 492ff. Dieser Begriff ist bei Kierkegaard in den Philosophischen Brocken aufgenommen (s. PB, 71); dazu H. Fahrenbach 43f. Kants quasi-kausales Modell der Handlungserklärung ist nach R. Bubner, aaO. 145 „erkauft durch die Kluft zwischen phänomenaler und noumenaler Wirklichkeit. Die Praxis, die eine systematische Brücke zwischen beiden Sphären schlägt, leidet in ihrer Begriffsbestimmung fortgesetzt an jener konstitutiven Unvermitteltheit [...] Das Kausalmodell vernachlässigt die genuine Handlungsstruktur, weil es dazu dient, Handlung als Teil der Naturabläufe einzustufen und damit einer umfassenderen Erklärungsform unterzuordnen. Praxis ist gar nicht das Thema, sondern der auch aufs Praktische ausgedehnte Nachweis durchgängiger Geltung einer Verstandeskategorie." In ähnlicher Weise macht O. Schwemmer auf die externe Normativität aufmerksam, in der bei Kant die empirische Handlungswirklichkeit durch das „Faktum der Vernunft" überformt wird: „Mit diesem Festhalten an der Rede von einem Faktum (oder auch einer Realität usw.) verfällt man aber dem ,idealistischen Fehlschluß', der uns die kontingente Komplexität des Faktischen [...] als (zumindest letztlich) notwendiges Ergebnis der Verwirklichung des Vernünftigen sehen lassen möchte, uns tatsächlich dadurch aber den Blick für das Faktische nimmt" (aaO. 189). Eine Verteidigung der Handlungstheorie Kants gegen diese Kritik unternimmt F. Kaulbach, aaO. 661ff.; vgl. auch die positive Aufnahme Kants im Sinne einer kausalen Freiheits- und Handlungstheorie bei W. Vossenkuhl, Freiheit, 119ff.

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gedacht? Dies scheint mir bei Fahrenbach nicht geklärt zu sein. Man könnte einwenden, daß Fahrenbach bei Kierkegaard ja gerade nicht nach dem Grund von Handlungen, sondern nach der Genese des ethischen Selbstbewußtseins sucht. Doch auch diese Genese müßte mit dem konkreten einzelnen Handlungsphänomenen begrifflich vermittelbar sein; zu beantworten wäre dann - in umgekehrter Perspektive - die Frage, welche Bedeutung die Handlungen für die Konstitution des Selbst-Verstehens und seine kategorialen Formen haben 24 . Die Orientierung am „ethischen Selbstbewußtsein" bringt Kierkegaards Ethik jedenfalls erneut, ähnlich wie bei Hügli, unter die Perspektive einer fundamentalen epistemischen Subjektivität, für die der begründungstheoretische Status eines letzten, uneinholbaren Grundes beansprucht wird25. Die prinzipiell sekundäre Bedeutung des Handelns kommt in Fahrenbachs hermeneutischem Verständnis des Sich-Verhaltens gut zum Ausdruck. Nach Fahrenbach besteht Sich-Verhalten als der Grund von Handeln bei Kierkegaard wesentlich in einem Sich-selbst-Verstehen in Bezug auf die eigene Existenzaufgabe in einer gegebenen Situation. Aber reicht dies für die Erklärung von Handlungen in ihrer existenziellen Situation schon aus? Wird hier nicht das monologische Selbstverstehen des Akteurs in einer Weise fundamentalisiert, die das Verstehen der Handlungssituation oder des Handlungspartners zu einem bloßen Moment im Selbstverhältnis des Handelnden macht? In einem Handeln, das quasi-kausal in einem basalen Sich-verhalten-zu gründet, können Situation und Kommunikationspartner lediglich als verstehend anzueignende Objekte, als „das zu Bestimmendende" 26 eine Rolle spielen, nicht aber als Ko-Subjekte, die ebenfalls bestimmende und konstitutive Funktion für das Handeln haben 27 . Auch die 24

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Dies könnte bedeuten, daß man das existenzielle Selbstverstehen als Interpretationen von (eigenen) Handlungen auslegt. In diesem Sinne versucht G. Schönrich, Kategorien von der Kategorienlehre Kants aus, eine semiotische Handlungstheorie zu entwickeln. Dabei formt er den kantischen Gegensatz von empirischen und nichtempirischen Anteilen des Handelns in das bedeutungstheoretische Verhältnis von Regel und Zeichen um. In diesem Sinne handelt es sich bei Handlungen um Interpretationen, die „Ereignisse als Zeichen für eine Regel verstehbar machen" (260). Zu der Problematik einer begründungstheoretischen Fundamentalisierung der epistemischen Subjektivitätskategorie gegenüber der durch den Gebrauch von Zeichen bestimmten Praxis vgl. I. Dalferth, Subjektivität; E. Tugendhat, Selbstbewußtsein, 27ff. H. Fahrenbach, Korrektiv, 231. Entsprechend wird der Begriff der „inneren Geschichte" aus Entweder-Oder (s. E02, 186f.) interpretiert: „Nur in der ständig anzueignenden Wahl dieser äußeren

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fundamentale Bedeutung der Handlungspartner als affektive Gegenstände des Handelns (etwa in Liebe oder Haß, aber auch im Glauben!) kann nicht berücksichtigt werden, d.h. auch Liebe muß als Selbstverhältnis verstanden werden. Wenn Handeln in der Hermeneutik des Subjekts gründet, dann kann die Hermeneutik des Anderen kein gleichrangiger Ermöglichungsgrund für die Handlung sein. Sich-verhalten-zu kann in diesem Sinn niemals wesentlich Reaktion sein, sondern ist immer Aktion, Spontanität in eigener Kausalität. Damit ist auch schon ein weiteres Problem benannt: der Formalismus der Kierkegaardschen Ethik in Fahrenbachs Rekonstruktion. Die ethische Idealität, die ein ethisches Selbstverstehen ermöglicht, ist ein formales Kriterium, das auf der Abstraktion von den bestimmten Intentionen und Weltbezügen bei der Syntheseleistung zielt: die „Synthesis des Allgemeinen und Besonderen" (103). Das bedeutet aber, daß das Bewußtsein sich die konkrete Richtung, Hinsicht oder Ausrichtung, in der es sich selbst in der Situation versteht, von einem Außen geben lassen muß, das es selbst nicht erfassen kann (vgl. 108ff.). Was das verzweifelte oder liebende Selbst will und anstrebt kann demnach nicht mehr im Bereich des existenziell Ethischen erhoben werden. Es ist also konsequent, wenn Fahrenbach behauptet, daß Kierkegaard das Wissen um das Gute beim Einzelnen voraussetzt und daher auch gar nicht an diesem Wissen als solchem interessiert ist (186). Diese Behauptung läßt jedoch mindestens jenen beträchtlichen Teil des schriftstellerischen Werkes Kierkegaards aus, in dem gerade der (politische) Streit um das materiale Verständnis des

(pragmatischen) Geschichte des individuellen Daseins vollzieht sich die eigentliche Geschichte des Selbstwerdens als eine unendliche, aber in sich einige Bewegung" (86). Zwar erreicht Fahrenbach durch diesen hermeneutischen Ansatz das Niveau eines Begriffes von praktischer Intersubjektivität, der bei Hügli verfehlt wurde. Doch ist auch dieser Praxisbegriff als ein einseitiges Subjekt-Objekt-Verhältnis gedacht. Das handlungstheoretische Problem für die Kierkegaard-Interpretation an dieser Stelle ist die Frage nach dem Verhältnis von Handlung und Anlaß; vgl. D. Gonzales, „Act"; L. Inglis, aaO. 61ff. Für die handlungstheoretische Diskussion vgl. D. Böhler, der die Ursächlichkeit der Situation nicht kausal, sondern im Rahmen eines quasi-dialogischen Modells von Frage und Antwort expliziert (aaO. 292ff.). Ähnlich O. Schwemmer, Handlungsrationalität, 120: „Wir sind nicht die ausschließlichen Urheber unserer Handlungen, sondern wir sind - entscheidend durch unsere Stellungnahmen - an unserem Handeln, seiner Geschichte, beteiligt. Unser Anteil an unseren eigenen Handlungen besteht in unseren Antworten oder in unseren Herausforderungen und Fragen an andere, die in den Zusammenhang unseres Handelns einbegriffen sind."

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Guten geführt wird, z.B. Die Taten der Liebe und die Schriften des Kirchenangriffs. Fahrenbach gelingt es zwar, die Bedeutung der konkreten Realität für das Ethische darzulegen. Doch umgekehrt scheint das Ethische keine Bedeutung für das Konkrete zu haben. In dieser Interpretation kommt das Leiblich-Reale ausschließlich hinsichtlich der Genese des ethischen Selbstbewußtseins in den Blick; ausgespart bleibt die Frage, inwiefern das Selbstbewußtsein sich im Medium des Handelns bewegt, also die Frage nach dem, was man die HandlungsgescWc/iie dieses Bewußtseins nennen könnte. Mit diesem Begriff ziele ich auf den Umstand, daß Handeln immer schon im Zusammenhang mit anderen Handlungen und d.h. in einem geschichtlichen Zusammenhang steht; als Handelnder ist das Subjekt immer schon außerhalb seiner selbst bei anderen 28 . Bei Kierkegaard kommt dies etwa im Begriff der „Kontinuität" zum Ausdruck29; aber auch der Begriff des „Wagnisses [at vove]" deutet diese kommunikative Bewegung an, die das Subjekt über sich selbst hinausführt (vgl. etwa ERG, 90ff.). Erst in diesem kommunikativen Zwischenraum kann von praktischer Vernunft die Rede sein. O. Schwemmer versucht, diese im Handeln selbst erst sich entwickelnde Rationalität des Handelns als eine Folge von Fragen und Antworten zu interpretieren; dies führt dazu, „daß man eine solche Entwicklung unseres Tuns als eine - in den Termini von Fragen und Antworten bzw. von zur Stellungnahme auffordernden Situationen und Stellungnahmen rekonstruierbare, als eine dialogisch rekonstruierbare - Geschichte verstehen kann" 30 . Für Fahrenbach ist zwar der „existierende Denker" in seiner ganzen Konkretion die Grund-

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Zum Begriff der Handlungsgeschichte vgl. etwa F. Kaulbach, Handlung, 84ff.: eine Handlung ist „nicht als Aufeinanderfolge isolierter einzelner Zeitpunkte zu begreifen, sondern als ein sich von einem Anfang bis zu einem Ende erstreckender Vollzug, als Bewegung im Sinne des Aristoteles" (ebd. 84). Dies hat zur Folge, daß neben dem planenden Entwerfen der Handlung auch das Ausführen, in dem sich das Ich in die wirkliche und immer schon normativ geprägte Handlungswelt hinein .entäußert', zur Bewegung dazugehört: „Ich nehme Stand auf dem Boden der Handlungswelt, in welcher die mit mir und auch gegen mich Handelnden als Teilnehmer einer mit mir gemeinsamen Vernunft verstanden werden" (ebd. 105). Kaulbach argumentiert hier im übrigen in transzendentalphilosophischer Perspektive. Davon unterscheidet sich die sprachanalytische Aufnahme des Geschichtsbegriffs in der narrativen Handlungstheorie von A. Maclntyre, vgl. Verlust, 275ff.; ferner C. Taylor, Sources, 47ff. Vgl. E02, 208ff., 244ff., 258t (Hirsch übersetzt hier mit „Zusammenhang" bzw. das „Fortdauernde"); vgl. P. S0ltoft, Love and Continuity. Handlungsrationalität, 108.

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formel des Ethischen; aber durch die Interpretation im Rahmen einer Theorie des Selbstbewußtseins postuliert er doch einen archimedischen Standpunkt außerhalb des konkreten existenziellen Handlungszusammenhang, einen unbewegten Beweger außerhalb des Mediums der Bewegung. Auch bei Kierkegaard hätte das Ethische eigentlich nur für das dem Handeln selbst vorgelagerte Pflichtbewußtsein Bedeutung 31 , nicht aber für die leibhafte Geschichte von Agieren und Reagieren in Auseinandersetzung mit Situationen und Kommunikationspartnern. Das Leibliche hat dann eine wichtige Bedeutung als das anzueignende und geforderte Konkrete. Aber weiter kommt es nicht, d.h. es bleibt immer Objekt. Anders gesagt: Als Konstitutionsmoment des Selbstverständnisses hätte das Leib-Seelische wesentliche Funktion, nicht aber als Bestimmung oder Form der offenen Wirklichkeit dieses Selbstbewußtseins im Medium intersubjektiven Handelns. In diesem Sinne wäre Kierkegaard tatsächlich lediglich ein „Korrektiv" zu Kant und Fichte (189) und verbliebe grundsätzlich im Rahmen der Subjektivitätsphilosophie, in der Handlung primär als transzendentale Tathandlung des Selbstbewußtseins gesehen wird32. Intersubjektivität, Praxis, Handeln im leiblichen Zusammenhang mit

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H. Fahrenbach, Korrektiv, 225: „der grundlegende Sinn des Ethischen als einer Existenzbestimmung ist es, die Wahl- und Entscheidungssituation des Existierens verbindlich zu machen." Man könnte fragen, ob nicht dieses der Handlung vorgelagerte Bewußtsein durch den Begriff der personalen Identität in die empirische Handlungsgeschichte eingebunden werden kann; ein solcher Begriff der „Geschichtlichkeit" des Handelnden als der Vermittlung von Pflichtbewußtsein und .substanziell-sittlicher Handlungswirklichkeit' wird ja etwa in Entweder/Oder auch tatsächlich versucht (vgl. E02, 186f., 229L). Doch geht Fahrenbach darauf nur im Vorübergehen ein (vgl. 102). Zur handlungstheoretischen Relevanz des Identitätsbegriffs vgl. A. Maclntyre, aaO. 289ff.; O. Schwemmer, aaO. 117ff.; C. Taylor, Menschliches Handeln, 36ff.; J. Fischer, Handeln, 30ff. Fichtes Philosophie ist zwar gerade darauf gerichtet, den angesprochenen Dualismus von Subjekt und Objekt zu überwinden. Doch gelingt ihm dies - in handlungstheoretischer Hinsicht - nur, indem er das Verhältnis von Sein und Denken selbst als (transzendentales) Handeln behauptet, damit aber den Handlungsbegriff gerade verfehlt, vgl. E. Tugendhat, aaO. 154f.: „Weil nun Fichte die Strukturen des ,Ich = Ich' selbst als die ursprünglichste Handlung aufgefaßt hat (als Handlung des Sichsetzens), ist im deutschen Idealismus der Handlungsbegriff, der zu Recht ins Zentrum rückte, zu Unrecht ausschließlich mit den ontologischen Begriffen des Seins, der Identität und des Unterschieds zu Pseudobegriffen verbunden worden, und dadurch wurde es möglich, die Handlungen in das so dynamisierte Substanzmodell zurückzuholen und den tatsächlichen Handlungsbegriff unaufgeklärt zu lassen." Kierkegaard stellt die Frage nach dem Handlungsbegriff grundsätzlich anders als Fichte, nämlich nicht mehr im Rahmen einer transzendentalen Konstitutionstheorie.

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anderen Subjekten dagegen kann hier immer nur akzidentell, nicht aber als methodischer Ansatzpunkt ins Spiel kommen. Es zeichnet sich also ein ähnliches Ergebnis ab wie bei der Diskussion mit Hiigli: Im Rahmen einer Rekonstruktion der Ethiktheorie Kierkegaards wird das Phänomen des Handelns aus den konstitutiven Begründungen herausgesetzt. Die Konsequenz daraus ist ein reduktionistisches Handlungsverständnis, in dem Handeln (praxis) stets auf ein basales Selbstverstehen des Akteurs zurückgeführt wird, das in seiner transzendentalen Formalität dem Handlungszusammenhang selbst nicht angehört. Andererseits aber ist festzuhalten, daß Fahrenbach die fundamentale Bedeutung der hermeneutischen Fragestellung für die Kierkegaard-Interpretation überzeugend aufgewiesen hat. Deshalb möchte ich die mit Fahrenbachs Rekonstruktion gestellte Frage für eine handlungstheoretische Interpretation folgendermaßen zusammenfassen: Handelt es sich bei Kierkegaards Grundbegriff des existenziellen Selbstverstehens um eine idealistische Theorie des Verstehens als Handlung (im Gefolge von Fichtes „Tathandlung") oder um eine hermeneutische Theorie der Handlung als Verstehen? c) Handeln als basaler Willensakt: C. Stephen Evans Die beiden bisher diskutierten Entwürfe hatten nicht den Handlungsbegriff selbst zum Gegenstand ihrer Untersuchungen. Entsprechend mußte unsere Diskussion eher nach den verborgenen handlungstheoretischen Implikationen suchen. Nun aber soll eine ausdrücklich der Handlungstheorie Kierkegaards gewidmete Darstellung zu Wort kommen. C.S. Evans' Aufsatz33 verortet die Handlungsthematik im Rationalitätsproblem: Er will zeigen, daß das Verhältnis von Vernunft und Freiheit im Handeln bei Kierkegaard keineswegs im Sinne einer scheinbar kriterienlosen und damit willkürlichen „radical choice" (73) zu verstehen sei. Vielmehr ließe sich Kierkegaards Theorie der Entscheidung sehr wohl mit den Forderungen diskursiver Vernunft vereinbaren. Evans sieht Kierkegaard in der Aristotelischen Tradition der praktischen Vernunft, derzufolge „human action begins when a person has a wish, an intellectual appetitive attitude toward some possible state of affairs. This leads to deliberation about how to bring about that possible end, a process that culminates in a choice, which directly explains the action" (76). Vor diesem Hintergrund müsse nun 33

C.S. Evans, Will. Die Seitenangaben im folgenden Abschnitt beziehen sich auf diesen Text.

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Kierkegaards Hegelpolemik als eine Auseinandersetzung mit „intellectualistic theories of action" (75) verstanden werden. Das Problem dieser intellektualistischen Ansätze liege darin, daß sie „simply eliminate the will altogether, and explain human actions as the product of appetitive attitudes and thought. Deliberation leads directly to action" (77). Entsprechend läuft Evans Darstellung darauf hinaus, Climacus' Unterscheidung von Denken und Handeln (s. AUN2, 42) stark zu machen und damit zu zeigen, daß Kierkegaards Handlungstheorie die zentrale Bedeutung des Willens für das Handeln herausstreicht, um so die intellektualistische Einseitigkeit zu überwinden, ohne die Elemente „passion" und „deliberation" zu verlieren. Die zentralen Kierkegaardschen Begriffe, die Evans hierfür heranzieht, sind die Begriffe „Sprung" und „innere Handlung". Hierfür beruft er sich v.a. auf eine Passage aus der Nachschrift: „Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern ein Inneres, in welchem das Individuum die Möglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten identifiziert, um darin zu existieren" (AUN2, 42, bei Evans 79). Der Sprung, d.h. der Wille als selbständiges Handlungselement ist nach Evans nötig, um den vom Denken selbst nicht zu leistenden Übergang vom Denken zum tatsächlichen Handeln vollziehen zu können (77f.). Mit dem Begriff der inneren Handlung hingegen ziele Kierkegaard auf die moralische Zurechenbarkeit von Handlungen (81). Auch dies sei ein Beweis für die zentrale Bedeutung des Willens, da allein die Annahme der prinzipiellen Zurechenbarkeit dem Phänomen der „weakness of will" (82ff.) gerecht wird34. Evans Darstellung läuft damit auf eine Freiheitstheorie hinaus, in welcher das Handlungselement des Willens Rationalität ein- und Determinismus ausschließt (84) und zugleich den geschichtlichen Freiheitsbegriff aus den Philosophischen Brocken begründet: „Nothing in the past guarantees a free action; it is in no way a necessary unfolding of processes already in motion. Such an action really does bring some-

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Mit diesem Akzent richtet sich Evans kritisch gegen D. Davidson, Weakness. Allerdings verfehlt er Davidsons Argumentation: Davidson zeigt, daß auch die Annahme eines Willens als einer unabhängigen, vorsprachlichen Wirklichkeit das Problem, nämlich den Widerspruch zweier unterschiedlicher Intentionen, nicht löst, sondern bloß aufschiebt: „For how can the Will judge one course of action better and yet choose the other?" (ebd. 36). Die Streitfrage ist also eigentlich, ob es möglich ist, den Willen losgelöst von intentionalen Gehalten zu verstehen; das Problem der Zurechenbarkeit ist hierdurch gar nicht berührt. Demgegenüber ist Evans' Insistieren auf Verantwortlichkeit kein Argument, sondern das Formulieren eines Axioms.

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thing new into the world, and it seems appropriate to indicate this by designating the process by which the action comes into being as a leap" (85). Diese Form von Handlungsfreiheit wird als unauflösliches „mystery" bezeichnet (85). Im Verhältnis zu den anderen beiden Handlungselementen schließt Evans den Willen erheblich enger an das „emotional life" an (86), wohingegen er die Bedeutung des „reason" für das Handeln deutlich herabsetzt und sich gegen die „foundationalist" Zumutung wehrt, daß Handlungsgründe prinzipiell objektiv einsehbar und von subjektiven Interessen gereinigt sein müßten (87). Der Sprung „can indeed be informed by reasons, but must in the end be created by passionate willing" (88). Im Unterschied zu Hügli und Fahrenbach scheint Evans das „äußere" Handlungsphänomen zunächst nicht als sekundär von einem anderen Prinzip abzuheben. Emotionale Aspekte („passions") erhalten einen gleichberechtigten Platz als wesentliche Bestimmungen des konkreten Handelns. Allerdings macht auch Evans eine fundamentale Unterscheidung: „we must, I think, distinguish acts of will from full-blooded actions, in the normal sense of the word action. An act of will is an actualization of a human capacity and in that sense is an act, but one can quite consistently hold that there are acts in that sense that are the causes of human actions in the full sense" (312, Anm. 15). Evans faßt diesen Unterschied noch genauer als den zwischen einer „,ordinary language' sense of action, where actions frequently involve bodily movements", und „those basic acts, that are acts in a stricter philosophical sense" (ebd.). Diese beiden Grundformen stehen in einem einseitigen Konstitutionsverhältnis zueinander: „The former are caused by acts of will. The latter are originative in character and, in Kierkegaard's view, are in a sense the ,true' actions" (ebd.). Diese Behauptung ist nun freilich eine entscheidende Voraussetzung und zugleich der Kern der handlungstheoretischen Interpretation im engeren Sinne, von Evans in einer Anmerkung versteckt! Als Voraussetzung des Interpreten gibt sie sich auch dadurch zu erkennen, daß sie nicht an einem Kierkegaardtext selbst erhoben wird. Ist diese Unterscheidung angemessen? Zunächst kann man feststellen, daß durch diese Interpretation Kierekgaards Begriff der inneren Handlung zu einem theoretischen Postulat wird. Denn Evans führt die Unterscheidung mit der Absicht ein, einen „vicious regress" in der Theorie zu verhindern (312, Anm.); d.h. aber, daß er hier einer Notwendigkeit seines eigenen Theorieansatzes folgt. Ein solches begriffliches Konstrukt ist aber nicht mehr ein Gegenstand der Erfahrung, und so können zumindest diesem „basic act" dann auch nicht

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mehr die affektiven Aspekte („passions") zugeschrieben werden, die Evans für den Kierkegaardschen Handlungsbegriff stark machen will. Wenn Evans mit dem Postulat eines von „full-blooded actions" unterschiedenen Willensaktes den Hinweis auf die unverzichtbar affektive Komponente des Handelns stärken will, so macht er sich hier offensichtlich einer Äquivokation des Willensbegriffes schuldig: Der reine Willensa&i kann nicht dasselbe sein wie die bestimmten Willensformen, nämlich „those long-term caring involvements Kierkegaard termed passions" (86). Diese Äquivokation hat Konsequenzen für den Freiheitsbegriff. Die „basic acts of will" können nicht mehr als je konkreter Wille in Hinblick auf ein konkretes Handeln verstanden werden, sondern sind zur Instanz der bloßen Ausführung eines von dieser Instanz selbst zu unterscheidenen Vermögens reduziert („an actualization of a human capacity"). Das Problem des Formalismus, das wir bei Fahrenbach konstatiert hatten, taucht auch hier auf. Evans betont zwar die affektive Einbindung des Handlungsbegriffes, aber zumindest der basale Willensakt ist doch wohl als ein rein formaler Freiheitsbegriff zu verstehen, der an sich selbst keine konkrete inhaltliche Füllung oder intentionale Ausrichtung aufweisen kann 35 . Evans verortet Kierkegaard im metaphysischen Streit zwischen „determinism" und „libertarianism" (81), aber damit schiebt er Kierkegaard auch den Freiheitsbegriff des „libertarianism" zu! Evans' Ziel dabei ist es, mit Kierkegaard (gegen Hegel) die subjektive Verantwortlichkeit des Handelnden zu verteidigen. Allerdings scheint mir dieses Motiv bei aller Berechtigung eine Reduktion dessen zu sein, was der Handlungsbegriff leisten könnte. Was verfehlt wird, ist ein Begriff von praktischer, leiblich-intersubjektiver Freiheit, d.h. ein Verständnis davon, in welcher Weise freies Handeln unablösbar in kommunikativen Kontexten verwoben ist. Kierkegaards Freiheitsbegriff wird faktisch auf das liberal-formale

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Ein formaler Freiheitsbegriff im Sinne eines liberum arbitrium wird in den Texten Kierkegaards durchweg abgelehnt, vgl. BA, 114f. (Anm.): „Das Gute ist die Freiheit. Erst für die Freiheit oder in der Freiheit ist der Unterschied zwischen Gut und Böse und dieser Unterschied ist nie im Abstrakten sondern nur im Konkreten [...] die Freiheit ist nie im Abstrakten." Vgl. Pap. X 2 A 428IT4, 101-103; zu dieser Kritik Kierkegaards an der abstrakt-formalen Wahlfreiheit vgl. W. Dietz, Freiheit, 256 (Anm. 10); A. Gr0n, Angst, 76ff. Auch Evans weist einen solchen Freiheitsbegriff ausdrücklich zurück (79), nimmt ihn aber zugleich für den Basisakt in Anspruch; dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, daß er Kierkegaard dem Lager des „libertarianism" zuschlägt (85).

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Verständnis von „negativer Freiheit" reduziert 36 . Dies zeigt sich, wenn man Evans' These des Basisaktes an seinem handlungstheoretischen Gewährsmann mißt, an Aristoteles. D i e Aristotelische Theorie der prohairesis läßt sich kaum als „basic act of will" verstehen, sondern ist als vernünftig-strebende Wahl im konkreten Rahmen der Polis immer schon normativ gefüllt 37 . Im übrigen fällt wieder auf, daß Kierkegaard in einen aristotelischen Kontext eingereiht wird, ohne daß die spezifische Form der praxis Erwähnung findet. In gewisser Weise wiederholt sich damit der abstrakte Formalismus, indem Aristoteles und Kierkegaard so dargestellt werden, als könne man ihre Handlungstheorie rein monologisch verstehen und vom Hintergrund einer konkreten gesellschaftlichen („politischen") Praxis ablösen. Evans will Kierkegaards Plädoyer für die Eigenständigkeit des Willens oder der „Innerlichkeit" gegenüber d e m Wissen verteidigen. D o c h er tut dies, indem er Kierkegaards ontologische Kategorie des „Sprunges" in den psychologischen Dualismus von Wille und Wissen und zugleich damit in die kategoriale Differenz zweier Handlungsbegriffe überführt. U n d an dieser Differenz müssen nun auch grundsätzliche handlungstheoretische B e d e n k e n ansetzen. Die „basic acts of will" sind ja „basic" nicht im analytisch-logischen Sinne, sondern sie werden als „originative", d.h. als real wirksam vorgestellt. Damit 36

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Zur Differenz von „negativer" und „positiver" Freiheitskonzeption vgl. C. Taylor, Irrtum·, W. Vossenkuhl, aaO. 97f.; in Kierkegaards Werk taucht der Begriff der positiven Freiheit in Abgrenzung vom liberum arbitrium als Äußerung des Gerichtsrates auf, s. E02, 184. Vgl. EN 1139,26ff. Das durch die Fundamentalisierung des (leeren) Willens provozierte Postulat der „basic acts" ist bei Aristoteles schon deshalb nicht möglich, weil er den Willen (prohairesis) streng mit der Vernunft zusammendenkt, ohne daß der Wille der Vernunftsäußerung als Ursache vorgeordnet wäre: „So ist denn die Willensentscheidung entweder strebende Vernunft [he oretikos nous] oder vernünftiges Streben [he orexis dianoetike]", vgl. dazu A. Kenny, Will, 15ff.; M. Riedel, Handlungstheorie, 153 (und Anm. 22) hebt die Logos-Struktur der Aristotelischen prohairesis hervor, wodurch ebenfalls ein distinkter, nicht-sprachlicher „reiner" Willensakt ausgeschlossen ist. Eine ausführliche und erhellende Interpretation der Kierkegaardschen Wahltheorie vom Aristotelischen prohairesis-Begriff aus gibt G. Stack (Ethics, Kap.3), auf den Evans sich auch beruft; allerdings verstrickt sich Stack in dieselben Probleme einer kausalistischen Willenstheorie wie Evans, vgl. ebd. 113ff. Anders als Evans' und Stacks Interpretationen, die einer philosophischen Psychologie folgen, versucht A. Pieper, Wahl, das Verhältnis von Ursprungsakt und Handlung in Kierkegaards Wahltheorie „im Sinne einer transzendentallogischen Konstruktion als Versuch einer .generativen Freiheitstheorie' zu begreifen" (ebd. 93), in der die reale wie die transzendentale Dimension einer ursprünglichen Wahl unterschieden und zugleich aufeinander bezogen werden können.

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stellt Evans Kierkegaard in die Tradition der kausalen Handlungserklärungen seit Hume 38 . Hierbei ist aber nicht nur die Fremdbestimmung der realen Handlung ein Problem (vgl.o. zu Fahrenbach); mehr noch ist der Handlungscharakter der „innerlichen" Basishandlung problematisch. Zwar will Evans die basic acts nicht als „fullblooded actions" verstehen, sondern als „acts in a stricter philosophical sense". Doch was soll das heißen? Inwiefern kann es einen „reinen Akt" ohne Merkmale äußerlicher Handlungen überhaupt geben? Impliziert nicht auch ein „reiner" Akt die Vorstellung von Zeit? Aber inwiefern ist er dann unterschieden von der „äußeren", d.h. raum-zeitlich strukturierten Handlung? Solange ein solcher basic act angenommen wird, und dies nicht im Sinne etwa einer artikulierbaren Intention39 (denn dies wäre für Evans natürlich ein Rückfall in den Intellektualismus), muß er tatsächlich als eine Form von Handlung vorgestellt werden, die der sichtbaren Handlung vorausgeht und diese verursacht. Damit aber folgte man der Vorstellung, die G. Ryle als den Mythos vom „Geist in der Maschine" ironisiert hat40. Und schließlich erklärt der Verweis auf Basisakte in 38

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Vgl. D. Hume, Treatise II, III, 1: Der Wille ist „the internal impression we feel and are conscious of when we knowingly give rise to any new motion of our body or new perception of our mind" (zitiert nach A. Kenny, aaO. 12). Humes Theorie kann als der Prototyp der Erklärung von „äußeren" Handlungen durch „innere" Ursachen in Analogie zur Naturkausalität gelten (s. R. Bubner, aaO. 135f£). Vgl. A. Kenny, aaO. 20: „the human will is the capacity for intentional action", genauer gesagt bedeutet dies: „the human will is the capacity to act for reasons." G. Ryle, Begriff des Geistes, 13. Zur Problematik der inneren Willenshandlungen äußert sich A. Kenny, aaO. 25 sehr klar: „Making up one's mind to do something may be an interior act in the sense that it is something that one can do without anyone but oneself knowing about it; a decision is a topic on which the person deciding can speak with a unique authority. But these actions are in no sense pure acts of the will, exercises of the will and no other faculty. Deliberation involves the use of the imagination as when, in interior monologue, one weighs up the pros and cons of the proposed course of action. The inward passage from premisses to conclusion is an exercise of the reason. But deliberation - as Aristotle insisted - arises from, and culminates in, states of the will: a desire for a particular end issues, via deliberation, in a desire for a means. And these originating and culminating .exercises of the will' are states, dispositions, attitudes, not actions [Hervorhebung U.L.] ... it seems that all genuine actus eliciti [Hervorhebung Kenny] - all ,pure actualizations of the will' - are states, and not actions or dockable events with a beginning, a middle and an end." Kennys Unterscheidung vermeidet genau den Dualismus von Wille und propositionaler Intention, dem Evans' Beschreibung verfällt. Übrigens gelingt es einem „intellektualistischen" Konzept wie dem von Kenny, die Schwierigkeit des infiniten Regresses zu lösen, durch die Evans zu seiner Annahme der basalen Willensakte gezwungen wurde: Wenn gilt, daß „volitions are not motions of mind, but states of mind", dann gilt auch: „volition not being itself an action does

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keiner Weise, wie diese Akte im Zusammenhang mit den hinzutretenden, nicht-basalen Elementen komplexe Handlungen bilden können. Akt und Handlung bleiben bei Evans unvermittelt, ihr Verhältnis ungeklärt41. So treffen wir also auch bei Evans wieder auf das Problem, das bereits bei den ersten beiden Beispielen im Mittelpunkt stand: Eine fundamentale Unterscheidung führt dazu, daß die Äußerlichkeit und Leiblichkeit der Handlung lediglich als Folgephänomen eines ursprünglicheren mentalen oder - in Fahrenbachs Fall - transzendentalen Handelns in den Blick kommt42. Anders gesagt: Kierkegaards Begriffe der inneren Handlung oder des Sprunges scheinen die Ausleger dazu zu nötigen, einen Dualismus anzunehmen, mit dem zwar ein metaphysisch postulierter Begriff „negativer" subjektiver Freiheit be-

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not fall under the law that all voluntary action is action issuing from a volition" (ebd. 26), und damit ist der Regreß beendet. Vgl. die Kritik R. Bubners an A. Dantos einflußreicher Theorie der Basishandlungen, die ebenso auf eine mentalistische Variante, wie sie bei Evans vorliegt, angewendet werden kann: „Basishandlungen im Sinne Dantos können [...] noch gar nicht als Handlungen gelten. Erst in der Zusammensetzung der sogenannten .vermittelten Handlungen' ist Praxis gegeben. Daraus folgt, daß man den Titel der Basishandlungen reservieren muß für die einfachste Gestalt vermittelter Handlungen"; Basishandlungen sind daher „künstliche Abstraktion" (aaO. 95). Ein anderes Beispiel für diese Vorgehensweise ist M. Theunissen, Verzweiflung. In dem handlungstheoretischen Kapitel des Buches analysiert Theunissen den Verzweiflungsbegriff aus KT als „totalisierende Handlung" (ebd. 90). Obwohl er einschränkt, daß dies keine Handlung sei, „die als eine in der Welt wirksam werdende Tat von reiner Tätigkeit zu unterscheiden wäre", rechtfertigt er Kierkegaards Verwendung des Handlungsbegriffs für dieses Phänomen und bezeichnet es selbst als ein „mentales Tun" (ebd.). Dagegen kritisiert Theunissen ausdrücklich Kierkegaards Verständnis von Reflexion als Handlung und hält fest: „Reflexion ist im allgemeinen keine Handlung" (ebd. 92). Worin sich allerdings Reflexionshandlungen von mentalen Handlungen kategorial unterscheiden, wird nicht klar. Auch Theunissen scheint also eine mentale Basishandlung zu postulieren, die einem praktischen Weltverhältnis überhaupt erst zugrunde liegt. Allerdings will er das totalisierende Handeln auch als Weltverhältnis verstehen, nämlich als Reaktion auf einen Verlust. Doch diese Reaktion wird eben nicht als Reagieren im Sinne einer sichtbar-leiblichen Handlung verstanden, sondern primär als ein Deutungsakt: „Mit dem Verlust des Ewigen ist aber in erster Linie gemeint, daß man das Zutrauen zu ihm verliert. In ihn ist also ein Akt involviert" (ebd. 101). Mentales Handeln als reaktiver Deutungsakt wird aus der komplexen Reaktionshandlung herausdestilliert und als basal behauptet. Damit kommt zugleich eine Bedeutungstheorie zum Tragen, wonach Sinn oder Bedeutung nicht im leiblich-kommunikativen Zusammenhang einer Praxis entsteht, sondern primär durch die mentale Sinngebung eines einsamen Akteurs; unter dieser Voraussetzung wird aber Handeln „überhaupt nicht praktisch, sondern erlebnistheoretisch, nämlich als gegenstandsbezogenes Vorstellen im Modus des Erlebens gedacht" (D. Böhler, aaO. 185 mit Bezug auf A. Schütz).

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quem verteidigt werden kann, der aber handlungstheoretisch zu erheblichen Schwierigkeiten und Reduktionen führt. Die Frage ist, ob diese Annahmen für Kierkegaards Begriff der „Innerlichkeit" tatsächlich zwingend sind. Mit der Unterscheidung von Basisakt und Handlung versucht Evans, die Frage zu beantworten, wie - mit Kierkegaard - die Konstitution von Handlungen zu denken ist. Diese Frage ist festzuhalten. Eine alternative Lesart Kierkegaards müßte versuchen, auch „Innerlichkeit" als eine einheitliche Form leiblichpraktischen Handelns in der Welt auszulegen, ohne die durch diesen Begriff beschworene Kontingenz geschichtlicher Freiheit aufzugeben; m.a.W. sie müßte den konkret-"positiven" Freiheitsbegriff Kierkegaards als Begriff der Handlungskonstitution zur Geltung zu bringen: „die Freiheit ist nie im Abstrakten" {BA, 115, Anm.). d) Handeln als narrative Praxis: Anthony

Rudd

A. Rudds Buch43 ist ebenfalls eine Untersuchung zur Ethik Kierkegaards. Doch anders als Hügli und Fahrenbach rekonstruiert er als die Grundlage des Ethischen bei Kierkegaard ausdrücklich eine bestimmte Handlungstheorie. Und anders als Evans entdeckt er im Handlungsbegriff eine fundamentale methodische Bedeutung für die gesamte Philosophie Kierkegaards. Die methodische Bedeutung wird daran deutlich, daß für ihn bereits Kierkegaards Erkenntistheorie pragmatisch fundiert ist. Kierkegaards nur scheinbar subjektivistische Wahrheitsdefinition („Die Subjektivität ist die Wahrheit", s. AUN1, 179ff.) sei zu verstehen in ihrer Frontstellung gegen den Objektivismus des „disengagement". Rudd folgt hierin einem Begriff A. Maclntyres, der die Moderne durch eine Ausdifferenzierung von Moral, gesellschaftlichen Rollen und konkreter anthropologischer Verankerung (nach Geschlecht, Alter etc.) charakterisiert sieht44. Dieses disengagement sieht Rudd philosophisch vorwiegend durch Zeitgenossen wie Quine, Davidson oder Derrida repräsentiert, aber auch schon, und dies im besonderen Maße, durch Kant (11). Dem objektivistischen Begriff propositionaler Wahrheit setze Kierkegaard nun ein Wahrheitsverständnis entgegen, in welchem Wahrheit pragmatisch

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A. Rudd, Limits. Die Seitenangaben im folgenden Abschnitt beziehen sich auf diesen Text. Vgl. A. Maclntyre, aaO.; der Terminus der „disengaged agency" taucht auch bei anderen Vertretern des sog. Kommunitarismus auf, vgl. C. Taylor, Sources, 159ff. passim.

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vom konkreten Lebensentwurf mit seinen konkreten Bedürfnissen und Rollen her zu verstehen ist: „,truth' can be attributed not only to ideas, but to attitudes; not only to believes but to the spirit in which they are held; not only to propositions, but to human lives" (56). Nicht nur Propositionen, sondern „human life, or certain moments within it, may also be legitimately described as true (or false)" (65). Kierkegaards pragmatischer Wahrheitsbegriff ziele darauf zu zeigen, „that we do not relate to the world primarily as detached rational observers, but as agents and as emotional beings" (66). Im Zentrum des Buches steht nun eine Analyse des Ethischen, das diesem Wahrheitsbegriff immer schon zugrunde liegt. Es handelt sich dabei v.a. um die praktische Sittlichkeit des Ethikers aus Entweder/Oder. Ihr Kennzeichen sei es, „to make long-term commitments, to accept social roles, and, by doing so, to accept the standards of evaluation that go with them" (72). Die ethische Aufgabe bestehe im Kern darin, die Harmonie und Identität der eigenen Persönlichkeit herzustellen, und dies geschehe durch „committing oneself to projects" (84). Rudd rekonstruiert, wieder unter dem Einfluß Maclntyres45, eine narrative Handlungstheorie, die er in Entweder/Oder wiederfindet: „The intelligibility of the present action depends on its looking back to the past and ahead to the future [...] and it is its wider temporal context that gives my action its intelligibility" (84). Eine einzelne Handlung kann immer nur im Kontext einer größeren Geschichte beschrieben werden, „within a whole context of aims, desires, dispositions, projects, ambitions, and relationships" (85). Die individuelle Handlungsgeschichte, in der es stets um die narrative Einheit des eigenen Lebens geht, ist dabei bestimmt durch die „projects to which an individual commits himself. Insofar as he is acting to further the projects to which he is commited, he has continuity in his life" (86). Die Orientierung an „commitments" erzählt die „story" des Handelns, insofern in ihnen zugleich die verantwortete Realisierung der sozialen Rollen vollzogen wird: „The ethicist is one who consciously re-engages in the commitments and relationships of social life, who is willing to accept the conditions that have - beyond his control made him what he is" (96). Rudd interpretiert den Gerichtsrat als aristotelischen Praxisphilosophen, der seinen ästhetischen Freund durch disengagement die narrative Struktur seines Lebens verlieren 45

Rudd verweist auf A. Maclntyres These, daß die „verständliche Handlung" („intelligible action") ein fundamentalerer Begriff als der einer Handlung an sich sei; s. aaO. 279.

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sieht. „This is an Aristotelianism, without the Aristotelian conception of a single specifiable telos of human nature as such" (99)46. Indem er Handlung als Praxisgeschichte auslegt, entledigt sich Rudd der Last einer subjektivitätstheoretischen oder mentalistischen Handlungsbegründung. Insofern ,entrümpelt' und klärt er die Diskussion erheblich (ohne daß damit alle konstitutionstheoretischen Fragen geklärt wären). Das Problem dieses Ansatzes liegt nun aber darin, daß er nur für die Ethiktheorie von Entweder/Oder gilt. Dieses Buch setzt ein grundsätzliches Harmonieverhältnis zwischen Individuum und einer homogenen Gesellschaft voraus, das in der Moderne nicht mehr gilt. Rudd selbst beschreibt den Prozeß der folgenden literarischen Produktion, in dessen Verlauf Kierkegaard auf das Zerbrechen dieser Harmonie reagiert und aus diesem Konflikt heraus das Religiöse als eine höhere Existenzsphäre entwickelt, in der das Ethische eine individualistische Form annimmt47. Das hat zur Konsequenz, daß die religiöse Ethik nicht mehr handlungstheoretisch ausgelegt wird. Das Zerbrechen der dänischen und europäischen Polis scheint eine teleologische Praxistheorie unmöglich zu machen. „Within the contemporary disintegration of Sittlichkeit, the individual is, to some extent anyway, forced into disengagement" (131). Der Handelnde steht Rudd zufolge vor einer radikalen Wahl zwischen einem ethischen Relativismus und der Ausrichtung auf ein absolutes telos außerhalb der humanen Praxis (134). Handeln im „religious commitment" (155) wird weltlos. Der Gegenstand des religiösen Handelns, das absolute telos, kann nur im „leap of faith" (139) gesetzt werden, und die religiöse Sittlichkeit ist entsprechend als „heteronomy" zu bestimmen (135, in ausdrücklicher Absetzung von Kants

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Rudds „neo-aristotelische" Interpretation ist exemplarisch für eine im angelsächsischem Sprachraum gegenwärtig starke Tendenz, im Anschluß an Maclntyre u.a. Kierkegaards Ethik durch den Begriff der Tugend zu interpretieren, vgl. D. Gouwends, Religious Thinker, Kap. 3; J. Walker, Descent, Kap. IV.; S. Walsh, Heart. Für eine systematisch ausgeführte Interpretation der Ethik Kierkegaard unter den Leitbegriffen von Tugend, Charakter und Emotionalität vgl. v.a. R. Roberts, Existence. Es ist derselbe kritische Prozeß, den W. Greve, Ethik als maieutische Entwicklung auf der Textebene der Schriften bis zur Nachschrift beschreibt. Rudd geht allerdings nicht analytisch-synchron vor, sondern arbeitet synthetisch, so daß er keine Rücksicht auf die Reihenfolge der Schriften und ihr spezifisches Verhältnis zueinander nimmt. Für ihn ist daher auch - schon - in Furcht und Zittern das religiöse Problem des Ethischen gelöst, das spätere Schriften wie die Beichtrede 1847 oder TL überhaupt erst formulieren.

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Autonomiebegriff 48 ). Das bedeutet aber, daß über dieses absolute Handlungsziel prinzipiell keine theoretischen Aussagen mehr gemacht werden können - die handlungstheoretische Frage muß Rudd faktisch aufgeben. Umgekehrt setzt sich eine solche Herangehensweise einem Ideologieverdacht aus: Denn wer garantiert, daß die zerbrechende Ethik das Absolute wirklich um seiner selbst willen „wählt", und nicht nur deshalb, um ihre eigene Fragmentierung durch das bloße Postulat eines universalen Guten zu verhindern49. Der heteronome Ethikbegriff hat natürlich Konsequenzen für das Verständnis von Praxis. Das Absolute soll ja auch das Allgemeine sein. Inwiefern dieses Allgemeine aber auch in der Lebenswelt und Erfahrung der Handelnden verkörpert und zugänglich und damit theoretisch beschreibbar ist, kann dann nicht mehr gefragt werden; eine solche reale Verleiblichung des Guten im intersubjektiven Handlungszusammenhang ist vielmehr als „Autonomie" zu disqualifizieren. Dies könnte dann allerdings in der Konsequenz zu einer heteronomen Forderungsethik ohne Reflexion auf die lebensweltliche Verankerung dieser Forderungen führen, wie sie durch den Abraham aus Furcht und Zittern, Rudds Hauptzeugen, möglicherweise reprä-

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Rudds Kantkritik ist eher oberflächlich. Demnach sehe Kierkegaard in Kant lediglich eine „abstrakte" Philosophie des „pure subject" (72 passim). Wenn er die kantianische Interpretation der Beichtrede 1847 kritisiert (134ff.) und demgegenüber auf die Unterschiede hinsichtlich des Gegenstands des Wollens bei Kant und bei Kierkegaard hinweist, hat er damit sicherlich Recht. Freilich wird überhaupt nicht klar, worin der Unterschied denn nun liegt. Wo ist der begriffliche Unterschied zwischen den „conditions of rational agency" und der „relationship to God", zwischen „concern for consistency in action" und „the individual's quest for fulfilment" (135)? Die gegenseitige Exklusivität dieser Sätze ist nicht deutlich. Läßt sich nicht dieselbe Handlung oder Handlungsorientierung durch beide Formen beschreiben? Unter dieser Unklarheit leidet dann auch der Heteronomiebegriff und damit die Kernthese, das Ethische müsse im Religiösen transzendiert werden. Rudds Unverständnis gegenüber Kant drückt sich in einem Satz wie dem folgenden aus: „I cannot see how he [sc. Kierkegaard] could have regarded Kant's very abstract ethics of the pure rational agent as anything more than the sort of rubbish that a .professor' would talk about ethics" (135). Eine solche ideologische Funktionalisiserung der absoluten Wahl wird durch Rudds Dilemma-Formulierung nahegelegt: „Either we abandon the search for an absolute telos, and with it the notion of absolute ethical standards - and so abandon the search for the kind of unified selfhood with which Kierkegaard is concerned - or we make the leap of faith" (139). Allerdings ist jede Ethik des guten Lebens - und Kierkegaards Ethik ist sicherlich eine solche - in der Gefahr der ideologischen Verschleierung, insofern hier stets die einzelnen teloi einem umfassenderem Gut untergeordnet werden; zu diesem „clash between hypergoods and ,ordinary' goods" vgl. C. Taylor, Sources, 98f£

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sentiert wäre. Die Frage ist, ob ein Handeln innerhalb der religiösen Sphäre eine theoretisch-diskursive Erklärung apriorisch ausschließen muß50. Zwar impliziert auch das religiöse Verhältnis zum absoluten Telos eine bestimmte Praxis; aber diese Praxis kann grundsätzlich nicht mehr als diskursiv begründbares oder phänomenal aufzeigbares kommunikatives Handeln, sondern nur noch als individuelle und weltlich unableitbare Tugend verstanden werden 51 . Die konkreten Relationen des Handelns werden sekundär gegenüber dem absoluten Ausgangspunkt jenseits der Welt. Zugleich konstatiert Rudd das Ende der Teleologie in Kierkegaards Werken: Die teleologische Ethik wird ersetzt durch eine in der Rechtfertigungslehre ruhende Ethik, die auf jedes dem Subjekt zuzuschreibende Streben verzichten kann zugunsten der Präsenz der göttlichen Gnade, aus der heraus sie handelt: „Ethics then ceases to be a striving to realize a telos, but becomes simply an outlook of trust and gratitude" (153). Solche nicht-teleologische, „präsentische" Ethik (s. 172f.) ist offensichtlich die andere Seite der Heteronomie. Sie scheint für Rudd nicht mehr begründbar zu sein, sondern muß aus der Offenbarung geglaubt werden (nicht umsonst beruft sich Rudd wiederholt auf K. Barth und D. Bonhoeffer). Die Erfahrung der Gnade zielt nach Rudd auf die Konstitution von unverfügbarer Identität (173); doch welche Bedeutung solche religiöse Identitätsgründung für das Handeln hat, wird nicht untersucht. Auf die Gestaltung der bestimmten Lebensbezüge scheint sie keinen wesentlichen Einfluß zu haben. Im übrigen konstatiert der Autor selbst die Spannung („real ambiguity"), in der diese tendenziell quietistische Gnadenethik zu der ethischen Grundform des teleologischen Strebens steht (s. 164).

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Die zentrale Bedeutung, die Begriffe wie Handlung, Praxis und Situation in den Reflexionen des Kierkegaardschen Spätwerks einnehmen, wird von H. Deuser, Dialektische Theologie entfaltet, freilich ohne die Anwendung explizit handlungstheoretischer Fragehinsichten, vgl. ebd. 79f£, 194ff., 262f£ Daß Kierkegaards Ethik überhaupt erst im Zerbrechen der immanenten Ethik und in Absetzung von ihr zu ihrem Ziel gelangt, behauptet ebenfalls, wenn auch in einer völlig anderen Argumentation, K.-M. Kodalle, Eroberung (bes. 131-163). Deutlicher als Rudd gelingt es Kodalle, die der geschichtlich-kommunikativen Vermittlung entzogene Subjektivität zugleich als kommunikativ verortet zu beschreiben. Auf der anderen Seite scheint das fast krampfhaft anti-teleologische („nicht-utilitaristische") Programm Kodalles und sein Pathos der leidenschaftlichen, zweckfreien Freiheit mit handlungstheoretischen Fragestellungen kaum noch vermittelbar zu sein.

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Rudd beschreibt also eine Entwicklung in Kierkegaards Werk, welche die Handlungstheorie als methodischen Ansatz der Interpretation obsolet macht. Radikal individualisierte Teleologie und schließlich Leben aus „gratitude for grace" (171) scheinen auf handlungstheoretische Begründungen oder diskursive Erläuterungen verzichten zu können. Polemisch und nicht-theologisch gesprochen könnte man sagen: Die verzweifelnde Praxisphilosophie springt in die rettende Arme einer nur noch subjektiv einholbaren religiösen Praxis. Doch darf gefragt werden, ob dieses Ergebnis nicht eher auf einem reduzierten Vorverständnis des Verhältnisses von Religion und Handlung als auf dem Gehalt der Kierkegaardschen Texte beruht. Diese Reduktion kann man beispielhaft bereits in Rudds einseitiger Interpretation von Entweder/Oder erkennen: Teleologische Praxis kommt hier nämlich nur als soziale Praxis der konkreten Sittlichkeit vor, die praktisch-teleologische Dimension des „Ästhetischen" dagegen spielt gar keine Rolle: die ästhetische Teleologie der Liebe etwa, die sich nicht in der Übernahme sozialer Rollen erschöpft, sondern zusammen mit der religiösen Dimension der Ehe über jede endliche Zwecksetzung hinausschießt52. Als Ergebnis für meine Fragestellung möchte ich festhalten: Rudd unternimmt einen beachtlichen Versuch, Kierkegaards Ethik als Praxistheorie zu entfalten. Dabei gelingt es ihm allerdings nicht, auch Kierkegaards Auffassung von Religion und Christentum in diesen Ansatz einzuschließen. Die Religion wird bei Rudd zum Jenseits einer handlungstheoretisch beschreibbaren Praxis. e) Ergebnisse Die vorangegangene Diskussion hat die Defizite aufgezeigt, die m.E. einer überzeugenden Formulierung des Handlungsbegriffes Kierkegaards im Wege stehen und von dieser zu bewältigen wären. Ich möchte die Ergebnisse noch einmal in vier kurzen Thesen zusammenfassen und dabei jeweils einen Aspekt der besprochenen Autoren aufnehmen.

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Vgl. EO 2, 93f.: „es hat sich gezeigt, daß die Ehe, um aesthetisch und religiös zu sein, kein endliches .Warum' haben darf; eben dies aber ist das Aesthetische an der ersten Liebe gewesen." Die Reduktion der teleologischen Handlungsstruktur auf soziale Rollen läuft Gefahr, im Licht der ästhetisch-religiösen Kraft der „ersten Liebe" als bloßer Zweckrationalismus zu erscheinen. In diesem Punkt ist K.-M. Kodalles Abwehr des teleologischen Handlungsmodells (s. Anm. 51) im Recht.

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1. Die Frage nach dem Handlungsbegriff ist die Frage nach Kierkegaards Ethik als Thema der praktischen Philosophie; diese gilt es als eigenständige Theorieform zu entdecken, und zwar in Absetzung von erkenntnistheoretisch geleiteten Fragestellungen (Hügli). 2. Der Handlungsbegriff bei Kierkegaard ist in seiner hermeneutischen Struktur zu entfalten; Handeln ist Verstehen, nicht umgekehrt (Fahrenbach). 3. Der Handlungsbegriff muß als Korrelat eines Verständnisses von Freiheit gedacht werden, das in der praktisch-kommunikativen Dimension (Leiblichkeit) die Frage der Konstitution von geschichtlichem Handeln zu erörtern erlaubt (Evans). 4. Dieser Handlungsbegriff darf nicht vor den von Kierkegaard formulierten religiösen Begründungen der Ethik haltmachen, sondern ist umgekehrt von diesen religionsphilosophischen und theologischen Akzenten her zu interpretieren (Rudd). In der voranstehenden Auseinandersetzung mit der Kierkegaard-Literatur war es noch nicht möglich gewesen, zwischen der Meinung der Interpreten und der Aussage der interpretierten Texte zu unterscheiden. Zentrale Passagen aus dem Werk wurden zusammen mit ihrer Interpretation an einigen Begriffen aus der handlungstheoretischen Debatte gespiegelt. Es ist also gar nicht klar, ob die aufgezeigten Defizite Kierkegaard selbst oder seine Interpreten treffen. Deshalb fordern diese Anfragen zu einer eigenen Analyse der Kierkegaardschen Handlungstheorie heraus; und dies eben ist es, was in der folgenden Studie versucht werden soll. Die Methode und den Verlauf dieses Versuchs möchte ich zum Abschluß dieser Einleitung darstellen. Die Arbeit verfolgt keine systematische und erschöpfende Untersuchung aller Äußerungen zur Thematik des Handelns im Corpus des Kierkegaardschen Werkes. Vielmehr konzentriert sie sich auf einen zentralen Text: die Schrift Die Taten der Liebe [„Kjerlighedens Gjerninger"] von 1847. Dieses Buch wird in den vier oben besprochenen Interpretationen kaum berücksichtigt. Mit Ausnahme von Rudd konzentrieren sich diese Arbeiten überhaupt auf die Pseudonymen Werke. Dieser Befund kann im übrigen als charakteristisch für die Erforschung der Kierkegaardschen Ethik gelten: Die Taten der Liebe (= TL) spielt in dieser Forschungsgeschichte eine nur untergeordnete Rolle. Die Voraussetzung meiner Arbeit ist es, daß es sich bei TL um einen für Kierkegaards Ethik schlechterdings entscheidenden Text handelt. Dabei schreibt Kierkegaard selbst dem Buch ein gegenüber seinen vorausgegangenen Schriften vielschichtiges Verhältnis zu, wie eine Notiz zu Beginn der schriftstellerischen Arbeit an TL zeigt:

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Kierkegaard äußert sich darin zu dem Vorwurf, er „wisse nichts von der Gemeinschaft [Socialiteten]", und er gesteht zu: „Aber auf der anderen Seite muß ich mir selbst vor Gott gestehen, daß in gewissem Sinne etwas Wahres daran ist, nur nicht wie die Leute es verstehen, daß nämlich stets, wenn ich erst die eine Seite recht deutlich und scharf ans Licht gebracht habe: dann die andere sich um so stärker geltend macht." Und er fügt unmittelbar daran an: „Nun habe ich mein Thema für das nächste Buch. Es soll heißen: *Die Taten der Liebe" (Pap. Vili A 4ITL, 439)53. Thematisch wie methodisch unterscheidet sich TL von den früheren Schriften (ohne doch die Kontinuität mit diesen aufzugeben). Und sowohl das neue Thema („Gemeinschaft") als auch die angekündigte neue Einseitigkeit können den Versuch rechtfertigen, die oben benannten Probleme einer handlungstheoretischen Interpretation im Ausgang von TL aus noch einmal neu anzugehen. Das Problem der Gemeinschaft ist ja die Frage nach einer sittlichen Praxis, deren Verständnis einen bestimmten Handlungsbegriff impliziert, und zwar ausdrücklich einen Begriff des „äußeren", kommunikativen Handelns, des Handelns im offenen Medium leiblicher Interaktion 54 . Die handlungstheoretische Fragestellung ist jedoch noch zu präzisieren. TL bietet nämlich keine explizite, begrifflich ausgeführte Theorie des Handelns. Eine solche findet sich auch in den Pseudonymen Schriften nicht; allerdings entwickeln die Pseudonyme verschiedene Grundbegriffe und Definitionen des Handelns und sie verwenden den Terminus „Handlung [Handling]" ausgiebig, z.T. emphatisch und terminologisch konrolliert. M.a.W. in einigen Pseudonymen Texten kann man das Bemühen um eine theoretische Auffassung des Handelns entdecken, und an diesem Befund haben sich auch die oben diskutierten Interpretationsentwürfe weitgehend orientiert. Die Redenform von TL dagegen folgt nicht der dialektisch-begrifflichen Darstellungsform der Pseudonyme, so daß hier eine Arbeit am philosophischen Begriff des Handelns nicht zu erwarten ist. Andererseits ist die Redenform dieses Buches selbst aber auch nicht als „erbaulich", sondern (im Buchtitel) als „Erwägung" und damit als eine an

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Zur werkgeschichtlichen Stellung von TL zwischen der ersten Phase (bis zur Nachschrift) und dem späteren „Nachfolgechristentum" vgl. H. Deuser, Wirkliche Ethik, 119 £ G. Malantschuk, Individ, 141: „Wenn Kierkegaard von der Nächstenliebe spricht, bezeichnet er diese Liebe als ,die sittliche Aufgabe'. .Sittlich' bedeutet bei Kierkegaard das nach außen gewandte Handeln" (eigene Übersetzung).

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das Denken gerichtete reflektierende Form charakterisiert 55 . TL diskutiert das Handlungsphänomen nicht auf der Ebene philosophischbegrifflicher Konstruktion, aber dennoch ist angesichts der Thematik zu erwarten, daß eine bestimmte Auffassung vom Handeln in diesem Text wirksam ist und argumentativ ins Spiel gebracht wird. Die handlungstheoretische Interpretation richtet sich demnach nicht auf eine Theorie des Handelns, sondern auf den Begriff des Handelns und dessen literarischen Gebrauch in der Bewegung des Textes56. Hieraus ergeben sich für die Methode zwei Folgerungen: Wenn es auf den Gebrauch eines Begriffes innerhalb konkreter Argumentationszusammenhänge ankommt, muß die Interpretation erstens in größtmöglicher Nähe zu diesen Zusammenhängen erfolgen; der Handlungsbegriff wird nicht in der Auslegung von isolierten Textstücken aufgeklärt, sondern stets nur im Zusammenhang seines Gebrauches innerhalb bestimmter Kontexte und ihrer Argumentationsbewegung. Der systematische Gehalt ist mit der sprachlich-rhetorischen Textgestalt auf das engste verbunden und nur im diachronen Gang durch die Kontexte zu erheben (Kontextprinzip). Die Interpretation nimmt damit zweitens den Charakter einer Rekonstruktion an: Was in TL auf der Textoberfläche nicht explizit in begrifflicher Form ausgesprochen ist, aber gleichwohl von der Argumentation beständig in Anspruch genommen und gebraucht wird, soll von der Interpretation an das Licht einer begrifflichen Klärung und Einordnung gebracht werden. Das bedeutet auch, daß die Semantik des Textes mit Hilfe einer ihm selbst fremden Theoriesprache, nämlich den Begriffen und Fragen der Handlungstheorie, untersucht wird. Die Vermittlung von textimmanenter und fremder Semantik ist eine unvermeidliche hermeneutische Schwierigkeit jeder Interpretation, die über eine 55

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Zur Differenz von „Erwägung [Overveielse]" und „Rede [Tale\" vgl. Pap. V i l i A 293/72, 163f.; zur spezifischen literarischen Form von TL vgl. H. Deuser, aaO. 119: „Kierkegaard versucht etwas, das er zuvor in dieser demonstrativen Präsentation von Redenform und Wissenschaft im unmittelbar christlichen Begründungskontext so nicht gewagt hatte und das er in der hier noch überwiegend auf argumentierende Überzeugungsbildung und Integration des Lesers bedachten Entspanntheit sich dann nach 1848 geradezu verboten hat." Dabei ist mit „Begriff" nicht ein bestimmter, einzelner Terminus gemeint, sondern ein in bestimmter Weise geregeltes Gefüge von Vorstellungsgehalten, man kann auch sagen: die Grammatik einer bestimmten Vorstellung. Die handlungstheoretische Terminologie bei Kierkegaard ist demgegenüber sehr vielfältig. Hierzu gehören u.a. die Termini „Handling", „Gjerning", „Virksomhed", „Omsaetning", „Afgj0relse", „at formaae" aber auch die bereits oben erwähnten „Continuitet", „at vove" oder der Wiederholungsbegriff.

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Wiederholung oder Sammlung des bloßen Wortlautes hinauskommen will. Die Gefahr dabei ist freilich, daß eine fremde Theoriesprache auch eine dem Text selbst fremde Fragestellung an den Text heranträgt und ihn damit sachlich verfehlt. Doch scheint mir im Fall von TL die Frage nach dem Verständnis des Terminus' „Handlung" und seiner Äquivalente offen genug und zudem von TL selbst her genügend motiviert zu sein, um eine solche sachliche Verfehlung zu vermeiden. Die hier verfolgte handlungstheoretische Frage hat zwei Ziele: Erstens soll Kierkegaards Handlungsverständnis entdeckt und zugleich auf handlungstheoretische Begriffe und Debatten bezogen werden. Diese Entdeckungsaufgabe wird hauptsächlich an einer einzigen Schrift durchgeführt, so daß die Ergebnisse keinen direkten Anspruch auf Gültigkeit für das Gesamtwerk erheben können; mit anderen Worten, es soll hier keine vollständige Geschichte des Handlungsbegriffs bei Kierkegaard versucht werden. Gleichwohl werde ich die Ergebnisse und Fragestellungen immer wieder auf andere Texte Kierkegaards beziehen, da die Interpretation dieser Einzelschrift sich auch immer gegenüber dem Gesamtwerk verantworten muß. Dieses Vorgehen scheint mir methodisch dem Verhältnis von Differenz und Kontinuität zu entsprechen, in dem TL zu den vorausgegangenen Schriften Kierkegaards steht. Das zweite Ziel der Interpretation liegt darin, mit der Rekonstruktion des Handlungsbegriffes einen Beitrag zum Verständnis von TL zu liefern. Die handlungstheoretische Frage soll bei der Beantwortung der Frage helfen, ob und wie der in TL dargestellte Entwurf einer christlichen Ethik Sinn macht 57 . Die Notwendigkeit zu einer solchen handlungstheoretischen Interpretation der in TL entworfenen Ethik stellt sich besonders durch die bereits angesprochene literarische Gestalt des Buches, d.h. durch eine Dar57

Zum gegenseitigen Begründungsverhältnis von Handlungstheorie und Ethik vgl. O. Höffe, Ethik, 234: „Indem die philosophische Handlungstheorie fundamentale Bedingungen jedes menschlichen Handelns expliziert, übernimmt sie gegenüber der Ethik auch ein Stück weit Begründungsfunktionen. Umgekehrt gilt auch im Gegensatz zu einer ethisch neutralsierten und das heißt auch tendentiell a-moralischen Handlungstheorie, daß das menschliche Handeln erst in den ethischen Analysen zum Begriff und Kritierium der Sittlichkeit voll begriffen wird." Höffes Programm läßt sich auf die Aufgabe der vorliegenden Arbeit abbilden: einen ethischen Entwurf (TL) handlungstheoretisch lesen, um auf diese Weise einen angemessen Zugang zu seinem sachlichen (ethischen) Gehalt zu finden. Vgl. auch M. Riedels Charakterisierung der Handlungstheorie als „propädeutische(r) Disziplin zur Ethik" (aaO. 139). Eine stärkere Trennung zwischen Handlungstheorie und Ethik nimmt G. Anscombe, Intention, 80 vor.

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stellungsform, die hinter ihrem betont unphilosophischen, „christlich"-einfältigen Sprachgestus die Schärfe ihres Denkens und die Konsequenz ihrer Begriffe bewußt verbirgt. Dieser Rhetorik gegenüber soll die handlungstheoretische Frage als hermeneutischer Schlüssel dienen; er wird unter der methodischen Voraussetzung angebracht, daß Kierkegaards Verschlüsselung einer solchen Dechiffrierung überhaupt bedarf, will man seine Texte mit zeitgenössischen Fragestellungen in Beziehung setzen. Es wird sich m.E. zeigen, daß dieses Buch nicht nur einen bestimmten Handlungsbegriff gebraucht, sondern vielmehr überhaupt nur als eine breit ausgeführte theologische Analyse des Handelns gelesen werden kann 58 . Das diesem Rekonstruktionsversuch zugrundeliegende Interesse ist die Frage, ob Kierkegaards Handlungsbegriff als der möglicherweise wichtigste Stellvertreter seiner Philosophie auch für gegenwärtige Debatten in Theologie, Ethik und Religionsphilosophie Relevanz besitzt. Ich möchte Kierkegaards Texte dazu nutzen, das Verhältnis von Handlung und Religiosität zu klären, und zwar in theologischer Perspektive59. Es wird sich erweisen, daß die eigentliche Rekonstruktionsaufgabe bereits so umfangreich ist, daß eine Antwort auf diese Frage nur indirekt möglich ist. Dennoch sei das movens dieser Arbeit benannt. Die Arbeit folgt in ihrem Aufbau im wesentlichen der Ordnung des zu interpretierenden Textes. Wir werden sehen, daß der jeweilige Ort der Aussagen innerhalb der Komposition von großer Bedeutung für ihr Verständnis und für die Rekonstruktion des Handlungsbegriffes ist. Die von Adorno gleichermaßen verachtete und gefürchtete „Redseligkeit eines unendlichen Monologs, der gewissermaßen keinen Einspruch von außen zuläßt und ohne Zäsur, ja eigentlich ohne Artikulation in sich selber kreist" 60 wird sich bei näherem Hinsehen als genau kalkuliertes Kompositionsprinzip erweisen, das die Themen und Begriffe in der Weise ihrer Variation entfaltet, d.h. als spiralförmige Bewegung der jeweils erweiterten und veränderten Wiederholung. Das Hauptthema des Buches wird im ersten Kapitel identifiziert als die Kreativität des liebenden Handelns, das sich selbst in Phänomenen der leiblichen Handlungswelt zur Darstellung bringt.

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Der internationale Stand der Erforschung von TL wird in den Literaturberichten von S. Ake, P. Götke, U. Lincoln und B. Tajafuerce dokumentiert. Zum philosophischen Begriff der Religiosität und seiner systematisch-theologischen Einordnung vgl. H. Deuser, Kleine Einführung, 20ff. Th. Adorno, Kierkegaards Lehre, 218.

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Die folgenden beiden Kapitel bearbeiten den größten Teil des Textes von TL, indem sie die in der ersten Rede vorbereiteten Phänomene der Liebe bzw. des liebenden Handelns unter den beiden Aspekten des Sollens und des Könnens beschreiben. Diese thematische Zweiteilung entspricht dem Verhältnis der beiden Teilbücher („Folgen") der Schrift. Die erste Redenfolge von TL (TL1) ist dem Handeln der Liebe unter dem Thema des Sollens gewidmet, das in drei Durchgängen variiert wird: als kategoriale Bestimmung unter dem Begriff der Pflicht (I.) und als Beschreibung der Wirklichkeit des Sollens auf der Ebene von Intersubjektivität (II.) und Subjektivität (III.). Die zweite Redenfolge (7X2) verfolgt das Liebenkönnen in einer dem ersten Teil ähnlichen Abfolge von kategorialer Bestimmung (I.), Beschreibung der subjektiven (II.) und intersubjektiven (III.) Wirklichkeit und einer Reflexion auf die bestimmte Grenze dieses Könnens (IV.). Das vierte Kapitel ist eine Auslegung mehrerer Texte aus beiden Teilen, die Abschlußcharakter haben und damit zugleich den Boden der Phänomenologie verlassen. Die Interpretation nimmt diese Texte zum Anlaß, um nach dem kommunikationstheoretischen Selbstverständnis der Schrift und dem Ertrag für einen verallgemeinerungsfähigen Handlungsbegriff in theologischer Perspektive zu fragen.

1. Kapitel Die Kreativität des Handelns als Gegenstand der Taten der Liebe Eine handlungstheoretische Interpretation von TL1 muß zunächst die Frage beantworten, in welcher Weise und in welchem Sinn in TL von Handlung gesprochen wird. Ist es überhaupt gerechtfertigt, die Frage nach dem Handlungsbegriff an diesen Text zu stellen? Und wenn ja, in welcher Weise, Hinsicht und Semantik wird dieses Thema vom Text selbst inszeniert? Zur Klärung dieser Ausgangsfragen wendet 1

Die Zitatbelege aus TL erfolgen im Text stets ohne Titelangabe; es wird zuerst die Seitenzahl der deutschen Übersetzung genannt, anschließend die entsprechende Seite der dänischen Ausgabe, vgl. Einleitung, Anm. 6! Gerdes' Übersetzung des Buchtitels ist problematisch: Die dänische Form des vorgestellten Genitive kann im Deutschen nicht nachgebildet werden, ohne einen altertümlich-künstlichen Klang zu erzeugen, der dem dänischen Original gerade nicht entspricht. Auch die Übersetzung von „Gjerninger" durch „Tun" ist m.E. nicht gelungen. Zunächst ist „Gjerninger" nicht ein substantiviertes Verb, sondern ein Substantiv, und zwar im Plural; es handelt sich also um bestimmte Dinge. „Tun" betont gegenüber der Alternativübersetzung von „Werk", „Tat" oder „Handlung" den Charakter der Unbestimmtheit, der reinen Tätigkeit, des bloßen Vollzuges. Damit wird das Element der leiblich-empirischen Konkretion und der sozialen Wirkung des Tuns aus dem Begriff selbst herausgenommen. Exemplarisch sichtbar wird dies in der ersten Rede in der Differenzierung von „Kjerlighedensgjerninger" und „Kjerlighedens Gjerninger": Gerdes deutet die Differenz als die von „Liebeswerk" und „Tun der Liebe" (16f./19). Kierkegaard jedoch benutzt in dem Wortspiel keine neuen Worte, sondern ändert die syntaktische Position von Kjerlighed: Ist es im ersten Fall ein Adjektiv zu Gjerninger, so ist Kjerlighed im zweiten Fall das Subjekt zu Gjerninger, und allein hierdurch ist der Charakter der strukturellen Eigenständigkeit von Kjerlighed angedeutet, auf den es an dieser Stelle entscheidend ankommt (s.u.). Dies entspricht jedoch gerade nicht dem abstrakten Aspekt der reinen Tätigkeit, die Gerdes im zweiten Fall sehen möchte. Ich übersetze daher den Titel mit „Die Taten der Liebe". Allerdings wird Im Terminus „Gjerninger" die seit Aristoteles bekannte Differenz zwischen Werk (ergon) und Tätigkeit (energeia, vgl. EN 1094a, 3ff.; 1098b, 30ff.) offen gelassen; der Tatbegriff scheint mir diese Offenheit wiederzugeben. In der rechtsphilosophischen Tradition wird mit dem Begriff der „Tat" die soziale Wirkung und Konkretion des Handelns bezeichnet, und zwar als die dem Handeln-

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sich das Eingangskapitel demjenigen Text zu, der das Thema des Buches intoniert. Es ist dies die erste der neunzehn Reden oder „Erwägungen" des Buches. Zusammen mit dem „Vorwort" und dem „Gebet" setzt sie den Ton und entwickelt Gegenstand und Methode für die gesamte Schrift. Sie tut dies freilich nicht in Form einer methodischen Reflexion, vielmehr ist sie selbst bereits eine thematische „Erwägung" über die Liebe. Abgesehen von dem knappen „Vorwort", läßt die Redenform eine eigentliche Einleitung im Sinne einer Verständigung des Autors mit seinen Lesern nicht zu. Gleichwohl hat die erste Rede - im Verbund mit den anderen beiden kurzen Texten darin einleitenden Charakter, daß sie zentrale Begriffe und Fragestellungen ebenso wie Sprachform und Ton ihrer Darstellung intoniert. Es sind vier Punkte, die ich für meine Fragestellung markieren möchte: 1. Thema der Rede ist das Verhältnis von Verborgenheit und Kenntlichkeit der Liebe. In der vereinfachten Form von „Innen" und „Außen" war dies genau eine der Verhältnisbestimmungen, die sich als ein Grundproblem des handlungstheoretischen Verständnisses Kierkegaards erwiesen hatten (s. Einleitung). Doch der Dualismus von „innerer" und „äußerer Handlung" ist auf ΤLI, I nicht ohne weiteres anwendbar, denn hier ist nicht von „außen" die Rede, sondern von „Früchten". Im Horizont des biblischen Leittextes Lk 6,44 wird klar, daß es sich bei diesen Früchten um sichtbare Taten und Handlungen handelt. Eine Frucht aber ist direkt mit den verborgenen Anteilen der Pflanze, den Wurzeln verbunden. Die Frucht ist das, was von der lebendigen Pflanze zu sehen ist. Und so geht es auch bei den hier gemeinten sichtbaren Handlungen um die „Kenntlichkeit" der Liebe. Die Liebe zeigt sich in äußeren, sichtbaren Handlungen, genauer gesagt, sie bringt sich selbst in diesen „Früchten" zur Darstellung. Nun ist Liebe einerseits ein erfahrbares Phänomen („Frucht"), andererseits aber darin von sinnlichen Phänomenen verschieden, daß sie geglaubt werden muß (7/11). Der besondere Phänomencharakter der Liebe als Handlung ist auszulegen als ein bestimmtes Verhältnis von Glauben und Sehen, von Verborgenheit und Kenntlichkeit: „Doch

den und seiner Verantwortung zuzuschreibende Handlung (vgl. I. Kant, Werke V I I I , 329; G.F.W. Hegel, Rechtsphilosophie §§117f.). „ A l s ,Ταΐ bezeichnet man in der Regel das Ergebnis der H[andlung] mit Einschluß seiner Folgen" (J. Derbolav, Handeln, 992). Dieselbe Verbindung von Vollzug und Bestimmtheit in leibhafter Konkretion und Abgeschlossenheit wird auch durch den biblisch-theologischen Begriff des „Werkes" zum Ausdruck gebracht.

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wenn man sagt, daß die Liebe an den Früchten erkannt wird, dann sagt man damit zugleich, daß die Liebe selbst in gewisser Weise im Verborgenen wohnt, und gerade deshalb nur an den offenbarmachenden [aabenbarende] Früchten erkannt werden kann [...] Die verlesenen heiligen Worte sprechen deshalb von etwas Doppeltem, während sie jedoch von dem einen nur verborgen sprechen" (10f./14). Damit ist vorläufig festgehalten: Liebe wird als eine differenzierte Einheit von Verborgenem und Sichtbaren bestimmt. Es ist die differenzierte Einheit eines - zunächst nicht weiter bestimmten - Prozesses der Selbstoffenbarung oder Selbstdarstellung. Zugleich geht es bei den Erwägungen um ein Phänomen-Verhältnis·. Der Gegenstand (Liebe) muß als Phänomen (Frucht) wahrgenommen und damit zugleich als ein „Doppeltes", als ein Phänomen mit einem verborgenen Anteil, erkannt werden 2 . Handelt es sich bei den „Früchten" um sichtbare Handlungen, so verweisen diese selbst zurück auf ihren Grund. Die Erwägungen weisen sich als Beobachtungen aus, die vom besonderen Gegenstandscharakter ihres Objekts selbst dazu geführt werden, nach dem verborgenen Anteil des Phänomens zu fragen, um dessen differenzierten Ganzheitscharakter gerecht zu werden. Der Ausgang beim Phänomen wird dabei in einer Reihe von Vergleichen ausdrücklich eingefordert: So wie Wasserlauf, Sonnenstrahl und Glaube nur adäquat erfahren werden können im handelnden Mitgehen und lebensgeschichtlichen Gebrauchen und darin zugleich die Suche nach ihrem unerreichbaren Grund abweisen, so „ist es der Wunsch und die Bitte der Liebe, daß ihr verhüllter Ursprung und ihr im Innersten verborgenes Leben ein Geheimnis bleiben möge" (12/15). Der Ausgang beim Phänomen wird also als Ausgang bei einer Praxis charakterisiert. Gerade der im Phänomen enthaltene Verweis auf seinen verborgenen Anteil verweist den Beobachter zurück zum Phänomen und dessen Gebrauch. Die Doppelbewegung der Selbstdarstellung der Liebe hat ihre Entsprechung in der - perspektivisch genau reziproken - Doppelbewegung, in der man an dieser Liebe teilnimmt: Durch die Kennzeichnung des Verborgenen weist das Phänomen in seinen Gebrauch ein. Der Beobachter wird in diesem Verweisungsprozeß zum Handelnden; dieses praktische Verhältnisses zum Liebesphänomen wird eingangs als „Glauben" beschrieben. Liebe ist, wie wir sahen, durch das besondere Verhältnis von Sehen und Glau2

Zum Phänomenbegriff bei Kierkegaard vgl. u.a. AUN1, 50; BA, 76, 122ff., 131 (Anm.l); Hirsch übersetzt „Phänomen" mit „Erscheinung"; zur Interpretation vgl. A. Gr0n, Subjektivet, 35ff.

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ben bestimmt, damit aber auch durch den Ernst der Möglichkeit, „sich selbst um die Liebe zu betrügen [...] wer aber sich selbst betrügt [sc. um die Liebe betrügt], hat sich selbst daran gehindert, das Ewige zu gewinnen" (8/llf.). A n die Liebe zu glauben bedeutet, mit ihrer Selbstdarstellung angemessen, nämlich teilnehmend umzugehen. Sich selbst um die Liebe zu betrügen ist die Position dessen, der das im Phänomen gegebene Zeichen zum Gebrauch nicht aufnimmt und in Distanz bleibt. Über die Liebe kann also sachgerecht nur gesprochen werden, wenn die Erwägung im Medium des Phänomenalen, d.h. im Medium des erfahrbaren Handelns ansetzt. Auf dem Hintergrund des biblischen Leittextes wird „Frucht" im Verlauf der Rede als eine erste, grundlegende Metapher für leibliches, d.h. sinnlich-erfahrbares und intersubjektiv verstehbares Handeln erkennbar. Will man von Liebe sprechen, so muß man von ihren im leiblichen Zusammenhang der Welt auftretenden Zeichen (Phänomenen) sprechen. Zugleich muß man vom subjektiven Gebrauch dieser Zeichen sprechen und damit dieses Subjekt selbst in das Sprechen über die Liebe mit einbeziehen; das Reden über die Liebe muß in der Perspektive der ersten Person, in der Binnenperspektive teilnehmender Praxis geschehen. Das bedeutet nicht, daß der Redner über sich selbst spricht, sondern daß er so über die Liebe spricht, wie sie in der Binnenpersktive eines Subjekts erscheint, das auf irgendeine Weise mit ihr, d.h. mit dem Gebrauch ihrer Zeichen zu tun hat. Die Darstellung der Liebe muß beim Phänomenalen ansetzen, weil Liebe trinitätstheologisch immer als Phänomen zu verstehen ist: nämlich als eine Äußerung der sich hingebenden und sich entäußernden Liebe Gottes, „von dem alle Liebe herkommt im Himmel und auf Erden" (6/10). Ohne daß diese theologischen Setzungen an diesem Punkt bereits vollständig plausibel werden, ist doch auf die schöpfungstheologische Pointe hinzuweisen: Ein erkenntnistheoretischer Dualismus von Phänomenwelt und Ding an sich, damit aber auch von „innen" und „außen", ist damit abgewiesen. Die auf ein Handlungssubjekt bezogene Trennung von innerer und äußerer Handlung wird überführt in die semiotische Differenz von Zeichen, Bezeichnetem und Zeichengebrauch. 2. Welche Bedeutung hat das verborgene Schöpferische der Liebe für ihr innerweltliches Phänomen? Dies ist das eigentliche Thema der Rede, nämlich die nähere Bestimmung dieses „verborgenen Lebens" der Liebe. Wie ist solches verborgene Leben handlungstheoretisch zu

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bestimmen? Kann es analog zu solchen Handlungsmodellen verstanden werden, in denen Liebe als subjektive Form einer Handlungsursache oder eines Handlungsgrundes erscheinen würde, etwa als das Motiv bestimmter Handlungen? Diese Frage kann hier nur sehr vorläufig gestellt werden, da wir uns erst am Anfang der Untersuchung befinden. Dennoch, die Metaphorik der Verborgenheit scheint es ja nahezulegen, das Verhältnis von „Frucht" und „Leben" in dieser Weise als Verhältnis von Handlung und Ursache oder Grund zu verstehen. Aber tatsächlich verbaut diese Redeweise gerade die Möglichkeit, die Liebe in den Vorstellungen subjektiver Motivation zu verstehen: Der Rückgang in das „Innerste" (12/15) wird als dem Gegenstand unangemessen zurückgewiesen (s.o.). Die „Stätte" der Liebe (11/14) liegt jenseits der selbst-bewußten Subjektivität des Handelnden, auch wenn es sich andererseits dabei um das Innerste eines Menschen handelt (11/14). Doch was ist dann diese „Stätte"? Kann hier nur noch mit dem Verweis auf ein „Geheimnis" (12/15) geantwortet werden? Der Verweis auf ein Geheimnis bedeutet allerdings nicht den Verzicht auf eine begriffliche Aufhellung des Phänomens. Das verborgene Leben wird begrifflich weiterentwickelt, nämlich als „Bewegung in sich selbst" und als „*Drang [Trang]", (13/16)3. Entscheidend ist dabei die Selbstbezüglichkeit: „Trang" wird (noch) nicht als gegenstandsbezogenes Streben gekennzeichnet (wie dies die hier angeführten Beispiele der erotischen Liebe und des religiösen Glaubens sind!), sondern als reines „sich hervordrängen [at trœnge sig frem]" (ebd.), als ein Sich-kenntlich-machen-Wollen der verborgenen Liebe; die Handlung („Frucht") gründet also im Bewegungs- oder Wachstumsdrang der Liebe, in dem Prozeß ihrer Selbstentfaltung und Selbstdarstellung; die Handlung gründet in der Selbstbestimmung des Unbestimmten 4 . Was dies handlungstheoretisch bedeutet, macht die 3

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Gerdes übersetzt „Trang" mit „Bedürfnis"; doch diese Übersetzung trägt subjektivistische Konnotationen, die dem ausdrücklichen Naturalismus dieser Stelle und der ganzen Rede nicht entsprechen (vgl. die folgende Anm.). In PB, 22 wird die Liebe aristotelisch als Selbstbewegung und unbewegte Bewegerin beschrieben, die die Befriedigung ihres Dranges „in sich" selbst findet. Die sprachliche Gestalt der Rede ist durch stark naturalistische Züge geprägt: Metaphern und Vergleiche aus dem Bereich des Vegetativen und der anorganischen Natur bestimmen die Semantik. Dieser Naturalismus freilich hat nicht nur bildhafte Funktion, sondern muß in seiner sachlichen Bedeutung gesehen werden: Liebe wird damit 1) (auch) als ein Naturphänomen, und d.h. ohne eine prinzipielle Trennung von Natur und Freiheit, und 2) in einem konstitutiven Bezug zur Schöpfungstheologie bestimmt. Methodisch bedeutet das: Ein Begriff wie „Drang" mit seinen

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Rede mit einer Gegenüberstellung deutlich: Den „Früchten" werden die „Blätter" gegenübergestellt, und gemeint ist damit das „Wort" (14f./17). „Blätter" gehören ebenso wie die „Früchte" zur phänomenalen Wirklichkeit („Kenntlichkeit") der Liebe, doch mit einem wesentlichen Unterschied: Das Wort wird als eine zweiseitige teleologische Handlungsbeziehung geschildert, in welcher der oder die Geliebte als der Gegenstand des Liebens die sprachliche Äußerung des Liebenden im Sinne der causa finalis bewirkt; diese Beziehung aber unterliegt einer grundsätzlichen Ambivalenz: Das „Eigene" der Liebe läßt sich in der Sprache nicht eindeutig feststellen oder ausdrücken, Betrug oder Heuchelei sind noch möglich 5 . Diese Ambivalenz gilt genauso für die „*Tat [Gjerning]" (16/19)6. Das bedeutet aber: die zweiseitige Handlungsbeziehung ist nicht ausreichend zur Beschreibung des Phänomens Liebe; die angemessene Beschreibung bedarf noch einer weiteren Größe: „soll sie [sc. die Liebe] wirklich Frucht bringen und also an der Frucht kenntlich sein, dann muß sie zuerst Herz bilden [f0rst saette Hjertet]. Denn freilich geht die Liebe vom Herzen aus, aber laßt uns darüber nicht allzu rasch dieses Ewige vergessen, daß die Liebe das Herz bildet" (15/18). Die bestimmte, endliche Handlungsbeziehung zweier Akteure, um die es als Phänomen stets geht, wird hier durch die Liebe als ein Drittes bestimmt. Die zweistellige Relation wird zu einer dreistelligen Relation; die Liebe erscheint als etwas selbständig Drittes neben den Relaten der Handlung (Liebende - Geliebter). Die kategoriale Selb-

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Wachstumskonnotationen kann in dieser Rede nicht als bloß bildhafter Ausdruck für einen prinzipiell anderen (nämlich durch Freiheit bestimmten) Sachverhalt des moralischen Lebens verstanden werden; vielmehr macht dieser Begriff überhaupt erst Sinn, wenn er in seiner scheinbar naiven Deskriptivität ernstgenommen und gelten gelassen wird. Der Unterschied wird auch terminologisch am Bewegungsbegriff deutlich: Wird die Liebe als Selbst-"Bewegung" („i sig selv Bevaegelse", 13/16) beschrieben, so ist auf der Ebene der rein zweistelligen Beziehung die Handlung durch eine (passive) „Bewegtheit [Bevcegethed]" bestimmt, in welcher der eine dem anderen „gehört" (15/17). Hier zeigt sich eine wichtige Eigenart der Argumentationsweise Kierkegaards. Zunächst scheint er mit dem Verweis auf 1. Joh 3,18 einen strikten Gegensatz von Handeln und Sprechen aufzustellen (s. 14/17); dies wäre dann etwa im Sinne der Trennung von diskursivem Denken und tatsächlichem Handeln in AUN2, 42ff. zu verstehen. Doch nun, einige Seiten später, stellt er dieselbe Ambivalenz für Handlung und Sprache fest und nimmt damit die zuerst aufgerufene kategoriale Differenz zurück. Handlung und Sprache scheinen für Kierkegaards Denken enger miteinander verbunden zu sein, als er auf der Textoberfläche zugibt! Dieser Eindruck wird sich im Fortgang der Lektüre verstärken.

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ständigkeit der Liebe besteht darin, daß sie nicht als ein anthropologisches Vermögen oder als eine immanente Beziehungsstruktur aufgefaßt, d.h. nicht von einem der anderen beiden Relate abgeleitet werden kann. Diesen gegenüber ist sie etwas Drittes, Anderes oder auch etwas Erstes, Ursprüngliches: „dieses Ewige". Die Charakterisierung als Drittes oder Erstes im Unterschied zu den zwei Relaten ist zunächst einmal eine einfache Strukturbeschreibung, jedoch mit erheblichen inhaltlichen Konsequenzen. Die erste wesentliche Konsequenz klingt bereits im Zitat selbst an: Der Erstheitscharakter 7 der Liebe besteht darin, daß sie die anderen Elemente und Relate der Handlung ursprünglich bestimmt, indem sie „das Herz bildet". Als Erstes und selbst Unbestimmtes bestimmt sie die Struktur der Handlung und initiiert ihre Bewegung. Diese kategoriale Erstheit der Liebe ist die Verborgenheit jener unzugänglichen „Stätte", jenes „Ursprung(s)" und „Quellgrund(s)", von dem die Liebe „ausgeht" (11/14). Zu der zweistelligen Relation einer Liebesbeziehung muß die Liebe selbst als ursprüngliches Erstes erst noch hinzugedacht werden. Die kategoriale Selbständigkeit der Liebe wird ausgelegt im Wortspiel von „Liebestaten [Kjerlighedensgjerninger]" und „Taten der Liebe [Kjerlighedens Gjerninger]" (16/19): Die Liebe ist nicht ein Attribut, das bestimmte Handlungsformen näher beschreibt; sondern sie ist selbst das Subjekt der Handlung 8 . In diesem Zusammenhang ist auch die personifizierende Redeweise zu sehen: Wird in der Rede die Liebe in quasi-mythologischer Sprache immer wieder als personifi7

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Der hier gebrauchten Begriff der „Erstheit" und „Drittheit" sind der Kategorienlehre von C.S. Peirce entnommen. Es ist die fundamentale Einfachheit dieser Terminologie von Erstheit, Zweitheit und Drittheit, die sie empfiehlt und die m.E. auch die Lektüre von TL aufklärt. Mit Hilfe dieser Teminologie kann gezeigt werden, wie Kierkegaard immer wieder die Verhältnisse zwischen seinen Protagonisten, nämlich zwischen Subjekt, Ko-Subjekt und der „Liebe" durch strukturelle oder relationale Differenzierungen klärt. Die Liebe selbst wird dabei in unterschiedlichen Hinsichten dargestellt, nämlich sowohl als transzendenter Grund (Erstheit) als auch als beschreibbare Handlungsform (Drittheit), in den Worten der Rede gesprochen: die Liebe ist beides, „verborgenes Leben" und „Frucht". Diese perspektivische oder kategoriale Differenz ist für das Verständnis der Texte von großer Bedeutung. Zu einer Anwendung der Peirce'schen Kategorien auf Kierkegaards Existenzbegriff vgl. H. Deuser, Kierkegaard, 142£; unter Bezug auf TL: ders., Wirkliche Ethik, 120ff.; R. Bernstein, Praxis, 181f. parallelisiert Kierkegaards Begriff der unhintergehbaren Faktizität relationaler Existenz mit Peirce' Kategorie der Zweitheit („Secondness"). S. o. Anm. 1! Vgl. Pap. II A 418/77, 194: „Folgendes ist recht bemerkenswert: Alle anderen Bestimmungen, die von Gott ausgesagt werden, sind Adjektive,,Liebe' allein ist Substantiv."

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ziertes Handlungssubjekt exponiert, so ist damit doch die Liebe nicht als eine mythische Persönlichkeit, sondern eben als eine selbständige, d.h. von den handelnden Akteuren zu unterscheidende Beschreibungskategorie der Handlung behauptet. 3. Doch was bedeutet diese kategoriale Selbständigkeit nun für das Handlungsphänomen? Anders gefragt: Welche Form nimmt jener ursprüngliche, erste Grund auf der Ebene endlich-leiblicher Wirklichkeit an? Wie sehen die „Früchte" inmitten der „Blätter" aus? Um eine Antwort zu finden, kehren wir zurück zu dem ambivalenten Charakter leiblichen Handelns: „Es gibt keine *Tat, nicht eine einzige, nicht die beste, von der wir unbedingt sagen dürfen: wer diese tut, der beweist unbedingt Liebe dadurch. Es kommt darauf an, auf welche Weise man die Tat tut [hvorledes Gjerningen gj0res]" (16/19). Gerade bestimmtes Handeln ist immer zweideutig, unpräzise in Hinsicht auf die Erkennbarkeit der Liebe. Liebe wird erst in der Modalität einer gewissen Unbestimmtheit erkennbar. Aber ist das nicht ein Widerspruch? Und scheint denn nun dieses „Wie" bzw. „auf welche Weise" der Handlung nicht doch den Gedanken nahezulegen, Kierkegaard betone damit den Gesinnungscharakter des Handelnden, analog zu Kants Lehre vom guten Willen, der allein als gut gelten darf? 9 Doch dieser Schluß trifft nicht zu. Denn zum einen widerspräche er der angesprochenen kategorialen Eigenheit der Liebe als eines Ersten: die Liebe wäre damit auf eine Bewußtseinsform eines der Handelnden reduziert 10 . Zum anderen legt die Rede selbst diese Bestimmung völlig anders aus. Es geht ihr nicht um die Differenz von „reiner" Willensform und je konkreten Inhalten des Handelns. Das „auf welche Weise" ist vielmehr eine Auslegung der ursprünglichen Erstheit der Liebe. Diese drückt sich auf der Ebene der phänomenalen Wirklichkeit als ein „Können [kunne]" aus, und zwar in doppelter Hinsicht:

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S. I. Kant, Werke VII, 18ff. In diesem Sinne als Formalismus einer Gesinnungsethik interpretiert F. Hauschildt, Ethik, 167 die Stelle; dieselbe Tendenz hat die ausführlichere Analyse des Kierkegaardschen „Wie" bei A. Htigli, Erkenntnis, 158-171: „Kierkegaards Ethik kann, da es ihr nur um das Wie und nicht um das Was des Ethischen geht, im eigentlichen Sinn des Wortes als formal bezeichnet werden" (ebd. 166). Natürlich ist der „gute Wille" bei Kant nicht im Sinne eines empirischen, psychischen Bewußtseinsphänomens gemeint. Doch in einer ,kantianischen' Interpretation Kierkegaards wird der Formalismus des Wie nicht mehr transzendentalphilosophisch gedacht (vgl. die beiden in Anm. 9 genannten Autoren).

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a) Methodisch in Hinsicht auf die Weise, in welcher der Gegenstand der Rede von den Handlungssubjekten selbst erfahren wird: „sie [sc. die Worte der Schrift] sind vielmehr mahnend zu dem einzelnen gesagt, zu dir, mein Zuhörer, und zu mir, um ihn zu ermuntern, daß er seine Liebe nicht unfruchtbar bleiben lasse, sondern arbeite, auf daß sie an der Früchten erkannt werden könne, gleichviel ob diese nun auch von anderen erkannt werden oder nicht" (17/19). Dieses Können ist hier eine Möglichkeit, genauer: eine Möglichkeit im Raum der Kommunikation. Die Stellung der durch Liebe bestimmten Handlung in dem leibbestimmten Raum, in dem Handelnde sich gegenseitig durch ihre Handlungen und Äußerungen mitteilen und verstehen, ist durch diejenige Unbestimmtheit geprägt, die der Liebe als bestimmendem Grund entspricht. Die Möglichkeit des Erkannt- und damit auch Gebrauchtwerdens gehört wesentlich zur Struktur der wirklich-phänomenalen Handlung der Liebe dazu, ohne doch aus der prinzipiell zweideutigen Wirklichkeit der zweistelligen Beziehungen abgeleitet werden zu können. Denn diese Zweideutigkeit der Handlungswirklichkeit wird sogar in bezug auf das „Wie" festgehalten; das „Wie" der Handlung als die Form des unzweideutigen Ausdrucks der Liebe muß selbst im Modus des Uneindeutigen verbleiben (s. 17/19). Deshalb ist es als die Möglichkeit des Erkennbarwerdens gedacht. b) Handlungstheoretisch hinsichtlich der konkreten Kreativität des Handelns: „Vergiß nicht: es wäre ja eine schöne, eine edle, eine heilige Frucht, an der die Liebe in dir kenntlich würde, wofern du in Bezug auf einen anderen Menschen, dessen Liebe vielleicht geringere Frucht trüge, liebevoll genug wärest, sie schöner zu sehen als sie wäre. Kann das Mißtrauen etwas wirklich geringer sehen als es ist, so kann auch Liebe etwas größer sehen als es ist" (19/21). Das „Wie" des Handelns besteht nicht in einer Gesinnung, sondern in einem Können: in der konkreten Gestaltung eines Handlungsverhältnisses, das als eine besondere Form des Sehens (nämlich des Sehens des Glaubens) ebenfalls nicht aus der zweistelligen Relation ableitbar ist11. Das „Wie" ist hier ein Sehen, d.h. eine bestimmte Weise, in wel11

Daß Kierkegaard das Wie des Handelns auch in einem allgemein-kategorialen Sinn verstehen kann, zeigt eine Stelle, in der er das Fehlen der Liebe an negativen (emotionalen) Handlungsbestimmungen festmacht: „[...] so wirst du die Liebe an den Früchten erkennen: an der Bitterkeit des Spotts, an der Schärfe der Verständigkeit, an dem giftigen Geist des Mißtrauens, an der beißenden Kälte der Verstokkung, das heißt, es wird an den Früchten kenntlich sein, daß keine Liebe darin ist" (9/13). Und auch dies ist nicht eine Beschreibung von Gesinnungen oder Maximen, sondern vielmehr von bestimmten affektiven Äußerungsformen!

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1. Kapitel: Die Kreativität des Handelns

eher der andere verstanden wird. Das nicht ableitbare „Wie" des Handelns ist seine schöpferische Gestaltungskraft, in welcher der Geliebte schöner wird, als er ohne sie war. Das „Wie" ist eine bestimmte Form, in der sich die intersubjektive Beziehung leiblich gestaltet, die aber nicht aus dieser Beziehung selbst abgeleitet werden kann, sondern in einem Anderen, Ersten gründet. Die kategoriale Selbständigkeit der Liebe als ursprünglicher Erstheit wird dergestalt mit dem „Wie" des Handelns verbunden, daß sie innerhalb der zweistelligen, relationalen Wirklichkeit angemessen ausgelegt werden kann, nämlich als Möglichkeit und Kreativität des Handelns. Der Ort, an dem sie in dieser Weise aussagbar wird, ist die Selbsterfahrung der Handelnden. Bevor wir auf die Konsequenzen für Methode und Kommunikationsstruktur zu sprechen kommen, soll das Ergebnis für den Handlungsbegriff festgehalten werden: Das verborgene Leben des Handelns der Liebe wird ontologisch als ein unbestimmtes Bestimmendes (Erstes), strukturanalytisch als selbständig Anderes und schließlich handlungstheoretisch als kreative Erfahrung von Möglichkeit (Drittes) innerhalb der zweistellig bestimmten Wirklichkeit identifiziert12. Der Zusammenhang dieser Bestimmungen ist deutlich: Als Erstes ist dieses Leben der bestimmten, relationalen Welt gegenüber transzendent und damit zugleich unbestimmt, in der Bewegung des Bestimmens aber, in der es in der Welt phänomenale (und d.h. relationale) Gestalt annimmt, ist es als Unbestimmtes wiederum immanent, nämlich als kreative Eröffnung des Möglichen im Medium des bestimmten Handelns 13 . Dieser Zusammenhang sichert 12

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Zur Bedeutung des Begriff des Lebens als handlungstheoretischer „Metapher für Kreativität" vgl. H. Joas, Kreativität, 172ff. (mit Bezug auf Schopenhauer und die Lebensphilosophie). Mit der hier ins Spiel gebrachten schöpfungstheologischen Interpretation des ontologischen Zusammenhangs von Unbestimmtheit und Bestimmtheit bediene ich mich einiger Ansätze von R. Neville in God the Creator. Dieses Buch ist ein philosophisches Argument für die transzendente und immanente Wirklichkeit des Schöpfergottes im Anschluß an die ontologische Frage nach dem „being-itself". Stark vereinfacht lautet Nevilles Argument folgendermaßen: 1) Alles Seiende ist bestimmtes Seiendes, nämlich als eine kontingente „de facto unity", in der gegenseitige Bestimmung erst möglich wird (ebd. 55ff. passim); 2) dieses bestimmte Seiende kann allein durch ein Unbestimmtes, nämlich das Sein-selbst, zu einer bestimmenden Einheit zusammengebracht werden, und dieses Unbestimmte muß als transzendent gedacht werden (ebd. 69 passim); 3) das unbestimmte Sein-selbst muß als „creator" und das Schaffen der Bestimmungen des Seienden als „creation", und zwar „ex nihilo", verstanden werden (ebd. 64-81); 4) im schöpferischen Akt ist das Sein-selbst zugleich im Bestimmten gegenwärtig („present"), und zwar als schöpferische „power" und „harmony" (ebd. llOff.). Diese Argumentation kann

1. Kapitel: Die Kreativität des Handelns

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begrifflich den Zusammenhang von „verborgenem Leben" und „Früchten" der Liebe, indem er die dialektische Untrennbarkeit und Gleichursprünglichkeit beider Seiten aufzeigt: So wie die unbestimmte Transzendenz der Liebe als „Drang" und „Hingabe" und damit als mit der Phänomenwelt untrennbar verbundene, auf sie hindrängende Kraft zu beschreiben ist, so setzt die handelnde Kreativität eben die transzendente Unbestimmtheit des „Drangs" voraus. Wendet man diese Dialektik auf die Gegenstandsbestimmung von TL an, auf die Liebe als Handlungsphänomen (s.o.), so ergibt sich: Um die Liebe in ihrer leiblichen Äußerlichkeit zu verstehen, muß man umso deutlicher auf den transzendenten Grund zurückgehen, dies aber immer in Hinsicht auf das Handlungsphänomen, in dem sich die Erstheit der Liebe in Formen kreativer Drittheit ausdrückt. Oder anders: Das ,Äußere' des Handelns wird gerade dadurch zum Gegenstand der Erwägung, daß das ,Innere' verstanden wird. Die Dialektik der gegenseitigen Voraussetzung beider Dimensionen verhindert bereits hier ein einseitiges Erklärungsmodell der Handlungserklärung, in dem die Handlung etwa kausal durch eine von der Handlung unterschiedene .innere' Ursache begründet wäre. Sofern es sich um Handlungen der Liebe handelt, gilt: die Liebe ist beides, Grund (Erstheit) und Phänomen (Können). Gleichwohl sind damit noch nicht alle Fragen hinsichtlich der Erklärung von Handlungen auch nur annähernd beantwortet. Denn auch das scheint doch wohl zum Drittheitscharakter der Liebe zu gehören, daß sie nicht an die Stelle eines der anderen Elemente treten und etwa in supranaturalistischer Weise das Bewußtsein des Handelnden einfach ersetzen könnte. Die Frage der Handlungserklärung muß an späterer Stelle beantwortet werden, wenn die Darstellung in die Konkretion der Handlungssituation eingestiegen ist; in dieser ersten Rede wird lediglich der kategoriale Rahmen abgesteckt. 4. Wir haben bereits bemerkt, daß die Frage der Methodik mit dieser sachlichen Bestimmung eng zusammenhängt. Die Selbsterfahrung der Handelnden gehört wesentlich mit zur Phänomenalität („Kenntlichkeit") der erfragten Handlung dazu. Diese Dimension der individuellen Lebenspraxis und ihr eschatologischer Ernst (vgl. 8/12) stand ja bereits am Anfang der Erwägung (s.o.) Darin deutet sich eine bestimmte Struktur der Kommunikation zwischen Autor und Leser an: als bestimmungstheoretische Erläuterung des Sachverhaltes dienen, den Kierkegaard als das Verhältnis von „Frucht" und „verborgenem Leben" beschreibt.

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1. Kapitel: Die Kreativität des Handelns

Das Buch will keine direkte ethische Anrede an die Hörer sein, denn die Zweideutigkeit der Handlungswirklichkeit läßt ja keine eindeutigen Kennzeichen der Liebe zu, nicht einmal ein eindeutiges „Wie" der Liebe. Zwar wird das gesuchte Phänomen subjektiv sichtbar in einer Erfahrung des Sollens, diese aber wird als unvertretbare Selbstbezogenheit gedacht: „Im Evangelium steht ja auch nicht, wie die kluge Rede lauten würde: ,*Du oder man soll den Baum an den Früchten erkennen', sondern dort steht: ,Der Baum soll an den Früchten erkannt werden', das heißt verdolmetscht: du, der du diese Worte des Evangeliums liesest, du bist der Baum" (17/20). Der Ort, an dem die Liebe in ihrer phänomenalen Zeichenhaftigkeit („Kenntlichkeit") gefunden und beschrieben werden kann, ist die Selbsterfahrung eines Subjekts, das sich selbst als zum Gebrauchen dieses Zeichens aufgefordert findet. Diese Aufforderung kann nicht durch das Buch vorgebracht werden. Anders gesagt: Die Kenntlichkeit der Liebe kann nicht in der Form eines direkt kommunizierbaren Wissens erhoben werden, etwa in Form einer Theorie, die es erlaubt, in formaler oder materialer Weise die Handlungen der Liebe exakt zu bestimmen und von anderen Handlungen zu unterscheiden. Fragt die Erwägung nach der Kenntlichkeit der Handlung der Liebe, so kann sie vielmehr allein vom Können sprechen, bringt aber gerade damit den schöpferischunbestimmten Charakter der Liebe zur Geltung. Für die Frage nach dem Handlungsphänomen gilt: Das Phänomen der Liebe ist in der Form seiner Erfahrung zu artikulieren, d.h. als die Erfahrung des Könnens als Möglichkeit: Der Einzelne „soll ja nicht dafür arbeiten, daß die Liebe an den Früchten erkannt wird, sondern dafür, daß sie an den Früchten erkannt werden kann" (17/19f.). Dies bedeutet eine methodische und ontologische Priorität des Könnens vor dem Wissen (in Form eines bestimmten Sollens), oder anders gesagt: es bedeutet den methodischen Ausgang beim leiblich-äußerlichen Handeln („Früchte") als der phänomenalen Form dieses Könnens 14 . Das leibli14

Das Verhältnis von Können und Wissen steht im Mittelpunkt der parallel zu TL entstandenen Vorlesungsentwürfe zur „Dialektik der ethisch-religiösen Mitteilung", Pap. VIII 2 Β 79-89/72, 111-127. So wird dort die ethische Mitteilung als „Kunst", im Unterschied zur „Wissenschaft", bestimmt, denn: „Die Mitteilung bedeutet hier: das Ethische aus dem Individuum herauszulocken, denn es ist im Individuum" (81,5); „Das Ethische muß als Kunst mitgeteilt werden, gerade weil jeder es weiß [...] Der Gegenstand der Mitteilung ist also nicht ein Wissen, sondern eine Realisation" (81,13). Zur Interpretation vgl. H. Fahrenbach, Ethik, 177ff.; G. Schultzky, Wahrnehmung, 120ff.;G. Pattison, The Aesthetic, 73ff.

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che Handeln der Liebe in der Gestalt kreativ-unbestimmten Könnens ist insofern der Gegenstand der Erwägung, als in ihm die schöpferische Dimension der Liebe aufgezeigt werden kann. Auf dieses schöpferische Können kann der Leser angesprochen werden, indem es ihm aufgedeckt und entschlüsselt wird15. Solche phänomenologische Erschließung zielt auf ein Wissen in der Perspektive der ersten Person, im Unterschied zu einer Theorie des objektiven Wissens und Bestimmens der Liebeshandlungen in der Perspektive der dritten Person. Insofern ist das Vorgehen von TL nicht normativ, sondern „beschreibend" (s. 5/9). Dabei ist das zu beschreibende Phänomen „wesentlich unerschöpflich" und damit auch „wesentlich unbeschreibbar" (ebd.), insofern es sich eben um den schöpferischen Grund des Daseins handelt 16 . Dennoch ist allein die phänomenale Beschreibung mit ihrer Dialektik von Sehen und Glauben (s.o.) dem Gegenstand und seiner Kommunikationsform angemessen. Die zu beschreibenden Phänomene sind dabei selbst immer schon Phänomene des (dritthaften) Gebrauchs der Zeichen der Liebe, eben Formen des kreativen Könnens.

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Dieser methodische Ansatz bedeutet in gewisser Weise eine Umkehrung des Kantischen Grundsatzes, daß das unbedingte Sollen auch das Können impliziere (s. I. Kant, Werke VII, 140). Für TL müßte man eher formulieren: Du sollst, weil du kannst. Das Buch will die allgemeine Erfahrung des unbedingten Sollens beschreiben und einschärfen, indem es als dessen Grund ein Können erschließt. Den maieutischen Aspekt in der Methode von TL betont P. Müller, Kristendom (z.B. 17£, mit Bezug auf das Eingangsgebet und die erste Rede). Dem Ansatz beim Können entspricht die im Untertitel des Buches genannte literarische Form, genauer gesagt: die Zuordnung von „Erwägung" [Overveielse] und Redenform [„Talers Form"], vgl. dazu Pap. Vili A 293/72, 163f.: Hier wird die „Erwägung" als aufweckende und polemische, mit Ironie und Humor arbeitende Redeform beschrieben. Die in ihr entwickelten Begriffe sollen sich nicht, wie in der erbaulichen Rede, in ein unmittelbares Einverständnis mit dem Leser setzen und ihn dort ,abholen'. Vielmehr ist die „Erwägung" eine Begriffsentwicklung, bei der Leser und Leserinnen weite Wegen gehen und gewohnte Gewißheiten aufgeben müssen: die Erwägung muß „sie erst einmal aus dem Kellerloch hervorholen, sie aufwecken, in ihrem gemächlichen Gedankengang mit der Dialektik der Wahrheit das Unterste zuoberst kehren." Insofern ist TL eine polemische, „aufweckende" und an das dialektische Denken gerichtete Schrift, die in den Streit um die Wahrheit eingreift. Gleichwohl beginnt sie nicht voraussetzungslos, sondern setzt im Stil der erbaulichen Reden mit religiösen Begriffen wie Gott und Schöpfung ein und ist als Rede über biblische Texte gestaltet. Diese Mischung der Formen, die bis 1846 noch sauber getrennt gewesen waren, wird von nun an bestimmend fUr Kierkegaards literarische Produktion (so etwa in KT und EC), vgl. H. Deuser, Kierkegaard, 155ff. Zur religiösen Bedeutung des existenziellen „Erwägens" vgl. ERG, 320ff. Der paradoxe Charakter des Beschreibens der Liebestaten wird noch stärker herausgehoben in einem früheren Entwurf zu einem Vorwort, s. Pap. Vili A 173.

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1. Kapitel: Die Kreativität des Handelns

Ich möchte dieses Vorgehen des Buches, so wie es sich in der ersten Rede zu erkennen gibt, vorläufig als eine Phänomenologie des schöpferischen Handelns der Liebe bezeichnen. Dieses Vorgehen ist phänomenologisch auch darin, daß es ihm nicht um die Genese eines hinter den Phänomenen liegenden Bewußtseins oder Grundes geht, sondern um die Beschreibung der schöpferischen Geschichte dieses „Grundes" im leiblichen Zusammenhang der Phänomenwelt 17 . Die kommunikative Absicht in Hinblick auf den Leser ist es, in dieser Beschreibung dem Leser bei seinem eigenen Gebrauch der Phänomene zu helfen, so daß dieser sich nicht um sein Lebensziel, die Liebe, selbst betrügt. Der methodische Ansatz dieser Form von Handlungstheorie und Handlungswissen ist das, was man eine Auffassung des Handelns als „embodied agency" (C. Taylor) nennen kann. So ermöglicht es die genannte Aufgabenbeschreibung, die Mehrdeutigkeit des Titels der Schrift aufzunehmen und zugleich terminologisch zu klären: Es handelt sich um die Beschreibung der Werke oder Taten der göttlichen Liebe, ihrer Zeichen oder „Früchte"; doch diese Werke Gottes haben stets die Form von menschlichen Handlungen18. 7X7,1 ist der Einstieg in diese Phänomenologie19. So können wir sehen, wie TL mit der ersten Rede das äußerlich-leibliche Handeln zum Ausgangspunkt und Gegenstand der Erwägungen macht, indem es nach der schöpferischen Wirklichkeit des spezifischen Handelns der Liebe fragt. Im Bereich der zweistellig-relationalen Phänomene werden die drittheitlich-kreativen Erscheinungsformen der ursprünglich-ersten Liebe aufgesucht. Dabei handelt es sich nicht um eine allgemeine handlungstheoretische Fragestellung, son17

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Vgl. 12/15: „Das verborgene Leben der Liebe wohnt im Innersten, unergründlich [uudgrundeligt], und dann wieder in einem unergründlichen Zusammenhang mit dem ganzen Dasein." Dieses Schwanken des Titels zwischen göttlichen Schöpfungswerken und menschlichen Handlungen legt eine Übersetzung von „Gjerninger" mit „Taten" nahe, da dieser Terminus auf beide Aspekte angewandt werden kann. Der Begriff der Phänomenologie ist in jüngster Zeit v.a. unter Bezug auf die Verzweiflungsanalyse in KT auf Kierkegaard angewandt worden, vgl. M. Theunissen, Verzweiflung, 149f.; A. Gr0n, Subjektivitet, 35ff. Beide Interpretationen entwickeln Kierkegaards phänomenologische Darstellungsform vom dialektischen Phänomenologiebegriff Hegels aus, also als Darstellung der erscheinenden Formen eines Bewußtseins. Ob dieser bewußtseinstheoretische Ansatz mit dem hier behaupteten Phänomenologiemodell vereinbar ist, kann erst im weiteren Verlauf der Arbeit geklärt werden.

1. Kapitel: Die Kreativität des Handelns

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dem eben um die Frage nach dem besonderen Handeln der Liebe, oder: nach dem Handeln von Menschen als dem Werk der Liebe20. Der methodische Ansatz beim leiblichen Handeln gründet in einem ersten Verständnis der Liebe als konkreter Kreativität. Damit sind freilich erst die Weichen für das Folgende gestellt. Alle Behauptungen der ersten Rede müssen erst noch begründet und präzisiert werden: Wie ist die konkrete Wirklichkeit der Kreativität im Handeln zu beschreiben? Wie kann dieses theologische Modell der Liebe mit der Beschreibung der Liebe als menschlichem Verhalten zusammengebracht werden? Welche Rolle ist dabei insbesondere dem subjektivem Bewußtsein zuzuschreiben? Und wie ist das Verhältnis von „Früchten" und „verborgenem Leben", von Handlung und Handlungsgrund, von zweistelliger Handlungsrelation und der Liebe als erster und dritter Kategorie begrifflich zu bestimmen? Mit diesen Fragen ist das Problem des Aufbaus von TL angeschnitten. Ohne dem materialen Gedankengang der folgenden Reden vorgreifen zu können, müssen wir doch eine vorläufige Antwort auf die Frage entwerfen, in welchem Verhältnis die beiden Teile („Folgen") von TL zueinander stehen. Wenden wir die in der Lektüre der ersten Rede gewonnenen Kategorien an, so läßt sich die Zweiteilung folgendermaßen beschreiben: Die Kreativität des Handelns der Liebe wird im ersten Teil durch die Phänomenologie des Sollens (nämlich der Pflicht) ausgelegt, während der zweite Teil diese Kreativität in der Phänomenologie des Könnens entdeckt. Dies scheint ein Widerspruch zu der oben behaupteten Priorität des Könnens vor dem Sollen zu sein. Doch wird dieser Widerspruch hinfällig, wenn gezeigt werden kann, daß auch die Analyse des Sollens die Phänomenalität der Liebe voraussetzt oder gar selbst ist, d.h. wenn das Sollen selbst als ein Phänomen, eine Form der Selbstdarstellung der Liebe verstanden werden kann. Können und Sollen sind gleichermaßen drittheitlichkreative Äußerungsformen der ursprünglich-ersten Liebe innerhalb der Welt zweistelliger Relationen, sie sind gleichermaßen leibliche Formen des Könnens der göttlichen Liebe. Diese Orientierung an der Unterscheidung von subjektivem Können und Sollen als zwei Formen eines ursprünglichen Könnens nimmt zudem eine von Kierkegaard selbst vorgeschlagene, aber nicht systematisch ausgebaute Ter-

20

Der handlungstheoretische Status der Liebe wird im übrigen nur selten theoretisch bedacht. Für M. Riedel, Handlungstheorie etwa ist Liebe überhaupt keine Handlung und damit auch kein Gegenstand der Handlungstheorie (159, Anm. 24).

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1. Kapitel: Die Kreativität des Handelns

minologie auf: „Die ethische Mitteilung ist die Mitteilung eines Könnens, doch genauer: Sollen-Können, aber die Mitteilung geschieht nicht in Richtung eines Wissens, sondern eines Könnens." 21 Der Argumentationsgang dieser Arbeit wird im folgenden dem so beschriebenen Aufbau von TL folgen.

21

Pap. VIII 2 Β 89 (S. 189). Zum kompositorischen Verhältnis der beiden Folgen von TL vgl. vorläufig P. Müller, Kristendom, 43ff.; G. Fend, Works, 27; B. Kirmmse, Golden Age, 312; G. Malantschuk, Individ, 151.

2. Kapitel:

Das Sollen I. Handlung und Normativität: Das Gebot der Liebe 1. Das Liebesgebot als Artikulation der

Handlungsbeziehung

Die drei Reden über das biblische Liebesgebot (II A.-C.) stehen bei vielen Auslegern im Zentrum ihrer Interpretation von TL1. Dies dürfte damit zusammenhängen, daß der Autor hier mit dem Pflichtbegriff eine große moralphilosophische Tradition aufzurufen scheint, nämlich die Moralphilosophie Kants. Ob diese Reden tatsächlich zu einer kantischen Interpretation des Buches einladen, muß die Analyse allerdings erst noch zeigen. Dabei ist im übrigen schon aus methodischen Gründen Vorsicht geboten. Denn schließlich stehen diese Reden erst am Anfang des Buches, so daß nicht ungefragt davon auszugehen ist, das man hier bereits alle wesentlichen Begriffsbestimmungen vorfinden kann. Wie bereits die Überschrift optisch klar macht, geht es in II A. um das „Sollen" des Liebesgebots. Doch die Bestimmung des Sollens kann nicht voraussetzunglos anfangen 2 . Vielmehr muß sie mit einer Voraussetzung beginnen: mit der „Voraussetzung" der Selbstliebe (21/23). Selbstliebe bedeutet zunächst Beziehungslosigkeit: „daß jeder sich selbst der Nächste ist'" (ebd.). Für das Liebesgebot bedeutet dies umgekehrt, daß im Gegenzug zu dieser Voraussetzung seine entscheidende Leistung darin liegt, die Beziehung zum Anderen zu eröffnen; 1

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S. A. Hannay, Kierkegaard, 241ff.; F. Hauschildt, Ethik, 153ff., bes. 166-168; J. Elrod, Christendom, Kap. 3-4; B. Kirmmse, Golden Age, 308f£; P. Quinn, Christian Ethics. Der Hinweis auf die Voraussetzung ist ein .Urmotiv' in Kierkegaards Werk. So ist etwa für Entweder-Oder die Selbstvoraussetzung der Liebe (vgl. E02, 45), für Der Begriff Angst die Voraussetzung der Sünde wesentlich; Climacus bringt dies ontologisch auf den Punkt, wenn er das „faktische Sein" zum Ausgangspunkt jeder Ontologie erklärt, s. PB, 37ff.; vgl. auch die wissenschaftstheoretische Problematisierung des „Anfangs" (AUNl, 104ff.).

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2. Kapitel: Das Sollen

dies aber geschieht gerade mit Hilfe der vorauszusetzenden, unhintergehbaren Selbstbezogenheit („wie dich selbst"): „soll man aber den Nächsten lieben ,*wie sich selbst', so windet ja das Gebot, wie mit einem Dietrich, den Verschluß der Selbstliebe auf und entwindet sie damit dem Menschen" (ebd.)· Das Gebot wendet die Selbstbezogenheit nach außen und stellt auf diese Weise eine Relation her. In der Relation zu stehen bedeutet dann „Verantwortung" für den Anderen (24/26) und „Verdoppelung deines eigenen Selbst" (25/26). Für die Struktur dieser einleitenden Absätze ist es entscheidend zu sehen, daß sie mit dem dialektischen Begriff der Beziehung („den Nächsten - wie dich selbst") und seiner Funktion einsetzen und erst von hier aus zum Pflichtbegriff als einem geprägten, vom Begriff des Gebotes unterschiedenen philosophischen Terminus gelangen 3 . Die Erkenntnis der Pflicht wird eingeführt als derjenige Vorgang, in dem die Relation, auf die das Gebot zielt und die bereits in gewisser Weise besteht, überhaupt erst gelingt: „indem du deine Pflicht anerkennst, entdeckst du leicht, wer dein Nächster ist [...] Der, gegen den ich die Pflicht habe, ist mein Nächster, und wenn ich meine Pflicht erfülle, zeige ich, daß ich der Nächste bin. Christus redet nämlich nicht vom Kennen des Nächsten, sondern davon, daß man selbst der Nächste wird" (26/27f.)4. Diese erste Annäherung an den Pflichtbegriff fällt durch ihre realistische Terminologie auf. Die Pflicht erscheint hier nicht als ein Re-

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Vgl. die Passage, die den Einleitungsteil der Rede beschließt (28/29). Für die Struktur aller einzelnen Reden in TL fällt die besondere Rolle der jeweils einleitenden Absätze auf: Jede Rede beginnt mit dem in der Überschrift benannten Thema erst, nachdem der Leser dort hingeführt worden ist (solche Einleitungen finden sich in den meisten der nichtpseudonymen Reden Kierkegaards). Als allgemeines Charakteristikum dieser Einleitungen kann man feststellen: Sie geben bereits das Ziel der Rede vor, beschreiben diejenige Realität, welche die Rede erst noch argumentativ entfalten muß, und führen zentrale Begriffe ein. Für die Einleitung von II A. läßt sich nun zweierlei beobachten: Erstens kommen hier, wie sich zeigen wird, alle wesentlichen Begriffe und Thesen aller drei Reden zum Liebesgebot (also II A.-C.) vor; zweitens beginnen II B. und C. als einzige aller Reden ohne Einleitung. Daraus kann geschlossen werden, daß die ersten Seiten von II A. die Einleitung für alle drei Reden abgeben. Die Beobachtungen zum inneren Aufbau von II A.-C. werden diese Vermutung bestätigen. Eine mögliche terminologische Differenz zwischen (autonomer) „Pflicht" und (heteronomem) „Gebot" wird nicht ausgearbeitet. In dieser ersten Rede wird das Liebesgebot durch den philosophischen Begriff der Pflicht ausgelegt, in den beiden folgenden Reden taucht der Pflichtbegriff aber nur noch anfangs auf (51/49); dort herrscht der Gebotsbegriff vor. Zur (umgekehrten) Interpretation des Gebotes von der Pflicht her vgl. I. Kant, Werke VIII, 758 (Fußnote).

I. Handlung und Normativität

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flexionsbegriff, sondern als eine vorgegebene Realität, deren Anerkennung es erst möglich macht, die Position sowohl des anderen als auch die eigene Stellung zu „entdecken" 5 . Was hier als Pflicht bezeichnet wird, scheint ein Vorgang zu sein, durch den die Beziehung zweier Subjekte überhaupt erst in dem Sinne Gestalt annimmt, daß beiden eine bestimmte Position zugewiesen wird. Durch das Anerkennen der eigenen Pflicht werden beide Beteiligte in einen bestimmten Handlungsraum, in ein in bestimmter Weise strukturiertes Verhältnis eingeführt 6 . Die Pflicht wird also in bezug auf die bestimmte Relation verstanden, und die Begegnung mit ihr wird als ein für diese Relation selbst fundamentales Ereignis geschildert. Auch das in der Pflicht angesprochene Subjekt wird ja, ebenso wie der Gegenstand seines Handelns, erst von hier aus bestimmbar: als Nächster und damit zugleich als die gelungene Form der Selbstliebe (27/28). Das bedeutet, daß die Pflicht selbst ein den zwei Relaten gegenüber kategorial Anderes, ein Erstes oder Drittes ist, das nicht auf die Position des Handlungssubjekts reduziert werden kann. Vielmehr ist sie in einer noch zu bestimmenden Weise der Grund der bestimmten Relation von zwei Relaten. Vorläufig können wir nur feststellen: Das Erkennen des Anderen und das eigene Sich-zu-erkennen-Geben scheinen sich gegenseitig so weit zu bedingen, daß beide Seiten unter den Begriff des Nächsten gebracht werden müssen - und eben dies geschieht durch die Pflicht. Die beiden Relate sind also nicht aufeinander reduzierbar, sondern von ihnen kann, als Relate einer „Liebe" genannten Beziehung, sinnvoll immer nur unter Voraussetzung der

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Daß es für TL beim Liebesgebot um die Frage der richtigen Position oder Stellung des Handelnden geht, betont auch P. Müller, Kristendom, 32. Allerdings führt Müller diese Beobachtung nicht weiter zu einer Auslegung der Relation als Handlungsraum, innerhalb dessen überhaupt erst von relativen Positionen gesprochen werden kann. Die Raummetapher zur Beschreibung der Struktur intersubjektiven Handelns wird von Kierkegaard selbst an anderer Stelle idealtypisch herausgestellt: „In der wesentlichen Gekehrtheit nach innen ist die schamhafte Scheu zwischen Mann und Mann, welche rohe Zudringlichkeit verhindert; in dem einträchtigen Verhältnis zur Idee ist die Erhabenheit, welche die Zufälligkeit der Einzelnen wieder vergißt über dem Ganzen. Dergestalt treten die Individuen einander niemals zu nahe in bestialischem Sinne, eben weil sie vereinigt sind in ideeller Fernheit" {LA, 66). Der Raum als Metapher für die intersubjektive Beziehung verweist auf das Grundproblem, das mit der Beziehungsstruktur gegeben sind: Beziehung ist Vermittlung (Nähe) und zugleich bleibende Unterschiedenheit (Distanz) der vermittelten Relate. Wir werden sehen, daß diese Dialektik immer wieder in TL aktuell wird.

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2. Kapitel: Das Sollen

Beziehung selbst gesprochen werden7. Freilich, möglich wird dies erst durch die subjektive Anerkennung der Pflicht. In den Begriffen „anerkennen" und „entdecken" liegt jedoch gerade der Verweis auf eine vorgängige Realität, die das subjektive Bewußtsein der Pflicht erst ermöglicht: die Relation selbst. Wie ist das Verhältnis zwischen der Relation und der Pflicht genauer zu bestimmen? Allgemein kann Pflicht verstanden werden als die unbedingte Gültigkeit einer Handlungsanweisung, der eine entsprechende Handlung erst noch folgen muß. Der Pflichtbegriff impliziert somit die Differenz von Anweisung und Ausführung, von Sollen und Sein, von Bewußtsein und Handlung8. In der Pseudonymen Literatur Kierkegaards wird diese Differenz sehr stark gemacht, wenn sie sündentheologisch als das Scheitern des real Handelnden an der idealen Forderung beschrieben wird9. Doch auch wenn man diesen Graben nicht metaphysisch oder dogmatisch verstärken möchte, so behält doch die Pflicht herkömmlicherweise stets den Status einer Handlungsanweisung, die von der Handlung selbst unterschieden ist. In unserer Rede aus TL dagegen fällt auf, daß diese Differenz in der Darstellung ohne Bedeutung ist. Der garstige Graben zwischen Forderung und Erfüllung scheint hier für den Pflichtbegriff selbst keine Rolle zu spielen. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß die Rede ausschließlich vom „du sollst" handelt, niemals aber von einer daraus erst noch folgenden Handlung. Gleich-

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Der Vergleich mit einer anderen Auslegung des Samariter-Gleichnisses beleuchtet die Fragestellung von TL als Frage nach dem intersubjektiv Umgreifenden einer Relation: In AUN2, 431 erzählt Climacus die Geschichte ausschließlich unter der Perspektive des Samariters, um daran einen Handlungsbegriff zu verdeutlichen, der wesentlich als subjektives Wollen zu verstehen ist. Angesichts der Reflexion auf das Wollen und seine Probleme (Reue!) verschwindet aber der Gegenstand des Handelns (der Überfallene) und das Verhältnis des Handelnden zu diesem völlig. Diese rein subjektive Sichtweise scheint mir in TL überwunden zu sein, wenn das Erkennen der Pflicht dargestellt wird als ein Verstehen der Situation, in der sich der Handelnde gemeinsam mit einem anderen Subjekt befindet. Eine weitere Verwendung der Samaritererzählung findet sich 349f./304f; 357/310Í, s.u. Ihre markanteste begriffliche Form erhält diese Differenz in Kants Pflichtverständnis. Hier spiegelt sich diese Differenz primär in dem Charakter der Nötigung, in dem die Pflicht auf den sinnlich („pathologisch") bestimmten Willen einwirken muß: Pflicht ist eine „Abhängigkeit, unter dem Namen der Verbindlichkeit, welche eine Nötigung [...] zu einer Handlung bedeutet", als ein „innerer, aber intellektueller, Zwang" (I. Kant, Werke VII, 143). Dieser Zwangscharakter, der sich als ein „Sollen" äußert, ist auf den unvermeidlichen Gegensatz zwischen der sittlich-vernünftigen und der empirisch-sinnlichen Verfaßtheit des Subjekts bezogen; zu diesem Gegensatz vgl. den Dritten Abschnitt der Grundlegung. Vgl. BA, 13ff.

I. Handlung und Normativität

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zeitig aber ist in dieser und den beiden folgenden Reden sehr wohl von Handlungen die Rede, nämlich von konkreten Gestaltungen der Relation. Doch diese Handlungen erscheinen als mit der Forderung unmittelbar verbunden, ja als mit ihr identisch. Wie ist das zu verstehen? Macht Kierkegaard aus Gründen der Darstellung die Voraussetzung, nur denjenigen glücklichen Fall beschreiben zu wollen, in dem das Gebotene auch sofort getan wird? Oder läßt sich dieses Vorgehen begrifflich aufklären, ohne zu dieser Zusatzannahme zu greifen? Um auf die begriffliche Argumentation der Rede zu stoßen, muß man m.E. darauf aufmerksam werden, in welcher Weise sie sich an der sprachlichen Form der Forderung orientiert: „du sollst". „Welches Muts bedarf es doch, zum ersten Mal zu sagen ,Du sollst lieben', oder richtiger, welche göttliche Vollmacht, um mit diesem Wort die ""Vorstellungen und Begriffe [Forestillinger og Begreber] des natürlichen Menschen auf den Kopf zu stellen. Denn dort, wo die menschliche Sprache haltmacht und der Mut versagt, dort, an der Grenze, bricht die Offenbarung hervor aus göttlichem Ursprung und verkündigt, was zwar nicht im Sinne des Tiefsinns oder des menschlichen Vergleichs schwierig zu verstehen ist, was aber doch in keines Menschen Herz aufgekommen ist" (29/30). Der Streit um die Pflicht ist also ein Streit zwischen göttlicher und menschlicher Sprache. Die Pflicht ist zunächst einmal eine Sprachform, keine Bewußtseinsform. Es ist ein Streit der Sprachen, in dem es um „Begriffe und Vorstellungen" geht. Es ist nun entscheidend zu sehen, daß solche „Vorstellungen" für TL nicht einfach Worte sind, sondern Praxisbegriffe, d.h. die Begriffe sind nicht bloße Beschreibungen oder Abbilder einer objektiven Wirklichkeit, sondern sie sind selbst Teil einer bestimmten Praxis. Sie sind praktische Begriffe, insofern sie und ihre Verwendung unmittelbar mit der Gestaltung der Relation zweier Handelnder verbunden sind10. Dies wird demonstriert an der Praxis des „natürlichen

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Der Zusammenhang von Sprache und Praxis wird v.a. in Kierkegaards Spätwerk immer wichtiger, insbesondere in Hinblick auf die Kritik an Kirche und christlicher Gesellschaft: die Differenz von Gott bzw. wahrem Christentum und der Welt bzw. der Christenheit wird auch als Differenz und Kampf zweier qualitativ verschiedener Sprachen beschrieben, vgl. u.a. Pap. XI 1 A 19, 568; XI 2 A 37. Kierkegaard spricht dabei bisweilen von der „Gott-Sprache [Gude-Sproget]", s. Pap. XI 2 A 46; XI 1 A 19; X 4 A 589, 624. Auch TL spricht von der „Sprachverschiedenheit der Ewigkeit" bezüglich der Liebe (126/114).

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2. Kapitel: Das Sollen

Menschen"11, d.h. am Selbstverständnis der herrschenden bürgerlichnachromantischen Kultur. Kierkegaard definiert das Liebesverständnis dieser Kultur zunächst als das „des Triebs und der Neigung" (34/34)12, und fährt dann fort: „Deshalb schwören die beiden, sie schwören einander Treue oder Freundschaft" (ebd.). Der Form nach handelt es sich um eine zweistellige Relation („die beiden") und ein dritte Instanz, auf die der Schwur verweist. Dieses Dritte wird von der Liebesbeziehung selbst verlangt („Bedürfnis", ebd.). Diese dritte Instanz nun ist für die unmittelbare Liebe die Liebe selbst, und zwar die Liebe im Sinne der vorfindlichen Gegenseitigkeit der Liebesbeziehung, und der Dichter steht als „Priester" für die transzendente Andersheit dieser Instanz ein (35/35). Der Dichter als Priester an der Position des Dritten, das bedeutet: Der Dichter artikuliert die Bedeutung oder den Sinn der Relation. Die Selbstwidersprüchlichkeit dieses Schwörens liegt nun darin, daß die Relation hier bei sich selbst schwört. Eine dritte Instanz, die der Relation selbst nicht immanent ist, wird dabei gar nicht erreicht, denn was „die beiden" haben und anrufen, ist ja nur die reine Gegenseitigkeit ihrer Beziehung. Der Schwur, der eigentlich auf eine Drittheit zielt, verbleibt beim natürlichen Menschen tatsächlich innerhalb der zweistelligen Relation selbst13. Wenn wir uns hierbei auf die formale Frage konzentrieren, was also TL unter dem Streit der Sprachen versteht, so kann man für die Pflicht jetzt vorläufig festhalten: TL stellt dem romantischen Liebesschwur die Pflicht der Liebe gegenüber als die wahre Form der Artikulation der betreffen11

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Nach J. Elrod, aaO. 91ff. zielt Kierkegaard mit diesem Begriff nicht auf einen metaphysischen oder religiösen Dualismus, sondern bezeichnet damit die gesellschaftliche Praxis des aufkommenden Besitzindividualismus in Dänemark, der sich ideologisch auf eine Verbindung von ökonomischer Freiheit und Naturrecht stützte. Die Differenz von triebhaft-unmittelbarer und durch Pflicht bestimmte Liebe faßt TL terminologisch als die Differenz von „Elskov" und „Kjerlighed". Gerdes versucht dies aufzunehmen, indem er Elskov mit „Minne" übersetzt. Doch ist dies eine im heutigen Deutsch höchst altertümlich wirkende Terminologie, was für das dänische „Elskov" nicht gilt. Daher ist es m.E. angemessener zuzugestehen, daß die Differenzierung im Deutschen nicht nachvollzogen werden kann. Ich werde im folgenden Elskov mit „Erotik" wiedergeben. Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß Kierkegaard diese terminologische Differenz keineswegs immer streng durchhält; so wird z.B. gerade dort, wo die romantisch-unmittelbare Dichterliebe eingeführt wird, durchgängig der Terminus „Kjerlighed" gebraucht (s. 34£/34f.). Vgl. 36/36: „Hingegen bemerkt der Dichter nicht das Mißverständnis, daß die beiden bei ihrer Liebe schwören, einander auf ewig lieben zu wollen, anstatt bei der Ewigkeit einander Liebe zu schwören."

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den Beziehung. Sie ist wahr, insofern sie die Kategorie der Drittheit oder Transzendenz erreicht, die von der erotischen Liebe selbst im Bemühen um Artikulation verlangt wird. Und die Wahrheit dieser Artikulation ist, wie der weitere Verlauf der Rede zeigen wird, eine pragmatische Wahrheit, insofern allein durch sie die Gestaltung der Relation als Liebesbeziehung gelingt. Die Artikulationsform der Pflicht ist ihre bestimmte sprachliche Form: „du sollst lieben". An dieser Stelle scheint es geboten zu sein, den inzwischen eingeführten Begriff der Artikulation zu klären. Ich verwende diesen Begriff, um den ontologischen Status und die Funktion der Pflicht als Sprachform anzudeuten. C. Taylor sieht in den Funktionen von Artikulation und Ausdruck die wesentlichen Aspekte der Sprache14: Sprache ist demnach primär nicht eine designative Abbildung der Wirklichkeit, sondern sie hat in erster Linie eine expressive und damit eine konstitutive Dimension: Fundamentale Erkenntnisakte und Wertungen haben selber sprachlichen Charakter und werden überhaupt erst durch das expressive Zum-Ausdruck-Bringen sichtbar und erfahrbar; indem solches Zum-Ausdruck-Bringen einen „öffentlichen Raum" zwischen Handelnden schafft, innerhalb dessen diese sich zu dem Ausgedrückten verhalten, hat Sprache als Artikulation konstitutive Bedeutung für das von ihr Bezeichnete ebenso wie für die daran beteiligten bewußten Subjekte 15 . Artikulation ist Bestimmung des Unbestimmten, aber die Pointe dieser Bestimmtheitstheorie liegt auf der sprachlichen Form des Bestimmens. In Anlehnung an Taylors Sprachtheorie kann nun m.E. auch der Pflichtbegriff in TL als eine 14

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S. C. Taylor, Bedeutungstheorien; historisch verbindet Taylor diese „expressive" Auffassung von Sprache und Handlung v.a. mit Herder und Humboldt und rekonstruiert sie darüberhinaus als Grundgestalt von Hegels Begriff des Geistes als eines sich selbst setzenden kosmischen Subjekts, s. ders., Hegel, Kap. I und III. Kierkegaard ist sich dieser expressiven Form der Hegeischen Philosophie sehr wohl bewußt und bewertet sie positiv: gegenüber der Sprachskepsis des vorausgegangenen Idealismus, für den das Ding-an-sich jenseits der Sprache im Reich des bloßen Denkens liege, zeige Hegel, „daß die Sprache den Gedanken immanent in sich hat und in diesem entfaltet sei" (Pap. III A 37). C. Taylor spricht von der „konstitutiven Dimension der Sprache", s. Bedeutungstheorien, 84: „Der öffentliche Raum zwischen uns ist durch unsere Sprache begründet und durch sie geformt; die Tatsache, daß es so etwas gibt, verdankt sich dem Umstand, daß wir sprachbegabte Tiere sind. Und unsere typisch menschlichen Anliegen existieren überhaupt nur aufgrund unserer Fähigkeit, etwas zu artikulieren und zum Ausdruck zu bringen". Zum Artikulationsbegriff vgl. grundlegend W. v. Humboldt, Kawi-Werk, 34ff., 59ff.; ob Kierkegaard Humboldts sprachphilosophische Schriften gekannt hat, ist ungewiß. Zur Sache vgl. ferner J. Simon, Sprachphilosophie, 184ff.

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Form von Artikulation verstanden werden: Der Schwur der romantischen Liebe ist eine Artikulation, in der die Liebenden die Bedeutung ihrer Beziehung zum Ausdruck zu bringen und zu bestimmen versuchen, doch geschieht dies auf eine mißverständliche Weise. Die gelingende Form dagegen ist das „du sollst". Analog zum Schwur kann die Liebespflicht als eine Sprachform verstanden werden, in der sich die Bedeutung einer Relation zweier Handelnder artikuliert, und diese Artikulation ist zugleich die Form, in der die Gestaltung dieser Relation als einer Liebesbeziehung gelingt16. Die Artikulation hat dabei den strukturellen Ort der absoluten Andersheit oder Transzendenz (Drittheit), sie ist „Offenbarung [...] aus göttlichem Ursprung". Dem entspricht der Tatbestand, daß das Subjekt der Pflicht in der Rede stets die Liebe selbst oder „das Christliche" ist, niemals aber das Bewußtsein eines Handelnden. Diese vorläufige Bestimmung ist am Text der Rede weiter auszuführen. Der Aufweis der Selbstwidersprüchlichkeit des Schwörens der unmittelbaren Liebe bedeutet, daß dieses Schwören und der Priesterdienst des Dichters letztlich überhaupt keine Artikulation sind, denn es erklärt nichts: „denn der Dichter kann alles verstehen - in Rätseln [i Gaader], und alles wunderbar verstehen - in Rätseln, aber er kann nicht sich selbst verstehen, oder verstehen, daß er selbst ein Rätsel ist" (35/35). Der Dichter als Rätsel ist letztlich keine Artikulation, insofern die Relation „der beiden" in ihm ihre eigene Praxis nicht versteht. Diese verfehlte Artikulation führt in der Konsequenz, wie sich zeigen wird, zum Verlust der Relation als Handlungsraum selbst. Dies ist der Kern der Analyse der romantischen Liebe: sie „hat zwar Bestehen [Bestaaen], hat aber keine Beständigkeit [Bestandighed]" (37/36). Beständigkeit gewinnt die Liebe dagegen, wenn sie die angemessene Artikulation findet: „Wenn die Liebe die Veränderung der Ewigkeit erlitten hat, indem sie Pflicht geworden ist, so hat sie Beständigkeit gewonnen" (37/37). Dieser Satz darf nun m.E. gerade nicht so verstanden werden, als sei hier mit Pflicht eine neue Be16

Den besonderen sprachlichen Charakter der Liebespflicht betont bereits der Ethiker in EO: „Die Pflicht klingt in der Liebe stets mit an. Wenn Du sie abscheidest, so wie er getan, und das eine Teil zum Ganzen machen willst, so bist Du in einem ständigen Selbst Widerspruch. Es ist, wie wenn jemand in der Silbe ,be' b und e trennen will und nun kein e dabei haben will, sondern behauptet, b sei das Ganze. In dem Augenblick, wo er dies ausspricht, spricht er ein e mit. Ebenso ist es mit der wahren Liebe, sie ist keine stumme, abstrakte Unaussprechlichkeit, sie ist aber auch keine weiche, unhaltbare Unbestimmtheit. Sie ist ein artikulierter Laut, eine Silbe" ( E 0 2 , 158).

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wußtseinsform oder eine Transformation des subjektiven Willens bezeichnet. Vielmehr ist der Satz streng wörtlich zu verstehen: Liebe wird zur Pflicht, Liebe ist Pflicht, d.h. Liebe ist ein Satz. Das Sein der Liebe hat hier die sprachliche Form der Pflicht, nicht aber eine davon noch zu unterscheidende Willens- oder Handlungsform. Was sich gegenüber der romantischen Liebe ändert, ist nicht ein Bewußtsein, sondern ist zuerst die sprachliche Artikulation. Liebe ist hier nichts anderes als eine Sprachform. Man könnte auch ontologisch sagen: Liebe ist eine symbolische Realität. Doch muß der ontologische Charakter der Liebe als Sprachform nun genau in der Perspektive der expressiven und konstitutiven Dimension der Sprache gesehen werden, um zu verstehen: Liebe als Pflicht ist nicht nur ein Wort, sondern als Wort bzw. Satz ist sie eine intersubjektive Realität17. Um die Pflicht als eine solche intersubjekti17

Eine solche ontologische Interpretation der Sprache bei Kierkegaard kann sich auch darauf berufen, daß Kierkegaard die expressivistische Sprachauffassung J.G. Herders (und Hamanns) teilt (vgl. Anm.14). Dies geht u.a. aus BA, 46 hervor: Das Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, an Adam, der dieses Verbot noch gar nicht verstehen kann, wird von Vigilius Haufniensis so gedeutet, „daß der Redende die Sprache ist, und daß es mithin Adam selbst ist, der da redet". Diese Bemerkung läuft also auf die These hinaus, daß die Sprache ein unhintergehbares anthropologisches Faktum ist und nicht durch Verweis auf vorsprachliche, die Sprache erst konstituierende Akte des Individuums erklärt werden kann. Diese Anschauung meint Vigilius aber auch gegen ein anthropologisches Mißverständnis abgrenzen zu müssen: „Soviel steht aber doch fest, daß es nicht angeht, den Menschen selbst Erfinder der Sprache sein zu lassen" (ebd., Fußnote). Diese Bemerkung kann als (durch Hamann inspirierte) Kritik an Herder gelesen werden, insofern Herder eben nicht Gott, sondern dem Menschen (allerdings als Gattung, nicht als Individuum!) die Erfindung der Sprache zuschreibt (s. Ursprung, 23f.). Andererseits aber geht es Herder hierbei gerade um den quasi-transzendentalen Status der Sprache, d.h. die Gleichursprünglichkeit von Sprechen und Denken. Und in diesem Sinne entspricht die Bemerkung aus BA sehr wohl der Herderschen Intention. Denn Vigilius' Hinweis auf die Unhintergehbarkeit der Sprache folgt exakt Herders Pointe in seiner Auseinandersetzung mit der designativen Sprachauffassung Condillacs (s. Ursprung 12ff.); diese Pointe beschreibt C. Taylor: „man needs his expression in order to make his ideas manifest to himself. Which is another way of saying that his ideas do not properly exist before their expression in language or some other of the range of media men deploy" (Language, 227ff.); durchaus ähnlich äußert sich Kierkegaard in Pap. III A 11/77, 231: die Sprache als „Medium" des Denkens ist „teils das ursprünglich Gegebene, teils das frei sich Entfaltende". Zu Kierkegaards Auffassung der Sprache vgl. ferner BA, 127f£, JC, 155f., SLW, 518ff, Pap. XI 2 A 147; XI 2 A 37, aber auch TL, 14f./17 (s.o.). In den genannten Texten wird auch eine wichtige Differenz hinsichtlich der Funktionen der Sprache deutlich: Hebt Kierkegaard im Rahmen bewußtseinstheoretischer Erörterungen die Sprache als Medium des Denkens hervor (s. JC), so stellt er im Kontext von Intersubjektivität die Sprache in der Perspektive des Vollzugs, als per-

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ve Realität denken zu können, muß Kierkegaard die konkrete Wirkungsweise, d.h. den performativen Charakter dieser Sprachform aufdecken. Dies tut er in einer Auslegung der „Beständigkeit" der Liebe: Liebe als Pflicht vermag auch in den Veränderungen der Zeit unverändert zu bleiben, d.h. sie kann „mit jeglicher Zeit gleichzeitig sein und werden und bleiben" (ebd.). Diese Unveränderbarkeit ist die Qualität des Ewigen. Dahinter steht ein Begriff des Ewigen als Bewegung: „das Ewige wird niemals alt und niemals Gewohnheit" (44/42). Wie diese kontinuierliche Bewegung für die Pflichtliebe möglich ist, wird deutlich im Kontrast zur erotisch-triebhaften Liebe. Die triebhafte Liebe unterliegt nämlich der Veränderlichkeit der Zeit in einem Maße, daß sie selbst zerstört, d.h. als Handlungsrelation aufgehoben wird, und zwar durch sich selbst zerstört wird. Kierkegaard beschreibt diesen Zerfallsprozeß in drei Grundformen (s. 3450/34-48): Unmittelbare Liebe zerfällt erstens an der Veränderung einer seiner Glieder; zweitens an der unvermeidbar hierarchischen, d.h. durch einseitige Abhängigkeit bestimmten Struktur der Relation; drittens an der Unfähigkeit, auf den Verlust des oder der Geliebten anders als mit Verzweiflung zu reagieren18. In allen drei Grundformen ist das Gesetz des Zerfallens der Beziehung dassselbe: Insofern die Beziehung allein durch sich selbst verstanden, d.h. innerhalb der

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formative Äußerung, dar (s. BA, s. auch AUN1, 78). Beide Aspekte sind, wie wir noch sehen werden, für Kierkegaards Darstellung des Liebesgebotes von Bedeutung. Die Grenze der Sprache thematisiert W, 121. und FZ, 129ff. Auf den ontologischen Status der Sprache in Kierkegaards Werk hat die dekonstruktivistische Interpretation hingewiesen, vgl. beispielsweise L. Andersen, Ironi. Allerdings ist für diese Interpretation mit der ontologischen Unhintergehbarkeit der Sprache zugleich jeder Verweis auf eine Realität jenseits des Textes hinfällig; die einzige Praxis, von der noch gesprochen werden kann, ist die des Produzierens und Dekonstruierens von Texten; in diesem Sinne etwa interpretiert Andersen den Wiederholungsbegriff (vgl. ebd. 30ff.). Das Verständnis der Pflicht als Artikulation dagegen versteht die Sprache als erschließend und konstitutiv in Hinblick auf eine leibliche, vom Text selbst zu unterscheidende Praxis intersubjektiven Handelns und Sprechens. Eine andere Interpretationslinie geht ebenfalls von einem literaturwissenschaftlich erhobenen Sprachbegriff bei Kierkegaard aus, um diese „poetische" Sprache dann auch für Kierkegaards Ethik fruchtbar zu machen; allerdings führt dies etwa im Fall von L. Inglis, Dialogue zu einer systematischen Trennung von Sprache und Handeln, die den Blick für den pragmatischen Charakter der Sprache als Handlungsform auch bei Kierkegaard verliert (vgl. ebd. 40-52). Für eine lehrreiche Untersuchung der Kierkegaardschen Sprachauffassung mit den Mitteln der analytischen Sprachphilosophie vgl. J. Sl0k, Kierkegaard, 42ff. Er weist auch auf den „performativen" Charakter des Liebesgebotes hin, s. ebd. 51f Zur Struktur der Verzweiflung als einer bestimmten Form des Reagierens auf eine Verlusterfahrung vgl. M. Theunissen, Verzweiflung, 99ff.

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Zweitstelligkeit artikuliert wird, gelangt die Beziehung niemals dazu, ihre eigene Form, das ihr innewohende telos zu verwirklichen; im faktischen Ungleichgewicht der sich selbst überlassenen Relation in der Kontingenz des zeitlich bestimmten Lebens geht die Relation als lebendiges Verhältnis zweier gleichstarker Glieder verloren. Oder anders gesagt: Die Artikulation der Beziehung im „Rätsel" der Dichterliebe hat eine konkrete praktische Dimension, nämlich die Gestaltung der Beziehung in einer Form, welche die Beziehung als gelungenes Verhältnis von Liebe und Selbstliebe auflöst. Die Praxis dieser Artikulation ist dann die der Beziehungslosigkeit, der „trostlos e ^ ) Unabhängigkeit der Selbstliebe" (44/42). Wie aber vermeidet nun die Artikulation der Liebe als Pflicht diese destruktive Praxis19? Die Liebe in der Form der Pflicht gewinnt Kontinuität allein durch ihre eigentümliche Sprachform: „Wenn sie [sc. die Ewigkeit] sagt: ,du sollst lieben', dann sagt sie damit,deine Liebe hat eine ewige Gültigkeit'; aber sie sagt das nicht tröstend, denn das hülfe nichts, sie sagt es befehlend, gerade weil Gefahr im Verzuge ist. Und wenn die Ewigkeit sagt ,du sollst lieben', dann bleibt es ja ihre Sache, dafür einzustehen, daß es sich tun läßt" (48/46). In der Befehlsform selbst als performativer Sprechhandlung liegt die Kontinuität der „Beständigkeit". Das Gebot als Sprachform schafft seine eigene Wirklichkeit, eben die der ewigen Beständigkeit inmitten der Veränderbarkeit in der Zeit. Diese Leistung demonstriert die Rede an allen drei genannten Grundformen, indem sie aufzeigt, wie der Selbstwiderspruch der unmittelbaren Liebe in ihrer Artikulation als Drittheit gelöst wird: eben als absolute und unaufhörliche Forderung, als Artikulation der „ewigen Gültigkeit" des konkreten Liebesverhältnisses unter wechselnden Umständen. Diese Argumentation, in der die Beständigkeit 19

Diese negative Praxis der dominanten Kulturformen aufzuzeigen, ist die wesentliche Argumentationsstrategie der drei Reden. Dies geschieht jedesmal in der Weise, daß die Selbstwidersprüchlichkeit dieser Praxis aufgedeckt wird: sie ahnt das Richtige, kann es aber nicht selbst ergreifen, insofern sie in ihren Begriffen gefangen ist. Dies ist in der Tat eine Argumentationsstruktur in der Form der dialektischen Phänomenologie Hegels, eine Form von „negativer" Phänomenologie (vgl. A. Gr0n, Subjektivitet, 35ff., 47). Allerdings ist damit noch nicht gesagt, daß diese Dialektik auch schon ein methodischer Grundansatz für Kierkegaard ist, wie Gr0n es sieht. In der R e d e II A. handelt es sich lediglich um eine Argumentationsfigur, die nur einen Teil der Rede bestimmt. Eine Interpretation, die die negative Dialektik methodisch und als Phänomenologie im Sinne einer Hegeischen Bewußtseinstheorie versteht, ist m.E. in der Gefahr, den Status dieser Phänomene als Formen sprachlicher Äußerungen (Schwur und Pflicht) und damit ihren fundamentalen Handlungsaspekt zu übersehen oder einseitig vom Bewußtsein aus zu bestimmen.

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der Liebe direkt aus der Unbedingtheit der Forderung gefolgert wird, macht überhaupt nur Sinn, wenn man der sprachlichen Forderung eine ontologische Selbständigkeit zugesteht, in der die Forderung nicht erst durch eine von ihr unterschiedene Handlung erfüllt ist. Würde man noch eine notwendigerweise hinzutretende Handlung zur „Verwirklichung" der Pflicht erwarten, so wäre überhaupt nicht klar, wieso allein die Forderung genügt, um die „Veränderung der Ewigkeit" (37/37) darzustellen 20 . Die Pointe der Argumentation liegt gerade darin, daß auf eine solche ontologische Unterscheidung von Verpflichtung und Handlung verzichtet werden kann, weil die Artikulation der Liebe als absolute Forderung bereits eine Handlung im Sinne einer leiblichen Praxis ist: sie verwirklicht die Relation als Beziehung zweier Subjekte überhaupt erst; sie ist eine Handlung in dem Sinne, daß hier ein Akteur durch die Artikulation in seinen bestimmten Platz im Verhältnis zu einem anderen Akteur performativ eingewiesen wird. Die sprachliche Aktualisierung und damit zugleich Bewahrung der äußerst zerbrechlichen Beziehung ist die symbolische Wirklichkeit der Liebe. Das bedeutet nicht, daß damit der Begriff der Handlung bereits geklärt wäre. Doch kann auf die Unterscheidung von Verpflichtung und Handlung verzichtet werden, um den unhintergehbar performativen Status, die leiblich-intersubjektive Verortung der Pflicht deutlich zu machen. Kierkegaard entwickelt den Begriff der Liebespflicht, indem er ihre Geltungsbedingungen (ihre „ewige Gültigkeit", s.o.) beschreibt. 20

Damit wird klar, wieso die angeführte Stelle nicht im Sinne der Pflichtentheorie Kants verstanden werden kann, demzufolge das Können der Handlung aus dem Bewußtsein des Sollens ableitbar ist (s. Kant, Werke VII 140). Die Stelle kann ja leicht in diesem Sinne gelesen werden und wird tatsächlich als Beleg für den Kantianismus von TL angeführt (vgl. F. Hauschildt, aaO. 167). Dabei wird jedoch übersehen: 1) Die Handlung kommt in der Rede nicht als ein von der Forderung unterschiedenes Phänomen („Können") in den Blick, sondern als die sprachliche Wirklichkeit der Forderung selbst; 2) das Können, das in der angeführten Stelle angesprochen ist, wird gerade nicht als die subjektive Befähigung des Handelnden verstanden, sondern obliegt der Ewigkeit, d.h. das Können (das Handeln) hat selbst eine Form der Drittheit; dies jedoch kann kaum auf die Kantische Differenz von Vernunft und Sinnlichkeit übertragen werden, sondern stellt eine völlig andere Konzeption dar. Zu vergleichen ist auch die Ablehnung des Gedankens der Wirksamkeit („Ausrichten") in 95ff./86ff. Diese Stelle erinnert ebenfalls an Kants Insistieren auf den reinen Willen; doch auch hier liegt die Pointe in der religiösen Deutung („Lenkung") der Pflicht als Erschließung von Handlungswirklichkeit in Form von Sprache. Daß die Frage der Wirkung des intersubjektiven Handelns damit natürlich für TL noch längst nicht beantwortet ist, werden besonders die Reden aus der zweiten Folge von TL belegen.

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Hierfür nimmt er den Standpunkt bestehender Geltung ein, diese Geltung aber verbindet er mit der objektiven sprachlichen Gestalt, nicht mit den Formen der subjektiven Reaktion. Die drei Argumentationsgänge, in denen die Beständigkeit des Liebesgebotes behauptet wird im Unterschied zum Verfall der bloß zweistellig artikulierten unmittelbaren Liebe, bestimmen die Wirklichkeit des Liebesgebotes als die einer performativ wirksamen Sprachform. Diese Wirksamkeit bezieht sich dabei zunächst ausschließlich auf das einzelne Subjekt, auf sein Verstehen (40/39) und Hören (43/42). Doch ist dies nicht als ein subjektives Selbstgespräch oder eine transzendentale Dialektik zu verstehen, sondern als das, was die Sprache, in der sich das intersubjektive Verhältnis zum Ausdruck bringt, mit dem Subjekt macht: als das Geschehen, in dem der Handelnde „mit diesem Wort gekämpft hat" (22/24). Wenn nunmehr der begriffliche Status der Liebespflicht im Artikulationsbegriff interpretiert ist, so muß noch geklärt werden, inwiefern die Transzendenz, Absolutheit oder Drittheit der Forderung hierfür konstitutiv ist. Schon zu Beginn des Hauptteils diskutiert die Rede die Unableitbarkeit der Liebespflicht unter dem Begriff der „Ursprünglichkeit [Oprindelighed]". Die Argumentation dabei ist zunächst geschichtlich: Die „Ursprünglichkeit" der Liebespflicht liegt darin, daß vor dem Auftreten „solches in keines Menschen Herzen aufgekommen ist" (29/29). Doch dieses unableitbare Eintreten des Liebesgebotes wird zugleich anthropologisch verortet: es entspricht der „Ursprünglichkeit des Glaubens" (32/32) und dem subjektiv-innerlichen „Geheimnis des Glaubens" (33/33). Die Transzendenz des Liebesgebots als geschichtliche Offenbarung verweist zugleich auf die Unergründlichkeit des Glaubens, der das Gebot aufnehmen kann (vgl. 12/15). Im Rahmen der folgenden materialen Argumentation wird dann, so hatten wir bereits gesehen, die Kontinuität der Liebe auf die absolute Kontinuität der Forderung zurückgeführt. Kierkegaard verfolgt hier ein pragmatisches Argument für die kategoriale Differenz der Pflicht: Es wird behauptet, daß das Gelingen der Liebesbeziehung eine echte Transzendenz verlangt, und dies wird negativ an der Liebe und ihrer Gefährdung selbst aufgezeigt21. Denn das Versagen der unmittelbaren Liebe bestand ja gerade darin, daß es sich nur in Formen der eigenen Zweistelligkeit verstehen konnte. Die Liebespflicht bringt jene Bedingung für den praktischen Erfolg der 21

Zur „negativistischen" Methode Kierkegaards vgl. A. Gr0n, aaO., Kap. 3, mit Hinblick auf TL: 150f£, 380.

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Liebesbeziehung zum Ausdruck, die der Beziehung als solcher transzendent ist: ihre „ewige Gültigkeit". Die Pflicht ist transzendent und ist doch zugleich unauflöslich an die Konkretion des bestimmten Liebesverhältnisses als ihrem Ausgangspunkt gebunden. Diese Position der kategorialen Andersheit oder Drittheit läßt sich auch mit den Strukturen des Geistbegriffes aus der Krankheit zum Tode beschreiben: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst? Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält [...] In dem Verhältnis zwischen Zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die Zwei verhalten sich zu dem Verhältnis, und in dem Verhältnis zu dem Verhältnis; so ist z.B. unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis. Verhält dagegen das Verhältnis sich zu sich selbst, so ist dies Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst" (KT 8; Hervorhebung U.L.). In diesem Sinne ist die Artikulation jenes „daß" des Selbstverhältnisses. Sie ist der Vollzug, in dem sich ein relationales Wesen aktualisiert und zum Ausdruck bringt, sei diese Relationalität nun intrasubjektiv als Verhältnis von Leib und Seele oder intersubjektiv als Verhältnis zweier Handelnder („die beiden") gedacht. Dieser Vollzug ist einerseits eine praktische Bewegung der Relation selbst, indem das Verhältnis selbst sich darin zum Ausdruck bringt. Andererseits kann sich das Verhältnis auf dieser Ebene des positiven Dritten niemals selbst konstituieren, da es von sich aus immer nur die „negative Einheit" erreicht, d.h. aus der Zweistelligkeit der Relation nicht herauskommt. Der allgemeine Begriff der Drittheit („das positive Dritte") als Selbst oder als Artikulation, wie er in II A. durch den Hinweis auf das Schwören (als mißlingende Artikulation) angedeutet wird, ist für TL wie für die Krankheit zum Tode tatsächlich immer schon die inhaltlich bestimmte Transzendenz des christlichen Glaubens 22 .

22

Für den Begriff des „Dritten", den ich in Kap. 1 als Interpretament eingeführt habe, sind nunmehr mehrere Bedeutungsdimensionen zu unterscheiden: 1. kategorial: Drittheit als Vollzug einer vorgegebenen ursprünglichen Struktur (Erstheit); 2. ontologisch: Drittheit als das Transzendente, das aus der Relation zweier Relate nicht abgeleitet werden kann; 3. strukturell: Drittheit als das dritte Element einer Relation: die Relation als solche, das Verhältnis als positives Selbstverhältnis. Diese drei Aspekte sind allerdings nicht klar zu trennen, sondern verweisen aufeinander.

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Es hat sich gezeigt, daß das Liebesgebot die Relation zweier Subjekte als konkrete Handlungsrelation immer schon voraussetzt, indem es als eine Artikulation ihrer Bedeutung diese Relation symbolisch-praktisch gestaltet und bewahrt. Die Relation kann nun handlungstheoretisch unter dem Begriff der Situation verstanden werden, in deren Horizont alles Handeln der Relate stattfindet 23 . Die Situation ist insofern analog zur Selbstliebe eine unhintergehbare „Voraussetzung" (vgl.o.), die andererseits aber immer erst noch als Handlungsraum verwirklicht werden muß und damit auch verfehlt werden kann. Der Situationsbegriff soll den Ausgangspunkt von Kierkegaards Argumentation, die Handlungsbeziehung (Relation) zweier Subjekte, näher auslegen, und so kann man kategorial folgendermaßen differenzieren: Als Situation ist die Relation erstheitlich bestimmt, nämlich als ursprünglicher Anfang 24 , während sie als Artikulation dritthaft bestimmt ist, d.h. als aktuelles Handeln. Als Situation besteht die Handlungsbeziehung immer schon und muß doch erst noch verwirklicht werden, eben durch die Pflicht, die artikulierend auf jene vorgängige Situation zurückverweist: auf die „ewige Gültigkeit" dieser bestimmten Beziehung. An anderer Stelle schreibt Kierkegaard über die konzeptionelle Bedeutung des Situationsbegriffs für die Theorie ethisch-religiöser Kommunikation: „Bereits im Verhältnis zum ästhetischen Können bilden ja der Lehrer und der Lernende eine Situation. Im Verhältnis zur Mitteilung des Wissens, wo alles objektiv ist, besteht keine Situation" (Pap. VIII 2 Β 85,13). Dieser analytische und handlungstheoretische Sinn von „Situation" meint also pimär nicht ein Aufeinanderprallen von Subjekt und (gesellschaftlicher) Objektivität25, sondern thematisiert das intersubjektive Verhält-

23

24 25

Vgl. D. Böhler, Pragmatik, 252: Der Begriff der Situation sollte „in Handlungstheorien als pragmatisches Prius (Situation geht der Handlung voraus) und als pragmatischer Kontext gelten." Böhler verweist hierzu direkt auf „Kierkegaards Reflexionsbegriff des Selbst" in KT (ebd. 253)! Vgl. H. Deuser, Wirkliche Ethik, 129. In diesem idealistischen Sinn interpretiert z.B. Th. Adorno, Kierkegaard, 57ff.: Kierkegaards Begriff der „Situation" stehe für den gegenseitigen Reflex von gesellschaftlicher Verdinglichung und objektloser Innerlichkeit in Kierkegaards Schriften, insbesondere im Spätwerk. Eine handlungstheoretische Deutung muß demgegenüber aufzeigen, daß der Situationsbegriff jenseits des idealistischen Subjekt-Objekt-Modells verstanden werden kann: als analytischer Begriff intersubjektiv, und d.h. im Fall von TL, sprachlich geteilter Welt. In dieser Richtung scheint etwa Pap. XI 2 A 106 zu denken; hier wird ausdrücklich die gegenseitige Bestimmung von Sprechakten und ethischer Situation betont. Was dies für die Bedeutung des Situationsbegriffes im Spätwerk Kierkegaards bedeutet, kann hier allerdings

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nis zweier Handelnder als solches in Hinblick auf ein beiden gemeinsames und somit vorgängiges „Können". Situation ist der Begriff eines Verhältnisses von inter-subjektiv Handelnden, nicht von objektiv Wissenden. In diesem Sinne zielt der Begriff des Liebesgebotes in TL auf eine begriffliche Klärung der Handlungssituation als dem ursprünglichen Phänomen des Handelns. Die Interpretation der Pflicht als Sprachhandlung (Artikulation) scheint nun allerdings ein besonderes Problem zu haben: Diese Handlung kann ja gerade nicht unmittelbar die einer der beteiligten Akteure sein, denn dann wären wir wieder bei der Zweistelligkeit (und v.a. kann keiner der Beteiligten das unbedingte Liebesgebot direkt dem Anderen gegenüber aussprechen!). Wir hatten bereits oben gesehen, daß Kierkegaard die Geltung des Gebotes an diesem selbst zeigen will, unabhängig von individuellen Handlungsvollzügen. Die von den Akteuren losgelöste geschichtlich-kulturelle Objektivität des Gebotes ist aber kein Hindernis, das Gebot selbst als Artikulation der Beziehung zu verstehen, sofern damit auf die Fähigkeit der Sprache verwiesen ist, den „öffentlichen Raum" eines gegenseitigen Verstehens zu schaffen26. Gerade die stetige Auseinandersetzung mit dem romantischen Liebesverständnis als einer wirkungsmächtigen zeitgenössischen Kulturform macht m.E. ein vorläufiges Verständnis des geoffenbarten Liebesgebotes als eines bestimmten kulturellen Symbolsystems und seiner Geltung möglich27.

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nicht weiter untersucht werden. Im Zusammenhang mit der Reflexion der christlichen Nachfolge werden Begriffe wie „Situation der Gleichzeitigkeit" (EC, 63), „Situation der Wirklichkeit" (Pap. X 2 A 13) oder „Situation der Tat" (Pap. X 3 A 455) wichtig, vgl. dazu H. Deuser, Dialektische Theologie, 156f£, 206£ Es wird also zunächst nur behauptet, daß 1. Sprache eine solche raumerschließende Funktion hat, und 2. die Liebespflicht eine bestimmte Sprachform ist, die mit dieser Funktion beschrieben werden kann. Den Begriff des sprachlich und damit kulturell konstituierten öffentlichen Raumes klärt die Differenzierung von „convergent" und „common", vgl. C. Taylor, Social Goods, 139: „A convergent matter is one that has the same meaning for many people, but where this is not acknowledged between them or in public space. Something is common when it exists not just for me and for you, but for us, acknowledged as such [...] That we have a common understanding presupposes that we have formed a unit, a ,we' who understand together, which is by definition analytically undecomposable." In diesem Sinn kann die Liebespflicht als ein jeweils objektiv (geschichtlich-kulturell) Vorgegebenes verstanden werden: als eine Artikulation individueller Beziehungen, deren Geltung nicht auf basale individuelle Zustimmungsakte zurückgeführt werden kann. Eine solche geschichtsphilosophische Verortung des Liebesgebotes setzt sich natürlich der Gefahr aus, der Kritik zu verfallen, die Climacus an Grundvigts Kirchentheorie und insbesondere seiner Lehre vom „lebendigen Wort" vornimmt, vgl.

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Die Frage, wer hier eigentlich spricht und wie diese Artikulation sich in der Konkretion des intersubjektiven Handelns ausnimmt, muß an dieser Stelle noch nicht thematisiert werden; hier geht es nur um den kategorialen Status der Pflicht, und bereits dieser kann offensichtlich nicht ohne Verweis auf konkrete Handlungszusammenhänge erörtert werden. Die beiden folgenden Reden diskutieren nun diejenigen Aspekte, die noch fehlen, um zu einem vollständigen pragmatischen Begriff der Handlungssituation zu gelangen: die beiden Relate der Handlungsbeziehung, der Geliebte und der Liebende, sofern sie durch die Liebespflicht bestimmt sind. Erst damit kann dann auch das Hauptproblem der These von der Drittheit der Pflicht geklärt werden: wie diese Pflicht, wenn sie ontologisch nicht als (subjektives) Bewußtsein verstanden werden soll, als intersubjektive Sprachform und gleichwohl als Transzendenz verstanden werden kann. Doch zuvor will ich noch einmal die Schritte der hier versuchten Interpretation zusammenfassen: 1. Kierkegaards Verständnis der Liebe als Pflicht geht phänomenologisch von der bestimmten Handlungsrelation aus 28 2. Die Rede interpretiert die Geltung der Liebespflicht von ihrer sprachlichen Form her. 3. Dabei gebraucht diese Darstellung implizit einen Sprachbegriff, der durch Taylors Begriff der Artikulation rekonstruierbar ist. Die Angemessenheit dieses Begriffs begründet, sich dadurch, daß mit ihm ausgesagt werden kann: a) der Ursprung dieser Sprachform in der bestimmten Handlungsrelation, deren Ausdruck und Selbstdarstellung sie ist (bedeutungstheoretischer Aspekt),

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AUNl, 32-43. Dieses Mißverständnis wird vermieden, wenn man das Liebesgebot und das geschichtliche Verhältnis zu ihm nicht objektivistisch versteht als „ein unmittelbares und höchst ungeniertes Verhältnis eines unmittelbaren Geistes zu einer Summe von Sätzen" (ebd. 34), sondern als eine performativ, d.h. durch subjektive Aneignungsprozesse wirkende Sprachform, die gleichwohl einen bestimmten historischen Ort hat: nämlich als die ewige Veränderung, die „durch das Christentum in der Welt geschehen ist" (30/30). Der enge Zusammenhang von Sprache und Praxis bzw. Kultur wird im Umfeld des Kirchenangriffs 1854/55 von Kierkegaard eingehend reflektiert, s.o. Anm. 10! Zu diesem „relationstheoretischen" Ansatz des Handlungsbegriffs vgl. auch die Gegenwartsdiagnose in LA, 84f., die von der fundamentalen Veränderung der Verhältnisstrukturen in der modernen Gesellschaft durch die Spannung der Reflexion spricht: „und diese Spannung ist eigentlich das Aufhören des Verhältnisses [...] das Verhältnis ist ein Problem geworden" (Hervorhebung U.L.).

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b) die performative Wirkung der Pflicht in Hinblick auf den Handelnden in seinem Verhältnis zum Geliebten (handlungstheoretischer Aspekt). 4) Das Verhältnis von Relation und Pflicht kann als das von erstheitlicher Situation und drittheitlicher Artikulation ausgelegt werden. Mit diesen vier Interpretationsschritten vollziehe ich zwei grundsätzliche Behauptungen, die für die Interpretation auch im folgenden leitend sein werden: Erstens behaupte ich, daß Kierkegaard sich methodisch an der sprachlichen Gestalt der Pflicht und der Verwendung dieses sprachlichen Zeichens orientiert und insofern deskriptiv, oder wenn man will: analytisch, vorgeht. Zweitens ist damit die ontologische Behauptung verbunden, daß das sprachliche Zeichen von Kierkegaard als die im Handeln in Anspruch genommene Wirklichkeitsform der Liebe bzw. der Liebesbeziehung verstanden wird, als das bestimmte normative Phänomen der Liebe.

2. Das Liebesgebot als Interpretation der Situation Gemäß der Einleitung zu II A. besteht die Anerkennung der Pflicht in der Konstituierung eines Handlungsraumes, innerhalb dessen die Stellung des Anderen und von hier aus auch die Position des Handelnden überhaupt erst möglich wird. Entsprechend behandelt nun II B. die Position des Anderen oder des Handlungsgegenstandes, während erst II C. die Stellung des Subjekts thematisieren wird. Beiden kommt ein Platz in dem durch die Artikulationsform der Pflicht erschlossenen Handlungsraum zu. Nachdem II A. den kategorialen Ort der Liebespflicht anhand ihrer sprachlichen Form bestimmt hat, ist es die Aufgabe der beiden folgenden Reden, die in diesem Handlungsraum erschlossenen Akteure und ihr Verhältnis zueinander von der Artikulation her zu bestimmen. Umgekehrt muß nun die Geltung des Gebotes von den unterschiedlichen Positionen der Handelnden aus beschrieben werden. Die Rede setzt mit einer genaueren Bestimmung des kulturellen Kontextes ein, in dem sich die Erwägungen bewegen. Es kommt Kierkegaard darauf an, den bereits benannten Gegensatz von romantischer und christlicher Liebe klar herauszuarbeiten. Dies ist kein Antagonismus von Personen oder Institutionen, sondern ein kategorialer Gegensatz. „Daß der Dichter im Christentum lebt, verändert die Sachlage nicht" (54/51). Doch findet diese notwendige Auseinandersetzung im größeren Kontext einer synkretistischen Kultur statt: „Das Pfuscherhafte und das Verwirrende (was dem Heidentum und dem Dich-

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ter ebensosehr zuwider ist, wie es dem Christentum zuwider ist), kommt zutage, wenn die Verteidigung [sc. des Christlichen] darauf hinausläuft, daß freilich das Christentum eine höhere Liebe lehre, aber zugleich *Erotik und Freundschaft anpreise" (52/50). Die fundamentale Aufgabe einer Theorie des Christlichen ist in der Tat eine Vermittlungsaufgabe: die Wirklichkeit des christlichen, „geistigen" Handelns in der Wirklichkeit des leiblichen Alltagshandelns zu erklären (s. 56/53)29. Eine kulturelle Synthese von Dichtertum und Christentum scheitert für Kierkegaard schon daran, daß sie nicht das Alltagshandeln vom Geisthandeln (s. 51f./49) her zu bestimmen vermag, sondern beide Dimensionen einfach aufteilt in Alltag und Sonntag. Für den Gegensatz zum heidnischen Modell des Dichters folgt daraus, daß die Rede zeigen muß, inwiefern der Dichter gerade an der Erklärung des Alltagshandelns, d.h. an der Konstitution praktischer Relationalität scheitert. Insofern geht es um „die sittliche Aufgabe, die wiederum der Ursprung aller Aufgaben ist" (59/55). Kierkegaards Argument lautet, daß eine gelingende Relation allein durch einen angemessenen Gegenstandsbegriff, nämlich durch den Begriff des „Nächsten" möglich wird. Der Nächstenbegriff wiederum hängt unmittelbar mit dem Pflichtbegriff zusammen, insofern das absolute Sollen die Universalität des Gegenstandes impliziert. Wie ist diese Konstitutionsleistung des Pflichtbegriffs nun zu verstehen? Das sachliche Problem an dieser Stelle scheint die Frage zu sein, wie es überhaupt zu einer Handlungsbeziehung mit einem anderen Individuum kommt, oder: worin ihr Anfang liegt. Solche Beziehungen ergeben sich gewöhnlich in Form von kontingent auftretenden Situationen. Diese Kontingenz hat eine große Macht, die Macht des Zufälligen, des faktisch Zu-Fallenden. Man kann fast sagen, daß Situationen überfallen, sich aufdrängen, indem ein Individuum plötzlich mit den Ansprüchen eines anderen Individuums konfrontiert und damit in einen gemeinsamen Handlungsraum, eine Relation hineingezwungen wird. Doch zugleich muß dieses kontingent Zu-Fallende jeweils erst noch verstanden werden 30 . Erst in einem solchen Situationsverstehen wird die Relation praktisch gestaltet und als Hand29 30

Vgl. AUN2, 138-235. Vgl. D. Böhler, aaO. 251: „Eine Situation widerfährt, indem man sie in bezug auf Gesichtspunkte möglichen Handelns (zum Beispiel auf individuelle Wünsche, intersubjektive Bedürfnisse und auf Erwartungen eines konkreten oder generalisierten anderen), die als Ziele fungieren, und vor einem bestimmten soziokulturellen Sinnhintergrund (der mit erschließungskräftigen Begriffen und normativen Standards ausgestattet ist) als Anlässe praktischen Verhaltens versteht."

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lungsraum konstituiert. Das Verstehen der Situation, d.h. des Anderen, ist das Verstehen des Anfangs der Beziehung und der innerhalb dieser Beziehung vollzogenen Handlung. Damit sind wir bei Kierkegaard, denn genau in solchem Anfangsverstehen läßt sich nun erneut die Differenz von romantischer und christlicher Liebe festmachen: „*Erotik und Freundschaft, wie der Dichter sie versteht, schließen [...] keine sittliche Aufgabe ein. Erotik und Freundschaft sind Glück; es ist ein Glück, dichterisch verstanden (und wahrlich, der Dichter versteht sich vortrefflich aufs Glück) das höchste Glück, verliebt zu sein, *die einzig Geliebte zu finden; es ist ein Glück, das fast ebenso große Glück, jenen einzigen Freund zu finden. Die Aufgabe kann hier höchstens die bleiben, daß man für sein Glück recht dankbar sei. Hingegen kann es niemals die Aufgabe werden, *die Geliebte oder jenen Freund finden zu sollen"' (58/55). Wie in II A. stehen sich zwei Artikulationen einer Transzendenz gegenüber: das Glück und das Sollen. Ihr Unterschied wird durch den Gegenstandsbereich des Suchens bestimmt: Das Glück steht für das Finden des einen, des besonderen Gegenstandes ein; es ist das Glück einer Übereinstimmung von partikularen Wünschen, Neigungen und Umständen und einem einzelnen, Gegenstand, der diesen Dispositionen (mehr oder weniger) genau entspricht. Das Sollen hingegen sieht von allem Partikularen ab; es versteht seinen Gegenstand allein durch seinen Forderungscharakter, d.h. es versteht den Gegenstand als Gefordertes und damit als ebenso universal wie die Forderung selbst. Es ist wichtig zu sehen, daß es sich in beiden Fällen um ein Verstehen von Kontingenz, nämlich um ein hermeneutisches Reagieren auf eine zufallende Situation handelt: „Wenn ein Mensch in die Welt hinausgehen soll, ja, dann kann er vielleicht lange gehen und vergeblich gehen, rund um die Welt wandern - und vergebens wandern, um *die Geliebte oder den Freund zu suchen. Aber das Christentum versucht niemals, daß ein Mensch auch nur einen Schritt vergebens geht; denn wenn du die Tür aufschließt, die du verschlossen hast, um zu Gott zu beten, und hinausgehst, so ist der erste Mensch, den du triffst, der Nächste, den du lieben sollst" (59/56). Der Unterschied liegt also nicht in der Kontingenz der Situation, sondern in ihrem Verstehen. Der Unterschied liegt, genauer gesagt, darin, daß die romantische Liebe tendenziell nicht dazu kommt, mit dem Handeln anzufangen, während das unbedingte Sollen die Relation unmittelbar als Handlungssituation aufschließt. Der Hinweis auf das Sehen in der eben zitierten Passage legt die unvermittelte Plötzlichkeit der unausweichlich begegnenden Situation aus: Allein im Au-

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gen-Blick wird die Faktizität der Situation so verstanden, daß das Handeln beginnen kann, insofern sie als Begegnung mit der unverfügbar fremden Wirklichkeit eines Anderen verstanden wird31. Diese These entfaltet die Rede, indem sie das Verstehen der romantischen Liebe als verobjektivierende Selbstliebe entlarvt. Solche Selbstliebe verfehlt den Gegenstand darin, daß sie immer erst auf das Glück warten muß. Dies ist jedoch keine Frage der meßbaren Zeit, sondern Ausdruck für die hermeneutische Qualität dieses Verstehens: ihr Selbstwiderspruch liegt in ihrer Selbstbezüglichkeit, die nichts Fremdes außerhalb des eigenen Ichs gelten lassen kann und in vielfältigen Formen den Anderen als Anderen vernichtet; das bedeutet: solche Selbstbezüglichkeit setzt sich nicht der konstitutiven Augenblicklichkeit, d.h. der Kontingenz und Unverfügbarkeit, der Situation aus. Die Leidenschaft und Hingebung der Erotik entpuppt sich als Bemächtigungsstrategie, die den Anderen nur als Projektion des eigenen Ich32 gelten lassen kann. „Wenn der Liebende oder der Freund, was für den Dichter eine Lust ist zu hören, nur diesen einzigen Menschen in der ganzen Welt lieben kann, so ist in dieser ungeheuren Hingebung ein ungeheurer Eigensinn, und der Liebende verhält sich in dieser vorwärtsstürmenden, grenzenlosen Hingebung eigentlich zu sich selbst in Selbstliebe" (63/59). In einer Ich-Ich-Beziehung ist die Relationalität, die Situation und Handeln ermöglicht, aufgehoben. Sie wird erst gewonnen, wenn der Andere als Anderer, als Du anerkannt wird. Und genau dies ist die hermeneutische Leistung des Nächsten31

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Die zeitliche und zugleich relationale Struktur der Wirklichkeitsbegegnung wird in BA, Kap. 3 durch das Bildwort vom „Augenblick" ausgelegt; vgl. dazu K. Schäfer, Ontologie, 186: „Im Blick kann deshalb die radikale Konfrontation mit der Faktizität stattfinden, weil durch ihn die Sachlage nicht verändert wird: Er entlastet einen nicht, sondern ist der Ausdruck des Unter-Druck-Stehens, der Bestimmtheit durch das, was einem jetzt widerfährt [...] Wer nicht redet, sondern in seinem Blick da ist, bleibt bei der Sache, so wie sie jetzt für ihn eingetreten ist." Zum selben Zusammenhang s. L. Andersen: Das Jetzt „läßt die Welt hervortreten als ein unbeherrschbares Spiel" (aaO. 40, eigene Übersetzung; vgl. ebd. 51ff.). „Aber worin liegt die Selbstliebe? Sie liegt im Ich, im Selbst. Sollte dann nicht auch die Selbstliebe darin stecken, daß man das andere Ich, das andere Selbst liebt?" (61/58). Diese Argumentation gegen eine Liebe in der Form einer „Pygmalion-relationship" (A. Hannay, aaO. 247) nimmt die Romantikkritik auf, die sich von Beginn an in Kierkegaards Werk findet und sich philosophisch v.a. mit der Philosophie Fichtes auseinandersetzt, vgl. etwa Bl, 278f. Liegt die Romantikkritik im Begriff der Ironie und Entweder/Oder im Aufweis, daß die romantische Ironie die geschichtliche Wirklichkeit nicht erreicht, so ist dieser Punkt in TL vertieft, indem diese Wirklichkeit nicht nur als subjektiver Ernst, sondern als die Transzendenz des Du beschrieben wird.

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begriffs 33 . Dieser Begriff trennt als eine „Zwischenbestimmung" das im Vereinigungsstreben einseitig Vereinte und löst das Andere als Anderes heraus, indem er „zwischen Ich und Ich des sich selbst Liebenden tritt" (62/58). Solches Dazwischentreten schafft einen Raum zwischen den Handelnden, einen Handlungsraum. Die Andersheit des Anderen ist seine Transzendenz gegenüber der selbstbezüglichen Reflexivität des natürlichen Menschen. Diese Andersheit ermöglicht Distanz und damit relationales Handeln; sie wird im Begriff des Nächsten, also im Liebesgebot, artikuliert. So erhält nun der Gegenstand selbst den Status der Drittheit. Diese Drittheit bezeichnet die Rede als Geist: „Liebe zum Nächsten ist Geistesliebe, aber Geist und Geist können niemals im selbstischen Sinne zu einem einzigen Selbst werden" (64/60). Der Status des Nächsten als Drittheit ist für unseren Fragezusammenhang wichtig, weil damit klar wird, daß es sich auch hierbei nicht etwa um eine Frage der guten Gesinnung oder der subjektiv-perspektivischen Einstellung handelt, sondern um eine Hermeneutik der Faktizität kraft der angemessenen Artikulation dieser Faktizität. Man kann auch sagen: Die Handlung wird hier nicht monologisch-kausal erklärt, also als durch eine innere Willensleistung des Subjekts hervorgebracht, sondern hermeneutisch. Dieser Verstehensvorgang muß noch weiter aufgeklärt werden. D. Böhler hat das Verstehen der Situation im quasi-dialogischen Modell von Frage und Antwort beschrieben 34 : Handeln wird konstitutiert als ein „praktisches Antworten" auf die „Herausforderung", welche die Situation an das Individuum heranträgt; dieses Verhältnis von Herausforderung und Antwort ist dabei durch eine prinzipielle Offenheit bestimmt, insofern die herausfordernde Situation, im Unterschied zum Sprechakt, nicht zu einer bestimmten Antwort eindeutig auffordern kann. In eben demselben Sinne ist nun m.E. auch die hermeneutische Leistung zu sehen, die im Nächstenbegriff steckt. Das beschriebene Erkennen des Anderen als Anderen ist kaum ein simpler Akt eines blinden Gehorsams, vielmehr ein komplexes und anstrengendes Beurteilen der begegnenden Situation. Aus der Tür herauszutreten und 33

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„Ob wir nun von dem ersten Ich oder dem anderen Ich sprechen: wir sind damit dem Nächsten keinen Schritt näher gekommen; denn der Nächste ist das erste Du" (65/61). Zu einem zeitgenössischen Verständnis des Anderen als widerständig-transzendenten „Du" vgl. L. Feuerbach, Zukunft, 296: Die Sinnlichkeit des „Du" ist die Grenze für alles idealistische Idenitätsdenken vom „Ich" aus. AaO. 250ff.; zur Interpretation des Dialogmodells in bezug auf Kierkegaard vgl. L. Inglis, aaO. 67ñ

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den ersten vorübergehenden Zeitgenossen als Nächsten erkennen will man dies als heroisch-blinden Gehorsam einer stummen Selbstverleugnung interpretieren, so muß sich die ganze Argumentation um die Frage nach der subjektiven Ermächtigung zu diesem Heroismus drehen. Die Alternative hierzu ist die Frage, unter welchen Bedingungen ein solches An-Erkennen als Verstehen (unter der Nötigung des Gebotes) möglich ist. Als Verstehen ist es ein Subsumieren oder auch ein Frage-Antwort-Spiel: den Anderen in seiner kontingenten Individualität als Anderen verstehen, oder: auf die ärgerliche Herausforderung seiner beschränkten und unverständlichen Individualität mit der Anerkennung des „Du" zu antworten 35 . Dies ist ein u.U. lebenslanger und kreativer Prozeß, dessen Kreativität gerade durch diesen Gegensatz von absoluter Forderung und ärgerlich-unverständlicher Partikularität des Anderen provoziert wird. Doch es ist eben wiederum solche Kreativität und Offenheit, in der sich die Bewegung des Sollens ausdrückt und die damit zum Ausdruck wird für die „Aufgabe, die wieder der Ursprung aller Aufgaben ist" (s.o.)! Das unbedingte Sollen generiert so durch seine Unbedingtheit einen kreativen Interpretationsprozeß. Die Artikulation erweist sich als Interpretation, und zwar als eine Interpretation, in welcher der Handelnde sich von sich selbst entfernt und ein fremdes „Du" anerkennt. Insofern das Liebesgebot diese hermeneutische Selbst-Entfernung bewirkt, kann von der „Liebe der Selbstverleugnung" gesprochen werden (60/56). Es ist wichtig zu sehen, daß der Begriff der Selbstverleugnung [„Selvfornegtelse"], der an dieser Stelle in inhaltlich bestimmter Form eingeführt wird, nicht als direkte Handlungsanweisung auftritt, sondern als hermeneutischer Begriff, als eine Funktion des Situationsverstehens36. Die Offenheit dieses Interpretationsprozesses wird auch durch das vorgegebene Interpretationsziel (den Anderen als Nächsten verstehen) nicht eingeschränkt, sondern erst konkret 37 . Kierkegaards über-

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Daß diese antwortende Anerkennung des fremden Du nur möglich wird als die Antwort, die sich selbst als angesprochen-herausgefordertes Du erfährt, wird in II C. dargestellt. Der Begriff der Selbstverleugnung steht im Zentrum von K.E. L0gstrups Kritik an TL, vgl. Auseinandersetzung, 85-102; doch wird dieser Begriff dabei sowohl in seiner hermeneutischen Bedeutung wie auch seiner methodisch untergeordneten, nämlich auf Praxis hingeordeten Funktion verkannt (s.u.). Die Kreativität des Interpretationsaktes bei Kierkegaard wird von J. Ferreira, Vision ausführlich dargestellt; hinsichtlich des hier in TL angesprochenen Verstehens vgl. bes. 68ff.

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spitzte Darstellungsform im Bild des aus der Tür tretenden Christen erschwert zunächst die Einsicht, daß es bei dem Universalismus des Nächstenbegriffs primär nicht um eine quantitative Bestimmung geht, wonach zahlenmäßig jeder Mensch zu lieben ist; doch die Pointe liegt im Aufzeigen der qualitativen Forderungen, dem das jeweils konkrete Liebesverhältnis ausgesetzt ist. Und eben diese unbedingte Qualität der bestimmten Einzelbeziehung findet gerade in der Überspitzung des Quantitativen, also in einem Bild der grenzenlosen Geltung dieser Liebe, ihren angemessenen - nämlich hyperbolischen - Ausdruck. Die Artikulation erweist sich als Interpretation. Der hermeneutische Charakter des Liebesgebotes zeigt sich deutlich, wenn Kierkegaard den Nächstenbegriff mit dem (politischen) Begriff der Gleichheit zusammenbringt und diesen als die jedem konkreten Liebesverhältnis zugrundeliegende Qualität auslegt: „Liebe zum Nächsten ist deshalb die ewige Gleichheit [Ligelighed] im Lieben" (66/62). Gleichheit ist die Qualität, durch die relationale, d.h. konkret-partikulare Praxis sittlich wird. Dabei ist durch die vorhergegangene Argumentation klar, daß für TL Gleichheit primär nicht ein gegenständliches Wissen ist38. Vielmehr handelt es sich um einen hermeneutisch-phänomenologischen Begriff: um die bestimmte Weise, in der die Selbstartikulation der jeweiligen Handlungsbeziehung praktisch wirksam

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Die von mir betonte Konkretion des Handlungsverstehens versucht, TL gegen eine einflußreiche Kritik stark zu machen: Der Begriff des Nächsten ist vielfach als abstrakt und gegenstandslos kritisiert worden, s. Th. Adorno, Kierkegaards Lehre, 223f£; B. Müller, Nächstenliebe, 141ff. passim; vgl. auch K. Barth, KD IV/2, 914f£ J. Ferreira, Blindness versucht eine Verteidigung Kierkegaards, indem sie in TL zwei Argumentationsstränge unterscheidet: einen ersten, der auf die Begründung von bedingungsloser Gleichheit zielt, und einen zweiten, dem es um das Aufmerksamwerden auf konkrete Bedürfnisse geht. In der Moralphilosophie Kants taucht der Gleichheitsbegriff in der Form der Allgemeinheit der Vernunft und der daraus abgeleiteten Verallgemeinerungsfähigkeit des kategorischen Imperativs auf. Dieser philosophische Begriff von Gleichheit gründet in der „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens" (Werke VII, 63) und dem darin sich anschließenden Begriff des „Reich(s) der Zwecke" (ebd. 66ff.). Von diesem metaphysischen Grund her wird Praxis postulatorisch entworfen, nicht aber, so könnte man von TL aus kritisieren, in ihren eigenen Konstitutionsformen verstanden. Die Aufnahme des Gleichheitsbegriffs durch Kierkegaard kann als literarische Reaktion auf die sozialen und politischen Entwicklungen verstanden werden, die der Märzrevolution von 1848 in Dänemark vorausgingen, vgl. B. Kirmmse, aaO., Kap. 3-5; J. Elrod, aaO., xivff., 4ff., 43. Ferner macht Kirmmse (ebd. 324) auf die terminologische Differenzierung von „Ligelighed" (christliche Gleichheit) und „Lighed" (weltliche Gleichheit) aufmerksam (s. 82/75); allerdings ist diese Unterscheidung in TL keineswegs konsequent durchgeführt.

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ist. Ich versuche, diese Funktion im Begriff der Regel darzustellen. Denn als eine hermeneutische Regel zur Anleitung des Situationsverstehens wird der Gleichheitsbegriff von Kierkegaard expliziert: „Gleichheit heißt ja eben, daß man keinen Unterschied macht, und ewige Gleichheit heißt, daß man unbedingt nicht den mindesten Unterschied macht" (ebd.). Seine erschließende Funktion als Leitbegriff für die Deutung konkreter Handlungssituationen führt die Rede in einer Kritik der „Gebildeten" vor (66ff./62ff.). Das Gleichheitspostulat, das von dem liberalen Bürgertum als politische Parole vorgetragen wird39, ist tatsächlich der ideologische Deckmantel, unter dem eine neue Ungleichheit etabliert wird, nämlich der „Unterschied zwischen den Gebildeten und den Nicht-Gebildeten" (68/63). Dieses Versagen liegt darin, daß das Gleichheitspostulat in seiner abstrakten Allgemeinheit an der Konkretion der einzelnen Handlungsbeziehung vorübergeht, keine Kraft zu ihrer Erschließung hat. In genau diesem Sinn aber ist der Regelcharakter der Gleichheit zu sehen: Als praktische Regel der Artikulation einer Beziehung ist „Gleichheit" überhaupt nur in je konkreten, partikularen Situationsdeutungen wirksam40. Als Regel ist die Gleichheit keine allgemeine Handlungsmaxime im Sinne eines bestimmten reflexiven Wissens, sondern Erschließung der bestimmten Situation als Herausforderung zum Handeln. Die Funktion dieser Gleichheitsregel ist es offensichtlich nicht, eine folgende Handlung 39

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B. Kirmmse, aaO., Kap. 4-7 und 14 beschreibt die zunehmende Enfremdung von urban-liberalem Bürgertum und bäuerlicher Landbevölkerung, die in Kierkegaards Kritik sehr genau getroffen zu sein scheint. Die Einführung des Regelbegriffs soll die hermeneutische Konzeption dieser Pflichtentheorie aufhellen helfen. Dabei scheint mir die Regelhaftigkeit des Gleichheitsbegriffes in TL im Sinne eines Regelverständnisses verstanden werden zu können, wie es etwa bei R. Bubner, Handlung, 175ff. ausgeführt ist: In Unterscheidung von Gesetzen versteht Bubner die Regel stets als „Regel in Anwendung", d.h. die Regel ist nicht eine der Handlung vorausgehende Orientierung, sondern die Regel ist immer nur im Handlungsvollzug da als dessen Ordnungskraft: „Die Hinordnung auf das Feld der konkreten Anwendung gehört zu den eigentlichen Leistungen der Regel, die die Fälle ihrer Zuständigkeit schafft und nicht vorfindet" (ebd. 183t). In diesem Sinne versteht er auch den Begriff der Maxime als „die Sprachform, in der das Handeln sich selber zum Ausdruck bringt" (ebd. 189); darin ist dieses Verständnis unterschieden von einem Regelbegrift in dem Regel als reflexives Wissen, das dem Handeln prinzipiell vorausgeht, aufgefaßt wird. Die von Bubner postulierte Erschließungskraft des „Handeln(s) selber" kann am Gleichheitsbegriff von II B. exemplarisch aufgewiesen werden, wenn man ihn als diejenie praktische Regel versteht, die von der im Liebesgebot erschlossenen Handlungssituation selbst gesetzt wird. Zu einer hermeneutisch-dialogischen Interpretation des Regelbegriffs im Unterschied zu einem einseitig logischen und operationalistischen Verständnis vgl. ferner D. Böhler, aaO. 196ff., 21 Iff., 221t; C. Taylor, Rule.

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2. Kapitel: Das Sollen

durch einen Allgemeinbegriff, ein Handlungsgesetz zu bestimmen, sondern sie erschließt die unbedingte Qualität der bestimmten Handlungssituation, und dies so, daß sich darin die Situation selbst zu erkennen gibt. Die Qualität der unbedingten Gleichheit liegt noch vor allem reflexivem Wissen und und vor allen Zuschreibungen in bezug auf den Gegenstand. Und entsprechend besteht gerade in dieser Negativität ihre ,Regelhaftigkeit', d.h. die Form, in der sie gewußt wird: in dem Verstehen, in dem „man unbedingt nicht den mindesten Unterschied macht" und so den Begegnenden überhaupt als einen Handlungspartner anzuerkennen und sich seinen Ansprüchen zu stellen vermag. Als Wissen ist die Regel die dritthafte Selbsterschließung der in der Situation liegenden ursprünglichen Qualität der „ewigen Gleichheit". Und allein im Vollzug solcher elementaren Situationserschließung existiert diese Regel; sie ist nur, sofern sie - bzw. das Liebesgebot - bereits Geltung hat. Sie schreibt nicht ein bestimmtes zukünftiges Handeln vor, sondern erschließt ihrerseits eine Unbestimmtheit (Gleichheit), die einen bestimmten Handlungsraum erst eröffnet. Von dieser Selbsterschließung der Situation her ist auch das oben angesprochene augenblickshafte Sehen zu verstehen: nicht als eine unmittelbare Wahrnehmung, sondern als regelgeleitetes Sehen. Die bürgerliche Elite dagegen artikuliert die Bedeutung der Relation allein in Formen ihrer eigenen Zweistelligkeit, d.h. in Prädikationen des Unterschiedes und des Gegensatzes (reich/arm, gebildet/ungebildet), die stets den Charakter der (einseitigen) Forderung haben. Solche Zweistelligkeit kann für Kierkegaard immer nur als Kampf und damit als Selbstapotheose der jeweils Stärkeren gedacht werden: Die Elite fordert immerzu „das Höchste" - aber genau damit manifestiert sie ihre eigene kulturelle und politische Überlegenheit, da sie das Definitionsmonopol für dieses Höchste innehat. Die abstrakte und somit ideologische Forderung eines allgemeinen höchsten Gutes, das gleichwohl selbst nur in Begriffen des Gegensatzes verstanden wird, führt an der relationalen Handlungssituation und der in ihr begegnenden Qualität gerade vorbei: „Ja, eine gewisse Artigkeit im Umgang, eine Höflichkeit gegen alle Menschen, eine freundliche Herablassung zu den Geringeren, eine freimütige Haltung gegenüber den Mächtigen, eine wohlbeherrschte Freiheit des Geistes: ja, das ist Bildung - glaubst du, daß es auch Nächstenliebe ist?" (68/64)41. Die 41

Der Gleichheitsbegriff aus TL wird oft im Sinne einer metaphysischen Qualität und eines damit verbundenen humanistisch-ethischen Postulats verstanden, vgl. etwa S. Walsh, Living, 264: „To love the other as a neighbor means, then, to love

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Differenz zwischen ideologischem Postulat und hermeneutischer Regel offenbart sich so in der affektiven Gestaltung, im Stil der Beziehung. Der „Herablassung" der gebildeten Selbstliebe steht eine Affektivität gegenüber, die der Konkretion des jeweiligen Handlungskontextes entspricht: „Nein, den Nächsten zu lieben *ist Gleichheit [er Ligelighed]. Es ist ermutigend in deinem Verhältnis zu dem Vornehmen [...] es ist demütigend im Verhältnis zu dem Geringeren [...] es ist erlösend, wenn du es tust, denn du sollst es tun" (69/64) 42 . Der Begriff der ewigen Gleichheit führt exemplarisch die Funktion des unbedingten Liebesgebotes vor Augen: als Artikulation der Handlungsbeziehung impliziert dieses Gebot eine Weise des Verstehens der Situation, die der Unbedingtheit der Artikulation entspricht. Solches Verstehen ist nicht subjektives Vermögen, sondern die Form, in der sich die ursprüngliche Qualität der Beziehung dritthaft selbst erschließt. Das Eigentümliche im Vorgehen Kierkegaards kann ein Vergleich mit der Ästhetik Kants noch deutlicher machen. Die leitende Differenz von Erotik („Elskov") und Nächstenliebe („Kjerlighed") läßt sich nämlich auch als Parallele zu Kants Unterscheidung zwischen dem Angenehmen und dem Schönen in der Kritik der Urteilskraft lesen 43 . Das Angenehme ist nach Kant ein Wohlgefallen in der Empfindung, in dem ein einzelner Gegenstand das Subjekt sinnlich affiziert;

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that person first of all as a human being, on the basis of our common humanity rather than out of personal reference". Doch diese Interpretation kann weder erklären, ob und in welcher Weise ein solches Postulat realisierbar ist, noch, wie es prinzipiell gegen ideologische Verzerrungen von der Art, wie die Rede sie schildert, geschützt werden kann. Die praktische Funktion des Gleichheitspostulats wird ungefragt mit der Funktion einer Handlungsmaxime im Sinne kantischer Ethik gleichgesetzt. Mit bezug auf die Literarische Anzeige interpretiert A. Hannay, aaO. 282f. dem Gleichheitsbegriff Kierkegaards im Sinne einer regulativen Vernunftidee: als Idee einer freiheitlich-gerechten Gesellschaft, die der Einzelne in seinem Leben antizipatorisch auszudrücken hat. Hannays differenzierter Argumentation muß nicht widersprochen werden; nur macht auch er nicht klar, wie die herausgearbeiteten Prinzipien bzw. die „moral rule" (ebd. 298) wirksam werden können. Doch genau dies scheint mir TL mit der praktisch-hermeneutischen Verortung des Gleichheitsbegriffs erklären zu wollen. Eine kantische Interpretation, nämlich die Fundierung der Nächstenliebe in einer „community of ends", gibt auch J. Elrod, aaO. 148f£ Dies ist eine erste Antwort auf die kritische Frage, ob nicht die radikale Liebespflicht die sinnlich-affektive Bestimmtheit der Liebe zerstöre; mit dieser Frage beginnt II B. und verspricht zu zeigen, daß die christliche Liebe „in Ernst und Wahrheit inniger und zärtlicher ist als *Erotik - in der Vereinigung, und in aufrichtiger Treue jeden Freundschaftsbund übertrifft" (51/49). Vgl. zum folgenden §§ 1-9 der Kritik der Urteilskraft (I. Kant, Werke X, 279ff.).

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diese Form des Wohlgefallens ist daher vom Interesse oder der Begierde des Urteilenden her zu verstehen. Das Schöne hingegen ist ein Urteil, das ohne sinnlich-interessiertes Verhältnis zum Gegenstand zustande kommt, gerade hierdurch aber Allgemeinheit beanspruchen muß. In gleicher Weise bestimmt auch Kierkegaard den Unterschied zwischen den beiden Formen der Liebe: Sinnlich-interessierte Bezogenheit auf einen einzelnen Gegenstand steht einer Bezogenheit auf alle Gegenstände (alle Menschen) gegenüber. Kierkegaards „Nächster" kann nach dem Modell des Schönen verstanden werden. Doch entscheidend ist nun, daß Kierkegaard seinen Begriff völlig anders begründet als Kant: Dieser interpretiert das Schöne transzendental, d.h. er denkt das Urteilsvermögen vom apriorischen Erkenntnisvermögen des Urteilenden aus. Kierkegaard hingegen versteht den Begriff des Nächsten pragmatisch, nämlich im Ausgang von einer subjektiv nicht mehr begründbaren praktischen Geltung eines bestimmten Gebotes innerhalb einer konkreten Situation. Erst im leibhaft-praktischen Umgehen und der Begegnung mit diesem Gebot kommt es zur Wirkung; das Gebot, genauer: der Nächste ist eine „Aufgabe" (58/55): Der Nächste wird nicht glücklich gefunden, sondern er muß erst noch in der Welt gefunden werden. Der Nächste ist weder ein verallgemeinbarer Zweckbegriff (wie in Kants Moralphilsophie) noch subjektive Allgemeinheit (wie in Kants Ästhetik). Vielmehr wird der einzelne Handlungspartner zum Allgemeinen allein dadurch, daß dies faktisch gefordert wird - von einem bestimmten Gebot, sofern dieses sich innerhalb der Handlungswelt selbst zur Geltung bringt. Das Gebot selbst ist Teil der leibhaften Handlungswelt.

3. Das Liebesgebot als Erfahrung der Situation II B. hat die Stellung des Handlungspartners innerhalb des durch das Liebesgebotes konstituierten Handlungsraumes beschrieben. Vollständig beschrieben ist dieser Handlungsraum als komplexer Begriff der Handlungssituation aber erst, wenn auch dem Handlungssubjekt eine Position zugewiesen ist. Erst damit ist das Programm der Einleitung zu II A.-C. erfüllt: Die Pflicht gegenüber dem Anderen anerkennen heißt, „daß man selbst der Nächste wird" (26/28). Solches Nächster-Werden beschreibt nun II C. als die subjektive Erfahrung, in welcher das Subjekt von der begegnenden Situation affiziert und dadurch in bestimmter Weise positioniert wird. Doch auch diese Erfahrung wird von der Geltung des Gebots und seiner sprachlichen Form aus gedacht.

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Daß es um das Einnehmen einer raum-zeitlichen, leiblichen Stellung geht44, also um die Gestaltung einer Beziehung, machen bereits die ersten Worte deutlich, die noch mehrmals im weiteren Verlauf wiederholt werden: „So geh denn hin und tue also" ((70/65). Das Thema von II B. wird damit weitergeführt: Die Handlungsrelation wird konstituiert, indem der Handelnde sich der begegnenden, zu-fallenden Situation aussetzt, und d.h. in einer eigentümlichen Dialektik von Aktivität und Passivität: sich in sie hineinbegibt, „hingeht". Entsprechend ist die Rede sprachlich durch den Dualismus von negativen und positiven Beziehungsbegriffen geprägt: Die romantische Liebesartikulation bewirkt „Einsamkeit" (72/67), „Abstand" von der Wirklichkeit (89f./ 81f.), sie führt zur Angst vor „Berührung" und „Befleckung" (84f./ 76f.); umgekehrt ist die Nächstenliebe durch „Trost", „Berührung" und Wirklichkeitsnähe bestimmt. „Hinzugehen" bedeutet dann sehr real, eine Beziehung aufzunehmen und sich ihr nicht zu entziehen. Dieser Unterschied von Beziehung und Beziehungslosigkeit, um den sich alle drei Reden bemühen, wird in C. durch die Umkehrung der Beziehung von Subjekt und Gegenstand entfaltet: War in B. der einzelne Gegenstand in der romantischen Sicht immer in der Gefahr, vom liebenden Subjekt aufgesogen und überwältigt zu werden, so liegt nun umgekehrt die Gefahr für das Subjekt darin, sich in seiner Artikulation und Gestaltung von seinem partikularen Gegenstand abhängig zu machen: „*Erotik wird durch den Gegenstand bestimmt, Freundschaft wird durch den Gegenstand bestimmt, nur Liebe zum Nächsten wird durch die Liebe bestimmt" (75f./70)45. Das Bemächtigen des Anderen durch das Subjekt hat die dialektische Kehrseite, daß gerade durch die Bemächtigung das Subjekt abhängig wird von seinem Gegenstand: Es kann sich überhaupt nur zu

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Daß es sich hier um eine leibliche Stellung handelt, ist festzuhalten gegenüber einer vorwiegend metaphorischen Rede von „Stellungen" oder „Positionen" des Selbst, wie es etwa A. Gr0n für seinen Phänomenologiebegriff reklamiert, vgl. aaO. 39. Dort kann mit „Stellung" in erster Linie eine bloß bildhafte Beschreibung der sich entfaltenden Dialektik des Bewußtseins gemeint sein, nicht aber eine durch das Verhältnis zu einem anderen Subjekt relativ bestimmte Position innnerhalb eines raum-zeitlich strukturierten Handlungsfeldes. Wenn die Kritik der romantischen Subjektivität in II B. die Kritik einer kausalen Erklärung des relationalen Handelns implizierte, so kann man in II C. eine Kritik der teleologischen Handlungserklärung entdecken. Wird Handlung verstanden als durch den bestimmten Gegenstand hervorgerufen, so ist dies genau dasjenige (zweistellige) Handlungsverständnis, dessen Scheitern in dieser Rede behauptet wird.

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dem verhalten, was für es selbst kommensurabel ist46. Das NichtKommensurable dagegen ist eine Bedrohung für das Subjekt, insofern es sich dazu nicht mehr verhalten kann47. So kann der Dichter den Verlust der Geliebten nur als „Trostlosigkeit" verstehen; er vermag also in der Begegnung mit dem prinzipiell Anderen (dem Ende oder der Veränderung der Beziehung) keine Artikulation anzubieten, die auch in dieser Situation noch die Struktur des Lebens als Gestaltbarkeit von Handlungsräumen ausdrückt (73f./67f.). Zu dieser Artikulation ist nur das universale Sollen der Nächstenliebe fähig: „Den Nächsten [...] kann keine Veränderung dir nehmen [...] Und der Tod kann dir den Nächsten nicht rauben, denn nimmt er einen, so gibt das Leben dir sogleich einen wieder" (74/68). Der Verlust des Geliebten durch die „Veränderung" ist die absolute Grenze für die Dichter-Liebe. Doch ist dies mehr als eine allgemein bekannte und hinzunehmende Begrenzung der Liebe endlicher Subjekte. Für Kierkegaard enthüllt dieses Scheitern der Liebe am Verschwinden ihres Gegenstandes vielmehr das grundsätzliche Scheitern derselben Liebe schon vorher, indem es ihre prinzipielle Unfähigkeit zur Artikulation von Relationalität in der Begegnung mit dem ,ganz Anderen' enthüllt. Das Versagen gegenüber der Veränderung wiederholt sich im Versagen gegenüber der Fremdheit und Vielfalt innerweltlicher Handlungssituationen. Dieses Versagen beschreibt die Rede als ein Vermeiden von Handlungssituationen, als eine gesellschaftliche Praxis der Beziehungslosigkeit48. Ihre Struktur besteht erneut in der zweistelligen Selbstartikulation: in dem „ungeheure(n) Netz" der leiblichen „Verschiedenheit" (81/74) verfangen zu sein, indem man „sich verzweifelt an die eine oder andere Verschiedenheit des irdischen Lebens geklammert hat" (83/76). Das bereits in B. angesprochene Verhältnis von Vornehmen und Geringen wird nun aus46

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„Oder ist es ein Vorzug an eines Menschen verwöhnter Gesundheit, daß er sich nur wohlfühlen kann an einem einzigen Ort in der Welt, umgeben von jedweder Begünstigung?" (75/69). Ontologisch ausgedrückt: Nicht-kommensurabel ist, was subjektiv nicht bestimmbar ist, und Nicht-Bestimmbarkeit ist genau der (kreativ-offene) Begriff für den Nächsten: „im unendlichen Sinne (ist) jeder Mensch der Gegenstand" (77/71). Die kreative Dimension dieses Begriffs von Unbestimmtheit soll im folgenden aufgezeigt werden. Der tiefere Grund dieser Vermeidungsstrategie ist für TL die „Angst", nämlich die Angst vor der Unvollkommenheit der eigenen Liebe, also die Angst der bloß zweistellig verstandenen Liebe vor dem kategorial Dritten, s. 76/70; dies entspricht genau dem Schema aus Begriff Angst, vgl. BA, 40: Angst als „Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit".

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führlich hinsichtlich der Kommunikationsstrukturen analysiert. Dabei zeigt sich für Kierkegaard das Festklammern an der Verschiedenheit in einer (gegenseitigen) Doppelbödigkeit der Kommunikation: Unter der Oberfläche eines Verkehrens mit dem sozial Geringeren spricht sich tatsächlich eine heimliche Distanz aus, die den Anderen gerade nicht als gleichwertigen Kommunikationspartner anerkennt: „Ob nun einer seinen Hochmut und seinen Stolz unverhohlen genießt, indem er anderen Menschen bedeutet, daß sie für ihn nicht da sind und indem er - zur Nährung seines Hochmuts - will, daß sie dies empfinden, während er den Ausdruck sklavischer Unterwerfung von ihnen fordert - oder ob er heimlich und versteckt, gerade durch Vermeiden jeglicher Berührung mit ihnen [...] ausdrückt, daß sie für ihn nicht da sind: das ist im Grunde ein und dasselbe" (84/77; Hervorhebung U.L.). Es ist eine Kommunikation ohne Beziehung, eine Praxis ohne gegenseitige Anerkennung als möglicher Handlungspartner: „auf jene anderen Menschen darf er nicht blicken - um nicht erblickt zu werden" (85/78)49 Für die „Geringen" weist Kierkegaard ein ähnliches Verhalten nach. Bei ihnen ist es nicht der heimliche Stolz, sondern eine heimliche Verbitterung, die den Umgang mit den Mächtigen bestimmt; dem Verhältnis und seiner sozialen Gestalt wird die Zustimmung entzogen, der Andere nicht mehr als anderer, d.h. als Mächtiger anerkannt 50 So entsteht das Bild einer gesellschaftlichen Praxis, die, weil sie in der Immanenz zweistelliger Artikulationen ihrer Beziehungen feststeckt, ständig davor flieht, diese Beziehungen handelnd zu gestalten. Sie kommt nicht dazu, mit dem Handeln anzufangen. Das eingangs eingeführte Bild vom Tod der Liebe findet seine Fortführung in der Beschreibung sozialer Interaktion. Wie führt nun im Gegensatz dazu das Gebot der Nächstenliebe das Subjekt zu der Position, in der es zum Handeln kommt? Wie kann gezeigt werden, daß die Liebe einerseits unabhängig von der Partikularität ihres Gegenstandes ist, andererseits aber sich gerade auf diese Partikularität einzulassen vermag? Wie kann die Erschließung der Situation durch den Nächstenbegriff (II B.) so gedacht werden, daß mit dem Sich-einlassen auf die zufallende Kontingenz des Anderen nicht doch wieder die zweistellige Struktur eines einseitig wirkenden

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Vgl.o. S. 56f. zum Zusammenhang von Augen-Blick und Situationsverstehen. Es fällt auf, daß die Rede der Beschreibung der Beziehungsverweigerung der Mächtigen erheblich mehr dichterischen Raum und analytische Schärfe einräumt als der anderen Seite; hierin kann man eine politische Stellungnahme Kierkegaards gegen seine Standesgenossen erkennen.

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Machtverhältnisses verbunden ist, in der allein der Interpretierende definiert, was ist? Die Rede beantwortet diese Frage durch eine Analyse der spezifischen Wahrnehmungsform, die im Begriff der durch Liebe erschlossenen Situation mitgesetzt ist: „den Nächsten sieht man nur mit geschlossenem Auge oder durch Absehen von [at see fra] den Verschiedenheiten. Das sinnliche Auge sieht immer die Verschiedenheiten und sieht auf [til] die Verschiedenheiten" (78/72). Die Struktur dieses Sehens hatte ich bereits für B. als regelgeleitete Wahrnehmung bestimmt: als ein bestimmtes Sehen des Anderen, das erst durch eine vorgängige und sich selbst aufdrängende Negativität oder Unbestimmtheit möglich wird. Diese Selbsterschließung der vorgängigen Indifferenz wird von Kierkegaard in der Metaphorik des Sehens beschrieben. Doch der sprachliche Charakter dieses „Absehens-von" wird ausdrücklich festgehalten: „Wenn dann dein Sinn nicht verwirrt und zerstreut wird durch Schauen auf den Gegenstand deiner Liebe und die Verschiedenheit des Gegenstandes, so wirst du lauter Ohr für das Wort des Gebots, als sagte es einzig und allein zu dir, daß ,du' den Nächsten lieben solltest" (78/71). Der positive Gehalt des Wegsehens hat die Form des Gebotes, und im Gebot wird das Wegsehen zugleich zu einem neuen Hinsehen, in dem etwas Neues wahrgenommen wird: der Nächste. Das Gebot wirkt als Erfahrung, als eine bestimmte Weise, den Anderen wahrzunehmen. Diese vermittelte Wahrnehmung ist dann primär nicht ein Interpretationsakt seitens des sehenden Subjekts, sondern etwas, das mit dem Subjekt selbst geschieht. Die Leistung des Gebotes besteht darin, angesichts der weltlichen Unterschiede die Dimension der unmittelbaren Beziehung als den Raum des Handelns überhaupt wieder zu eröffnen, und zwar ausdrücklich innerhalb der leiblich-welthaften Unterschiede (s. 79f./73). Die Fragestellung von II B. wird weiter vertieft: Wie ist in einer Deutung eines begegnenden Anderen durch das Liebesgebot die Selbsterschließung dieses Anderen als eines Nächsten zu verstehen? Kierkegaard fragt jetzt danach, wie der Andere auf den Handelnden einwirkt und für diesen erfahrbar wird. Deshalb ist das Wortfeld „sehen" in dieser Rede so zentral, und deshalb wird die Wirkungsweise des Gebotes in der Darstellung jener Erfahrungsformen beschrieben, in der die Handlungsbeziehung als ursprünglich, erstheitlich erfahren wird. Wenn das, was gesehen wird, der Nächste ist, so ist dies etwas Allgemeines, sogar etwas Unendliches. Was gesehen wird, ist mehr als der einzelne Gegenstand, nämlich: der einzelne Gegenstand in seiner Unendlichkeit. Was sich damit in diesem neuen Sehen drittheitlich aufdrängt, ist die Liebe selbst als Erstes, Ursprüngliches. Denn die

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Liebe ist, wie im Kontext unserer Stelle vorläufig behauptet wird, eine Bewegung: ein „Bedürfen, ein Verlangen [Trang], ist der Ausdruck für einen Reichtum" (76/70). Der hier gebrauchte Bewegungsbegriff kann als ontologische Erläuterung der genannten Form von Erfahrung und Einwirkung durch den Gegenstand verstanden werden: Die Liebe kann sich dem Wahrnehmenden von außen aufdrängen, weil sie eine selbstverursachte Bewegung auf den Wahrnehmenden hin ist, in der dieser von der Liebe affiziiert oder gar überwältigt wird51. Dabei ist diese affizierende Liebe eben nicht mit einer der beiden Seiten der Beziehung zu identifizieren. Vielmehr steht die erfahrbare Liebe als das Dritte erneut für die Relation als „das positive Dritte": Die affiziierende Liebe erscheint von außen in der Gestalt des Anderen, insofern dieser als der Nächste erfahren wird; doch das Nächster-Sein ist gerade keine Qualität, die ihm innerhalb der Relation und der bloßen Gegenseitigkeit (Zweistelligkeit) zugeschrieben werden könnte; zum Nächsten wird er durch etwas, was nicht er selbst ist, aber doch an ihm leibhaft wahrgenommen wird. Und andererseits ist solche Wahrnehmung durch eine fundamentale Passivität bestimmt: Was als Unendlichkeit gesehen wird, ist die Selbstdarstellung der Liebe, nicht aber etwas, das der Sehende selbst konstruiert oder dem Gegenstand beilegt52. Die Nächstenliebe ist ein Erfah51

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Zum Zusammenhang von Bewegung und Augenblick als Situationserschließung vgl. K. Schäfer, aaO. 185f£ Zum Begriff der Liebe als unbewegte Bewegung vgl. PB, 22. Allerdings denkt Climacus diese Bewegung gerade im Unterschied zu einer durch ein „Bedürfnis" teleologisch verursachten Bewegung. In TL dagegen kann Kierkegaard die unendliche Selbstbewegung mit dem Bedürfnis zusammendenken, indem er das Bedürfnis nicht als „Besonderheit des Gegenstandes" denkt, sondern als die „Wesentlichkeit des Bedürfnisses", und, so fährt er fort, „nur in diesem letzten Sinne ist das Bedürfnis ein Ausdruck für den Reichtum [...] im Sinne der Besonderheit gibt es keinen Gegenstand, während im unendlichen Sinne jeder Mensch der Gegenstand ist" (76f./70£). Diese Passivität des Sehens wird durch die Semantik der Rede leicht verdeckt: Es hat bisweilen den Anschein, als sei durchgängig von einem Sehen im Sinne einer aktiven Interpretation durch das Subjekt (einen anderen als etwas sehen) die Rede. Doch damit wäre das Sehen der Nächstenliebe einseitig zu einem Vermögen des Subjekts geworden und sein transzendenter Status wäre ungeklärt. Wird das Sehen ausschließlich als Tun des Sehenden beschrieben, der den Anderen als Nächsten zu sehen vermag, kann nicht mehr erklärt werden, wodurch dieses Tun ermöglicht wird. Eben diese Reduktion scheint mir bei A. Gr0n, dialektik vorzuliegen. Hier wird der subjektiv-aktive Aspekt eines verstehenden Sehens („im anderen den Menschen zu sehen", ebd. 269, eigene Übersetzung) einseitig betont, das passive, ästhetische Element jedoch weitgehend unberücksichtigt gelassen. Daher muß Gr0n das Sehen als Tun, nämlich als das pflichtgemäße Tun verstehen, ohne daß geklärt wird, wie das Subjekt zu solchem Sehen überhaupt fähig wird. Sehen wird

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rungsgegenstand, der sich in eigener Form und Zweckhaftigkeit selbst zur Erfahrung bringt, wie Kierkegaard in typischer Überspitzung feststellt: „[...] für jemanden, in dem Liebe zum Nächsten ist, ist die Liebe ein Bedürfnis, das tiefste Bedürfnis; er hat die Menschen nicht nötig, um doch jemanden zu haben, den er lieben kann, sondern er hat das Bedürfnis, die Menschen zu lieben [...] und das ,Soll' der Ewigkeit bindet und lenkt das mächtige Bedürfnis, damit es nicht in die Irre geht und zum Stolz wird" (77/71). Die Liebe als ästhetische Überwältigung des Subjekts, und dies als Beschreibung der Geltung des Liebesgebotes - dieser Zusammenhang wird an anderer Stelle noch deutlicher: „Wenn man nämlich mit Gott geht, so geht man ja freilich ohne Gefahr, aber man ist auch genötigt zu sehen, und zwar auf eine ganz eigene Art zu sehen. Wenn du in Gesellschaft mit Gott gehst, so brauchst du nur einen einzigen Elenden zu sehen, und du kannst dem nicht ausweichen, was das Christentum dich verstehen machen will, nämlich die menschliche Gleichheit. Ach, aber jener Bessere würde es vielleicht nicht ganz wagen, diese Wanderung in Gesellschaft mit Gott und ihren Eindruck auszuhalten, er zöge sich vielleicht zurück [...] Ja, das Gehen mit Gott (und nur in dieser Gesellschaft entdeckt man ja den ,Nächsten', denn Gott ist die Zwischenbestimmung), um das Leben und sich selbst kennenzulernen, das ist ein ernster Gang." (88/80). Das durch Gott vermittelte Sehen ist eine erzwungene Erfahrung. So wie jede unmittelbare Wahrnehmung den Aspekt der Nötigung, des Überwältigt-Werdens von einem Anderen hat, so wird das Sehen der Liebe durch ein ästhetisches Objekt (oder besser Subjekt), nämlich Gott, in bestimmter Weise genötigt. Das göttliche Gebot nötigt zu einer bestimmten Weise der Wahrnehmung. Dieses passive Genötigtsein wird zugleich beschrieben als leibliche Bewegung (Wanderung!) in einen Handlungsraum hinein. Die leiblichen Metaphern deuten an, daß es hier ausschließlich als subjektive Aktivität verstanden, d.h. die Vorgängigkeit der Relation in ihrer Selbsterschließung kommt gerade nicht zum Zuge. Schließlich ist deutlich, daß das eigentümliche Sehen der Nächstenliebe für TL gerade kein eigentliches, d.h. intentionales Sehen ist, sondern ein Nicht-Sehen: ein blindes Absehen-von. Die Untersuchungen von Gr0n und Ferreira (s.o. Anm. 37) machen zu Recht auf die Bedeutung der Semantik des Sehens in TL aufmerksam. Dabei wird jedoch der Begriff des Sehens erstaunlich undifferenziert gebraucht. Die vielfältigen Differenzen im Begriff des Sehens (z.B. Sehen als sinnliches Wahrnehmen, als Interpretationsakt, als Beziehungsaufnahme usw.) kommen nicht zur Sprache, und entsprechend äquivok ist der Sprachgebrauch, wenn der Begriff auf die Interpretation von TL bezogen wird (vgl. A. Gr0n, aaO. 269: „Die doppelte Möglichkeit, den anderen zu sehen und ihn dennoch nicht zu sehen", eigene Übersetzung).

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sich für Kierkegaard nicht um eine transzendentale Ästhetik handelt, sondern um die leiblich strukturierte Konstitution eines Handlungszusammenhanges. Die Form des Sehens ist schon immer eine Weise der Gestaltung einer Handlungsbeziehung. Und auch die Position des sehenden Subjekts wird immer im vorgängigen Rahmen dieses Zusammenhangs gesehen, nicht aber als Grund oder Ursache der relationalen Handlung. Der thematische Akzent hier wie in der ganzen Rede liegt freilich auf dem Subjekt und seiner Stellung innerhalb des durch die Liebespflicht artikulierten Handlungsraumes53. Dazu gehört, daß die Begriffe „Nächster" und „Gleichheit" nicht nur den Gegenstand bezeichnen, sondern auch das Handlungssubjekt selbst. Den Anderen als Nächsten zu verstehen bedeutet gleichzeitig, selbst „zum Nächsten zu werden", indem man die Nötigung der Liebe am eigenen Leibe erfährt. Einen Anderen als Anderen, d.h. als „Du" zu verstehen, bedeutet, selbst zum „Du", zum Angesprochenen zu werden (101/92). Erst hiermit ist die Forderung nach Nähe, nach versöhnender Verflechtung des Handelnden in seine praktischen Kontexte, an der die von der Rede geschilderte gesellschaftliche Praxis scheitert, begrifflich verwirklicht. Erst in der Stellung, die durch die Erfahrung der Liebe bestimmt ist, ist das Verstehen nicht „auf Abstand" von der Handlungswirklichkeit gestellt, sondern wesentlich handlungsbezogen (89/81). Erst in dieser Stellung ist nämlich die „Wirklichkeit" (ebd.)

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Die praktische Funktion der Liebespflicht als sprachliche Erschließung und Konstitution einer Stellung innerhalb eines Handlungsfeldes kann auch theologisch in der Tradition der lutherischen Berufsethik beschrieben werden: „Ein jeder muß deshalb zuallererst (statt zu fragen, welche Stellung ihm am bequemsten, welcher Zusammenhalt für ihn am vorteilshaftigsten sei) sich selber auf den Punkt stellen, wo die Lenkung [Styrelsen] ihn gebrauchen kann, falls es der Lenkung so gefallen sollte. Dieser Punkt ist eben der, daß man den Nächsten liebt oder wesentlich gleichermaßen für jeden Menschen da ist" (95f./87). Hier liegt zugleich eine Differenz und Erweiterung gegenüber früheren Äußerungen Kierkegaards zum Pflichtbegriff: Im Zusammenhang der hier besprochenen Reden aus TL ist die durch die Pflicht erschlossene Stellung nicht primär als soziale Rolle definiert. Eine solche unmittelbare Verbindung von Pflicht und Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen (besonders der Institution der Ehe) war für die teleologische ,Praxisphilosphie' der Pseudonymen Schriften wesentlich, vgl. E02, 154f£, 270ff., 343ff. In TL dagegen ist dieser sittliche Pflichtbegriff durch eine theologische Deutung verändert, die die Transzendenz der Pflicht zugleich kategorial versteht: als ein „Drittes". Der Ort der Pflicht ist nicht das sittliche Selbstbewußtsein, in dem eine bestimmte gesellschaftliche Aufgabe angeeignet wird, sondern das Gottesverhältnis. Die Frage der gesellschaftlichen Formen dieser transzendenten Pflicht wird allerdings nicht weggelassen, wie die folgenden Reden zeigen werden.

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einer konkreten Beziehung so nahe, daß sie ergreift und verpflichtet. In solcher Nähe ist aber auch keine Täuschung und Doppelbödigkeit in der Kommunikation mehr möglich. In diesem Sinne ist Handlungswirklichkeit fundamental durch die „Zwischenbestimmung" der absoluten Liebespflicht vermittelt und erschlossen. Das Liebesgebot hat die Funktion einer Hermeneutik des Seins als Handlungswirklichkeit54. Erst ein Drittes bringt die beiden Subjekte so nahe zueinander, daß keine weltlichen Unterschiede mehr zwischen ihnen stehen; erst in dieser Nähe können sie anfangen, miteinander in Liebe zu handeln. Die semantische Austauschbarkeit von „Ich" und „Du" deutet ebenso diese Setzung der Relation durch ein Drittes an wie sie die Bedeutung der „Nähe" im Begriff zweier „Nächster" sinnfällig zum Ausdruck bringt. Durch das Liebesgebot werden beide, „Ich" und „Du", zu „Nächsten", zu Ko-Subjekten in einem geteilten Handlungsraum. Der bloß zweistellig gedachte Gleichheitsbegriff dagegen hat nicht diese hermeneutische Kraft, sondern schafft tatsächlich lediglich eine ideologische Praxis partikularer Gleichheit von Ständen und Klassen, die wiederum die Basis der beschriebenen sozialen Beziehungslosigkeit darstellt. Die Rede illustriert diesen Unterschied durch eine Stilisierung des biblischen Gleichnis vom großen Gastmahl (vgl. Lk 14, 12-24). In dieser (Neu-)Erzählung wird nämlich der immanent-relational gedachte Gleichheitsbegriff darin aufgehoben, daß die eingeladenen Gäste ohne jede (relationale) Gleichheit sind; als Arme sind sie nicht in der Lage, „die Einladung erwidern (zu) können" (93/84). Doch durch diese Ungleichheit wird die „christliche Gleichheit" überhaupt erst sichtbar: Die Gleichheit besteht dann nicht in einer metaphysischen Qualität, sondern in der sprachpraktischen Gestaltung einer Beziehung: nämlich darin, die faktisch Ungleichen als „Gäste" einzuladen. Der Begriff „Gast" impliziert eine vorgängige situative Ungleichheit von Gast und Gastgeber, die im Begriff selbst aber bereits überwunden und in eine Gemeinschaft von Gleichen überführt ist. Dies entspricht dem Begriff einer einladenden Liebe, deren Praxis allein in ihrer kreativ-hingebenden Selbstbewegung gründet (die schöpfungstheologischen Obertöne des Bildes vom Gastmahl sind hier deutlich). Und genau um diesen Begriff des Gastes geht es Kierkegaard mit der Erzählung: „so peinlich genau ist die christliche Gleichheit und ihr Sprachgebrauch, sie fordert nicht nur, 54

Diese Formulierung schließt sich an K. Schäfers These einer hermeneutischen Ontologie in den Climacusschriften an, s. aaO., IV. Kapitel.

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daß du die Armen speisen sollst, sie fordert, daß du dies ein Gastmahl [Gjestebud] nennen sollst" (ebd.). Zwei Implikationen solcher Gleichheitspraxis illustriert Kierkegaard mit dieser Geschichte: Zum einen kommt die Stellung des Handlungssubjekts zum Ausdruck, in die es sich durch seine Praxis der Hingebung bringt: es erntet gesellschaftliche Ablehnung. Zum anderen wird darin abschließend noch einmal die zentrale Bedeutung herausgestrichen, die die Sprache in Kierkegaards Darstellung von Praxis einnimmt. Denn das Entscheidende des Einladens liegt eben in seiner Benennung oder Artikulation als „Gastmahl": erst durch dieses Wort erhalten die Eingeladenen und der Einladende ihren Status als Gleiche, und auch erst aufgrund dieses Wortes erfolgt die Ablehnung des Gastgebers durch die Standesgenossen. Daß Sprache und Sprachpraxis Handlungswirklichkeit konstituieren, indem sie einen bestimmten „öffentlichen Raum" schaffen, wird an dieser Erzählung noch einmal exemplarisch deutlich: „O, mein Zuhörer, dünkt es dich, das hier Vorgebrachte sei nur ein Wortstreit über den Gebrauch des Wortes ,Gastmahl'? Oder siehst du nicht, daß der Streit um die Nächstenliebe geht; denn wer den Armen beköstigt, aber doch nicht dergestalt über sein Gemüt siegt, daß er diese Beköstigung ein Gastmahl nennt, der sieht in dem Armen und den Geringen nur den Armen und den Geringen; wer das ,Gastmahl' macht, der sieht in dem Armen und Geringen den Nächsten" (94/85). Der Streit um die Nächstenliebe ist vor allem ein Streit mit und über Worte. Eben diese Einsicht stand auch am Anfang der Erörterung von II A. In der Praxis des Sprechens findet die Nächstenliebe ihre angemessene Ausdrucksform. Fassen wir zusammen: Die drei Reden entfalten das biblische Liebesgebot als eine sprachliche Selbstdarstellung (Artikulation) der immer schon vorgängigen Relation zweier Akteure, die erst durch die Praxis dieser Artikulation ihre Relation als konkreten Handlungsraum zu gestalten vermögen. Dies wird möglich, indem die Artikulation beide Teilnehmer in ihre je eigene Stellung führt. Zwar ist diese Positionierung immer durch die Subjektivität des angesprochenen Du vermittelt, d.h. die Artikulation der Beziehung geschieht im Verstehen und Erfahren des Subjekts. Doch hat sich gezeigt, daß in dieser Artikulation das Subjekt („Ich") niemals ohne das andere Subjekt („Du") gedacht werden kann. Im Hinblick auf die folgenden Reden wird freilich zu fragen sein, ob die Artikulation von Intersubjektivität in der Form eines Selbstbegriffs (die Relation als Selbst, analog zum Selbstbegriff der Krankheit zum Tode) offen genug ist, um den Bewegun-

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gen beider Seiten der Relation gerecht zu werden 55 . Ferner darf jedoch dieser notwendig subjektive Charakter nicht dazu führen, die Liebespflicht selbst mit einer nur subjektiven Möglichkeit oder Gesinnung zu identifizieren. Dagegen setzen die Reden den transzendenten Status der Pflicht, den ich Drittheit genannt habe. Die Pflicht ist die Artikulation einer vorgängigen Beziehung, sie ist die Selbstdarstellung der apriorischen (erstheitlichen) kommunikativen Leiblichkeit einer intersubjektiven Beziehung. Sie ist, zumindest nach Auskunft dieser ersten Reden von TL, als eine Sprachform und eine Sprachpraxis gedacht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, was die drei Reden über die Pflicht leisten und was sie nicht leisten: Sie stellen dar, daß das Handeln der Liebe primär durch die Sprache der Liebe, nämlich das Gebot, bestimmt ist und von hier aus zu denken ist; doch wie das Handeln durch die Sprache bestimmt wird, also wie die sprachliche Gestalt dieses Handelns aussieht, das ist in II A.-C. noch kein Thema. Diese Reden sind primär an den Geltungsbedingungen und der Konstitutionsleistung des Liebesgebots interessiert: an dem Aufweis, daß Liebe nur gelingt, wenn sie zur Pflicht (im performativen Sinn) geworden ist, daß aber deshalb die Geltung dieser Pflicht auch nur im Zusammenhang leiblich-empirischen Handelns aufgezeigt werden kann. Welche bestimmte Gestalt jedoch diese Pflicht im Vollzug praktischer Intersubjektivität und in ihrer zeitlichen Ausdehnung annehmen kann, muß erst noch gezeigt werden. Die Wahrnehmung dieser thematischen Begrenzung scheint mir für ein angemessenes Verstehen der drei Reden methodisch wichtig zu sein. Das Eigentümliche dieser Erörterung der Liebespflicht liegt darin, daß einerseits eine unbedingte Pflicht als tranzendenter Ausgangspunkt des menschlichen Handelns genommen wird, diese Pflicht selbst aber stets im Medium des leiblichen Handelns beschrieben wird. Es findet keine transzendentale Deduktion eines Pflichtbegriffes statt, sondern Kierkegaard verfolgt das offenbarte Liebesgebot in seiner eigenen Wirklichkeit, d.h. in den Praxisformen, in denen es wirksam wird. In dieser Darstellung ist die Liebespflicht immer schon 55

J. Habermas, Diskurs, 75ff. konstatiert für die Praxisphilosophie der Junghegelianer die Kontinuität des Subjektdenkens, wenn auch in Abkehr von Hegels Bewußtseinsmodell; auch Marx' produktionsästhetischer Praxisbegriff entkomme nicht der „Selbstverstrickung einer subjektzentrierten Vernunft" (84). Demgegenüber konnten wir in TL 1,II bereits ein Handlungsverständnis feststellen, das Intersubjektivität zu denken erlaubt, und zwar als durch eine dritte Größe vermittelte Handlungsbeziehung. Es ist abzuwarten, ob dieses Ergebnis von TL durchgehalten wird.

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am Werk und im Gebrauch, d.h. sie ist Handlungs-Phänomen. Dabei handelt es sich um einen sprachlichen Gebrauch. Doch gibt Kierkegaard andererseits auch nicht eine rein deskriptive, metaethische Analyse eines bestimmten moralischen Sprachgebrauchs56; seine Darstellung der sprachlichen Wirklichkeit des Liebesgebotes hat normativen Charakter, dadurch daß sie diese Wirklichkeit als Wirksamkeit und als praktischen Erfolg beschreibt: als die sprachliche Praxis, in der die Liebe gelingt. Der Aufweis dieses Gelingens ist die eben angesprochene Begründungsleistung. Begründet wird damit der ontologische Status der Liebespflicht, nämlich ihre unableitbare Transzendenz; dies ist das Thema der Reden, darin Kants Begründung der Ethik durch den Verweis auf das „Faktum der Vernunft"57 ähnlich. Doch diese Ontologie der Normativität des Handelns kann nur auf dem Wege ihrer immanenten, sprachlichen Wirksamkeit in Handlungsgeschichten entwickelt werden58. Es stellt sich die Frage, ob jener Tranzendenzstatus der Liebe gegenüber dem Vernunftanspruch einer philosophischen Ethik und Handlungstheorie verteidigt werden kann. Ein kurzer Vergleich mit zwei klassischen Formen der Pflichtethik soll zur Klärung dieser Frage beitragen.

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Vgl. R.M. Hare, Sprache. Vgl. I. Kant, Werke VII, 141. Die ontologische Fragestellung der drei Reden wird übersehen, wenn die Liebespflicht auf ihren funktionale Bedeutung reduziert wird, die darin bestehe, den vorgängigen Liebestrieb vor seiner Selbstzerstörung zu bewahren, vgl. zu dieser Interpretation A. Gr0n, aaO. 269; P. S0ltoft, Pflicht, 73ff. Die Beschreibung der Funktion der Liebespflicht in Hinsicht auf die Liebe selbst hat noch nicht die Frage beantwortet, wie die Wirklichkeit dieser Pflicht selbst zu denken ist und was sie 'für sich' ist. Der Gegenstand der drei Reden ist also nicht die Liebe als undialektisches anthropologisches Faktum, sondern die Liebespflicht als bestimmtes Phänomen der Liebe, d.h. als die erscheinde Wirklichkeit der Liebe selbst, nicht nur als ein Hilfsmittel zu ihrer Realisierung. Zu einer funktionalen Beschreibung des Sollens vgl. auch EC, 166. Mein Versuch, den Pflichtbegriff auf seine Möglichkeitsbedingungen zu befragen, unterscheidet sich schließlich von einer unvermittelten, d.h. ontologisch nicht reflektierten theologischen Interpretation. Eine solche findet sich z.B. bei P. Quinn, aaO.: Quinn will das von ihm diagnostizierte Problem der Pflicht, nämlich den kantischen Gegensatz von Forderung und Erfüllung, durch die Einführung des Begriffs der „divine assistance" lösen (ebd. 372), ohne daß jedoch dieser Begriff ontologisch geklärt wäre; zudem hat er kaum Anhalt am Text.

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4. Die Frage der Normativität: Das Liebesgebot im Horizont der Pflichtenethik Mit den drei Reden zum biblischen Liebesgebot ist der Pflichtbegriff in TL noch nicht ausgeschöpft. Auch die folgenden Reden der ersten Redenfolge bemühen sich um die Klärung weiterer Fragen, die sich an diesen Begriff anschließen. Doch zunächst verbindet sich mit der Einführung des Pflichtbegriffs die Frage nach dem darin implizierten Status der Normativität. Wie muß der Status der Pflicht als transzendentes Drittes, als reines Sollen im Verhältnis zu der materialen Gestalt der konkreten Handlungsbeziehung bestimmt werden? Ein vergleichender Blick auf jene Philosophie, in welcher der Pflichtbegriff und die Frage der Normativität zum Kern der Moralphilosophie wird, soll die Beantwortung dieser Frage anleiten. An vielen Stellen scheint TL ein Verständnis der Liebesethik als Pflichtethik im Sinne Kants nahezulegen. Besonders der immer wieder betonte Gegensatz zwischen christlicher und natürlicher Liebe wird in Kants Vokabeln beschrieben: als Gegensatz von absolut gebotener Liebe einerseits und einer Liebe der „Neigung" und des „Triebes" andererseits (s. 34/34). Ferner ist daran zu erinnern, daß Kant selbst das biblische Liebesgebot innerhalb dieser Unterscheidung als Pflicht versteht, nämlich als „praktische und nicht pathologische Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Teilnehmung; jene aber allein kann geboten werden" 59 . Jedoch offenbart dieses Zitat auch zugleich den wesentlichen Unterschied zur Konzeption Kierkegaards in TL: Nach meiner Interpretation ist für TL die Pflicht zur Liebe keine transzendentale, nicht-empirische Bestimmung des Willens, sondern ist eine leibliche Sprachform (im Sinne der Taylorschen Artikulation). Oder anders ausgedrückt: Die Liebespflicht ist keine 59

Werke VII, 25f. Kant argumentiert hier ausdrücklich mit der Paradoxie des Liebesgebotes: Gerade weil Liebe, wie jeder weiß, nicht geboten werden kann, kann sie hier auch nicht als Neigung verstanden werden. Den Aspekt der Gesinnung in der Nächsten- und Gottesliebe betont die zweite Kritik (Werke VII, 205). Erheblich ausführlicher äußert sich die Metaphysik der Sitten zum Liebesgebot: Nächstenliebe als Empfindung kann nicht geboten werden, wohl aber ein Wohlwollen und Wohltun, das wiederum die Festigung der Menschenliebe als handlungsbestimmende Neigung bewirkt (Werke VIII, 533); die Nächstenliebe selbst gehört dann zu der Gruppe derjenigen „natürliche(n) Gemütsanlagen", die zum Bewußtsein der Pflicht prädisponieren (ebd. 530). Als praktische „Maxime des Wohlwollens" (ebd. 585) ist Liebe zusammen mit der Achtung die zentrale Bestimmung des zweiten Teils der Ethischen Elementarlehre überhaupt, vgl. ebd. 629.

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•Se/òsigesetzgebung (Autonomie) 60 , sondern ist dem Subjekt transzendent, insofern sie ontologisch in der Externität der Sprache bzw. einer bestimmten in der Geschichte erscheinenden Sprachform gründet. Diese Externität und Objektivität unterstreichen die Reden insbesondere durch eine offenbarungstheologische Interpretation. Wie wir sahen, wird allein durch diese Äußerlichkeit des Gebotes, das als Drittes von der zweistelligen Immanenz der Relate einer Handlungsbeziehung selbst unterschieden wird, die Funktion der Pflicht als Hermeneutik der Handlungssituation ermöglicht. Nicht der Wille und damit ein - freilich durch die Allgemeinheit der Vernunft transzendental bestimmtes - subjektives Vermögen ist in den Reden II A.-C. das Organ der Pflicht, sondern die Sprache, die den öffentlichen Raum einer Handlungsbeziehung konstituiert. Der hierin liegende fundamentale Unterschied zu Kants Pflichtbegriff spiegelt sich in einer späteren Notiz Kierkegaards: „Wirkliche Selbstverdoppelung ohne ein Drittes, welches außerhalb steht und zwingt, ist eine Unmöglichkeit, und macht alles solche Existieren zu einer Illusion oder zu einem Experimentieren. Kant meint, der Mensch sei sich selbst sein Gesetz (Autonomie), d.h. er binde sich selbst unter das Gesetz, das er sich selbst gegeben habe. Damit ist eigentlich im tieferen Sinne: Gesetzlosigkeit oder Experimentieren gesetzt. Dies wird ebensowenig strenger Ernst, wie es kräftige Schläge werden, die Sancho Pansa eigenhändig seinem eigenen Rücken versetzt [...] Zwang muß hinzu kommen, falls es Ernst werden soll. Wenn es nichts höheres Bindendes gibt als mich selbst, und ich mich selbst binden soll, woher sollte ich dann als A, der Bindende, die Strenge bekommen, die ich nicht habe als B, als der, welcher gebunden werden soll, wenn doch A und Β das gleiche Selbst sind." (Pap. X 2 A 396/T4, 93)

Diese Kant-Kritik Kierkegaards ist nicht sehr originell; Kant selbst hat das Problem eines im Begriff der Selbstverpflichtung gegebenen doppelten Subjektbegriffs bereits gesehen, wenn auch nicht gelöst61. Auch wird Kant mißverstanden, wenn die Selbstverpflichtung als subjektive Willkür statt als allgemeiner Vernunftbegriff dargestellt wird. Doch worauf Kierkegaard hier eigentlich insistiert, ist die Differenz von Transzendentalität und Transzendenz: Eine transzendental bestimmte subjektive Gesinnung kann nicht als Ort und Ursprung einer absoluten Verpflichtung gedacht werden. Und so kann auch die Liebespflicht aus TL nicht auf einen reinen Vernunftbegriff reduziert werden, die subjektiv reproduzierbar wäre, sondern sie wird als eine dem subjektiven Bewußtsein vorgängige phänomenale Realität dargestellt: als jene Sprachform, in der sich das jeweilige Handlungsver60 61

Zur Interpretation des Willens als Selbstgesetzgebung vgl. I. Kant, Werke VII, 64. S. I. Kant, Werke Vili, 549£; vgl. A. Hügli, Erkenntnis, 304 (Anm. 177 und 178).

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hältnis zum Ausdruck bringt und sich zugleich dem Handelnden erschließt. Kierkegaard denkt das fordernde Sollen als das „positive Dritte", das sich nicht aus der zweistelligen Struktur der gegenseitigen Handlungsbeziehung selbst (als eine direkte Forderung des Handlungspartners) ableiten läßt, sondern diese erst als Vollzug verwirklicht und ausdrückt (und damit auch die Forderung des Anderen vermittelt), und dies durch ihre bestimmte sprachliche Form62. Auf die Gefahren einer ideologischen Verzerrung der Pflicht, wenn sie demgegenüber als autonome, und d.h. hier auch: als monologische, in ihre partikulare Interessen verschlossene Selbstbestimmung gedacht wird, hat insbesondere die Kritik der „Vornehmen" aufmerksam gemacht. Der Verlust der Transzendenz bei Kant liegt an der Befrachtung des subjektiven Willens mit dem Autonomiepostulat. Kierkegaards Kritik in der angeführten Notiz wie in TL richtet sich nicht auf die Begründung dieses Willens- und Subjektbegriffs (die in Kants theoretischer Philosophie zu suchen ist63), sondern ausschließlich auf die Frage, ob dieser Begriff in der Praxis des Handelns Sinn macht. Daß nun aber in dieser Kritik des Willens keine neue Heteronomie eingefordert wird, kann einsichtig gemacht werden, wenn es gelingt aufzuweisen, daß der hier angesprochene „Zwang" eine zentrale Rolle für die Konstitution humaner und rationaler Praxis innehat. Der Begriff der Liebespflicht aus TL scheint mir genau diesen Beweis führen zu wollen64.

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Diese These behauptet also, daß die Transzendenz Gottes in TL nicht moralphilosophisch reduziert werden kann auf die Idee „of the other being loved as a representative of universal humanity and thus of universal humanity as the concrete objetive of a moral action" (so A. Hannay, aaO. 272; vgl. ebd. 273: Der Gottesbegriff „is a way of symbolizing the absoluteness and transcendency of the [sc. moral] principles themselves"). Eine solche moralphilosophische Verbindung von Gottesund Liebesidee wie die von Hannay vorgeschlagene entspricht viel eher der Religionsphilosophie L. Feuerbachs. Gemäß seiner Leitidee, „daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist" (Wesen, 10, von Kierkegaard explizit aufgenommen in AUN2, 292), interpretiert Feuerbach den Satz „Gott ist die Liebe" in der Weise, daß die Liebe nicht als Prädikat, sondern als Subjekt zu verstehen ist (ebd. 391ff.). Entsprechend ist die Liebe in ihrem Grund nicht eine Eigenschaft und Gabe Gottes, sondern ist Gattungsbewußtsein und universale Humanität: „sie ist nichts andres als die Verwirklichung der Einheit der Gattung auf dem Wege der Gesinnung" (ebd. 395). Kierkegaards theologische Interpretation der Liebe als „Drittem" setzt sich jedoch von Feuerbachs Auffassung dezidiert ab, der ein solches Drittes zwischen den Handelnden ablehnen muß (s. ebd. 397£). Vgl. I. Kant, Werke III, 136ff. G. Marino, Reason, 62 führt die zitierte Passage aus Pap. X 2 an als Beleg für die Begrenzung der Vernunft innerhalb der Ethik Kierkegaards. Er sieht diese Ethik,

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Darin liegt zugleich der zweite wichtige Unterschied zu Kant: Die Pflicht erscheint in TL als ein Sollen nicht im präskriptiv-normativen Sinn, sondern als ein die intersubjektive Handlungswirklichkeit allererst aufschließendes Sollen65. Sie läßt sich nicht als kognitive oder kriteriologische Formel (kategorischer Imperativ) zur Gewinnung oder Beurteilung von verallgemeinerungsfähigen Maximen für mögliche, d.h. hiervon selbst zu unterscheidende Handlungen lesen. Vielmehr beziehen sich die Elemente der Allgemeinheit und Notwendigkeit auf denjenigen kreativen Verstehensprozeß, in dem eine zufallende Begegnung mit einem anderen Akteur durch die Artikulation der Liebe gedeutet wird. Es geht nicht darum, ein Einzelnes (die Situation bzw. eine bestimmte Handlungsweise) unter die normative Gesetzmäßigkeit eines Allgemeinen und Notwendigen zu subsumieren; vielmehr dienen, wie wir gesehen hatten, umgekehrt die Universalbegriffe des Nächsten und der ewigen Gleichheit dazu, das faktisch begegnende Einzelne als Einzelnens, Anderes, Fremdes zu erschließen und anzuerkennen. Schließlich stimmt auch die Unterscheidung von Pflicht- und Triebliebe trotz der kantischen Terminologie nicht mit der Konzeption Kants überein. Kant gewinnt die grundsätzliche moralische Differenzierung von Pflicht und Neigung aus der erkenntnistheoretisch gewonnenen Unterscheidung von Freiheit (Vernunft) und Naturkausalität (Sinnlichkeit). Das Vernunftwesen Mensch ist als Teilhaber beider Welten durch deren Widerspruch geprägt66, so daß die Vernunft sich nur als nötigender Imperativ im Bewußtsein des Handelnden artikulieren kann. Der Nötigungscharakter bezieht sich hier also auf den Widerspruch zwischen Vernunft und Sinnlichkeit im Subjekt selbst. In TL hingegen handelt es sich um einen anderen Gegensatz: Es geht nicht um die Alternative von sinnlich oder vernünftig bestimmter Maxime, sondern um die Alternative von (leibbestimmter!) Beziehung

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in einer Radikalisierung von Kant, einseitig auf die Frage nach einer guten Gesinnung konzentriert, unter Verlust der Reflexion auf die Handlungsfolgen. Die Möglichkeit, ob diese Tagebuchnotiz nicht auch umgekehrt als Hinweis auf eine grundsätzliche Kritik am Willen als moralischen Prinzip gelesen werden kann, erörtert Marino nicht. Vgl. zur Stelle auch C.S. Evans, Authority, 27. Zur hermeneutisch-erschließenden Funktion des Ethischen vgl. H. Fahrenbach, Ethik, 54ff. S. I. Kant, Werke VII 88. Freilich darf dieser Widerspruch nicht im Sinne eines metapysischen Dualismus verstanden werden, wie Kant in seiner Erklärung des „radikal Bösen" deutlich macht: Nicht die Sinnlichkeit selbst ist der Grund einer bösen Handlung, sondern ihr freier Gebrauch in der Bestimmung der Handlungsmaxime (Werke VIII, 683f.)

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und Beziehungslosigkeit: „Nein, eben weil das Christentum in Wahrheit Geist ist, deshalb versteht es unter dem Sinnlichen etwas anderes, als was man unmittelbar das Sinnliche nennt, und so wenig wie es den Menschen hat verbieten wollen zu essen und zu trinken, ebensowenig hat es Ärgernis genommen an einem Trieb, den der Mensch sich ja nicht selbst gegeben hat. Unter dem Sinnlichen, dem Fleischlichen versteht das Christentum das Selbstische [...] Eben deswegen hegt das Christentum Verdacht gegen *Erotik und Freundschaft, weil Vorliebe in Leidenschaft oder leidenschaftliche Vorliebe eigentlich eine andere Form der Selbstliebe ist" (60Í./57). Das Problem der Sinnlichkeit besteht für TL also nicht in der Bestimmung der Handlung durch Naturkausalität, sondern in der Unfähigkeit des „Selbstischen", das eigene Selbst zu überschreiten und sich dem Anderen zu öffnen - wohlgemerkt: dem jeweils bestimmten Anderen, nicht dem vernünftig-allgemeinen Anderen. Die Möglichkeit solcher Unfähigkeit oder Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme aber gründet nicht in der Verfaßtheit des Subjekts als Wille, sondern in der bestimmten Artikulation der Intersubjektivität. Sinnlichkeit als das Selbstische ist die Artikulation einer Handlungsbeziehung, in der diese Beziehung selbst verfehlt wird. Kants erkenntnistheoretisch gewonnener Gegensatz von Natur und Freiheit wird hier zum pragmatischen Gegensatz von verschlossener Subjektivität und gelungener Intersubjektivität 67 . Pragmatisch ist dieser Gegensatz darin, daß er das Subjekt nicht als prinzipiell weltlosen Erkennenden, sondern als Handelnden und Sprechenden und in Handlungen leiblich Verstrickten beschreibt. „Geist" wird nicht, wie in Kants Vernunftbegriff, durch den Gegensatz zum Sinnlichen (Welt) gewonnen, sondern wird in der leibhaften Begegnung von Ich und Du handelnd realisisert. Dementsprechend meint auch die Nötigung durch die Pflicht in TL nicht das Überwinden der natürlich-triebhaften Handlungsmotive durch Vernunftgründe. Statt dessen handelt es sich beim Nötigen und Überwältigen der Pflicht zum einen, wie wir besonders in II C. gesehen hatten, um die (durch die Pflicht vermittelte) Präsenz des Anderen, des Handlungspartners, die das Subjekt in eine bestimmte relative Position dem Anderen gegenüber nötigt. Das Subjekt vollzieht keine Selbstnötigung, sondern unterliegt einem Überwältigtwerden durch ein Anderes; durch die Pflicht macht es eine Erfahrung. Zum anderen sahen wir in II B., wie das Sollen die Kreativität eines dialo67

Dies entspricht dem Gegensatz von Unfreiheit als dämonischer „Verschlossenheit" und Freiheit als „Kommunikation", s. BA, 127ff.

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gischen Situationsverstehens eröffnet. Die Unterscheidung von Pflicht und Neigung, die bei Kant die Grenze zwischen moralischer und nichtmoralischer Praxis beschreibt, indem sie die intersubjektiv prinzipiell unzugänglichen Motive des Handelns benennt, wird von TL aus dem Innenraum der Subjektivität herausgeholt und in den leiblichen Raum der intersubjektiven Praxis selbst hineingestellt, um damit den Unterschied zwischen gelingender und mißlingender Liebe in der anschaulichen Objektivät von konkreten Handlungsformen benennen und beschreiben zu können68. So sehen wir, daß Kierkegaard den Pflichtbegriff in TL erheblich anders als Kant ausführt. Gleichwohl nimmt der Begriff der Liebespflicht eine mit Kants Konzeption vergleichbare systematische Stellung ein: Die drei Reden führen das Sollen als den (ersten) Grundbegriff der Ethik der Liebe ein (neben dem zweiten Grundbegriff, dem Können) und umreißen mit dem Pflichtbegriff zugleich den

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Man könnte einwenden, daß doch auch bei Kant die Pflicht intersubjektiv verankert ist, insofern sie ihren Grund in der gegenseitigen Anerkennung von Vernunftwesen hat, die teleologisch auf ein „Reich der Zwecke" hingeordnet sind (s. I. Kant, Werke VII, 66). Dies ist allerdings eine nicht-leiblich gedachte Intersubjektivität, d.h. anders als bei Kierkegaard gewinnt die Pflicht hier keine Gestalt .zwischen' den Handelnden, sondern kann allein in der Form der subjektiven Selbstbestimmung (Moralität) erhoben werden; die Dimension der leiblichen Intersubjektivität wird dagegen in der Form der Legalität gedacht. Kants Moralphilosophie ist nicht die einzige philosophische Position, mit der Kierkegaard sich in seiner Konzeption des Pflichtbegriffs indirekt auseinandersetzt. Die Ausführungen in TL zur Liebespflicht können auch als eine Antwort auf den Zeitgenossen L. Feuerbach gelesen werden (vgl. Anm. 62). Mit Feuerbach teilt Kierkegaard die „praxisphilosophische" Fragestellung an der Leiblichkeit der Vernunft (Habermas), insbesondere auch das starke Interesse am Liebesphänomen. Doch Feuerbachs anthropologische Interpretation dieses Phänomens muß nach Kierkegaards Begriffen scheitern, insofern hier programmatisch derjenigen Transzendenz der Abschied gegeben wird, ohne die nach Kierkegaards Auffassung die Liebe scheitern muß. Von Kierkegaard wie von Kant aus gesehen handelt es sich um einen Fehlschluß, wenn Feuerbach von der phänomenologischen Form der Liebe als Unmittelbarkeit (Wesen, 397) auf die Abwesenheit jeglicher Vermittlungsformen in der Handlungsstruktur dieser Liebe schließt (ebd. 398). Kierkegaard geht darin über Feuerbach hinaus, daß er die Liebe nicht nur als unmittelbare „Gesinnung" (ebd.) versteht, sondern als eine Realität, die in Strukturen von Intersubjektivität zu beschreiben ist. In diesem Sinne kann man dann auch sagen, daß der Unterschied zu Feuerbach darin besteht, daß TL handlungstheoretisch argumentiert. Die explizite Bemerkungen Kierkegaards über Feuerbach fallen allerdings verhältnismäßig positiv aus. Er äußert sich u.a. anerkennend über Feuerbachs .ehrlichem' Atheismus und beschwört eine strategisches Bündnis mit ihm im Kampf gegen die Lüge der europäischen Christenheit, s. Pap. X 2 A 163; SLW, 481f., vgl. G. Arbaugh, Feuerbach·, K. Nordentoft, Brand-Majoren, 173ff.

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ontologischen Rahmen des Folgenden. Nur wird dieser Rahmen im Unterschied zu Kant nicht im moralischen Subjekt verortet, sondern von der intersubjektiven und insbesondere sprachlichen Phänomenalität der Pflicht aus aufgespannt. Wenn es zutrifft, daß TL in dieser Weise die Transzendenz der Pflicht mit ihrer Verortung in der Handlungsrelation zusammendenken will, muß erneut nach den begrifflichen Mitteln für ein solches Zusammendenken gesucht werden. Wie kann die Pflicht als ein „positives Drittes" der Relation gedacht werden, das doch zugleich nur in der konkret-leiblichen Relation seinen Ort hat? Oder anders herum gefragt: Was ist der normative Grund einer Ethik, die konstitutiv in relational-kommunikativen Begriffen strukturiert ist? Wird die Frage solcherart gestellt, scheint mir eine Parallele zur Aufgabenstellung der Diskursethik vorzuliegen. Dieser vornehmlich von K.O. Apel und J. Habermas entworfene Theorie typ ist der Versuch, Kants transzendentalphilosophische Pflichtenethik auf der Grundlage einer Handlungstheorie zu erneuern 69 . Gegenstand der Ethik sind danach „die Sollgeltung von Normen und die Geltungsansprüche, die wir mit normenbezogenen (oder regulativen) Sprechhandlungen erheben" 70 . Die Sollgeltung von Normen wird nun nicht mehr in einem „Faktum der Vernunft" verankert, sondern in der Handlungssituation des Argumentierens bzw. eines verständigungsorientierten Handelns 71 . Die Unbedingtheit des Sollens einer Norm liegt in ihrer Universalisierbarkeit, diese aber muß sie sich im Raum und unter den Bedingungen eines rationalen Diskurses, d.h. durch Angabe von Gründen und unter freier Zustimmung aller Diskursteilnehmer, immer erst noch verdienen. Der normative Grund der Ethik liegt in der rationalen Struktur des kommunikativen Handelns und kann als Anerkennungsstruktur beschrieben werden 72 . Mit dieser grundlegenden Reziprozi69

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Vgl. vor allem K.O. Apel, Apriori und J. Habermas, Diskursethik. Auf die Differenzen zwischen diesen beiden Ansätzen, insbesondere hinsichtlich des Problems der Letztbegründung, kann ich in diesem Zusammenhang nicht angemessen eingehen (vgl. aber J. Habermas, ebd. 104-108; D. Böhler, aaO. 302-309). Mir kommt es hier lediglich auf den einen Punkt an: wie hängen Normativität (Pflichtbegriff) und Handlungsbegriff zusammen? J. Habermas, aaO. 54. K.O. Apel, aaO. 395ff., J. Habermas, aaO. 75f., 108ff.; D. Böhler setzt an die Stelle des kantischen Faktums der Vernunft das „Faktum" der „kommunikativen Erfahrung" (aaO. 296ff.). „Die Reziprozitäten, die die gegenseitige Anerkennung zurechnungsfähiger Subjekte tragen, sind bereits in jenes Handeln eingebaut, in dem Argumentationen wurzeln" (J. Habermas, aaO. 110). Vgl. Apels Formulierung der „moralischen

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tät ist jedoch die Transzendenz oder Drittheit eines unbedingten Sollens gegenüber der konkreten Handlungsbeziehung nicht aufgegeben: Apel betont, daß die Grundnorm der reziproken Anerkennung nicht empirisch vorfindlich sei (und damit den Status eines hypothetischen Imperativs hätte), sondern vielmehr transzendentalen Charakter habe, indem sie bei jeder tatsächlichen Argumentationshandlung immer schon als Bedingung der Möglichkeit des Argumentierens vorausgesetzt sein muß (und insofern als kategorischer Imperativ gelten kann). Bei Habermas kommt ein vergleichbarer transzendentaler Status der kommunikativen Alltagspraxis der Lebenswelt und dem ihr inhärenten verständigungsorientierten Handeln zu73. Es ist offensichtlich, daß die Stellung der Liebespflicht in den drei Reden aus TL sich von dieser Form des kategorischen Imperativs unterscheidet. Auch TL setzt, wie wir sahen, die konkrete Beziehung zweier Handelnder als unhintergehbaren Ausgangspunkt voraus, hinter dem man subjektivitätstheoretisch nicht zurückkommt. Doch der Unterschied wird durch die Weise markiert, wie dieser pragmatische Ausgangspunkt sich als Pflicht zur Sprache bringt. Für die Diskursethik wird die .Substanz' der Handlungsbeziehung, die verständigungsorientierte Handlungsstruktur, zur kategorischen Pflicht, indem diese Beziehung als das positiv gegebene Reservoir gilt, dem unter dem Begriff der Verfahrensrationalität alle zukünftigen, möglichen ethischen Prinzipien und Normen entnommen werden können 74 . Für TL hingegen gibt es diesen theoretisch gesicherten, in transzendentaler (Apel) oder sprachpragmatischer (Habermas) Manier rekonstruier-

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Grundnorm" des Argumentierens: „in der Argumentationsgemeinschaft ist die wechselseitige Anerkennung aller Mitglieder als gleichberechtigter Diskussionspartner vorausgesetzt" (aaO. 400). K.O. Apel, aaO. 415ff.; J. Habermas, aaO. 108ff.; Habermas kritisiert allerdings Apels transzendentalen Ansatz und spricht ausdrücklich nicht von transzendentalen Voraussetzungen, sondern von „unausweichlichen Präsuppositionen" (ebd. 100). Zum Aufweis der Normativität als „Rationalität" im lebensweltlichen Verständigungshandeln vgl. J. Habermas, Kommunikatives Handeln Bd. 1, Kap. III. Dieses ,Reservoir' ist natürlich nicht empirisch zu verstehen, da es sonst dem Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt wäre; gleichwohl läßt sich bei Habermas ein optimistisch gestimmer Positivismus erkennen, vgl. J. Habermas, Freiheit, 24: „Die Nicht-Beliebigkeit dieses im weiteren Sinne normativen Gehalts unausweichlicher Kommuikationsvoraussetzungen ist weder ontologisch durch die zweckmäßige Verfassung des Seienden noch epistemologisch durch die vernünftige Ausstattung der Subjektivität gesichert; sie wird allein durch die Alternativlosigkeit einer Praxis beglaubigt, in der sich kommunikativ vergesellschaftete Subjekte immer schon vorfinden." Vgl. auch ebd. 29.; zum Problem des naturalistischen Fehlschluß in diesem Zusammenhang vgl. K.O. Apel, aaO. 378-395.

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baren Boden der Pflicht nicht. Die Handlungsbeziehung gibt es vielmehr immer nur im Vollzug, im Entweder-Oder von gelungener oder mißlungener Praxis. Sie vorauszusetzen, um dann aus ihr ein Prinzip des Sollens zu rekonstruieren, hieße für TL, am Unbedingtheitsanspruch sittlichen Handelns gerade vorbeizugehen. Die in der Beziehung ruhende Pflicht bildet keine reflexiv erhebbare Voraussetzung, da eine solche wiederum das Problem des Sancho Panchas hätte (s.o.): sie könnte nicht unbedingt fordernd sein. Für Kierkegaard ist die Pflicht vielmehr die Selbstartikulation der Praxis der Liebesbeziehung, insofern diese gelingt, und zwar insofern sie gelingt mit Hilfe und in Form dieser Artikulation. Die Pflicht ist sozusagen nicht das (reflexiv erhobene) Objekt, sondern das Subjekt dieser Normativität. Auch Kierkegaards Liebespflicht ist auf eine Voraussetzung (Erstheit) bezogen, nämlich die „ewige Gleichheit" der Handelnden als Nächster und Nächster. Doch dies ist nicht das reflexive Bewußtwerden einer Pflicht, sondern es handelt sich um die performative Realisierung einer bestimmten Beziehungsstruktur, einer bestimmten Stellung der beiden Handelnden zueinander, und dies geschieht gerade durch die Geltung der Pflicht selbst. Die tatsächliche praktische Gestaltung des Verhältnisses geht der normativen Reflexion immer schon voraus. Die Analysen der romantischen Liebe und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Praxis wollen die Problematik im Konstitutionsfeld der Sittlichkeit vorführen; dies ist die Bedeutung der „negativistischen" Darstellungsform. Denn natürlich kann die unbedingt geforderte Liebe diskurstheoretisch wiederum in ihre normativen Bestandteile (wie etwa Anerkennung oder Freiheit) ,zerlegt' werden. Doch solche normative Rekonstruktion erklärt noch nicht den Anfang oder die Möglichkeit der dabei immer schon vorausgesetzten sittlichen Praxis. Die Pflicht der Liebe ist die Kategorie des kontingenten, unhintergehbaren Anfangs, mit dem die Möglichkeit sittlichen Handelns gedacht wird, indem ihre praktische Konstitutionsleistung dargestellt wird, und zwar angesichts der massiven Gefährdung dieser Praxis. Es ist dieser Aspekt des kontingent Kreativem im Handeln, der mit dem Pflichtbegriff aus TL gegenüber der Diskursethik eingeklagt werden kann. Kierkegaard zufolge erlaubt es die stetig drohende Gefahr der Selbstzerstörung der Handlungsverhältnisse nicht, die Normativität dieser Verhältnisse in diskursiv-reflektierender Distanz von ihrer Erscheinungsform zu erheben. Der Anfang des gelingenden Handelns erscheint als diejenige Transzendenz, welcher sich der Begriff des unbedingten Sollens der Liebe annähern will.

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Dieses Sollen hat dann aber nicht den deontologischen Status einer im Verständigungsprozeß diskursiv zu formulierenden Forderung, sondern es artikuliert allererst die Geltung des bestehenden Handlungsverhältnisses und eröffnet damit die Möglichkeit, das Verhältnis anzunehmen und sich in ihm zu bewegen. Indem Kierkegaard in diesen Reden die Pflicht als geschichtliche Offenbarung beschreibt, interpretiert er diese Kategorie des Anfangs theologisch. Der Schöpfungsmacht, in der die Welt als Natur und Handlungszusammenhang gründet (s. Kap. 1), entspricht diejenige Kreativität, die menschliches Handeln als Liebe ermöglicht75. Kierkegaards Liebespflicht legt die Differenz von erstheitlicher Voraussetzung (Situation) und dritthaftem Vollzug (Artikulation) in einer Weise aus, die die Spannung zwischen beiden Momenten weder auf die Reproduktion vorgängiger Fakten noch auf die reine Funktionalität von Kommunikationsvollzügen reduziert, sondern als Möglichkeit von Kreativität, d.h. von schöpferischer Gestaltung wahrnimmt76. 75

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Der Aufweis der Ortlosigkeit des Kontingenten bei Habermas steht auch im Mittelpunkt der von Kierkegaard geleiteten Kritik von K.-M. Kodalle, Eroberung, 45ff. Für Kodalle stellt Habermas' These von der Versprachlichung des Sakralen eine Strategie der Ausgrenzung von nicht-rational beherrschbaren Sprachformen dar, die zur „Verödung" des Diskurses führt (ebd. 48). Die Liebespflicht aus TL kann m.E. als eine solche „sakrale" Sprachform im Medium von Intersubjektivität verstanden werden. Doch muß die Differenz zum Sprachbegriff Habermas' an einer späteren Stelle weiter ausgeführt werden. Im Anschluß an Kodalle weist M. Kühnlein, Aufhebung auf die Widersprüchlichkeit der These von der Versprachlichung des Sakralen hin. Diese schließe nämlich ebenso die These von der „Versprachlichungsresistenz des Sakralen" (ebd. 409) ein, was sich in Habermas' Werken in einer ambivalenten Anerkennung der komunikativ nicht einholbaren semantischen Potentiale der Religion spiegele. Insbesondere das Vertrauen als „das den Hintergrundkonsens .Umgreifende'" (ebd. 402) könne selbst nicht kommunikativ erzeugt werden, sondern sei die Voraussetzung von Kommunikation, die allein geglaubt werden kann (ebd. 403£). Die sprachliche Verwirklichung solchen Glaubens sieht Kühnlein in „Zeigehandlungen" (ebd.) eines subjektiv bezeugten Glaubens (mit Verweis auf eine Bemerkung Habermas' zu Kierkegaard!). Allerdings ist demgegenüber von Kierkegaards Pflichtenbegriff in TL aus darauf hinzuweisen, daß hier auch die absolute Voraussetzung von Kommunikation die sprachliche Gestalt eines intersubjektiv geltenden Sollens hat und also gerade nicht auf ein bloß subjektives Handeln (Zeigehandlung) zu reduzieren ist. Die Frage der Normbegründung läßt Kühnlein leider ganz aus. Habermas bemerkt diese Differenz des Kierkegaardschen Ansatzes gegenüber einer der Aufgabenstellung Kants verpflichteten Philosophie sehr wohl, s. Freiheit, 29 (unter Bezug auf die Kierkegaard-Interpretation Theunissens und den Glaubensbegriff aus KT): „Für das, was Kierkegaard in seiner Genese durchsichtig machen will, steht die Validierung noch aus". Doch zugleich mißversteht er diese „hypothetische" Darstellungsform als „allenfalls funktional" (ebd.). Vom Begriff der Lie-

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So ergibt sich als Differenz zur Diskursethik: Kierkegaard versteht die Pflicht nicht als reflexive Normativität, sondern als wirksame Selbstdarstellung einer kontingenten und transzendenten Größe. Gleichwohl muß die Geltung dieser Pflicht aufgewiesen werden: im Aufweis seiner performativen Wirksamkeit in konkreten Handlungskontexten. Die radikal universalistische Form dieser Artikulation, die unbedingte Allgemeinheit der Begriffe Sollen und Nächster, hat dabei nicht formal-präskriptive, sondern hermeneutische Funktion. Zugleich birgt jene Allgemeinheit aber auch eine Wahrheitsbehauptung: In dem Anspruch des Liebesgebotes als des autoritativen Formulars jeder (Liebes-)Beziehung tritt der Hinweis auf ein Allgemeines auf, das die rationale Struktur dieser Pflicht verbürgt, freilich nicht in der Form einer prozeduralen Rationalität. Die Allgemeinheit solcher praktischen Vernunft, die TL in dem Begriff „Gott" ausdrückt, steht für die reale Möglichkeit des Gelingens der Liebe. Das unbedingte Sollen verweist letztlich auf ein Können. Dieses Können als der ontologische Grund des Handelns hat dann aber nicht den Status einer performativ notwendigen Argumentationsbedingung oder eines nichtempirischen Faktums (der kommunikativen Vernunft), sondern den einer kontingenten, kreativen Möglichkeit des Handelns. Die Liebespflicht ist die gültige Artikulation und damit die Umsetzung dieses Könnens 77 . Inso-

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bespflicht her zeigt sich, daß dieses Urteil den ontologischen Anspruch Kierkegaards verfehlt, der sich in TL darin äußert, wie die Liebespflicht als dritthafte Darstellung einer ursprünglichen Realität geschildert wird. Und dieselbe Ursprünglichkeit (gegenüber der Verzweiflung) läßt sich m.E. auch für den Glaubensbegriff aus KT zeigen. Kierkegaards Thematisierung dieser ursprünglichen Realitäten im Zusammenhang der Frage nach gelungener Interaktion schließt die ontologische Frage nach dem, was sich in solchen Handlungsgeschichten dritthaft zum Ausdruck bringt, gerade nicht aus; „funktional" kann Kierkegaards Vorgehen offensichtlich nur genannt werden, wenn man eine subjektivitätsteoretische Auffassung und damit die Frage nach der Selbsterhaltung von Subjektivität zugrunde legt. Sicherlich spielt diese Frage für Kierkegaard eine große Rolle, doch wird sie zumindest in TL durch die Frage nach den Erscheinungsformen der Liebe und Verzweiflung und deren ontologischen Bedingungen begrenzt. Das praxiskonstituierende Element, das in der Sprachform liegt, ist der wesentliche Unterschied zur transzendentalpragmatischen Formulierung von Gültigkeitsbedingungen einer Praxis; diese will ausschließlich rekonstruktiv sein und folgt insofern einem designativen Sprachbegriff. Kierkegaards Begriff der Liebespflicht hat dagegen kreativen Charakter und steht darin dem Herderschen bzw. Taylorschen Sprachbegriff nahe. C. Taylors handlungstheoretische Beiträge können überhaupt als ein Versuch verstanden werden, ein „dritthaftes" Element im Handeln aufzuzeigen, das sprachlich verfaßt ist und nicht aus den empirischen Bestimmungen relationalen Handelns abgeleitet werden kann, vgl. Sources, 91ff.

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fern ist die Pflicht selbst ein Akt dieses Könnens, eine kreative Sprachhandlung: Sie ist überhaupt nur in ihrer performativen Wirklichkeit. Doch wer spricht hier überhaupt? Hatten wir oben die Schwierigkeit benannt, wie die Pflicht Sprachhandlung und Transzendenz zugleich sein kann, so ist nun zu sagen: Als das Subjekt dieser Sprachhandlung kann nur Gott selbst gedacht werden78. Und zugleich kann, dies ist Kierkegaards Behauptung, eine gelingende Liebesbeziehung überhaupt nur unter Einbeziehung dieses dritten Sprechers gedacht werden. Als Sprechhandlung kann die Pflicht insofern bestimmt werden, als sie die jeweilige Handlungsbeziehung tatsächlich als Liebe performativ konstituiert: das Gelingen der Liebe kann nur unter Einbeziehung der Sprachform des unbedingten Sollens beschrieben werden. Die in den drei Reden beschriebene praktische Realität des Liebesgebotes ist also tatsächlich die Realität jenes kontingenten Ereignisses, in dem die konkrete Relation glückt. Dieses Ereignis kann, und dies ist mit dem Drittheitsstatus der Pflicht gewahrt, begrifflich nicht mehr eingeholt oder konstruiert werden, sondern ist als kontigentes Können phänomenologisch zu beschreiben und aufzudecken. Und eben hier endet die Plausibilität der bisher untersuchten drei Reden zum Pflichtbegriff. Die These von der performativen Einheit von Artikulation und Geltung war bisher von den Reden immer schon in Anspruch genommen worden, um das absolute Gebot in seiner Wirkung beschreiben zu können. Was allerdings fehlt, ist die Verifizierung dieser These unter den Bedingungen der Endlichkeit, oder die Beschreibung jener Wirkung aus der Sicht endlich-relationaler Handlungswirklichkeit. Die in Handlungen anschauliche Wirklichkeit des Liebesgebotes muß nicht nur als geoffenbarte Sprache, sondern auch als menschliche Sprache aufgezeigt werden. Die sprachliche Handlungsform des absoluten Sollens muß sich auch in Phänomenen endlicher Handlungswirklichkeit aufdecken und „beschreiben" lassen. Dies ist die Aufgabe der folgenden Reden.

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Vgl. die Vorlesungsentwürfe zur Dialektik der Mitteilung: „Das Ethische weiß jeder Mensch [...] Es bleibt nur ein Mitteilender: Gott" (Pap. VIII 2 Β 81,11).

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens: Liebe als dialogisches Handeln Die Reden II A.-C. haben durch einen sprachpragmatischen Pflichtbegriff einen Begriff der praktischen Beziehung zweier Handelnder entwickelt. In den folgenden Reden wird dieselbe Thematik noch einmal durchgeführt, nun aber nimmt die Beschreibung ihren Ausgangspunkt bei der beschreibbaren Realität endlicher Handlungssubjekte und ihrer Selbsterfahrung. So setzt III A. mit dem Problem des Scheiterns an der Pflicht ein. Aus dieser anthropologischen Perspektive entwickeln die Reden III A.-B. und IV eine Variation zum ersten Beschreibungskomplex, indem sie die dialogische Struktur des durch Liebe bestimmten Handlungsraumes aufzeigen und damit die sprachliche Verfassung des Handelns der Liebe, die für den Pflichtbegriff bereits konstitutiv war, erneut zum Leitbild der Beschreibung machen. Was in den ersten Reden als das unbedingte Gebot der Liebe wirksam war, tritt nun als die praktische Struktur von Frage und Antwort auf. Wie im ersten Fall so erscheint auch hier Liebe als eine Form sprachlich vermittelten Verstehens der Teilnehmer einer Handlungssituation.

1. Handeln als Antworten 1.1. Die Aufgabe: Antworten als Handlungsverknüpfung Die Fragestellung, um die es in den Reden III A.-B. geht, läßt sich an den jeweils als Ausgangspunkt geschilderten Handlungssituationen ablesen. Einmal handelt es sich um die biblische Geschichte vom Vater, der seine zwei Söhne zur Mitarbeitet auffordert und sehr unterschiedliche Reaktionen auslöst (103ff./93ff., s. Mt 21, 28-31); im anderen Fall geht es um das Verhältnis, das eine arme Arbeiterin zu ihrer Arbeit hat (151f./133f.). Das Gemeinsame beider Situationen ist die Frage: Wie kann die an das Handlungssubjekt gestellte Forderung erfüllt werden? Wie kann das Subjekt die an es gerichtete Herausforderung beantworten? Es handelt sich um dialogische Situationen, in denen an eine Person eine Frage gerichtet wird und sie darauf mit ei-

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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ner Antwort zu reagieren hat. Der Fragende ist einmal der Vater, während man sich im Fall der Arbeiterin die gesellschaftliche Ordnung (etwa in Person des Arbeitgebers) in dieser Rolle denken kann 1 . In beiden Fällen handelt es sich bei der Frage um Handlungsaufforderungen, also um (normativ vorstrukturierte) Sprechhandlungen, die den Angesprochenen (B) in ein bestimmtes praktisches Verhältnis zum Sprecher (A) bringen. Β muß auf A reagieren, also antworten, und diese Antwort hat ebenfalls praktischen Charakter: Entweder er lehnt die Aufforderung ab, oder er stimmt ihr zu, und in beiden Fällen hat das praktische Konsequenzen für das Verhältnis der beiden Sprecher. Lehnt er ab, so ist das Verhältnis als ganzes in Frage gestellt. Antwortet der Angesprochene bejahend, so stellt er sich selbst unter die Verpflichtung, das Zugesagte auch auszuführen. Und diese letztere Antwort ist es, die Kierkegaard in den beiden Reden interessiert. Er fragt danach, wie das Versprechen („at love") und das Halten („at holde") zusammenkommen können, oder anders gesagt: wie praktische Antworten (in Form von Handlungen) auf als gerechtfertigt anerkannte Ansprüche möglich sind2. Daß die jeweiligen Ansprüche gerechtfertigt sind, ist die Grundvoraussetzung, unter der die Überlegung beginnt. Daß der Vater die Mitarbeit der Söhne verlangen kann und daß die Arbeiterin zu Recht vom Schicksal oder der Gesellschaft zum Arbeiten genötigt wird, dies ist für Kierkegaard keine Frage, sondern zunächst eine Voraussetzung. Man kann auch sagen: Diese gesellschaftlichen Umstände und Ordnungen (patriarchale Familie, Klassengesellschaft) sind für die Reden die mit der Handlungssituation jeweils vorgegebenen kontin1 2

Vgl. Pap. V i l i 1 A 60/72, 91f. Die Möglichkeit von Sprachformen wie dem Versprechen untersucht die Sprechakttheorie als Frage nach der Möglichkeit des Sprechens als einer „regelgeleitete(n) Form des Verhaltens" (J. Searle, Sprechakte, 29; zur Analyse des Versprechens vgl. ebd. 88ff.). Kierkegaard entwickelt in TL zwar keine explizite Theorie der Sprache als regelgeleiteter Sprechakte. Aber er legt doch seinen Erörterungen des Handelns der Liebe stets bestimmte Sprachformen zu Grunde. Mit der Frage, wie ein Versprechen gehalten werden kann, bearbeitet er allerdings ein moralisches Problem, daß durch Searles Differenzierung von aufrichtigem und unaufrichtigem Versprechen noch nicht abgedeckt wird (und auch für den Bruder, der sein Versprechen nicht ausführt, nennt Kierkegaard ja keine Unaufrichtigkeit als Grund, sondern eher ein Unvermögen). Doch möchte ich in der folgenden Interpretation für die These werben, daß das Handlungsverständnis dieser Reden deutlicher wird, wenn auch die moralische Frage noch als Element des Sprechaktes „Versprechen" verstanden wird. Denn die Einheit von „Versprechen" und „Halten" innerhalb einer moralisch bereits kodifizierten Handlungsbeziehung scheint doch das Thema von III A. zu sein.

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2. Kapitel: Das Sollen

genten Bedingungen des Handlungsraumes, unter denen die zu untersuchenden Handlungsformen immer schon stehen. In der Terminologie von III A. handelt es sich bei diesen Forderungen und ihren kontingenten Bedingungen um das „Gesetz", um dessen Erfüllung es geht. Eine Differenzierung zwischen „Gesetz" und „Gesetz Gottes", also der indirekte Hinweis darauf, daß durchaus nicht alle hergebrachten Ansprüche gleichermaßen gültig sind, wird erst im weiteren Verlauf der Rede eingeführt (s. 119/107). Zunächst genügt die Behauptung, daß das Gesetz denselben Ursprung wie die Liebe habe, also von Gott sei (s.l 16/105), um Fragen nach der Rechtmäßigkeit abzuwehren und den Blick auf das Problem der Erfüllung, dem Halten des Versprechens, zu lenken. Als drittes Beispiel für das Verhältnis von Versprechen und Halten beleuchtet die Rede III B. den Fall des Eheversprechens (167ff./147ff., vgl. 153ff./137ff.). Auch hier geht es um die Frage, wie das Halten des Versprechens und die damit performativ geschaffene Struktur der Beziehung als „Aufrichtigkeit" möglich ist (167/148). Dieser zuletzt geschilderte, intime Fall der Problematik des Verhältnisses von Versprechen und Halten verweist auf den Anfang von III A. zurück und bringt damit alle genannten Beispielsituationen unter eine thematische Einheit: Bei allen Fällen handelt es sich um die Frage, wie die Liebe die Verbindung zwischen Versprechen und Einhalten schaffen kann, oder in der Formulierung der Überschrift von III Α.: wie die „Liebe" als „die Erfüllung des Gesetzes" gedacht werden kann. So ist es ein breites Spektrum von Phänomenen aus den Bereichen der Familie, Gesellschaft und Sexualität, die Kierkegaard in TL unter dem Begriff der Liebe als der Verknüpfung von Frage und Antwort behandelt. Es ist m.E. wichtig, auf den dialogischen Charakter der Ausgangsstellung zu achten 3 . Versteht man die Frage nur als die nach der Fähig3

Die Bedeutung des Dialogbegriffs für die Handlungstheorie entnehme ich v.a. D. Böhler, Pragmatik, bes. 250f£, 285f£, 309f£ Wesentlich ist dabei, daß die hermeneutische Struktur von Frage und Antwort auf das praktische Handlungsverhältnis übertragen wird, so daß Handeln als praktisches Antworten bzw. praktisches Fragen verstanden werden kann (Böhler spricht hier von „quasi-dialogisch"). Eine solche Beschreibung scheint mir, wie die folgende Analyse zeigen soll, der Darstellungsform der Reden aus 7X7,111-1 V angemessen zu sein. Böhler entwickelt allerdings dieses quasi-dialogische Rekonstruktionsmodell weiter zu einer transzendentalpragmatischen Grundlegung der Ethik, die den Dialogbegriff im Sinne einer Argumentationstheorie anwendet (s. ebd. 291). Für diese transzendentale Wendung findet sich in TL keine Parallele mehr. Auch in der Interpretation der Kierkegaardschen Ethik hat der Dialogbegriff Anwendung gefunden. So orientiert sich M. Bongardt, Widerstand am Modell des Dia-

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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keit oder Unfähigkeit des Individuums, seine moralische Pflicht zu tun, ergibt sich eine verfälschende Perspektive. Denn die Reden fragen nicht nach der moralischen Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des Einzelnen; sie fragen auch nicht nach der Gesinnung, mit der jemand seine Pflicht erfüllt. Die Konzentration zumal in III B. auf die subjektive Seite, also die Antwort, könnte dies zwar nahelegen. Doch weist die Tatsache, daß das theologische Verhältnis von Forderung („Gesetz") und Erfüllung („Liebe") in der lebensweltlich-konkreten Weise von Frage und Antwort gestaltet wird, darauf hin, daß es hier um die Frage nach der Konstitution des lebendigen Zusammenhangs von Fragendem und Antwortendem geht. M.a.W. es geht um die Ermöglichung von Handlungszusammenhängen, von Praxis. Daß gerade nicht alles Handeln auch unproblematisch einen Handlungszusammenhang herstellt, zeigt das Beispiel von den beiden Söhnen: Der „*Ja-Bruder" (103/94), der dem Vater die Arbeit verspricht, sie aber nicht ausführt, handelt zwar in gewisser Weise auch (nämlich indem er etwas unterläßt oder etwas anderes stattdessen tut 4 ), aber er handelt

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logs, wenn er nach dem transzendentaldialogischen Verhältnis von Freiheit und Intersubjektivität im Werk Kierkegaards fragt. Dabei kommt Bongardt allerdings zu der These, daß in TL der dialogische Charakter der Freiheit prinzipiell zu kurz komme und Liebe nur hinsichtlich des Selbstverhältnisses thematisiert werde (vgl. ebd. 297-316). Die bisher exponierte und im folgenden zu bewährende Deutung der Reden III-IV durch den Begriff des dialogischen Handelns will genau die Gegenthese hierzu entwickeln. L. Inglis, Dialogue verbindet explizit das dialogische Modell mit dem Handlungsbegrift Allerdings versteht sie den Dialog ausschließlich als die besondere literarische und sprachliche Form („poetry"), die durch die Kraft der Dialektik das Denken an das Handeln heranführt und zum Handeln bewegt, ohne doch mit dem Handeln selbst identifiziert werden zu können (ebd. 53-85). Demgegenüber versuche ich aufzuzeigen, daß in TL die Formen des Handelns selbst dialogische, d.h. sprachliche Gestalt haben. H. Friemond, Liebe schließlich interpretiert die in TL dargestellte Liebe als „Antwort" auf Gottes Liebe (ebd. 107f£). Zur Erörterung des Dialogbegriffs bei Kierkegaard selbst vgl. BI, 34f., s. hierzu H. Diem, Existenzdialektik, 8ff., 38. Zum handlungstheoretischen Status von Unterlassungen vgl. M. Riedel, Handlungstheorie, 148f.; D. Birnbacher, Tun, 32ff.,47ff. Das Problem der Unfähigkeit zum Handeln im Sinne einer sozialen Selbstdistanzierung thematisiert die im Jahr vor TL entstandene Literarische Anzeige ausführlich. Dabei handelt es sich trotz der subjektivistischen Terminologie um eine Beurteilung dialogischen (nämlich sozialen) Handelns: „[...] die gesamte Generation besitzt die Fähigkeit zum Rechtsanwalt, und ihre Kunst, ihre Verständigkeit, ihre Virtuosität besteht darin, daß sie die Sache niemals durch eine Handlung zu Spruch und Entscheidung kommen läßt" (LA, 72). Das Sprechen über Handeln von einer Position außerhalb einer konkreten Handlungsbeziehung (denn genau dies ist die in dem Buch beklagte Leidenschaftslosigkeit der gegenwärtigen Zeit: das Ausbleiben eines strebenden Sichverhaltens zu einer geschichtlichen, d.h. ge-

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nicht so, daß ein Handlungszusammenhang mit seinem Vater entstehen kann; seine Antwort ist keine praktische Antwort oder anders gesagt: sein Nicht- bzw. Anders-Handeln ist kein Antworten. Der Zusammenhang mit dem Auffordernden ist abgebrochen; sein NichtHandeln signalisiert, daß er die Aufforderung des Vaters nicht als verbindlich anerkennt, und das bedeutet unter den Bedingungen einer patriarchalen Familienordnung: das Verhältnis zu seinem Vater ist faktisch aufgehoben. Die gleiche Gefahr ist auch bei der in III B. dargestellten Arbeiterin gegeben, doch mit einer anderen Akzentuierung. Sie hat unter den ökonomischen Bedingungen scheinbar keine Möglichkeit, den Gehorsam gegenüber ihrem Arbeitgeber zu verweigern. Sie kann jedoch ihre Arbeit sehr wohl auf doppelte Weise ablehnen: erstens, indem sie öffentlich gegen die gesellschaftliche Ordnung protestiert; und zweitens, indem sie sich weigert, einen Sinn darin zu sehen, und der herrschenden Ordnung ihre Zustimmung ,innerlich' verweigert. Diese beiden Möglichkeiten sind zwar in der Rede nicht direkt erwähnt, aber sie scheinen im Hintergrund zu stehen, wenn Kierkegaard der Arbeiterin das lösende Wort in den Mund legt: „Ich tue diese Arbeit um Tageslohn, aber daß ich sie so sorgfältig verrichte, wie *ich es tue, das tue ich - um des Gewissens willen" (151/134)5. Durch das Gewissen wird eine Antwort möglich, eine Bejahung des eigenen Tuns und damit des Handlungszusammenhangs, in dem die Handelnde steht6. III B. fragt nun besonders nach

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meinschaftlichen Idee) läßt deren performative Kraft, die zum Handeln nötigt, erschlaffen. Das Problem der Leidenschaftslosigkeit ist, daß sie durch Distanznahme Sprache und Handlung trennt. Hierdurch verwandeln sich „Teilnehmer" von Interaktionszusammenhängen „in einen Haufen Zuschauer" (LA, 77). Der für die Literarische Anzeige zentrale Begriff der „Leidenschaft [Lidenskab]" ist also keine bloß subjektive, sondern eine relational-intersubjektive Bestimmtheit, d.h. wesentlich eine Form der Sprache und der sprachlich verfaßten Interaktion. In TL bekommt diese Leidenschaft und ihre Sprache einen Namen. Vgl. Pap. VIII 1 A 60/72, 91f., wo die hier genannten Worte der Arbeiterin der möglichen „Ungeduld" der „geringen Klasse" gegenübergestellt werden. Vgl.o. zur doppelbödigen Kommunikation der „Geringen" als Form ihres Protestes. Der Aufweis der inneren Entleerung sozialer Beziehungen bei gleichzeitiger äußerlicher Aufrechterhaltung der Beziehungsformen gilt jedoch noch mehr für die bürgerliche Führungsschicht und ist ein Kern der Zeitkritik Kierkegaards, vgl. LA, 82: die „leidenschaftslose und reflektierende Zeit" hat „das ganze Dasein in eine Zweideutigkeit verwandelt [...], welche in ihrer Tatsächlichkeit da ist, während dialektischer Trug privatissime eine heimliche Lesart unterschiebt - daß es nicht da ist." Die Metapher der „heimlichen Lesart" verweist ebenfalls darauf, daß für Kierkegaard das Problem der „Zweideutigkeit" vor allem ein Problem der Sprache und der Bedeutung gemeinsamer Begriffe ist.

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der affektiven Bestimmung solcher Zustimmung, d.h. nach der „Innerlichkeit" der Antwort. Aber für alle drei angeführten Beispiele gilt: Die praktische Antwort ist nötig, um den Zusammenhang zweier Handelnder als Grundlage zum Leben zu schaffen, denn „das Gesetz ist [...] das genaue Gegenteil des Lebens, das Leben aber ist die Erfüllung [...] das Gesetz fordert, die Liebe gibt" (118/106). Wenn TL in dieser Weise an der Konstitution von Handlungszusammenhängen interessiert ist, so bedeutet dies, daß die Handlungen zweier Akteure in der Form von Frage und praktischer Antwort als verknüpft gedacht werden 7 . In der Anknüpfung der Antwort an die Frage, oder der Verknüpfung zweier Handlungen, beschreibt Kierkegaard die praktische Vermittlung zweier Handelnder. Solche Verknüpfung wird in III A. auf drei verschiedene Weisen als Aufgabe dargestellt: Erstens kann sie subjektiv und damit als zeitliche Vermittlung beschrieben werden: „Und wenn man dann doch nicht tut, was man versprochen hat, dann ist der Weg so lang geworden, ehe man wieder zur Wahrheit zurückkommt und nur den Anfang dessen erreicht, daß man doch ein wenig tut von dem, was man versprochen hat [...] Der, welcher sagt ,Herr, ja', gefällt sich darin im gleichen Augenblick selbst; der, welcher nein sagt, bekommt fast Angst vor sich selbst. Aber dieser Unterschied ist sehr wichtig im ersten Augenblick, und sehr entscheidend im zweiten Augenblick; doch ist der erste Augenblick das augenblickliche Urteil, der zweite Augenblick ist das Urteil der Ewigkeit" (104f./95). Die Antwort hat die Form einer Bewegung. Das Nicht-Handeln entfernt sich von der Handlungsaufforderung und damit vom Zusammenhang des Handelns. Soll die Bewegung auf die Aufforderung hin gehen und zur Antwort werden, muß der Über7

Die Möglichkeit der Verknüpfung von Handlungen ist ein zentrales Thema der Handlungstheorie in praktischer Hinsicht, vgl. J. Habermas, Handlungen, 68f.: „Eine Interaktion läßt sich verstehen als die Lösung des Problems, wie die Handlungspläne mehrerer Aktoren so miteinander koordiniert werden können, daß die Handlungen von Alter an die von Ego Anschluß finden." Individualität kann dann performativ als „Antwort" verstanden werden, s. J. Habermas, Individuierung, 209. Ein solches Verständnis von Handlungsverknüpfungen und -anschlüssen baut auf den sprechakttheoretischen Kategorien der „illokutionären" und „perlokutionären Effekte" auf, s. J. Searle, aaO. 38ff. Eine auch Kierkegaard zugängliche handlungstheoretische Reflexion und Terminologie des anknüpfenden Handelns findet sich bereits in der Ethik Schleiermachers unter dem Begriff des „organisierenden Handelns", s. ders., Das höchste Gut, 476f., 481f£, vgl. hierzu M. Moxter, Güterbegriff, 119f£ Für eine theologische Interpretation der Interaktionsthematik unter den Begriffen „Anrede" und „Antwort" vgl. J. Fischer, Handeln, 38ff., 50f£

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gang in den Anfang durch die „Ewigkeit" vermittelt sein und „sofort mit der Aufgabe beginnen und genötigt sein zu verstehen, daß jeder Augenblick vorher ein vergeudeter Augenblick ist" (106/97). Diese zeitliche Vermittlungsform beschreibt das Problem aus der Perspektive des angesprochenen Subjekts: Das Problem der Verknüpfung von Aufforderung und Antwort erscheint als die Frage nach der Vermittlung von Versprechen und Tat. Diese subjektive Vermittlungsaufgabe kann auch auf das individuelle Leben als ganzes bezogen werden. Hier eine Einheit herzustellen, ist mit dem Lesenlernen zu vergleichen; doch ist das Leben ein schwieriger Text: „ach, es ist vielmehr wie beim Buchstabieren, welches die Worte auseinander und in Stiikke reißt, ebenso ist es ja in den langen, langen Stunden, wenn man nicht zum Sinn und zum Zweck kommen kann und vergebens auf den Zusammenhang wartet" (148/132). Es ist wichtig zu sehen, daß hier nicht eine bloß subjektivistische Perspektive eingenommen wird, vielmehr geht es um die subjektive Seite der Verknüpfung von Frage und Antwort, von Teil und Ganzem. Das Problem des Subjekts bei dieser Verknüpfungsaufgabe besteht eben darin, „mit der Zeit zu streiten" (ebd.). Der „Zusammenhang" der individuellen Lebensbewegung ist sachlich identisch mit dem durch die praktischen Antworten herzustellenden Lebenszusammenhang zwischen Fragenden und Antwortenden. Die subjektive Beschreibungsperspektive ist nicht die einzige. Die zweite Form der Vermittlung geht explizit von der Kommunikationsstruktur von Aufforderung und Antworten aus. Christus und Paulus treten als Verkörperung einer Kommunikation auf, die „antwortet und mit der Antwort einen jeden für die Aufgabe gefangennimmt" (107/97). Aufforderung und Antwort werden hier verknüpft durch die zwingende Autorität einer „göttlichen Vollmacht [guddommelig Myndighed]" (108/98), die dem Angesprochenen keine Möglichkeit zur Ausflucht, d.h. zum Nichthandeln, läßt8. Die Perspektive ist hier also

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Die Form dieser „vollmächtigen" Kommunikation hat Kierkegaard an anderer Stelle ausführlicher erörtert, vgl. ZKA, 121-132. Danach ist solche Vollmacht oder Autorität durch folgende Momente bestimmt (vgl. auch H. Diem, aaO. 79-98): 1. Entscheidend ist nicht, was gesagt wird, sondern wer spricht. 2. Zum Sprecher mit solcher Autorität wird, wer durch „eine spezifische Qualität, welche von einer andern Stelle her hinzutritt und qualitativ sich [...] geltend macht" (ebd. 124), dazu gemacht wird; der Sprecher steht damit in einem bestimmten, qualitativen Verhältnis zu den Handlungspartnern, vergleichbar mit der durch eine bestimmte Rolle vorgegebenen Autorität, z.B. der eines „Amtes" [ebd.] oder eines Vaters gegenüber seinem Sohn (!) (ebd. 130).

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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nicht die subjektive Sicht des Aufgeforderten, sondern die des Auffordernden. Dargestellt wird das Ideal einer Kommunikation, die durch die vollmächtige Form der Aufforderung zum Handeln führt; dieses Ideal aber wird zugleich als sozialontologische Grundstruktur jeder gelingenden Handlungsverknüpfung vorgestellt. Die dritte Weise, das Vermittlungsproblem zu benennen, ist die Frage nach einer objektiven, sittlichen oder institutionalisierten Vermittlung der Handelnden. Die drei oben genannten Beispiele, die das Problem vorstellen, illustrieren eine solche Vermittlung von individuellen Handlungen zu einer Handlungseinheit. Daß ein solches geordnetes, durch gegenseitige Handlungserwartungen koordiniertes Zusammenleben in der gegenwärtigen Kultur gefährdet ist, diese Gefahr benennt Kierkegaard immer wieder in III A. Indem „man heutzutage die Menschen von allen Bindungen [Baand], auch von den nützlichen, freizumachen sucht" (127/114), kommt die Gegenwart dazu, „daß man das ganze Dasein in Zweifel oder in einen Strudel verwandelt" (128/115). Entsprechend zielt die richtige Vermittlung von Frage und Antwort darauf, gegen den Strudel einen „Halt im Dasein" (131/117) zu errichten. In diesem dreifachen Sinn ist die Frage nach dem Verhältnis von Frage und Antwort die Frage nach der Möglichkeit von Handlungszusammenhängen (Praxis) und damit auch von individueller Handlungsfähigkeit. In III A.-B. wird diese Frage von der Seite der zu erwartenden Antwort aus thematisiert, während IV die Handlung umgekehrt aus der Sicht der Frage beschrieben wird. Die in III A.-B. angesprochenen Themenbereiche Identität, Kommunikation und Gesellschaftsordnung dürfen nicht voreilig der Frage nach dem Subjekt untergeordnet werden. Ihren Zusammenhang finden sie vielmehr in der dialogischen Struktur, in der Charakterisierung von Handeln als Antworten und Ver-Antworten. Die Handlungsfähigkeit des Einzel3. Diese paradoxe, d.h. qualitativ verschiedene Rolle kann der Sprecher jedoch nur im sprachlichen Vollzug einnehmen; es gibt keine Referenz auf eine autoritätsstiftende Macht abgesehen von bloßen Sprechen, Behaupten: „Ein Apostel hat keinen anderen Beweis als seine eigne Aussage" (ebd. 131). Autorität gibt es nur dort, wo ein Akteur auf eine mit einem religiösen Anspruch verbundene Sprechhandlung faktisch mit Gehorsam reagiert. Die Analyse des Autoritätsbegriffs will nicht normative Kriterien angeben, sondern erklären, wie Gehorsam als Kommunikationsereignis zu denken ist; Gehorsam eweist sich als kontingentes Ereignis, das weder von einer immanenten Macht (auf Seiten des Befehlenden) noch von einer freien Selbstaufforderung (auf seiten des Gehorchenden) abgeleitet werden kann und insofern als ein „Drittes" erscheint. Um die Bestimmung eben dieses Dritten geht es in TL.

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2. Kapitel: Das Sollen

nen steht im Horizont einer durch den praktischen Dialog bestimmten gemeinsamen Praxis; individuelle Handlungsfähigkeit wird als Fähigkeit zum Antworten und Fragen gedacht, d.h. von einem vorgängigen, dialogisch strukturierten Handlungsraum aus. Es ist jedesmal die Frage, wie Handeln in einer Struktur der Gegenseitigkeit, d.h. wie ein Verhältnis praktischer Anerkennung überhaupt möglich ist9. Für alle drei Problemkreise bietet TL die Liebe als Lösung an, denn allein in ihr gilt, daß „die Erfüllung gleichsam völlig ein und dieselbe wie die Forderung ist" (118f./107). Im Sinne einer solchen Einheitsstruktur, die eine Vermittlung von Handelnden schafft, hat die Liebe die christologische Form der „Versöhnung" (124/112). Jesu Versöhnungstod wird in den Kontext der Frage nach gelingender Interaktion gestellt10. Demzufolge ist nun im Folgenden die Liebe als Antwort auf das Problem der Handlungsverknüpfung zu interpretieren.

Exkurs: Dialogisches Handeln in der Unwissenschaftlichen Nachschrift? Doch vorher soll der dialogische Charakter dieser Aufgabenstellung noch durch einen kurzen Vergleich beleuchtet werden. Was ich „dialogisch" nenne, scheint ja gegenüber den Handlungsvorstellungen aus früheren, Pseudonymen Schriften Kierkegaards der Rechtfertigung zu bedürfen. So findet sich in der Unwissenschaftlichen Nachschrift eine prägnante Handlungsdefinition, die ohne jedes dialogische Verhältnis auszukommen scheint: „Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern ein Inneres [en Indvorteshed], in welchem das Individuum die Möglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten identifiziert, um darin zu existieren. Das ist Handlung" (AUN2, 42). Mit dieser Formulierung versucht Climacus, Handeln in Differenz zum Denken im „Konfinium" zwischen subjektiver Absicht (Möglichkeit) und objektiver Verwirklichung (Handlungsäußerlichkeit) als innerliche Wirklichkeit zu beschreiben. Handeln ist demzufolge eine Synthese zweier Schritte, des Sich-Identifizierens mit einem Gedanken

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Dies gilt sogar noch für den Extremfall, in dem die wahrhafte Liebe vom Geliebten mißverstanden wird und die Gestalt des gegenseitigen Hasses annimmt. Diese Form einer negativen Gegenseitigkeit, die gleichwohl die (einseitige) Wahrheit des Handelns unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen adäquat ausdrückt, thematisiert III A. ausführlich (134ff./120f£). Vgl. auch LA, 64.

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und des Darin-Existieren-Wollens. Die Kategorie des Handelns ist das Wollen, das nicht kognitivistisch oder als bloße „Intellektualität" (ebd.) verstanden wird, zugleich nicht ohne eine äußere Gestalt gedacht und doch auch nicht darauf reduziert werden kann. Die Gestaltwerdung des Wollens ist zu unterscheiden von seiner erfolgreichen Ausführung in Form von Resultaten, d.h. geschichtlichen Tatsachen (vgl. die drei Beispiele AUN2, 43f.). In Abkehr von der Hegeischen Geschichtsphilosophie wird Handeln hier ganz subjektiv verstanden11. Dies schließt allerdings ein dialogisches Handlungsverständnis nicht grundsätzlich aus. Die Verlagerung der Handlung in die Innerlichkeit des leidenschaftlichen Wollens richtet sich ja nur gegen den Versuch, das Handeln ausschließlich aus seinen objektiven Wirkungen und Konsequenzen zu erklären. Das bedeutet noch nicht zwingend, daß Handlungen auch als allein durch einen subjektiven Willensakt verursacht gedacht werden (obwohl manche Formulierungen des Climacus diese Vorstellung nahelegen 12 ). Ebensowenig ist mit 11

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AUNl, 124: „Beim Welthistorischen spielt eine andere Art von Faktoren, die nicht ethisch-dialektisch sind, eine wesentliche Rolle: Zufälle, Umstände, jenes Spiel von Kräften, worin die Totalität des historischen Daseins die Handlung des Einzelnen umbildend aufnimmt, um sie in etwas anderes zu verwandeln, was ihm nicht direkt angehört". Gegen das Welthistorische insistiert Climacus darauf, daß die Handlung subjektiv zuschreibbar sein muß. Deshalb nimmt er die Handlung aus dem Raum der Geschichte heraus und verlagert sie in den Bereich der subjektiven Entscheidung und Leidenschaft. Vgl. auch die explizit nicht-dialogische Rede von der notwendigen subjektiven „Isolation" (AUNl, 57,65, 94; AUN2, 240,298,328). Vgl. AUN2, 4f.: Hier wird das Handeln „im eminenten Sinne" durch subjektive Leidenschaft, ewiges Verantwortungsbewußtsein und das Wagnis der Entscheidung bestimmt. Diese Zuschreibungen suggerieren eine prinzipielle Trennung von „innerem" und „äußerem", d.h. empirisch beschreibbaren Handeln, und damit eine Selbstverursachung des subjektiven Handelns im Wollen. Diese Vorstellung behauptet C.S. Evans, Will als Kern von Kierkegaards Handlungstheorie überhaupt (vgl. die Einleitung.). Allerdings scheint mir bereits für die Argumentation der Nachschrift die konstitutionstheoretische Fragestellung unangebracht zu sein. Denn nicht nur ist das subjektive Wollen von irgendeiner „äußeren" Gestaltung unabtrennbar; auch das nicht-eminente Handeln muß auf ein (defizitäres) Wollen zurückgeführt werden, dessen Struktur später als „Verzweiflung" analysiert werden wird (s. KT). Das bedeutet, daß es in der Unterscheidung der beiden Handlungstypen nicht um das metaphysische oder psychologische Problem der Handlungstegrilndung gehen kann, sondern um die Frage, wie eine Handlung beschrieben oder erklärt werden muß. Dann liegt die handlungstheoretische Differenz zwischen eminentem und nicht-eminentem Handeln nicht an einem postulierten „originative act" des Willens (Evans), sondern an der Zuschreibung des „Bewußtsein(s) einer ewigen Verantwortung" (AUN2, 4), die das Subjekt für sein Handeln zu übernehmen hat. Zum handlungstheoretischen Status des Verantwortungsbegriffs vgl. O. Höffe, Sittliches Handeln, 618f.

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2. Kapitel: Das Sollen

der Kritik des Objektivismus die Unmöglichkeit von Intersubjektivität als einer Beschreibungsform des Handelns verbunden. Im Gegenteil, letztlich bewegen sich alle Formulierungen der Nachschrift im Horizont von relational verstandener Subjektivität, nämlich im Horizont der Frage nach dem Verhältnis des Individuums zu dem „geschichtlichen Ausgangspunkt [...] für ein ewiges Bewußtsein" (AUN1,13). Insofern ist auch das leidenschaftlich-subjektive Handeln, wie es in der Nachschrift geschildert wird, als ein Reagieren auf eine Herausforderung zu verstehen. So wird auch der paradoxe Glaube definiert als „unendlich interessiert nach einer Wirklichkeit fragen, die nicht die eigene ist" (AUN2, 25)13. Wenn aber Handeln bzw. Wollen in dieser Weise durch Relationalität und Intentionalität bestimmt ist, erscheint die scharfe Trennung von Handeln und Denken als zu einfach angesichts der Komplexität des Phänomens. Climacus' eigene Handlungsbeschreibung widerspricht dieser Trennung. So etwa, wenn er den intentionalen und reaktiven Charakter des Handelns im Begriff des „Pathos" erfaßt; denn dieses Pathos hat durchaus kognitiven Gehalt: „Im Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit als dem absoluten Gut bedeutet Pathos nicht Worte, sondern meint, daß diese Vorstellung den Existierenden in seiner ganzen Existenz umbildet" (AUN2, 92). Die finale Struktur des subjektiven Handelns („um darin zu existieren") impliziert, daß der Augenblick des leidenschaftlichen Wollens eine konkrete Lebensform annimmt. Eine bestimmte Vorstellung wird zu der Instanz, mit dem sich das Individuum identifiziert, um darin zu existieren; aber dieses Darin-Existieren ist ein Umwandeln, genauer: ein Umgewandelt-Werden durch das Gewollte: Es ist die Vorstellung, die den Existierenden „umbildet". Subjektives Handeln drückt ein Verhältnis aus, d.h. es wird zu einem leiblich-kommunikativen Ausdruckshandeln, zu einer „Existenzmitteilung" (AUN2, 84). Ein Anderes, vom Subjekt Gewolltes, affiziert das Subjekt und führt es damit dahin, dieses Affiziertsein auszudrücken. Solche Mitteilung, zumal in ihrer wichtigsten pathetischen Ausprägung, dem Humor, erfolgt indirekt. Bei dieser indirekten Mitteilung handelt es sich um eine Form von Interaktion. Und solcher Ausdruckshandlung kann, trotz der massiven Abwertung der

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In ALJN2, 91 wird explizit die Relation zur ewigen Seligkeit von allen sozialen Relationen unterschieden, insofern hier „das Individuum allein mit sich selbst in Innerlichkeit zu tun" hat. Doch gründet eben auch dieses Selbstverhältnis in einem Außenverhältnis, nämlich in der Beziehung zu jenem geschichtlichen „Ausgangspunkt" der ewigen Seligkeit.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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„Wirkung" gegenüber der „Absicht" (AUN1, 145), eine kommunikative Wirkung auf andere nicht abgesprochen werden. Doch bleibt in der Nachschrift die Bedeutung der Wechselwirkung des Mitteilenden mit den anderen Akteuren innerhalb konkreter Handlungsformen unterbestimmt. Auch hierbei liegt der Akzent auf der Subjektivität des Handelns. Gegenüber den Kommunikationspartnern erscheint der Mitteilende nur als agierend, nicht aber auch als reagierend, und damit rückt er tendenziell in die nicht-kommunikative Position dessen, der sich strategisch und objektivierend zu seiner Mitwelt verhält 14 . Das eigentliche Gegenüber der Kommunikation ist allein Gott. Und gegenüber dem Verhältnis zu diesem „absoluten Telos" scheint schließlich auch das Handeln innerhalb des Raumes der „relativen Ziele" hin immer stärker gebrochen zu werden: Die Forderung, beide Bezüge gleichzeitig zu realisieren (AUN2,113) und das absolute Verhältnis in den endlichen Verhältnissen auszudrücken, kann mit zunehmender Existenzdialektik immer weniger als erfüllbar gelten {AUN2, 193). Alltägliche Handlungskompetenz muß der religiösen Erkenntnis weichen, vor Gott nichts zu vermögen, und muß doch zugleich weiter verfolgt werden (AUN2, 215). Damit ist die Handlungskategorie des Bewirkens endgültig aufgegeben 15 . Dieser sehr grobe Überblick über die Handlungsvorstellungen in der Nachschrift sollte zeigen, daß Kierkegaard in TL das Problem des Handelns unter einer gegenüber früheren Schriften neuen Perspektive angeht und damit auch zu neuen Begriffen kommen wird. Diese neue Perspektive versuche ich, mit dem Begriff des dialogischen Handelns zu umreißen. Er besagt, daß Handeln nicht mehr als primär

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Zu diesem Problem der Mitteilungstheorie vgl. K. Nordentoft, Psychology, 344, 354ff. K. Schäfer, Ontologie, 199ff. hingegen arbeitet für die „hermeneutischen Ontologie" der Climacus-Schriften die intersubjektive Erschlossenheit des Subjekts im „faktischen Sein" heraus. Allerdings scheint auch diese Erschlossenheit noch unter der Dominanz des als subjektive Selbstbewegung verstandenen „inneren Handelns" zu stehen, demgegenüber die Begegnung mit dem anderen Subjekt sekundär ist. Entsprechend reagiert für Schäfers Interpretation das Subjekt nicht auf ein konkretets anderes Subjekt, sondern auf „das Gute" (ebd. 202ff.). Diesen Prozeß beschreibt W. Greve, Ethik, 249ff. als Climacus' religiöse Kritik der Ethikkonzeption von Entweder-Oder. Diese Kritik impliziert notwendigerweise auch den „Verlust der sozialen Dimension" (ebd. 253). Gleichwohl ist umgekehrt die religiöse Kritik des Bewirkens auch nicht undialektisch, sondern kann den Gedanken des völligen Unvermögens vor Gott auch positiv formulieren: als Bewußtsein der schöpferischen Gründung aller real vollzogenen Lebensvollzüge in Gottes Allmacht, s. 4R4, 26. Diese Dialektik von Nichtskönnen und Können wird an späterer Stelle in TL weiter ausgearbeitet.

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2. Kapitel: Das Sollen

subjektiv begründet und verfaßt gesehen wird, sondern als vorgängig eingebunden in eine Struktur von Intersubjektivität, die sprachlich verfaßt ist. Gleichwohl wird sich im folgenden zeigen, daß die beiden wesentlichen Aspekte der Liebe als Antworthandeln, wie sie in TL1, III A.-B. entwickelt werden, in den Überlegungen der Nachschrift bereits vorkommen: Handeln als Reagieren und Handeln als Ausdrücken.

1.2. Liebe als Antworten 1.2.1. Liebe als Erfüllung (III A.) a) Erfüllung als Handlung Die Rede zeigt in drei Schritten auf, wie die Aufforderung des Gesetzes beantwortet werden kann. Der erste Schritt (107-116/97-104) besteht darin, das Schuldbewußtsein als reflexive Voraussetzung der Handlungsfähigkeit zu entwickeln. „Wir sprechen sonst in den irdischen Verhältnissen von dem Traurigen, daß ein Mensch, um eine Tätigkeit zu beginnen, sich in Schulden stürzen muß; im Verhältnis zu Gott beginnt jeder Mensch mit einer unendlichen Schuld" (114/103). In dem Verhältnis von Frage und Antwort geht es letztlich immer um das Gottesverhältnis. Dies wird erkannt im Blick auf Christus, der in seinem Leben dieses Gesetz auf exemplarische Weise erfüllt hat (lllff./100ff.). Hier findet eine Potenzierung der Forderung statt: Es ist nicht nur die jeweils konkrete Forderung, die zu erfüllen ist. Nun steht die durch Christus realisierte Erfüllung der Forderung, d.h. die vollendete Einheit von Frage und Antwort dem alltäglichen Scheitern des Individuums anklagend gegenüber. Das Gottesverhältnis betrifft nicht die einzelne Forderung, sondern den Zusammenhang oder die Vermittlung zwischen Frage und Antwort. Diese realisierte Einheit, die Erfüllungsbewegung oder Vermittlung als solche ist der Ort, den das Absolute in der Darstellung einnimmt; sie ist die Darstellung des Verhältnisses selbst als des dritten Strukturmomentes. Das Bild dieser realisierten Einheit, das Bild des Lebens des Christus, führt in diesem Zusammenhang überhaupt erst zum Gottesverhältnis: „denn können wir nichts anderes, so können wir daraus Demut lernen im Verhältnis zu Gott" (113/102). Demut und Schuld werden als diejenigen Bewußtseinsformen bestimmt, die das Verhältnis zum Absoluten ausdrücken als das Verhältnis des endlichen Geschöpfes zu seinem Schöpfer, „der dich aus nichts geschaffen hat" (114/103). Die erste

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Beschreibung des Absoluten als der realisierten Einheit (Erfüllung) wird so durch den Begriff des Schöpfers und der creatio ex nihilo interpretiert. Das Absolute als die Einheit von Frage und Antwort ist identisch mit dem Grund des geschöpflichen Lebens16. Dieser Zusammenhang von Schöpfung und Erfüllung bestimmt auch den zweiten Argumentationsschritt (116-119/104-107). In ihm wird der Begriff der Erfüllung präzisiert, v.a. hinsichtlich seiner Bewegungsstruktur. Das Verhältnis von Gesetz und Liebe wird entwickelt als das Bestimmen des Unbestimmten. „Wenn ein Künstler einen Plan entwirft, eine Zeichnung zu einer Arbeit, so behält der Entwurf, wie genau er auch sei, stets etwas Unbestimmtes; erst wenn die Arbeit fertig ist, erst dann kann man sagen: nun ist nicht die geringste Unbestimmtheit mehr da, keine Linie, kein Punkt ist mehr unbestimmt. Es gibt deshalb nur einen einzigen Entwurf, der völlig bestimmt ist, das ist die Arbeit selbst [...] Ebenso ist das Gesetz der Entwurf, die Liebe die Erfüllung und das ganz Bestimmte, in der Liebe ist das Gesetz das ganz Bestimmte" (116/105). Das hier angesprochene Produktionsschema von Entwurf und Ausführung 17 muß zunächst von dem dialogischen Frage-Antwort-Modell unterschieden werden. Liebe erscheint nun als die Macht, die als Vollzugsbewegung schöpferisch über das Vorliegende (Geforderte) hinausgeht und dieses so überhaupt erst wirklich werden läßt. Die kategoriale Drittheit der Liebe (Erfüllung) wird als schöpferisch-überschießende Vollzugsbewegung ausgelegt. Die schöpfungstheologischen Obertöne der Metaphorik sind deutlich: Wirklichkeit als geschaffene Wirklichkeit entsteht nicht durch den rein idealen Plan eines Demiurgen, sondern durch die Ausführung, das schöpferische Handeln. Insofern es sich aber streng um das Ausführen des Geplanten handelt, liegen Plan und Ausführung auch „nicht im Streit miteinander" (ebd.). Die Differenz liegt allein im Bestimmen: Das Wirkliche ist immer bestimmter als das bloß Ideale, und der Weg solcher Verwirklichung ist die Liebe18. Und insofern beide Seiten im

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Das Problem der uneinholbaren Schuld, an dem der Handlungsbegriff (und mit ihm die gesamte Ethik) in der Nachschrift gescheitert war, wird hier neu aufgenommen. Die handlungstheoretische Aporie dieses Begriffs kann in TL überwunden werden, indem das Handlungsverständnis nicht mehr unter der Dominanz der Subjektmetaphysik steht, sondern durch einen schöpfungstheologischen Begriff der Liebe ausgelegt wird, dessen ontologische Implikationen zugleich einen neuen Begriff intersubjektiven Handelns ermöglichen. Zum Produktionsschema vgl. H. Joas, Kreativität, 128ff. Die bekannte ontologische Diskussion aus der Pseudonymen Verfasserschaft über das Verhältnis von Idealität und Realität taucht hier auf. Das Gesetz entspricht

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Schöpfer vereint sind, kann man sagen: Liebe ist der Prozeß der Selbstbestimmung des schöpferisch Unbestimmten, in dem Leben entsteht (vgl. die Parallelisierung von Leben und Liebe in 118/106)19. Im dritten Argumentationsschritt (119ff./107ff.) werden die beiden ersten Schritte zusammengeführt, indem die Frage beantwortet wird: Wie verhält sich nun dieses schöpfungstheologische Handlungsschema zu dem vorausgegangenen dialogischen Modell? Was hat die Liebe als Handeln des Schöpfers mit der Liebe als Verhältnis von Fragendem und Antwortendem zu tun? Wie macht sich die Drittheit der Liebe im intersubjektiven Verhältnis geltend? Die Argumentation läuft offensichtlich darauf hinaus, den ersten Schritt durch den zweiten Schritt zu interpretieren: Das intersubjektive Verhältnis von Frage und Antwort, in dem zugleich stets das Gottesverhältnis thematisch ist, ist der Ort und der Augenblick der Schöpfung, in dem Wirklichkeit und Leben, d.h. leibliche Handlungszusammenhänge, entstehen können. Das bestimmend-verwirklichende Schöpfungshandeln der Liebe ist das Dritte im Handlungsverhältnis, d.h. es ist die Vermittlungsbewegung, durch die die Handelnden A und Β miteinander verbunden werden: „Die weltliche Weisheit meint, Liebe sei ein Verhältnis zwischen Mensch und Mensch; das Christentum lehrt, Liebe sei ein Verhältnis zwischen Mensch - Gott - Mensch, das heißt Gott sei die Zwischenbestimmung" (119/107). Doch ist dies zunächst nur eine formale Beschreibung, die ihre Pointe jedoch bereits darin hat, daß sie die (strukturelle) Drittheit der verknüpfenden schöpferischen Bewegung zu benennen vermag. Zum weiteren Verständnis dieser Formel scheint es entscheidend zu sein, Klarheit darüber zu erhalten, welche Funktion das Gottes Verhältnis für das dialogische Handeln hat. Ist Gott der Schöpfer (vgl. o.), so ist er ontologisch von allen Geschöpfen und allen geschöpflichen Relationen unterschieden. Ent-

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dem Idealen dabei insofern, als es grenzenlos ist (117f./106). Zum Verhältnis von Entwurf und Ausführung vgl. PB, 70 und AUN2, 104. In der letztgenannten Stelle wird der Plan („Absicht") höher als der „Ausgang" bewertet, was an der allein am Subjekt orientierten Fragestellung dieser Ethik liegt. Demgegenüber impliziert das ontologische Verständnis dieses Verhältnisses in TL und der damit ausgesprochene Primat der Ausführung einen Begriff von intersubjektivem Handeln, s.u. Zu einer möglichen Differenzierung des Verhältnisses von Entwurf und Ausführung vgl. K. Schäfer, aaO. 320 (Anm. 238), mit Bezug auf PB, 70. Allerdings läßt sich m.E. Schäfers Favorisierung des „inneren Handelns" und damit das Betonen der Diskontinuität zwischen Entwurf und Ausführung auf den Erfüllungsbegriff von TL gerade nicht anwenden, da diese Erfüllung theologisch gedacht wird als göttliche Liebe. Zum Zusammenhang von Liebe, Selbstbestimmen und Lebensbegriff vgl. o. Kap. 1.

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sprechend ist das Verhältnis zum Schöpfer kategorial ein Erstes, Ursprüngliches, Nichtableitbares, das sich als Verhältnis absoluter Abhängigkeit darstellt: „Die abscheuliche Zeit der Leibeigenschaft ist vorbei, so glaubt man denn weiterzugehen - mit Hilfe der Abscheulichkeit: daß man die Leibeigenschaft des Menschen in Bezug auf Gott abschafft, dem jeder Mensch - nicht durch die Geburt, sondern durch die Schöpfung aus nichts als Leibeigener gehört [tilh0rer] [...] Gott gehört er mit jedwedem Gedanken, auch dem verstecktesten, mit jedwedem Gefühl, auch dem heimlichsten, mit jedweder Bewegung, auch der innerlichsten" (128/115). Das Gottesverhältnis ist ein absolut Erstes in dem Sinne, daß es nicht von den unhintergehbar relationalen Kategorien des Bewußtseins abgeleitet werden kann. Gedanken, Gefühl und Bewegung bezeichnen das gesamte relational verfaßte (Bewußt-)Sein des Menschen durch die drei Grundvermögen Verstand, Gefühl und Wille 20 . Der Schöpfer ist das Absolute darin, daß er diese relationale Struktur überhaupt erst setzt. Was bedeutet dies nun für das Verständnis von Handlungen? Die uns interessierende handlungstheoretische Frage war die Frage nach der Möglichkeit dialogischen Handelns. Für Kierkegaard ist solches Handeln nur möglich und denkbar durch einen Begriff des Absoluten. Allein ein solcher Begriff kann die Forderung des Gesetzes so „vollmächtig" machen, daß der Angesprochene unmittelbar beim Handeln behaftet wird und keine Gelegenheit zur Ausflucht mehr hat. Die bloß relative, d.h. durch Bezug auf anderen Akteure bestimmte Forderung hingegen kann nicht zum Handeln führen: „falls die bloß menschliche Bestimmung dessen, was die Forderung des Gesetzes sei, die Forderung des Gesetzes ist [...], wie kann dann der einzelne dahin gelangen, mit dem Handeln zu beginnen?" (129/116). Dem Gottesverhältnis entspricht damit ein Handeln, in dem man „unbedingt gehorcht [ubetinget at lyde]" (131/117). Damit haben wir ein drittes Handlungsmodell gewonnen, das nun entfaltet werden soll. Dieses Modell des unbedingten Gehorsams - das uns bereits oben bei der Darstellung der vollmächtigen Kommunikation begegnet war, doch ohne daß dort diese „Vollmacht" begrifflich geklärt worden wäre - ist durch eine dialogische Struktur gekennzeichnet: Zum antwortenden Handeln kommt es, wenn die Autorität einer externen

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Zu diesem Bewußtseinsbegriff Kierkegaards vgl. G. Malantschuk, Den Tcenkning.

kollaterale

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Forderung zum Handeln zwingt21. Dieses Zwingen impliziert zwar eine Zustimmung des Angesprochenen oder Gezwungenen; doch kann diese nicht als ein reflexiver Akt der subjektiven Selbstbestimmung gedacht werden, denn eine Zustimmung im Sinne einer reflexiven Autonomie würde das Absolute in die relationale Endlichkeit des Bewußtseins hineinziehen (Verstand, Gefühl, Wille), wodurch es als Absolutes aufgehoben wäre. Der von mir eingeführte Begriff des Zwangs soll verdeutlichen, daß es in dem durch unbedingten Gehorsam bestimmten Handlungsverhältnis um ein Verhältnis zu einer a) externen und b) absoluten Instanz geht; dieses Verhältnis muß zwar auf der Ebene des Bewußtseins, d.h. als ein intentionales Verhältnis zu einem Anderen beschrieben werden, aber es kann nicht transzendentalphilosophisch von der reflexiven Struktur des Bewußtseins aus erklärt werden. Kierkegaard beschreibt den unbedingten Gehorsam vielmehr als eine bestimmte Form von Interaktion. Ich versuche, das schwierige Verhältnis von Interaktion und Unbedingtem noch weiter zu klären: Gehorchen gibt es nicht ohne Befehl, doch bei einem unbedingten Gehorchen kann der Befehl nicht, wie beim bedingten Gehorchen, auf eine subjektive Form wie Zustimmung oder Selbstaufforderung zurückgeführt werden, die zwischen Aufforderung und Reaktion vermitteln würde22. Andererseits muß Gehorchen auch von der Seite des ge21

22

Es mag widersprüchlich erscheinen, Zwang und Dialog in einen Zusammenhang zu stellen. Doch kann man Zwang insofern als dialogisch verstehen, als es sich hierbei um ein Verhältnis zu einer externen Instanz handelt, nicht aber um ein Selbstverhältnis; gerade dies aber ist Kierkegaard ein wesentliches Merkmal der Freiheit, s. Pap. X 3 A 618LIT4, 254ff.; X 4 A 187/7V, 304 u.a. Das von Kierkegaard gemeinte Gehorsamsverhältnis gegenüber Gott kann vielleicht als paradox-dialogisch bezeichnet werden. Im übrigen ist das Moment einer unbedingten Qualität im Handeln nicht auf ein theologisches Denken wie bei Kierkegaard beschränkt. So kommt etwa - von ganz anderen Voraussetzungen her - auch D. Davidson zur Annahme eines unbedingten Elements in individuellen Handlungsvollzügen: „intentions and the judgements that go with intentional actions are distinguished by their all-out or unconditional form" (Intending, 102). Vgl. hierzu M. Riedel, aaO. 154ff. Eine Konsequenz unserer Überlegungen ist, daß das Handeln unter dem Begriff des unbedingten Gehorsams nicht als subjektiv-reflexive Wahl oder Entscheidung zu begreifen ist. Die Thematik von Wahl und Entscheidung, die in den Pseudonymen Schriften eine prominente Stellung innehat, spielt im gesamten ersten Teil von TL keine Rolle; die subjektivitätstheoretische Terminologie der Wahltheorie wird nicht verwandt. Kann die Wahltheorie etwa in Entweder/Oder noch als subjekthafte Vermittlung von deontologischer Freiheitsethik und sozialer Tugendethik verstanden werden, so ist in TL die Quelle alles Mo· raiisch-Sittlichen prinzipiell außerhalb des Subjekts angesiedelt. Die moralphiloso-

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horchenden Subjekts aus beschrieben werden. Von hier aus erscheint unbedingter Gehorsam als ein Reagieren auf ein Unbedingtes, und damit als ein Reagieren, das nicht mehr reflexiv vermittelt ist. Es ist ein unmittelbares Reagieren auf Erstheit: ein leiblich-relationales Verhalten, das nur von seinem unbedingten Bezugspunkt aus beschrieben werden kann; eine Beschreibung innerhalb der relational-zweistelligen Struktur des Bewußtseins (als Reagieren auf ein nur Gewußtes, Gefühltes oder Gewolltes) würde das Phänomen verfehlen. Der Begriff des unbedingten Gehorsams schließt bedingtes Handeln und Reagieren nicht aus, sondern muß gerade auf der phänomenalen Ebene des Bedingten und Leiblichen piaziert werden, insofern es sich um das Reagieren eines relational verfaßten Wesens handelt. Doch eben auf dieser Ebene muß Kierkegaard zufolge noch eine intentionale Relation zu einem Unbedingten aufweisbar sein, damit die dialogischen Begriffe Gehorsam und Vollmacht phänomenologisch erfaßt sind. Das oben angesprochene Bewußtsein der grundlegenden Schuldhaftigkeit des menschlichen Handelns gegenüber der Forderung des Schöpfers ist ein solches Phänomen, in dem ein unbedingtes Anderes erschlossen ist. Solange noch ein solches Unbedingtes gegeben ist, gibt es auch ein Verhältnis dazu, d.h. ein durch Unbedingtheit bestimmtes Verhalten. Unbedingter Gehorsam ist Reagieren auf Erstheit, vollzieht sich im Relationalen und verlangt deshalb Handlungsformen, die jene Erstheit, d.h. die Qualität des Unbedingten, im Medium des Bedingten ausdrücken. Dieser dritthafte Ausdruck wird jedesmal vollzogen, wenn eine Handlungsaufforderung befolgt, eine praktische Frage beantwortet wird, wenn also die Liebe dadurch das „Gesetz" erfüllt, daß eine Handlungsverknüpfung stattfindet und es so zur Bestimmung einer Handlungsbeziehung kommt. Um die Rekonstruktion dieser sozialontologischen Grundstruktur geht es Kierkegaard, wenn er von der Liebe als einer dreistelligen Relation und dem unbedingten Gehorsam als der Ausdrucksform dieser Relation spricht. Doch die Form solcher Gestaltung muß noch weiter erläutert werden. Denn wie ist das Absolute dem Bewußtsein gegeben, ohne daß es in die Dialektik der Relationalität hineingezogen wird? Wie wirkt phischen Probleme, denen sich die Wahltheorie stellt, werden in TL auf eine grundsätzlich andere Weise bearbeitet. Dies liegt v.a. an zwei zentralen Eigenschaften, die im bisherigen Verlauf meiner Interpretation bereits zum Zuge kamen: erstens an der phänomenologischen Methode der Schrift und zweitens an dem damit zusammenhängenden Begriff des transzendenten Grundes der Liebe; die Frage nach diesem transzendenten Grund ist von der transzendentalen Frage nach dem Ort des Unbedingten in der Struktur des Selbstbewußtseins streng zu unterscheiden.

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2. Kapitel: Das Sollen

das Absolute, wie bewirkt es ein bestimmtes Handeln? Kant hatte von dem Gefühl der „Achtung" vor dem Sittengesetz als der Triebfeder zum Handeln gesprochen, diese Achtung jedoch als „selbstgewirktes Gefühl" bestimmt 23 . Der Gehorsam in TL dagegen ist ein Reagieren auf eine Unbedingtheit, die in sprachlicher Form begegnet: als Aufforderung. Und hier liegt die Pointe: Die zur Handlung nötigende unbedingte Autorität hat sprachliche Gestalt. Handeln beginnt nicht durch eine innere Erfahrung oder eine im Selbstverhältnis zu piazierende Autorität, sondern in der Begegnung mit einer sich Geltung verschaffenden Aufforderung. Zum Verständnis einer in Form von Sprache unbedingt nötigenden Autorität ist nun vorläufig auf die Reden II A.-C. zu verweisen. Dort wurde der Begriff einer transzendenten Forderung als Sprachform entwickelt, ohne daß dieser Sprachform ein endliches Sprachsubjekt zugeordnet werden konnte. Mit dem Phänomen eines unbedingten Gehorsams als Reagieren auf absolute Erstheit scheint mir nun die (leibliche) Form genannt zu sein, in der die Sprachform des Liebesgebotes empirische Wirklichkeit annimmt: Das Liebesgebot ergeht als Gottesrede von außerhalb der Handlungsbeziehung, aber als bestimmte Sprachform wird es von einem Handlungssubjekt innerhalb einer Beziehung zu einem anderen endlichen Subjekt und damit von diesem anderen Subjekt her, d.h. dialogisch verstanden. Umgekehrt legt die Transzendenz des Liebesgebotes, wie sie II A.-C. entwickelt, die unbedingte Forderung in ihrer sprachlich-intersubjektiven Wirklichkeit ontologisch aus: Der vorher entwickelte Begriff der unbedingten Pflicht begründet, warum überhaupt von einem unbedingten Anspruch in intersubjektiven Sprechakten gesprochen werden kann 24 .

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I. Kant, Werke VII, 28, Fußnote (Hervorhebung U.L.). Die Bedeutung der sprachlichen Form, in der hier das Absolute in der Interaktion bestimmt wird, wird deutlich, wenn man Kierkegaards Darstellung mit Ansätzen vergleicht, die nicht von der Sprache, sondern vom Erfahrungsbegriff ausgehen. So möchte etwa W. Herrmann in seinem Aufsatz über die evangelische Buße zeigen, daß der Anfang der Buße im Glauben selbst liegt, und zwar im Glauben als einem inneren „Erlebnis" (Buße, 51). Dieses Erlebnis aber hat Herrmann zufolge seinen Ursprung in der sittlichen Begegnung mit einem anderen Menschen: „wenn der Sünder den Eindruck sittlicher Reinheit und Kraft aus dem Verkehr mit Personen empfängt" (ebd. 50); dieser Eindruck führe das Individuum zur Erkenntnis seiner Sünde und somit an den Anfang der Umkehr. Ähnlich wie Kierkegaard in TL, freilich unter einer anderen Fragestellung, verortet auch Herrmann Religion in der Interaktion endlicher Subjekte. Doch anders als jener beschreibt er die religiöse Dimension bewußtseinstheoretisch: als Eindruck, Erfahrung, Empfindung etc. Kierkegaard hingegen entdeckt das Religiöse in der spezifischen Sprachform der Inter-

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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Freilich ist die Bedeutung, die dem Unbedingten für das Gelingen von Kommunikation zugeschrieben werden kann, damit zunächst nur formal beschrieben. Inwiefern kann ein Begriff des unbedingten Gehorsams gegenüber einem Absoluten das konkrete Gelingen dialogischen Handelns erklären? Und wie ist das Gottesverhältnis mit der Bestimmtheit des endlichen Handlungsverhältnisses zusammenzudenken, ohne die Differenz von Gottes- und Menschenverhältnis aufzugeben? Diese Fragen lassen sich am besten weiter verfolgen, indem wir uns dem Gegenmodell des Handelns zuwenden, von dem sich Kierkegaards Theorie polemisch absetzt. b) Das Gegenmodell: Weltliche Liebe als unendliche Dialektik

der Macht

„Es ist wirklich ein Widerstreit zwischen dem, was die Welt, und dem, was Gott unter Liebe versteht" (132/118). Dieser Streit nimmt, wie auch schon in II A.-G, weite Strecken der Rede ein. Hierbei geht die Analyse des weltlichen Liebesverständnisses begrifflich nicht so sorgfältig vor wie in den vorausgegangenen Reden. Statt dessen ist der Ton polemischer und ironischer, und der sachliche Schwerpunkt in der Auseinandersetzung liegt darauf, die Konflikte zu schildern, die sich für denjenigen ergeben, der dem christlichen Verständnis folgt. Uns interessieren in diesem Zusammenhang nur diejenigen Aspekte dieses weltlichen Handelns, die in ihrer Differenz die Besonderheit der wahren Liebe hervorheben und entdecken helfen. Dabei ist daran zu erinnern, daß es sich bei diesen Handlungsmodellen, mit denen die Rede arbeitet, um idealtypische Abstraktionen handelt, nicht aber um Personenbeschreibungen. So bezeichnet „Welt" primär nicht den endlichen raum-zeitlichen Gesamtzusammenhang und das dort zu beobachtende Handeln, sondern es meint einen bestimmten Handlungstypus, eine bestimmte Form gesellschaftlicher Praxis. Solche Typen müssen sich nicht gegenseitig ausschließen, so daß eine Person ausschließlich von einem Typ bestimmt wäre; vielmehr ist davon auszu-

aktion: in der unbedingten Forderung. Sprache aber wird nicht innerlich erfahren, sondern sie wird primär gebraucht, und d.h. in TL: der Angesprochene erfährt nicht, sondern er versteht die Forderung, er geht mit ihr um, und zwar indem er auf sie reagiert: indem er praktisch antwortet.

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2. Kapitel: Das Sollen

gehen, daß in der Wirklichkeit konkrete Personen stets unter mehreren Modellen beschreibbar sind25. Weltliche Liebespraxis ist bestimmt durch die Kategorien der Selbstliebe: „Lohn" und „Vorteil". „Besser ist die Welt nicht; das Höchste, was sie anerkennt und liebt, ist im besten Falle, daß man das Gute und die Menschen liebt, jedoch dergestalt, daß man zugleich auf seinen eigenen irdischen Vorteil und den einiger anderer achtet" (137/123). Liebe ist daher für die Welt auch nur ein Austausch von Selbstliebe, eine „Halbheit" (135/121), in der man ein Stück seiner Selbstliebe abgibt und mit dem Anderen 26 teilt. Diese Orientierung am eigenem Vorteil geht paradoxerweise einher mit der allgemeinen Ansicht, daß die Liebe von ihrem Gegenstand, dem Geliebten zu beurteilen ist (119f./107f.)27. Beides, die Selbstbezogenheit wie die Außenbestimmtheit, zeigt an, daß das Verhältnis keine Vermittlungsinstanz kennt und vollständig durch die gegenseitigen Bestimmungen der beteiligten Akteure definiert ist. Die daraus resultierende Destruktivität will die Rede am Beispiel eines hierarchischen Verhältnisses aufzeigen, in dem ein „Ohnmächtiger" einem Stärkeren absolute Autorität zuerkennt (s. 139f./124f.). Dies ist die negative Entsprechung zu dem oben genannten Gottesverhältnis und dessen unbedingtem Gehorsam. Doch betreffen hier Autorität und Gehorsam eben nicht das Gottesverhältnis, sondern eine endliche Handlungsbeziehung. Die Folge ist „Abscheulichkeit", Unmenschlichkeit. So ist die hier geschilderte sklavische Unterwürfigkeit ein Ausdruck dafür, 25

26

27

Daß „Welt" nicht metaphysisch als Inbegriff der endlichen Realität gemeint ist, sondern einen Handlungstyp artikuliert, zeigt die theologische Unterscheidung von „Welt [Verden]" und „Erde [.Jord]": „Und es versteht sich, die wahre Teilnahme findet sich auch auf Erden, aber wo immer du sie findest, wirst du sie von der Welt gehaßt und verfolgt finden" (136/122). „Erde", „irdisch" ist als schöpfungstheologischer Begriff zu verstehen, während „Welt" stets auf bestimmte Praxisformen verweist. Ich verwende den Begriff des „Anderen" als Formel für den Gegenstand oder Handlungspartner des thematisierten Handlungssubjekts, entsprechend dem latinisierten Begriffspaar ego - alter. Diese formalisierte Redeweise wird auch in TL verwendet, s. 25/26f.; doch meistens enthält sich Kierkegaard einer begrifflichen Systematisierung oder Vereinheitlichung und spricht statt dessen konkret von „Geliebte", „Freund", „andere" etc. Dieser zweistellige Liebesbegriff, für den die Beurteilung der Liebe durch ihren Gegenstand typisch ist, hat im Argumentationsgang der Rede ferner die Funktion, das Mißverstehen der christlichen Liebe durch die Welt zu erklären: Diese kann innerhalb ihrer Begriffe nicht verstehen, wie die durch das Gottesverhältnis vermittelte Liebe gerade zum Konflikt und sogar zur Trennung der Liebenden führen kann.

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daß sich der Handelnde selbst wegwirft. Zugleich läßt sich dieses Selbst-Wegwerfen auch als eine subtile Form der Herrschaft, also als Selbstliebe entziffern. „Man kann unmenschlich sich selbst unentbehrlich machen wollen durch seine Macht, aber man kann auch unmenschlich sich selbst unentbehrlich machen wollen durch seine Ohnmacht, und deshalb eben kriechend und flehend eines andern Menschen Unbescheidenheit Liebe nennen" (140/125)28. Das Sichselbst-Wegwerfen ist ein Beispiel dafür, wie dialogisches Handeln nicht nur durch Ungehorsam, sondern auch durch falschen Gehorsam (und falsche, angemaßte Autorität!) unmöglich wird. Falsch ist dieser Gehorsam, weil er erstens absolut ist gegenüber einem endlichen Gegenstand, und zweitens nicht Gehorsam, also Antwort, sondern Herrschaftswille, also selber Forderung ist. Weltliche Liebe ist in Kierkegaards Darstellung ein zielgerichtetes (teleologisches) Handeln, das durch seinen Gegenstand, den Geliebten, bestimmt ist. Dieser Gegenstand aber wird, wie das Beispiel des Sklaven zeigt, wiederum vom Subjekt her entworfen. Der Geliebte ist Zweck und Mittel zugleich: Er ist die höchste Autorität und wird zugleich zum Mittel der Selbstvermittlung des Subjekts. Die Beziehung findet nicht aus dieser Dialektik von Herrschaft und Unterwerfung, 28

Die Schilderung der Selbstunterwerfung erinnert an den Abschnitt über „Herrschaft und Knechtschaft" in Hegels Phänomenologie, s. ebd. 127f£ Allerdings liest sich TL hier fast wie eine Parodie der Hegeischen Darstellung: Der Sklave erwirbt sich nämlich durch die Arbeit nicht wie bei Hegel die Befähigung zur Befreiung aus dem Abhängigkeitsverhältnis, sondern er will in diesem Verhältnis bleiben, weil er gerade dort die Anerkennung seiner erbärmlichen Existenz findet. Freilich kommt in Kierkegaards Darstellung die für Hegel entscheidende Größe der Arbeit, d.h. des Naturverhältnisses nicht vor. Darin zeigt sich eine Schwäche der Vorgehensweise von TL: Indem die Vermittlungsfigur streng für Gott und die christliche Liebe reserviert wird, geraten andere Handlungsformen, die das Verhältnis zweier Akteure dritthaft vermitteln (wie etwa die Arbeit), nicht in den Blick. Auch asymmetrische Machtverhältnisse können ja durchaus als reale Vermittlungsformen verstanden werden, nur nicht als Formen der Liebe (im Sinne Kierkegaards). Da Kierkegaard die Position des „Dritten" jedoch ausschließlich der realisierten christlichen Liebe vorbehält, kann er diese Position nicht im strengen (Peirce'sehen oder auch Hegeischen) Sinne kategorial denken. Andererseits ist jedoch Kierkegaards Argumentation auch hier kategorial gemeint: Der Grund, weshalb die realen Machtverhältnisse nicht als Drittes gelten können, liegt nämlich in dem Aufweis (am Beispiel der Selbst-Unterwerfung), daß sie auf das Verhalten und Selbstverhältnis der Handelnden reduzierbar sind. Deshalb gilt für die hier beschriebenen negativen Vermittlungsformen dasselbe wie für die romantisch-dichterische Liebe in II Α.: Es gibt zwar reale Formen von Vermittlung der Handelnden, doch sind dies Vermittlungen, die in der Perspektive der Handelnden auf diese selbst reduziert werden können und in diesem Sinne zweistellig sind.

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von Zweck und Mittel heraus, solange sie kein der reinen Zweistelligkeit transzendentes Drittes findet. Diese Dialektik wird als negative und unendliche beschrieben: Vermittlung erfolgt nur in Negativformen, nämlich als Asymmetrie von Herrschaft und Unterwerfung, und dies in doppelter Perspektive: als direktes intersubjektives Verhältnis von Herr und Sklave und als Selbstverhältnis des Sklaven. Diese Dialektik findet nicht zu einer Vermittlung der Zwecksetzungen beider Seiten in einem dritten Begriff, d.h. es kommt nicht zu einer gegenseitigen Anerkennung der Subjekte, in der beide als Fragende und Antwortende ihre je sinnvolle und nicht-destruktive Rolle spielen und gerade darin einander zuwenden können. Diese negative Dialektik ist der Kern eines Verständnisses von Relation als bloßer Zweistelligkeit und rein immamenter Gegenseitigkeit29. Kierkegaards Suche nach der Vermittlung von Frage und Antwort durch ein Drittes („Zwischenbestimmung") ist somit auch der Versuch, auf das Grundproblem politischer Philosophie seit Hobbes einzugehen: wie können die prinzipiell selbstsüchtigen Partikularinteressen der Einzelnen so aufeinander bezogen werden, daß ein gemeinsames Leben möglich ist? Anders als Hegel und der Gerichtsrat aus EntwederOder sieht Kierkegaard in TL die Lösung nicht in der Aufhebung der Partikularinteressen in einer substanziellen Sittlichkeit. Angesichts der diagnostizierten Auflösung dieser Substanz (s.o. Anm. 4) sieht TL das Problem offensichtlich in den sprachlich bestimmten Strukturen sozialer Interaktion und setzt hier an. Das Extrem der sklavischen Unterwerfung erschließt zugleich den alltäglichen weltlichen Begriff der Liebe. Beim Alltagsbegriff treffen sich beide Liebenden im strategischen Verständnis der „Halbheit", d.h. in der Übereinkunft, daß die Liebe auch in der Form von (hal29

Es liegt hier also dieselbe begriffliche Unterscheidung vor wie in II A.-C. im Fall der romantischen Liebe: Die je bestimmte Relation zweier Handelnder ist der unhintergehbare phänomenale und ontologische Ausgangspunkt für die Erörterung der Liebe, aber zugleich kommt alles darauf an, diese Relation nicht von ihren Relaten aus zu verstehen, sondern durch eine dritte Größe; erst durch diese kann sowohl das Gesetztsein als auch der Vollzug gedacht werden. In dieser Differenzierung wird jedoch der von mir eingeführte Begriff der Relation unscharf, da er auf beiden Ebenen der Beschreibung auftaucht. Im folgenden bezeichne ich mit „relational" lediglich jene bestimmten Elemente, die zueinander in Beziehung stehen, ohne daß ihre Beziehung selbst als Drittes artikuliert oder dargestellt wäre. Dieselbe Differenzierung gilt für den Begriff der „Gegenseitigkeit", vgl. hierzu A. Gr0n, Gegenseitigkeit, der einen doppelten Begriff von Gegenseitigkeit in TL herausarbeitet: Gegenseitigkeit als „Wiedervergeltung" und als vorausliegende Beziehungsstruktur.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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ber) Selbstlosigkeit beiden zur Befriedigung ihres jeweiligen Vorteils dient (s. 135/121). Kierkegaards Argumentation zielt auf den Aufweis, daß auch die Liebe als exemplarische nicht-strategische Handlungsform den Imperativen des zweckorientierten Handelns folgt. So zeigt sich der Kern der weltlichen Liebe: Es ist kein Reagieren, kein Antworten auf den Anspruch des Anderen. Es gibt hier kein Reagieren auf etwas Äußeres, sondern nur den Monolog der Selbstvermittlung im relationalen Gefüge. Auf halbem Weg begegnet sich niemand. Dies zeigt sich erneut an einer extremen Form, nämlich an der Dialektik von Vergötterung und Selbstunterwerfung: Die Vergötterung ist gerade kein Reagieren auf eine äußere Größe (und damit kein unbedingter Gehorsam), sondern hat ihren Platz innerhalb der Selbstvermittlung des Subjekts in der Auseinandersetzung mit dem anderen Subjekt. Solche Liebe kann damit auch nicht erklären, wie dialogisches Handeln möglich wird, sie kann es nicht ermöglichen. Aber worin liegt der rechtverstandene Anspruch des Anderen, der Anspruch, für welches das Gottesverhältnis die Vermittlungsinstanz ist? c) Gehorsam - Reagieren und Verstehen Nach dem bisher Gesagten kann man das Verhältnis von dialogischem, schöpferischem und gehorsamen Handeln folgendermaßen bestimmen: Der unbedingte Gehorsam ist der Punkt in dem dialogischem Verhältnis, an dem das Subjekt auf den Anspruch des Anderen als einem absolut Bindenden reagiert und damit einen Lebenszusammenhang (Praxis) mit dem Auffordernden schafft bzw. ihn je neu inszeniert und praktiziert. Was die Rede als Liebe bezeichnet, ist das Reagieren auf den in einer Situation begegnenden Anspruch eines Anderen in der Form des Reagierens auf „Gott", aber ohne daß der Andere (oder die von ihm repräsentierte Ordnung) mit Gott identisch wäre. Diese Handlungsstruktur ist nun noch näher zu klären und damit die oben aufgestellte Behauptung zu bewähren, daß der Gehorsamsbegriff die Sprachtheorie des Liebesgebots auf der Ebene endlicher Sprachsubjekte anwendet. So ist zuerst natürlich zu fragen, ob die eben gegebene Beschreibung nicht die einer reaktionären Praxis ist, eines Kadavergehorsams. Daß ein Kadavergehorsam selbstwidersprüchlich und unmenschlich ist, hat zwar die Rede in der Beschreibung der Selbstversklavung selbst aufgewiesen (s.o.). Dennoch muß gefragt werden, ob nicht eine Handlungsstruktur, die unbedingten Gehorsam enthält, unfähig zum wirklichen Dialog ist, nämlich unfähig zur kritischen Stellungnahme

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gegenüber dem erhobenen Anspruch. Die konservative Rhetorik der Reden läßt den Eindruck in der Tat zu, als sollten mit dem Begriff der Liebe bestimmte Praxisformen wie Familie und Staat vor jeder Veränderung geschützt werden (zum apologetischen Interesse s.u.). Die Tatsache, daß die Rede gleichwohl auch den Fall des Konfliktes der Handlungspartner im erheblichen Maße beschreibt - nämlich den Konflikt der verschiedenen Liebesbegriffe, der bis zur Trennung, d.h. der Zerstörung der bestehenden Praxisformen geht (s. 120f./108) läßt jedoch auf einen differenzierten Begriff dessen, was von mir „Anspruch", „Aufforderung" oder „Frage" genannt wurde, schließen. „Aus Liebe und in Liebe den Geliebten zu hassen" (121/109) ist die extremste Ausprägung dieses Konfliktes. Die Liebe ist sehr wohl kritisch. Liebe impliziert einen kritischen Verstehensprozeß, denn sie erfüllt nicht jede an sie herangetragene Aufforderung: „ein Mensch darf nicht zulassen, daß ein anderer ihm derart angehört, als sei er diesem andern alles" (120/108). Hier, bei der Gefahr der Vergötterung, liegt der Grund des Konfliktes. Aber welchen der lebensweltlich begegnenden Ansprüche muß die Liebe erfüllen, und warum? Wo liegt das Kriterium? Was ist das Absolute an einem begegnendem Anspruch? „Gott lieben, das heißt in Wahrheit sich selbst lieben; einem andern Menschen *dabei helfen, Gott zu lieben, das heißt einen andern Menschen lieben; *durch die Hilfe eines andern Menschen zur Gottesliebe gebracht werden, das heißt geliebt werden" (119/107). Das Absolute an einem dialogischen Verhältnis ist das Gottesverhältnis beider Beteiligten. Doch worin besteht das Gottesverhältnis? Wir hatten bereits festgestellt, daß das Gottesverhältnis die unmittelbar-erstheitliche Beziehung des Subjekts zu einem Unbedingten bezeichnet, die theologisch als die Beziehung des Geschöpfs zu seinem Schöpfer beschrieben wird. Durch die eben zitierte Formel wird dieser Begriff nun auf das intersubjektive Verhältnis angewandt. Hier begegnet jetzt jene unmittelbare Bezogenheit auf das Unbedingte im Anspruch der anderen Person. In der Handlungsaufforderung (der praktischen Frage) von A tritt Β eine Äußerung des Gottesverhältnisses von A gegenüber, und zwar immer und in jedem Fall. Die These, daß sich das Gottesverhältnis auf alle Liebes- und Weltverhältnisse bezieht (s. 125,150/112,133), bedeutet nämlich umgekehrt, daß sich in jeder Handlungsrelation das Gottesverhältnis als unbedingte Forderung artikuliert. Zum unbedingten Gehorsam kommt es, insofern eine praktische Frage (Aufforderung) als Artikulation des Gottesverhältnisses des Fragenden gilt. Daraus läßt sich mit Hilfe der zitierten Formel

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zunächst die formale Regel der Liebe ableiten: Durch die Vermittlung Gottes ist der Handlungspartner dem Subjekt und seiner Selbstorientierung entnommen; der Andere kann, insofern er ebenfalls als Geschöpf des Schöpfers gelten muß, nicht vom handelnden Subjekt als dessen eigenes Geschöpf (oder Schöpfer) vereinnahmt werden. Kantisch gesprochen: Der Andere kann (!) nicht Mittel der eigenen Zwecksetzung werden 30 . Anthropologisch-dialogisch gesprochen: Der Andere wird als Anderer anerkannt. Wie kann diese Artikulation des Unbedingten im Anspruch des Anderen verstanden werden? Handelt es sich um den rechtlichen Anspruch eines Anderen, als Freier und Gleicher anerkannt zu werden? Ein Begriff der Anerkennung in Form einer Rechtstheorie impliziert, wie wir am Beispiel Fichtes sehen werden, eine diskursive Form, in der die gegenseitige Anerkennung der Beteiligten als Rechtsanspruch argumentativ vermittelt wird. Zwar läßt sich dies prinzipiell auch für den Fall des Gottesverhältnis denken; doch ist Kierkegaard in dieser Rede offensichtlich nicht an einer solchen Rechts- oder Argumentationstheorie interessiert31. Die bloß formale Beschreibung der Liebe reicht nicht aus, d.h. der Begriff des unbedingten Anspruchs läßt sich noch inhaltlich qualifizieren. „Gott" ist ja nicht nur im formalen Sinne als Absolutes beschrieben, sondern wird inhaltlich als schöpferische Liebe, als die verwirklichende Bewegung vom Gebot zur Erfüllung beschrieben (s.o.). Diese Bewegung hatten wir als die gelungene Konstitution von Handlungszusammenhängen (Praxis) rekonstruiert. Insofern ist das individuelle Gottesverhältnis nicht nur als formale Beziehung, sondern als Teilnahme an der schöpferischen Bewegung der Praxis zu verstehen. „Gott" bzw. „Gottesverhältnis" bezeichnet sowohl etwas Erstes als auch ein Drittes: das Schöpferische. Sich auf einen Anderen in Hinsicht auf dessen Gottesverhältnis zu beziehen, bedeutet dann, ihn als (potentiellen) Teilnehmer dieser Schöpfungsbewegung zu verstehen. Die unbedingte Forderung, auf die nur mit unbedingtem Gehorsam reagiert werden kann, besteht dann in der Handlungsfähigkeit des Anderen als seiner Möglichkeit der Teilnahme am schöpferischen Prozeß der Liebe. Der unbedingte Gehorsam als ein Reagieren auf einen unbedingten An-

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Vgl. I. Kant, Werke VII, 59ff. Im Gegenteil wird eine diskursive Form, die Forderung inhaltlich zu bestimmen, vehement abgelehnt. Ein solcher Diskurs ist gemäß dieser Rede gerade der Grund für die allgemeine Handlungsunfähigkeit, weil in ihm der Begriff des Absoluten aufgehoben ist (s. 128ff./115ff.).

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2. Kapitel: D a s Sollen

spruch impliziert damit ein Verstehen des Anderen in seinem Verhältnis zum schöpferischen Prozeß, d.h. ein Verstehen des Anderen in seinen schöpferischen Möglichkeiten als Handelnder. Insofern ist mit der zitierten Formel bereits der Schritt von der Reaktion zur Intention getan. Das Reagieren auf unbedingte Erstheit im Anderen ist erstens sein Anerkennen als göttlich geschütze Individualität. Doch ist dies nur das erste Element; damit verbunden ist zweitens zugleich eine intentionale Ausrichtung, d.h. ein Verstehen des Anderen in Hinsicht auf dessen eigene Möglichkeiten und Handlungsfähigkeit 32 . Beides zusammen erst scheint den Begriff des Gehorsams auszumachen. Reagieren und Verstehen stehen dabei auch für verschiedene Rollen oder Perspektiven: Nimmt der Handelnde im Reagieren die Position der ersten Person ein, so übernimmt das Verstehen des Anderen in dessen Gottesverhältnis die Rolle der zweiten Person, des „Du". Es findet ein Rollentausch statt. Damit sind die Strukturen des Gehorsamsbegriffs entwickelt. Kierkegaards Behauptung ist, mit diesem Begriff die grundlegende Struktur jeder Handlungsverknüpfung rekonstruiert zu haben: den tatsächlichen Anfang des Handelns (vgl. 129/116). Zusammenfassend kann man eine doppelte Fragehinsicht in Kierkegaards Argumentation entdecken: Einerseits geht es ihm um die sozialontologische Frage: Was muß gedacht werden, wenn das Phänomen der gelingenden Handlungsverknüpfung in seiner Struktur beschrieben werden soll? Der Begriff des unbedingten Gehorsams, der die Bewegung der Handlungsverknüpfung beschreibt, ist kategorial zu verstehen; er kann als Analogiebildung zum Begriff des „Sprunges" gelten, der in den Climacus-Schriften als ontologische Kategorie der Existenzdialektik entfaltet wird33. Andererseits ist mit dieser ontologischen Anlage aber auch eine ethisch-normative Absicht verbunden: Es geht um den Aufweis, daß das Gelingen von Handlungsverknüpfungen, also das Leben in Beziehungen und Handlungsräumen, ein unverzichtbares Gut ist.

32

33

Dieser Intentionalitätsbegriff ist vorläufig in einem schwachen Sinn zu verstehen: als ein dem Anderen Zugewandtsein. D i e darin enthaltenen kognitiven Aspekte, also das intentionale Verstehen des Anderen, sind an dieser Stelle der R e d e n noch nicht sehr deutlich und können daher angemessener an späterer Stelle expliziert werden. Auf jeden Fall hat das Gottesverhältnis des Anderen hier nicht den Status eines selbstgesetzten Zweckbegriffs der praktischen Vernunft, sondern ist ein Implikat des unbedingten Gehorsams, d.h. es ist eine Form von Reagieren. Z u den wichtigsten Belegen vgl. K. Schäfer, aaO. 14ff., 228ÍL

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

131

Damit sind wir erneut bei den politischen Implikationen dieser Theorie angelangt, und ich kann noch einmal die Frage nach dem scheinbar reaktionären Charakter der durch unbedingten Gehorsam bestimmten Liebe aufnehmen und weiterfragen: Liegt nicht in der Argumentation ein Zirkel vor? Denn wenn wir fragen: Wie sind praktische Antworten und damit Praxis überhaupt möglich? und als Antwort den Hinweis auf die Realität und absolute Bedeutung von bestimmter Praxis erhalten, so scheint doch das Erfragte bereits vorausgesetzt zu sein. Ein solcher Zirkel liegt einerseits tatsächlich vor: Die Rede setzt bestimmte Formen gesellschaftlicher Praxis voraus, um an ihnen die Geltung des Liebesgebots zu demonstrieren. Die Theorie der Liebe wird, so könnte man sagen, innerhalb einer Apologie historisch kontingenter Praxisformen entwickelt: diese Theorie weist zugleich die Möglichkeit der Realisierung von Liebe in diesen Formen auf. Dies hat freilich auch methodische Bedeutung: TL will ja phänomenologisch die verborgene Liebe an den gegebenen Phänomenen aufzeigen; die Reden wollen aufdecken, rekonstruieren, nicht konstruieren. Andererseits können diese Praxisformen selbst nicht absolute Gültigkeit beanspruchen; dies zeigt die Möglichkeit des Konflikts, die die Liebe bis zur Gestalt des Hasses treibt, sehr ausführlich34. Daher kann und will diese Theorie der Liebe auch nicht, wie eine Rechtsphilosophie, einen Staatsbegriff konstruktiv entwikkeln. Das apologetische Interesse von TL liegt statt dessen darin zu zeigen, unter welchen Bedingungen die gegebenen Praxisformen sinnvoll sind. Sie sind dann sinnvoll, insofern und solange sie mit dem Begriff der Liebe vereinbar sind, solange also in ihnen liebevoll gehandelt werden kann, d.h. solange in ihnen dialogisches Handeln möglich ist35. Was die Argumentation also voraussetzt, ist nicht eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung, sondern ist eine schöpfungstheologische

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Der beständig drohende Konflikt von Praxisform und Individuum wird mit der Möglichkeit der Trennung markiert (s. 169/149 mit bezug auf die Ehe!) und gilt auch für das Vater-Sohn-Verhältnis (s. 103Í./94). Aus der Perspektive des Vaters thematisiert Furcht und Zittern dieselbe Gefahr. Das unveränderte Fortbestehen der gehorsamen Liebe auch im Konfliktfall - wobei der Konflikt laut Kierkegaard gerade durch diese Unveränderlichkeit der Liebe hervorgerufen wird - hat die Dialektik zur Folge, daß einerseits das betreffende Verhältnis nur in der negativen Form des Konflikts besteht, andererseits aber das Verhältnis und damit auch seine konkrete gesellschaftliche Form (Ehe, Familie) gerade nicht aufgehoben wird. Die Ambivalenz von .konservativer Form' und ,revolutionärer Innerlichkeit' zeigt sich hier deutlich.

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2. Kapitel: Das Sollen

Grundannahme: Menschliches Leben ist als geschaffenes Leben fundamental handlungsbedürftig und handlungsfähig, d.h. es ist auf Liebe angewiesen; Schöpfung (als Liebe) ereignet sich - anthropozentrisch gesprochen - im Schaffen von intersubjektiv geteilten Handlungsräume«, d.h. in der Bestimmung von Handlungs6ezie/i«ngen durch Liebe. In der sprachlich strukturierten Begegnung mit dem Anspruch anderer Subjekte findet der Handelnde die Möglichkeit zur Umsetzung seiner eigenen individuellen Handlungsfähigkeit, d.h. seiner Bestimmung als Geschöpf. Da sich zeigt, daß diese Voraussetzung in der Realität gefährdet oder gar zerstört ist, muß die Theorie die Liebe als den Vorgang beschreiben, der das Ursprüngliche wiederherstellt oder bewahrt. Das Absolute, das immer schon vorausgesetzt ist, liegt in dieser schöpfungstheologischen Bestimmung des Handelns, die jeden gegebenen Handlungsraum als solchen transzendiert. Nicht die bestimmten Praxisformen einer patriarchalisch-absolutistischen Gesellschaftordnung sind es, die hier von Kierkegaard verteidigt werden, sondern es geht ihm um die kategoriale Struktur dieser Praxis. Es muß diejenige sprachliche Vollzugsform aufgewiesen werden, die soziales, verknüpfendes Handeln überhaupt möglich macht, und dies bedeutet für Kierkegaard, daß das Faktum von Autorität und Gehorsam erklärt werden muß. Kierkegaard argumentiert schöpfungstheologisch, doch ohne daß die Schöpfungstheologie die Funktion einer Ordnungs- oder gar Staatstheologie übernimmt 36 . Der Liebesbegriff beschreibt nicht bestimmte (Schöpfungs-) Ordnungen, sondern die sprachliche Struktur ihrer Realisierung. Das „Gesetz" (d.h. die gegebenen Ordnungen) wird eben gemäß dieser Rede immer von der schöpferischen „Liebe" übertroffen, nämlich indem sie es erfüllt (116ff./104ff.): indem sie die Antwort auf die Frage gibt.

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In der deutschen lutherischen Theologie des 20. Jahrhunderts ist das Problem lange unter dem Begriff der „Schöpfungsordnungen" diskutiert worden. Es ist nicht Kierkegaards angeblicher Individualismus, der ihn von den Ordnungstheologen trennt, sondern sein kritisch-dialektischer Geschichtsbegriff, der ihn daran hindert, gegebene politische Ordnungen theologisch zu überhöhen; dies gilt im übrigen nicht nur für den späteren Kritiker der Staatskirche, sondern auch bereits für die lange Zeit bei Kierkegaard dominierende absolutistische Staatsauffassung, die betont profan ist und sich jeder religiösen Begründung enthält, vgl. K. Nordentoft, Brand-Majoren, 761 Zu einem differenzierten theologischen Begriff der Schöpfungsordnung, der vom Begriff geschöpflicher Freiheit aus zwischen geschaffenen Bedingungen für mögliche Ordnung und ihren jeweiligen kontingenten Verwirklichungsformen theologisch unterscheidet, vgl. E. Herms, Kirchenrecht, 242 (Anm.), ausführlicher in ders., Schöpfungsordnung, bes. Thesen 5-7.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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Die Rede will nicht mehr, als diese Bewegung des Antwortens und das ihr innewohnende Verhältnis von Autorität und Gehorsam nachzuzeichnen·, d.h. sie will und kann sie nicht unter Verweis auf objektive Daten (wie z.B. bestimmte Ordnungen, Normen oder Institutionen) erklären oder begründen. Letztlich gilt von jedem gelungenen Antworthandeln, was von der Autorität eines Apostels gilt: „Ein Apostel hat keinen anderen Beweis als seine eigene Aussage" (ZKA, 131). Die sprachliche Struktur von Fragen und Antworten ist für Kierkegaard nicht mehr hintergehbar; sie kann nur beschrieben werden. Doch ist dies nicht positivistisch zu verstehen; denn es hat sich gezeigt, daß die betreffende Sprechhandlung eine inhaltliche Bestimmtheit haben muß: sie muß das Gottesverhältnis des Sprechers zum Ausdruck bringen. Gleichwohl bleibt die normative Rolle der konkreten Gesellschaftsformen ambivalent. Die Rede schwankt zwischen konservativer Ordnungsrhetorik und dem Aufbrechen der gegebenen Formen 37 . Im folgenden soll der bisher erarbeitete Handlungsbegriff anhand der zweiten Rede unter „III." weiter präzisiert werden. Hierbei wird jenes Schwanken erneut eine Rolle spielen.

1.2.2. Liebe als Zustimmung in Innerlichkeit (III B.) III A. hatte eine Vielzahl von Perspektiven und Modellen vorgeführt, als deren Zielpunkt ich den Begriff des Gehorsams in seiner Doppelstruktur von Reagieren und Verstehen interpretiert habe. Hatte jene Rede die Liebe als Antwort primär aus der Perspektive des „Gesetzes" dargestellt, also aus der Perspektive der objektiv gegebenen Frage, so widmet sich die folgende Rede der Beschreibung des befragten Subjekts. Im Mittelpunkt steht hier die affektive Selbsterfahrung des

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B. Kirmmse, Golden Age sieht in TL die Position eines politischen Liberalismus am Werk, der die politischen Emanzipationsbewegungen nicht als solche kritisiert, sondern lediglich hinsichtlich der Gefahr, damit die religiöse Frage zu verdrängen: „SK's insistence upon boundaries and priorities within an otherwise free political field is his version of the classical liberal problem of the sedition law: how to protect society, which guarantees maximum freedom to all, against those who wish to abolish freedom and to use their own freedom only to compel or deny the freedom of others? Aside from these necessary ground rules, there is no specifically .Christian' politics. In SK's view, these problems are left to ordinary human ethical-political rules, the ,Law"' (ebd. 327). Zu Kierkegaards politischem Konservatismus vgl. ausführlich K. Nordentoft, aaO. 70ff.

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2. Kapitel: Das Sollen

durch die praktische Frage herausgeforderten Subjekts, wie es bereits am Beispiel der Arbeiterin einleitend beschrieben wurde (s.o. 1.1.). Was in III A. als „Gehorsam", d.h. als Reagieren auf Erstheit und Verstehen von Drittheit auftrat, wird nun als „Gewissen" und „Innerlichkeit [Inderlighed]" (s.151/134 passim) beschrieben. III B. fragt nicht wie III A. nach der praktischen Antwort in Form einer Ausführung des Versprochenen, sondern nach der Haltung, die der Handelnde (Sprecher) dabei einnimmt38. Die handlungstheoretisch relevante Frage dabei ist: Wie kann eine solche Haltung als leiblich-kommunikative Handlung verstanden werden? Wir haben also danach zu suchen, ob und inwiefern „Innerlichkeit" eine kommunikative Dimension hat, ob und inwiefern Haltung von Kierkegaard als leibliche Stellung und Stellungnahme gegenüber einem Handlungspartner verstanden wird. a) Reagieren als affektiv bestimmte Reflexivität „Nimm den geringsten, den am meisten übersehenen dienenden Menschen, denk dir eine recht einfältige, arme, dürftige Arbeiterin, die ihr Auskommen mit der geringsten Arbeit erwirbt: sie hat im christlichen Sinne das Recht, ja wir bitten sie im Namen des Christentums recht inständig, es auszuüben, sie hat das Recht, während sie ihre Arbeit verrichtet, im Gespräch mit sich selbst und mit Gott, was die Arbeit keineswegs aufhält, sie hat das Recht zu sagen: ,Ich tue diese Arbeit um Tagelohn, aber daß ich sie so sorgfältig verrichte, wie *ich es tue, das tue ich - um des Gewissens willen'" (151/134). Die Handlungsaufforderung von außen, die ich hier stets generalisierend als praktische Frage bezeichne, impliziert zwei Aspekte der praktischen Antwort. Neben dem Ausführen des Gebotenen, also der „Erfüllung des Gesetzes", steht der reflexive Aspekt der Antwort: Das Subjekt verhält sich zu der Aufforderung, d.h. es nimmt vor sich selbst zu der Aufforderung und seiner Reaktion Stellung; dies ist mit dem Selbst- und Gottesgespräch ausgedrückt. Der unbedingte Gehorsam muß auf der Ebene des Selbstverhältnisses noch einmal neu beschrieben werden - allerdings ohne damit den Gehorsam von einem autonomen Selbstverhältnis aus zu erklären. Das bloße Reagie38

In III A. war insofern die praktische Antwort nur erst einseitig thematisiert worden. Es ging dort stets um die Wirkung des Gottesverhältnisses auf das Subjekt, und das Subjekt kam lediglich als Reagierendes in den Blick. III B. thematisiert nun dieses Reagieren in seinem Selbstverhältnis.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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ren als Gehorsam hat die Form des Verhaltens, das reflexive Reagieren hingegen ist ein Sich-Verhalten39. Dafür steht der Gewissensbegriff. Dabei ist das Gegenüber von Gehorsam und Gewissen in beiden Fällen dasselbe, nämlich Gott: „denn sich zu Gott zu verhalten, das heißt eben Gewissen haben" (158/140). Handeln „um des Gewissens willen" bezeichnet ebenso wie die Unbedingtheit des Gehorsams die kategoriale Differenz: Das Handeln der Arbeiterin ist nicht durch bedingte Umstände allein und damit in den Begriffen der negativen Dialektik erklärbar (z.B. ökonomische oder politische Zwänge), sondern durch das Verhältnis zu einer unbedingten Größe außerhalb jeder immanenten Vermittlung. Diese kategoriale Differenz wird zunächst als die von Innerlichkeit und Öffentlichkeit entfaltet: „es gibt gewisse Dinge, und darunter insbesondere die Geheimnisse der Innerlichkeit, welche durch Bekanntmachung verlieren, und welche völlig verloren sind, wenn die Bekanntmachung einem das Wichtigste geworden ist" (151/134). Doch das Gewissen wird nicht nur in negativer Abgrenzung beschrieben. Die Rede spricht dem Gewissenshandeln mit dem Hinweis auf 1. Petr 2 ein positives Attribut zu, nämlich die Freiheit dessen, „der keine andere Verpflichtung anerkennt als die des Gewissens: das ist der König" (ebd.). Im Anschluß hieran bemüht sich die Rede um eine positive Beschreibung der kategorialen Differenz von Gewissen und relational verfaßter Welt. Eine bloß negativ abgrenzende Beschreibung ist nämlich in der Gefahr, die Einheit der beiden Aspekte der Antwort und damit das Phänomen des antwortenden Handelns überhaupt zu verlieren. Die Positivität des Gewissens findet die Rede in 39

Man kann also in gewisser Weise zwischen „Gehorsam" als Verhalten und „Gewissen" als Sich-Verhalten unterscheiden (ohne daß damit gesagt wäre, daß der Handlungsbegriff aus III A. nicht-reflexiv gewesen wäre; doch wird die dem Gehorsam inhärente Reflexivität erst in III B. thematisch). M. Riedel, aaO. 154ff erörtert in analoger Weise die handlungstheoretische Differenz von „Verhalten" und „Intentionalität". Allerdings bestimmt Riedel diese Differenz kategorial als die von „Aufforderung" und freier „Selbstaufforderung". Der Unterschied gegenüber Riedels Definition beleuchtet die Position von TL: Kierkegaard denkt im „Gehorsam" und im „Gewissen" das Element der nötigenden Aufforderung von außen als fundamentales Element des Handelns der Liebe, ohne diesen Außenbezug mit der Idee einer autonomen Subjektivität zu vermitteln. Daß diese Außenbestimmung noch keine heteronome Zerstörung des Handelnden als verantwortlicher Person ist, versuchen die Reden zu zeigen, wenn sie gerade in dieser Bestimmung die Liebe gelingen sehen. Ferner zeigt sich im Kontrast zu Riedel erneut die Bedeutung des intersubjektiven Verstehens für den Handlungsbegriff in TL. Was die Begriffe der Außenbestimmung thematisieren, ist das transzendente Element des Ursprungs einer Handlung (Liebe), der jenseits der bewußten Subjektivität liegt.

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2. Kapitel: Das Sollen

seinen affektiven Erscheinungsformen, genauer gesagt in jenen Affekten, unter denen das Selbstverhältnis des Antwortenden zu beschreiben ist40. Zunächst ist die Affektivität des Gewissens von einer zweistelligen Emotionalität unmittelbarer Gegenseitigkeit zu unterscheiden. So fungiert bei der Eheschließung der Priester als Anwalt des Gewissens: „er legt beiden, jeden für sich aufs Herz, daß es eine Sache des Gewissens sei, er macht ein Herzensanliegen zu einer Sache des Gewissens" (153/135). Die doppelte Bestimmung des Herzens in dem Satz belegt die Ambivalenz: Gewissen ist von „Herzensangelegenheiten" zu unterscheiden, betrifft aber doch zugleich selbst ebenfalls das Herz; nur vom Herz aus führt der Weg zum Gewissen. Geklärt wird diese differenzierte Sicht der Affektivität durch eine explizit affektive Beschreibung des Gewissens anhand der dem biblischen Leitvers 1. Tim 1,5 entnommenen Begriffe des „reinen Herzens" und „*ungeheuchelten Glaubens" (163ff./144ff.). Erstens das reine Herz: Dies wird im Unterschied zur freien Selbsthingebung der romantischen Liebe dargestellt: „Ein reines Herz ist nicht ein in jenem Sinne freies Herz, oder das ist etwas, das hier nicht in Betracht kommt; denn ein reines Herz ist vor allem ein gebundenes Herz. Deshalb ist es nicht so vergnüglich, davon zu sprechen wie vom holdseligen Selbstgefühl der Freiheit und von der allerholdseligsten Lust des Selbstgefühls in der kühnen Hingabe" (164/145). Das „gebundene Herz" ist analog zum unbedingten Gehorsam zu verstehen: Das Subjekt erfährt sich als auf ein Absolutes bezogen, demgegenüber es keine Wahl gibt, sondern nur Gehorsam, Gebundenheit. Die romantische Liebe ist, so scheint Kierkegaard zu behaupten, selbstverursacht und deshalb „Selbstgefühl". Das Gewissen dagegen steht unter einem Druck von außen, es wird von außen angestoßen 41 . Es ist nicht 40

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Trifft es zu, daß der Gewissensbegriff die Dimension der Reflexivität und Affektivität in die Beschreibung einbringt, so ist damit zugleich gesagt, daß für TL das Gewissen keine inhaltliche Erkenntnis oder Handlungsorientierung verschafft; in diesem materialen Sinne interpretiert allerdings G. Malantschuk den Gewissensbegriff aus III B. (Individ, 143). Zu Kierkegaards Gewissenbegriff vgl. A. Gr0n, Subjektivst, 190f£; F. Hauschildt, Ethik, 170£ Vgl. die Bilder von der durch „Druck" verursachten Bewegung von Vogel, Pfeil und Zweig in 163£/144£, ferner die Bemerkungen über die „Geschichte" des gebundenen Herzens (165£/146£) Zu der physikalischen Metaphorik von schwer/ leicht, mit der die vom Absoluten ausgehende Bewegung erläutert wird, vgl. auch 158/140: „... und deshalb ist es so furchtbar, auch nur das Mindeste auf seinem Gewissen zu haben, weil man sogleich Gottes unendliches Gewicht mit daraufliegen hat."

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Selbstgefühl, sondern gewissermaßen Fremdgefühl: das Gefühl der Gebundenheit 42 . Gleichwohl geht es auch bei der Gewissensliebe um eine Beschreibung von personalen Beziehungen. Wie in III Α., so ist auch hier das Absolute als Äußeres ein Beschreibungselement der dialogischen Situation; auch hier hat das transzendent Äußere die Gestalt eines anderen Handlungssubjeks. Die Gebundenheit besteht gegenüber einem konkreten, endlichen Anderen und seiner Handlungsaufforderung oder -erwartung. Die in III A. eingeführte Vermittlungsstruktur begegnet auch hier wieder. Mit dem zweiten Begriff des ungeheuchelten Glaubens wird die affektive Dimension der intimen Gegenseitigkeit der Liebe thematisiert. Ist gegenseitige Aufrichtigkeit im Klima der Vertrauens die Grundlage einer Liebesbeziehung, so ist doch solche Aufrichtigkeit nur möglich „vor Gott" (167/148). Denn die Vertrautheit beruht auf dem gegenseitigen Versprechen. Doch dies Versprechen selbst, insofern es die Existenz des Sprechers in ihrer Totalität artikuliert, kann nicht gegenüber dem Anderen begründet werden. Denn erst im Gottesverhältnis kommt das Individuum zu seinem Grund: Erst hier wird er sich selbst durchsichtig, so daß er in Aufrichtigkeit dem Anderen etwas versprechen kann. Gerade wenn das Versprechen die Totalität der Hingabe an den Anderen artikulieren soll, kann es nur im Gottesverhältnis begründet, und d.h. als Gottesverhältnis verstanden werden 43 . Gott selbst ist dann in affektiv-kommunikativen Begriffen zu beschreiben, nämlich als „Vertraulichkeit [Fortrolighed]", die affektive Wirklichkeit der Gewissensliebe aber als eine „Vertraulichkeit über [iom] Vertraulichkeit" (168/149). Auch diese emotionale Form ist nicht undialektisch, denn das Gottesverhältnis kann gerade zur „Scheidung" führen (169/149). Doch ist es ebenso wie der Begriff der Gebundenheit eine eigenständige affektive Beschreibungsform der Liebe, insofern sie durch das Gewissen bestimmt ist. Ihre Eigenständigkeit besteht darin, daß eine bestimmte Form von Affektivität als

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Hier liegt eine sachliche Nähe zu Schleiermachers Begriff des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit vor, vgl. Glaube, §§ 3-4. Zur Konvergenz von Schleiermacher und Kierkegaard als Idealismuskritiker (trotz der von Kierkegaard selbst hervorgehobenen Differenz) vgl. W. Anz, Schleiermacher, 418ff.; zu Kierkegaards Rezeption des Gefühlsbegriffs Schleiermachers vgl. BI, 181. Von der Rede III B. aus ist nicht nur die Verwandschaft hinsichtlich der Idealismuskritik und des Ansatzes der Dogmatik festzustellen (so Anz), sondern auch hinsichtlich des für Schleiermacher zentralen Zusammenhangs von Gefühl und Sprache (s.u.). Vgl. Pap. VIII1 A 78/72, 94f.; zum Begriff der Vertraulichkeit vgl. M. Andic, Confidence.

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2. Kapitel: Das Sollen

unabhängig von und doch grundlegend für konkrete Handlungsbeziehungen und deren immanente Emotionalität beschrieben werden kann. Im folgenden will ich danach fragen, inwieweit diese Gefühlsform Relevanz für die Handlungsform hat. Einige Hinweise dazu haben wir schon erhalten. b) Innerlichkeit als Expressivität Bereits am Anfang dieses Kapitels hatte ich am Beispiel der Arbeiterin behauptet, daß die „Innerlichkeit" des Gewissens eine bestimmte Form der praktischen Antwort darstellt, nämlich eine Zustimmung zu der verlangten Handlung. Diese dort nur vorläufig aufgestellte Behauptung soll nun belegt werden. Können wir diese Aufgabe klären, so können wir auch verstehen, worin die konkrete Auswirkung des Gottesverhältnis besteht. Jede praktische Antwort schließt ein reflexives Sich-Verhalten zu der Handlungsaufforderung und -ausführung ein. Erst wenn auch diese reflexive Einstellung im Sinne des unbedingten Gehorsams erfolgt, ist die Frage des Anderen wirklich beantwortet und eine Handlungsverknüpfung erreicht. Das impliziert, daß auch die reflexive Einstellung eine leibliche Stellung und Stellung-nahme ist, daß auch die Innerlichkeit des Gefühls eine äußerlich-kommunikative Dimension hat. Die in II B. beschriebene doppelbödige Kommunikationsweise der Geringen gegenüber den Vornehmen hatte dies bereits (negativ) beschrieben. Wie läßt sich aber nun die Gewissenhaftigkeit der Arbeiterin als Zustimmung zu ihrer Arbeit genauer verstehen? Sie kann der Rede zufolge nicht in Kategorien von lediglich zweistelliger, weltlicher Kommunikation begriffen werden. „Weltliches Mißverständnis drängt danach, im Äußeren [Udvorteshed] auszudrücken, daß Liebe im christlichen Sinne Geistesliebe ist - ach, aber das läßt sich äußerlich in etwas Äußerem nicht ausdrücken, denn es ist eben *Inneres [Indvorteshed]" (161/143). Dieser Satz lehnt ein Ausdrücken des Innerlichen in den Begriffen des Äußerlichen ab. „Äußerlich" ist die affektive Bestimmung der Liebesrelation, wenn ein relationales Element konstitutiv für sie ist, d.h. wenn die Liebe bestimmt wird als „Sache des Triebes und der Neigung, oder Sache des Gefühls, oder Sache verständiger Berechnung" (159/140). Der schematische Dualismus von Innen und Außen formuliert zwar eine Disjunktion, aber diese ist nur scheinbar vollständig: Das Argument schließt nämlich erstens nicht die Möglichkeit eines Ausdrückens unter ,nicht-äußerlichen' Begriffen aus; und es setzt zweitens dem Äu-

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ßeren das Innere [Indvorteshed], nicht aber die Innerlichkeit [Inderlighed] gegenüber 44 . M.a.W. es ist zu fragen, wie die dem Gewissen eigentümliche Form der Affektivität als intersubjektive Äußerung wirksam wird, oder: wie das Ewige „einen entscheidenden Ausdruck im Äußeren bekomm(t)" 45 . Im Sinne dieser Frage nach der angemessenen Äußerungsform legt die Argumentation der Rede es nahe, die Gewissenhaftigkeit der Arbeiterin beispielsweise durch das Gefühl der unbedingten Gebundenheit zu verstehen 46 . Versteht sie ihre Arbeit als ausschließlich durch relationale, endliche Determinanten und den darin unentrinnbar waltenden Machtverhältnissen bestimmt („Ich tue diese Arbeit um Tagelohn"), so erlebt sie sich selbst als abhängig von anderen Menschen. Tut sie ihre Arbeit „um des Gewissens willen", so ist dieses Arbeiten in seiner besonderen Form („daß ich sie so sorgfältig verrichte, wie *ich es tue") die Erfahrung einer Gebundenheit gegenüber einem Unbedingten, und dies impliziert die königliche Freiheit gegenüber den Mitmenschen. Diese Freiheit, die die Rede behauptet und als das Gefühl der „Lebenslust der Ewigkeit" beschreibt (166/147), macht den realen Unterschied im Verhältnis zur Arbeit aus. Die Ausführung der Arbeit wird anders sein, wenn sie in dieser Freiheit geschieht, als wenn sie im Gefühl ökonomischer Abhängigkeit getan wird: Die Arbeit wird dann bejaht als von Gott gefordert, und damit ist der Handlungsraum (und der Handlungspartner) dieses Arbeitsverhältnisses bejaht. Worauf es bei dieser Argumentation ankommt, ist nicht die möglicherweise fragwürdige Apologetik in Hinsicht auf bestimmte soziale und ökonomische Umstände. Wichtig ist vielmehr die der Argumentation zugrunde liegende Vorstellung davon, in welcher Weise die af44

45 44

Diese terminologische Differenzierung hat Gerdes an dieser Stelle in seiner Übersetzung nicht berücksichtigt. Auf die zuerst genannte Möglichkeit eines nicht-äußerlichen Ausdrucks verweist indirekt auch A. Gr0n, aaO. 93: er macht darauf aufmerksam, daß Kierkegaards Begriff der Innerlichkeit normativ gemeint ist, d.h. die „Innerlichkeit" muß von einer Fehlform unterschieden werden: der „Verschlossenheit" [indesluthed]. Anders gesagt: Inderlighed ist eine bestimmte Äußerungsform, während Indvorteshed lediglich den logischen Gegensatz innen-außen benennt. Pap. VIII1 A 312/72, 165 ( ca. August/September 1847). Es scheint freilich schwierig zu sein, die Argumentation zur Gewissensliebe aus dem Hauptteil der Rede direkt auf den Fall anzuwenden, mit dem im Einleitungsteil der Gewissensbegriff exponiert wird. Doch die stetige These, daß die Liebe alle Lebensverhältnisse betreffe, nötigt zu dieser Verbindung der Argumentationsteile, auch wenn die Ausführungen zur Gebundenheit und Vertraulichkeit in der Tat eher den Fall einer intimen Liebesbeziehung vor Augen haben.

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fektive Dimension der Innerlichkeit Einfluß auf die praktische Gestaltung einer Handlungsbeziehung hat. Als reflexiver Aspekt der praktischen Antwort ist die Affektivität der Innerlichkeit eine Sprachform, eine Äußerung. Diese in der Argumentation eher versteckte Vorstellung kann mit den Ausführungen C. Taylors zur expressiven Struktur von Sprache und menschlichem Handeln deutlicher herausgestellt werden. Nach Taylor ist die sprachliche Dimension der Expressivität ein wesentlicher Aspekt des menschlichen Handelns 47 . Ausdruck durch „speech" umfaßt alle Formen der reflexiven Bezogenheit auf andere Handelnde: Worte, Mimik, Gestik, Gefühle. Die Redehandlung definiert durch diese reflexive Expressivität die Stellung gegenüber dem Anderen. „Speech" ist die Form von reflexivem Weltverhältnis überhaupt, d.h. von Bewußtsein. Reflexives Bewußtsein „is a capacity we only realize in speech. Speaking is not only the expression of this capacity, but also its realization"48. In diesem Sinne möchte ich auch Kierkegaards Begriff des Gewissens und die damit verbundene Zustimmung als eine Form von „expressive action" interpretieren. Die Affektivität des Gewissens ist zwar dadurch von anderen Gefühlsformen unterschieden, daß sie eine Bezogenheit auf ein transzendentes Anderes ist. Doch wird dies ja, wie wir gesehen haben, als eine Dimension der Bezogenheit auf endliche Andere dargestellt. Die Innerlichkeit des Gottesverhältnisses hat also konstituti-

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C. Taylor, Herder, 92: „Our stances are literally bodily attitudes or actions on or toward objects. The new stance [sc. die anthropologisch fundamentale Errungenschaft der linguistic dimension'] can't be in its origins entirely unconnected with bodily postures or action. But it can't be an action just like the others, since those are definable outside the linguistic dimension. It has to be seen rather as an expressive action, one that both actualizes this stance of reflection and also presents it to others in public space. It brings about the stance whereby we relate to things in the linguistic dimension." Taylor bestimmt dabei im Anschluß an Herder das Spezifische der „linguistic dimension" im Unterschied zum Zeichenverstehen höherer Tierarten als die reflexive Struktur der „Besonnenheit" bzw. „reflection" (ebd. 87ff). Reflexion liegt vor, insofern das Geäußerte etwas ist, „was für uns ist" (ders., Bedeutungstheorien, 76). Zur Bedeutung des semantischen Ausdrucksaspekts für das Verständnis von Subjektivität vgl. auch E. Tugendhat, Einführung, 95f.; ders., Selbstbewußtsein, 123ff. Zur handlungstheoretischen Bedeutung der Ausdruckskategorie vgl. ferner H. Joas, aaO. 113f£ Bei F. Kaulbach, Kants Theorie gewinnt die Ausdrucksfunktion eine wesentliche Bedeutung auch für die Handlungstheorie Kants, vgl. ebd. 663ff.; allerdings ist hier der Unterschied zu Taylor deutlich: Kaulbach bestimmt „Ausdruck" oder „Äußerung" nicht wie Taylor von den Erscheinungsformen der Sprache her, sondern als ein Folgephänomen eines vorgängigen, nicht-sprachlichen transzendentalen Willens. C. Taylor, Language, 229.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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v e F u n k t i o n für die H a n d l u n g s r e l a t i o n e n , u n d z w a r in f o l g e n d e n H i n sichten: Z u m e i n e n ist erst durch d i e s e e x p r e s s i v e I n n e r l i c h k e i t die praktis c h e A n t w o r t vollständig 4 9 . D e n n erst das G e w i s s e n s c h e i n t d i e F o r m z u sein, in der der H a n d e l n d e s e i n e H a n d l u n g s o z u ä u ß e r n v e r m a g , d a ß sie a u c h für ihn selbst ist. Erst durch d i e s e Instanz wird d a s A r beiten von einem bloßen Ausführen zu einer selbstverantworteten H a n d l u n g . D i e s e R e f l e x i v i t ä t wird z w e i t e n s a f f e k t i v erfahren: als „ k ö nigliche" Freiheit g e g e n ü b e r w e l t l i c h - z w e i s t e l l i g e n B e d i n g u n g e n o d e r , i m Fall der e r o t i s c h e n L i e b e , als „Vertraulichkeit ü b e r Vertraulichkeit". D a m i t ist aber z u g l e i c h u n d drittens die b e s t i m m t e W e i s e b e nannt, in der sich das H a n d l u n g s v e r h ä l t n i s gestaltet; e s wird die expressive

und

affektive Form

a n g e g e b e n , in der die

Handelnden

zueinander Stellung n e h m e n und miteinander kommunizieren: die f r e i e Z u s t i m m u n g zur A u f f o r d e r u n g , die Vertraulichkeit z w i s c h e n d e n L i e b e n d e n . D i e s ist die K a t e g o r i e d e s „ W i e " der L i e b e s t a t e n , v o n d e n e n die erste R e d e sprach 5 0 . Wird d a s G e w i s s e n als Ä u ß e r u n g s f o r m

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Die Bedeutung des Affektiven für das kommunikative Handeln ist ein zentrales Motiv in vielen Schriften Kierkegaards. Besonders seine Analysen von Schwermut, Angst und Verzweiflung können stets auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Form der sozialen Handlung gelesen werden, vgl etwa FZ, 11 (die vierte Variation der Abraham-Isaak-Erzählung); die ästhetische Dimension dieser Expressivität veranschaulicht LA, 35ff: die Theorie der Erinnerung des Innerlichen ohne Erinnerung des Äußerlichen: „da, wo eine wesentliche Leidenschaft, die sich in Wort oder Handlung äußert, gegenwärtig ist, (nimmt) die Äußerung unsere Aufmerksamkeit so gefangen, daß man darüber das Äußerliche vergißt" (ebd. 36); in der Nachschrift spielen Humor und Ironie als Stilmittel der Existenzmitteilung eine wesentliche Rolle. Diese Beispiele sind nur als erste Andeutungen zu verstehen; die Bedeutung der expressiven Dimension für Kierkegaards Handlungsbegriff wird in den folgenden Kapiteln deutlicher werden. S.o. Kap.l.; vgl. auch dort die Hinweise auf die besondere Rolle, die der Bereich des emotionalen Ausdrucks für dieses „hvorledes" spielt! Für die Expressivität der „Vertraulichkeit über die Vertraulichkeit" findet sich eine eindrückliche Parallele in der ersten Rede aus Zur Selbstprüfung. Am Schluß der Rede wird das Schweigen als eigentümliche Handlungsweise der Frau behauptet, und zwar in ihrer Stelllung als Ehe- und Hausfrau. Solches Schweigen wird zudem mit dem Wortes Gottes parallelisiert, hat also denselben Status wie die „Vertraulichkeit über die Vertraulichkeit" in unserer Rede (die ebenfalls am Beispiel einer Frau beschrieben wird). Die Schilderung der expressiven Wirklichkeit dieses Schweigens kann wohl ebenso für jene Vertraulichkeit gelten: „Schweigen; das ist nichts Einzelnes, Bestimmtes, denn es besteht ja nicht darin, daß man nicht spricht. Nein, Schweigen gleicht dem sanften Lichtschein im traulichen Gemach, der Freundlichkeit in der ärmlichen Stube: man spricht nicht von ihm, aber es ist da und übt seine wohltuende Macht. Schweigen gleicht der Stimmung, der Grundstimmung, die nicht an den Tag gezerrt wird, darum eben heißt sie die Grundstimmung, weil sie auf dem

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2. Kapitel: Das Sollen

verstanden, so ist ihm eo ipso eine intersubjektive Realität zugeschrieben. Dieser Zusammenhang von Reflexivität, Expressivität und Intersubjektivität wird schließlich - mit Bezug auf die erotische Liebe - im Bild des Spiegels ausgedrückt: „In Aufrichtigkeit stellt der Liebende sich vor *der Geliebten dar; und kein Spiegel ist so genau in der Auffassung der geringsten Bedeutungslosigkeit wie die Aufrichtigkeit, wenn sie die wahre ist, oder wenn in den Liebenden die wahre Treue zugegen ist, die sich selbst widergibt [gjengive sig selv] im Spiegel der Aufrichtigkeit, den die *Liebe zwischen sie hält [Elskoven holder dem imellem]" (167/147). Durch diesen Spiegel konstituiert sich ein intersubjektives Verhältnis, in dem jeder der Beteiligten zugleich auf sich selbst verwiesen wird; der Spiegel selbst aber ist eine Metapher für die expressive Selbstdarstellung der Liebe, für die Äußerung von Innerlichkeit, Gewissen. Der expressive Charakter der Gewissensliebe kann auch von dem in der Rede gebrauchten Freiheitsbegriff aus erläutert werden. Wir hatten gesehen, daß etwa im Fall der Arbeiterin Freiheit als dialogische Zustimmung in absoluter Gebundenheit verstanden wird. Dies bedeutet für das Freiheitsverständnis: Erstens, es handelt sich nicht um eine grundlose Freiheit, sondern um eine bereits bestimmte Freiheit; die königliche Freiheit der Arbeiterin hat ihren Grund nicht in ihrer freien Selbstbestimmung, sondern in dem bindenden Verhältnis zu einer anderen Instanz 51 . Deshalb ist diese Freiheit zweitens auch nicht als immanentes Selbstverhältnis und der innere Dialog der Arbeiterin nicht als Selbstaufforderung zu verstehen 52 , vielmehr gewinnt die Arbeiterin ihre Freiheit in dem reflexiven Sich-Verhalten zu einem unbedingt bindenden Anderen. Die königliche Freiheit hat ihren

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Grunde liegt" (ZS\ 85f.). Ob das Frauenbild dieser Texte nun ausschließlich romantisch-konservativ oder vielleicht auch emanzipatorisch zu interpretieren ist, möchte ich hier offenlassen; vgl. dazu grundsätzlich S. Walsh, Living Poetically, 257ft Das Verständnis der Freiheit im bestimmten, .positiven' Sinn ist entscheidend für Kierkegaards Gewissensbegriff, s. Pap. X 3 A 61&UT4, 254ff.; X 4 A 187/7V, 304: Nicht subjektive Willkür, sondern „Zwang" und „Druck" sind konstitutiv für das Gewissen. Gewissenhaftes Handeln findet nicht in leeren Raum einer abstrakten Wahlfreiheit statt, sondern im jeweils bestimmten Handlungsraum eines intersubjektiven Verhältnisses; erst im produktiven Verhalten gegenüber den Ansprüchen, die dem Akteur hier begegnen, kommt er überhaupt zum Handeln. Im Kontext der genannten Papirer-Stellen wird solches Verhalten freilich nicht wie in TL als Kooperation, sondern als Widerstand gegen das Bestehende beschrieben. Die fundamentale Bedeutung des bestimmenden Außenverhältnisses für den Zusammenhang von Handlungsfreiheit und Gewissen wird dadurch aber nur noch verstärkt. S.o. Anm. 39!

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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Ort in einem intersubjektiven Verhältnis (insofern dieses durch das Absolute bestimmt ist), und deshalb ist ihre Form wesentlich die der sprachlichen Äußerung. In einer Notiz, die denselben Fall wie unsere Rede thematisiert, heißt es über den inneren Dialog der Arbeiterin: „die kleine weltliche Veränderung, die zu erreichen wäre, ist doch wie nichts; diese Worte aber und dieser Gedanke: ,um des Gewissens willen' sind eine Sprachveränderung [Sprogforandring]" {Pap. VIII 1 A 60/72, 92). Diese Sprachveränderung versuche ich mit dem Begriff der innerlich-expressiven Zustimmung zu erfassen. c) Innerlichkeit als expressive Veränderung der Wirklichkeit Das Gewissen als das Organ des Gottesverhältnisses ist also hinsichtlich seiner Stellung durch eine Dialektik geprägt: Es ist einerseits von den konkreten Handlungsverhältnissen als eine eigene Beziehungsform zu unterscheiden. Andererseits ist es in Formen affektiver Erfahrung beschreibbar und dadurch auf endlich-bestimmte Relationen beziehbar und in ihnen erfahrbar. Das Problem, wie diese beiden Aspekte aufeinander zu beziehen sind, wird in der Rede ausführlich unter der Frage nach dem Verhältnis von christlicher Geistliebe und weltlicher Trieb- oder Neigungsliebe diskutiert (154ff./136ff.). Diese Diskussion variiert die bereits in II A.-C. unternommene Bestimmung von universaler Nächstenliebe und Partikularliebe. Jetzt wird das Verhältnis begriffslogisch bestimmt als das Verhältnis vom „ewig Zugrundeliegende(m)" und seiner „Äußerung" in den je konkreten relationalen Formen der Liebe (156/138)53. Damit sind genau die bei53

Das Schema von Grund und Äußerung soll das Verhältnis von Partikularität und Allgemeinheit für den Liebesbegriff klären. Es läßt kein exklusives Verständnis der Nächstenliebe zu; vielmehr nötigt dieses Schema dazu, Nächstenliebe als den „Grund" jeder gelungenen Form von Partikularliebe zu verstehen. Der Begriff des „Nächsten" drückt dabei die Qualität oder die „Grundveränderung" aus, die die Liebesbeziehung gelingen läßt: „So hat denn das Christentum auch nichts dagegen, daß der Mann die Ehefrau im besonderen liebt, aber er darf sie niemals dergestalt im besonderen lieben, daß sie davon ausgenommen ist, der Nächste zu sein, was jeder Mensch ist" (157/139). Daß die christliche Liebe in diesem Sinn weltliche Beziehungen konstitutiert, nämlich als „Grund" und „Zwischenbestimmung", wird von E. Hirsch übersehen, wenn er für die Gewissensliebe einen innerlichen „Bruch mit der Welt" im Sinne einer (neulutherischen!) dualistischen Zwei-Reiche-Lehre behauptet (Kierkegaard-Studien, 871). Im übrigen ist das Verhältnis von Grund und Äußerung an der genannten Stelle im metaphysischen Sinne des Verhältnisses von Idee und Erscheinung gemeint; die Anwendung auf die Frage nach dem expressiven Handeln erscheint daher schwierig zu sein. Doch wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen, daß der

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2. Kapitel: Das Sollen

den Formen benannt, die unsere Analyse aufgedeckt hat: Die Gewissensliebe ist einerseits der transzendente Grund, die Ermöglichung einer Handlungsrelation; sie ist solche Ermöglichung aber andererseits gerade in der Form einer bestimmten affektiven Gestaltung der Beziehung. Es erscheint mir wichtig, diese doppelte Beschreibungshinsicht des Gottesverhältnisses festzuhalten: Das Gottesverhältnis liegt einerseits allen bestimmten Relationen voraus und ist insofern ein Erstes. Andererseits aber ist es in der bestimmt-endlichen Relation selbst affektiv wirksam, und dies auf eine Weise, die selbst nicht zweistellig bestimmt ist; es führt in bestimmten Formen von Affektivität das Verständnis der Relation über die immanente Zweistelligkeit von bloßer Gegenseitigkeit hinaus und ist insofern ein Drittes. Wenn die Rede die Bedeutung des Gewissens für das konkrete Liebesverhältnis in affektiv-relationalen Begriffen wie „Gebundenheit" oder „Vertraulichkeit über Vertraulichkeit" beschreibt, so ist darin die analytische Differenz von Erstheit und Drittheit genau ausgedrückt, und zwar innerhalb der Beschreibung einer intersubjektiven Beziehung. Es handelt sich um verschiedene Darstellungsperspektiven derselben Sache, d.h. eine ontologische Trennung zwischen Gottes* und Weltverhältnis ist nicht möglich. Die expressive Dimension der Gewissensinnerlichkeit spielt eine zentrale Rolle für die die ganze Rede durchziehende Diskussion um die „Veränderung": „Das Christentum hat nicht Regierungen von Thron stürzen wollen, um sich selbst auf den Thron zu setzen, es hat im äußeren Sinne niemals um den Platz in der Welt gestritten, es ist ja nicht von dieser Welt (denn falls es im Raum des Herzens Platz findet, so nimmt es doch keinen Platz in der Welt ein), und doch hat es all das unendlich verändert, was es bestehen ließ und bestehen läßt" (150/133). Die Veränderung, die durch das Gewissensverhältnis zustande kommt, kann nur im paradoxen Zugleich von ,alles unendlich verändern - alles bestehen lassen' ausgedrückt werden. Damit werden zwar sachgerecht Gottes- und Weltverhältnis aufeinander bezogen, doch wie sieht diese Veränderung denn nun aus? Nach dem bisher Ausgeführten können wir die unendliche Veränderung als die reale Wirkung des Gewissens kraft seiner expressiv-affektiven Verfassung verstehen. Die „Lebenslust der Ewigkeit" ist dann etwas, was die Handelnden als praktisch Antwortende im dialogischen Handeln kommunizieren. Das Gewissen, in dem das Handeln für den HanBegriff des expressiven Handelns dazu nötigt, genau diese metaphysischen Fragen zu bearbeiten.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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delnden selbst ansichtig wird, ist zugleich eine bestimmte Äußerung gegenüber dem Handlungspartner. Die bestehenden Handlungsformen werden auf diese Weise unendlich erneuert, indem sie zustimmend vollzogen werden. Die affektive Zustimmung, welche die Ausführung des Geforderten begleitet, ist die stetige Erneuerung der dialogischen Form: „Es [sc. das Christentum] will äußerlich überhaupt keine Veränderung im Äußeren hervorbringen, es will dieses ergreifen, reinigen und heiligen, und dergestalt alles neu machen, während doch alles beim alten bleibt" (160/142). So gewinnt Kierkegaard die Kategorie der Wirkung für sein Handlungsverständnis zurück (nachdem sie in der Nachschrift aporetisch geworden war), indem er sie als eine Bestimmung des leiblichen „Wie" einer Handlung auslegt. Die genaue Untersuchung der Wirksamkeit des liebenden Handelns wird zu einem zentralen Thema der Reden des zweiten Teils von TL werden. Der Charakter der „unendlichen Veränderung" als expressiver Wirkung kann schließlich durch den ontologischen Begriff der Bewegung erläutert werden 54 . Bereits in III A. hatten wir die Bewegung als einen zentralen Vorstellungsgehalt der Darstellung identifiziert: Die „Erfüllung" des Gesetzes wurde dort als (überschießende) Bewegung der Realisierung beschrieben. In III B. nun stellt der Terminus „Veränderung" eine entsprechende Bewegungsmetapher dar. Im Hintergrund stehen die früheren Überlegungen Kierkegaards, den aristotelischen Begriff der kinesis für den Begriff des Werdens und das Verhältnis von Idealität und Realität fruchtbar zu machen 55 . Nach Kierkegaards Aristoteles-Deutung ist die „Veränderung" (alloiosis) die qualitative Bewegung56, die voraussetzt, „daß das, mit dem die

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Der Bewegungsbegriff ist Kierkegaard im Zusammenhang seiner logischen Studien während der Abfassung der Climacus-Schriften wichtig geworden; hierbei orientiert er sich an A. Trendelenburgs Äußerungen zur Bewegung, s. Untersuchungen Bd.l, 141ff. Im Unterschied zu Kierkegaards Fragerichtung ist Trendelenburgs Bewegungsbegriff allerdings erkenntnistheoretisch gemeint, vgl. ausführlicher K. Schäfer, aaO. 116£, 268ft Vgl. PB, 69, wo Climacus den Oberbegriff der Veränderung [forandring] in die aristotelischen Formen alloiosis \forvandling] und kinesis [tilblivelse] unterteilt. Dazu H. Schulz, Identität, 469f£ S. Pap. VIII 2 C 1 (in Aufnahme von Trendelenburg). Zur Differenz von qualitativer Veränderung und Werden vgl. H. Schulz, aaO.; J. Tzavaras, Bewegung, 20f£ Die Frage, ob es sich bei dieser Erfüllungsbewegung um einen Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit (i.S. von natürlichem Wachstum, aber auch von ethischer Selbstwahl) oder um die Bewegung von der Unmöglichkeit zur Wirklichkeit (i.S. der christlichen Neuschöpfung) handelt (s. H. Schulz, aaO. 476f.), können wir hier

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Veränderung vorgeht, da ist, selbst dann wenn die Veränderung die ist, aufzuhören da zu sein" {PB, 69). Die Erfüllungsbewegung der Liebe, die das Gesetz schöpferisch transzendiert (III Α.), erweist sich unter der Perspektive des Gewissens als qualitative Erneuerung der vorgegebenen Ordnungen und Verhältnisse. Diese Erneuerung liegt darin, daß hier das Vorgegebene in Innerlichkeit expressiv gestaltet und beantwortet wird. Das aber heißt, daß die Innerlichkeit selbst verändert wird; die Veränderung wird zur „Grund-Veränderung": „Nur sofern aus dieser Grund-Veränderung eine Veränderung der Innerlichkeit in *Erotik und Freundschaft folgt, nur insofern hat sie diese verändert" (163/144, s. auch 158/140). Die vorgegebenen Beziehungen werden erneuert, indem sie jeweils neu in der Innerlichkeit des Gewissens in Anspruch genommen und gestaltet werden. Vom Gewissen aus und kraft der affektiv-expressiven Selbstmitteilung des Gottesverhältnisses vollzieht sich die schöpferische Erfüllungsbewegung der Liebe als Neu-Schöpfung von „Zusammenhang", als überschießende Reproduktion eines leiblichen Kommunikationszusammenhangs. Allerdings ist damit die „Veränderung" erst im Ansatz beschrieben. Die Frage, wie die Wirkung einer Liebesäußerung im kommunikativen Geschehen zu denken und zu beschreiben ist, ist damit noch nicht aufgenommen und kann erst in späteren Kontexten beantwortet werden.

1.2.3. Dialog und Anerkennung - ein Blick auf Fichte Zu Beginn des Kapitels habe ich den Begriff des dialogischen Handelns eingeführt, um den Verortung der Liebe in vorgegebenen kommunikativen Kontexten von Fragen und Antworten zu charakterisieren. Die sprachliche Struktur dieses Handelns ist durch die letzten Überlegungen zur Expressivität noch deutlicher geworden. Freilich war bisher erst der Aspekt des Antwortens thematisiert worden; der dialogischen Handlungsform des Fragens werden wir uns erst noch zuwenden. Doch ist es sinnvoll, den Begriff des dialogischen Handelns bereits jetzt durch einen Blick auf die philosophische Tradition noch etwas genauer zu bestimmen und zu rechtfertigen. Bei dem Versuch, den Begriff des Gehorsams als ein Reagieren auf Erstheit oder offenlassen. Eine Interpretation der Kommunikation vom Bewegungsbegriff her deutet AUN1, 65, Anm. an.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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Absolutes zu interpretieren, wurde bereits die Möglichkeit erwähnt, diesen Begriff durch eine rechtsphilosophische Theorie der Anerkennung auszulegen. Diese dort noch ausgelassene Möglichkeit soll nun hier diskutiert werden. Ein für Kierkegaard wichtiger Autor, der Intersubjektivität ebenfalls dialogisch entwickelt, ist J.G. Fichte. In seiner Rechts- und Moralphilosophie nimmt die Konstitution von Individualität durch intersubjektives Handeln einen wichtigen Platz ein57. Im folgenden möchte ich anhand der Grundlage des Naturrechts diejenigen Aspekte in dieser Individualitätstheorie benennen, die für einen Vergleich mit TL relevant sein können. In der Grundlage des Naturrechts entwickelt Fichte den Rechtsbegriff von der transzendentalen Theorie des Selbstbewußtseins aus. Ein endliches Vernunftwesen ist einerseits als freies Subjekt durch seine freie, ungehemmte Wirksamkeit bestimmt (§ 1). Andererseits aber ist mit dieser Wirksamkeit eine objektive sinnliche Welt außerhalb des Subjekts gegeben, die als freie Wirkung auf das Subjekt hemmend wirkt (§ 2). Daraus ergibt sich ein logischer Zirkel: Subjekt und Welt setzen sich gegenseitig voraus (§ 3). Dieser Zirkel löst sich auf in einer Synthesis, in der „angenommen werde, die Wirksamkeit des Subjekts sei mit dem Objekte in einem und ebendemselben Momente synthetisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjekts sei selbst das wahrgenommene und begriffene Objekt, das Objekt sei kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjekts, und so seien beide dasselbe" 58 . Doch wie kann eine solche Synthesis der Momente des Selbstbewußtseins gedacht werden? Die Synthesis ist möglich, wenn man das Selbstbewußtsein als das Bewußtsein der Begegnung mit einer ebenso freien Person postuliert: „Beide sind vollkommen vereinigt, wenn wir uns denken ein Bestimmtsein des Subjekts zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschließen" 59 . Die „Aufforderung" des Subjekts durch ein anderes Subjekt ist diejenige Synthesis, in welcher das Subjekt in seiner Freiheit bestimmt wird durch einen „äußeren Anstoß", der als solcher ebenfalls als frei wirkendes Subjekt gedacht werden muß. Das Wir57

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S. J.G. Fichte, Naturrecht·, ders., Sittenlehre. Zum Verhältnis zwischen Fichte und Kierkegaard vgl. J. Holl, Konzeption, 65ff. (zur Bedeutung der praktischen Philsophie im Handlungsbegriff s. bes. 75ff.); W. von Kloeden, Kierkegaard (zum Handlungsbegriff bes. 141f.); H. Fahrenbach, Ethik, 163ff.; H. Schmidinger, Interesse, 344ff. Zur Bedeutung Fichtes für einen kommunikationstheoretischen Begriff von Individualität vgl. J. Habermas, Individuierung, 197ff. Naturrecht, 32. AaO. 33.

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kungsprinzip dieser „freien Wechselwirksamkeit60 ist die Freiheit, d.h. die gegenseitige Einwirkung durch Zweckbegriffe der Vernunft. Darin ist die freie Selbstbeschränkung beider Seiten impliziert, in der zwei voneinander abgegrenzte Sphären und damit der Individuumsbegriff entstehen. Dies führt zum Begriff der gegenseitigen Anerkennung als der für das Rechtsverhältnis wesentlichen Struktur, in der sich die Handelnden bei ihrer Freiheit gegenseitig behaften: „Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist daher das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln." 61 Gegenseitige Anerkennung bedeutet: die gegenseitige Erwartung, daß sich der Andere aus freien Stücken auf seine Sphäre begrenzt. Die individuelle Sphäre wird durch den Begriff des Leibes bestimmt (§ 5), der den differenzierten Ort der freien Wechselwirkung darstellt (§ 6). Und so wie die das Subjekt als Individuum überhaupt erst in der Aufforderung durch den Anderen entsteht, so macht sich das Subjekt auch erst in der Artikulation seiner eigenen Sphäre gegenüber dem anderen als Individuum geltend: „Diese Aufforderung an ihn ist in dem Setzen meiner als Individuum enthalten." 62 Die aus der Wissenschaftslehre bekannte Figur der Dialektik des Selbstbewußtseins in seinen Momenten des Ich und des Nicht-Ich wird also im Naturrecht zur Basis auch der praktischen Philosophie. Fichte entwickelt seine praktische Philosophie als transzendentale Deduktion der Bedingungen des Selbstbewußtseins. Hiervon hebt sich Kierkegaards Methode deutlich ab: Er beginnt nicht mit einem transzendentalen Prinzip als dem Grund der Erfahrung von Intersubjektivität, sondern setzt bei der objektiv vorliegenden Relationalität, der bestimmten Handlungsbeziehung als unhintergehbarer Voraussetzung geschichtlicher Existenz an. Fichte deduziert reflexionstheoretisch das Bewußtsein einer Gemeinschaft freier Wesen und „der für sie notwendigen Selbstbeschränkung als Bedingung des Selbstbewußtseins"63, während Kierkegaard in TL diese Intersubjektivität in Form konkreter geschichtlicher Handlungsformen und -Verhältnisse methodisch voraussetzt und zugleich als diejenige ursprüngliche und 60 61 62 63

AaO. 34. AaO. 44. AaO. 51. L. Siep, Einheit, 54.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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reflexionstheoretisch uneinholbare Realität versteht, welche die Theorie erklären muß. Andererseits scheint es auch Berührungspunkte zwischen beiden Ansätzen zu geben. Fichtes Theorie der Anerkennung beruht im wesentlichen auf dem kommunikativen Begriff der gegenseitigen Aufforderung und der in ihr dargestellten Synthesis. Als ein Reagieren auf eine Aufforderung wird aber eben auch in Τ LI, III die Liebe dargestellt. Allerdings wird diese Aufforderung in beiden Entwürfen unterschiedlich verstanden. Für Fichte ist der Begriff der Freiheit entscheidend: Durch die Aufforderung konstituieren sich zwei entgegengesetzte Sphären als unantastbare Freiheitssphären. So sehr die Aufforderung „von außen" kommt, so sehr ist sie doch lediglich „äußere(r) Anstoß" zur Selbstrealisierung, der die Freiheit selbst nicht berührt64. Die Berührung durch einen Anderen ist letzlich eine genetische Funktion innerhalb des Aufbaus des freien Selbstbewußtseins65. Dieses Selbstbewußtsein verlangt zu seiner Konstitution ein anderes freies Subjekt außerhalb seiner selbst, doch nur solange dieses auch als frei handelnd, d.h. als die Sphäre des Anderen in Selbstbeschränkung respektierend gedacht werden kann. Die leibliche, auffordernde Realität des Anderen wirkt als Anstoß zum Gebrauch der eigenen freien Vernünftigkeit, in der wiederum die Anerkennung der Freiheit des Anderen eingeschlossen ist66. Demgegenüber hatten wir 64

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Naturrecht, 33; s. auch 86f.; vgl. J.G. Fichte, Sittenlehre, 217: „Aufforderung zur Selbsttätigkeit". In Die Bestimmung des Menschen kommt die Darstellung der Moralität allerdings ohne das Element der Aufforderung aus; hier ist die „Stimme meines Gewissens" konstitutiv, s. ebd. 94ff. Dieselbe Schrift stellt übrigens auch die Leitbegriffe der Reden TL1,III A.-B., Gehorsam und Gewissen, in herausgehobener Stellung nebeneinander (ebd. 135). Die Differenz von Anstoß (Anlaß) und Individualität (endliche Freiheit) wird zwar einerseits in der transzendentalen Struktur des Selbstbewußtseins vermittelt; doch zeigt die prinzipielle Unantastbarkeit der Freiheit durch den Anlaß die hierarchische Unterordnung des „Leibes" unter das Selbstbewußtsein. Demgegenüber ist für TL der Leib die Sphäre der unbedingten und durch kein ursprüngliches Selbstbewußtsein vermittelten Einwirkung einer fremden Wirklichkeit auf die Innerlichkeit oder das Personzentrum selbst! Zur Erläuterung dieses freiheitsauffordernden Charakters der leiblichen Realität entwickelt Fichte die anthropologische Lehre von der menschlichen Gestalt als „heilig", s. Naturrecht, 75ff. W. Schulz, Ethik, 141f. macht darauf aufmerksam, daß die Erfahrung des Anderen für Fichte nicht nur die Funktion des Anstoßens der Subjektivität hat, sondern daß durch diese begrenzende Begegnung das Ich überhaupt erst bestimmt und damit vor der „Selbstauflösung" des unendlich-unbestimmten Erlebnisstroms bewahrt wird (mit Blick auf die Bestimmung). Schulz würdigt Fichtes Ethik als Theorie der gegenseitigen Vermittlung von Ich und Wirklichkeit (ebd. 145).

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2. Kapitel: Das Sollen

bei Kierkegaard festgestellt, daß die Aufforderung oder Erwartung eines Anderen absolut bindenden Charakter für den Handelnden hat: Durch die Vermittlung des Gottesverhältnisses fordert die Aufforderung unbedingten Gehorsam, zumindest hinsichtlich des Gottesverhältnisses des Auffordernden (d.i. des Geliebten). Im Gottesverhältnis ist der Andere für das Subjekt unabweisbar-aufdringlich nahe, und nur so ist der Andere überhaupt „für" den Handelnden da67. Dieses absolute Da-sein des Anderen für das Subjekt ist es, was TL „Liebe" nennt. Bei Kierkegaard ist die Aufforderung nicht wie bei Fichte eine Funktion im Prozeß der Selbstkonstitution des Subjekts, sondern sie fordert eine Antwort im Blick auf den fremden Sprecher. Die praktische Beantwortung dieser Aufforderung besteht in der Übernahme der Position des Auffordernden, nämlich die Orientierung des Handelns am fremden Gottesverhältnis; dieses Gottesverhältnis wird als eine im Medium des Leiblichen begegnende Realität gedacht. Insofern handelt es sich um einen wirklichen Dialog zweier Subjekte, bei dem die Antwort tatsächlich an ein anderes Subjekt (ein Du) ergeht. Dieser intentionale Aspekt des Verstehens des Anderen wird in der Untersuchung der IV. Rede noch stärker herauskommen (s.u.). Während es also in der Liebe von TL um eine Grenzüberschreitung in der Kommunikation von Ich und Du geht, entwickelt Fichte seinen Rechtsbegriff gerade als Begriff der Grenze zwischen den Handelnden. Die Aufforderung wird nicht als Erwartung einer praktischen Antwort, sondern als Anlaß zur monologischen Selbstrealisierung (und ihrer impliziten Selbstbegrenzung) verstanden. Insofern kann man über Fichtes Handlungsbegriff allgemein sagen: „Handlungen werden hier nicht als Reaktionen auf gegebene äußere Situationen und noch nicht einmal als Äußerungen eines als gegeben betrachteten Charakters mit einer bestimmten hinzunehmenden Bedürfnisstruktur verstanden, sondern umgekehrt konstituieren die frei gewählten und vollzogenen Handlungen den Charakter." 68 Intersubjektivität erscheint so als Individuation durch gegenseitige Grenzziehung in Form von reziprok erhobenen Ansprüchen, die diskursiv bearbeitet werden können. Von Kierkegaard her stellt jedoch gerade diese reflexionstheoretisch errichtete Grenze ein Problem dar, da sie weder kommunikative Nähe noch das Phänomen der Handlungsver67

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Zum „Da-sein für" den Handelnden s.o. zu II C. Die nahe/fern-Metaphorik ist auch für III A. wichtig, s. 104,115/95,104. H.-J. Engfer, Handeln, 124 (von Engfer im zustimmenden Sinn gemeint).

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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knüpfung wirklich erklären kann. Mit der Terminologie aus II B.-C. kann man es schematisiert folgendermaßen ausdrücken: Das Ich kann bei Fichte nicht zu einem Du werden, weil auch das andere Ich nicht ein Du für das Ich ist, sondern lediglich ein Ich-Ich, d.h. ein anderes fürsichseiendes Ich. Für Kierkegaards Liebesbegriff hingegen ist der Andere als Auffordernder ein Du, das das Subjekt zum Du bestimmt, welches sich wiederum antwortend auf das Du richtet. Andererseits ist erst in diesem Begriff eines zugewandten Du der Andere auch in seiner ontologischen Selbständigkeit und Fremdheit gedacht: Das andere Subjekt wird dann nicht in einer Perspektive des subjektiven Geistes entwickelt (als ein Anderes-für-mich), sondern im Hören und Antworten-müssen als objektives Anderes-an-sich verstanden. Liebe ist für Kierkegaard kein Moment der Genese des Selbstbewußtseins, sondern führt dieses Selbstbewußtsein über sich selbst hinaus69. Man kann die Differenz auch hinsichtlich der Synthesisleistung der „Aufforderung" deutlich machen: Für Fichte ist die Aufforderung bereits die Synthesis, sie ist die Bedingung der Realität des Selbstbewußtseins als der ursprünglich gegebenen Wirklichkeit (von der aus dann wiederum ein Rechtsbegriff mitsamt den Rechtsinstitutionen entwickelt werden kann)70. In TL dagegen steht die Synthese erst noch aus: Die Aufforderung zur Handlung ruft zur Synthese im Sinne einer bestimmten praktischen Handlungsverknüpfung der Subjekte auf; diese Verknüpfung steht noch aus, d.h. sie erfordert die bestimmte praktische Antwort. Fichte dagegen denkt die Aufforderung als Anstoß zu einer möglichen Handlung, die der Aufgeforderte „eben-

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Im Sinne einer hermeneutisch gewendeten Selbstrealisierung und in enger Anlehnung an Fichtes genetischer Fragestellung interpretiert dagegen H. Fahrenbach die Bedeutung des Ethischen bei Kierkegaard, vgl. aaO. 164f.: „Fichtes Frage geht auf die Genesis des Endlichkeitsbewußtseins (d.h. des Bewußtseins) aus seiner unendlichen Bedingung (der Ichheit); Kierkegaards Frage geht auf die Genesis des Selbstbewußtwerdens des Selbst in seiner endlich-unendlichen Existenzsituation". Auch M. Bongardt, Widerstand unterläuft die nicht-transzendentale Fragestellung von Kierkegaards Ethik, wenn er sich an der Auslegungskategorie eines „transzendentaldialogischen" Freiheitsbegriffes orientiert. Die Suche nach einem transzendentallogischen Begriff von Dialogik läßt ihn die tatsächlich von TL vorgeführten Dialogformen übersehen bzw. abwerten. Allerdings ist das Verhältnis von empirischer Aufforderung und transzendentaler Synthesis bei Fichte nicht ungeschichtlich gedacht. L. Siep, aaO. 45 spricht von einer „Erfahrung des Bewußtseins", und zwar in dem Sinne, „daß bestimmte Reflexionen durch raum-zeitliche Ereignisse, nämlich Interaktionen von Individuen in der Sinnenwelt, ausgelöst werden müssen" (ebd. 63).

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2. Kapitel: Das Sollen

sowohl auch unterlassen kann", ohne daß damit die gemeinte Synthesis verfehlt wäre71. So zeigt sich die Differenz letztlich in der Aufgabenstellung: In TL geht es nicht um die Synthetisierung der „Ichheit", sondern um die der Beziehung zweier Subjekte, um eine zeitliche Synthesis im Handlungsraum72. Und indem Kierkegaard diese Vermittlungsaufgabe als eine symbolisch strukturierte Kommunikation beschreibt (durch Aufforderung, Handlung und Expressivität), kann man schließlich den Unterschied zugespitzt auf den Punkt bringen: TL hat für das Verständnis von InterSubjektivität einen Begriff von Sprache oder symbolischer Interaktion, nämlich die Vorstellung einer absolut bindenden Sprache, deren eigenständige Wirksamkeit nicht durch subjektive Reflexion gefiltert wird. Diese wirkende Sprache ist die fordernde Sprache der Liebe: das absolute Liebesgebot, das sich in Gehorsam und Gewissen zu Gehör bringt. Eine solche Aufmerksamkeit auf die Eigenständigkeit des Mediums der Interaktion fehlt bei Fichte; er kann der „Aufforderung" letzlich nur akzidentielle oder okkasionelle Bedeutung beimessen 73 .

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Naturrecht, 34. Die Liebestheorie aus TL ist allerdings sehr oft im Sinne der Fichteschen „Aufforderung" interpretiert worden: als eine Liebe, der es nur um sich selbst geht und den Anderen allein als Anstoß zur Selbstrealisierung (miß)braucht. Klassisch hat diese Kritik Th. Adorno in seiner These von Kierkegaards Objektlosigkeit vorgetragen, s. ders., Kierkegaard, 42f£; Lehre, 219f£; aus der neueren Literatur vgl. M. Bongard, aaO. 314£ (mit Bezug auf Adorno). Soweit sich diese Kritik auch auf die bisher von mir diskutierten Reden aus TL stützt, steht sie, so hoffe ich mit meiner Analyse gezeigt zu haben, im Unrecht und trägt diese Charakterisierung von außen ein. Die Frage der Selbstrealisierung im Sinne der Frage nach dem guten Leben wird allerdings in den Reden des zweiten Teils thematisiert. Dort soll sie auch von der Analyse aufgenommen werden. Es gibt freilich eine ,klassische' Kierkegaardsche Denkform, die genau unter die Fichtesche Figur des Anstoßes zur Selbstrealisierung zu fallen scheint: die Theorie der indirekten Mitteilung (vgl. AUN2, 62ff.). Dazu läßt sich an dieser Stelle nur sagen, daß diese Theorie in den bisher besprochenen Texten noch keine Rolle gespielt hat. Auch zur Klärung dieser Frage müssen wir auf den zweiten Teil von TL warten. Vgl. J. Habermas, aaO. 200: „Fichte nimmt zwar mit seinem zentralen Argument Sprache als ein Medium, in der einer den anderen zur Selbsttätigkeit auffordern, ihn mit seiner Erwartung konfrontieren kann, in Anspruch. Aber wie alle Bewußtseinsphilosophen sieht er durch die Sprache wie durch ein gläsernes, eigenschaftsloses Medium hindurch" (vgl. dagegen L. Siep, aaO. 63f., Anm.). Die Behauptung, daß TL Intersubjektivität durch einen Begriff von Sprache klärt, muß zeigen, daß diese Aporie auf TL nicht zutrifft. Den Ort des vermittelnden Dritten nimmt in der Systematik von Fichtes Rechtslehre die Institutionenlehre, insbesondere die Staatslehre ein, s. L. Siep, aaO. 59.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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Der Vergleich mit Fichtes Rechtsphilosophie beleuchtet die Eigentümlichkeit und den Theoriestatus der bisher entwickelten Liebeslehre aus TL. So tritt im Vergleich ein Spezifikum der Handlungsform der Liebe deutlich hervor: die „Nähe" der Akteure in einem Handeln, das als ein unbedingtes Reagieren auf einen Anderen zugleich eine unbedingte intentionale Hinwendung zum Anderen ist74. Doch ist andererseits solche Grenzüberschreitung in TL auch nicht als Verschmelzung zu sehen. Fichtes Individualitätsgedanke, der ihn die Rechtstheorie als Theorie des gegenseitigen Schutzes der Individuen entwerfen läßt, taucht ja auch in TL wieder auf: Wir hatten gesehen, daß ein wesentlicher Aspekt der Vermittlungsstruktur der Liebe gerade darin liegt, die Handlungspartner der gegenseitigen Verfügungsmacht zu entziehen, sie also voreinander und vor sich selbst zu schützen. Die Beschreibung des Verhältnisses von Herr und Knecht in III A. diente als drastische Illustration der Gefahr, in der jede Handlungsbeziehung steht, wenn sie nur zweistellig, d.h. ohne Vermittlung durch eine dritte Instanz gestaltet wird75. Den Gedanke der absoluten Nähe der Handelnden versucht TL durch das Gottesverhältnis mit der Individualitätsidee zu vermitteln. Das Verhältnis von Nähe und Distanz ist dann so zu beschreiben: Der Andere kommt dem Subjekt in seiner Handlungsaufforderung unendlich nahe, doch die Antwort muß zugleich die Unverfügbarkeit des Anderen als ebenso unbedingt ausdrücken; und auf der anderen Seite wird auch der Aufgeforderte von jener unbedingten Nähe nicht terrorisiert, wenn das Verhältnis unter dem Begriff des Gewissens („königliche Freiheit") gedacht wird. Gegen den hier angestellten Vergleich kann man einwenden, daß Recht und Liebe zwei grundsätzlich verschiedene Weisen von Intersubjektivität seien, die auch unterschiedliche Theoriemodelle zur ihrer Erklärung verlangten. So ist ja gerade für Fichtes praktische Phi74

75

E. Beck, Identität konstatiert bei Fichte „die Selbstverortung eines abstrakten Rechtssubjektes, das sich in der Abgrenzung gegen andere, nicht in der positiven Bestimmung auch des Miteinander findet" (ebd. 44). In der Differenz von Abstand und Nähe sieht auch A. Gr0n, Liebe den wesentlichen Unterschied zwischen Anerkennung und Liebe (ebd. 111). Im übrigen findet sich bei Hegel ein rechtsphilosophischer Anerkennungsbegriff, der ebenfalls die Dimension von Nähe und Intentionalität, allerdings in negativer Hinsicht, aufweist: der Kampf zwischen zwei Individuen, in den sich die reziproke Anerkennung beider als Herr und Knecht vollzieht, s. Phänomenologie, 127f£ Zur Kritik der erotischen Verschmelzung in der romantischen Liebesidee in TL vgl. 64f£/60ff. Zu Kierkegaards Individualitätsbegriffs vgl. T. de Bobadilla, Ausnahme.

154

2. Kapitel: Das Sollen

losophie die Trennung von Recht und Moral charakteristisch76. Insofern könne eine Rechtstheorie, der es um die Sicherung der Individualrechte im gesellschaftlichen Zusammenleben geht, nicht an einem Begriff von Liebe gemessen werden, der (auch) auf die Entsicherung von Individualgrenzen zielt. So kann man beobachten, daß in Fichtes Moralphilosophie der Individualitätsbegriff zugunsten des Begriffs einer umfassenden, allgemeinen und damit zur Kommunikation nötigenden Vernunft zurücktritt77. Allerdings bezieht sich die vorgenommene Charakterisierung Fichtes in handlungstheoretischer Hinsicht durchaus auf den ,ganzen' Fichte78. Denn auch sein Pflichtenbegriff beruht auf der transzendentalen Syntheseleistung der „Aufforderung", d.h. auch hier ist die kommunikative Erfahrung des Angesprochenseins in die Genese des handelnden Selbstbewußtseins als dessen Konstitutionsbedingung eingebaut79. Das Verständnis der Aufforderung aber scheint mir genau der Punkt zu sein, an dem sich die Differenz zwischen Fichte und TL in handlungstheoretischer Hinsicht aufzeigen läßt. Kierkegard selbst hält sich in TL nicht an die Unterscheidung von Rechts- und Moralphilosophie. Zwar kann man sagen, daß TL die Differenz von Recht und Moral in die Differenz von Form und Inhalt überführt: Zumal in III Β gibt sich Kierkegaard den konservativen Anstrich einer Theorie, der es nur um das Innerliche geht und damit rechtliche und institutionelle Gegebenheiten nicht thematisiert; die Liebe betrifft die Ausführung und Ausfüllung der gegebenen Formen. Aber wir haben doch auch gesehen, daß das „Innerliche" tatsächlich etwas kommunikativ „Äußeres", nämlich ein affektiver Ausdruck ist; solche Expressivität als wesentliches Moment von Kommunikation wiederum hat, wie in II B.-C. zu sehen war, erhebliche Relevanz für die politische Existenz des Handelnden. Dennoch ist die Unterscheidung von Recht und Moral (Liebe) für das Verständnis von TL hilfreich. Sie macht deutlich, daß die zugrundeliegende Form intersubjektiven Handelns von den Handlungsformen unterschieden werden müssen, die für eine Rechtstheorie grundlegend sind (sofern diese Rechtstheorie ihren Ausgangspunkt beim Begriff des selbstbestimmten Individuums nimmt). Dies bedeutet, 76 77 78

79

Naturrecht, 53f£ Vgl. Sittenlehre, 227ff. Vgl. J. Holl, aaO. 150£ (unter Bezug auf die Sittenlehre): „Als praktische Vernunft vollzieht das Ich die höchste Synthese mit sich, die nun im Bereich der bloßen Vorstellung zu verwirklichen ist. Doch ist diese Verwirklichung letztlich eine Selbstverwirklichung [...] Das Du-Verhältnis ist bei Fichte zuletzt Ich-Verhältnis." Vgl. Sittenlehre, 215ff.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

155

daß der Begriff der Anerkennung sehr differenziert auf die von TL thematisierte Form der Gegenseitigkeit angewendet werden muß.80 So läßt sich beispielsweise die in III B. beschriebene „Vertraulichkeit über Vertraulichkeit" der Liebespartner zwar als Gegenseitigkeit verstehen, nicht aber als gegenseitige Anerkennung eines bestimmtes (Rechts-) Anspruchs. Denn zwar geht es genau darum, ein Verhältnis gegenseitiger Verantwortung, und d.h. auch gegenseitiger Versprechen und Ansprüche zu begründen. Doch der Grund dieses Verhältnisses liegt eben nicht in ihm selbst, sondern im Gottesverhältnis (167f./148f.). Anerkennungsverhältnisse können für TL nicht aus der autonomen Struktur der beteiligten Subjekte erklärt werden. Freilich bedeutet das gerade nicht, daß der Begriff der Anerkennung für TL unwichtig wäre. Es geht in TL in der Tat um das Problem, wie Praxisformen möglich sind, in denen die Handelnden sich gegenseitig als handlungsfähige Subjekte anerkennen. Die Ausgangsfrage von III Α., die am Ende von III B. wieder auftaucht, die Frage nach dem Verhältnis von Handlungsaufforderung und -beantwortung, ist genau diese Frage nach der gegenseitigen Anerkennung von Fragendem und Antwortendem. Anerkennung geschieht hier als gegenseitige „Hilfe" im Gottesverhältnis (s. 119/107), d.h. als Hilfe dazu, in Liebe handeln zu können. Will man den Anerkennungsbegriff auf TL anwenden, so muß dies erstens als Frage nach dem schöpferischen „Grund" des Anerkennungshandelns geschehen. Zweites muß damit die genannte Aufgabe realisiert werden: ein Verhältnis zu beschreiben, das sowohl die individuelle Selbständigkeit als auch die unbedingte Nähe der Handelnden umfaßt.

1.2.4. Dialogisches Handeln und teleologische Sittlichkeit Mit dem Resultat der bisherigen Rekonstruktion, daß das Tun der Liebe in TL stets als in dialogische Handlungskontexte eingebettet beschrieben werde, entsteht ein Problem für die Kierkegaard-Interpretation: Wird damit nicht die Liebe innerhalb einer ethischen Teleologie verankert, die Johannes de Silentio in Furcht und Zittern 80

Z u einer solchen differenzierten Sicht vgl. A . Gr0n, aaO., der sowohl die Konvergenz als auch die Differenz von Liebe und Anerkennung im Blick auf die Struktur von Gegenseitigkeit herausarbeitet. Hier ist auch erneut die Differenz zwischen Fichte und Hegel hinsichtlich des Anerkennungsbegriffs zu beachten (s. o. A n m .

74).

156

2. Kapitel: Das Sollen

fundamental kritisiert hatte? Ich möchte dieser Frage eine handlungstheoretische an die Seite stellen: Wird damit nicht Handeln einseitig durch bestimmte sittliche Formen und deren normativen Horizont teleologisch begründet? Werfen wir einen Blick auf Furcht und Zittern und fragen, ob und in welcher Weise die Aufgabenstellung von TL dort begegnet! In der Tat unternimmt de Silentio die Kritik eines allumfassenden sittlich-teleologischen Konzepts der Lebenspraxis, wie es die Hegelsche Rechtsphilosophie exemplarisch darstellt. Die Geschichte von Abraham und Isaak führt zum Begriff des Glaubens als einer Instanz, die keinen Platz in Hegels Konzept von Sittlichkeit findet. „Der Glaube ist eben dies Paradox, daß der Einzelne als Einzelner höher ist denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Rechte ist, ihm nicht unter-, sondern übergeordnet ist, doch wohl zu merken dergestalt, daß eben der Einzelne, der als Einzelner dem Allgemeinen untergeordnet gewesen ist, nun durch das Allgemeine hindurch ein Einzelner wird, der als Einzelner ihm übergeordnet ist; daß der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht. Dieser Standpunkt läßt sich nicht vermitteln" (FZ, 59). Wird damit nicht der Einzelne in einer Weise aus dem Allgemeinen herausgesetzt, daß es diesem Allgemeinen unmöglich wird, noch mit unbedingten Forderungen an jenen Einzelnen heranzutreten? Wie kann hier von einer dialogisch vermittelten Handlungsaufforderung, auf die nur mit unbedingtem Gehorsam zu reagieren ist, die Rede sein? U m eine unbedingten Aufforderung geht es natürlich auch bei Abraham: Gott befiehlt die Opferung Isaaks. Allerdings scheint dies noch nicht die ganze Forderung zu sein. Der Glaube und das Paradox beziehen sich ja nicht auf das Aufgeben des Geliebten alleine (die „unendliche Resignation"). Das eigentlich Paradoxe an Abraham ist nicht seine Bereitschaft zum Opfern, sondern die Weise, wie er seinen Sohn wiederbekommt: „Es gehört ein rein menschlicher Mut dazu, der ganzen Zeitlichkeit Valet zu geben, um die Ewigkeit zu gewinnen [...] aber es gehört ein paradoxer und demütiger Mut dazu, alsdann die ganze Zeitlichkeit zu ergreifen in kraft des Absurden, und das ist der Mut des Glaubens" {FZ, 50). Die „Doppelbewegung" von Resignation und Wiederkehr ist es, die der paradoxe Glaube ermöglicht. Das bedeutet aber, daß es auch in diesem Glauben wesentlich um das Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit geht. Der Glaube ist eine bestimmte Form des Weltverhältnisses, er ist die paradoxe Weise, das konkrete Handlungsverhältnis festzuhalten: „es ist groß, das Ewige zu ergreifen, doch es ist größer, das Zeitliche festzuhalten, nachdem man

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

157

es aufgegeben hat" (FZ, 16). Wenn bereits für die Ethik das Verhältnis Abrahams zu Isaak das der (Vater-) Liebe ist, so ist der Glaube die besondere, paradoxe Form dieser auf Erfüllung zielenden Liebe (s. FZ, 81). Insofern läßt sich der absolute Handlungsanspruch Gottes nicht von der im anderen Menschen (Isaak) begegnenden Aufforderung trennen. Allerdings legt die Darstellung von de Silentio eine solche Trennung nahe, indem er zwischen zwei verschiedenen Aufforderungsituationen unterscheidet; diese fallen in TL zusammen und konstiuieren gemeinsam den Situationsbegriff. Ist damit die Handlungssituation in Furcht und Zittern begrifflich unterbestimmt, so zeigt sich doch die Einheit von relationaler und unbedingter Perspektive im Bild des Handelnden selbst: im Bild des „Glaubensritter(s)", der von außen ganz so aussieht wie jeder andere Bourgeois und der doch „ständig die Bewegung der Unendlichkeit" macht (FZ, 40). Auch in Furcht und Zittern erhält so der Andere als Handlungspartner den Status der Unbedingtheit, wenn auch in negativer Form: Isaak ist darin der unbedingte Andere, daß er geopfert werden soll, ohne daß ein Zweck (Telos) angegeben werden könnte. In diesem Sinne tritt an Abraham der Andere als eine absolute Forderung heran, die nicht mehr durch den Bezug auf endliche, immanente Größen (Zweckbegriffe) teleologisch vermittelt ist. Diese Struktur ist, neben ihrer Negativität, darin von TL unterschieden, daß das paradoxe Handeln subjektiv-reflexiv gedacht ist. Im Mittelpunkt steht allein die Verantwortung und Seligkeit Abrahams, während die intentionale Ausrichtung auf das Gottesverhältnis des Anderen innerhalb der als Glauben beschriebenen Vermittlungsstruktur nicht vorkommt 81 . Doch wäre eine solche Intentionalität ja bereits eine erneute teleologische Vermittlung und daher eine Gefahr für Johannes' Begriff des Paradoxen oder Absurden. Wenn TL gleichwohl eine solche, freilich .transzendente' Teleologie formuliert (eben die Ausrichtung auf das Gottesverhältnis des Anderen), dann muß Kierkegaard in diesem Buch u.a. auch die Begriffe Paradox und Zweck anders verstehen als sein früheres Pseudonym dies tut; dann muß er ein transzendentes, „absolutes Telos" (AUN2, 92ff.) gerade innerhalb einer bestimmten Handlungsbeziehung verorten.

81

Statt dessen kommt diese Ausrichtung innerhalb der ethischen Dimension vor: als die Idee der Selbstopferung (in Form eines dämonischen Verbergens) des unglücklich Liebenden um der Freiheit der Geliebten willen, s. FZ, 107ff., 122ff.

158

2. Kapitel: Das Sollen

Doch was verändert sich nun in Furcht und Zittern für das Weltverhältnis durch das Paradox? 82 Offensichtlich ist mit der Rückkehr zum Zeitlichen eine Neubegründung dieses Verhältnisses verbunden: „ich kann mit der eigenen Kraft auch nicht das Mindeste von dem bekommen, was der Endlichkeit zugehört; denn ich brauche meine Kraft ständig dazu, allem gegenüber zu resignieren. Mit der eigenen Kraft kann ich die Prinzeß aufgeben [...] aber mit der eigenen Kraft wiederbekommen kann ich sie nicht" (FZ, 51). Wenn wir davon ausgehen, daß die Aufgabe der Resignation in einem universalen Sinne zu verstehen ist, dann bedeutet dies für das Wiederbekommen, daß es ein ursprüngliches Bekommen ist, d.h. eine bestimmte Form der (Neu-)Konstitution des Weltverhältnisses überhaupt 83 . Das Element des Wiederbekommens thematisiert die Frage, wie ein gelingendes Weltverhältnis überhaupt möglich ist. In TL wird diese Frage ausgeführt als die Frage nach dem Anfang dieses Verhältnisses, die Frage nach dem kreativen Anfang des Handelns. Auch Johannes de Silentio weiß um die Problematik des Anfangs: „Sofern der, welcher handeln soll, sich beurteilen will nach dem, wie es ausgeht, kommt er niemals dazu, anzufangen" (FZ, 68). Allerdings sieht de Silention dieses so angefangene Handeln vorrangig als ein im „Privatverhältnis zur Gottheit" (FZ, 64) begründetes Tun, wohingegen TL den Handlungsanfang stets in Interaktionsformen verankert. Ist dann aber aus der Sicht der älteren Schrift diese intersubjektive Verankerung des Unbedingten als Fehler zu betrachten? Ist denn in TL die Gefahr gebannt, daß Gott ein „unsichtbarer entschwindender Punkt, ein unmächtiger Gedanke" am Horizont der Ethik ohne die Möglichkeit konkreter Begegnung wird (s. FZ, 74)? Eine direkte, unvermittelte Konfrontationt mit dem Unbedingten nimmt in der Tat, 82

83

CS. Evans, Faith will zeigen, daß die Leistung der Schrift in der Kritik der Kantischen und Hegeischen Ethik als Totalentwürfe, die für die Religion keinen Platz mehr lassen, liegt; eine positive Darstellung der Ethik vom Glauben aus gelinge dem Pseudonym dagegen nicht und müsse in späteren Schriften Kierkegaards gesucht werden. Die fundamentale Bedeutung der Doppelbewegung von Aufgabe und Wiederkehr für ein moralisches Weltverhältnis weist E. Mooney, Getting überzeugend nach. Allerdings scheint mir in dieser tugendethischen Versöhnung von Individuum und Gesellschaft die handlungstheoretische Frage zu wenig berücksichtigt zu sein. In FZ wie in TL geht es bei dem „Allgemeinen" stets um konkrete Handlungsbeziehungen, nicht aber nur um das Verhältnis zu einem objektivierten Normensystem (s. E. Mooney, ebd. 74f., 78ff.). Daher entsteht die Frage der Moralität an der Frage nach dem „Anfang" einer konkreten Handlung. Will man Abraham verstehen, so muß die Struktur von Handeln aufgeklärt werden.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

159

so hatten wir gesehen, eine zentrale Rolle ein. Wir hatten ferner gesehen, daß TL das Handeln als Handeln der Liebe zwar intersubjektiv verortet, dabei aber gleichzeitig die Gefahr eines bloß zweistelligen, immanent-relationalen Verständnisses von Liebe verhindern muß. Von hierher ergibt sich auch für TL die Kritik einer Ethik, die die unbedingte Forderung im Kommunikationszusammenhang als solchem festmacht. Gegen eine solche immanent-teleologisch geschlossene Ethik polemisiert das „Märchen von den sieben und den sieben anderen" (130/116): Wenn es keine absolute Instanz gibt, weil immer „die Anderen" die sittlichen Forderungen bestimmen oder verantworten müssen, dann kommt das Handeln niemals zum Anfangen (s.o.). Es ist genau diese Form von konventionalistischer Ethik, in der ein Absolutes (Gott) nur noch als höchster Bezugspunkt, nicht mehr aber als Element der Handlungssituation selbst vorkommt. Wenn es TL gelingt, die unhintergehbar relationale Struktur von sittlichen Handlungen mit dem Begriff des Unbedingten zu versöhnen, so ist die Ethikkritik aus Furcht und Zittern konstruktiv aufgenommen. Diese Versöhnung sucht TL in der Beschreibung des Phänomens Liebe. Doch wie vermag TL die kommunikative Situation und das Gottesverhältnis zusammenzudenken? Es hat sich in der Analyse gezeigt, daß die Reden III A.-B. diese beiden Momente in den Begriffen Gehorsam und Gewissen in der Tat streng zusammensehen. Aber gibt Kierkegaard auch ein Medium, eine als intersubjektive Struktur beschreibbare Instanz dafür an? Offensichtlich ist dies nicht die Instanz einer bestimmten normativen und sozialen Definition oder Institution. Denn trotz aller konservativen Rhetorik der Reden wird damit die Dialektik von Gehorsam und Gewissen, die sich allen endlichen Bestimmungen entziehen, nicht aufgehalten. Die Weise, in der nach TL die beiden genannten Seiten zusammenkommen, scheint einzig die des sprachlich vermittelten Verstehens der Handlungssituation zu sein. Die eine Form solchen Verstehens ist das praktische Antworten, wie III A.-B. es darstellen. Im Antworten wird das in der Situation erschlossene Gottesverhältnis in expressiven Handlungen artikuliert und damit verstehbar, und zwar für alle Situationsteilnehmer einschließlich des Sprechers. Auf der Basis dieses Begriffes sprachlichen Verstehens kann Kierkegaard sein Ideal von Sozialität skizzieren: „Nur dann ist Bündigkeit und Sinn und Wahrheit und Wirklichkeit im Dasein, wenn wir alle, jeder für sich, wenn ich so sagen darf, an einer Stätte unsere Weisung entgegennehmen, und dann, jeder für sich, der einen und gleichen Weisung unbedingt gehorchen. [...] Wenn es

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2. Kapitel: Das Sollen

so ist, dann ist Halt im Dasein, weil Gott in ihm Halt hat; da gibt es keinen Strudel, denn jeder einzelne beginnt nicht mit ,den andern', und also auch nicht mit Ausflüchten und Entschuldigungen, sondern beginnt mit dem Gottesverhältnis [...]" (131/117)84. Die Kritik des Johannes de Silentio am Ethischen als einem abgeschlossenen Normensystem (s. FZ, 74ff.) nimmt TL methodisch auf, indem als Gegenstand der Ethik nun das konkrete kommunikative Handeln in seinen sozialen Bezügen bestimmt wird. Die polemische Gegenüberstellung von Gottesforderung und konventionalistischer Normenfindung zielt nicht auf die Etablierung eines neuen, heteronomen Wertesystems, und auch nicht auf das Postulat eines rigoristisch-moralischen Solipsismus. Vielmehr ist der Verweis auf den unbedingten Gehorsam der methodische Ansatz dafür, die Handlungssituation als solche zu thematisieren und die ihr als Sprechsituation innewohnende Artikulation des Absoluten auszulegen; die ontologische Aufklärung dieser Situation ist das Thema dieser Ethik 85 . Ethik als Soziallehre wird zur Untersuchung des individuellen sprachlich vermittelten Handelns und seiner Vollzüge. In diesem Sinn notiert Kierkegaard zur Zeit der Abfassung des ersten Teils von TL und anläßlich der beginnenden sozialen Unruhen in Europa über das Verhältnis von politischer Lage und schriftstellerischer Methode: „Jetzt müssen wir an einer anderen Stelle beginnen, nämlich bei der •intensiven Entwicklung des Staates in sich selbst [Statens intensive Udvikling i sig selv]. Da tritt dann die Kategorie ,der Einzelne' auf" (Pap. VIII 1 A 108/72, 131). Hier liegt der Ansatz zu einem Begriff des politischen Handelns, der bei der Thematisierung des kreativen individuellen Handelns die soziale Vermittlung und Bezogenheit sol-

84

85

A. Rudd, Limits, 124f£ beschreibt die Gesellschaftsauffassung Kierkegaards als „representative" (im Anschluß an LA, 90) und „organic" und charakterisiert sie zusammenfassend als „a roughly Burkean conservatism" (ebd. 125); doch sei diese Sicht für Kierkegaard bereits ein vergangenes Ideal, für das er keine Entsprechung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit mehr finden könne. Allerdings verliert Rudd mit dieser geschichtsphilosophischen Interpretation den Blick dafür, daß Kierkegaard in seinen sozialphilosophischen Texten nicht nur eine verlorene Vergangenheit beschwört, sondern an (Handlungs-) Begriffen arbeitet, die auf die gegenwärtige Situation konstruktiv antworten wollen. Deshalb entwickelt er in TL die religiöse Ethik als Ethik der „Socialitet" (Pap. VIII 1 A 4), nicht als bloße Individualethik (wie dies Rudd behauptet, vgl. ebd. 122). Kierkegaards Schwanken zwischen einer konservativ-repräsentativ-„reproduktiven" und einer eher reformistisch-"erneuernden" Auffassung des „Bestehenden" zur Zeit der Abfassung von TL findet deutlichen Ausdruck im Buch über Adler, vgl. etwa BÜA (H), 352. Vgl. H. Deuser, Wirkliche Ethik, 130f.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

161

chen Handelns gerade nicht solipsistisch ausblenden muß 86 , zugleich aber auch sich davon entfernt hat, die jeweils konkreten Institutionen dieses Handelns ideologisch oder geschichtsphilosophisch zu verabsolutieren87. Damit kann die Frage nach dem scheinbar reaktionären Gehalt der in diesen Reden beschriebenen Ethik abschließend beantwortet werden. Wir haben gesehen, wie Kierkegaard hier die Liebe als Grundstruktur eines verknüpfenden, dialogischen Handelns beschreibt, und seine These lautet: solches Handeln ist nur möglich, wenn eine absolute Autorität und der entsprechende, antwortende Gehorsam gegeben sind. Es sind nun zwei Lesarten dieser Beschreibungen möglich. Die eine Lesart ist die historische oder soziologische: Sie fragt nach den historisch bestimmten Formen von Autorität, unter denen solche Handlungsverknüpfung erreicht wird. Unter dieser Perspektive legen die von Kierkegaard in TL gebrauchten Beispiele eine reaktionäre Grundhaltung nahe: die Orientierung an Interaktionsformen einer absolutistischen Gesellschaft. Die zweite Lesart dagegen fragt nach der Struktur oder dem Mechanismus dieser Autorität: Wie kommt es überhaupt dazu, daß zwei Akeure sinnvoll mit- und aufeinander hin handeln? Wie muß der „Anfang" dieses Handelns (s. 129/116) gedacht werden, unabhängig von seinen historischen Bedingungen? Ich möchte dies die analytische oder handlungstheoretische Fragestellung nennen. Mir scheint, daß Kierkegaard in TL vorrangig an dieser analytischen Frage interessiert ist, und entsprechend sieht seine Antwort aus. Die Autorität, die ein ver86

87

Vgl. M.C.Taylor, Love·. Taylor ordnet TL dem Schema der Stadienlehre unter und kommt damit zu einer Deutung des Liebenden als eines „isolated individual" (ebd. 113); dieses isolationistische Verständnis wird mit dem sozialen Selbst- und Liebesbegriff Hegels kontrastiert. Zu der Papirer-Stelle vgl. K. Nordentoft, aaO. 95f.: Nordentoft interpretiert die Passage als Übergang zu einer neuen politischen Auffassung Kierkegaards, die sich nun weniger an der historischen Rolle von staatlichen Institutionen orientiert, sondern stärker nach den sozialen Beziehungen der verschiedenen Klassen in den europäischen Gesellschaften fragt: „Innenpolitisch ist die Monarchie konsolidiert, und die zukünftigen Möglichkeiten werden nicht politischer, sondern sozialer Art sein; der gegenseitige Neid und Rivalität werden sich geltend machen" (ebd. 96, eigene Übersetzung). Auch B. Henningsen, Politik, 117 hebt hervor, daß Kierkegaards Begriff des Politischen nicht institutionstheoretisch, sondern im angelsächsischen Sinn von „politics" zu verstehen sei als ein „subjektive(s) und zwischenmenschlicheis) Handeln auf der Grundlage eines kritisch-rationalen Ordnungswissens." B. Kirmmse charakterisiert die (kritische) Ablösung der Kierkegaardschen Ethik von der Verabsolutierung bestimmter politisch-sozialer Standpunkte als „a variation on classical liberalism" (aaO. 325). Vgl. auch E. Beck, aaO.

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2. Kapitel: D a s Sollen

knüpfendes Handeln ermöglicht, hat nicht primär die Gestalt bestimmter politischer Formen oder sozialer Rollen, sondern hat wesentlich die Gestalt von bestimmten Sprachformen: Liebe als verknüpfendes Handeln wird in TL erklärt, indem beschrieben wird, wie das Wort „sollen" in bestimmten Kontexten gebraucht und verstanden wird und wie die Sprache einer unbedingten Forderung die jeweilige Handlungsbeziehung bestimmt. Die Struktur dieses Sprachgebrauches habe ich mit dem Begriff des Dialogs zu benennen versucht. Wie sehr das Problem des intersubjektiven Handelns für Kierkegaard mit der Sprache verbunden ist, kann man schließlich an seiner Analyse in der Literarischen Anzeige illustrieren: „Und gleich wie Publikum eine reine Abstraktion ist, so wird zuletzt die menschliche Rede es auch; es bleibt niemand mehr übrig, der redet, sondern eine objektive Reflexion scheidet allgemach ein atmosphärisches Etwas aus, einen abstrakten Schall, welcher die menschliche Rede überflüssig machen wird, ebenso wie die Maschinen die Arbeiter überflüssig machen" {LA, 111). Die innere Leere und Auflösung der gegenwärtigen Gesellschaft erweist sich als Verlust der Sprache, genauer: als die Unmöglichkeit, als ein Sprecher zu handeln, und dies geht einher mit der Enthumanisierung der Lebensbedingungen. Der Verlust der Sprachfähigkeit ist die Kehrseite jenes Verlustes von Bedeutung, die als Kennzeichen der Gegenwart behauptet wird: „alles bestehen zu lassen, aber ihm hinterlistig seine Bedeutung [Betydning] zu entwinden" {LA, 82). Dieser drohende Verlust des bedeutungsvollen Sprechenkönnens ist der Hintergrund, auf dem Kierkegaard in TL diejenigen Sprachformen vorführt, durch die ein humanes Zusammenleben möglich wird. Die Auslegung der Handlungssituation und ihres individuellen Verstehens in dialogischen Handlungen wird in III A.-B. lediglich hinsichtlich des Antwortens dargestellt. Die zweite Form, oder besser gesagt, die andere Seite solchen Verstehens ist die des praktischen Fragens. Dies ist das Thema der IV. Rede.

2. Handeln als Fragen Die Reden III A.-B. hatten das T\m der Liebe als ein Antworthandeln dargestellt, zu dem das Subjekt aufgefordert wird. Doch hatte sich bereits im Antworthandeln (Reagieren) die intentionale Ausrichtung auf den Handlungspartner als unabdingbares Beschreibungselement herausgestellt. Dieser Aspekt der Intentionalität wird nun in der Rede IV explizit ausgearbeitet: Die Liebe antwortet nicht nur auf den Anderen,

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

163

sondern sie fragt auch nach ihm. Erst mit der Beschreibung des Fragens ist der Begriff des dialogischen Handelns vollständig.

2.1. Die Aufgabenstellung:

Lieben als Fragen

Die Rede IV ist eine Rede über 1. Joh 4,20 und stellt sich damit als ihr Thema das Sehen. Doch folgt man den einleitenden Absätzen, so sieht man, daß es primär wieder um Phänomene des Sprechens, um Sprechhandlungen geht: „.Jesus spricht zu Simon Petrus: Simon, *Jonas Sohn, liebst du mich mehr *als diese?'" (s. 171/151). Die Frage nach der Liebe des Anderen ist das eigentliche Thema der Rede; das Sehen wird als Fragen expliziert. Wenn sie dieses Fragen am Beispiel Jesu exponiert, so ist damit zugleich gesagt: Erstens, es ist die Liebe, die nach der Liebe des Andern fragt; und zweitens, solches Fragen ist nicht einfach selbstverständlich und gegeben, sondern ist vielmehr die Aufgabe, die es zu erfüllen gilt. Nach dem Andern und seiner Liebe zu fragen, ist dieser Einleitung zufolge nicht selbstverständlich, sondern ist „Pflicht" (vgl. den Titel der Rede). Gleichzeitig aber hat diese Pflicht eine „natürliche" Grundlage: „Wie tief ist doch das Bedürfnis nach Liebe [Kjerlighedens Trang] im Wesen des Menschen gegründet" (170/150). Es ist wichtig, auf die Dialektik von Pflicht und Voraussetzung zu achten. Die Aufnahme der Schöpfungsmetaphorik aus der ersten Rede und des platonischen Androgynie-Mythos klingt zunächst wie eine dogmatische Setzung. Der zentrale Begriff „Trang" wird als ein anthropologisches Urphänomen eingeführt 88 . Das Beispiel des Christus soll gerade die „Tiefe", die Fundamentalität dieses „Trang" demonstrieren: Der „Trang" zum Mitmenschen ist so fundamental für das Menschsein, daß auch der inkarnierte Gott unter diese Bestimmung fällt, d.h. auch Christus wollte geliebt werden: „Furchtbarer Widerspruch: daß der, welcher Gott ist, menschlich liebt; denn menschlich lieben heißt ja, einen einzelnen Menschen lieben und wünschen, daß man der von diesem einzelnen Menschen am meisten Geliebte ist" (172/152). Doch macht andererseits der Pflichtcharakter einen sol88

Aufgrund der besonderen Übersetzungsschwierigkeiten dieses Begriffes werde ich das dänische „Trang", von Gerdes mit „Bedürfnis" wiedergegeben, zunächst solange unübersetzt als terminus technicus verwenden, bis die Übersetzungsfrage geklärt werden kann (s.u.).

164

2. Kapitel: Das Sollen

chen anthropologischen Positivismus sofort wieder zweideutig. Es ist der Christus, der fragend sein Liebesbedürfnis ausdrückt, und damit sowohl das Allgemein-Menschliche als auch die Aufgabe vorgibt, oder: damit das Allgemein-Menschliche als die Aufgabe vorgibt. Es ist wie in allen bisherigen Reden: Das Tun der Liebe kann nur innerhalb einer Dialektik von Voraussetzung und Forderung entfaltet werden, die keine einseitige Priorität einer der beiden Seiten erlaubt 89 . „Trang" und Pflicht der Liebe können sich nur gegenseitig auslegen. Anders gesagt: Das Fragen als Ausdruck des „Trang" darf nicht undialektisch vorausgesetzt werden, sondern muß aus sich heraus in seiner Struktur als Pflicht, d.h. in seiner eigentümlichen Sprach- und Handlungsstruktur verständlich werden. Das Thema der Rede ist insofern die Frage, wie das Fragen nach dem Andern möglich ist und realisiert werden kann 90 . Doch was ist denn eigentlich das Bedeutsame an dieser Frage: „Liebst du mich?"? Mit dieser Frage thematisiert TL den Gegenstandscharakter des Handlungspartners, d.h. es geht darum, wie das Handeln der Liebe gedacht werden muß hinsichtlich seiner Intentionalität, also seiner praktischen Ausrichtung auf ein „Objekt". In III A.-B. stand der oder die Andere in der Position des Subjekts der Handlung: er war der Fordernde, Fragende. Nun steht er an der Stelle der Frage, des Erfragten oder Gewollten. In III A.-B. wurde die Beziehung als sprachlich erschlossener Handlungsraum aus der Sicht des Befragten entwickelt. In IV geht es um die Frage, wie der Handlungsraum als Gegenseitigkeitsstruktur vom Handelnden als Subjekt her, und d.h. in Hinblick auf den Anderen als Gegenstand verstanden werden muß. Die Problematik des Gegenstands verdeutlicht die Einleitung zu IV in der Auseinandersetzung mit dem angeblich Unglücklichen, der niemanden zum Lieben findet: „daß man unter den Menschen keinen Gegenstand für seine Liebe finden könne, heißt anzeigen, daß man selbst der Liebe ermangele. Denn ist das wohl Liebe, daß man sie außerhalb seiner finden will; ich glaubte, das sei Liebe, daß man sie mit sich bringt. Wer aber die Liebe mit sich 89

90

In III A.-B. lag die Voraussetzung in der kontingent begegnenden Situation der Handlungsaufforderung. Während das intentionale und das reflexive Element des Handelns bei der Thematisierung der praktischen Antwort auf zwei Reden verteilt worden war, fallen diese beiden Aspekte bei der Darstellung des praktischen Fragens zusammen: Das Fragen als Sprachform ist beides, reflexiv und intentional, und ist insofern die angemessene Auslegung des Begehrens, „nämlich sich selbst zu verstehen in der Sehnsucht nach Gesellschaft" (171/150).

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Soilens

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bringt, während er einen Gegenstand für seine Liebe sucht (und anderfalls ist es ja Unwahrheit, daß er einen Gegenstand suche - für seine Liebe), der wird leicht, und im gleichen Maße wie die Liebe in ihm größer ist leichter, den Gegenstand finden, und wird finden, er sei so beschaffen, daß er liebenswert sei" (174/153). Der Gegenstand konstituiert sich in einer Dialektik von Finden und Mitbringen, von Aktivität und Voraussetzung91. Auch diese Dialektik darf offensichtlich nicht in eine undialektisch-einseitige Form verwandelt werden: Weder schafft menschliche Liebe sich ihren Gegenstand selbst, denn jeder mögliche Gegenstand ist bereits qua Geschöpf liebenswert „beschaffen"; noch kann Liebe einfach auf die Liebe des Andern, also auf das Geliebtwerden warten; denn dann ist der Begriff der Liebe als Handlung aufgehoben. Die Dialektik von Mitbringen und Vorfinden ist nun in der Handlungsform des Fragens exakt nachgebildet: Die Frage „Liebst du mich?" setzt die Liebe im Andern performativ voraus: der Andere wird als einer angesprochen, der lieben kann. Die Frage will eine Antwort (so wie Christus Petrus dreimal um eine Antwort bittet), d.h. sie nötigt die Liebe des Anderen, sich zu offenbaren, sich zu realisieren. Darin liegt aber andererseits, daß gefragt werden muß, denn nur so kann die Liebe des Andern (als Antwort) wirklich werden. Insofern ist der performative Akt des Fragens konstitutiv für die Gestaltung einer Liebesbeziehung. Diese realisiert sich als Dialog. Der schöpfungstheologische Begriff des „Trang" wird von Kierkegaard performativ, nämlich als Fragen ausgelegt, aber dabei so gefaßt, daß er auf beiden Seiten steht: als Fragen und als Antworten. Die Rede verdeutlicht die Dialektik der Frage an einem ästhetischen Beispiel. Da ist ein Künstler, der überall auf der Welt nach dem idealen Gegenstand seiner Kunst sucht und ihn - natürlich - nirgends findet; und da ist ein Künstler, der solche Schönheit in jedem unbedeutendem Angesicht seiner heimischen Umwelt findet - „wäre

91

Die Brocken thematisieren unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt dasselbe Verhältnis, vgl. PB, 7-20. Aber für Climacus wäre die hier in TL behauptete Dialektik lediglich der Standpunkt der somatischen, nicht aber der christlichen Wahrheit. Denn christlich gesehen ermangelt der Fragende der Voraussetzung der Wahrheit, d.h. er ist in der Sünde. Doch auch in TL bringt der Gegenstand (der Andere) seine Liebenswürdigkeit nicht an sich selbst mit, sondern allein in der Perspektive des Gottesverhältnisses. Dies zeigt an, daß in TL eine grundsätzlich andere theologische Beschreibungsform vorliegt, vorläufig gesprochen: Climacus' erkenntnistheoretischer und christologischer Dualismus von Immanenz und Transzendenz wird aufgebrochen zugunsten eines innerhalb des im Zeitlichen und zwischen endlichen Menschen sich vollziehenden erlösenden Schöpfungshandelns Gottes.

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2. Kapitel: Das Sollen

dies nicht ein Zeichen dafür, daß gerade er der Künstler war, welcher, da er ein gewisses Etwas mit sich brachte, gleich an Ort und Stelle fand, was der weitgereiste Künstler an keinem Ort der Welt fand, vielleicht weil er nicht ein gewisses Etwas mit sich brachte!" (175/154). Jetzt wird also die dialektische Struktur der Frage wahrnehmungstheoretisch gewendet (und damit das angegebene Thema der Rede, das Sehen, erreicht): Gelingendes Wahrnehmen impliziert eine Aktivität des Wahrnehmenden, die doch zugleich eine .passive' Form hat: ein Hören auf das Gegebene, in dem dieses sich selbst mitteilt. Liebe als Handlung enthält dieses Hören oder Wahrnehmen der Selbstmitteilung des Geschaffenen. Damit ist das rezeptive Element beschrieben, das die Erfahrung des Schönen konstituiert. Man kann auch sagen: Erfahrung des Schönen findet statt, wenn die Wirklichkeit so befragt wird, daß sie sich authentisch in ihrem eigenen SoSein äußern kann. Ästhetische Erfahrung wird damit zu einem Bild der dialogischen Struktur des Tuns der Liebe92. Das Gegenbild zu dieser Form liebender Erfahrung von Wirklichkeit ist die „Verwöhntheit" (175/154), die durch den anderen Künstlertyp verkörpert wird. Dabei handelt es sich um eine Verkehrung oder Rückwärtsbewegung, genauer gesagt: um eine Abwendung von der begegnenden Wirklichkeit, die doch nur in der aktiv-passiven Zuwendung, im Fragen erschlossen werden kann. Die Verwöhntheit steht so für das Ausbleiben des Fragens. Das verwöhnte Nichtfragen ist eine objektivierende Handlungsform, in der allein das Subjekt die Handlung bestimmt, dem Handlungsgegenstand (dem Anderen) dagegen keine für die Handlung konstitutive Funktion zugestanden wird. Das Objekt wird allein vom Subjekt her bestimmt93. In gewisser Weise scheint dies die umgekehrte Entsprechung zu dem Gegenmodell aus III A.-B. zu sein; dort zeigte sich die weltliche Liebe darin, daß sich das Handeln vollständig an der Beurteilung des Gegenstands orientiert. Mit dieser Exposition ist natürlich auch wieder eine gewisse Apologie des objektiv Vorgegebenen verbunden. Wie in III Α-B wird eine vorgegebene Ordnung beschrieben, und die Interaktion mit dieser Ordnung ist der Ort, an dem sich die Liebe realisieren kann.

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H.-G. Gadamer, Wahrheit, 368-384 rekonstruiert die Frage und die „Logik von Frage und Antwort" als hermeneutische Grundstruktur; die sowohl das Verstehen von Handlungen als auch die ästhethische Erfahrung leitet. Vgl. auch B. Waldenfels' Programm einer „responsive(n) Rationalität" (Stachel, 27). Zur handlungstheoretischen Problematik eines objektivierenden Erfahrungs- und Gegenstandsbegriffs vgl. D. Böhler, aaO. 41ff.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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2.2. Der Vollzug des Fragens Nachdem die Einleitung der Rede das Thema in dieser Weise entfaltet und die Lösung in der Struktur des Fragens begrifflich bereits vorgibt, hat der folgende Hauptteil die Aufgabe, die Verwirklichung dieser Struktur zu beschreiben. Dabei ist auf den gegenüber II A.-C. veränderten Ansatz der Erwägung zu achten. Dort ging es darum, die Nächstenliebe als universale Forderung in ihrer pragmatischen Funktion, der Konstitution der Handlungsbeziehung, zu beschreiben. In IV hingegen geht die Entwicklung einen Schritt weiter: Nun geht es darum, „den nun einmal gegebenen oder gewählten Gegenstand - liebenswert zu finden, und dabei beharren zu können, ihn liebenswert zu finden, wie er sich auch verändere" (176/155). Diese Leseanweisung ist, zumindest im Rahmen unserer bisherigen Interpretation, nicht ganz eindeutig. Inwiefern geht das „Liebenswertfinden" über das reine „Finden", das wir in der Tat in II A.-C. als die Funktionen der Konstitution und Gestaltung gefunden hatten, hinaus? Einerseits scheint mit dieser Differenz das dialogisch-hermeneutische Element angesprochen zu sein. Dieses Element hatten wir zwar in unserer Analyse von II B. als zentral bereits für die Nächstenliebe behauptet, doch war dies dort vom Text der Rede nicht explizit herausgestellt worden. Insofern scheint auch IV die Aufgabe zu haben, den sprachpragmatischen Begriff der Nächstenliebe empirisch einzuholen, d.h. hinsichtlich seiner performativen Verwirklichung durch endliche Handlungssubjekte darzustellen. Auch das zweite in der Gegenüberstellung genannte Element, die Zukünftigkeit des „Beharrens" in der Beziehung gegenüber allen Veränderungen, hatte bereits in II A. eine wichtige Rolle gespielt. Auch hier scheint der Unterschied in der veränderten Perspektive zu liegen: Die Zukünftigkeit der Liebe wird nicht mehr aus der Sicht des unveränderlichen Gebotes geschildert, sondern von einem Standpunkt innerhalb der Beziehung. Die Wirkung der Nächstenliebe wird jetzt aus der Sicht des Subjekts beschrieben. Und dieses Subjekt muß im Konflikt zwischen Fragen und Nicht-Fragen („Verwöhntheit") beschrieben werden. Das Problem des Fragens nach dem Anderen wird nun in drei Schritten entwickelt. Dabei ist der Kontrast zum Handeln der Verwöhntheit ein stetiger Begleiter der Argumentation. Im ersten Schritt geht es um den dialektischen Realismus der Liebe (178-181/156-159). Das Dialektische liegt darin, daß die Liebe sich einerseits ganz auf das Gegebene einlassen will, ohne schwärmerisch irgendwelchen erträumten Idealen nachzulaufen, andererseits aber zu dieser „nüchter-

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2. Kapitel: Das Sollen

nen" Wirklichkeitsbindung gerade „das geschlossene Auge der Nachsicht und Milde" (179/157) gehört. Das Wegsehen und Vergeben ist eine Form der fragenden Wirklichkeitsbegegnung; in ihm wird dem Anderen die Chance zur Äußerung, d.h. zur Verteidigung und Veränderung gegeben. Der Verwöhnte dagegen fragt nicht, sondern fordert, fordert das Ideal. „Werde deshalb nüchtern, komm zu dir selbst, verstehe, daß der Fehler in deiner Vorstellung [Forestilling] von der Liebe liegt, daß diese eine Forderung sein solle, und zwar am herrlichsten, wenn das ganze Dasein sie nicht bezahlen könnte, ebensowenig - wie du dein Recht beweisen kannst, diese Forderung einzutreiben. Im gleichen Augenblick hast du die Vorstellung von der Liebe verändert: sie ist gerade das Gegenteil von einer Forderung, sie ist ein Guthaben, auf das Gott dich verpflichtet; im gleichen Augenblick hast du die Wirklichkeit gefunden" (180/158). Die besondere Erfahrungsform der Liebe hatten wir bereits in II C. entdeckt; hier wird sie analog ausgeführt: Die Pflicht zum Lieben ist eine Form des ästhetischen Verstehens, in der die Wirklichkeit „gefunden" wird. Dort war die Liebespflicht als transzendente Setzung mit bestimmter wirklichkeitserschließender Funktion behandelt worden, also ohne Verweis auf andere, die Pflicht konstituierende Größen. Hier dagegen ist die Pflicht des Fragens konstitutiv auf eine bestimmte vorliegende Realität bezogen: das „Guthaben", das auch beschrieben wird als „Gottesgabe [...] die er in eines Menschen Herz hineingelegt hat" (ebd.). Nur wenn die Liebe als gegebene dynamische Realität sowohl beim Subjekt wie auch beim Gegenstand verstanden wird, also als „Trang", wird auch die Forderung richtig gerichtet, nämlich gegen sich selbst gerichtet. Und damit zeigt sich die dialogisch-hermeneutische Funktion des Pflichtbegriffs: Die Pflicht als Verpflichtung wird zu einer Erfahrungsform, in der die Wirklichkeit so verstanden wird, daß das Geforderte im Anderen erschlossen ist. Die Pflicht wird zu einer ästhetischen Regel, die das Verstehen des Gegenstandes durch den hermeneutischen Zirkel von Fragen und Antworten anleitet. Die Wirklichkeit des anderen Menschen wird erfahren durch das Fragen, das aus dem „Trang" kommt. Der zweite Argumentationsschritt geht von der Konstitutionsthematik weiter zur Beschreibung der Struktur der nun konstituierten Beziehung (181-185/159-162). Auch hierbei geht es um das problematische Verhältnis von Idealität und Wirklichkeit, d.h. um die Frage, wie sich der Liebende zu den konkreten Fehlern und Schwächen des Anderem verhalten soll. Die Verwöhntheit innerhalb einer Beziehung kann sich gegenüber solchen Unvollkommenheiten wieder nur

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

169

fordernd verhalten. Damit aber verwandelt sie die Liebe in eine „Prüfung" (183/161). Doch dies bedeutet, daß der fordernd Prüfende sich aus dem Handlungsverhältnis herausnimmt, „daß du über dem Verhältnis stehst" (ebd.), und damit dieses Verhältnis eo ipso aufgehoben ist. Dies aber ist genau das Kriterium der Liebe: ob sie das Verhältnis als Handlungsverhältnis bewahren kann. Dies muß ihr auch angesichts der schwierigen, weil fehlerhaften oder unverständlichen Wirklichkeit des Anderen gelingen. „Wir haben nicht im Sinne, hiermit eine kindische Vernarrtheit in die zufälligen Eigenheiten des Geliebten anzupreisen, noch weniger eine weichliche Nachgiebigkeit am Unrechten Ort; keineswegs, der Ernst liegt darin, daß das Verhältnis selbst mit vereinter Kraft gegen das Unvollkommene kämpfen will, das Mangelhafte überwinden, das Ungleichartige entfernen will" (184/161f.). Zwei fundamentale Kennzeichen des Liebesbegriffs aus TL, auf die wir bereits vorher immer wieder gestoßen waren, kommen in diesem Zitat zum Zuge: Erstens ist das intersubjektive Verhältnis („das Verhältnis selbst") der primäre Begriffsrahmen der Argumentation, der allen Subjektivitätsbegriffen ontologisch vorausgeht; zweitens versteht TL diese Liebe nicht als sprachlose Selbstaufgabe, sondern als sprachlich vermitteltes und damit auch kritisches Verstehen. In diesem Fall führt das methodische Primat der Intersubjektivität dazu, daß der Konflikt zwar kritisch bearbeitet werden kann, dies aber immer innerhalb des Verhältnisses geschehen muß. Das Handeln der Liebe ist in dieser Hinsicht immer ein Handeln in und damit auch als (dialogische) Relation: „Nicht du sollst aufgrund der Schwachheit des Geliebten dich gleichsam von ihm entfernen oder dein Verhältnis entfernter machen, vielmehr sollen die beiden um so fester und inniger zusammenhalten, um die Schwachheit zu entfernen" (184/162). Auch diese Vorgängigkeit des Verhältnisses läßt sich in der Struktur der Frage verstehen: Liebe als kritisch-konstruktives Verstehen des Anderen steht stets im Rahmen des eigenen Angewiesenseins auf den Anderen; das Fragen als Handlungsform des „Trang" nötigt den Anderen zur Antwort (d.h. zur Manifestation seiner Liebe), aber der Fragende fragt auch um seiner selbst willen, denn es ist ihm ein „Trang" 94 . Der dritte Argumentationsgang schließlich wendet sich dem Aspekt der Zukünftigkeit und Veränderbarkeit zu (185-192/162-169). 94

Zur Bedürftigkeit des Liebenden, dessen Liebe gerade von der Liebesbeziehung abhängt, s. A. Gr0n, Liebe, 113.

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2. Kapitel: Das Sollen

Dazu nimmt die Rede die Beziehung zwischen Christus und Petrus erzählerisch auf, die am Anfang bereits im Mittelpunkt gestanden hatte. In einer teilweise drastischen Schilderung der Verleugnungsszene und des vom Volk angeklagten Christus wird das Motiv des Sehens durch den Hinweis auf den Blick aufgenommen, mit dem Christus den Petrus anschaut. „Und auf welche Art [hvorledes] sah Christus den Petrus an? War dieser Blick fortstoßend, glich er einem Abschiedsblick? O nein, es war, wie wenn die Mutter das Kind durch dessen eigene Unvorsichtigkeit in Gefahr geraten sieht, und nun, da sie das Kind nicht erreichen und fassen kann, es einholt mit ihrem zwar strafenden, aber auch rettendem Blick" (188/165). Was aber ist an diesem Blick rettend? Der Blick ist die Aufrechterhaltung des Verhältnisses. Durch das Anschauen bricht Christus die Beziehung zu Petrus trotz dessen „Veränderung" nicht ab, sondern führt sie fort. Wird Petrus von einem solchen Blick getroffen, so ist er zum Reagieren aufgefordert, d.h. zur Reue und der daraus entstehenden Erneuerung des Verhältnisses. Im Blick war also Christus „dem Petrus behilflich, ein anderer Mensch zu werden" (190/166). Der Blick hat erneut die Struktur des Fragens: Der anschauende Christus fragt Petrus nach seiner Liebe und veranlaßt ihn damit zu einem reagierenden Handeln, in dem er seine Liebe ausdrücken kann 95 . Indem die Frage der Liebe sich in dieser Weise an die Handlungsfähigkeit des Angesprochenen richtet, eröffnet sie dem Verhältnis Zukunft. Die Frage schafft Möglichkeit, d.h. im Fragen ist die Liebe „grenzenlos" (190/166). Christi Liebe ist grenzenlos darin, daß sie keine Bedingungen stellt und das Verhältnis durch keine Veränderung aufgehoben sieht (s.l90ff./166ff.). Und damit macht sie das Verhältnis selbst grenzenlos, nämlich offen auf Zukunft hin. Im Fragen schafft die Liebe Raum zum Handeln. Der Blick Christi hat eine leibliche Aufdringlichkeit, weil er die Form der Frage hat: „Er wandte sein Auge nicht von ihm ab, um gleichsam nicht zu wissen, daß Petrus zugegen sei, er sagte nicht, ich will den Verräter nicht sehen, er überließ ihn nicht sich selbst, nein, ,er sah ihn an', er holte ihn sogleich ein mit einem Blick; wäre es möglich gewesen, so hätte er gewiß nicht verfehlt, mit ihm zu sprechen" (187f./164f.). Es war zu sehen, daß die Rede IV viele der Gedanken wiederbringt und variiert, die wir bereits vorher, besonders in II C. entdeckt 95

Vgl. Pap. VIII 1 A, 130/72, 136£: „[...] jener Blick der Liebe, der Petrus einholte auf dem Weg der Verdammnis, der erinnerte ihn Tag und Nacht an das, was er einzuholen hatte."

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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hatten. Doch es liegt ein perspektivischer Unterschied vor: Während II C. das Sehen des Anderen als durch die Liebespflicht performativ konstituierte Wahrnehmung beschreibt, wird das Sehen in IV hinsichtlich seiner eigenen performativen Durchführung dargestellt, und diese Durchführung hat die Struktur des Fragens96. Und so wie sich das Liebesgebot nicht als eine subjektive Handlungsorientierung erwiesen hatte, sondern als eine das intersubjektive Verhältnis und seine Gestaltung als ganze artikulierende Sprachform, so ist auch das Fragen eine ausschließlich intersubjektive Handlungsform: Das Fragen verwirklicht die Gegenseitigkeit, indem sie diese immer schon voraussetzt, und allein durch diese Voraussetzung wird das Fragen möglich. Solche Dialektik von Mitbringen und Finden wird von TL als „Trang" bezeichnet. Ebenso wie Gehorsam und Gewissen ist dieser „Trang" nach dem Anderen eine leibliche Erscheinungsform des Liebesgebotes. Wenn auf diese Weise das Sehen als Fragen ausgelegt werden kann, ist handlungstheoretisch zugleich ein entscheidender Schritt getan: Fragen unterliegt nämlich nicht wie das Sehen dem epistemischen Subjekt-Objekt-Modell, sondern ist propositional strukturiert. Fragt A nach B, so bedeutet dies stets: A fragt B, ob er ihn liebt, und die Antwort von Β hat die sprachliche Form eines Behauptungssatzes und die praktische Form einer Handlung 97 . Erst auf diese Weise ist ein gegenseitiges Handeln innerhalb einer konkreten Beziehung möglich, denn so wird dem Befragten eine Antwortmöglichkeit zugestanden. Eine Begrifflichkeit, die Handeln nur in (nicht sprachlich strukturierten) Subjekt-Objekt-Verhältnissen denken kann, hat hierfür keinen Platz. Durch die Fragestruktur muß die intentionale Ausrichtung auf den Anderen als Gegenstand eines absolutes Interesses nicht in einer epistemisch-objektivierenden Begrifflichkeit interpretiert werden, sondern wird als eine Form sprachlichen Handelns er-

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Wird in II C. das Sehen als Erfahrungsform der Nächstenliebe durch die in sprachlicher Form äußerlich begegnende Pflicht ermöglicht, so in IV durch den ebenfalls vorgängig gesetzten „Trang". Dieser Trang ist nun die Weise, in der sich die transzendente Pflicht immanent, d.h. innerhalb eines Handlungsverhältnisses artikuliert. Zu dieser propositionalen Struktur vgl. E. Tugendhat, Einführung, 76: „Eine Frage ist eine Aufforderung, innerhalb eines durch den Fragesatz angegebenen Spielraums einen Satz zu äußern, normalerweise einen assertorischen Satz"; Fragesätze enthalten eine „Aufforderung zu einer Bejahung, zu einer Stellungnahme".

172

2. Kapitel: Das Sollen

kennbar 98 . Diese Differenz ist nun in der Analyse des „Trang"-Begriffes auszuführen.

2.3. Fragen: Begehren und

Intentionalität

Denn was ist nun dieser „Trang" überhaupt? Und wie ist das Verhältnis dieses Begriffs zu der Struktur des Fragens? Es fällt ja auf, daß der Begriff am Anfang der Rede eine herausgehobene Rolle spielt, im Hauptteil aber explizit gar nicht vorkommt (nur noch verborgen in Wendungen wie „Guthaben" oder „Gottesgabe"). Statt dessen, so hatte ich behauptet, wird der „Trang" in der Handlung des Fragens ausgelegt. Doch wie müssen diese beiden Aspekte zusammengedacht werden? Zunächst ist zu fragen, was mit „Trang" gemeint ist. Gerdes übersetzt das Wort mit „Bedürfnis". Damit wird freilich ein explizit theologisches Verständnis in Anspruch genommen. Denn die meisten Verwendungen von „Trang" im Werk Kierkegaards bezeichnen das Gottesverhältnis: der Einzelne bedarf Gottes". Nun gilt dies aber für unsere Rede gerade nicht. Hier wird ja vom „Trang" anthropologisch geredet: vom „Bedürfnis nach Liebe" als dem „Bedürfnis nach Gesellschaft" (170/150). Sicherlich ist „Bedürfnis" auch für diesen Sachverhalt eine mögliche Übersetzung: ein fundamentales Angewiesensein jedes Individuums auf andere Menschen. Doch diese Redeweise von einem grundlegenden Defizit ist bei Hirsch/Gerdes einem bestimmten Verständnis des Gottesverhältnisses entnommen, in der die Rede von einem fundamentalen Angewiesensein ihren Platz hat. Was dabei im anthropologischen Kontext verlorengeht, ist das aktiv-vitale Element: Bedürfen drückt sich in einem Suchen aus. Und eben dieses dynamische Element scheint mir „Trang" im Kontext von TL benennen zu wollen: das Begehren, Streben, Verlangen, der Drang und der Trieb zum Andern. In unserer Rede geht es, wie oben behauptet, um das Verhältnis zum Mitmenschen als einem Gegenstand, einem Woraufhin des Handelns, und dies in einer Weise, in der Gott selbst (für Kierkegaard) niemals Gegenständlichkeit für menschliches Handeln hat. 98

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Zu dieser Differenz und der sprachanalytischen Kritik am epistemischen SubjektObjekt-Denken vgl. grundlegend E. Tugendhat, aaO., 5.-6. Vorlesung. Vgl. 4R4, 5-34; CR, 264ff.; ZS, 103. Freilich ist in allen diesen Textstellen das Gottesbedürfnis auch auf das Handeln bezogen, etwa in der zuletzt genannten Stelle durch den Bezug auf den Nachfolgebegriff. Die Unbestimmtheit des dänischen „Trang" zeigt sich auch darin, daß Hirsch in KT, 63£ für das Wort drei verschiedene Übersetzungen vornimmt („Verlangen", „Drang" und „Bedürfnis").

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

173

„Trang" als Begehren oder Drang verstanden drückt sowohl die erotischen Konnotationen (vgl. die biblische Variation des platonischen Androgyniemythos: 170/150!) als auch die eigentümliche Dialektik des Gegenstandsverhältnisses aus, die gerade das Thema der Rede ist. Begehren ist der klassische Fall eines objektorientierten, teleologischen Handelns, das eine bestimmte Zweck-Mittel-Struktur einschließt: A begehrt B, und die Handlung M ist das Mittel zur Erreichung dieses Ziels100. Dabei muß noch gar nicht zwischen menschlichen und tierischen Verhalten unterschieden werden; diese Differenz kommt erst ins Spiel, wenn das Begehren mit einem bestimmten propositionalen Vorstellungsgehalt, mit „recognitional capacities" verbunden ist101. Wenn die Rede solches Begehren des Anderen auch bei Christus als fundamentale und zugleich schöpfungsgemäße Selbstliebe beschreibt (171ff./151ff.), so erhält damit genau dieser Aspekt eines vitalen Selbsterhaltungshandelns unerwartete theologische Dignität 102 . Diese Handlungsstruktur ist die Ausgangsposition der Rede, und von hier aus wird das spezifische Problem der Gegenständlichkeit des Anderen entwickelt, also die Frage nach dem Status des Gegenstandes (B). Ist Β allein von A her, d.h. als Befriedigung zu denken? Oder hat Β auch einen eigenständigen ontologischen Status? Daß es sich hierbei tatsächlich um die Aufgabenstellung der Rede handelt, zeigt der Fall der „Verwöhntheit". Die Verwöhntheit ist nämlich diejenige Handlungsstruktur, in der das Begehren zum Beherrschen wird. Handeln wird hier ausschließlich vom Subjekt und seinem Wollen her bestimmt; der Andere ist reines Objekt. Der Unterschied zu der .ursprünglichen' Form des schöpfungsmäßigen Begehrens liegt darin, daß die Verwöhntheit den Anderen nicht als Anderen begehrt. Die Verwöhntheit verobjektiviert und konsumiert den Anderen, indem sie ihm keine eigene Sprache läßt, d.h. indem sie ihn nicht fragt 103 .

100 101 102

103

Vgl. O. Höffe, Streben, 313f£ A. Kenny, Will, 51. Dies entspricht der Wertung der Selbstliebe als anthropologischem Ausgangspunkt der christlichen Liebe im Einleitungsteil von II A. (21f./23f.)! Die Analyse der Verwöhntheit nimmt in gewisser Weise die Dialektik der ästhetischen „Leidenschaft" aus EO I auf: Genießend-konsumierende Leidenschaft wird dort als Kern der ästhetischen Existenz und ihres Scheiterns herausgearbeitet. Andererseits geht die „Verwöhntheit" in TL gar nicht mehr so weit wie jene ästhetische Leidenschaft: Die Verwöhntheit kommt ja nicht mehr zur Konsumtion, sondern hat das Verhältnis immer schon tendenziell verlassen, ohne sich ihm, und sei es auch nur genießend, wirklich hinzugeben.

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2. Kapitel: Das Sollen

Den Unterschied von ursprünglichen' Begehren und Verwöhntheit hatte ich als die Handlungsform des Fragens interpretiert. Das Fragen ist die Weise, in der begehrende Selbstliebe zugleich Liebe zum Anderen ist, und zwar indem das Begehren sprachliche, d.h. propositionale Gestalt annimmt. Doch dann scheint ja ein wesentlicher Unterschied zwischen Begehren und Fragen vorzuliegen. Wie kann dieser Unterschied beschrieben werden? Nehmen wir noch einmal den Begriff des Bedürfnisses auf und lassen uns von ihm zu einer wirkmächtigten Tradition führen: In Hegels Rechtsphilosophie nimmt dieser Begriff einen herausragenden Platz ein: Als „System der Bedürfnisse" beschreibt Hegel die ökonomischsoziale Struktur der „bürgerlichen Gesellschaft" (§§ 189-208). Die Grundstruktur dieses Systems der Bedürfnisse ist die „Arbeit". Im einleitenden § 189 wird das Verhältnis von Bedürfnis und Arbeit geklärt: „Die Besonderheit zunächst als das gegen das Allgemeine des Willens überhaupt Bestimmte (§ 60) ist subjektives Bedürfnis, welches seine Objektivität, d.i. Befriedigung durch das Mittel, a) äußerer Dinge, die nun ebenso das Eigentum und Produkt anderer Bedürfnisse und Willen sind, und β) durch die Tätigkeit und Arbeit, als das die beiden Seiten Vermittelnde erlangt [...]." Das Verhältnis von subjektivem Bedürfnis und objektiver, d.h. im Äußeren realisierter Befriedigung wird in dieser Konzeption in der Produktion von Dingen durch Arbeit vermittelt. Handlung hat also eine Vermittlungsfunktion: Sie sichert die Befriedigung des Subjekts gerade dadurch, daß sie dieser Befriedigung eine objektive, ontologisch selbständige Form gibt (Eigentum und Produkt durch Arbeit) 104 . In ähnlicher Weise kann nun auch in TL das Fragen in seinem Verhältnis zum Begehren gesehen werden. Zwar geht es nicht wie bei Hegel um das Verhältnis zu Dingen und Natur, sondern um das personale Verhältnis zu anderen Menschen. Doch besteht auch hier das sachliche Problem darin, eine bestimmte Handlungsform zu finden, die das Verhältnis zwischen Begehren und Begehrtem in einer Weise 104

A. Honneth, Anerkennung beschreibt den Liebesbegriff in Hegels Jenaer Realphilosophie als „die erste Stufe der reziproken Anerkennung [...], weil sich in ihrem Vollzug die Subjekte wechselseitig in ihrer konkreten BedUrfnisnatur bestätigen und damit als bedürftige Wesen anerkennen" (ebd. 153) Ausgehend von diesem Grundbegriff zeigt Honneth am entwicklungspsychologischen Verständnis der Mutter-Kind-Beziehung exemplarisch, wie Liebe „eine durch wechselseitige Individuierung gebrochene Symbiose darstellt" (ebd. 173). Vergleichbares leistet das Fragen nach der Liebe in TL: die Metamorphose von Verschmelzungssehnsüchten in ein reziprokes Anerkennungsverhältnis freier Individuen.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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gestaltet, die dem Begehrten seine Eigenständigkeit beläßt und gerade darin das Begehren seine Befriedigung finden läßt. Die gesuchte Handlungsform ist hier eine Sprachform, nämlich das gegenseitige Fragen und Antworten in einem Handlungsverhältnis. Denn das Fragen des einen will ja die freie Äußerung der anderen Liebe, und erst wenn es diese Äußerung hört, ist es befriedigt. Die gegenseitige Selbständigkeit von Begehrendem und Begehrtem ist gesichert, wenn eine Sprachform gefunden wird, in der das Verhältnis beider als dritte Größe zwischen ihnen, als „Zwischenbestimmung" (119/107) Gestalt annimmt. Die Sprechhandlung des Fragens initiiert diese Gestaltwerdung. Vermittelnde Handlung ist hier nicht, wie bei Hegel, gegenständlich oder institutionell gedacht, sondern performativ: als sprachliche Struktur eines Verhältnisses, das allein vom Liebesbegriff her denkbar ist - als Frage nach der Liebe des Anderen. Das Verhältnis von Begehren und Fragen kann noch weiter konkretisiert werden. Hält man sich an das oben skizzierte Grobschema des teleologischen Handelns, so lassen sich für dieses Schema die zwei Grundformen des zweckgebundenen und des bedürfnisgebundenen Handelns unterscheiden 105 . Für das Bedürfnishandeln ist die Verweisung auf vorausliegende Determinanten (Objekte oder Zustände des Begehrens), durch die das Handeln konstituiert wird, charakteristisch. Das Modell des Zweckhandelns, wie es v.a. in der analytischen Handlungstheorie verwendet wird, abstrahiert methodisch vom Einfluß solcher objektiven Determinanten auf den Handelnden und konzentriert sich auf die Zweck-Mittel-Kalkulation des handelnden Subjekts; das Bedürfnis wird zur Intention106. Diese beiden Grundformen möchte ich nun auf das Verhältnis von Begehren und Fragen anwenden. Demzufolge drückt das Begehren eine das gesamte Menschsein determi105

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In dieser Differenzierung orientiere ich mich an M. Riedel, Zweck- und bedürfnisgebundenes Handeln. M. Riedel, aaO. 147: „Der methodologische Individualismus, der sowohl das teleologisch-intentionale, das kausale wie das rationale Modell der Handlungserklärung kennzeichnet, abstrahiert von der .allgemeinen Qualität der Handlung' (Hegel), ihrer Fundierung durch die praktische Kommunikation. Er wird durch den sozialen Kontext widerlegt, in dem wir handeln. Ich meine hier nicht nur das ganze Geflecht von Regeln, Normen, Institutionen, Überzeugungen usw., das unser Handeln durchzieht, sondern das Sprechen, mit dem es verwoben ist - die Sprache selbst als Kontextelement, das alle anderen Elemente und damit die Situation erst erschließt." Diese wichtigen Überlegungen möchte ich für TL1,IV aufnehmen, versuche allerdings dabei zu zeigen, daß Kierkegaards Verständnis des Bedürfnisses als Fragen gerade die sprachlich-erschließende Rolle der Intentionalität expliziert (die nicht identisch ist mit dem, was Riedel „intentional" nennt, s.u.).

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2. Kapitel: Das Sollen

merende Bedingung aus, die in einer bestimmten Objekt- oder Zwekkorientierung besteht: Jeder Mensch braucht andere Menschen. Doch ist diese Struktur noch viel zu undifferenziert, um sie als gelingende Liebe von den Fehlformen unterscheiden zu können. Sie thematisiert lediglich die Determination. Das Fragen bringt demgegenüber die Perspektive der subjektiven Handlungsausrichtung ins Spiel, d.h. Fragen hat den Status einer propositionalen Intention. Nun ist damit auch eine Differenz für die Form der Gegenständlichkeit gegeben: Eine propositional strukturierte Frage zielt nicht einfach, so wie das Begehren, auf den Anderen als ein Objekt der Liebe, sondern sie zielt auf eine Handlung: Der Andere soll antworten und sich antwortend in seiner Wirklichkeit offenbaren (s.o). Das Verhältnis von Begehren und sprachlichem Handeln kann erneut im Begriff der Artikulation gefaßt werden: Das Fragen artikuliert das determinierende Begehren in sprachlicher Form und erreicht damit ein verändertes Verhältnis zur begegnenden Wirklichkeit. Erst auf dieser Ebene der Sprachform wird die Wirklichkeit des Anderen in seiner Gegenständlichkeit, d.h. in seiner Freiheit erreicht. Zugleich ist die Frage als Artikulation selbst eine Form der hermeneutischen Vermittlung des Determinanten „Trang" für das Handlungssubjekt selbst, d.h. erst als Frage ist das „tiefe" Begehren aus der natürlich-animalischen Form in eine durch Vorstellungsgehalte und damit durch Handlungsfreiheit strukturierte Handlungsform überführt 107 . Im Fragen wird das Begehren reflexiv108, dies geschieht aber zugleich so, daß das intersubjektive Verhältnis als ganzes reflexiv wird. Genau diese Reflexivität des Verhältnisses, die sich als Dialog realisiert, ist die Qualität, welche die Rede beschwört, wenn sie gegenüber der „verwöhnten" Kritik am Anderen darauf besteht, daß die Kritik immer innerhalb des Verhältnisses erfolgen muß (s.o.). Im Anschluß an diese Überlegungen läßt sich auch der Begriff der Intentionalität, der im Gang der Interpretation schon einige Male gebraucht worden war, näher bestimmen. Anläßlich der Erörterung von

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Vgl. M. Riedel, aaO. 150£ Bei diesem Verständnis des Fragens als Wirklichkeitserschließende und -interpretierende Artikulation ist ferner erneut auf C. Taylor zu verweisen. Dieselbe Überführung der natürlichen Liebe auf eine höhere ethische Stufe versucht auch E02. Auch dort wird die natürliche Liebe unter dem Stichwort der „Ästhetik der Ehe" sehr hoch angesetzt. Der Unterschied gegenüber TL dürfte v.a. darin liegen, daß in dem älteren Buch diese Rettung in der Form einer sozialen Institution (Ehe) gesehen wird, während TL auf die kommunikative, also sprachliche Struktur intersubjektiven Handelns reflektiert. Vgl. O. Höffe, aaO. 322.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

177

III A. hatte ich mit diesem Begriff die Ausrichtung des Handelnden auf das Gottesverhältnis des auffordernden Handlungspartners benannt. Doch fehlte dort noch die Möglichkeit, diese intentionale Ausrichtung als ein Verstehen auszulegen. Mit dem in IV explizierten Begriff der Frage haben wir nun eine Kategorie gewonnen, mit der wir die Ausrichtung auf den Anderen als ein durch Sprache strukturiertes Verstehen begreifen können. Verstehen bedeutet hier, daß der Andere in seinem Gottesverhältnis für den Handelnden ist, als ein Gegenstand seiner Bewegung, und diese Gerichtetheit auf den Gegenstand (Intentionalität) drückt sich als Begehren und Fragen aus. Das Fragen ist die expressive Wirklichkeit eines intentionalen Bewußtseins109. Und erst jetzt wird auch die Interpretation dieser Intentionalität belegbar, die ich bereits oben formulierte: die intentionale Ausrichtung auf das Gottesverhältnis des Anderen als ein Verstehen des Anderen in seinen schöpferischen Handlungsmöglichkeiten. Diese Formulierung kann jetzt durch die Handlungsform des Fragens erklärt werden. Denn es hat sich gezeigt, daß Kierkegaard das Fragen der Liebe als ein Fragen nach dem liebenden Antworten des Anderen und damit als die Möglichkeit zum Vollzug seiner eigenen Liebesfähigkeit beschreibt. Doch haben wir damit immer noch nicht alle Facetten des Verhältnisses von Begehren und Fragen wahrgenommen. Es ist noch die Frage offen, wie man vom Begehren zum Fragen kommt. Und hier scheint erneut das Gottesverhältnis wesentlich zu sein. Die bisher rekonstruierte Diskussion verlief ja nahezu ausschließlich auf rein anthropologi109

Dieser Begriff von Intentionalität ist also zu unterscheiden, aber nicht zu trennen von den Begriffen Intention, Absicht oder Zweck. In diesen Termini ist das Element der subjektiven Setzung von Zielen oder Zwecken vorherrschend (vgl. A. Kenny, Will, 20, ebenso M. Riedel, aaO. und O. Höffe, aaO.), wohingegen der Intentionalitätsbegriff auf einer vorausliegenden Ebene die Gegenständlichkeit und damit die fundamentale Verwiesenheit auf den „Anderen" betont: das Begehren. Das Fragen entspricht dagegen dem Begriff der Intention, doch nicht im Sinne einer willkürlichen Zielsetzung, sondern als Handlung, die unmittelbar mit dem zusammenhängt, was gegenständlich gegeben ist, man kann auch sagen: als intentionale Handlung, die eine bestimmte Intentionalität ausdrückt; zu diesem Verhältnis von Intentionalität und intentionaler Handlung vgl. C. Taylor, Expression. Die Differenzierung kann folgendermaßen zusammengefaßt werden (und in diesem Sinne werden die genannten Begriffe in dieser Untersuchung verwendet): „Intentionalität" = relationale Bezogenheit eines Akteurs A auf einen anderen Akteur B, d.h. Β ist ßr A; „intentionale Handlung" = Handlung innnerhalb der relationalen Bezogenheit, d.h. insofern diese Handlung durch die Bezogenheit oder Relation zu beschreiben ist; „Intention" = subjektive Absicht oder Grund des Handelns („to act for reasons", A. Kenny, ebd.).

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2. Kapitel: Das Sollen

schem Boden, ohne den Begriff „Gott" bemühen zu müssen (abgesehen davon, daß Gott als der Schöpfer des Begehrens gedacht werden muß). Und in der Tat spielt der Begriff des Gottesverhältnisses in der Rede auch quantitativ keine große Rolle. Doch an entscheidender Stelle macht die Rede die grundlegende Funktion des Gottesverhältnisses für das Verhältnis von Begehren und Fragen deutlich. Der biblische Leittext der Rede (1. Joh 4) handelt ja explizit von dem Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe. „Der Mensch soll damit beginnen, den Unsichtbaren zu lieben, Gott zu lieben, denn dadurch soll er selbst lernen, was es heißt zu lieben; aber daß er dann wirklich den Unsichtbaren liebt, soll eben daran erkannt werden, daß er den Bruder liebt, den er sieht; je mehr er den Unsichtbaren liebt, um so mehr wird er die Menschen lieben, die er sieht" (177/156). Wie schon beim Gehorsam (III Α.), so geht es auch jetzt um den Anfang des Handelns. Der Anfang der Liebe wird durch ihren Gegenstand bestimmt. Der Gegenstand des Begehrens war der andere Mensch, und zu dieser Gegenstandsbestimmung wird nun eine zweite hinzugefügt: Das Begehren erreicht seinen Gegenstand in Liebe nur dann, wenn es als seinen ersten Gegenstand Gott hat. Das Gottesverhältnis als Gottesliebe ist die reale Ermöglichung eines Begehrens, das in der Form des Fragens wirklich den Anderen erreicht und so Liebe ist. Wie können diese beiden Gegenstandsbestimmungen zusammengedacht werden? Dies geschieht Kierkegaard zufolge in der Weise, daß Gott als Schöpfer des Daseins für die „Wirklichkeit" des innerweltlich begegnenden Gegenstandes einsteht. In unserer Rekonstruktion hatte sich ja das Fragen als eben die Handlungsform herausgestellt, welche die eigenständige „Wirklichkeit" des Anderen erschließt. Insofern bedeutet das Fragen nach der Liebe des Anderen in seiner Anleitung durch das Gott-Lieben, diesen Anderen in seiner schöpfungsmäßigen Wirklichkeit zu erkennen. In der Gottesliebe erscheint der Gegenstand als etwas, das nur erfragt werden kann. Das fremde Gottesverhältnis ist die externe Realität, auf die sich das Begehren intentional bezieht. Das Gottesverhältnis ist dabei nicht als etwas nur Gedachtes, sondern als eine im Handlungsverhältnis objektiv begegnende Realität, als die Wirklichkeitsform des Gegenstandes verstanden. Durch diesen Intentionalitätsbegriff wird es möglich, das Gottesverhältnis als real konstitutierende Vermittlung dieses Verhältnisses zu denken: „Gott hat nicht dergestalt Teil am Dasein, daß er sein Teil für sich verlangt; er fordert alles, aber indem du es bringst, bekommst du sogleich, wenn ich so sagen darf, den Vermerk darauf, wohin es weiterzubesorgen ist; denn Gott fordert nichts für sich, ungeachtet er alles von dir

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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fordert" (178/156). Die Voraussetzung der geschöpflichen Wirklichkeit des Anderen hat die Form der unbedingten Forderung. Gott als Gegenstand des Handelns macht den endlichen Gegenstand zu einem unbedingten Gegenstand, indem er den Mitmenschen zum Zielpunkt unbedingter Pflicht macht. Und allein unter dieser Voraussetzung scheint die oben beschriebene Handlungsform des Fragens möglich zu sein. Oder anders herum: Jedes Fragen nach der Liebe des Anderen in der beschriebenen Form hat die Gottesliebe zur Voraussetzung; und dies muß nicht einmal eine dem Handelnden be wußte Voraussetzung sein. Denn wer nach der Liebe des Anderen fragt, setzt eo ipso dessen Liebe als reale Möglichkeit und damit dessen liebenswürdige Geschöpflichkeit, sein „Gottesverhältnis" voraus. Allein in dieser Vermittlung durch die „Zwischenbestimmung" Gott erscheint die Verwandlung des Begehrens in die Sprache der Liebe, in das Fragen, möglich zu sein. Die Gottesliebe ist eine absolute, d.h. unhintergehbare Voraussetzung der Sprechhandlung des Fragens, die selber nur noch in der Weise erfragt werden kann, daß sich der Fragende fragend an seine Mitgeschöpfe wendet110. 110

Hier ist abschließend noch eine Bemerkung zum Begriff des Sehens, von dem die Überschrift der Rede spricht, nötig. Die Semantik des Sehens spielt eine wichtige Rolle in TL. Die Argumentation nicht nur in IV, sondern auch in II C. ist wesentlich hierdurch geprägt. Dies hat einige Interpreten dazu geführt, das Sehen als die zentrale Kategorie in TL und als die wesentliche Handlung der Liebe zu begreifen, vgl. A. Gr0n, dialektik (265ff.), J. Ferreira, Blindness. Demgegenüber versuche ich zu zeigen, daß nicht das Sehen, sondern das Sprechen die grundlegende Handlung für TL ist. Die Interpretation der Texte hat m.E. erwiesen, daß die beschriebenen Formen des liebenden Sehens nicht als unmittelbares, sinnlich-wahrnehmendes Sehen gelten können, sondern allein unter der Voraussetzung von bestimmten sprachlichen Formen denkbar sind: durch das Gebot (II C.) und durch das Fragen (IV). Gerade IV zeigt, daß das liebende Sehen nur möglich ist, wenn es als eine Form des Sprechens verstanden wird: als Fragen. Wenn das Sehen als ein Verstehen beschrieben wird, in dem man etwa den Anderen „als" einen Anderen sieht (A. Gr0n, aaO. 263), kann vom Sehen nur noch im übertragenen Sinne die Rede sein. Die Semantik des Sehens in TL weist eine große Bedeutungsbreite auf (Sehen als unmittelbare Wahrnehmung, als Verstehen, als intentionale Ausrichtung auf den Anderen wie im Blick des Christus auf Petrus), doch gerade dadurch wird es problematisch, den Begriff des Sehens selbst zur zentralen Auslegungskategorie zu machen. Es müßte stets klar werden, in welchem Sinn jeweils von Sehen gesprochen wird. Daß das Sehen für Kierkegaards Handlungsbegriff gleichwohl wesentlich und unverzichtbar ist, versuche ich, mit dem Begriff des Handlungsraumes auszudrücken: Das Sehen kommt ins Spiel, wenn die Beziehung zweier Handelnder als ein Raunt verstanden wird, der wahrgenommen werden muß, wobei diese Wahnehmung aber immer über sprachliche Formen des Selbstausdrucks dieser Beziehung vermittelt ist. Hier wird also nicht ein Objekt durch ein Subjekt wahrgenommen, sondern ein beiden gemeinsamer Raum wird erschlossen; Sehen steht hier

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Die letzte Bemerkung macht auf das noch ungelöste Problem aufmerksam, welches die ganze bisherige Rekonstruktion des dialogischen Handlungsmodells betrifft: Wie kann die theologische Begründung des Handelns vor dem philosophisch-handlungstheoretischen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Rationalität bestehen?

3. Abschlußüberlegung: Die theologische Begründung dialogischen Handelns In diesem Kapitel habe ich versucht, das in den Reden III-IV von Kierkegaard entwickelte Modell der Handlungen der Liebe unter den Handlungsbegriffen von Antwort und Frage zu rekonstruieren. Falls diese Rekonstruktion erfolgreich gewesen ist, so hat sie eine Beschreibung der Liebe als intersubjektiv bestimmte Handlung ergeben. Innerhalb dieser Beschreibung nimmt der Verweis auf „Gott" oder das „Gottesverhältnis" eine zentrale Rolle ein. Das praktische Antworten auf eine Handlungsaufforderung ist nur möglich als unbedingter Gehorsam, so daß die kontingent begegnende Aufforderung durch einen anderen Akteur zugleich als Gottes unbedingte Forderung zu denken ist. Das praktische Fragen nach einem anderen Menschen als die Weise, in der sich dessen Liebe realisieren kann, ist nur möglich als unbedingte intentionale Ausrichtung auf einen Gegenstand, so daß auch hier das Verhältnis zu dem kontingent begegnenden Gegenstand durch das Unbedingte selbst als Liebe qualifiziert wird. Doch damit stellt sich nun die Frage nach dem Status des diese Beschreibung ermöglichenden Elements, also die Frage: Wie kann das Gottesverhältnis selbst handlungstheoretisch verstanden werden? Kann auch die Begründung der so beschriebenen Handlungsstruktur noch erklärt werden, oder sind wir auf eine nicht weiter hinterfragbare Voraussetzung verwiesen? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst noch einmal die besondere Leistung des als Liebe bezeichneten Tuns nachzuzeichnen. Der Ausgangspunkt für TL ist die Gefahr der „Selbstliebe", also ein Handeln, in dem die Handelnden ihr Verhältnis von der jeweiligen eigenen Perspektive („Vorteil") aus gestalten. Die in IV beschriebene „Verwöhntheit" ist die klassische Form der Beherrschung des Andenicht unter der Maßgabe eines Subjekt-Objekt-Denkens, sondern ist eine Form, in der sich ein intersubjektives Verhältnis zu sich selbst verhält. Zur Bedeutung des sprachlich erschlossenen Handlungsraumes vgl. C. Taylor, Sources, 25-40.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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ren durch das Subjekt; III A.-B. hingegen entwickeln die paradoxen Formen der Selbstaufgabe, die sich doch wieder als versteckte Formen der Selbsterhaltung und Fremdbemächtigung entpuppen. Diese negativen Formen geben dem Liebesbegriff seine Aufgabe vor: die handelnde Gestaltung des Verhältnisses so zu beschreiben, daß sich das Handeln des Subjekts auf den Anderen als Anderen richtet. Die Andersheit des Anderen wird nun gerade durch „Gott" gewährleistet: allein durch das Gottesverhältnis erhält der Andere als Fragender wie als Befragter jenen absoluten Status, in dem er allen Bemächtigungsstrategien des Handelnden entzogen ist. Andersheit und Absolutheit hängen unmittelbar zusammen. Welche Funktion nimmt nun „Gott" als das Absolute in dieser Handlungsstruktur ein? In welchem Sinne wird das Handeln der Liebe durch Gott „ermöglicht"? Ist Gott die Ursache des Antwortens und Fragens? Die metaphorische Begrifflichkeit von TL legt ein Verständnis von Gott als Ursache durchaus nahe: Den unbedingten Gehorsam hatten wir als ein Reagieren auf ein Absolutes beschrieben, und zwar als ein Reagieren im fast mechanischen Sinne, das keine Zwischeninstanz eines freien Willens zuläßt. Unbedingter Gehorsam ist bloßes Reagieren auf ein Anderes, „Äußeres", das zum Reagieren nötigt (s.o.); das affektiv-reflexive Verhältnis zu dieser handlungserzwingenden äußeren Instanz hatte III A. u.a. als „Gebundenheit" beschrieben. Auch das Fragen nach dem Anderen hatte den Aspekt des Reagierens auf eine unbedingte Forderung als notwendiges Handlungselement enthüllt. Doch in welchem Sinn kann hier überhaupt von Ursache gesprochen werden? 111 Wie soll Gott als Ursache einer intersubjektiven Handlung gedacht werden können? 112

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In der analytischen Handlungstheorie nimmt die Diskussion um die Begründung von Handlungen einen breiten Raum ein. Dabei lassen sich zwei Hauptrichtungen unterscheiden: Eine kausale Theorie verankert die HandlungsbegrUndung in Ursache-Wirkung-Verhältnissen, bei denen insbesondere das Wollen des Handelnden selbst als Ursache behauptet wird. Die intentionale Theorie hingegen versucht, im Anschluß an den späten Wittgenstein, die prinzipielle Unangemessenheit des Kausalmodells für den Bereich menschlichen Wollens aufzuzeigen und statt dessen dieses Wollen als eine eigenständige und nomologisch nicht einholbare Sprachform zu beschreiben, in der Wollen bzw. Disposition und Handeln untrennbar miteinander verbunden sind (das sog. „Logische Beziehungs-Argument"). Zur Debatte von Kausalismus und Intentionalismus vgl. als Übersicht A. Beckermann, Handeln. Vgl. PB, 22: die Liebe wird hier als Selbstverursachung der Bewegung Gottes zum Menschen gedacht - aber nicht als Verursachung der Bewegung zwischen Menschen!

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2. Kapitel: Das Sollen

Allerdings vermeidet Kierkegaard es deutlich, von Gott als einer dinghaften Ursache des Liebens zu sprechen. Der Begriff des Gehorsams sagt mehr über das gehorchende Handlungssubjekt als über den Gebietenden. „Gehorsam" ist eine Beschreibung des Subjekts, die eine andere, befehlende Instanz unthematisch, d.h. als Implikat der Subjektbeschreibung mit-thematisiert113. Insofern ist „Gehorsam" eine phänomenologische Beschreibung des Subjekts, die keine Aussagen über die stumm mitthematisierte Instanz macht, abgesehen von der einen Aussage, die im Begriff des unbedingten Gehorsams mitgesetzt ist: daß jene Größe ein Unbedingtes ist. Gehorsam ist ein Reagieren, ohne daß der Anstoß zu diesem Reagieren selbst für die Beschreibung als Objekt thematisch wird. Ebenso ist der Begriff der „Gebundenheit" als Gefühl notwendig auf seinen Gegenstand bezogen, thematisiert diesen aber in einer ,bloß' reflexiven Form. Mit Blick auf die Aufgabenstellung kann man auch sagen: Gehorsam und Gebundenheit sind darin Beschreibungen von Liebe, daß hier das Subjekt überhaupt reagiert, nämlich auf einen anderen Handelnden reagiert (anstatt ihn zu beherrschen), ohne daß doch der Anstoß zum Reagieren in diesem anderen Subjekt als solchem, d.h. hinsichtlich seiner welthaft-bedingten Verfassung, liegen würde. Bezogen auf diesen Anderen bedeutet dies, daß der andere Akteur ein Bedingtes ist, das doch zugleich - hinsichtlich seines Gottesverhältnisses - unbedingte Autorität artikuliert. Für den Handelnden gilt: Gehorsam und Gebundenheit sind Phänomene, mit denen Kierkegaard beides zu benennen versucht: die Subjektivität des Handelns und die dem Lieben innewohnende unbedingte Verwiesenheit auf eine andere, transsubjektive Größe. Damit haben wir zugleich die Aufgabe einer Beschreibung von Liebe erweitert: Das metaphysische Problem liegt in dem Verhältnis von Andersheit und Unbedingtheit im innerweltlichen Handlungsverhältnis; das handlungstheoretische Problem jedoch liegt darin, eine Handlung so zu beschreiben, daß sie als das Handeln eines Subjekts unbedingt durch ein Anderes bestimmt ist und doch zugleich ein diesem Subjekt zuzuschreibendes Handeln bleibt. Dies ist im Sinne von TL die Aufgabenbestellung einer Theorie, die das Problem der Handlungsverknüpfung zwischen zwei Handelnden thematisiert

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In dieser nicht-objektivierenden Erschließung des Absoluten liegt erneut eine Parallele zu Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühl, vgl. K. Cramer, Prämissen, bes. 155f.

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(s.o.)114· Die Frage ist, ob es eine Sprache oder ein Phänomen gibt, mit dem diese Handlungsform beschrieben werden kann. Kierkegaard will mit TL zeigen, daß die Liebe dieses Phänomen und die Grammatik der Liebe (die „Vorstellungen"!) die für die Beschreibung angemessene Sprache ist115. Mit diesen Überlegungen entsteht zugleich die These, daß die Frage nach einer Ursache des Liebeshandelns für TL keine relevante Frage ist, und zwar nicht aus dogmatischen Gründen, sondern aus Gründen der gestellten Beschreibungsaufgabe. Denn im Humeschen Sinne ist die Ursache einer Handlung oder eines Zustandes ein von diesem Zustand selbst zu unterscheidender, separater Sachverhalt. Für den Kausalbegriff muß die Ursache „kontingent" mit der Wirkung verbunden sein, nämlich durch das „Herausgreifen der Ursache aufgrund jener Eigenschaft, durch welche sie die Wirkung hervorruft"116. Nehmen wir diese Bestimmung von Kausalität auf und wenden sie auf TL an, so ist festzustellen: Ein Unbedingtes („Gott") wird zwar als der unbedingte „Grund" der Handlung beschrieben, nicht aber als Ursache, d.h. als mit der Wirkung nur kontingent verbundenes Antezedenz. Die gesuchte Beschreibung soll ja gerade Subjektivität (Handlung) und Andersheit (Antezedenz) miteinander nicht-kontingent verbinden; dies wird durch das Unbedingte ausgedrückt. Die Unbedingtheit, die sich im Andern äußert, kann nicht von der Reaktion selbst als kontingentes Antezedens getrennt werden. Das Unbedingte und die Liebe (als Reagieren und Fragen) sind in diesem Sinne eine „nicht-kontingente Verbindung"117. Intentionalistisch argu114

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Diese Rekonstruktion der Aufgabenstellung des Liebesbegriffs erinnert an den Geistbegriff Hegels, vgl. Phänomenologie, 127: „Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein. Erst hierdurch ist es in der Tat; denn erst hierin wird für es die Einheit seiner selbst in seinem Anderssein". Die Ausführungen in TL zeigen allerdings, daß Kierkegaards Geistbegriff sich vom Modell des Selbstbewußtseins löst. Der Begriff der „Vorstellung [Forstilling]" zielt in TL stets auf die Semantik der richtig verstandenen Liebe, s. 29/29,120/108,126/113f„ 135/121,179/157 (vgl.o. Kap. 2,1.1). C. Taylor, Erklärung, 73; ähnlich A. Kenny, aaO. 118ff. Taylor will die Unangemessenheit eines solchen Ursachenbegriffs für das durch Wollen und Gefühle bestimmte menschliche Handeln aufzeigen, wobei er allerdings auch die gänzliche Verweigerung der „Nach-Wittgensteinianer" (Anscombe, Melden) gegenüber der Kausalitätsfrage überwinden möchte. Zu einer kausalistischen Kritik dieses intentionalistischen Verständnisses der Ursache vgl. u.a. D. Davidson, Actions, 13ff.; W. Vossenkuhl, Freiheit, 104ff. C. Taylor, aaO. 74 passim. Die nicht-kontingente Verbindung von Gegenstand und Gefühl formuliert Kierkegaards Ästhetiker als Dialektik von Handlungsgrund und Leidenschaft: „Ein Grund ist überhaupt ein sonderbares Wesen; blicke ich auf ihn

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2. Kapitel: Das Sollen

mentierende Autoren wie C. Taylor beschreiben mit diesem Begriff den Status der Handlungsdisposition (Wunsch, Absicht, Gefühl) gegenüber dem Handeln: Die Disposition kann niemals „intrinsisch", d.h. in Absehung von der (normalerweise) folgenden Handlung beschrieben werden118. Wenn man nun von Liebe als der zu erklärenden Handlung spricht, dann muß Kierkegaards Argumentation zufolge das Unbedingte, und d.h. der unbedingte Andere, als notwendige Voraussetzung mitgesetzt werden. Wollte man angesichts der genannten Aufgabenstellung und ihrer Voraussetzung Liebe „intrinsisch" beschreiben, so ist man, in der Terminologie von TL, bei der bloß weltlichen Liebe: jener Beschreibungsform, in der Liebe keine unbedingte Voraussetzung der Liebe anerkennt und deshalb auch keine äußere, begegnende Größe als unbedingte Handlungsauffoderung erfährt, sondern völlig immanent, selbstbezogen, „selbstisch" ist. Folgerichtig ist es der „christliche" Begriff der Liebe selbst, der die nicht-kontingente Verbindung von Handlung und Gegenstand, und damit auch von Handelndem und Anderem, ausdrückt. Liebe ist dann der Begriff für die paradoxe Aussage, daß ein absolut Anderes, vom Handelnden Getrenntes zugleich wesentlich (nicht-kontingent) zu seiner Handlung dazugehört. Dieser Begriff von Verbindung oder Synthesis ist der handlungslogische Status des Wortes „Liebe". Erst

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mit meiner ganzen Leidenschaft, so wächst er zu einer ungeheuren Notwendigkeit hoch, die Himmel und Erde in Bewegung zu setzen vermag; blicke ich ohne Leidenschaft auf ihn, so sehe ich höhnisch auf ihn herab" {EOI, 35); vgl. dazu J. Sl0k, Kierkegaard, 102£ C. Taylor, aaO. 82£ passim. Im Unterschied zu TL geht es allerdings bei Taylor an dieser Stelle, wie in der gesamten analytischen Diskussion zum Handlungsbegriff, nicht um die Frage, inwiefern ein anderes Subjekt zur Ursache der individuellen Handlung wird, sondern darum, —ie sich Wollen (Disposition) und Handeln beim Individuum selbst zueinander verhalten. Die Intervention anderer Handelnder muß dann stets als durch die „Selbstaufforderung" des autonomen Subjekts vermittelter Anlaß, als eine höchstens indirekte Handlungsursache gedacht werden, vgl. A. Maclntyre, Handeln, 188ff.; M. Riedel, Handlungstheorie, 155t Wäre es möglich, die von TL beschriebene „Liebe" als ausschließlich subjektive Entscheidung oder autonome Wahl zu verstehen, dann könnte man auch die kausalistische Handlungserklärung (das Wollen als Ursache des Handelns) ansetzen, so wie etwa C. S. Evans, Will es tut. Doch die fundamentale Bezogenheit auf ein Anderes macht ein solches Handlungsverständnis für TL unmöglich. Im übrigen legt sich C. Taylors Ansatz zur Interpretation von TL auch deshalb nahe, weil er 1) damit zugleich eine Theorie der Gefühle und ihrer Handlungsbedeutung gibt, und 2) Taylor selbst seinen handlungstheoretischen Ansatz in späteren Texten zu einem Theoriegebäude weiterentwickelt, in dem auch ein (teleologischer) Begriff des Unbedingten seinen Platz finden kann (vgl. ders., Sources, 92ff. passim zum Begriff des „constitutive good").

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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wenn der Andere als ein solches Antezedenz beschrieben werden kann, das nicht-kontingent und notwendig auf die Handlung des Subjekts bezogen ist (während in einem Autonomie-Konzept diese Beziehung immer als kontingenter „Anlaß" gedacht werden muß119), ist die Liebe als Vermittlung der Handlungsbeziehung gedacht (und damit die oben beschriebene Aufgabe erfüllt). Umgekehrt heißt das: Die Aufgabe, Handeln in dieser Weise als intersubjektiv verbunden zu denken, sieht TL in dem Phänomen der Liebe gelöst. Doch kommt alles darauf an, dieses Phänomen eben auch in dieser Weise beschreiben zu können. Insofern ist der Streit der Sprachen und „Vorstellungen" eine handlungstheoretische Fragestellung: Es ist die Suche nach der Theorie- oder Phänomensprache, in welcher der Gegenstand, nämlich intersubjektives Handeln, adäquat beschrieben ist120. Wie in den Reden II A.-C., so zeigen auch III-IV, daß diese Phänomensprache die Sprache der Liebe ist. Daher muß die Liebe so beschreibbar sein, daß sie in der Weise zur Geltung kommt, wie sie sich selbst für den Beobachter zur Darstellung bringt; und dies ist wiederum primär die Sprache bzw. die sprachliche Form der Liebeshandlungen. Umgekehrt liegt der Aufweis der weltlichen Liebe als Selbstliebe im Aufweis ihrer „intrinsischen" Sprache. Dieses Ergebnis beleuchtet das methodische Konzept von TL. Denn es bedeutet, daß das Kontingente bei der Liebeshandlung nicht das Absolute als Ursache, sondern die Liebe selbst als Realität ist. Allein unter der Voraussetzung, daß es Liebe gibt und beschrieben werden kann, macht die Rede von Gott als Grund des Liebeshandelns Sinn. Und zugleich bedeutet dies, daß das Handeln der Liebe auch tatsächlich nur „beschrieben" werden kann (vgl. das „Vor-

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Vgl. M. Riedel, aaO.; D. Böhler, aaO. 292ff. versucht, den Kausalitätscharakter der herausfordernden Situation mit der intentionalistischen Perspektive mit Hilfe des „quasi-dialogischen Rekonstruktionsmodell(s)" zu verbinden. Danach hat das von der Handlung als solcher unterschiedene Verstehen und Erklären der Handlung den Status eines „Verständlichmachen der Handlung H als Reaktion des Akteurs A auf die Situation" (ebd. 294). Die hermeneutische oder „quasi-dialogische" Leistung, die Böhler hier auf eine metapraktische Ebene verschiebt, scheint mir für TL in den praktischen Sprechhandlungen von Antworten und Fragen selbst zu liegen: Diese Handlungen artikulieren die Wirksamkeit (d.h. kontingente Realität) der Liebe und machen diese damit zugleich praktisch und verstehbar. Die phänomenale Bedeutung von Liebe als realem Gefühl oder Handlung ist von dieser logischen Synthesisfunktion zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Was die phänomenologische Logik oder Aufgabenstellung verlangt, nämlich eine Beschreibungsform, in der die genannte Synthese von Unbedingtheit und Andersheit vollzogen ist, wird erreicht in der Beschreibung von bestimmten Sprechhandlungen.

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2. Kapitel: Das Sollen

wort"), eine Ableitung aber aus anderen Bedingungen für TL unmöglich ist. So zeigt sich erneut, daß die Begründung der Liebe in einem absoluten Sollen zugleich eine unhintergehbare, d.h. geschöpfliche Voraussetzung artikuliert: ein „Können". Und dieses Können muß dann an den Phänomenen der Liebe aufgezeigt werden (s.u. Kap. 3). Die Zirkularität dieser Argumentation ist in diesem Fall ein notwendiger Reflex des Gegenstandes: Liebe kann nicht mehr begründet oder abgeleitet werden, sondern setzt sich selbst voraus121. Und solche Kontingenz charakterisiert die Liebe sowohl hinsichtlich ihrer Vorgegebenheit (als Schöpfungsgabe) als auch ihrer Realisierung durch Handeln. Ist das Reagieren auf ein Unbedingtes nicht als Wirkung einer Ursache zu verstehen, so ist damit jedoch noch nicht erklärt, in welcher Weise denn nun das Gottesverhältnis als Grund oder Anstoß des Handelns verstanden werden kann. Denn diese Funktion ist ja mit der Abwehr eines kausalistischen Verständnisses nicht aufgehoben. Bereits bei der ersten Analyse des Reagierens in III A hatte ich auf die intentionalen Aspekte hingewiesen, die dem Reagieren in der Form des Gehorsams innewohnen. Der unbedingte Gehorsam erwies sich als ein Reagieren auf das Gottesverhältnis und damit auf die unbedingte Handlungsfähigkeit des Anderen. Dieses intentionale Verhältnis zum Unbedingten hat die Rede IV weitergeführt und in der Figur des Fragens expliziert. Die Form des Handelns wird dadurch, wie wir sahen, entscheidend bestimmt: Sie wird sprachgebunden (als praktische Antwort, affektiver Ausdruck und Frage) und damit intersubjektiv wirklich und wirksam. Die Wirksamkeit des Gottesverhältnisses auf das Handeln (Lieben) kann dann aber als teleologische Wirksamkeit (causa finalis) beschrieben werden122. Sie hat zugleich die Form der Artikulation eines Zugrundeliegenden und ist als eine bestimmte intentionale Ausrichtung des Handelns zu beschreiben. Das Gottesverhältnis ist dann nicht eine vorauszusetzende Wirkursa-

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Daß Liebe in diesem Sinn schöpferisch kontingent und apriorisch sei, spricht bereits der Assessor Wilhelm aus: „Sie [sc. die Liebe] trägt wie alles Ewige ein Zwiefältiges an sich, daß sie sich nach rückwärts in alle Ewigkeit hinein voraussetzt und ebenso nach vorwärts in alle Ewigkeit hinein" ( E 0 2 , 45). Allerdings ist diese Auffassung noch nicht theologisch reflektiert. Zur Selbstvoraussetzung der Liebe in TL vgl. K. Nordentoft, Psychology, 369t: Liebe „is .fundamentally' present." G. Fendt, Works, 26 sieht den Sinn der zirkelhaft-tautologischen Argumentation in TL in der maieutischen Funktion, auf diese Weise den Leser zu einer Wahl zwischen unterschiedlichen Praxisformen und deren immanenter Logik zu provozieren. Vgl. C. Taylor, Erklärung, llOff.

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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che, sondern eine bestimmte Handlungsstruktur selbst: das Handeln, sofern es auf das Gottesverhältnis des Geliebten ausgerichtet ist. Als wesentlicher intentionaler Gehalt dieses Bezugs hatte sich die Fähigkeit des Geliebten zum eigenen Liebeshandeln erwiesen. Zugleich aber ist mit der handlungsbegründenden Rolle des Gottesverhältnisses die Tatsache festgehalten, daß TL Liebe nicht als in der Subjektivität selbst begründete Willensbestimmung versteht. Dies genau ist mit der teleologischen Wirksamkeit ausgedrückt, insofern darunter weder ein subjektiver Entschluß noch eine durch das Bewußtsein produzierte Vorstellung verstanden wird, sondern ein Bestimmtwerden des Subjekts durch seinen äußerlich begegnenden Gegenstand. Insofern ist Liebe ein „Trang" und eine „Forderung", und beides sind Ausdrucksformen eines zugrundeliegenden Könnens. Der Grund des Handelns der Liebe ist die Liebe selbst als schöpferische Möglichkeit und Zukunft des intersubjektiven Handelns. Ontologisch beschreibt TL dies als die schöpferische Teleologie, in der die Schöpfungsgabe der Liebe inmitten der gegebenen Bedingungen neue Handlungsmöglichkeiten schafft und gerade so das Vorgegebene zu seinem Ziel führt: „Es gibt deshalb nur einen einzigen Entwurf, der völlig bestimmt ist, das ist die Arbeit selbst, aber das will ja heißen: kein Entwurf ist völlig und unbedingt bestimmt oder könnte es sein. Ebenso ist das Gesetz der Entwurf, die Liebe die Erfüllung und das ganz Bestimmte, in der Liebe ist das Gesetz das ganz Bestimmte. Es gibt nur eine einzige Macht, welche die Arbeit ausführen kann, zu der das Gesetz der Entwurf ist, das ist die Liebe" (116/105).123 Ist in dieser Weise das Gottesverhältnis teleologisch wirksam in Form einer bestimmten intentionalen Handlungsstruktur, so ist damit doch der Aspekt des Gottesverhältnisses als eines ersten unmittelbaren, noch nicht in Wirksamkeit darzustellenden Verhältnisses nicht aufgehoben. Immer wieder hatte die Analyse diese Unterscheidung

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Das Bild vom Entwurf und der Arbeit des Künstlers hat sowohl das Element der Kontinuität als auch das der kontingenten Neuheit im Verhältnis der beiden Schritte. Im Kontext von III A. ist sicherlich einerseits das Bemühen vorrangig, die soteriologische Kontinuität von Entwurf und Arbeit gegenüber allen jenen Versuchen sicherzustellen, die Gesetz und Liebe in einen theologischen Gegensatz bringen wollen. Doch ist mit dieser funktionalen Kontinuität der .Sprung', nämlich das kontingente Anfangen der Arbeit, nicht aufgehoben. Vielmehr scheint mir TL genau an diesem Übergang, d.h. der kontingenten Realisierung von lebensermöglichenden Handlungszusammenhängen, interessiert zu sein. Dem kontingenten Sprung der arbeitenden Liebe und ihrem absoluten Bestimmen des Unbestimmten entspricht dann schöpfungstheologisch der Begriff der creatio ex nihilo.

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2. Kapitel: Das Sollen

von Gottesverhältnis und aktualem Handeln im Text der Reden aufgezeigt. Man kann dies als kategoriale Differenz verstehen und mit den Begriffen Erstheit und Drittheit auszudrücken versuchen. Zwischen Erstheit (dem unmittelbaren Zu-Gott-Gehören qua Geschöpflichkeit) und Drittheit (der Gestaltung dieses Zugehörens im Handeln gegenüber anderen Geschöpfen) steht dann die Ebene der Zweitheit: das relational bestimmte Handlungssubjekt, Intentionalität. Dies ist die Ebene, von der die Beschreibung der Liebe ausgeht. Diese Ebene ist damit auch der Schauplatz der eigentlichen Problematik der Liebe: ihrer Gefährdung durch Formen von Selbstliebe, d.h. von Verabsolutierung der Zweitheit als bloßer, immanenter Gegenseitigkeit. Insofern diese Praxisformen weder ein absolut Unvermittelbares (Erstheit) noch ein durch das Absolute Vermitteltes (Nächstenliebe) kennen, handelt es sich um „weltliche" Praxis. Gegen diese Praxisformen setzt TL eine Beschreibung der Liebe als „Kreisbewegung", die vom Standpunkt des relational Handelnden aus die beiden wesentlichen Bestimmungen zur Ermöglichung des Handelns dialektisch thematisiert: „das Christentum nimmt den Anfang von Grund auf und beginnt deshalb mit der Lehre des Geistes davon, was Liebe sei. Um zu bestimmen, was Liebe sei, beginnt es entweder mit Gott oder mit dem Nächsten, und diese Lehre von der Liebe ist die wesentlich christliche, da man ja von Gott ausgehen muß, um in Liebe den Nächsten zu finden, und da man in der Liebe zum Nächsten Gott finden muß" (155/137f.). Dies bedeutet letztlich: Schöpferische Liebe ist in ihrer trinitarischen Struktur zu verstehen und zu artikulieren: als die Bewegung des Geschöpfes zwischen Gott und dem Mitgeschöpf. Das Ganze dieser dreistelligen Realität und ihres Vollzuges ist dann als Liebe zu bezeichnen. In der Struktur dieser Realität ist der ontologische Ansatzpunkt des Handlungsbegriffs nicht mehr das subjektive Handeln, sondern die Interaktion zweier Subjekte in einer Handlungsbeziehung, theologisch gesprochen: der geschöpfliche Zusammenhang kreatürlicher Freiheit. Theologisch gesehen ist das Primäre nicht die einzelne Handlung eines Subjekts, sondern das Ereignis einer gemeinsamen Praxis im geschöpflichen Handlungsraum. Dieses Kapitel hat versucht aufzuzeigen, wie die Reden III-IV die handlungstheoretische Dimension der Reden II A.-C. aufnehmen und auf die endlichen Bedingungen intersubjektiven Handelns anwendet. Die transzendente Artikulation gelingender Liebe im Liebesgebot hat unter den Bedingungen endlicher Kommunikation die

II. Die intersubjektive Wirklichkeit des Sollens

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Form einer schöpferischen Liebe, die sich in individuellen Handlungen artikuliert, ohne doch in dem Handlungssubjekt selbst zu gründen. Die Sprachform des Liebesgebotes nimmt Gestalt an in den dialogischen Handlungsformen endlicher Subjekte, die intersubjektive Handlungszusammenhänge kontingent erschließen, indem sie deren vorgängige Wirklichkeit ausdrücken. Auf diese Weise ist Liebe der schöpferische Grund von Intersubjektivität als verdanktem Leben. Kierkegaards Handlungsbegriff ist theologisch gedacht, indem er das Unbedingte als eine innerhalb der bestimmten Handlungsbeziehung sich geltend machende sprachliche und intentionale Form identifiziert. Damit unterscheidet er sich sowohl von sprachanalytisch wie auch von transzendentalphilosophisch orientierten Handlungstheorien. Können die erstgenannten i.d.R. mit dem Begriff des Unbedingten nicht viel anfangen, so dürfte Transzendentalphilosophen die Darstellung des Absoluten als einer leibhaft begegnenden, dem Bewußtsein prinzipiell jenseitigen sprachlichen Objektivität als naiver Realismus erscheinen. Dieser Streit, den ich hier nicht weiter verfolgen kann, müßte anhand der Frage durchgeführt werden, ob Kierkegaards Handlungsbeschreibung defizitär bzw. dogmatisch ist, oder ob er nicht im Gegenteil diejenigen religiösen Elemente des Handelns erfaßt, die für einen allgemeinen Begriff des intersubjektiven Handelns unverzichtbar sind.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens: Handeln als Äußerung

In zwei größeren Redenkompositionen wurde bisher dargestellt, wie der Forderungscharakter der Liebe als schöpferischer Grund sprachlich vermittelter Handlungszusammenhänge wirksam wird. Dabei hatte der Gang der Darstellung ein bestimmtes Gefälle gezeigt: Erst nachdem das Sollen der Liebe hinsichtlich seiner vorauszusetzenden ontologischen Form bestimmt war (II: das Sollen ist wirklich als eine transzendente Artikulation der Handlungssituation), konnte auch die konkrete Wirksamkeit dieses Sollens in der sprachlich vermittelten Interaktion endlicher Subjekte thematisiert werden (III-IV: das Sollen ist wirksam, indem es dialogische Handlungszusammenhänge schafft). Die Darstellung beginnt also bei den stärksten Voraussetzungen und bewegt sich von dort aus allmählich auf die Ebene einer Alltagspraxis, die doch in ihrer scheinbaren Unmittelbarkeit gerade von jenen vorher benannten Voraussetzungen lebt. Mit der letzten Rede der ersten Folge geht TL diesen Weg in die Unmittelbarkeit der Alltagserfahrung von Liebe abschließend noch einen Schritt weiter. Jetzt erst kommt das endliche Subjekt der Liebe hinsichtlich seiner reinen, scheinbar unvermittelten Selbsterfahrung zu Wort. „Auf unterschiedliche Weise hat man versucht zu bezeichnen und zu beschreiben, wie die Liebe von jemandem empfunden wird, in dem sie zugegen ist, den Zustand der Liebe, oder wie es ist, zu lieben" (193/170). Damit ist die Aufgabe für die Rede gestellt: Den unmittelbaren, subjektiven Zustand des oder der Liebenden zu beschreiben, die sich als Liebende zwar immer schon in einem Verhältnis zum Geliebten befindet; doch bedeutet diese vorgängige Relationalität eben nicht, daß sie auch im bloß subjektiven Erleben angemessen verstanden wird. M.a.W. es ist die Frage danach, wie im bloß subjektiven Bewußtsein der Liebe von sich selbst der Andere gegeben ist. Diese Aufgabenstellung zielt darauf, daß in der Beschreibung der subjektiven Empfindung der Schein der Unmittelbarkeit weggenommen wird und die vorgängige praktische Vermittlung mit einem anderen Handelnden, wie in den Reden II-IV ausgeführt, zum Vorschein kommt, dies jedoch in einer Form, die der Selbsterfahrung des Subjekts ange-

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

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messen ist. Es ist die Frage nach der intentionalen Struktur des subjektiven Selbstverhältnisses des Liebenden. Denn die pure Faktizität eines Liebesgefühls bedeutet noch nicht, daß das Individuum diesen Zustand auch richtig versteht und damit in angemessener Weise umgeht. Und erst wenn dies gelungen ist, ist das Sollen der Liebe in seiner Wirklichkeit vollständig beschrieben.

1. Die Subjektivität der Liebe als intentionales Unendliche Schuld

Selbstverhältnis:

Die Antwort Kierkegaards auf die Frage nach der Beschreibung des subjektiven Zustandes der Liebe ist der Begriff der „unendlichen Schuld [uendelig Gjeld\". Schuld ist eine deontologische Kategorie. In der Schuld spricht sich ein Sollen aus. Noch vor jeder weitergehenden Explikation können an diesem Begriff bereits einige wesentliche Aspekte der Antwort entdeckt werden: Erstens ist zu beachten, daß die Rede das Schuldig-sein als affektive Bestimmung, als ein Schuldgefühl behandelt. Dies ist natürlich nicht überraschend, wenn nach der subjektiven Erfahrung von Liebe gefragt wird. Damit ist jedoch eine bestimmte Struktur ausgesprochen: Die Affektivität benennt die immer schon vorgängige Bestimmtheit des Subjekts durch eine andere Person oder durch die Liebe zu ihr. „Davon sprechen wir jetzt nicht, daß man durch Empfangen in Schuld gerate. Nein, wer liebt, ist in Schuld; indem er empfindet, daß er von der Liebe ergriffen ist, empfindet er dies so, als sei er in einer unendlichen Schuld" (195/171). Die Beschreibung von Interaktion war das Thema der Reden III-IV. Der Schuldbegriff beschreibt demgegenüber den subjektiven Zustand, das Liebesbewußtsein in seinem Selbstverhältnis, dies aber so, daß sich in der Affektivität dieses Zustandes eine vorgängige intentionale Verwiesenheit des Subjekts ausdrückt. Denn Schuld ist immer Schuld gegenüber einer anderen Person. Im Schuldgefühl drückt sich die normative Struktur eines existierenden personalen Verhältnisses in affektiver Form aus, und zwar für das Subjekt selbst. Nun könnte Schuld ja auch in einem objektiven Sinne verstanden werden: als wertende Beschreibung einer intersubjektiven Beziehung von einer externen Beobachter- oder Richterperspektive aus. Damit wäre jedoch gerade die Funktion des Schuldbegriffs als Zustandsbeschreibung, d.h. als Selbstartikulation der subjektiven Erfahrung von Liebe, ausgeschlossen. Die intentional-affektive Dimension des Schuldbegriffs wird deshalb mit dem Begriff „heilige *Scham" [hellig

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2. Kapitel: Das Sollen

Undseelse]" (195/172) noch stärker betont. Die Provokation, die in der Behauptung der Fundamentalität und der positiven Bewertung dieser Gefühle liegt, wird damit allerdings nur noch verstärkt 1 . Zweitens ist zu beachten, daß der im Schuldbegriff erfaßte subjektive Zustand stets in unmittelbarer Verbindung mit einer bestimmten Handlungsform steht. Dem Schuldgefühl entspricht nämlich als Handlungsphänomen das Geben. Bei der Erörterung des Schuldgefühls sind also immer auch Formen von intentionalen Handlungen mitthematisiert, und zwar solche, die man als Gebehandlungen zusammenfassen kann. Der alltagssprachliche Zusammenhang von Schuld und Geben ist unmittelbar klar: Eine Schuld muß bezahlt werden, indem dem Gläubiger etwas gegeben wird. Das Besondere an der Liebe als geschuldeter Gabe ist jedoch, daß bei ihr das Geben die Form des Unendlichen erhält. „Deshalb kann man sagen, dies sei das der Liebe Eigentümliche: der Liebende kommt dadurch, daß er unendlich gibt - in unendliche Schuld" (195/171). Was es bedeutet, unendlich zu geben, kann allerdings erst später geklärt werden. Die Einsicht, daß für die Rede die Schuld als intentionales Gefühl immer direkt mit inter subjektiven Handlungsformen verbunden ist, bewahrt vor dem Mißverständnis, als ginge es hier ausschließlich um das Selbstverhältnis des Liebenden. Wird dieses Selbstverhältnis als vorgängig intentional bestimmt beschrieben, so entspricht ihm auch immer eine bestimmte, nämlich intentionale Handlungsform 2 . Im Gefühl unendlicher Schuld wird das bloß subjektive Selbstverhältnis als das eines intentional Handelnden thematisch. Umgekehrt ist unendli1

2

Schuld und Scham werden ja nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in der Sozialphilosophie vorrangig als Negativphänomene wahrgenommen. Scham erscheint hier als Form von negativer Selbstbeziehung, von fehlender Selbstachtung und darin als Unterdrückungsmechanismus, vgl. A. Honneth, Anerkennung, 191ff., 222f£ An dieser Stelle muß ich auf die terminologische Abweichung meiner Rekonstruktion gegenüber TL aufmerksam machen: Die Rede verwendet den Handlungsbegriff explizit für das Problem des „Bleibens", d.h. für die Frage, wie der unmittelbare subjektive Zustand der Schuld in raum-zeitlicher Vermittlung (Bewegung) gedacht werden kann (s. 196/172). „Handlung" ist insofern der Begriff der subjektiven Bewegung. Gleichwohl ist diese Bewegung immer schon und auch als intentionale Bewegung und damit als konkrete Handlung auf einen Anderen hin (Geben) zu verstehen. Dieser letztere Aspekt ist es, der in meiner Darstellung gemeint ist, wenn von „Handlung" die Rede ist. Dieser Handlungsbegriff benennt einen Aspekt, der von der an der subjektiven Dimension des Handelns orientierten Begrifflichkeit dieser Rede zwar überdeckt, aber nicht ausgeschlossen wird. Der weitere Verlauf dieses Kapitels wird die enge Verknüpfung beider Aspekte auch für Kierkegaards Text noch deutlicher heraustreten lassen.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

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che Schuld die Beschreibung eines intersubjektiven Handelns, in dem nicht diese Intersubjektivität selbst (also als Dialog von Frage und Antwort) thematisch ist, sondern lediglich die subjektive Seite solchen Handelns 3 . Mit dem bisher Ausgeführten hängt die dritte Leistung des Schuldbegriffs direkt zusammen: Im Schuldbegriff wird der Zustand als Bewegung erfaßt. Der Aspekt der Bewegung hat für die Rede eine mindestens dreifache Relevanz, die anhand der Themaformulierung angedeutet werden kann. „Unsere Pflicht, *gegeneinander in der Schuld der Liebe zu bleiben" (195/172), thematisiert zum einen die Bewegung als „Bleiben", d.h. als kontinuierliche Fortsetzung des Schuldgefühls in zeitlicher Vermittlung. Der zweite Bewegungsaspekt ist mit der Pflicht benannt; eine bestimmte Form des Pflichtbewußtseins wird im Verlauf der Rede als diejenige Instanz herausgearbeitet, die jene erstgenannte Kontinuität erst ermöglicht. Schließlich geht es drittens um die intentionale Bewegung auf den Anderen hin, die in der mit dem Schuldgefühl verbundenen Handlungsform des Gebens impliziert ist. Dies ist die räumliche Vermittlung des unmittelbaren Schuldgefühls. Dieser Aspekt scheint zwar erneut auf den ersten Blick in der Rede semantisch vernachlässigt zu werden, doch ist er in der Themaformel durch die Formulierung der reziproken Schuld („gegeneinander") eindrücklich festgehalten. Die Aufgabe der Rede besteht demnach darin, subjektive Selbstbewegung („bleiben") und intentionale Bewegung („gegeneinander") in ein dialektisches Verhältnis gegenseitiger Voraussetzung zu bringen, das in einem Phänomen affektiver Zustandsbeschreibung („Schuld") gründet, doch in diesem Grund durch den Pflichtbegriff erst noch ausgelegt werden muß. Anders gesagt: „Unendliche Schuld" ist in seiner Wirkung als intentional ausgerichtete Selbstbezüglichkeit, d.h. als raum-zeitliche Bewegung zu beschreiben und dabei durch den Pflichtbegriff zu begründen 4 . Handlungstheoretisch

3

4

Zu dem hier gemeinten Verhältnis von intentionaler Gerichtetheit und Selbstverhältnis vgl. die Intentionalitätsanalysen unter dem Begriff der „mitmachende(n) Reflexion" bei B. Waldenfels, Zwischenreich, lOOff. Es muß festgehalten werden, daß der Schuldbegriff hier zunächst ausschließlich für das intersubjektive Verhältnis gebraucht wird, nicht aber für das Gottesverhältnis. Die Schuld besteht zunächst gegenüber dem bestimmten Anderen, nicht gegenüber Gott. Auch wenn natürlich gerade für das Verständnis von TL diese beiden Verhältnisformen nicht grundsätzlich getrennt werden können (s.u.), ist es doch eindeutig, daß die unendliche Schuld zunächst und noch vor-theologisch als ein allgemein vorfindliches Phänomen der Kommunikation beschrieben wird. Theologische

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2. Kapitel: Das Sollen

geht es damit um das Verständnis von Intentionalität, und zwar in anderer Perspektive als in der Rede IV: War dort Intentionalität hinsichtlich ihrer Äußerungsform beschrieben worden (als Fragen), so wird mit dem Phänomen der unendlichen Schuld danach gefragt, wie die Bezugnahme auf einen anderen Akteur auf derjenigen Beschreibungsebene zu denken ist, auf der diese Bezugnahme für den Handelnden selbst thematisch oder erfahrbar wird. Wenden wir uns nun der Argumentation der Rede zu! In einem ersten Durchgang wird der Bewegungsbegriff geklärt. „Wenn es Pflicht ist, *gegeneinander in der Schuld der Liebe zu bleiben, so muß früh und spät, muß ewig darüber gewacht werden, daß die Liebe niemals bei sich selber verweilt [dvœle ved sig selvj oder sich mit der Liebe anderer Menschen vergleicht, oder sich vergleicht mit ihren Taten, die sie vollbracht hat" (197/173). Das Vergleichen verhindert die Bewegung. Wie ist das zu verstehen? Und welche Bewegung ist dabei gemeint? Es geht um die Frage, wie die Liebe im subjektiven Zustand als Selbstverhältnis zu verstehen ist. Allgemein gesprochen bezieht sich beim Vergleichen das Bewußtsein auf sich selbst, jedoch vermittelt durch ein tertium comparationis, das damit der Maßstab des Vergleichs ist. Bezogen auf die Liebe als Bestimmung des subjektiven Selbstverhältnisses bedeutet dies, daß im Fall des Vergleichens die Liebe erfahren wird durch die Vermittlung einer anderen Größe, zu der sich das Subjekt beobachtend verhält. Im Vergleichen ist die Liebe als Selbstverhältnis fremdvermittelt, nämlich durch endliche Bestimmungen: Geld, Abhängigkeit, empirische Bestimmungen des Gegenstandes. Damit ist sie verendlicht, d.h. sie verliert die Bewegung: sie „verweilt bei sich selbst". Die reflexive Vermittlung der Subjektivität mit sich selbst durch die epistemische Gegenstandsbeziehung ist die zentrale Denkfigur des Deutschen Idealismus5. Im Anschluß an Kants transzendentale Apperzeption ist hier das bewußte Erkennen

5

Interpretationen, die das hier angesprochene Schuldverhältnis sofort auf das Gottesverhältnis anwenden (so etwa H. Friemond, Liebe, 125f.; A. Gr0n, Angst, 141f.), gehen zu schnell vor; die Wirkungsweise dieses Phänomens im konkreten Interaktionsgeschehen wird übergangen zugunsten einer reichlich abstrakten und nur noch reflexiv einzuholenden „Schuld" gegenüber einer ontologischen Struktur (der Macht, die mich geschaffen und mit Liebe ausgestattet hat). Nach Kierkegaards Worten kann ja das Gottesverhältnis nur dann das Ziel der Liebe sein, wenn es auch das Mittel, die „Zwischenbestimmung" ist. Diese Dialektik darf nicht vorschnell zugunsten einer theologischen oder ontologischen Überhöhung der konkreten Liebesverhältnisse aufgehoben werden. Vgl. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein, 50ff.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

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als objektivierend-endliches Weltverhältnis immer eine Funktion des (transzendentalen) Sichselbstwissens oder Sichzusichselbstverhaltens. Umgekehrt erscheint dieses Selbstbewußtsein immer in der Form der bestimmten Gegenstandsbeziehung. Das Vergleichen, von dem Kierkegaard polemisch spricht, ist eine genaue Entsprechung dieser reflexionstheoretischen Grundfigur; es kann als eine (nichttranszendentale) Form des praktischen Selbstverhältnisses verstanden werden, welche die Struktur des epistemischen Gegenstandsverhältnisses in das praktische Selbstverhältnis hineinträgt. Das Vergleichen ist das praktische Äquivalent der Reflexion 6 . Im unendlichen Kreisen des Vergleichens werden sowohl das vergleichende Subjekt als auch der als Vergleichspunkt dienende Andere vergegenständlicht, verendlicht. Und doch muß eben auch die Liebe, insofern sie subjektiv erlebt wird, als Selbstverhältnis, damit aber als durch Weltverhältnisse vermittelte Beziehung beschrieben werden. Wie kann dann eine Verendlichung, also die Abhängigkeit der Liebe von externen Bestimmungen, vermieden werden? Die Lösung liegt darin, die Liebe als Selbstvermittlung zu verstehen, indem der Gegenstand, auf den sich die Subjektivität bezieht, durch die Liebe verunendlicht wird: „Denn unendlich sich selbst ihr Gegenstand zu sein, *heißt in der Unendlichkeit zu bleiben und insofern nur gegenwärtig zu sein oder fortzufahren, gegenwärtig zu sein, da die Liebe in sich selbst eine Verdoppelung [Fordoblelse] ist" (201/176). Die Selbstverdoppelung ist Identität in der Bewegung, d.h. in Vermittlung mit dem Nichtidentitschem, dem Anderen 7 . Verdoppelung als Selbstverdoppelung ist also eine Form 6

7

Dieser Zusammenhang zwischen dem Reflexionsmodell und der Praxis des Vergleichens spielt eine wichtige Rolle in Kierkegaards Gesellschaftsanalyse seit 1846, vgl. LA, 86: „Die Reflexionsspannung stellt sich zuletzt als Prinzip auf, und wie in einer leidenschaftlichen Zeit Begeisterung das einigende Prinzip ist, so wird in einer leidenschaftslosen und stark reflektierenden Zeit Neid das negativ-einigende Prinzip [...] die Idee der Reflexion, falls man so sagen darf, ist Neid". Kurz vorher heißt es über das Autoritätsverhältnis zwischen Vater und Sohn: „[...] das Verhältnis ist ein Problem geworden, in welchem die Partner gleich wie im Spiel •einander beobachten [passe paa hinanden], anstatt sich zu einander zu verhalten, die Äußerungen des Verhältnisses sich gegenseitig, wie man so sagt, in den Mund zählen, anstelle der entschlossenen Hingabe in dem Verhältnis" (ebd. 84)! Zum Begriff des Vergleichens vgl. besonders die drei Reden über die „Lilien auf dem Felde" in ERG, 163f£ Zur Interpretation von Kierkegaards Neidbegriff im Kontext seiner Gesellschaftskritik vgl. K. Nordentoft, Brand-Majoren, 38ff.; J. Elrod, Christendom, 109ff. Zur Unterscheidung von „unmittelbarem epistemischem Selbstbewußtsein" und „praktischem Sichzusichverhalten" vgl. E. Tugendhat, aaO. 27ff. Vgl. Hegels Begriff der „Verdoppelung des Selbstbewußtseins" (Phänomenologie, 126f.). Diese Verdoppelung ist für Hegel die „Wahrheit" des Selbstbewußtseins:

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2. Kapitel: Das Sollen

der Selbstbeziehung, die vermittelt ist über einen Gegenstand, der einerseits wiederum identisch ist mit dem Subjekt, andererseits aber auch davon unterschieden, nämlich „unendlich" ist8. Jede undialekti-

8

Das Selbstbewußtsein kommt erst in der Anerkennung durch ein anderes Selbstbewußtsein zu sich selbst. Liest man Kierkegaards Begriff der Verdoppelung in ΤLI y von Hegels Selbstbewußtseinstheorie her, so bedeutet dies für das Verständnis des Begriffs in unserer Rede: 1. Der intentionale Bezug auf ein Anderes, der von der Rede zunächst nur indirekt angesprochen wird, gehört für Kierkegaard originär zum (spekulativen) Begriff der Verdoppelung als subjektivitätstheoretischem Begriff hinzu. 2. Die Thematik, die sich bei Hegel mit dem Verdoppelungsbegriff verbindet, nämlich die Begründung des Selbstbewußtseins im intersubjektiven Prozeß reziproker Anerkennung, wird von TL nicht in der Rede V ausgeführt, sondern war bereits Gegenstand der Reden II-IV. Diese architektonische Differenz deutet darauf hin, daß Kierkegaard die Subjektivitätsthematik in TL anders ansetzt als Hegel: Das Selbstbewußtsein wird nicht als der Grundstein von Sozialität behandelt, so daß soziale Praxis als ganze nach dem Modell des Selbstbewußtseins verstanden wäre; sondern Subjektivität wird nach der Thematisierung des intersubjektiven Handelns und zunächst in bewußter Abstraktion von Intersubjektivität als reines Selbstverhältnis eingeführt. Zwar wird durch den Verdoppelungsbegriff sofort die soziale Bezogenheit auch dieser unmittelbaren Subjektivität ausgesagt, doch bleibt diese Bezogenheit stets innerhalb einer wesentlichen Unbestimmtheit (s.u.). Der intentionale Bezug auf einen Anderen, der ja solange nicht aufgegeben werden kann, wie es sich um Liebe handelt, wird in dieser Rede gewissermaßen streng von innen heraus, ganz aus der einseitigen Sicht des auf sich selbst bezogenen Subjekts beschrieben. Dies bedeutet nicht, daß die methodische Vorordnung des Verhältnisses (Intentionalität) aufgegeben und vom Außenbezug solipsistisch abstrahiert würde; vielmehr wird die intentionale Bezogenheit der Subjektivität nicht als immer schon in konkreten Anerkennungsverhältnissen realisiert verstanden, sondern sie wird gewissermaßen in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen und am Ort der Subjektivität aufgezeigt. Diese kategoriale Eigenständigkeit der „Unmittelbarkeit" oder „Unschuld" verteidigt auch Vigilius Haufniensis gegenüber dem Sog der Hegelschen Dialektik, s. BA, 32f£! Eine ausführliche Analyse des Verdoppelungsbegriffs in Kierkegaards Werk gibt J. Ringleben, Aneignung, 374f£, auch mit Bezug auf unseren Text (ebd. 382t). Die Formulierung, „unendlich sich selbst ihr Gegenstand zu sein", suggeriert den Eindruck, als ginge es allein um das Selbstverhältnis und damit die Selbstobjektivierung der subjektiven Liebe. Die durch den Unendlichkeitsbegriff hergestellte Pointe liegt jedoch gerade darin, diese Selbstobjektivierung aufzulösen zugunsten eines veränderten Verhältnisses zum anderen Subjekt. Die unendliche Selbstbezogenheit ist, so wird sich zeigen, eo ipso die Bezogenheit auf einen Anderen. Die Schwierigkeit der Darstellung ist es, daß dieses neue Gegenstandsverhältnis vom Selbstverhältnis aus aufgezeigt werden soll. Diese Schwierigkeit hat ihren Grund darin, daß Kierkegaard mit der Figur der Selbstgegenständlichkeit als Verdoppelung ein Modell der Reflexionsphilosophie auf eine Fragestellung anwendet, die nicht mehr im Horizont dieser Philosophie liegt: die Frage, in welchen Formen sich eine - vorgängige - intersubjektive Beziehung für einen der betroffenen Subjekte zum Ausdruck bringt.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

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sehe Identität von Subjekt und Gegenstand wäre verendlichend. Bezogen auf die Subjektivität ist die Verdoppelung eine Einheit von Identität und Über-sich-Hinausgehen und damit ein Bewegungsbegriff: „unendlich bei sich selbst verweilen, heißt gerade sich bewegen" (201/177). Doch damit ist zugleich ein bestimmter Intentionalitätsbegriff gesetzt: Die subjektive Liebe bezieht sich innerhalb ihres Selbstverhältnisses auf den sinnlich-endlichen Gegenstand nicht als auf ein endliches, d.h. quantitativ bestimmbares Objekt, das wiederum als tertium comparationis das Subjekt ebenso endlich bestimmbar macht. Vielmehr ist die Beziehung zu diesem Gegenstand durch überhaupt keine endlichen Bestimmungen vermittelt, sondern sie ist durch die Liebe selbst konstituiert, durch die Liebe selbst vermittelt, und das bedeutet, daß der Gegenstand als nicht-vermittelter, und d.h. als unendlicher konstituiert wird. Was aber bedeutet diese Unendlichkeit des Gegenstandes? Dies erschließt sich in einer Analyse der Handlungsform des Gebens. Vergleicht man das Geben der Liebe mit einer äußerlich äquivalenten Gebehandlung, die aber nicht aus Liebe geschieht, sondern etwa aus einem Lohnverhältnis heraus, so findet man, dies ist die Behauptung Kierkegaards, zwei Unterschiede: Erstens ist trotz der Identität „in der Summe ihrer Leistungen und Dienste für den Verstand" (199/175) die Gabe eine andere: der Liebende gibt außer der konkreten Leistung noch die Liebe selbst als „Zugabe" mit (ebd.). Es wird nicht klar, worin diese Zugabe genau besteht, ob in einer bestimmten affektiven oder normativen Qualität der Handlung. Doch diese Unbestimmtheit der Deskription gehört wesentlich zur Liebesgabe dazu. Denn mit der „Zugabe" ist die Selbstvermittlungsstruktur der Liebe ausgedrückt: Die Liebe ist in diesem Fall nicht nur der subjektive Handlungsgrund, sondern zugleich auch die sichtbare Handlung oder Äußerung selbst, d.h. die Form der Beziehung zum Gegenstand. Die Liebe ist in diesem Sinn eine „expressive action", in der sich ein Handlungsgrund selbst mitteilt9. Solche Selbstvermittlung ist zugleich eine Form von Unmittelbarkeit, und dies ist der zweite Unterschied gegenüber einer endlichen Gebehandlung: „Wer wirklich liebt, hat stets einen Vorsprung, und zwar einen unendlichen Vorsprung, denn jedesmal, da der andere [sc. der, der ebenfalls gibt, aber nicht als Lie9

Die Dialektik von Unbestimmtheit und konkreter Erfahrbarkeit ist konstitutiv für das „Wie" der Liebestat, wie bereits in den Reden I und III B. deutlich wurde; auch dem Aspekt der expressiven Selbstmitteilung des Subjekts sind wir bereits begegnet, nämlich bei der Erörterung des Gewissens.

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2. Kapitel: Das Sollen

bender] eine neue Äußerung der Hingebung ergründet, errechnet, entdeckt hat, hat der Liebende sie bereits ausgeführt, weil der Liebende keiner Berechnung bedarf, und also auch keinen Augenblick für die Berechnung vergeudet" (200/176). Der hier angesprochene Vorsprung bezeichnet nicht eine zeitliche Quantität, sondern beschreibt unter dem Aspekt der Zeit die Selbstvermittlung als Unmittelbarkeit. Auch diese Unmittelbarkeit kann als Unbestimmtheit verstanden werden: als eine konkrete Wirklichkeit, die nicht durch Begriffe des Quantitativ-Endlichen erfaßt oder abgebildet werden kann. Es ist widersprüchlich, solche nicht-quantitative Unmittelbarkeit oder Unbestimmtheit direkt aufweisen zu wollen, so wie es der naive Realismus der Schilderung an dieser Stelle nahezulegen scheint; genau dies wäre ja ein Vergleich. Diese Beschreibung erhebt keinen objektiven Anspruch, sie ist nicht „für den Verstand", der nur vergleichen und bestimmen kann; sondern sie steht innerhalb der Selbstvoraussetzung der Liebe, ist allein Explikation des subjektiven Zustands der Liebe. Doch dieser Zustand spricht sich gerade als intentionale Form (Geben) und damit als konkret-praktische Gestaltung einer intersubjektiven Handlungsbeziehung aus10. Der Bewegungsbegriff der Verdoppelung meint also einen Begriff des subjektiven Selbstverhältnisses, in dem das Subjekt als Liebe durch die Liebe mit sich selbst vermittelt wird und damit zugleich einen Gegenstandsbegriff etabliert, in dem der Andere als unendliche, d.h. nicht-identische Identität mit dem Subjekt gegeben ist11. Dies ist 10

11

Der Begriff des Gegenstandes ist ambivalent. Denn der Gegenstand des Vergleichens, an dem sich also der Liebende mißt, ist doch nicht identisch mit dem Gegenstand des Liebens selbst, eben der oder dem Geliebten. Allerdings läßt sich diese Differenz für den Begriff der Verdoppelung nicht ebenso behaupten. Hielte man jene Differenz für den Unterschied zweier grundsätzlich verschiedener Gegenstandsbegriffe, so müßte man es im Sinne des Textes für möglich halten, daß jemand sich einerseits vergleichend auf andere, nichtgeliebte Mitmenschen bezieht und zugleich zu einer Liebe im Sinne der Verdoppelung gegenüber seiner Geliebten fähig ist. Solch eine Trennung ist aber für Kierkegaards Verständnis kaum vorstellbar. Die Unklarheit kommt m.E. dadurch zustande, daß meine Interpretation den im Verdoppelungsbegriff implizierten positiven Begriff des Gegenstandes stärker herausstellt, als der Text es selbst explizit tut. Das Eigentümliche dieses Gegenstandes aber ist ja gerade, daß er „unendlich", unbestimmt ist und die Rede auch nur in dieser Weise über ihn sprechen kann. „Ein Gegenstand ist als endlicher fester Punkt, als Grenze und Aufenthalt, eine gefährliche Sache für die Unendlichkeit" (201/176). Wird die besondere, von den vorhergegangenen Reden zu unterscheidende Aufgabenstellung der Rede V nicht beachtet, so wird auch nicht klar, inwiefern sich der Begriff der Verdoppelung von dem in II B.-C. kritisierten Begriff des verdoppelten

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

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der subjektivitätstheoretische Begriff einer Handlungspraxis, die den Raum der intersubjektiven Bestimmungen durch eine fundamentale Unbestimmtheit gestaltet. Und die darin enthaltene Verschränkung von Selbstvermittlung und Intentionalität ist die Struktur des Phänomens „unendliche Schuld". Die Erörterung des Bewegungsbegriffs dient in der Rede dazu, eben diese Struktur des Schuldgefühls als solche anschaulich zu machen, d.h. die deontologische Form des Schuldgefühls herauszustellen. Der Forderungscharakter des Schuldgefühls impliziert eine Bewegung. Die Praxis des Vergleichens zerstört das Schuldgefühl und damit die Praxis einer intentionalen Selbstbeziehung. Vergleichen verendlicht das Handeln, indem es die Unbestimmtheit eliminiert und Handeln ausschließlich als etwas Bestimmtes konstitutiert. Gegen diese Gefahr muß die Bewegungsstruktur thematisch und damit bewußt werden. Denn das Vergleichen verliert die Bewegung und damit zugleich den intentionalen Bezug auf den Anderen als Anderen, d.h. das Vergleichen ist die lieblose Form des Selbstverhältnisses: „Was verliert der Vergleich stets? Er verliert den Augenblick, der Augenblick, der mit einer Äußerung des Lebens der Liebe erfüllt sein sollte [...] Einen Augenblick verloren, so ist die Kette der Ewigkeit [Evighedens Kjœde] *zerbrochen, einen Augenblick verloren, so ist der Zusammenhang der Ewigkeit zerstört, einen Augenblick verloren, so ist das Ewige verloren [...] Der Augenblick des Vergleichs ist nämlich ein selbstischer Augenblick, ein Augenblick, der ßr sich sein will; eben dies ist der Bruch, ist der Fall - wie der Pfeil fällt, wenn er bei sich selbst verweilt" (202/178). Die Bewegung, in welcher die intentionale Bezogenheit auf einen Anderen konstituiert wird, die Bewegung der unendlichen Schuld, muß als Einheit und Zusammenhang gedacht werden; dafür steht der Ewigkeitsbegriff 12 . Ewigkeit als Selbstverdoppelung ist die Einheit einer

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oder „anderen Ich" unterscheidet (s.o. Kap. 2,1.). Die Kritik des verdoppelten Ichs bezieht sich auf die Konzeptualisierung der intersubjektiven Begegnung, während die Thematik von V von dieser (vorgängigen) Intersubjektivität methodisch abstrahiert und mit dem Verdoppelungsbegriff allein das Subjekt hinsichtlich seines Selbstverständnisses in dieser Begegnung beschreibt. In affirmativer Weise wird allerdings der Verdoppelungsbegriff gebraucht, wenn „der Nächste" als „Verdoppelung deines eigenen Selbst" (25/26f.) definiert wird, vgl. hierzu J. Ringleben, aaO. 384. Der Unterschied dieser beiden Verdoppelungen liegt in der Differenz von endlichem, d.h. selbstbezogenem, und unendlichem, d.h. nach außen bezogenem Subjekt. Ringlebens Analyse des Verdoppelungsaspekts beachtet allerdings die Kritik des verdoppelten Ich nicht. Der Zusammenhang von Intentionalität und Ewigkeit wird im Begriff Angst im „bildlichen Ausdruck" vom „Augenblick" beschrieben, s. BA, 88f£, vgl. dazu H.

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2. Kapitel: Das Sollen

intentionalen Bewegung zwischen zwei Subjekten. Und diese Einheit kann selbst nicht mehr bestimmt werden. Natürlich ist auch das Vergleichen auf den Anderen bezogen, so daß man auch hier von Intentionalität sprechen könnte. Doch als endliche Beziehung zum Gegenstand ist das Vergleichen ja gerade darin Unterbrechung und Stillstand, daß diese Praxis nicht auf den Anderen als Anderen ausgerichtet ist, sondern auf sich selbst mittels des Anderen. In diesem Sinne ist das Vergleichen nicht unendlich intentional, sondern „selbstisch": Die Beziehung zum Anderen wird nicht in ihrer unbestimmten, ewigen Einheit verstanden und deshalb auch nicht als Bewegung zum Anderen vollzogen 13 . Der Vergleich verfehlt den Begriff von Intentionalität, um den es Kierkegaard geht: das objektive Gegebensein eines unbedingt Anderen für das Subjekt, dessen Realität nicht auf das reflexive Selbstverhältnis dieses Subjekts reduziert oder von dort aus deduziert werden könnte. Die rhetorische Leistung des Bewegungsbegriffs („Verdoppelung") liegt also darin, die Verschränkung von Selbst und Anderem, von Selbstverhältnis und Intentionalität im gegebenen Phänomen der unendlichen Schuld aufzudecken und sie so dem Leser bzw. dem unmittelbar durch das Schuldgefühl bestimmten Liebenden bewußt zu machen; denn dieser schwebt stets in der Gefahr des Vergleichens. Die Gegenüberstellung von Vergleichen und Verdoppelung erhebt die immanent-unthematische Sollensstruktur des Gefühls unendlicher

13

Deuser, Kierkegaard, 125f. Im selben Zusammenhang wird auch die Bedeutung der dialektischen Einheit von Augenblick und Ewigkeit für die Einheit der zeitlichen Sukzession (Bewegung) erörtert. Das Ewige wird als das Zukunft und Vergangenheit integrierende „Gegenwärtige" {BA, 88) im Augenblick geschichtlich: „Solchermaßen verstanden ist der Augenblick nicht eigentlich Atom der Zeit, sondern Atom der Ewigkeit" (ebd. 90). Dieses Verständnis von Zeit und Ewigkeit kann für das Verständnis von TL1,V fruchtbar gemacht werden, wenn man auf die im Bewegungsbegriff gegebene zeitliche Verfaßtheit von Intentionalität achtet. In dem so beschriebenen Unterschied von endlich-vermittelnder und unendlicher Intentionalität kann man den normativen Gehalt des kategorischen Imperativs wiedererkennen: die Forderung, die andere Person „jederzeit zugleich als Zweck, nicht bloß als Mittel" zu gebrauchen" (I. Kant, Werke VII, 61). Doch zugleich zeigt sich die Differenz des Kierkegaardschen Ansatzes gegenüber Kant: Kierkegaard kann die normative Struktur nicht als „reines" Vernunftgebot deduzieren, sondern er setzt phänomenologisch an, nämlich bei der vorfindlichen Beziehung zweier Akteure. Alle normativen Gehalte müssen von solchen Phänomenen aus entwickelt werden, in denen sich diese Beziehung dem Beobachter zu erkennen gibt. Deshalb muß der kategorische Imperativ in Kierkegaards Perspektive auch als eine bestimmte raum-zeitliche Struktur formuliert werden: als die Bezugnahme auf eine andere Person in einer (raum-zeitlichen) Bewegung.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

201

Schuld zur expliziten Forderung. Damit erhebt sich natürlich ein Widerspruch: Wie kann das Unbestimmte thematisch werden, ohne damit zugleich wiederum bestimmt zu werden? Geht nicht in der Kommunikation des Unbestimmten als Sollen (Bewegung) dieses selbst gerade verloren? Denn eine Sollensforderung ist ja immer eine bestimmte. Aber andererseits ist die Mitteilungsform der Forderung unverzichtbar. Denn der bloße Hinweis auf die Unendlichkeit der Bewegung im Schuldzustand bannt noch nicht ein Mißverständnis, das am Romantiker sichtbar wird. Dieser kann nämlich genau denselben Begriff der unendlichen Schuld zur Beschreibung der Liebe nichtdeontologisch verwenden: als „Schwärmerei" (s. 207f./181f.). Der Bewegungscharakter ist zunächst eine allgemeine anthropologische Struktur von Affektivität, die bei allen wesentlichen Formen von „Begeisterung" zu finden ist14. Der subjektive Zustand unendlicher Schuld ist also in seinem phänomenalen Bestand erst aufgeklärt, wenn die deontologische Struktur der affektiven Bewegung zur Form des Selbstbewußtseins, zum Pflichtbewußtsein wird. Doch auch ein solches Pflichtbewußtsein muß das Unbestimmte an sich haben oder als Unbestimmtes kommunizierbar sein, wenn die Unendlichkeit des Verhältnisses als Unendlichkeit zum Ausdruck kommen soll. Diese Form des Selbstverhältnisses findet Kierkegaard in dem Phänomen, das er „Ernst" nennt.

2. Die subjektive Artikulation

der Intentionalität:

Ernst

Auf dieser Ebene der Fragestellung geht es nicht mehr um die semantische Analyse eines gegebenen Gefühls, sondern um die Praxis, in der sich dieses Gefühl artikuliert, die Forderung der Schuld also explizit ausgesprochen wird. Der Streit mit der romantischen Schwärmerei ist nämlich erneut ein Streit um die rechte, d.h. um die der Liebeserfahrung angemessene Sprache. Der Satz „Liebe ist, in einer unendlichen Schuld zu bleiben" ist die Sprachform, in der sich die Liebe als subjektiver Zustand selbst artikuliert. Doch kann dieser Satz so gesagt werden, daß er die in seiner Semantik enthaltene Bewegung verliert. Zu einem solchen performativen Widerspruch kommt es, wenn er als „Schwärmerei" und „überschwenglicher Ausdruck" (207/182) gebraucht wird, in einer Redeweise, die sogar

14

Vgl. die Analyse der Begeisterung in 203ff./179f.

202

2. Kapitel: Das Sollen

schwärmerisch von der Pflicht sprechen kann (ebd.). In diesem Fall wird der Zustand als Zustand artikuliert. Das bedeutet erstens den Verlust des im Gefühl gegebenen Sollenscharakters und zweitens eine reine Selbstbeziiglichkeit (insofern handelt es sich um „Trunkenheit", ebd.). Der Zustand als Zustand verfehlt die Bewegung und damit die Intentionalität des Zustandes. Die christliche Sprachpraxis dagegen „sagt das ganz anders. Das Christentum macht überhaupt kein Aufhebens davon, es wird nicht, wie die bloß menschliche Auffassung der Liebe, von dem Anblick überwältigt, nein, es spricht ebenso ernsthaft darüber, wie von dem, was der bloß menschlichen Begeisterung völlig ungleichartig erscheint" (ebd.). Die Affektivität des Ernstes bedeutet, so ist die Behauptung, den Zustand als Bewegung zu kommunizieren. Dies geschieht durch ein Absehen von endlichen Bestimmungen des Gegenstandes („von dem Anblick überwältigt"), ohne daß dadurch eine intentionale Ausrichtung auf den Gegenstand ausgeschlossen wäre. Die Verunendlichung des Gegenstandes, wie sie im unendlichen Schuldgefühl bereits ausgedrückt ist, wird durch den Ernst hinsichtlich der Erscheinungsform und kommunikativen Praxis dieses Gefühls geleistet. Der Ernst ist die Artikulationsform des Gefühls unendlicher Schuld. Im Ernst ist die Sprache des Gefühls zugleich (subjektive!) Handlung, insofern er den subjektiven Zustand in seiner Struktur intentionaler Bewegung zur Sprache bringt. Was aber ist hier mit „Ernst" gemeint? Erstens handelt es sich dabei wiederum um eine Form subjektiver Affektivität. Es ist das Gefühl eines Zwanges, mit dem die subjektiv-zuständliche Liebe in Bewegung gehalten wird (208f./183). In Bewegung halten bedeutet dabei lediglich, daß im Ernst das Subjekt versteht, „daß es in jedem Augenblick eine Aufgabe gibt" (ebd.); die Aufgaben als solche haben konkret-endlichen Charakter 15 . Als solcher Zwang ist der Ernst zugleich das Bewußtsein einer „höhere(n) Macht über sich", d.h. „nur das Gottesverhältnis ist Ernst; das Ernsthafte ist eben, daß die Aufgabe auf ihren Gipfel gezwungen wird, weil derjenige da ist, der mit der 15

Diese sachliche Beschränkung entspricht der Beschränkung der Beschreibungsperspektive auf die bloße Subjektivität. In II-IV dagegen stand gerade die Aufgabe (d.h. der Gegenstand) in ihrer endlichen Konkretion im Mittelpunkt der Erwägungen, d.h. dort ging es um das Verstehen des Anderen (als Nächster, als absolut Anderer). In V ist der Gegenstand primär hinsichtlich seines Gegebenseins für das Subjekt thematisch. Dies schließt offensichtlich nicht aus, daß auch hier ein hermeneutischer Begriff des Gegenstandes auftaucht, s. die Bemerkungen über die Unendlichkeit als „Wechselverhältnis" (200/176).

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

203

Macht der Ewigkeit zwingt, das Ernsthafte ist, daß die Begeisterung Macht über sich und Zwang auf sich hat" (210/184). Der Ernst kann überhaupt nur zwingen, insofern er ein dem subjektiven Bewußtsein Transzendentes oder Anderes vermittelt. Damit ist aber im Ernst das Bewußtsein wiederum intentional strukturiert. Und damit ist die zweite wesentliche Funktion des Ernstbegriffs genannt: Im Ernst erhält die Intentionalität des Handelns ihre absolute, d.h. „ewige" Form. Der in der Semantik der unendlichen Schuld mitgesetzte Gegenstandsbezug wird in der Artikulation als Ernst zum Moment des Gottesverhältnisses: „das Schuldverhältnis wird überführt in das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Gott übernimmt sozusagen liebevoll die Forderung der Liebe; der Liebende gerät dadurch, daß er einen Menschen liebt, in eine unendliche Schuld - er kommt aber wieder in ein Verhältnis zu Gott als dem Vormund des Geliebten" (209/183). Mit der Vormundschaft ist ausgedrückt, daß hier nicht Gott den anderen Menschen als Gegenstand des Handelns ersetzt: Vielmehr ist mit „Gott" eine bestimmte Qualität gerade der konkretendlichen Handlungsbeziehung gemeint: „Gott" als Inhalt subjektiver Selbstbeziehung („Ernst") vermittelt das Subjekt mit seinem Gegenstand, indem Gott „die Liebe in die Welt hinaus(schickt), unablässig beschäftigt mit Aufgaben" (209/184). Liebe kann als Entäußerungsbewegung verstanden werden, wenn es ein absolutes Kraftzentrum dieser Bewegung gibt: Gott als „Richter" (ebd.)16. In der unendlichen Schuld wurde der Gegenstand verunendlicht und so überhaupt erst als Gegenstand der Liebe konstituiert; und ebenso wird im Ernst als der kommunikativen Praxisform dieses subjektiven Zustandes der Gegenstand auf der Ebene des sprachlichen Selbstbewußtseins17 dem Subjekt aufgeschlossen18. 16

17

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Die Richtermetapher hier ist nicht primär forensisch gemeint, sondern als Quelle der Handlungsbewegung. Eine ähnliche Formulierung findet sich in 178/156. Dies bedeutet, daß hier theologisch nicht die Rechtfertigungsproblematik im Vordergrund steht, sondern die schöpfungstheologische Frage nach der Handlungsermächtigung. Am Ernst als affektiver Äußerung kann man sehen, daß Kierkegaard das Selbstbewußtsein nicht als transzendentale Entität versteht. Das Selbstbewußtsein als Selbstverhältnis ist vielmehr allein in seinen Äußerungen und damit in seiner Sprache zu beschreiben, und allein in seinen Äußerungen nimmt das Subjekt einen reflexiven Stand zu sich selbst ein; vgl. erneut C. Taylors Begriff der „expressive action" als bedeutungstheoretischen Grundbegriff. Das Verhältnis der beiden Hauptteile der Rede kann auch unter den Stichworten „Unendlichkeit - Ewigkeit" beschrieben werden: Die unendliche Schuld ist ein Naturphänomen, ist die normative Substanz der noch nicht als christlich beschriebe-

204

2. Kapitel: Das Sollen

Der Emst ist damit eine affektive Form von Intentionalität, insofern er das Selbstbewußtsein mit dem Bewußtsein von einem Anderen vermittelt. Im Ernst erfährt sich das Subjekt als immer schon intersubjektiv vermittelt19, dies aber in der Weise einer unendlichen Vermittlung, die sich im Endlichen als Unmittelbarkeit oder Unbestimmtheit widerspiegelt. Wie sich der Ernst phänomenal äußert, kann nicht direkt aufgewiesen werden; denn es handelt sich ja gerade um eine Form der negativen Unbestimmtheit im Absehen von allen Bestimmungen (analog zur Unbestimmtheit der Selbstvermittlung bei der unendlichen Schuld)20. Deshalb scheint es angemessener zu sein, den Ernst nicht nur als eine bestimmte Gefühlsform zu verstehen, sondern primär als eine Form der Sprache der Liebe. Denn die Rede schildert den Ernst als eine Äußerung, eine Weise des Sprechens über die Liebe, oder besser: als eine Sprachform, in der sich die subjektive Liebe als Bewußtsein unendlicher Schuld selbst ausdrückt und damit reflexiv wird. Diese Selbstartikulation der subjektiven Liebe ist, einmal ausgesprochen, sowohl für andere als auch für das Subjekt da; sie schafft einen „öffentlichen Raum" (C. Taylor). Der Ernst ist die Stufe der sprachlichen Reflexivität der unendlichen Schuld. Ernst ist nicht direkt aufzuweisen, doch kann er funktional beschrieben werden als diejenige Form subjektiver Artikulation, in der das Subjekt sich als vorgängig intentional auf einen Anderen bezogen erfährt und ausspricht21.

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nen, unmittelbaren subjektiven Liebe. Doch auf der Ebene der Reflexion (bzw. des Selbstbewußtseins) muß diese Unendlichkeit vor sich selbst, d.h. vor dem romantischen Mißverständnis bewahrt werden. Und diese Bewahrung erfolgt durch den „Ernst der Ewigkeit" (208/183). Natürliche und christliche Liebe stehen also nicht in einem Gegensatzverhältnis, sondern in einem Verhältnis von Voraussetzung und Bewahrung, von Schöpfung und Erlösung. Dieses Schema und das Begriffspaar Unendlichkeit - Ewigkeit läuft als ein Grundmuster durch das ganze Buch. Diese kommunikative Dimension der „höheren Macht" blendet M. Theunissen aus, wenn er den Ernst anläßlich dieser Erörterung in TL lediglich als dialektische Vermittlung von Selbstbeschränkung und Selbstbemächtigung interpretiert {Ernst, 56). An einer späteren Stelle wird die negative Entsprechung zum christlichen Ernst geschildert, nämlich der bürgerliche Ernst, s. 352f./306f. Das entscheidende Merkmal dieses falschen Ernstes liegt, wie wir sehen werden, gerade darin, daß in ihm Handeln allein durch eine bestimmte, quantitative Größe vermittelt wird, nämlich durch Geld: „Geld, Geld, das ist Ernst" (353/307). Was dem Geldernst fehlt, ist Unbestimmtheit, d.h. Unendlichkeit der Bewegung. Die Pseudonyme schildern den Ernst als Element der Gestaltung von Kommunikation, v.a. im Mittel der Ironie, s. M. Theunissen, aaO. 73ff. Demgegenüber wird in TLl,y Ernst gewissermaßen als der Vorbegriff zu dieser Mitteilungspraxis, nämlich als Selbstartikulation der Subjektivität entwickelt; der Aspekt der Gestaltung von Kommunikation wird hier nicht ausdrücklich thematisiert.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

205

Damit ist aber andererseits Ernst als artikulierte Reflexivität auch eine Handlung, insofern in ihm die Aufgabe des intentionalen Handelns nicht nur sprachlich ausgedrückt wird, sondern zugleich allein in dieser Artikulation als Aufgabe real, nämlich eine leibliche Bewegung ist. Der Ernst ist als Sprache des Sollens zugleich die reale Bewegung des Sollens, nämlich die kommunikative Bewegung auf den Anderen hin. Ernst ist als Selbstartikulation des Subjektiven zugleich die Form des intersubjektiven Handelns. Diese Identität gilt nur, wenn der Ernst als die Unbestimmtheit des Handelns artikuliert wird, d.h. wenn das Handlungsverhältnis als intentionale Bewegung die Selbstvermittlung des Unendlichen, also eine Unbestimmtheit im Medium des Endlichen darstellt. Dies aber ist für den Ernst der Fall, insofern in ihm erschlossen ist: es ist Gott, d.h. die Liebe selbst, der die Liebe „in die Welt hinausschickt". Eine Trennung von (Selbst-)Bewußtsein und leiblich-empirischer Handlung ist im sprachlichen Begriff des Ernstes - erneut vermieden. Die sprachliche Form, in der sich das Selbstbewußtsein als Liebe artikuliert, ist zugleich die Erfahrungsform, welche das intersubjektive Handeln dieser Liebe konstituiert. Insofern liegt gerade und allein im Ernst die Differenz gegenüber einer weltlichen Äußerung der unendlichen Schuld als Pflicht; denn allein durch den Ernst ist die Pflicht nicht nur subjektiver „Ausdruck" oder „Auffassung", sondern auch ein „Handeln [,Handling]" (208/182). Das Schuldig-sein allein als Ausdruck verstanden ist dagegen „Schwärmerei", d.h. ohne intentionale Bewegung (s.o.). Umgekehrt kann der Ernst als diejenige affektive Ausdrucksform oder Sprachhandlung beschrieben werden, in der das bestimmt-konkrete Handeln (Geben) als ein Mitteilen von schöpferischer Unbestimmtheit („Zugabe") erfahren wird. Die im ersten Redenkomplex II A.-C. behauptete handlungskonstitutierende Wirkung der Sprachform der Pflicht ist mit dem Ernstbegriff phänomenal eingeholt22. Das bedeu22

Der Unterschied des Ernstes als nötigender Macht gegenüber dem in III A. thematisierten Gehorsam scheint erneut in der Beschreibungsperspektive zu liegen. Für den Gehorsam ist das Vorhandensein eines Anderen überhaupt kein Problem, vielmehr geht es dort darum, wie gerade dieser endliche Andere zum Handeln absolut nötigen kann. Der Ernst hingegen beantwortet das Problem der Subjektivität, sofern sie als bloßer, isolierter Zustand betrachtet wird. Und hierfür ist der Ernst die Instanz, durch die der Subjektivität ein Anderer überhaupt erst gegeben und die kommunikative Isolation durchbrochen wird, ohne daß damit bereits der Schritt in die Beschreibung von bestimmter Intersubjektivität hinein getan wäre. Diese Differenz im Frageansatz ist besonders wichtig, um den Unterschied der Thematisierung von affektiven Phänomenen wie Schuld und Ernst gegenüber dem ebenfalls affektiv besetzten Gewissensbegriff in III B. wahrzunehmen. In beiden Fällen wer-

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2. Kapitel: Das Sollen

tet auch, daß der so explizierte Ernstbegriff die subjektivitätstheoretische Implikationen sowohl des Pflichtbegriffs (II) wie des Intersubjektivitätsbegriffs (III-IV) formuliert. Der Ernst ist die Intentionalität des Handelns der Liebe in der Perspektive des Sollens. Diese Intentionalität erweist sich dabei als analytische Einheit von Bewußtsein und Handlung.

3. Die Subjektivität

der Liebe: Kreative

Unbestimmtheit

Der Bewegungsbegriff „Verdoppelung" und der Artikulationsbegriff „Ernst" beschreiben den subjektiven Zustand des Liebenden als den einer intentional gerichteten Subjektivität, indem sie „die" Liebe als Struktur von Selbstvermittlung auslegen. Doch mit welchem Recht erfolgt überhaupt die Unterscheidung von subjektivem Bewußtsein und substantivierter, quasi-objektiver Liebe? Anders gefragt: Wie kann „Selbstvermittlung" subjektivitätstheoretisch verstanden werden? Man kann ja antworten, daß die substantivierte Liebe als ein Prädikat der Subjektivität, sofern sie Liebe „empfindet", gelten kann 23 . „Die" Liebe ist dann ein bestimmter Zustand des Handlungssubjekts. Dieser Zustand oder diese Empfindung ist insofern eine selbständige Größe, als sie „etwas mit dem Subjekt macht". Doch wie kann solches „Machen" die Form einer Verdoppelung, einer Identität in Bewegung haben? Und welcher Begriff der Subjektivität liegt dieser Vorstellung zugrunde? Zunächst ist noch einmal daran zu erinnern, daß die Struktur der Selbstvermittlung kritisch gegen diejenige Subjektivitätsform gerichtet

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den die Affekte als reflexive sprachliche Äußerungen dargestellt. Doch während im Gewissen das Subjekt sich selbst expressiv vor sich selbst und zugleich vor den Anderen bringt, werden Ernst und Schuld zunächst als ausschließlich reflexive Äußerungen geschildert, während der damit gleichwohl eröffnete Kommunikationsraum im Charakter der Unbestimmtheit erscheint. Für den Fall des dialogischen Handelns war diese Differenzierung noch einsichtig, insofern die praktische Vermittlung zweier Handelnder eben das Thema ist, das mit dem Begriff der Liebe als Vermittlungsinstanz beantwortet werden kann. Doch für die Beschreibung der bloß subjektiven Seite dieser Beziehung tritt die Liebe als substantivierte Entität in direkte Konkurrenz zum Ichbewußtsein, so daß die Liebe als Drittes am Ort des zweistellig strukturierten Bewußtseins auftritt. Die Pointe dieser substantivierten Darstellung liegt dann darin, auf diese Weise zeigen zu können, daß auch das Ichbewußtsein oder die reine, scheinbar unvermittelte Empfindung der Liebe nicht ohne Vermittlung einer dritten, transzendenten Größe, und d.h. nicht ohne intentionale Ausrichtung auf einen Anderen, zu denken ist.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

207

ist, die „Vergleichen" genannt wird. Darin ist eine grundsätzlichere subjektivitätstheoretische Aussage eingeschlossen: die Kritik an dem Versuch, Subjektivität nach dem Modell des theoretischen Selbstverhältnisses als Selbstbewußtsein im Sinne einer Selbstverobjektivierung zu beschreiben. Im Vergleichen mißversteht sich die liebende Subjektivität selbst, insofern sie ihr in der Praxis der Liebe eingebettetes praktisches Selbstverhältnis im Modell von Objekterkenntnis gestaltet. Im Vergleichen ist die subjektive Liebe ein bloßes Wissen von sich selbst. Dieses Wissen wird dabei nicht unmittelbar gewonnen, sondern auf dem Weg des Vergleichens, also durch das Wissen von Zuständen, die an anderen Subjekten beobachtet werden können. Es ist ein mittelbares epistemisches Selbstbewußtsein. Das Scheitern dieser Form liegt nicht in ihrer Selbstbezogenheit, denn um die geht es der Rede ja gerade. Vielmehr scheitert sie darin, daß sie ihre Selbstbezogenheit in Analogie zur Objekterkenntnis als endlich-bestimmte Erkenntnisbeziehung denkt und damit zugleich die der subjektiven Selbstbezüglichkeit der Liebe eigentümliche („unendliche") praktische Intentionalität verfehlt. Der subjektive Zustand der Liebe läßt sich demnach recht verstanden nicht als epistemisches Selbstbewußtsein beschreiben. Wie aber kann die Liebe als Subjektivität dann überhaupt verstanden werden? In den Begriffen Verdoppelung und Ernst wird sie nicht als ein Wissen, sondern als ein selbstbezogenes sprachliches Handeln gedacht. Anders ausgedrückt: Ist die Liebe ein Prädikat der Subjektivität, so bedeutet dies, daß die Liebe nicht eine Weise des Wissens ist, sondern eine bestimmte Form des Handelns der Subjektivität, das nicht wiederum in Begriffen des (Sich-) Wissens gefaßt werden kann 24 . Vielmehr ist die liebende Subjektivität darin selbstbezüglich, daß sie sich

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Genau hier liegt der Unterschied zu Hegels Verdoppelungsbegriff, s. Phänomenologie, 494: „der Geist ist das Wissen seiner selbst in seiner Entäußerung". Die Tatasache, daß die Transzendentalphilosophie auch den Handlungsbegriff im Modell des Wissens (als Selbstbewußtsein) versteht, wie sie besonders in der Dominanz des Subjekt-Objekt-Schemas zum Ausdruck kommt, hat die sprachanalytische und pragmatische Kritik oft betont, vgl. E. Tugendhat, aaO. 154ff., 333f.; D. Böhler, Pragmatik, 33ff. (zu Kant), J. Habermas, Diskurs, 39ff„ 75ff. (zur historischen Differenz von Reflexions- und Praxisparadigma). Im Werk Kierkegaards tritt die Kritik am Subjekt-Objekt-Modell und dessen Verwendung in der praktischen Philosophie besonders bei der Kritik der Hegeischen Geschichtsphilosophie zutage. Gegen ein objektivierendes Denken, das subjektivitätstheoretisch, nämlich als Selbsterkennen des Weltgeistes begründet ist, verweist Climacus auf das praktischpropositionale „Sich-Verhalten dazu, daß der Erkennende existiert" (AUN1, 188), vgl. E. Tugendhat aaO. 160f. A. Rudd, Limits, 55ff. interpretiert den Wahrheitsbegriff der Nachschrift als handlungsorientiert.

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2. Kapitel: Das Sollen

durch die Empfindungen Schuld und Ernst artikuliert, und dies in einer solchen Weise, daß die Artikulation zugleich ein damit verbundenes intentionales Handeln formt. Es ist die sprachliche Struktur des Ernstes als Artikulation, die eine Einheit von Reflexivität und Intentionalität im Handeln denkbar macht. Dies gelingt aber nur, indem die Selbstbezüglichkeit als Unendlichkeit artikuliert wird, d.h. als Liebe. Unendlichkeit ist dann eine bestimmte Qualität des Selbstverhältnisses, die jedoch gerade deshalb substantiviert, d.h. als Selbstvermittlung einer v o m endlichen Selbstverhältnis selbst zu unterscheidenen Größe gesehen werden kann, weil sie es ist, die über die reine Selbstbezüglichkeit der Subjektivität hinausführt 25 . Es ist die Unendlichkeit des intersubjektiven Handlungsverhältnisses selbst. D i e s e Unendlichkeit wiederum, so hatte ich vorläufig behauptet, beschreibt die R e d e als Unbestimmtheit im Endlichen. Somit kann die substantivierte Liebe subjektivitätstheoretisch expliziert werden, wenn man die Stellung dieser Unbestimmtheit im Handeln aufklären kann 26 .

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Damit wird auch das Mißverständnis vermieden, als würden Schuld und Ernst doch wieder als unmittelbares Selbstverhältnis (wenn auch nicht als epistemisches), gewissermaßen als eine Privatsprache verstanden (vgl. dazu E. lügendhat, aaO. 91ff.). Die unhintergehbare Intentionalitäts- oder Verweisungsstruktur dieser Artikulationen macht klar, daß hier die Subjektivität der Liebe immer nur innerhalb des intersubjektiven Verhältnisses gedacht werden kann. J. Ringleben, aaO. interpretiert Kierkegaards Begriff der Verdoppelung als metaphysischen Begriff des Absoluten, in dem die Absolutheit von Subjektivität sich „als Form seines Inhalts" (ebd. 285) reflektiert. Zu dieser „spekulativen" Interpretation ist jedoch mit bezug auf den uns hier interessierenden Text zu sagen: 1. Ringleben nimmt die Substantivierung „der" Liebe wörtlich und liest diese als Synonym für das absolute Subjekt. In diesem absoluten Subjekt geht allerdings das endliche Subjekt merkwürdig verloren. Göttliche und menschliche Liebe stehen sich so in einer nicht geklärten Weise unvermittelt gegenüber (vgl. die Beschreibung dieser Relation als Entsprechung, „Grund" und „Abbild", ebd. 382) Die Intention der Reden aus TL, die menschliche Liebe zum Thema zu erheben und die göttliche Liebe gerade in Hinsicht auf diese konkrete Handlungswirklichkeit (die „Frucht") zu bedenken, geht damit verloren. Die Rede V reflektiert diese Fragehinsicht, indem sie von Beginn an „die" Liebe von dem menschlichen Subjekt der Liebe ontologisch unterscheidet und die substantivierte Liebe sofort ins Verhältnis zum Subjekt setzt: „[...] wie die Liebe von jemanden empfunden wird, in dem sie zugegen ist" (193/170). Diese ontologische Unterscheidung bedeutet aber gerade, daß TL das Handeln der liebenden Menschen als direktes, ungebrochenes Phänomen der göttlichen Liebe beschreiben kann: die Liebe als „Zwischenbestimmung" der Liebenden (s. III Α.). 2. Ringleben sieht den Verdoppelungsbegriff als Ausdruck des absoluten Selbstverhältnisses, übersieht aber den darin enthaltenen Handlungsaspekt: die verunendlichte Intentionalität oder Außenorientierung eines konkreten Handelns. Eine Formulierung wie „Zu sich selber Kommen im Anderen seiner selbst" (ebd. 385)

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

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Wollen wir dieser Aufgabenstellung nachgehen, so müssen mindestens zwei Fragen beantwortet werden: Welche Gründe sprechen überhaupt dafür, den Terminus „Unendlichkeit" durch den Begriff des Unbestimmten auszulegen? Und was bedeutet Unbestimmtheit in bezug auf Handeln? Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu! Der Begriff der Unbestimmtheit wurde oben eingeführt zur Charakterisierung derjenigen Gebehandlung, die der unendlich auf sich selbst bezogenen Liebe entspricht. Die Selbstmitteilung der Liebe als „Zugabe" und ihre zeitliche Selbstvermittlung („unendlicher Vorsprung") sind nicht in Begriffen des Endlichen, d.h. des Bestimmten und Quantifizierbaren beschreibbar. Ist die Liebe das Unendliche am Handeln, so bedeutet dies zunächst nur eine Unbestimmtheit für die Beschreibung dieses Handelns. Es ist etwas in diesem Geben, daß nicht direkt aufgezeigt werden kann. Daß solche Unbestimmtheit nicht nur für die Beobachterperspektive gilt, sondern auch für die beobachtete Sache selbst, macht sich in der zentralen begrifflichen Verbindung von Bewegung und Gegenstand deutlich, für die der Begriff der Verdoppelung steht. Die Verunendlichung des Gegenstandes bedeutet in Kierkegaards Beschreibung eine Unbestimmtheit der (subjektiven) Liebe selbst: Das Unendliche als Unbestimmtes, nämlich als „Unerschöpflichkeit [Uudt0mmelighed], Unermeßlichkeit [Umaalelighed]", ist das „Element" der Liebe, in dem allein sie leben kann (199/175). Aber in welchem Sinn ist hier von Unbestimmtheit die Rede? Die Metapher „Unermeßlichkeit" beschreibt Unbestimmtheit als das Überschießende einer schöpferischen Produktivität. Zur begrifflichen Charakterisierung dieser Produktivität dient der Bewegungsbegriff. Wird die „Verdoppelung" als Bewegungsbegriff verstanden, so drückt die Unbestimmtheit eben den Bewegungscharakter der Liebe aus. Diesen Zusammenhang von Bewegung und Unbestimmtheit formuhat bereits gegenüber dem Hegeischen Vorbild, das vom Kampf um Anerkennung spricht, jede Handlungskonkretion verloren und ist zur Formel geworden. Der Verdoppelungsbegriff, wie er von TL eingesetzt wird, hat zwar unleugbar metaphysische oder „spekulative" Züge, was angesichts des Hegeischen Erbe auch nicht verwundern muß. Doch ist diese „Metaphysik" in TL immer „pragmatisch" orientiert, d.h. in Hinsicht auf das Handeln eines endlich-relationalen Subjekts zu lesen. Dies zeigt sich in unserer Rede darin, daß der Begriff der Verdoppelung eine Beschreibung sowohl der Handlung des Gebens als auch der Sprachhandlung des Ernstes darstellt. Dies sind erstens Handlungen, nicht aber bloße Selbstverhältnisse; und zweitens sind es Handlungen eines endlichen, nicht aber eines absoluten Subjekts die aber zugleich nur als Ausdruck und Präsenz der göttlichen Liebe beschrieben werden können!

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2. Kapitel: Das Sollen

liert die Rede in der Dialektik von „Zusammenhang der Ewigkeit" und „Augenblick": Der Augenblick als das Unmittelbare und Unbestimmte konstituiert die Bewegung als Ganzheit (202/178). Hinsichtlich des Augenblicks wird dann die Bewegung selbst als unbestimmt gedacht, d.h. als selbstvermittelte Bewegung in Absehung von allen bestimmten Punkten und Zielen. Für diese unbestimmte Selbstbewegung steht der Ernst als Zwang: „Die bloß menschliche Auffassung der Liebe bewundert die Liebe, und deshalb kommt es da so leicht zu einem Stillstand, zu Augenblicken, wo nichts zu tun ist, ledigen Augenblicken, d.h. zu Augenblicken der Schwärmerei [...] Die Liebe ist für die Vorstellung der bloß menschlichen Auffassung wie der feurige, schnaubende Renner, der den Reiter rasch müde reitet, anstatt daß der Reiter, falls es nötig ist, den Renner sollte müde reiten können. Und dies kann das Christentum. Es ist nicht seine Absicht, die Liebe müde zu arbeiten, keineswegs, sondern das Christentum weiß, in Kraft seines ewigen Wesens und mit dem Ernst der Ewigkeit, daß es die Liebe in seiner Gewalt hat, und spricht deshalb so einfach, d.h. so ernsthaft von der Sache - ganz ebenso wie der baumstarke Bereiter, der weiß, daß er das Roß tummeln kann, nicht seine Feurigkeit bewundert, sondern sagt, es solle feurig sein, denn er nimmt dem Roß nicht die Feurigkeit, durch Erzwingen der Feurigkeit veredelt er es nur. Ebenso weiß das Christentum die Liebe zu zwingen, und sie zu lehren, daß es in jedem Augenblick eine Aufgabe gibt" (208f./183). Im Ernst zeigt sich die Bewegung als solche, d.h. als Bewegung hin zu den bestimmten „Aufgaben". Der Liebesgaul muß laufen, allein darauf kommt es in diesem Zusammenhang an. Der Ernst bzw. das Schuldig-sein konstituiert nicht die konkrete Aufgabe; dies tut die dialogische Situation, wie sie in den vorhergegangenen Reden entwickelt worden war27. Auch dort war die Liebe eine Selbstvermittlungsstruktur und damit ein Phänomen von Unbestimmtheit, freilich stets in Hinsicht auf bestimmte Handlungspartner und Aufgaben. Von diesen Bestimmtheiten abstrahiert die Rede 1,W. Indem sie unter Absehung von allen vorgängigen und folgenden intersubjektiven Vermittlungsstrukturen die Beschreibungsperspektive auf das Subjekt in seiner erlebten Unmittelbarkeit einschränkt, bekommt sie sachlich die auch vorher bereits stets mitthematisierte Unbestimmtheit als solche in den Blick. Erst jetzt 27

Dies ist die Pointe der Metapher des Zureitens in der eben angeführten Textstelle. Nicht das rechte Verstehen und Bewältigen der konkreten Aufgaben ist hier das Problem der Liebe (als Naturphänomen), sondern das diesem Bewältigen vorausgehende Entdecken oder Zugehen auf die Aufgaben.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

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wird das Phänomen der Unbestimmtheit aufgeklärt, indem die Bewegungsstruktur in ihrer Allgemeinheit, d.h. ontologisch beschrieben wird. In dieser Weise klärt die letzte Rede der ersten Folge eine fundamentale Voraussetzung aller vorausgegangenen Reden. Was bedeutet dies für das Verständnis von Handeln? Mein Vorschlag ist: Unbestimmtheit als reine Selbstbewegung der Liebe beschreibt die Kreativität des Liebeshandelns. Ernst und Schuld konstitutieren nicht die Aufgabe als bestimmte, sondern sie konstituieren das bloße Daß der Aufgabe („daß es in jedem Augenblick eine Aufgabe gibt"). Sie eröffnen, so kann man sagen, einen Handlungsraum. Ein solcher Raum ist niemals ohne Bestimmungen zu denken; doch geht es im Ernst lediglich um das Öffnen. Diesem bloßen Öffnen entspricht der Intentionalitätsbegriff als Verdoppelung. Dieser Intentionalitätsbegriff ist insofern paradox, als in ihm eben die Unbestimmtheit (das unendlich sich selbst Gegenstand sein) isoliert festgeschrieben ist; ein unbestimmter Gegenstand oder das bloße Gegebensein einer Aufgabe ist jedoch in gewisser Hinsicht unmöglich, denn jeder Gegenstand ist bereits (auch) ein bestimmter, sobald auf ihn verwiesen wird, und jede Aufgabe ist immer schon eine konkrete Aufgabe. Es erscheint als paradox, das Unbestimmte als Unbestimmtes zur Sprache zu bringen. Im Unterschied dazu versucht etwa der transzendentalphilosophische Begriff des Willens, die Momente Unbestimmtheit, Bestimmtheit und (Selbst-)Bestimmung zusammenzudenken: die Unbestimmtheit ist dann ein Moment des immer schon konkreten Willensaktes, ist ein vergangener Moment der Selbstbestimmung28. Kierkegaard hingegen beschreibt in dieser Rede das Be-

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Vgl. G.W.F. Hegel, Rechtsphilosophie, §§ 6-7: „Ebenso ist Ich das Übergehen aus unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung, Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit als eines Inhalts und Gegenstands [...] Der Wille ist die Einheit dieser beiden Momente; - die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit, - Einzelnheit·, die Selbstbestimmung des Ich, in Einem sich als das Negative seiner selbst, nämlich als bestimmt, beschränkt zu setzen und bei sich, d.i. in seiner Identität mit sich und Allgemeinheit zu bleiben, und in der Bestimmung sich nur mit sich selbst zusammen zu schließen." Diese idealistische Verhältnisbestimmung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit spiegelt sich auch in der ethischen Theorie der Selbstwahl aus Entweder/Oder wieder. Erst die bestimmende Wahl führt hier das Individuum aus der in bloßen Möglichkeit lebenden ästhetischen Existenz heraus: „mit der Wahl sinkt sie [sc. die Person] nieder in das Erwählte, und wenn sie nicht wählt, so welkt sie hin in Auszehrung" ( E 0 2 , 173f). Auf einer anderen Ebene ist die Wahl allerdings auch abstrakt, insofern mit ihr die Konstitution konkreter Sittlichkeit überhaupt verbunden ist: „daß man das Wollen wählt" (ebd. 180).

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2. Kapitel: Das Sollen

stimmen, die Intentionalität des Handelns nicht als Selbstbestimmung, sondern als „Emst", d.h. als Bestimmtwerden, in welcher das Subjekt durch Gott zum bestimmenden Handeln gezwungen wird („Begeisterung (hat) Macht über sich und Zwang auf sich", 210/184). Ist das sittliche Handeln als Bestimmen aber in dieser Weise seinerseits transzendent (nicht transzendental) von außen bestimmt, so muß am Bestimmen selbst ein Unbestimmtes aufgezeigt werden. Die „Macht über sich" (das transzendente Bestimmtwerden) führt dazu, daß auch der „Zwang auf sich" (das immanent-subjektive Sichbestimmen des Handelnden, d.h. die intentionale Bewegung) den Charakter des Unbestimmten hat29. Das Unbestimmte ist also noch nicht in einem Prozeß der konkreten Selbstbestimmung aufgehoben und „immer schon" in Bestimmtheit überführt, sondern wird in Schuld und Ernst als Unbestimmtes artikuliert: als bloße Entäußerung, als bloße, d.h. unendlich selbstbezügliche Bewegung. Bewegung wird hier nicht als vollständige Bestimmung von Unbestimmtheit oder als endgültige Verwirklichung einer Möglichkeit verstanden, vielmehr als eine Bewegung des Bestimmens, die nicht im Bestimmten aufgeht, sondern einen unbestimmbaren Überschuß an sich hat 30 . Es ist die schöpferische Bewegung als solche, die in der Bewegungsstruktur des Ernstes ansichtig wird als reiner Akt des schöpferischen Bestimmens31. So wie die Unendlichkeit der Bewegung (Verdoppelung) für ihre Intentionalität steht, so steht ihre Selbstbezüglichkeit (die unendliche Selbstvergegenständlichung der Liebe) für die ontologische Eigenständigkeit, d.h. für die irreduzible Unbestimmtheit der Bewegung. Unendlichkeit und Selbstbezüglichkeit bedingen sich so gegenseitig und bilden in dieser Dialektik die begriffliche Auslegung der Unbestimmtheit des Liebeshandelns.

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Die Unbestimmtheit dieser „Macht" wird konsequent als Inkommensurabilität für das endliche Urteil beschrieben: „das ernsthaft erzogene Kind vergißt niemals, daß das Urteil zu Hause gefällt wird, wo die Eltern urteilen" (209/184). Vgl. 116/105: Der .Überschuß' des Bestimmens gegenüber dem Bestimmten wird in der Differenz von Entwurf (Gesetz) und Arbeit (Liebe) festgehalten, vgl.o. Kap. 2, II. 1.2.1, 3. Climacus entdeckt dassselbe kreativ-dynamische Verhältnis in der existenziellen Bewegung des Einzelnen, die darin besteht, „unendlich leidenschaftlich sich zur Unbestimmtheit der Bestimmtheit (zu) verhalten" (AUN1, 167). Vgl. Kierkegaards „Dynamisierung des Gottesbegriffs" (H. Schulz, Identität, 465) in Pap. IX 1 A 316/73, 81ff.: Gott ist „ja selbst das reine Handeln [ren Aktuositet]"; ferner Pap. XI 2 Α 54/75, 302ff.; AUN2, 35. Als eine vergleichbare Artikulation des Unbestimmten im Bestimmten kann die Angst gelten, so wie Kierkegaard sie in Begriff Angst schildert, vgl. H. Deuser, Neville's Theory, 232f.

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

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Hat der hier verwendete Bewegungsbegriff die Struktur des Schöpfungshandelns, so spiegelt sich die darin gesetzte Unbestimmtheit im bestimmten Handeln wiederum als Kreativität: als Eröffnen und Entdecken von Handlungsmöglichkeiten und darin als eine im bestimmten Handeln selbst sich äußernde Unbestimmtheit: „Zugabe" und „Vorsprung" (s.o.). Die Zugabe und der Vorsprung kommunizieren jene schöpferische und immer schon unbestimmt auf einen Anderen gerichtete Unbestimmtheit der subjektiven Liebe, die der Handelnde in seinem Selbstverhältnis als Schuld und Ernst artikuliert (und erfährt), die aber gerade darin den schöpferischen „Reichtum" des Liebesverhältnisses darstellt32. Solche Unbestimmtheit ist dann aber nicht nur eine subjektive Handlungskomponente, sondern erweist sich als schöpferische Voraussetzung von sozialem Handeln überhaupt: Sofern die Liebe in ihrem „Element" verbleibt, dem Schuldig-sein, konstitutiert sie nämlich ein „Wechselverhältnis, aber [...] ein unendliches von beiden Seiten. In dem einen Fall ist es *die Geliebte, die in jeder Liebesäußerung des Liebenden liebevoll die Unermeßlichkeit begreift; in dem andern Fall ist es der Liebende, der die Unermeßlichkeit empfindet, weil er erkennt, daß die Schuld unendlich ist: es ist ein und dasselbe, welches unendlich groß und unendlich klein ist" (200/176). Es ist die Unmöglichkeit, gelingende Interaktion überhaupt in Begriffen eindeutiger, quantifizierbarer Bestimmtheit zu beschreiben, die in diesem (Ideal-) Bild gegenseitiger Liebe ausgedrückt wird33. 32

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Die Metapher des Reichtums und die Dialektik von Reichtum und Armut steht am Anfang der Rede, in Aufnahme des platonischen Eros-Begriffs (193f./170f.). Der Schuldbegriff soll eine Auslegung dieser Dialektik darstellen. In der Nachschrift wird dasselbe platonische Begriffspaar auf den Existenzbegriff angewandt, um die Bewegungsstruktur („Streben") der Existenz anzuzeigen, &.AUN1, 85. Zur begrifflichen Verbindung von Unbestimmtheit und Reichtum vgl. etwa die ästhetisch-psychologische Darstellung der „jungen Schauspielerin" in KK, 8ff. Hier wird unter dem Begriff des „unbestimmbaren Besitzes" der ganze kommunikative Reichtum einer mit Glück begabten Jugendlichkeit detailiert und liebevoll beschrieben. Dieser Begriff des „Wechselverhältnisses" erweist seine begriffliche Elastizität darin, daß er als Beschreibung sowohl intersubjektiver wie subjektiver Handlungsstrukturen gelesen werden kann: Einerseits beschreibt er das gegenseitige und darin jeweils unterschiedliche Verstehen zweier Liebender (auch die Reaktion des Geliebten wird hier ja ausdrücklich als „liebevoll" charakterisiert); doch erscheint die hierfür nötige Annahme einer gleichfalls unendlichen Liebe des Anderen (Geliebten) als eine unbegründbare Setzung. Diese Schwierigkeit ist behoben, wenn man den Begriff zugleich als Beschreibung zweier unterschiedlicher Handlungsformen nur des liebenden Subjekts (gegenüber einem Geliebten, der dann selbst nicht

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2. Kapitel: Das Sollen

Auf der Ebene der Gesellschaftstheorie hat unter dem Begriff der „doppelten Kontingenz" die Systemtheorie auf die fundamentale Bedeutung von Unbestimmtheit für das Entstehen von „sozialen Systemen", d.h. von Interaktion hingewiesen 34 . Um doppelte Kontingenz bzw. Unbestimmtheit handelt es sich dabei insofern, als Unbestimmtheit sowohl in der jeweiligen Selbstbezüglichkeit als auch in der Reziprozität der Handelnden unvermeidlich und produktiv wirksam ist. Eben dies scheint mir in Kierkegaards Begriff der „Verdoppelung" als unendlicher Selbstbezüglichkeit begriffen zu sein, wenn man ihn zugleich als einen Begriff von Intentionalität liest. Die im Ernst erfahrene unendliche Schuld ist eine selbstbezügliche Artikulation von Unbestimmtheit, die zugleich damit das Handlungsverhältnis zu einem bestimmten Anderen durch eben diese Unbestimmtheit definiert, und diese Doppeltheit gilt dann für beide Seiten, und ebenso für beide Handlungsarten (die u.U. nur von einer Seite vollzogen werden): sowohl für das Geben wie für das Empfangen. Unendlichkeit ist auf diese Weise das produktive „Element" der Liebe, indem es gegenseitiges Handlungsverstehen ermöglicht, dieses aber gerade als unendlich-unbestimmtes: „Welch wunderbares *Gleiches für Gleiches [Lige for Lige] in diesem Unendlichen!" (ebd.) 35 . Das Unendli-

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als Liebender vorausgesetzt werden muß) versteht: des Gebens und des Nehmens. Die Unendlichkeit der Liebe ist dann das - immer schon das Subjekt transzendierende - „Element" der Liebesbeziehung, das sowohl ein gegenseitiges als auch ein einseitiges Handlungsverstehen in seiner doppelten Form bestimmt. S. N. Luhmann, Systeme, 148ff. Luhmann übernimmt diesen Begriff kritisch von T. Parsons und möchte ihn zugleich von seinen handlungstheoretischen Implikationen systemthteoretisch säubern, vgl. ebd. 156: „Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist dann einfach: Zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr Verhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes [...] füreinander undurchsichtig. Selbst wenn sie strikt mechanisch operieren, müssen sie deshalb im Verhältnis zueinander Indeterminiertheit und Determiniertheit unterstellen [...] Der Versuch, den anderen zu berechnen, würde zwangsläufig scheitern." Gerdes übersetzt „Tausch". Zu der Reziprozität des „Gleich um Gleich" vgl. N. Luhmann, aaO. 166ff, der das „autopoietische" oder „autokatalytische" Entstehen („Emergenz") sozialer Systeme von dem in der doppelten Kontingenz gesetzten „selbstreferentiellem Zirkel" aus entwickelt: „Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will". Die systembildende Wirkung dieser Zirkularität zeigt sich nach Luhmann insbesondere im Entstehen von Vertrauen bzw. Mißtrauen (ebd. 179ff.). Ich beabsichtige hier natürlich keinen direkten Vergleich dieses systemtheoretischen Denkens mit dem Liebesbegriff Kierkegaards. Doch kann der Blick auf Luhmann möglicherweise bei der Entdeckung helfen, daß Kierkegaards Liebesbegriff

III. Die subjektive Wirklichkeit des Sollens

215

che erst ermöglicht ein Handeln, in dem ein Subjekt über sich selbst hinauskommt und sich für Anderes öffnet, sich auf Anderes hin bewegt. Diese Äußerung des Subjekts ist die Struktur von Geben und Nehmen.

ein komplexes begriffliches Verständnis für das Entstehen und den Vollzug von Sozialität enthält. In Luhmanns Terminologie kann Kierkegaards „Kjerlighed" in ihrer Zirkularität als eine „emergente Ordnung" verstanden werden. Und entsprechend wird das „Gleich um Gleich" von Kierkegaard relationstheoretisch, d.h. als Vollzugsform einer analytisch nicht mehr hintergehbaren, jeweils irgendwie schon bestehenden Handlungsbeziehung beschrieben.

IV. Fazit: Die Forderung der Liebe als schöpferische Sprache Die Interpretation des ersten Teil von TL war von der Hypothese ausgegangen, daß das Thema dieses ersten Teils die Frage nach der Forderung der Liebe ist. Es hat sich herausgestellt, daß die Reden dieses Thema in einem Dreischritt entfalten. Diese Gedankenbewegung weist ein doppeltes Gefälle auf: Einerseits ist es eine Bewegung „von oben", die mit einem Begriff des Sollens als unbedingtem und universalem Gebot beginnt und sich im zweiten und dritten Schritt in die Wirklichkeit inter subjektiver und subjektiver Praxis hineinbewegt. Es ist eine Bewegung vom Universalen (dem geoffenbarten Liebesgebot) über die Wirklichkeit sozialer Vermittlung (dialogisches Handeln) bis zur subjektiven Selbsterfahrung (Empfindung). In dieser Perspektive enthüllt die allgemeinere Stufe jeweils die Wahrheit der folgenden, konkreteren Stufe. So verweist der in der Interaktion sprachlich vermittelte Absolutheitsanspruch des Anderen letztlich auf die sprachliche Wirklichkeit des Liebesgebotes; und die im Ernst artikulierte vorgängige Verbindung mit anderen Subjekten (Intentionalität) wäre unverständlich ohne die Darstellung der Intersubjektivität als dem unhintergehbaren Raum, in dem sich das liebende Subjekt immer schon befindet. Andererseits ist es eine Bewegung „von hinten", die nach und nach jene Begriffe und Voraussetzungen aufklärt, die in den ersten Reden über das Liebesgebot bereits in Anspruch genommen werden mußten, ohne dort bereits bewährt werden zu können. So wird das Liebesgebot bereits als Sprachhandlung entfaltet, doch die Wirklichkeit dieser Sprache muß erst noch an der Praxis endlicher Sprachsubjekte aufgezeigt werden: am dialogischen Handeln von Fragen und Antworten und an den Formen der subjektiven Artikulation von Liebenden. Erst im Durchgang durch diese Formen wird ersichtlich, mit welchem Recht das geoffenbarte Liebesgebot als Sprachhandlung und damit in Kategorien des Handelns verstanden werden kann. Im Aufweis von Phänomenen, in denen sich die Liebe als Forderung intersubjektiv und subjektiv artikuliert, erweist sich das transzendente Liebesgebot als Teil der leiblichen Handlungswirklichkeit.

IV. Fazit: Die Forderung der Liebe als schöpferische Sprache

217

Im Verlauf der Interpretation sind zwei Grundelemente von Kierkegaards Handlungsbegriff deutlich georden. Erstens, geht es um die Liebe als Forderung, so geht es immer um Sprache. Die Forderung wird hinsichtlich der verschiedenen Sprachformen beschrieben, in denen sie dem Beobachter begegnet. Insofern ist die Sprache im Sinne der Ausdrucksfähigkeit oder Artikulation die Wirklichkeitsform und das Medium der Liebe in diesem ersten Teil des Buches. Es sind insbesondere die kognitiven Gehalte des Handelns, die vom Medium der Sprache aus dargestellt werden. In der Perspektive des Sollens thematisieren die Reden das Wissen und Verstehen des Handelnden, dieses Wissen aber wird nicht in einem reinen Denken verortet, sondern im leiblichen Medium seiner sprachlichen Artikulation. Zugleich jedoch ist mit der Artikulation immer schon ein Handeln verbunden; das Handeln selbst hat, insofern es vom Sollen her zu beschreiben ist, sprachliche Form. Auch diese untrennbare Verbindung von Sprache und Handlung wird in der Darstellung des Liebesgebotes bereits entwickelt und durchzieht alle folgenden Reden. Ist Liebe als Forderung an die Sprache als ihr Medium verwiesen, so ist sie doch zugleich als Forderung niemals ohne Handlung, „sie ist lauter Handeln" (110/100). Die Rekonstruktion hat versucht zu zeigen, daß die Reden die strukturelle Verzahnung von Sprache und Handlung aufdecken, indem sie die Konstitution von Handlungssituationen durch die Sprache des Liebesgebotes, die dialogische Struktur des intersubjektiven Handelns und die expressive Struktur der Subjektivität beschreiben. Die grundlegende Bedeutung der Sprache für Kierkegaards Handlungsverständnis wird allerdings erst durch einen zweiten Grundzug der Theorie ermöglicht: durch den Ansatz beim Verhältnis, der Beziehung der Handelnden. Nicht der einzelne Akteur, sondern das intersubjektive Verhältnis, in dem er steht, ist der Ausgangspunkt der Rede vom Sollen der Liebe. Insofern alle Phänomen des Sollens in diesem Verhältnis gründen, sind sie Ausdrucksformen desselben und damit Formen von sprachlicher Interaktion. Ich habe dies als „relationstheoretischen" Handlungsbegriff bezeichnet und mit Hilfe des Intentionalitätsbegriffs fruchtbar zu machen versucht1.

1

Die Vorgängigkeit des Verhältnisses und seine Bedeutung für das (dialogische) Handeln betont auch B. Waldenfels in seiner sozialphilosophischen Rekonstruktion und Weiterführung der Husserlschen Phänomenologie s. Zwischenreich, bes. Kap. V. Waidenfels bezeichnet „die Beziehung selbst" als das „faktische Apriori" des sozialen Geschehens (ebd. 291).

218

2. Kapitel: Das Sollen

Handlungstheoretisch gesehen stellen die drei Begriffe Gebot, Dialog und Intentionalität die Bewegung dar von der Situation über die Interaktion zum Selbstverhältnis der Handelnden. Erst diese drei Schritte zusammengenommen ergeben einen komplexen Begriff des Handelns, der -unter deontologischer Perspektive - Handeln in dreifacher Hinsicht beschreibt: 1. als Erschließen der Situation in einem durch das geoffenbarte Liebesgebot geschichtlich bestimmten kulturellen Kontext, 2. als eine die Unbedingtheit des Handlungspartners erschließende dialogische Interaktion, 3. als ein subjektives Selbstverhältnis, das die Form der intentionalen Äußerung hat.2 Indem die Reden drei verschiedene Phänomengestalten des Sollens innerhalb der Handlungswirklichkeit aufweisen, entwickeln sie eine differenzierte Beschreibungsform, die das menschliche Handeln auf verschiedenen Ebenen zu erfassen vermag. Es handelt sich jeweils um Phänomene, in denen sich die fordernde Liebe zu erkennen gibt und erschließt; sie sind die Elemente einer Sprache der Liebe (gen. subj.), in der diese Liebe selbst zum Ausdruck kommt. Diese Sprache der Liebe ist der Gegenstand einer Theorie, die menschliches Handeln unter dem Begriff der Liebe zu verstehen sucht3. Die in den Reden von TL1 dargestellte Sprache der fordernden Liebe kann als die Entfaltung der Bedingungen von Intentionalität verstanden werden. Mit der unaufhebbaren Transzendenz der christlich verstandenen Liebe auf allen drei Ebenen formulieren die Reden die grundlegende Bedingung der Möglichkeit gelingender Liebe, und das bedeutet: gelingenden Lebens von relational und sprachlich verfaßten Lebewesen im sozialen Zusammenhang der Schöpfung. Die spezifische schöpferische Kreativität der Liebe äußert sich in einer nicht reduzierbaren Unbestimmtheit, die allererst mögliches Handeln innerhalb dieser Beziehungen erschließt, und zwar angesichts der Gefahr, daß diese Beziehungen unerschlossen bleiben oder zerstört werden. Die der unmittelbar-natürlichen Liebe immanente Normativität, die als transzendentes Sollen artikuliert werden muß, ist keine andere

2

3

Zur begriffslogischen Rekonstruktion des Handlungsbegriffes vgl. das Schema bei D. Böhler, Pragmatik, 300£ Böhler sieht das sprachlich strukturierte „Sich-Verhalten" bezogen auf ebenfalls drei Bezugsgrößen, die sich allerdings von denen in TL inhaltlich z.T. unterscheiden: 1. „Soziale Welt", 2. „Situation" und 3. „Handlung". Vgl. die Interpretation Kierkegaards unter der Wittgensteinschen Kategorie der „Grammatik" bei D. Gouwens, Thinker, 19ff.

IV. Fazit: Die Forderung der Liebe als schöpferische Sprache

219

als die Forderung der Möglichkeit solchen schöpferischen Handelns überhaupt. Das „Du sollst lieben" wird inhaltlich nicht weiter entfaltet, etwa in Form von bestimmten normativen Prinzipien, vielmehr wird die leibliche Situierung (Versprachlichung) des Gebotes in Phänomenen konkreter Handlungswirklichkeit und damit im Prozeß der Entstehung bestimmter Beziehungs- und Intentionalitätsformen aufgezeigt. Dabei wird Intentionalität, das Gegebensein eines Anderen für den Handelnden in einem Verhältnis, in einer wesentlichen Spannung verstanden: Einerseits ist der Andere als ein zu Liebender gegeben, andererseits aber muß dieses Gegebensein immer auch erst noch realisiert werden; offensichtlich kann Intentionalität hier nicht ohne Formen leibhaften Verhaltens gedacht werden. Die Intentionalität der Liebe wird durch diese Verhaltensformen, und d.h. im wesentlichen durch Formen des Sprechens, überhaupt erst verwirklicht; Intentionalität gibt es hier nicht unabhängig von der Sprache, sondern als Wirklichkeit allein mittels der Sprache. Dabei wird zugleich die theologische Begründung dieses Ansatzes sichtbar: Die leibliche Situierung des Gebotes in Phänomenen des Handlungsverhältnisses entspricht einem schöpfungstheologischen Verständnis dieses Verhältnisses als eines geschöpflichen Handlungsraumes, der gleichwohl nur im Vollzug wirklich wird und somit stets der Erneuerung, der Neuschöpfung bedarf. Diese „inkarnatorische" Normativität4 der Liebe muß verteidigt werden sowohl gegen das ekstatisch-romantische wie gegen das zweckrational-bürgerliche Liebesverständnis, denn diese Praxisformen verfehlen die Phänomene des Sollens in ihrer Artikulation der Liebe und destruieren damit die mit diesem Sollen verbundene und in spezifischen Sprachformen eingebundene schöpferische Macht der Liebe. Das Sollen der Liebe ist dabei nicht deontologisch im Sinne einer analytischen oder transzendentalphilosophischen Unterscheidung von Sollen und Sein, sondern es ist transzendent im Sinne eines schöpferischen Hervorbringens von Sein (Handlungswirklichkeit). Damit erweist sich Kierkegaards Phänomenologie des unbedingten Sollens als ein theologisch gedachter Begriff des Handelns. 4

Vgl. M. Plekons Begriff „incarnational optimism" (Christianity·, 342). Mit diesem Begriff will Plekon die Nachfolgechristologie der Spätwerke nicht nur als Kritik, sondern auch als „positive" Auslegung und Konstruktion humaner Praxis verstehen (ebd.). Diesen Optimismus findet Plekon in exemplarischer Deutlichkeit in TL, vgl. dazu ders., Theologian. Allerdings kommen Plekons Darstellungen nicht über apologetisch motivierte Einordnungen Kierkegaards in die Schubladen theologischer Orthodoxie hinaus, ohne den konstruktiven Ertrag der Kierkegaardschen Texte für die Theologie oder andere Wissenschaften aufzuzeigen.

3. Kapitel:

Das Können I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns Am Anfang dieser Untersuchung stand die Hypothese, daß Kierkegaard in TL den Handlungsbegriff unter dem zweifachen Aspekt des Sollens und des Könnens beschreibt. Die Soll-Dimension der Liebe hatte sich in TL1 als differenzierter Begriff sprachlich vermittelter Intersubjektivität erwiesen. Das Sollen war dabei nicht als bloßer Gedanke oder Vorstellungsgehalt gedacht, sondern als eine stets in bestimmter Weise erscheinende, gebrauchte und wirksame Sprachform. Insofern die Forderung ein Phänomen der Wirklichkeit der Liebe ist, bringt sie auch immer schon das Können, d.h. die grundlegende Möglichkeit zu einem durch Liebe bestimmten Handeln, zur Sprache. Doch ist diese Möglichkeit damit noch nicht als subjektive oder intersubjektive Fähigkeit thematisiert; sie ist noch nicht selbst als Handlungsbegriff bestimmt. Inwiefern das Können nun selbst in den Mittelpunkt der Auslegung der Liebe tritt, und was dies für die weitere Erarbeitung des Handlungsbegriffs austrägt, soll ein Blick auf die erste der Reden aus der zweiten Folge (7X2) zeigen1. 1

Das kompositorische Verhältnis zwischen den beiden „Folgen" von TL ist nicht einfach zu bestimmen. Es ist möglich, daß Kierkegaard ursprünglich bloß den ersten Teil geplant hatte. Für diese Annahme spricht der Schluß von TL1,V, der sich in seiner Thematik (der Ernst des Redens über die Liebe in der Gegenwart) und seiner ausführlichen Polemik wie ein rhetorischer Abschluß des ganzen (ersten) Buches ausnimmt. Pap. VIII 1 A 121 erwähnt eine Unterbrechung der Arbeit nach Abschluß des ersten Teils. Allerdings schließt dies nicht aus, daß der zweite Teil dennoch von Beginn an geplant war. Wichtiger ist ohnehin die inhaltliche Bestimmung des Verhältnisses in der vorliegenden Form. P. Müller, Kristendom, 43ff. sieht den Unterschied der beiden Teile darin, daß der erste mit dem unbedingten Gebot die Angewiesenheit des Menschen auf Gottes Gnade herausstelle, während die zweite Folge von dem indikativischen Gegebensein dieser Gnade ausgehe und das Bleiben in dieser Gnade zum Thema habe. Müller folgt darin im Kern der Deutung von G. Malantschuk, vgl. Fra Individ, 151f. Ähnlich B. Kirmmse, Golden Age,

222

3. Kapitel: Das Können

1. Lieben als Werk und Wirksamkeit:

Auftauen

7X2,1 beschreibt die Liebe unter dem Leitbegriff des Erbaulichen: „Liebe erbaut" (236/206). Dies ist freilich nicht nur einfach ein neuer Beschreibungsaspekt. Vielmehr wird damit das Handeln der Liebe in einen gegenüber dem Vorhergegangenen grundsätzlich neuen Begriffsrahmen gestellt: Bauen oder Aufbauen ist das klassische Paradigma für ein herstellendes, produzierendes Handeln im Sinne der aristotelischen poiesis2. Solches Herstellen ist eine zielgerichtete Bewegung, die in einem Werk endet. .„Erbauen' heißt also, etwas von Grund auf in die Höhe zu führen" (235/2041). Neu für das Handlungsverständnis in TL ist der damit gegebene Begriff eines wirksamen Handelns. ΤLI, III B. hatte diesen Aspekt im Begriff der „Grundveränderung" bereits angesprochen (s.o. Kap.2,1.2.). Einen eigenständigen begrifflichen Rahmen erhält das wirkende Handeln aber erst jetzt durch den Begriff des Aufbauens. Zwar betont die Rede, daß es sich beim Aufbauen der Liebe um eine metaphorische Redeweise handelt, doch der poietisch-wirksame Charakter des Bauens bleibt auch für die Liebe erhalten. Drei Grundbestimmungen prägen solches Aufbauen: „Liebe ist der Grund [Gründen], Liebe ist das *Gebäude [Bygningen], Liebe erbaut [opbygger]" (240/209). Gegenüber einer herkömmlichen Handlungsbeschreibung fällt die Dreigliedrigkeit dieser Struktur auf: Wird sonst herstellendes Handeln vorwiegend als Verhältnis von Zweck und Ausführung, von Worum-willen und Herstellen beschrieben 3 , so tritt in TL neben das Worum-willen (das „Gebäude") und den Herstellungsakt noch als drittes

2 3

312: „The two halves of Works of Love thus relate to one another as .theory' (the Law) and .practice' (the Gospel). The spark that connects them [...] is grace." Allerdings ist die Charakterisierung des ersten Teil als „theory" im Unterschied zur „practice" sowohl in handlungstheoretischer als auch in exegetischer Hinsicht als reduktionistisch zu bewerten. G. Fend, Works beschreibt das Verhältnis von Imperativ und Indikativ als maieutische Rhetorik, die dem Leser einen harten Einstieg zumutet, um so den Ernst hervorzurufen, der dann im zweiten Teil in Glaube und Hoffnung überführt wird (ebd. 27,15). J. Ferreira, Blindness sieht zwar die Komposition von TL durch „a progression of increased concentration on concreteness and difference" (ebd. 213) geprägt; doch auch sie folgt dem Schema von Gebot und Erfüllung, ohne dieses Schema allerdings mit der Abfolge der beiden Buchteile zu identifizieren: den Perspektivenwechsel vom Gebot zur Tat lokalisiert sie bereits in /,IV. Im Unterschied zu all diesen Ansätzen versucht die von mir vorgeschlagene Unterscheidung, Handeln und Gebot nicht zu trennen, sondern Sollen und Können als unterschiedliche Hinsichten desselben Handlungsphänomens zu begreifen. S. EN 1140 a Iff. Vgl. beispielhaft R. Bubner, Handlung, 74ff.

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

223

Element der „Grund" hinzu. Dieser Grund ist mit dem Zweckbegriff zwar sachlich identisch (die Liebe ist gleichermaßen Grund und Gebäude), aber als Beschreibungselement unterschieden. Der „Grund" ist ein unverzichtbares Strukturelement im alltäglichen Verständnis des Aufbaubegriffs: „,Erbauen' heißt also, etwas von Grund auf [fra Gründen afj in die Höhe führen" (235/204f.). Damit ist bereits eine erste, wenn auch zunächst nur formale Distanzierung von dem Modell des zweckrationalen Herstellens vollzogen. Denn die Aufstellung des dritten Handlungselements „Grund" durchbricht das Primat des Zweckbegriffs gegenüber dem Herstellensakt und unterläuft zugleich die ontologische Unabhängigkeit oder Selbständigkeit, in der die beiden anderen Strukturelemente innerhalb eines rein poietisch gedachten Handlungsmodells zueinander stehen 4 . Das Werk der Liebe läßt sich danach von der Handlung seiner Herstellung gerade nicht trennen, sondern Grund, Herstellen und Werk bilden eine Einheit. Solche Überschreitung des Poietischen fällt offenbar sachlich zusammen mit dem metaphorischen Schritt von der „sinnlich-seelischen" zur „geistigen" Bedeutung des Aufbauens (233/203). Ist der Geist das „positive Dritte" (KT, 8), so ist in seinem Bereich das Werk des Bauens nicht mehr ein „sinnliches" Gebäude oder Produkt, sondern muß selbst als etwas Geistiges, d.h. im Zusammenhang mit dem Geistwesen Mensch gedacht werden 5 . Deshalb besteht das Werk der Liebe darin, die Geistexistenz eines anderen Menschen aufzubauen, d.h. seine Liebe aufzubauen. Dieses Aufbauen zeigt sich in seinen Phänomenen primär als das Herstellen eines Lebenszusammenhanges: „Wenn wir eine zahlreiche Familie in eine kleine Behausung ein-

4

5

Zu diesen Charakteristika des Produktionsmodells vgl. Aristoteles, EN 1140b 5-7, und dazu R. Bubner, aaO. 75: „Produkten ist es eigentümlich, daß sie von zwei Seiten her definiert werden können. Man kann sie als Ergebnisse eines Herstellungsprozesses, aber auch als Dinge in der Welt beschreiben. Ein Tisch oder ein Schuh tragen objektive Merkmale, die sich unabhängig von ihrer Genesis angeben lassen, auch wenn jene Dinge ihre Existenz nicht natürlichen Vorgängen, sondern planmäßiger Produktion verdanken." Beim praktischen Handeln kann demgegenüber die Trennung von Produkt und Produktion gerade nicht aufrechterhalten werden. Diese Trennung impliziert zugleich das angesprochene Primat des Produktes vor der Herstellungshandlung: Die herstellende Handlung erfolgt ausschließlich um des Zweckes willen, nicht aber umgekehrt; Handlung und Zweck stehen nicht in einem dialektischen Verhältnis gegenseitiger Bedingung, wie es für das praktische Handeln charakteristisch ist, s. R. Bubner, aaO. 74f£ Für eine ausführliche Analyse des Begriffs „erbaulich" im Werk Kierkegaards vgl. J. Ringleben, Aneignung, 25-95; ferner P. Müller, „Das Erbauliche"·, H. Deuser, Kierkegaard, 155f£

224

3. Kapitel: Das Können

gepfercht sehen, und wir sie dennoch in einem gemütlichen, freundlichen - geräumigen Heim wohnen sehen, so sagen wir, das sei ein erbaulicher Anblick, weil wir die Liebe erblicken, die in den einzelnen und in jedem einzelnen zugegen sein muß, da ja ein einziger Liebloser schon genug wäre, um den ganzen Platz einzunehmen" (238/207). Geistiges Aufbauen kann demnach trotz des metaphorischen Übergangs nicht ohne die sinnlich-seelische Komponenten einer leibgebundenen Handlung gedacht werden. Auch Liebe erbaut ihr Werk in Leiblichkeit, aber diese ist nun die „geistige" Leiblichkeit der Liebe: die Ermöglichung humanen Zusammenlebens in seinen leiblichen Bedingungen. Die Leiblichkeit dieses Werkes ist die einer bestimmten Kommunikation, in der etwas Aufbauendes, „Erbauliches" vernehmbar mitgeteilt und aufgenommen wird. Entsprechend zeigt für Kierkegaard auch der allgemeine Sprachgebrauch, daß das Wort „erbaulich" niemals für ein selbstbezogenes Tun, sondern ausschließlich für Formen von Interaktion gebraucht wird6. Die leibliche Wirksamkeit des Aufbauens liegt in seiner physisch erlebbaren Expressivität, so daß der Vater den verlorenen Sohn „erbaute [...] in Wahrheit durch seine väterliche Vergebung, eben weil der Sohn recht lebendig empfand, daß die väterliche Liebe mit ihm ausgehalten hatte, so daß kein Bruch geschehen war" (246/214). Auferbauung hat ihren Ort in der expressiven Dimension einer bestimmten Kommunikationsform. Der metaphorische Schritt in die geistige Bedeutung kann als eine Überführung des poietischen in ein praktisches Handeln (im Sinne der aristotelischen praxis) verstanden werden, ohne daß damit die sinnlich-seelische (leibliche) Dimension des poietischen Bewirkens aufgegeben wäre: Auferbauung ist Interaktion und zweckhaftes Handeln. Auch das geistige Aufbauen ist wesentlich ein wirksames und damit auch leibliches Handeln: „Denn Liebe kann und will nur auf eine einzige Art behandelt werden, nämlich durch Hervor lieben [ved at elske frem\, sie hervorlieben heißt erbauen" (241f./210).

6

„Wenn wir dergestalt sehen, wie ein einzelner Mensch in lobenswerter Einfachheit sparsam mit Wenigem auskommt, so ehren und preisen wir ihn, wir freuen uns an diesem Anblick, wir werden dadurch im Guten befestigt; aber wir sagen nicht eigentlich, es sei ein erbaulicher Anblick" (237Í./207). Bei allen Beispielpaaren, die Kierkegaard an dieser Stelle bringt (der Sparsame/die Hausfrau; der Reiche im Palast/die arme Großfamilie; der Schläfer/das bei der Mutter schlafende Kind; das Kunstwerk/das Kunstwerk, das in Liebe zu einem Anderen zerschlagen wird), liegt der Akzent auf dem Unterschied von selbstbezogenem und gemeinschaftsbezogenem Handeln.

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

225

Die Liebe hervorzuheben bedeutet, den Anderen zum Liebenkönnen zu befähigen oder zu veranlassen. Liegt die Wirksamkeit der aufbauenden Liebe darin, in dieser Weise eine Praxis der Liebe beim Anderen zu ermöglichen, so ist dies eine praktische Interpretation einer früheren Wirkungsbestimmung. In TLl,lll A. war als das Ziel der Liebe die Hilfe zum Gottesverhältnis angegeben worden. Daß diese Hilfe nicht rein spiritualistisch, sondern praktisch zu verstehen ist, hatte ich bereits bei der Analyse dieses Textes behauptet. Mit 7X2,1 nun läßt sich das Gottesverhältnis endgültig als eine Praxisform, als eine Handlungsfähigkeit verstehen. Der Einsatz des zweiten Teils mit dem poietischen Begriff des Aufbauens und die Einführung dieses Begriffs durch die Diskussion seiner metaphorischen Komplexität kann demnach als wegweisend für alles Folgende verstanden werden: Das Tun der Liebe wird von nun an als ein intersubjektiv wirksames 1\in verstanden, und solche Wirksamkeit ist im komplexen Verhältnis von Leib und Geist zu beschreiben. Wirksames Handeln ist ein Können im Sinne von „etwas tun können". Dieses Etwas des Könnens muß aufweisbar und empirisch beschreibbar sein, und zwar in doppelter Hinsicht: als eine einem Subjekt zuschreibbare Äußerung und als eine dieser Äußerung zuschreibbare Einwirkung auf andere Subjekte oder Zustände. Freilich ist das faktische Einwirken auf andere noch nicht identisch mit dem Auf-andere-einwirken-Können im Sinne eines intendierten und damit moralisch zuschreibbaren Handelns. Das Sich-äußern-Können impliziert noch nicht notwendigerweise ein bestimmtes, intendiertes Einwirken-Können mittels dieser Äußerung 7 . Doch läßt sich offensichtlich zumindest in TL2 die expressive Äußerung nicht von ihrer intersubjektiven Wirkung trennen. Vielmehr werden beide im Begriff des Aufbauens zusammengedacht. Lieben zu können ist als kommunikative Praxis eine poietische Kunst, eine „Baukunst" (244/213)8. In7

8

Vgl. G.H. v. Wright, Norm, 39£: „This correspondence between act and change is an intrinsic or logical tie. The act is, as it were, .defined' as the act of effecting such and such a change [...] Unlike the relation between an act and its result, the relation between an act and its consequences is extrinsic (causal)." Vgl. die zentrale Bedeutung des Kunstbegriffs und die Unterscheidung von Kunst und Wissen in den Vorlesungsentwürfen zur Mitteilungsdialektik. Die Kernthese dieser Entwürfe lautet: „Das Ethische muß als Kunst mitgeteilt werden, gerade weil es jeder weiß" (Pap. VIII 2 Β 81,13). Das Vorauszusetzende ist hier aber nicht ein theoretisches Wissen, sondern ist, wie das Korporal-Beispiel zeigt, ein Können, eine „potentielle Fähigkeit" (s. ebd. 81, 5). Die Kunst als Kommunikationsform entspricht einem ursprünglichen Können. Daß also das vorauszusetzende Wissen bereits durch dieses Können bestimmt ist, scheint mir in H. Fahrenbachs Interpre-

226

3. Kapitel: Das Können

dem Kierkegaard das Lieben als aufbauendes Handeln beschreibt, ist die Wirkung als integraler Bestandteil der Handlung gedacht; die Wirkung kann nicht von einer vorgängigen Basis- oder Willenshandlung getrennt werden, und umgekehrt ist die .äußerliche' Erscheinung, das „Werk" der Liebe, vom Vollzug dieser Liebe selbst unabtrennbar9. Das aufbauende Handeln der Liebe kann also insofern als ein Können verstanden werden, als es ein wirksames Handeln darstellt, d.h. das Hervorbringen eines „Werkes"10. Darüberhinaus impliziert der Begriff des Könnens zweitens eine grundsätzliche Fähigkeit, dieses bestimmte Werk oder diese Wirkung hervorzurufen. Auf solch

9

10

tation verlorenzugehen, wenn dort das vorauszusetzende Vermögen einseitig in bewußtseinstheoretischer Terminologie beschrieben wird: nämlich als ein „mögliches Verstehen" und „Wissen", das der Angesprochene „im inneren Handeln seines Sichselbstverstehens aktualisieren kann" {Ethik, 180). Auch Fahrenbachs wiederholte These, daß Kierkegaard von einem grundlegenden Wissen um das Gute ausgehe und deshalb auf eine explizite Pflichtenlehre verzichten könne (ebd. 184f.), bezieht sich auf ein Verständnis des vorausgesetzten ethischen Könnens als moralischem Wissen. Dieses Verständnis wiederum hat seine eigene Voraussetzung, nämlich den Kantischen Begriff praktischer Vernunft. Fahrenbachs problemgeschichtliche These, daß Kierkegaards Fragestellung von der Ethik Kants ihren Ausgang nimmt, ist dann lediglich die logische Konsequenz dieser Voraussetzung. Vgl. D. Davidson, Agency, bes. 52-61. Davidson zeigt, daß die Wirkungen einer Handlung in einer bestimmten Beschreibungsform mit der Handlung selbst („primitive action") zusammenfallen. Diese (alltagssprachliche) Beschreibungsform ist der „accordion effect" (ebd. 53), in dem die Folge der Wirkungen einer einfachen Handlung aufgezählt, aber zugleich nicht getrennt, sondern in der Vorstellung des Handelnden als des Verursachers der Wirkungen zusammengesehen werden; die Wirkungen sind, als Element eines Kausalverhältnisses (!), analytischer Bestandteil der einfachen Handlung. Davidson setzt sich damit ausdrücklich von Dantos Versuch ab, die Handlung als „Basishandlung" von ihren Wirkungen zu unterscheiden. Aus einer ganz anderen Perspektive können auch die verschiedenen Formen eines geschichtlichen oder narrativen Handlungsbegriffs zur Verteidigung der analytischen Einheit von Handlung und Handlungswirkung herangezogen werden; denn erst im (realen oder antizipierten) Durchgang durch die Geschichte ihres Verstanden- und Beantwortetwerdens ist eine Handlung vollendet, vgl. A. Maclntyres These, „daß der Begriff einer verständlichen Handlung doch ein fundamentalerer Begriff als der einer Handlung an sich ist" (Verlust, 279). Die Frage nach der Wirkung (Auferbauung) der Liebe auf andere Subjekte ist also zu unterscheiden von der Frage nach der Verursachung der Handlung (vgl. hierzu Kap. 2, Π.3.). Liebe wird für Kierkegaard nicht kausal verursacht, aber sie hat ihrerseits Wirkungen. Ob diese Wirkungen kausal zu beschreiben sind, muß im folgenden noch klar werden. Die Metaphorik der Liebe als Werk und Gebäude läßt erneut die Vorstellung des Handlungsraumes anklingen; zur Bedeutung dieser Metaphorik für den Selbstbegriff vgl. KT 401

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

227

eine Fähigkeit, die vom Können im Sinne der Wirksamkeit logisch zu unterschieden ist, scheint der Begriff des „Grundes" zu verweisen11. Erst hierdurch ist der handlungstheoretische Begriff des Lieben-Könnens analytisch vollständig erfaßt: als Fähigkeit, als Wirkung und als Vollzug, der von der Fähigkeit zur Wirkung führt 12 . Diese Struktur des Könnens ist eine erste handlungstheoretische Bestimmung der drei Elemente, die Kierkegaard für den Begriff des liebenden Aufbauens festhält (Grund, Herstellen, Werk). Sie ist streng als Interaktion zu denken; sie betrifft ausdrücklich und ausschließlich den Bereich der Intersubjektivität, nicht aber den Bereich eines bloß subjektiv orientierten oder auch eines einseitig strategisch-zwekkorientierten Handelns. Das bedeutet auch, daß jedes der drei Elemente hinsichtlich seines intersubjektiven Charakters beschreibbar sein muß. Liebendes Aufbauen ist ein Können im Sinne eines Werkes, eines Grundes und eines Vollzugs, und jedes dieser drei Elemente beschreibt die Interaktion von zwei (oder mehr) Akteuren. Es ist m.E. wichtig, in dieser Weise die fundamentale Bedeutung von Wirksamkeit und Können für das Handlungsverständnis von TL eigens herauszuheben, da diese Begriffe in anderen Schriften des Kierkegaardschen Œuvre sehr viel kritischer gesehen werden. Insbesondere in der Unwissenschaftlichen Nachschrift wird der zweite eben genannte Aspekt des Könnens, die intersubjektive Wirkung der subjektiven Äußerung, als unethische Zufälligkeit diffamiert, die allein „dem Welthistorischen" zuzuschreiben ist, nicht aber dem handelnden

11

12

Diese Unterscheidung von Wirksamkeit und Fähigkeit entspricht der Differenzierung von „the can do of success" und „the can do of ability" bei G.H. v. Wright, aaO. 50f. In der analytischen Handlungstheorie wird die Wirkungsdimension des Handelns oft im Kontext rechtstheoretischer Überlegungen zur Anrechenbarkeit von Handlungsfolgen diskutiert, vgl. A. Kenny, Will Kap. IV; E. Herms, Kirchenrecht, 222ff. diskutiert die Handlungsfähigkeit als Einwirkungsfähigkeit unter dem Begriff der „Macht". Die beiden Aspekte des Könnens können auch hinsichtlich ihrer räumlichen Metaphorik unterschieden werden: Die Wirkung ist an die Richtung nach oben, also an das „op-" von „opbygge" gebunden; daher wird auch die Wirkung des Liebens als „Hervorlieben" („opelsker": 241/210 bzw. „fremelsker": 242/210) beschrieben. Die Fähigkeit dagegen hat die Richtung nach unten, in den „Grund"; auch das „Voraussetzen" geht „nach unten" und hat von daher zunächst einen engeren Bezug zur Fähigkeit als zur Wirkung (s.u.). Zur Bedeutung solcher „orientational metaphors" vgl. G. Lakoff/M. Johnson, Metaphors, 14ff. Zum Sprachgebrauch ist anzumerken, daß ich die Termini „erbauen" und „aufbauen" für diesen Text als Synonyme für das dänische „opbygge" verwende.

228

3. Kapitel: Das Können

Subjekt (s. AUN1, 123ff., 145)13. Im Humor liegt das Bewußtsein, bei allem Handeln nichts zu vermögen, so daß dem Wirken keine Wirkung, kein Werk entspricht (s. AUN2, 215). Hier wird also eben jene oben angesprochene Unterscheidung vollzogen, wonach ein ethisches Sich-äußern-Können nicht auch zugleich eine diesem Subjekt zuschreibbare Einwirkung auf andere Subjekte oder Objekte sein muß. Diese logische Differenz wird in der Nachschrift zu einer ethischen Forderung: die Orientierung an der Äußerung ist geboten, die an der Wirkung aber ist gerade unethisch. Aber mit dieser Diffamierung der Wirkung wird zugleich auch der erste Aspekt zunehmend problematisch. Die religiöse Aufgabe, im Endlichen das Verhältnis zum absoluten Telos auszudrücken, kann nur noch negativ gedacht werden: Der Religiöse „will alles tun, er will dies Verhältnis absolut ausdrücken, aber er kann die Endlichkeit nicht kommensurabel dafür machen" (AUN2, 193). Solches Bewußtsein der eigenen Unwirksamkeit führt zwar zu einem neuen Gottesverhältnis, in dem der Mensch umgeschaffen wird (s. 4R4, 33). Auch ist damit nicht das welthafte Handeln negiert zugunsten eines reinen Nichtstuns; denn auch der um seine Unwirksamkeit vor Gott Wissende lebt und handelt in der Welt und nimmt in seiner Nichtigkeit vor Gott an Gottes innerweltlichem Schaffen teil (ebd.). Doch die grundsätzliche Abwertung des Handelnkönnens bleibt bestehen in Form der ontologischen These, daß es im Medium der Geschichte keine direkte Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirkung geben könne. Dies kann auch beschrieben werden als das handlungstheoretische Axiom, daß die Wirkung kein Bestand-

13

„Welthistorisch sehe ich die Wirkung, ethisch sehe ich die Absicht." ( A U N 1 , 145). Eine ethische Kritik des wirksamen Könnens wird ebenfalls in der Beichtrede von 1847 durchgeführt, und zwar als Kritik eines bloß empirisch verstandenen Zweckhandelns („Klugheit"), s. ERG, 95ft, 103ft; vgl. ebenso die Kritik des Lohngedankens, ebd. 43f£ Der dieser Kritik zugrundeliegende Güterbegriff kann die Frage der (immer bloß endlichen) Wirksamkeit gegenüber der Praxis des (unendlichen) Strebens vernachlässigen, vgl. A. Hannay, Kierkegaard, 210f£ Solches Primat des - Vollzugs geht freilich einher mit einer Abwertung der Gegenstände dieser Praxis. Trotz des im Vergleich zu Kant stärkeren tugendethischen Interesses an der psychisch-realen Konkretion des höchsten Gutes (vgl. A. Hannay, ebd. 224f£) wird in dieser Schrift die soziale, relationale und leibliche Struktur der tugendhaften Praxis unterbestimmt. Allerdings wird dem ethischen Handeln hier eine indirekte und negative Wirksamkeit zugesprochen: Es provoziert Reaktionen der Umwelt und bewirkt so, „daß die Umwelt dadurch offenbar wird, wie sie über ihn urteilt" (ERG, 104). Vgl. das Übersichtsschema zu den verschiedenen möglichen Typen der Güterlehre im Anschluß an die Ethikkritik der Nachschrift bei A. Rudd, Limits, 165.

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

229

teil der Handlung selbst oder des Handlungsbegriffes ist; eben dieses Axiom aber, so hat sich gezeigt, wird in TL bestritten. Die gegenüber TL andere Fragestellung der Nachschrift läßt sich am Erbauungsbegriff selbst ablesen. Denn auch Climacus verwendet ihn, aber er verwendet ihn ausschließlich in Hinsicht auf Subjektivität: es geht ihm allein darum, wie das einzelne Individuum erbaut wird; die Frage nach der Erbauung des Anderen taucht nicht auf (s. AUN2, 271-273). Allerdings spricht Climacus davon, daß das Individuum durch einen Anderen erbaut wird: Die Religiosität Β unterscheidet sich gerade darin von der Immanenz der Religiosität A, daß in ihr ein Individuum „sich zu etwas außerhalb seiner selbst (verhält), um Erbauung zu finden" (AUN2, 272). Diese Beziehung, die von Climacus christologisch gemeint ist, ist es, die in TL in Hinblick auf intersubjektive Wirksamkeit aufgenommen wird. TL scheint demnach das Verhältnis zwischen subjektivem Handeln und objektiver Welt grundsätzlich anders zu beurteilen als die vorausgegangenen Schriften Kierkegaards. Dabei nimmt das Buch zwar auch wesentliche Bestimmungen früherer Schriften auf, stellt sie aber ausdrücklich in den Rahmen der intersubjektiv-anthropologischen Fragestellung. Allerdings finden sich auch in 7X2,1 Sätze, die eine direkt aufweisbare Wirksamkeit des Aufbauens in Frage stellen und damit die frühere Kritik der Handlungswirksamkeit anklingen lassen: „Der Liebende arbeitet so stille und wie am Feiertag, und doch sind die Kräfte der Ewigkeit in Bewegung; demütig macht die Liebe sich unbemerkt, gerade wenn sie am meisten arbeitet, ja ihr Arbeiten ist, als täte sie überhaupt nichts. Ach, für die Geschäftigkeit und Weltlichkeit ist dies die größte Torheit: daß etwas, was in gewissem Sinne Nichtstun ist, die schwierigste Arbeit sein soll" (242/211). Die Wirksamkeit der Liebe wird hier zwar nicht zurückgenommen, wohl aber in die Verborgenheit des Feiertags, in den Schein der Unwirksamkeit und des Nichtstun gewiesen. Um das Verhältnis von Wirksamkeit und Verborgenheit zu klären, müssen wir uns der Weise zuwenden, in der die Rede das dritte Element bestimmt, das neben der Fähigkeit und der Wirksamkeit die Aufbauhandlung ausmacht: der Vollzug dieses Könnens.

2. Lieben als Sprechen: das Können voraussetzen Handelt es sich bei der Aufbauhandlung der Liebe um das Aufbauen von intersubjektiven Lebenszusammenhängen, so sind gemäß der genannten dreigliedrigen Formel das Gebäude ebenso wie der Grund

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3. Kapitel: Das Können

des Gebäudes selbst als Liebe zu bestimmen. Handelt es sich aber um das Aufbauen eines Anderen, dann geht es auch um die Liebe und das Liebenkönnen dieses Anderen: Der aufzubauende Lebenzusammenhang ist der eines Liebesverhältnisses, in dem die Beteiligten sich in Liebe zueinander verhalten (vgl. das oben bereits zitierte Beispiel der Großfamilie: die Liebe muß „in den einzelnen und in jedem einzelnen zugegen sein"). Für diese intersubjektive Aufbauhandlung ist nun jedoch entscheidend, daß der Grund zu dem Werk der fremden Liebe nicht vom aufbauenden Subjekt selbst gelegt werden kann. Diese Grundlegung kann gemäß schöpfungstheologischen Voraussetzungen allein Gott zukommen. Soll jedoch der Grund dennoch zur dreigliedrigen Struktur der Aufbauhandlung eines menschlichen Subjekts dazugehören, so kann dies allein in der Weise geschehen, daß das Aufbauen immer schon von diesem vorgelegten Gund ausgeht. Und in diesem Ausgehen-von im Sinne eines Voraussetzens liegt dann der Vollzug des Aufbauens: „Dergestalt haben wir die Erklärung dessen gewonnen, was es heißt, daß Liebe erbaut, und bei dieser Erklärung wollen wir verweilen: Der Liebende setzt voraus, daß die Liebe in des anderen Menschen Herz zugegen ist, und unter dieser Voraussetzung eben erbaut er in ihm die Liebe - von Grund auf, sofern er sie ja liebend im Grunde voraussetzt" (241/210). Hier haben wir die entscheidende Bestimmung des Vollzuges des Liebenkönnens: Liebenkönnen, oder liebendes Erbauen, geschieht, indem man die Liebe bei dem Anderen voraussetzt; vereinfacht gesagt: Lieben bedeutet, die Liebe vorauszusetzen. Die Frage ist nun, wie ein Voraussetzen als leibhaftiger und wirksamer Handlungsvollzug verstanden werden kann. Ich versuche, eine Antwort darauf zu geben, und möchte zugleich damit zeigen, daß mit der Bestimmung des Vollzugs als Voraussetzen sich das Verhältnis von Wirksamkeit und Verborgenheit klären läßt: Erstens ist das Voraussetzen nicht ein bloßes Bewußtsein von einem vorliegenden Gegenstand oder Zustand. In diesem Fall könnte es höchstens als Vollzug eines wie auch immer zu bestimmenden mentalen Aktes, nicht aber einer leibhaften Handlung gelten. Etwas vorauszusetzen ist der Form nach nämlich nicht ein Gegenstandsbewußtsein, sondern ein Satz. Und genau so wird es von Kierkegaard beschrieben: Die Liebe beim anderen voraussetzen hat die propositionale Form „daß p" 14 . Der propositionale Satz „daß die Liebe in des anderen 14

Zu der sprachanalytischen Differenz von Gegenstandsbewußtsein (bzw. einer gegenstandstheoretischen Ontologie) und Satzform vgl. E. Tugendhat, Einleitung,

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

231

Menschen Herz zugegen ist" (s.o.) ist die propositionale Auslegung der substanziellen Rede vom „Grund". Das Voraussetzen ist also zunächst als die propositionale Gestalt einer Sprechhandlung, als das Sprechen eines Satzes zu verstehen. Dies ist der ursprüngliche Handlungscharakter, der mit dem Voraussetzen gegeben ist. Als Satz ist das Voraussetzen eine Stellungnahme zu einem gegebenen Sachverhalt in der Form eines Ja/Nein-Urteils: „Ich setze voraus, daß die Liebe bei dir zugegen ist." Der „Grund" ist also zwar der Gegenstand des Voraussetzens, aber eben als Gegenstand eines Daß-Satzes und damit einer Ja/Nein-Stellungnahme; er ist ein behaupteter Sachverhalt. Doch diese Stellungnahme steht in einem intersubjektiven Zusammenhang, d.h. es ist, wie wir oben sahen, ein Urteil bezogen auf ein anderes Handlungssubjekt und damit auf die mit diesem Anderen gemeinsame Handlungspraxis. Die subjektive Liebe steht immer schon in einem Verhältnis zu dem Anderen. Das propositionale Urteil ist damit also zugleich intentional auf seinen ,Gegenstand' bezogen: es bezieht sich, als der Satz einer Leidenschaft (Liebe), auf das, worauf diese Leidenschaft gerichtet ist, nämlich auf das Hervorbringen und Aufbauen einer bestimmten Handlungspraxis mit diesem bestimmten anderen Subjekt 15 . Das heißt, der Satz vom Voraussetzen benennt weder ein nichtsprachliches Gegenstandsbewußtsein noch die (prinzipiell zu bewährende) sprachliche Behauptung eines objektiv gegebenen Sachverhalts; sondern er ist die sprachliche Form einer Intentio-

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3.-5. Vorlesung. Tbgendhat behauptet die formalsemantische Frage als Grundfrage der Ontologie, die nach dem Seienden als Seienden und damit auch nach dem Gegenstandscharakter des Seienden fragt und so die gegenstandstheoretische Engführung der Ontologie seit Aristoteles aufbricht: „Das, was wahr oder falsch sein kann und das dann, wenn es wahr ist, eine Tatsache ist, ist das, was behauptet wird, wenn wir einen assertorischen Satz aussprechen. Es scheint also, daß wir die fraglichen Gegenstände als das jeweils Gesagte oder Behauptete charakterisieren können" (ebd. 62). Als semantische Grundform erarbeitet Tugendhat die propositionale Struktur und die Form des Behauptungssatzes als einer Ja/Nein-Stellungnahme gegenüber einer (anderen) Behauptung, s. ebd. 74-76. Zu der hierin enthaltenen Kritik an der idealistischen Rede von Bewußtsein als einem Subjekt-Objekt-Verhältnis s. ebd. 81f£, 102f. und ders., Selbstbewußtsein. Durch die Intentionalität kommt die Gegenstandsorientierung also in gewissem Sinne wieder hinein, aber dieser Gegenstand selbst ist nicht gegenständlich, sondern praktisch: Gegenstand des Voraussetzens ist nicht einfach der Andere oder dessen Liebe, sondern die mögliche, zukünftige Realisierung dieser Liebe in Handlungen, und der propositionale Satz ist der dieser Praxis angemessene sprachliche Ausdruck, die unhintergehbar sprachliche Gestalt der Intentionalität. In demselben Sinn wurde auch in TL1,IV und V Intentionalität als sprachlich vermittelt dargestellt.

232

3. Kapitel: Das Können

nalität, in welcher der Liebende auf das zukünftige praktische WahrWerden dieses Sachverhaltes bezogen ist. Das im Voraussetzen Behauptete muß sich erst noch als wahr erweisen. So in dem Fall, „wenn wir sagen, daß die Mutter alle Unarten des Kindes erduldet, sagen wir dann damit, daß sie, als *Frau betrachtet, geduldig das Böse leidet? Nein, wir sagen etwas anderes, nämlich daß sie, als Mutter, niemals aufhört, daran zu denken, daß es das Kind ist, und demnach voraussetzt, daß das Kind sie doch noch liebt, und sich das schon zeigen werde" (246/214)16. Die propositionale Satzform ist also die sprachliche Darstellung und Gestaltung einer zugrundeliegenden intentionalen Beziehung: der Liebe als der ursprünglichen Ausrichtung einer Handelnden auf ein zukünftiges Handlungsverhältnis mit einem Anderen 17 . Der „Grund" der Liebe muß in propositionaler Form ausgedrückt werden, weil das zugrundeliegende Verhältnis und die ihm entsprechende Intentionalität des Handelns durch den Zeitmodus der Zukunft bestimmt ist18. Nicht immer kommt der Handlungscharakter dessen, was da vorausgesetzt ist, so deutlich zum Ausdruck wie in dem letzten Beispiel;

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In diesem Beispiel wird zwar das Voraussetzen als scheinbar innerliches Denken und nicht als Sprechen beschrieben. Dies ändert aber erstens nichts an der grundlegenden Satzform. Zweitens wird nicht durch den mentalen Akt als solchen, sondern durch den Satz, der die Voraussetzung ausdrückt (also den propositionalen Gehalt des Satzes), die Pointe dieser Passage benannt: Es geht nämlich darum, die Proposition des Voraussetzens als die einzig angemessene Beschreibung herauszustellen, durch welche das Handeln der Frau als eine Form der Interaktion zwischen Mutter und Kind erkennbar wird. Denn allein in dieser Beschreibungsform trifft es zu, daß Mutter und Kind einander nicht „fremd geworden wären" (ebd.), sondern aufeinander bezogen sind innerhalb eines Netzes gegenseitiger intimer Zeichen. Und damit ist bereits drittens ein indirekter Hinweis auf den Charakter des Sprechens als Kommunikation und Äußerung gegeben, der uns aber erst im folgenden beschäftigen wird. Demgegenüber argumentiert E. T\igendhat, Einleitung, 100 für die Priorität der propositionalen vor den intentionalen Bewußtseinsweisen: auch intentionale Bewußtseinsweisen ließen sich auf eine propositionale Grundstruktur zurückführen, nämlich auf einen Behauptungssatz über die Existenz des intentionalen Sachverhaltes. Von Kierkegaard aus lassen sich intentionale und propositionale Form nebeneinanderordnen: Die intentionale Form benennt das Verhältnis des Liebenden zum Geliebten als etwas Vorgegebenes (den „Grund"), die propositionale Form dagegen den Inhalt der Handlung, in der dieses Verhältnis gestaltet und vollzogen wird (das „Aufbauen"); offensichtlich können diese beiden Formen nicht aufeinander reduziert werden, sondern bedingen sich gegenseitig. Die kategoriale Differenz zwischen „Handlungsverhältnis" und „Intentionalität" ist so zu bestimmen, daß als Intentionalität die Weise gilt, in der das relationale Bezogensein auf einen Gegenstand für einen Handelnden ist.

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

233

meistens spricht Kierkegaard im propositionalen Voraussetzungssatz vom Zugegensein der Liebe im Anderen. Daß diese Aussage über das Sein der Liebe im Anderen aber gleichwohl im Sinne einer Praxis zu verstehen ist, wird schon daraus ersichtlich, daß ja auch die beim Anderen vorausgesetzte Liebe wiederum nur genauso wie die hier beschriebene Liebe gedacht werden kann: als ein Tun, nämlich als Voraussetzen. Im pragmatischen Begriff der voraussetzenden Liebe ist eine Reziprozität des Handelns enthalten: den Grund beim Anderen voraussetzen bedeutet, eine bestimmte Handlungsfähigkeit bei ihm vorauszusetzen, die wiederum dem eigenen Voraussetzen entspricht. Setzt A voraus, daß Β lieben kann, so behauptet A damit, daß Β voraussetzen kann, daß A lieben kann. Diese Reziprozität ist gegen alle Interpretationsversuche hervorzuheben, die das liebende Aufbauen in TL auf ein einseitiges, bloß subjektives Handeln reduzieren 19 . Das Voraussetzen hat die Form eines Ja-Urteils gegenüber einem gegebenen Handlungspartner und dessen Liebesfähigkeit, und dies ist damit zugleich ein Ja-Urteil über das Verhältnis mit diesem Handlungspartner, wie das biblische Beispiel des verlorenen Sohnes zeigt: „Es geschah trotz der Verirrung des Sohnes kein Bruch von Seiten des Vaters (und ein Bruch ist ja genau das Gegenteil des Erbauens)" (ebd.). Auch dies ist ein propositionaler Sachverhalt, der in Kommunikation mitgeteilt und erfahren wird: Das Erbauliche bestand darin, daß „der Sohn recht lebendig empfand, daß die väterliche Liebe mit ihm ausgehalten hatte, so daß kein Bruch geschehen war" (ebd.). Den Bruch zu vermeiden bedeutet, an dem Verhältnis festzuhalten, in dem beide handeln können. Das Voraussetzen ist das Können, in dem das Aufbauen vollzogen wird, insofern als es die propositionale Gestalt einer intentionalen Handlung innerhalb eines auf Zukunft bezogenen Handlungsverhältnisses ist: „Ich setze voraus, daß du mich lieben kannst und wirst." Es ist ein Sprechen-Können, das gerade auf das andere, fremde Können als seine eigene Ermöglichungsbedingung, und damit auf den „Grund" der Liebe als Grund einer gemeinsamen Praxis, verweist. Dies könnte niemals Inhalt eines Gegenstandsbewußtseins sein. Ein Gegenstandsbewußtsein könnte Aussagen über subjektive oder objektive Zustände oder Gegenstände machen, aber nicht über das Liebenkönnen des Anderen. Denn dies ist kein unmittelbar gegebener und verifizierbarer Gegenstand, sondern ein Sachverhalt,

19

Vgl. etwa B. Müller, Nächstenliebe, 157t Einen positiven Begriff von Gegenseitigkeit in TL arbeitet dagegen A. Gr0n, Gegenseitigkeit heraus.

234

3. Kapitel: Das Können

der immer nur behauptet werden kann: die Möglichkeit zukünftiger Handlungen. Das (gegenseitige) Handelnkönnen ist keine empirische Entität 20 . Eine Aussage über das Liebenkönnen muß propositional sein, weil der darin benannte Gegenstand nur in Sprechakten erfaßt werden kann, die bestimmte Geltungsansprüche erheben. Der Gegenstand, auf den diese assertorischen Sprechakte Bezug nehmen, ist die Liebe als gemeinsamer „Grund", die Beziehung der Handelnden als reale Möglichkeit; doch dieser „Grund" kann nicht gegenständlich werden, vielmehr ,gibt es' ihn immer nur in der Form von Behauptungssätzen, also im Voraussetzen als dem Vollzug des Aufbauens. In diesen Sprechakten wird der „Grund" zu einer aktualen Wirklichkeit, oder man kann auch sagen: in ihnen bringt er sich selbst zur Darstellung. Im Begriff des Liebenkönnens ist zwischen dem „Grund" als intentionalem Gegenstand des Handelns und dem Voraussetzen als intentionalem Vollzug des Handelns und Selbstdarstellung des Grundes analytisch zu unterscheiden. Damit ist noch nicht gesagt, daß auch alle Äußerungen der Liebe immer eine propositionale Form haben müssen. Möglicherweise gibt es für die aufbauende Liebe viele verschiedene Äußerungsformen und Zeichen. Doch wenn der Satz des Voraussetzens fundamental ist für die Struktur aufbauender Liebe, dann bedeutet dies, daß jede Äußerung und jedes Zeichen der Liebe hinsichtlich ihres Inhaltes unter diesem Satz beschreibbar sein muß. Denn nur in dieser Weise wird der „Grund" explizit, ohne den doch das Aufbauen nicht gelingen kann; und dieser „Grund" besteht eben darin, daß auch der Geliebte lieben kann. Es handelt sich hier um dieselbe Denkfigur, die wir bereits bei der Erörterung des fragenden Handelns gesehen hatten: die intentionale Bezogenheit der Liebe auf den Anderen verlangt eine sprachliche Form, in der die mögliche liebende Antwort des Anderen

20

Vgl. A. Kenny, aaO. 124ff. Natürlich haben auch Gegenstandsaussagen eine propositionale Form. Doch wird in der Sprechakttheorie auch diese Aussage nicht mit einem empirischen Gegenstand in der Welt einfach identifiziert, vielmehr ist der Gegenstand ontologisch vom Behauptungsmodus der Aussage her bestimmt, vgl. E. Tugendhat, aaO. 60f.: Das Sein des Gegenstandes ist das als wahr behauptete Sein. Einen ähnlichen ontologischen Status scheint mir Kierkegaard zumindest auch für das Sein der Liebe anzunehmen (vgl. aber auch die Bemerkungen über die erkenntnistheoretische Rolle des Glaubens in PB, 77f.). Der Unterschied zur Sprechakttheorie liegt darin, daß Kierkegaard die Sprechakte selbst noch einmal in einer zugrundeliegenden Intentionalität gegründet sein läßt. Doch können auch diese Intentionalität und die in ihr erschlossene Beziehung nicht abgesehen von bestimmten Sprechakten beschrieben werden.

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

235

bereits ausgedrückt oder symbolisch dargestellt ist. Der Satz vom Voraussetzen der Liebe ist der Basissatz oder die Grammatik des Liebenkönnens. Aufbauend lieben zu können bedeutet also vorläufig, einen bestimmten Satz sprechen zu können, der den propositionalen Gehalt der Intentionalität der Liebe auslegt. Dieser Basissatz kann auch als die Regel des Liebens verstanden werden, so daß das Liebenkönnen darin besteht, gemäß dieser Regel handeln, d.h. in den Handlungen die Regel zur Darstellung bringen zu können. Die Vollzugsform des Aufbauens, das Voraussetzen des fremden Liebenkönnens, erweist sich als eine bestimmte Form von Sprechhandlung 21 . Diese Leistung des subjektiven Sprechens darf aber nicht von den anderen beiden Strukturelementen des Aufbauens getrennt werden; denn das Sprechen des Voraussetzungssatzes als Vollzug des Liebenkönnens wird überhaupt erst durch diese Elemente, Grund und Werk, erklärbar. Der propositionale Satz darf nicht von der intentionalen Beziehung getrennt werden. Das genaue Verhältnis dieser beiden Aspekte zueinander muß später geklärt werden. Entscheidend ist zunächst die fundamental sprachliche Verfaßtheit des Könnens als Vollzug. Liebenkönnen besteht darin, einen bestimmten Satz zu sagen oder durch Zeichenhandlungen so auszudrücken, daß er als dieser Satz von dem Geliebten verstanden werden kann. Das Verhältnis von Beziehung und Äußerung, von Intentionalität und Expressivität ist bestimmend für die Struktur dieses Handlungsbegriffes. Diese Struktur verhindert zugleich das Mißverständnis, als sei das Voraussetzen der fremden Liebe ein bloßes subjektives Motiv und somit die mentale Ursache eines erst noch folgenden Handelns; die kategoriale Unterscheidung von Denken und Handeln, die Climacus zum Ausgangspunkt seiner handlungstheoretischen Überlegungen nimmt (s. AUN2, 42), ist hier nicht mehr angemessen und verwirrt nur22. Das Voraussetzen ist viel21

22

Die Interpretation der Rede 2,1 soll lediglich zeigen, daß das Voraussetzen des fremden Liebenkönnens propositionale Form hat und hinsichtlich seines Vollzugs grundsätzlich als Behauptungshandlung zu verstehen ist; wie diese Sprechhandlung in ihren konkreten Vollzügen aussieht, werden erst die Reden II-IX zeigen. Doch ist es gerade diese kategoriale Trennung von Denken und Handeln, die für die meisten explizit handlungstheoretischen Untersuchungen zu Kierkegaard bestimmend geworden ist, vgl. exemplarisch C.S. Evans, Willi Andere vergleichbare begriffliche Unterscheidungen in der Beschreibung des Handlungsphänomen sowohl bei Kierkegaard als auch bei seinen Interpreten sind die Duale innen/außen und wirklich/möglich (vgl. erneut AUN2, 42ff.). Solche dualen Beschreibungen des Handelns tendieren jedoch dazu, das Handlungsphänomen als ganzes aus dem Blick zu verlieren. Der Vorteil des von mir zur Interpretation eingeführten Inten-

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3. Kapitel: Das Können

mehr selbst bereits (sprachliches) Handeln, insofern es als Äußerung innerhalb einer Beziehung verstanden werden muß 23 . Zweitens ist diese propositionale Gestalt zugleich der Grund für die Verborgenheit des Aufbauens. Da die Liebe beim Anderen als solche bereits vorliegt, bleibt dem Aufbauhandeln nichts übrig als allein eben dieses Voraussetzen. Dabei ist nicht der bloß propositionale Charakter dieses Handelns die Ursache seiner Verborgenheit (dieser Charakter müßte vielmehr für alle Handlungen behauptet werden), so als ginge es um einen Gegensatz von Denken und Handeln; sondern es ist die damit gegebene Reflexivität: Beim Anderen die grundlegende Liebe bereits vorauszusetzen, bedeutet, sich selbst von einem grund-legenden Handeln abzuhalten: „in jedem anderen Zusammenhang, in welchem von Erbauen die Rede ist, hat dies doch mit dem Niederreißen das Gemeinsame, daß es heißt, an etwas anderem etwas zu tun. Aber wenn der Liebende erbaut, so ist dies gerade das Gegenteil vom Niederreißen, denn der Liebende tut etwas an sich selbst: er setzt voraus, daß die Liebe in dem anderen Menschen zugegen sei - was doch wohl gerade das Gegenteil dessen ist, daß man an dem anderen Menschen etwas tut" (244/212f.). Das Voraussetzen ist insofern ein reflexives Handeln, als es eine Askese eben des poietischen Handelns ist, um das es im herkömmlichen Aufbauen doch geht: ein Sichenthalten des gestaltenden Handelns am Anderen, insofern solches Gestalten immer auch bedeutet, „über andere zu herrschen" (242/211). Was diese Askese ausschließt, ist zunächst eine bestimmte Praxisform: die Praxis des Herrschens, die darauf aus ist, „den andern Menschen umzuschaffen" und „die Liebe in ihm hervorzuzwingen"

23

tionalitätsbegriffs liegt gerade darin, daß damit voreilige begriffliche Gegensätze vermieden werden. Die Komplementarität von Intentionalität und Expressivität entspricht dem, was Kierkegaard an anderer Stelle (und nur wenige Monate vorher) als das Verhältnis von Form und Inhalt beschreibt, s. LA, 64f.: Die „Revolutionszeit" ist Kierkegaard zufolge durch „Leidenschaft" charakterisiert, diese Leidenschaft aber muß als „Form" verstanden werden, negativ formuliert: „Allein für eine ganz und gar äußerliche und gleichgiltige Dialektik ist die Form nicht des eigenen Inhaltes eignes Anderes und dadurch der Inhalt selber, sondern ein nicht dazugehöriges Drittes". In demselben Sinne kann auch der Satz des Voraussetzens aus TL2,1 als das Zugleich von Inhalt und Form verstanden werden: als der bestimmte Inhalt einer Intentionalität oder Beziehung (d.h. einer „Leidenschaft"), der zugleich die Form (d.h. die Handlungen) bestimmt, in der diese Beziehung vollzogen wird. Auch im Kontext von LA wird es durch das Form-Inhalt-Schema unmöglich, die Leidenschaft als bloße Verursachung einer folgenden Handlung zu verstehen; s. ferner AUN2, 36, 328 (Anm.).

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

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(241/210). Und zweitens ist es eine reflexive Perspektive des liebenden Handelns: der Liebende tut etwas an sich selbst. Daher ist Voraussetzen eine Form der „Selbstverleugnung" (ebd.). Dennoch ist diese Reflexivität in die vorgängige Intentionalität des liebenden Aufbauens eingezeichnet, sie ist „Erbauen durch Selbstüberwindung" (244/213). Es ist nicht die Askese eines Eremiten, sondern die reflexive Praxis eines in einem (intentionalen) Handlungsverhältnis stehenden und handelnden Akteurs 24 . Die Pointe dieser Reflexivität liegt nicht darin, die Wirksamkeit des betreffenden Handelns aufzulösen, sondern sie zielt darauf, diese reale Wirksamkeit dem handelnden Subjekt abzusprechen: „Ach, der Liebende hat überhaupt kein Verdienst" (242/211). So wie der Grund, so ist auch das hervorgebrachte Werk selbst nicht dem Subjekt des Könnens verdankt. Diesem Subjekt kann immer nur ein ausschließlich zweistellig verstandenes Handeln zugeschrieben werden, d.h. ein solches Handeln, in dem es allein mit sich selbst und dem Anderen zu tun hat. Dieses können nach Kierkegaard nur solche Formen sein, in denen stets einer über den anderen herrscht. Das tatsächliche Aufbauen der Liebe aber kann nicht zweistellig erklärt werden. In dieser Hinsicht gleicht es dem heimlichen Wachsen der Natur (243/21 lf.). Der Vollzug des Aufbauens obliegt dem Akteur, und dies ist sein Können. Doch dieses subjektive Können kann nicht aus sich selbst heraus verstanden werden. Sowohl die Fähigkeit als auch die Wirksamkeit dieses Könnens liegen ontologisch jenseits des reinen Vollzuges. Diese Tatsache muß der Vollzugsbegriff des Könnens ausdrücken, und er tut es, indem er das Können als bloßes Voraussetzen bestimmt. So wie das Voraussetzen den Grund als gegeben anerkennt, so anerkennt es, daß seine Wirksamkeit ausschließlich dem Können, d.h. dem vorausgesetzten „Grund" des Anderen zuzuschrei24

Die scheinbare Unvereinbarkeit von reflexivem, d.h. auf sich selbst gerichteten, und intentionalem, d.h. auf einen Anderen gerichteten Handeln entsteht dadurch, daß Kierkegaard auch die Reflexivität nur als konkretes, leibhaftiges Handeln denken kann. Dadurch kommt es zu dem Eindruck, als gebe es zwei verschiedene Gegenstände für ein und dasselbe Handeln. Der Widerspruch löst, sich, wenn man sieht, daß beide Gegenstandsbegriffe argumentationslogisch auf unterschiedlichen Ebenen stehen, zugleich aber in beiden dasselbe Handlungsphänomen gemeint ist. Diese Differenz von intentionalem und reflexivem Aspekt und die Einbettung des letzteren in den ersten Aspekt übersieht B. Müller, aaO., wenn sie das Tun der Nächstenliebe als „ein rein innerliches" versteht (ebd. 171); zu diesem Schluß kann sie nur kommen, weil sie die intentionale, leibliche, praktische Dimension, die die Semantik der Rede prägt, völlig vernachlässigt und dementsprechend das Tun der Liebe mit dem reflexiven Tun der Selbstverleugnung einseitig identifiziert.

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3. Kapitel: Das Können

ben ist. Der Liebende kann nur lieben, wenn der Geliebte selbst zu lieben vermag. Die Differenz ist entscheidend: Die Wirksamkeit des Handelns wird zwar relativiert hinsichtlich seiner subjektiven Verursachung, doch damit wird die Wirksamkeit des Handelns als solche nicht aufgehoben. Denn in diesem Handlungsbegriff ist der subjektive Anteil lediglich ein Element innerhalb der dreigliedrigen Struktur: Die Liebe ist zwar das Aufbauen als subjektiver Vollzug, doch dieser kann nicht gedacht werden ohne den Grund und das Werk, und dies sind keine subjektiven Bestimmungen mehr. Zugespitzt formuliert: Die Wirksamkeit des Handelns ist nicht der subjektiven Absicht eines einzelnen Akteurs (Intention) zuzuschreiben, sondern dem intersubjektiven Verhältnis, in dem dieser auf einen anderen bezogen ist (Intentionalität). Mit diesem Begriff von intersubjektiver Wirksamkeit hat TL die Skepsis der Climacus-Schriften hinsichtlich der Wirksamkeit des Handelns sowohl aufgenommen als auch überwunden. Für Climacus kann intersubjektives Handeln höchstens indirekt wirksam werden, da die Wirklichkeit des Anderen niemals vom Handelnden in seine subjektive Wirklichkeit übernommen werden kann; die fremde Wirklichkeit ist als gedachte immer eine bloße Möglichkeit (AUN2, 22f.), und die Wirksamkeit des kommunikativen Handelns beschränkt sich darauf, ein Anlaß zur Selbstrealisierung des Anderen zu sein (AUN2, 62ff.). In TL hingegen wird im dreigliedrigen Begriff des Aufbauens die Wirklichkeit zweier interagierender Subjekte zusammengedacht: Wirksames kommunikatives Handeln ist die Wirklichkeit der Liebe, aber nicht als ein bloß dem Subjekt zuzuschreibendes Handeln. Der Ort dieser Wirklichkeit ist der Raum der Interaktion zwischen den Subjekten. Daran hängt eine gegenüber den Climacus-Schriften veränderte Auffassung von Intersubjektivität: Die ausschließliche Orientierung am subjektiven Handeln kann den Anderen lediglich als Objekt wahrnehmen, wenn auch als absolut verborgenes, dem subjektivem Zugriff prinzipiell entnommenes Objekt. Die Indirektheit der Mitteilung reflektiert immer noch, wenn auch nur noch negativ, das idealistische Subjekt-Objekt-Denken, innerhalb dessen es unmöglich ist, den Anderen als Ko-Subjekt zu denken. Der Begriff der Liebe in TL scheint dagegen allererst einen genuinen Begriff von Intersubjektivität bereitzustellen: das Verhältnis zweier Handlungssubjekte, die in einem gemeinsam-geteilten Aufbauprozeß nicht-objektivierend miteinander vermittelt werden (vgl. o.). Die Verborgenheit der Wirksamkeit des Aufbauens macht Platz für die Reziprozität dieser Vermittlung. Die in

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

239

der Praxis des liebenden Voraussetzens mitgegebene Reziprozität des Liebens überwindet genau jene tiefe ontologische Kluft zwischen ego und alter, die in der Nachschrift durch die kommunikationstheoretische Verwendung der Kategorien Wirklichkeit und Möglichkeit festgeschrieben wird. Dies soll nun noch gezeigt werden. Und dabei ist prinzipiell klar: Diese strukturelle Gemeinsamkeit des Aufbauens gilt auch dann noch, wenn einseitig nur der eine liebt; denn der Beginn dieses Aufbauens ist die Liebe als eine jeweils faktisch bestehende intentionale Beziehung, die als Liebe die Gegenseitigkeit des Liebenkönnens setzt, d.h. intendiert.

3. Die Voraussetzung

des

Könnens

Nach der Wirkung und dem Vollzug des Aufbauens muß nun noch das vom Können selbst Vorausgesetzte untersucht werden. Diese Voraussetzung hatte ich oben als Können im Sinne der Fähigkeit bezeichnet. Das Eigentümliche der Fähigkeit zum liebenden Aufbauen liegt nun darin, daß hier noch einmal zwischen subjektiver und objektiver Fähigkeit unterschieden werden muß. Objektiv ist die Fähigkeit, also der „Grund", darin, daß es sich eben um die Liebe (also das Liebenkönnen!) des Anderen handelt, die vom Akteur vorausgesetzt wird. Mit dieser Objektivität muß nicht notwendigerweise gegeben sein, daß solche angenommene Liebe tatsächlich existiert, sondern lediglich, daß sie als existierend angenommen wird; es ist die Objektivität eines intentionalen Bewußtseins, die ihren Gegenstand in gewisser Weise selber setzt: „je vollkommener der Liebende die Liebe voraussetzt, eine desto vollkommenere Liebe liebt er hervor" (243/212)25. Die Abhängigkeit des Vorausgesetzten vom intentionalen Setzen ist hier deutlich angesprochen. Doch ist damit dieser intendierte objekti25

Zum Existenzsinn und dem damit zusammenhängenden propositionalen Charakter des intentionalen Bewußtseins vgl. C. Taylor, Erklärung, 85: Gefühle und Emotionen werden „in der Sprache der Intentionalität" beschrieben „als Gegenstände und Zustände, welche nicht in Wirklichkeit existieren müssen, damit unsere Beschreibungen richtig sind, die aber ,für' das betreffende Subjekt Gegenstände und Zustände sein müssen". Nach E. Tugendhat, aaO. 98ff. ist diese Unbestimmtheit hinsichtlich der Existenz des intentionalen Objekt kein Argument gegen die propositionale Grundform auch des intentionalen Bewußtseins. Intentionale Objekte sind in den meisten Fällen propositionale Gegenstände, die nicht durch singulare Termini (wie Eigennamen oder Personalpronomen), sondern durch nominalisierte Sätze ergänzt werden; allerdings nimmt Tugendhat den Fall des Liebens ausdrücklich von dieser Gruppe aus.

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3. Kapitel: Das Können

ve Grund ja gleichzeitig der Grund für das (Aufbauen-) Können des handelnden, voraussetzenden Subjekts: das liebende Voraussetzen ist gerade die Annahme der objektiven Existenz der fremden Liebe und insofern selbst erst durch diese angenommene fremde Liebe ermöglicht. M.a.W. das eigene und das fremde Liebenkönnen begründen sich gegenseitig 26 . Der Grund im Sinne der unverfügbar-vorgegebenen Fähigkeit ist also nicht als individuelle Substanz oder Potentialität gedacht, sondern als das sich je konkret vollziehende Können der Liebe, genauer: als das sich je vollziehende andere, fremde Können, das kommunikativ erfahren wird. Denn „daß die Liebe in des anderen Menschen Herzen zugegen ist" [Hervorhebung U.L.], ist ja gerade der „Grund" des Liebenkönnens 27 . Die Lösung vom Substanzmodell zugunsten eines Modells des reziproken Austausches demonstriert die Charakterisierung der voraussetzenden Liebe als „Eigenschaft für andere" (247/216). Das „für" ist perspektivisch gemeint, aber nicht bloß als ein Sein der subjektiven Liebe in der Wahrnehmung für die Anderen, sondern in erster Linie als Mitteilung und Äußerung der Liebe an die Anderen: Liebe ist „eine Eigenschaft, durch die oder in der du für andere bist" (248/216). Insofern solches Sein-für-Andere die Form des Voraussetzens der Liebe beim Anderen hat, ist es darüberhinaus als ein reales Sein-òe/zn-Anderen zu verstehen: Es wird angenommen, daß die eigene subjektive Eigenschaft ebenso real auch beim Anderen vorliegt. Dann aber ist der Eigenschaftsbegriff als Hinweis auf eine entsprechende individuelle Substanz, etwa im Sinne eines Charakters oder einer psychischen Disposition, aufgegeben, und statt dessen ist von 26

27

Und das bedeutet, daß ebenso auch die intentionale Bezogenheit auf das fremde Können und das eigene Handeln des Voraussetzens sich gegenseitig begründen und nicht aufeinander reduziert werden dürfen. Beide Aspekte bilden zusammen den Begriff des Liebenkönnens. L. Wingert, Gemeinsinn, lOlff. macht in seiner Bestimmung des Verhältnisses von Moral- und Handlungsbegriff deutlich, daß der Begriff des (moralischen) HandelnKönnens notwendigerweise ein bestimmtes Können auf der Seite eines Handlungspartners voraussetzt: „Zu den Könnensbedingungen des moralischen Sollens gehört auch ein soziales Können. Darunter ist zu verstehen, daß A eine zustimmende Reaktion von anderen qua Aktoren erwarten darf" (ebd. 101). Der einzelne Aktor kann moralisch nur handeln innerhalb eines mit anderen geteilten „normativen Kontext(es)": „Sprecher und Hörer müssen einen intersubjektiv geteilten Hand/«ngigrund haben" (ebd. 102). In vergleichbarer Weise kann das Liebenkönnen in TL als intersubjektiv geteilter Grund expliziert werden. Dabei muß dieser Grund aber nicht nur als jeweils in Anspruch genommene pragmatische Voraussetzung gelten, sondern kann darüberhinaus als bestimmte Qualität (Erstheit) der einzelnen Liebeshandlung verstanden werden.

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

241

einer Eigenschaft zu sprechen, die von zwei Individuen geteilt wird 28 . Bei der Liebe geht es für Kierkegaard primär um einen Austauschprozeß im leiblich-kommunikativen Medium gegenseitiger Äußerung; und dieser Prozeß wird als die ursprüngliche Wirklichkeit der Liebe behauptet. Die reziproke Begründung des Könnens durch das fremde Können, das „gleich um gleich" (243/212), ermöglicht es nun auch, einen möglichen Vorwurf gegen den Begriff des Voraussetzens abzuwehren: Wie ist das Voraussetzen gegen die Gefahr der Illusion geschützt? Antwort: Diese Gefahr ist allein durch die Wirkungen des Voraussetzens, also die Wirklichkeit des jeweils fremden Könnens gebannt. Diese Wirkungen sind die realen Phänomene der Liebe. Wo Liebe als real erfahren wird und sich das Voraussetzen dabei als Struktur dieser Erfahrung aufzeigen läßt, dort ist der Vorwurf der Illusion hinfällig29; Kriterium ist der Satz vom Voraussetzen der fremden Liebe. Auf solche Phänomene des Liebenkönnens verweist die Rede immer wieder (s. 237ff./207f.; 244ff./213f.). Liebenkönnen wird hier auf zweierlei Weise als Phänomen und Erfahrung thematisiert: Erstens thematisiert die Rede den Sprachgebrauch von „erbaulich" durch die Frage nach dem „erbaulichen Anblick" (238/207). Der Leser wird auf seine eigenen ästhetischen Erfahrungen mit der aufbauenden Liebe verwiesen: Welche Wahrnehmungen und Bilder nennen wir „erbaulich"? Die Analyse dieses Sprachgebrauchs ergibt, daß a) als „erbaulich" immer eine Interaktion bezeichnet wird, deren Kommunikationsstruktur b) durch die Ex28

29

Diese nicht-substantielle und nicht-habituelle Struktur der Liebe beschreibt auch eine andere Stelle: „falls er [sc. der Liebende] in Wahrheit liebevoll ist, so *ist es nicht er, der Liebe besitzt, im gleichen Sinne, wie er Weisheit besitzt, sondern *es ist gerade seine Liebe vorauszusetzen, daß wir anderen Liebe haben" (248/216). Die explizite Differenz von „Liebendem" und „der Liebe" macht es unmöglich, das von TL gemeinte Liebenkönnen ausschließlich als subjektives Phänomen, nämlich als Disposition oder auch als Tugend zu begreifen. Das Können hat seinen Ort im Medium der Interaktion, im Medium des Austausches von Zeichen und Äußerungen, nicht im Bereich subjektiven Disponiertseins zu bestimmten Formen von Interaktion. Insofern stellt der Liebesbegriff aus TL eine Grenze für die tugendtheoretische Interpretation der Ethik Kierkegaards dar, wie sie etwa R. Roberts, Existence ausführt. J. Ringleben, Aneignung interpretiert den Begriff des Erbaulichen ausdrücklich und ausführlich als Begriff religiöser Erfahrung (s. ebd. 74£, 424f£). Allerdings bleibt in dieser Interpretation der Zusammenhang der erbaulichen Erfahrung mit dem aufbauenden Handeln unberücksichtigt; die Äußerungen von TL2,1 über das intersubjektive Aufbauen werden im Vorbeigehen erwähnt und summarisch dem subjektiven Erbautwerden zugeschlagen (ebd. 62f).

242

3. Kapitel: Das Können

pressivität des Voraussetzens bestimmt ist (s.o.)· Zweitens wird der Leser auf seine eigenen subjektiven Begegnungen mit der Grammatik des Erbaulichen angesprochen: „Hast du das nicht selber erfahren, mein Zuhörer? Wofern jemals ein Mensch derart zu dir gesprochen oder derart gegen dich gehandelt hat, daß du dich dadurch wahrhaft erbaut fühltest, dann war das, weil du recht lebendig empfandest, wie er voraussetzte, daß Liebe in dir zugegen sei" (247/215). Der Verweis auf die lebensgeschichtliche Erfahrung des Liebenkönnens ist entscheidend für die Argumentation. Denn der Zuhörer wird ja durchweg selber als „Liebender" und als Liebesfähiger angesprochen30, und nun macht der Rekurs auf die Erfahrungen dieses Liebesfähigen deutlich: Die Erfahrung fremder Liebe ist der Grund dafür, daß der Angesprochene selber als Subjekt von Liebe gelten kann; ein zur Liebe fähiges Handlungssubjekt entsteht überhaupt erst durch kommunikative Zuschreibung von Liebesfähigkeit. Liebenkönnen als Voraussetzen ist ein Anerkennen, das ein Anerkanntsein voraussetzt. Die Wirklichkeit des Liebenkönnens ist die Wirklichkeit einer Praxis reziproker Anerkennung. Individuelles Liebenkönnen entsteht aus einem vorausgegangenen Kosmos gegenseitiger Anerkennung heraus und bezieht sich handelnd auf diesen Kosmos, den es eben durch dieses Handeln schöpferisch weiterträgt31. Fremdes Liebenkönnen ist der Grund ebenso wie das Werk des eigenen subjektiven Liebenkönnens. Solche Anerkennungspraxis wird hier allerdings lebensgeschichtlich, nicht aber als aktual gedacht, d.h. der vom Akteur Anerkannte und der den Akteur Anerkennende sind nicht notwendigerweise identisch. Genese und Aktualität des Liebenkönnens sind zu unterscheiden. Die geschichtliche Reziprozität des Liebenkönnens enthält gewissermaßen eine Ungleichzeitigkeit: Wer in der Vergangenheit aufbauende Liebe erfahren hat, ist dadurch in der Gegenwart gegen-

30

31

P. Müller, Kristendom, 45 passim zeigt, daß der Begriff „der Liebende [den Kjerlige\" für TL2 wesentliche Bedeutung als Ausgangspunkt der Argumentation hat. Wenn dies zutrifft, muß allerdings noch gezeigt werden, wie der existierende Liebende selbst entsteht oder gedacht werden kann. Eben diese Erklärung scheint mir der Verweis auf die Erfahrungen des Zuhörers maieutisch wie theoretisch leisten zu sollen. Indem Kierkegaard hier seinen Leser direkt anspricht, praktiziert er zugleich die in der Rede beschriebene Form einer voraussetzenden Kommunikation. Die phänomenologische Orientierung an den Wirkungen in dieser Rede verweist im übrigen auf die erste Rede aus TL1 zurück; auch dort war unter dem Begriff der „Frucht" der Phänomenbegriff für den Liebesbegriff in den Mittelpunkt gestellt worden, vgl. K. Nordentoft, Psychology, 382ff.

I. Das Liebenkönnen als Grund und Inhalt des Handelns

243

über einem völlig anderen Handlungspartner zum eigenen Aufbauen befähigt oder zumindest darauf ansprechbar; wer den Satz vom Voraussetzen einmal gelernt hat, ist in der Lage, ihn auch in neuen Fällen zu gebrauchen. Diese Ungleichzeitigkeit von Spracherwerb und Sprachgebrauch führt zu einer wichtigen inhaltlichen Pointe: Sie ermöglicht es, die Grundstruktur der Anerkennung zusammenzudenken mit der „Selbstverleugnung", d.h. mit einer Praxis, die durch reziprok nicht einholbare Vorleistungen eines Einzelnen bestimmt ist. Und die Einseitigkeit dieser selbstlosen Vorleistung, die gleichwohl intentional auf eine gemeisame Zukunft ausgerichtet ist, macht ja gerade das Phänomen des Liebens als Voraussetzen aus, wie etwa das Beispiel von Mutter und Kind zeigt (s.o.)32. In dieser phänomenalen Struktur des Aufbauens liegt nun auch die quasi-kosmologische Stellung der Liebe begründet: „Liebe ist der Ursprung aller Dinge, und im geistigen Sinne ist die Liebe des Geisteslebens tiefster Grund" (240/209). Schöpfungstheologisch ist die göttliche Liebe der Ursprung alles Geschaffenen, und dies drückt sich auch in dem Teilbereich der Schöpfung aus, der das „Geistige", also das Ethisch-Vernünftige umfaßt: Jede Handlung, die das Zusammenleben der Menschen (also der Geistwesen) in der Weise gelingen läßt, daß der Einzelne in seiner Handlungsfähigkeit anerkannt und so erbaut wird, ist eine Tat der Liebe. Auf diese Weise durchdringt die Liebe die gesamte Lebenswelt, ohne auf einzelne Äußerungen oder Formen dieser Lebenswelt reduziert werden zu können, und dieser Universalismus sichert das Können selbst: „Es gibt in der Sprache kein Wort, das an und für sich erbaulich wäre, und es gibt kein Wort in der Sprache, das nicht erbaulich werden oder erbaulich gesagt werden könnte, wenn Liebe in ihm gegenwärtig ist. Es ist deshalb ganz und gar nicht so (ach, das ist eben lieblose und streitsüchtige Irrung!), daß das Erbauliche der Vorzug einzelner Begabter wäre wie Wissen und Dichtergabe und Schönheit und anderes Derartige, daß vielmehr gerade umgekehrt jeder Mensch durch sein Leben, seinen Wandel, durch sein alltägliches Verhalten, durch den Umgang mit seinesgleichen, durch seine Worte, seine Äußerungen erbauen sollte und

32

Kommunikative Reziprozität und radikal einseitiges Handeln („Selbstverleugnung") stellen also für TL keinen unbedingten Gegensatz dar. Die einseitige Betonung des subjektiven Handelns in der Kierkegaard-Forschung findet bei K.-M. Kodalle, Eroberung einen - kommunikationstheoretisch reflektierten! - Höhepunkt, wenn dort kommunikative Vermittlung und kontingent-souveräne Subjektivität bei Kierkegaard als absoluter Gegensatz behauptet werden, vgl. ebd. 142ff., 304f£

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3. Kapitel: Das Können

erbauen könnte und es auch täte, falls die rechte Liebe in ihm wäre" (237/206f.). Alles kann zum Phänomen von Liebe werden, wenn es die Form von Auferbauung annimmt. Und dieses „Alles" ist sehr wörtlich zu nehmen: Einerseits ist damit jeder Mensch als potentielles Subjekt aufbauender Liebe angesprochen; darüberhinaus aber ist es das Ganze der menschlichen Lebenswelt als diejenige schöpfungstheologisch gedachte Vorgabe, die für alle Menschen dieselbe ist. Phänomen von Liebe ist, was aufbauend wirkt, und der Ort dieser Erscheinungen ist das Universum der geschaffenen Welt. Das subjektive Vermögen zur Liebe ist das mit dieser kreatürlichen Welt gegebene Können, es benennt die „Praxissituation geschöpflicher Freiheit" 33 : ein Handlungsvermögen, das „in einem unergründlichen Zusammenhang [uudgrundeligt Sammenhœng] mit dem ganzen Dasein" (12/15) steht. Diese Bedeutung der Phänomene, also der Wirkungen, für die Wirklichkeit der Liebe und für ihre Beschreibung scheint mir darin zu liegen, daß hiermit ein hermeneutischer Schlüssel gegeben ist, der die konkrete Vielfalt lebensweltlicher Phänomene unter dem Begriff der Liebe lesbar macht, ohne in die Aporien bloß subjektiven Handelns fallen zu müssen. TL spricht über die Liebe in Form einer Phänomenologie, welche die Wirklichkeit der Liebe anhand ihrer realen Wirkungen und Erfahrungen beschreibt. Die ontologische Basis der Liebeshandlungen ist damit nicht die subjektive Handlungsentscheidung, sondern die intersubjektiv geteilte Welt; diese gemeinsame geschöpfliche Welt wird, in einer noch auszuführenden Weise, als Medium und Ursprung der einzelnen Liebeserfahrungen erkennbar. Und der Hauptzeuge dieser gemeinsamen und geteilten Schöpfungsgabe ist, wie der zuletzt zitierte Text deutlich macht, die Sprache. Die Sprache ist das zentrale Medium des aufbauenden Handelns, dessen Vollzug, wie wir sahen, im wesentlichen durch seine sprachliche Form bestimmt ist. Damit ist dasselbe Begründungsniveau erreicht wie in der ersten Redenfolge mit dem Begriff des Liebesgebotes als Sprachhandlung: Liebe ist als Phänomen und Wirkung zu beschreiben, dies aber muß im Medium der Sprache geschehen; denn Sprache ist Äußerung und Ausdruck. Diese hermeneutische Funktion des Liebesbegriffs bedeutet dann auch, daß die Wahrheit des Begriffs nicht an einer partikularen und unter modernen wissenschaftlichen Bedingungen möglicherweise nicht mehr aufrechtzuerhaltenden christlichen Anthropologie

33

E. Herms, aaO. 208 passim.

I. Das Liebenkönii'jn als Grund und Inhalt des Handelns

245

hängt34. Die Orientierung an den Wirkungen der Liebe erlaubt es, den von TL angebotenen Schlüssel an den Phänomenen auszuprobieren, ohne einem solchen theoretischen Fundamentalismus folgen zu müssen.

4. Liebenkönnen als schöpferische Freiheit: Folgerungen und Aufgaben Das Aufbauen ist also die grundlegende schöpferische Leistung und damit die „eigentümlichste Bestimmung" der Liebe (240/209). Liebe ist „der Grund aller Dinge" (249/217), und zwar „geistig" verstanden, d.h. hinsichtlich der leibgebundenen Welt menschlicher Kommunikation. In diesem Verständnis von Liebe als schöpferischem Handeln liegt die programmatische Bedeutung der ersten Rede für die gesamte zweite Folge von TL. Die Fragen, die sich aus der bisher rekonstruierten Argumentation ergeben, können demnach die Richtung für die Bearbeitung des folgenden Textmaterials vorgeben. Der schöpferischen Kreativität entspricht handlungstheoretisch die Kategorie des Könnens. Das Können wird dabei aber nicht im Sinne einer abstrakten Handlungsfreiheit, also als Vermögen, gemäß vernünftiger Selbstbestimmung zu handeln, verstanden. Vielmehr ist es ein ganz bestimmtes Können: das Aufbauen der Geliebten zu einer gemeinsamen Lebenspraxis. Das geschöpfliche Liebenkönnen ist das Können einer bestimmten und damit schöpferischen Handlungsfreiheit35. Diese Liebe ist darin schöpferisch, daß sie etwas schafft, ein 34

35

In dieser Weise scheint K. Nordentoft, aaO. 380 die Wahrheitsfähigkeit des Liebesbegriffs als Voraussetzung des Grundes an eine nicht mehr diskursiv einholbare theologische Setzung zu binden: „If one disagrees with Kierkegaard about this anthropology, one must also find his psychology and his maieutics suspect." Gerade von dieser dezisionistischen Aporie auf der Theorieabene kann m.E. die Frage nach den handlungstheoretischen Grundlagen des Liebesbegriffs befreien. Was Nordentoft übersieht, ist, daß die Existenzaussage in dem Satz „Love is present, then" (ebd. 381) recht verstanden allein eine intentionale Realität meinen kann, d.h. ein Existierendes, das niemals ohne die Handlung gedacht werden kann, in der es realisiert oder angestrebt wird. Für TL gibt es keinen Grund ohne das intentionale Voraussetzen desselben, und umgekehrt. Das bedeutet methodisch, daß der vorausgesetzte Grund nicht allein Ausgangspunkt für die Beschreibung des Liebesbegriffs sein kann, sondern stets mit der Gestalt des Handlungsvollzuges zusammengesehen werden muß; erst von hier aus kann der Grund im Rückschritt als die ursprüngliche Ermöglichung der Tätigkeit aufgedeckt werden. Vgl. die Unterscheidung von abstrakt-„negativer" und bestimmt-„positiver" Freiheit bei C. Taylor, Irrtum.

246

3. Kapitel: Das Können

Werk nämlich, zu dem sie den Anderen und dessen schöpferische Liebesfähigkeit als Partner und Gegenstand braucht. Wir hatten gesehen, wie die Rede den Vollzug dieses Liebenkönnens der Liebe als eine Form des Sprechens beschreibt, die genau dem schöpferischen Werk- oder Phänomencharakter der aufbauenden Liebe entspricht: „Es gibt kein Wort in der Sprache, das nicht erbaulich werden oder erbaulich gesagt werden könnte, wenn Liebe in ihm gegenwärtig ist." Erbauung hat als Phänomen von Intersubjektivität ihren primären Ort in der Sprache, sie findet statt als Kommunikation und Ausdruck. Das Thema der folgenden Reden des zweiten Teils von TL ist nun die Frage nach den konkreten Vollzugsformen, in denen solches Aufbauen des „Werkes", also eines gemeinsamen Lebeszusammenhanges, „vom Grund auf", d.h. durch den Bezug auf das fremde Liebenkönnen, stattfindet. Wenn die hier vorgenommene Rekonstruktion zutrifft und der Vollzug des liebenden Aufbauens wesentlich die Form des Sprechens hat, so muß im folgenden danach gefragt werden, wie dieses Sprechen denn nun aussieht. Der Zusammenhang von Werk, Grund und Vollzug muß als Konkretion des Könnens in drei Hinsichten beschrieben werden: a) in Hinsicht auf den Liebenden als Subjekt des aufbauenden Handelns, b) in Hinsicht auf die im Aufbauen vorausgesetzte und geschaffene Intersubjektivität von Liebenden und Geliebten, c) in Hinsicht auf das Können selbst als ursprüngliche Möglichkeit des geschaffenen Lebens in Relationen. Alle drei genannten Aspekte sind in dieser ersten Rede bereits angeklungen, konnten aber erst sehr vorläufig beantwortet werden. Die drei Fragehinsichten möchte ich als Gliederung für den folgenden Zyklus der Reden 2,II-IX vorschlagen und damit zugleich die hier angerissenen Fragen an ihrem originären Ort weiterverfolgen. Dieser Gliederungsvorschlag muß sich in der Analyse der Texte bewähren. In den drei Fragehinsichten weist diese Gliederung eine deutliche Parallele zum Aufbau des ersten Teils von TL auf: Subjektivität, Intersubjektivität und Kategorialität des Sollens hatten wir auch dort als die wesentlichen Gliederungsmerkmale der Reden identifiziert, nur in umgekehrter Reihenfolge.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns 1. Intention und Intentionalität 1.1. Das Voraussetzen der Liebe als Behauptung: Glauben und Hoffen Wir hatten im vorherigen Kapitel gesehen, daß der Vollzug der aufbauenden Liebe wesentlich in einer Mitteilung besteht, die im Kern ein propositionaler Satz ist. Dieser Satz hat die Form einer Bejahung der jeweils vorliegenden Liebesbeziehung bzw. der Liebe des Anderen: „Ich setze voraus, daß in dir Liebe ist (d.h. daß du lieben kannst)." Doch scheint die bloße Proposition „p" noch nicht auszureichen, um den Satz als sprachliche Äußerung der Liebe angemessen zu kennzeichnen. Die Proposition „daß du Liebe hast" verlangt von sich aus nach einer weiteren Qualifizierung, um als Bejahung einer Liebesbeziehung gelten zu können. Eine bestimmte Form des Behauptens, ein „illokutionäres" oder „Behauptungsmoment", ist zwar immer schon ein immanentes Bestandteil der propositionalen Struktur, so daß diese vollständig als „Mp" zu beschreiben ist1. Solch ein Modus des Sprechens wird in 7X2,1 zunächst noch unbestimmt gelassen und lediglich durch den modal offenen Begriff des Voraussetzens umschrieben. Doch ist es nötig, die sprachliche Gestalt solchen Behauptens hinsichtlich ihrer kommunikativen Konkretion, d.h. als Handlung genauer zu bestimmen. Die beiden Reden II und III führen nun diejenigen konkreten Sprachformen vor, in denen jene Proposition als Aussage der Liebe auftritt: das Glauben und das Hoffen. Umgekehrt wird sich zeigen, daß Glauben und Hoffen als Phänomene der Liebe durch jene grundlegende propositionale Struktur bestimmt sind. Und genau dieses Ergebnis ist auch nach den Angaben Kierkegaards zu erwarten; denn die Rede 2,1 hatte bereits diese bei-

1

S. E. Higendhat, Einführung, 64ff.: Die Kernstruktur eines propositionalen Satzes besteht aus propositionalen Gehalt und Behauptungsmodus, symbolisiert als „Mp". Nach J. Habermas, Bedeutungstheorie, 124f. ist gerade der illokutionäre Modus des Sprechens der Träger der in der Sprache eingelassenen Rationalität.

248

3. Kapitel: Das Können

den Formen der Liebe dem Aufbauen und dessen propositionaler Struktur subsumiert (s. 244ff./212ff.). Warum muß die Bejahung als Glauben und Hoffnung qualifiziert werden? Und wie können andererseits Glaube und Hoffnung als wirksame Handlungen verstanden werden? In welchem Sinn kann bei diesen Phänomenen überhaupt von Handeln gesprochen werden? Ist es nicht angemessener, Glauben und Hoffen als besondere Bewußtseinsformen, Einstellungen oder Handlungsdispositionen zu verstehen 2 ? Zunächst liegt der Grund für die Charakterisierung als Handlung in Kierkegaards These, daß die Ja/Nein-Stellungnahme gegenüber dem Anderen ein Schluß ist, der kategorial von Formen des Wissens unterschieden werden muß. Glaube und Hoffnung sind die Schlußformen der Liebe, also der Bejahung: „Liebe ist genau das Gegenteil des Mißtrauens, und doch ist sie in das gleiche Wissen eingeweiht; im Wissen sind die beiden, wenn man so will, nicht voneinander zu unterscheiden (das Wissen ist ja eben das im unendlichen Sinne Gleichgültige); nur in der Schlußfolgerung [Slutningen] und der Entscheidung /Afgj0relsen], im Glauben [Troeri\ (alles glauben, und nichts glauben), sind sie einander genau entgegengesetzt" (253f./221). Der Begriff des Glaubens wird an dieser Stelle kategorial gebraucht, indem er sowohl auf „alles glauben" wie auf „nichts glauben" bezogen wird. Das bedeutet, es geht bei der Unterscheidung von Wissen und Glauben um die kategoriale Differenz von Wissen und Schließen (bzw. Urteilen). Das Wissen ist darin die unendliche Möglichkeit: die Möglichkeit, daß der Gegenstand sich jederzeit als anders herausstellen könnte als bisher angenommen. Sofern es sich bei dem Gegenstand um einen anderen Menschen handelt, reflektiert das Wissen damit die unendliche Möglichkeit der beobachteten Wirklichkeit selbst, nämlich die Freiheit des anderen Menschen. Die Möglichkeit ist die ontologische Struktur dieses Gegenstandes 3 , und das Wissen entspricht dieser Struktur auf der kategorialen Ebene: „Wissen setzt alles in die Möglichkeit" (256/223). Doch bleibt diese „gleichgültige" und interesselose Unendlichkeit des Wissens damit zugleich an den Bereich der Möglichkeit gebunden und erreicht niemals die konkrete, endliche Wirklichkeit des Handelns: „erst mit dem folglich' [ergo], mit dem Glauben beginnt der einzelne sein Leben" 2

3

Vgl. die tugendethische Interpretation der Liebe als Disposition bei D. Gouwens, Religious Thinker, 97ff., 198f£; ferner S. Walsh, Heart; J. Walker, Descent, 76-110. Zu dieser Ontologie vgl PB, 69ff. Hier beschreibt Climacus die Geschichte kategorial als ein durch Freiheit und Möglichkeit bestimmtes Werden.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

249

(ebd.). Wissen ist noch keine Ja/Nein-Stellungnahme, mit der das unendlich Mögliche auf eine endliche Wirklichkeit festgeschrieben wird; Wissen ist noch kein Behauptungssatz 4 . Wirklichkeit gibt es erst im Urteilen, d.h. im verendlichenden Sichverhalten zur Freiheit, zur eigenen wie zur fremden Freiheit, und eben dies ist logisch als Schluß zu bezeichnen. Man kann auch sagen: Wirklichkeit gibt es erst im Akt des Behauptens, mit dem der Sprecher in die Wirklichkeit eines wirklichen Sprech- und Lebenszusammenhang eintritt. Zugleich ist damit festgehalten, daß die propositionale Aussage über den Anderen als Schluß eine Handlung ist: ein verwirklichendes und einen endlichen Anfang setzendes Sichverhalten zu einer Möglichkeit5. Der Schluß ist darin eine Handlung, daß in ihm das gleichgültige Wissen intentional und reflexiv gemacht wird: als eine Sprachhandlung in der Form eines Ja/Nein-Urteils, d.h. als die Stellungnahme eines Sprechers zu einem wirklichen und u.U. widerständigen Gegenstand, die zugleich eine Stellungnahme zu sich selbst einschließt. Und es ist andererseits dieser spezifische Gegenstand selbst, der durch seine Möglichkeitsstruktur (d.h. sein Können) eine Reaktion oder Stellungnahme provoziert, die als solche über das bloße Wissen kategorial hinausgeht und damit in das „Leben" eintaucht. Die Modi dieses solchermaßen formal beschriebenen Schlusses sind nun Glauben und Hoffnung. Im Fall der Hoffnung ist das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit noch etwas anders als beim Glauben zu bestimmen. Denn die Hoffnung ist auch noch als verwirklichender Schluß ein Verhältnis zum Möglichen. Die Differenz zum Wissen liegt hier darin, daß die Hoffnung eine gewählte Erwartung des Guten ist, während im Wissen gut und böse noch gleicher-

4

5

Die Differenz liegt also darin, daß das Wissen eine bloße Proposition und der Schluß bzw. Glaube die Behauptung einer Proposition in Form eines gesprochenen Satzes ist. J. Walker, aaO. 80ft dagegen unterscheidet zwischen Wissen als Proposition und und Glauben als individueller Zustimmung („assent") zu dieser Proposition. Zu dieser Bestimmung kommt er aber aufgrund bestimmter handlungstheoretischer Prämissen: Die Zustimmung bestimmt Walker als mentalen Akt, und diesen Akt wiederum identifiziert er mit dem Handlungscharakter des Schließens (s. ebd. 81f., 25). Es handelt sich um einen mentalistischen Handlungsbegriff, in dem die Handlung des Schließens zunächst völlig losgelöst von leiblich-kommunikativen Kontexten thematisiert wird. In diesem formalen Sinn, allerdings ohne explizite Bezugnahme auf eine Sprechhandlung, beschreibt Vigilius Haufniensis die Angst als psychologisches Moment der Handlung vor der konkreten Handlung selbst (freilich ohne Bezug auf eine fremde Freiheit): „Die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit" (BA, 40).

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3. Kapitel: Das Können

maßen möglich sind. Es gibt also zwei unterschiedliche Möglichkeitsbegriffe: im Wissen die abstrakte Möglichkeit von gut und böse, aber „in der Unterscheidung (und die Wahl ist ja unterscheidend) ist die Möglichkeit des Guten mehr als Möglichkeit, denn sie ist das Ewige" (276/240). Auch die Anwendung dieses Schlußbegriffes auf das intersubjektive Verhältnis ist etwas anders als beim Glauben. Ist der Glauben direkt auf den Anderen gerichtet (dem Anderen etwas glauben), so ist die durch das Hoffen qualifizierte Proposition mit einem Perspektivenwechsel verbunden: Der Liebende „hofft also liebend, daß in jedem Augenblick Möglichkeit da sei, die Möglichkeit des Guten für den anderen Menschen" (280/243f.). Der Satz: „Ich hoffe, daß p", kann also intersubjektiv-liebend nur für, d.h. an der Stelle und in der Perspektive des Anderen gesprochen werden. Die Liebende macht durch die Hoffnung die Möglichkeit des Anderen zur Möglichkeit für sich, d.h. zu einer Möglichkeit, zu der sie (die Liebende) sich verhalten muß, und damit zur wirklichen Möglichkeit für sich. Es findet eine Übernahme der Sprecherrolle des Anderen statt, aber in Hinsicht auf die Wirklichkeit des Anderen, d.h. es bleibt die eigene Möglichkeit des Anderen (gen.subj.); denn andernfalls könnte es passieren, daß die Liebende ihre eigene Perspektive mit der des Anderen verwechselt und dieser durch die Perspektivenübernahme zum Verstummen gebracht wird. Erst in solcher Übernahme der fremden Perspektive wird die Möglichkeit des Guten für den Anderen als Möglichkeit seiner Wirklichkeit tatsächlich zu einer (gewählten) Wirklichkeit für die Handelnde. Diese Leistung der hoffenden Perspektivenübernahme zeigt sich im Blick auf die andere Form, in der sich jemand zu fremden Möglichkeiten verhält: Das bloße interesselose Spielen mit den Möglichkeiten des Anderen ist demgegenüber nämlich gerade der Ausweis des hoffnungslos Verzweifelten, der sich darin ergötzt, „das Schicksal des andern Menschen in der Möglichkeit vor sich hingaukeln zu lassen, gleichgültig ob in der Möglichkeit der Hoffnung oder der Furcht" (281/245)6.

6

Die Differenzierung von fremder Wirklichkeit als bloßer Möglichkeit und als wirklicher Möglichkeit für den Handelnden geht über die Bestimmung der Nachschrift hinaus, wo Climacus die fremde ethische Wirklichkeit nur als gedachte Wirklichkeit und damit als bloße Möglichkeit definiert (s. AUN2, 22). Im Alles-Hoffen der Liebe wählt der Handelnde die fremde Möglichkeit als Wirklichkeit für sein eigenes Handeln.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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Aber wieso kann solches perspektivische Hoffen-für-den-Anderen eine Wirklichkeit genannt werden, also ein handelndes Wählen der Möglichkeit des Guten für den Anderen, und nicht nur eine bloß gewußte oder vorgestellte Möglichkeit für mich? Zur eigenen Wirklichkeit wird die fremde Möglichkeit des Guten durch die Wirkung des subjektiven Hoffens-für-den-Anderen: Die Hoffende „bringt die Hoffnung" (285/248), und solches Bringen ist eine Kommunikation mit wirklichen Folgen. Für jemanden zu hoffen bedeutet nämlich, an ihm als einem Hoffnungswertem festzuhalten,das Verhältnis zu ihm aufrecht zu erhalten und ihm so die Möglichkeit zum antwortenden Handeln zu geben. Und in diesem Sinne einer gegenseitigen Vermittlung macht dann die Liebe als das Hoffen für den Anderen die Hoffnung überhaupt erst möglich: „Wofern es die Liebe nicht gäbe, gäbe es auch keine Hoffnung; sie bliebe liegen wie ein Brief, der auf Abholung wartet" (286/249). Achtet man auf die reziproke Struktur der Liebe (des Liebenkönnens), so ist klar, daß dieser Brief der Hoffnung nicht von einem Handelnden an den Anderen, sondern vielmehr an beide zugleich geht. Im Vollzug der Handlung der Liebe wird die Handelnde selbst als Liebende überhaupt erst konstituiert. Bevor wir uns den logischen Problemen dieser Schlußformen zuwenden, soll erst noch ihr propositionaler Gehalt genauer bestimmt werden. Charakteristisch für Glauben wie Hoffen ist die Totalitätsform: dem Anderen alles glauben, für den Anderen immer hoffen. Entsprechend sehen die Gegenformen, also die prinzipiell entgegenstehenden Schlüsse aus: dem Allesglauben steht das Mißtrauen als grundsätzliches Nichtsglauben gegenüber, der immer hoffenden Erwartung des Guten die Verzweiflung als tiefste Form der ständigen Erwartung des Schlechten. Die Totalitätsform kann auch als Form von Unbedingtheit wiedergegeben werden: entweder alles glauben oder nichts glauben. Das Entweder/Oder dieser totalisierenden Sprache deutet zunächst darauf hin, daß im Schließen das Liebesverhältnis als ganzes auf dem Spiel steht. Gewußt werden kann offenbar immer nur Einzelnes; z.B. kann die Liebende wissen, daß der Geliebte sie möglicherweise betrügt, oder der Vater kann wissen, daß der Sohn möglicherweise etwas Falsches und für ihn Schädliches aus seinem Erbe macht, und dennoch schließt dieses Wissen nicht aus, dem Geliebten alles zu glauben und für den Sohn immer zu hoffen, d.h. das Verhältnis als ganzes aufrechtzuerhalten. „Wissen kann nämlich in gewissem Sinne der Liebende sehr wohl, ob jemand ihn betrügt, aber indem er das nicht glauben will, oder indem er alles glaubt, bewahrt er sich in der Liebe, und ist dergestalt nicht betrogen" (265/231). Sich

252

3. Kapitel: Das Können

in der Liebe zu bewahren bedeutet, sich in dem konkreten Liebesverhältnis zu bewahren und so das Verhältnis selbst zu bewahren. Mit dem Zugleich von Wissen und Glauben ist keine Schizophrenie und keine kritiklose Blindheit gemeint, sondern der Unterschied von Einzelnem und Totalität. Wie bereits oben zu TL1,TV bemerkt, schließt das Aufrechterhalten des Ganzen (der Beziehung) die Kritikfähigkeit in Einzelfragen gerade nicht aus. Das bedeutet: In jeder Situation und in jedem Augenblick, in dem der Handelnde sich affirmativ zum Anderen und zum Verhältnis mit diesem Anderen verhält, also in jedem Augenblick, in dem er die Liebe des Anderen anerkennt, vollzieht er praktisch den unbedingten Schluß, alles zu glauben und alles zu hoffen. Die These, daß die Liebe alles glaubt und alles hofft, ist demnach kein moralischer Rigorismus, sondern bezeichnet eine für jede einzelne Liebeshandlung vorauszusetzende Grundstruktur, ohne die die Einzelhandlung nicht möglich wäre. Denn das Schließen als konkretes Handeln ist ja stets auf ein Einzelnes, d.h. auf einen konkreten Tatbestand (Handlung) gerichtet. Doch wie er sich darauf richtet und wie also der Handelnde sich konkret gegenüber dem Anderen verhält, dies hat die Form einer unbedingten, totalisierenden Stellungnahme: alles glauben oder nichts glauben, das Gute oder das Schlechte (für den Anderen) erwarten. Glauben und Hoffen sind, kategorial gesprochen, Stellungnahmen in Form eines unbedingten Kontrastes, die man in erneuter Aufnahme von C. Taylor als „starke Wertungen" bezeichnen kann 7 . Taylor zeigt, daß die für eine verantwortliche Identität von Handlungssubjekten entscheidende Funktion in solchen Wertungen liegt, die in einer Sprache qualitativer Kontraste artikuliert werden. Solche starken Wertungen liegen nach Taylor jeder aktuellen Wahl zwischen Handlungsoptionen immer schon zugrunde und können insofern selbst nicht mehr gewählt werden. Sie sind der immer schon vorauszusetzende „Horizont" des Handelns in Form von identitätsstiftenden Werturteilen 8 . Doch indem die Wertungen die Gestalt von 7 8

Vgl. C. Taylor, Menschliches Handeln. Den Horizontbegriff übernimmt Taylor aus der Husserlschen Phänomenologie und interpretiert ihn handlungs- und sprachtheoretisch durch den Begriff der durch Werturteile sprachlich konstituierten „Identität" des Handelnden, s. aaO. 37£, vgl. ausführlicher ders-, Sources, Kap. 2. Auch D. Gouwens, aaO. beschreibt die hermeneutische Leistung der glaubend-hoffenden Liebe in TL mit Hilfe des Horizontbegriffs, allerdings ohne die sprachliche Struktur dieses Horizontes genauer zu explizieren (ebd. 202ff., vgl. 90f.). Zur Relevanz des Horizontsbegriffs für Kierkegaard vgl. ferner A. Hannay, Kierkegaard,

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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sprachlichen Artikulationen haben, sind auch sie im Prozeß der sprachlichen Selbstinterpretation des Subjekts einer möglichen Wandlung ausgesetzt, für die das Subjekt wiederum verantwortlich ist. Angewandt auf TL bedeutet dies zunächst: Glauben und Mißtrauen, Hoffen und Verzweifeln haben als Schluß den Status von wertenden Aussagen, die den Horizont für alle Einzelhandlungen gegenüber dem Adressaten dieses Schlusses artikulierten. Glauben und Hoffen kann man als Artikulationen jener starken Wertungen identifizieren, in denen die Liebende ihr Verhältnis zum Geliebten in solcher Weise grundlegend interpretiert, daß sie damit die Identität und Kontinuität dieses Verhältnisses als unaufgebbare Voraussetzung ihres Handelns bestimmt. Die kategoriale Differenz von Glaubens- und Hoffnungshandlungen als Schlußformen gegenüber dem gleichgültigen Wissen liegt darin, daß dieser Schluß das tatsächliche Sprechen eines Satzes, genauer: das Artikulieren einer starken Wertung ist. Und das Besondere im Fall von Glauben und Hoffen liegt darin, daß dieses Sprechen nicht nur die Selbstinterpretation der Handelnden als einer in einem Liebesverhältnis Stehenden ist; vielmehr ist die Selbstinterpretation zugleich in gewisser Weise mit dem kommunikativen Akt gegenüber einem Anderen (nämlich dem in dieser Selbstinterpretation bereits mit Genannten) identisch; die Artikulation der Voraussetzung ist identisch mit der konkreten Interaktion. Die genaue Form dieses Verhältnisses muß allerdings noch beschrieben werden. Zunächst aber ist festzuhalten: Alles zu glauben ist nach dem bisher Gesagten keine radikale Wahl, die sich auf keine vorausliegenden Gründe mehr stützen müßte und sich in völliger Kontingenz oder souveräner Subjektivität vollzöge9. Der Schluß, der Geliebten alles zu glauben, ist vielmehr ein Ausdruck für das zugrundeliegende Werturteil, daß die Geliebte und die Liebe zu ihr für die eigene Identität als

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150f£: Kierkegaards Begriffs der „Lebensanschauaung" sei in seiner logischen Struktur vergleichbar mit dem wissenschaftstheoretischen Paradigmabegriff und mit Wittgensteins Begriff des Ethischen als eines kommunikativ uneinholbaren Grenzbegriffs. Zu Kierkegaards eigener (kritischer!) Aufnahme des Horizontbegriffs im Bild des „Hintergrundes" s . A U N 2 , 128. Vgl. Taylors Kritik dieses Begriffs der „radikalen Wahl" bei Sartre (Menschliches Handeln, 29f£). Wenn Kierkegaard in TL Glaube und Hoffnung wiederholt als „Wahl" bezeichnet, so ist damit recht verstanden gerade nicht ein voraussetzungsloses Setzen gemeint, sondern die kategoriale Differenz zum Wissen bezeichnet. Die Diskussion um eine radikale Wahl ist allerdings innerhalb der (englischsprachigen) Kierkegaard-Diskussion nicht von Taylor, sondern von A. Maclntyres Kritik an Kierkegaards Wahlbegriff ausgegangen (vgl. Verlust, 61f£); zur Antwort auf diese Kritik vgl. C.S. Evans, Will; G. Morino, Reason.

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3. Kapitel: Das Können

Liebender unaufgebbar sind. An ihren Betrug zu glauben hieße dann, sich selbst um die Liebe und das Liebenkönnen zu bringen. „Und doch, selbst wenn man nicht von andern betrogen wird, sollte man nicht doch betrogen sein, am schrecklichsten betrogen sein, freilich von sich selbst, indem man überhaupt nichts glaubt, betrogen um das Höchste, um die Seligkeit der Hingebung, der Liebe! Nein, es gibt nur einen einzigen Weg, sich dagegen zu sichern, daß man betrogen wird, nämlich den, daß man liebend alles glaubt" (261/227). Das Glauben hat also das Liebenkönnen, genauer: den Wert des Liebenkönnens als seine logische Voraussetzung, und dieser Wert betrifft gerade die Bezogenheit des eigenen auf das fremde Liebenkönnen. „Wert" bedeutet in der Terminologie Kierkegaards: das „Interesse" 10 und das begehrende „Bedürfnis" (s. TL1,IV!), mit dem der Liebende als einer, der lieben kann, auf das Liebesverhältnis und seine Erhaltung angewiesen ist; an diesem Verhältnis hängt das eigene Liebenkönnen. Und es ist das Liebenkönnen, das in der Proposition des Glaubens und Hoffens artikuliert wird: „Ich glaube, daß du mich nicht betrügst (d.h. daß du mich liebst)". In diesem Glaubenssatz kommt das Liebenkönnen in beiden Halbsätzen und damit auf beiden Seiten zum Stehen: Ich kann lieben, indem ich glaube, daß du mich lieben kannst. Glauben und Hoffen sind propositionale Artikulationen des Liebenkönnens als der Grundvoraussetzung der jeweils gemeinten Liebe; in solchen Artikulationen steht dieses Liebenkönnen selbst immer wieder auf dem Spiel11. Deshalb ist auch erneut die richtige sprachlich-kulturelle Artikulation der Liebe und des Liebenkönnens wichtig, denn dies ist die Sprache, in der ein Liebender sich selbst in seinem Liebesverhältnis und dessen Geschichte interpretiert: „die Schwierigkeit ist, daß eine große Mannigfaltigkeit an Sinnentrug den Menschen in dem niedrigen Vorstellungsbereich [lavere Forestillingskreds] niederhalten will, wo der Betrug und das Betrogenwerden gerade das Gegenteil von dem bedeutet, was sie in der unendlichen Vorstellung von der Liebe bedeutet. In dieser bedeutet betrogen zu werden einzig und allein, die Liebe fahrenzulassen, sich hinreißen zu lassen, die Liebe an und für sich aufzuge10

11

Kierkegaards Begriff des Interesses, der in TL nicht explizit gebraucht wird, könnte eine Entsprechung zu Taylors Wertbegriff darstellen, vgl. u.a. IC, 157f.; AUN1, 28f, 184.; II, 2 , 1 5 t 18.; vgl. dazu H. Schmidinger, Interesse, 199-318. In einem der Artikulation ähnlichen Sinn scheint C.S. Evans Kierkegaards Handlungstheorie zu verstehen, wenn er sie (mit primären Bezug auf Climacus-Texte) als eine Theorie des „formation of our passions" beschreibt (aaO. 79). Allerdings vernachlässigt Evans die sprachliche Dimension solcher „formation".

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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geben und dadurch ihre Seligkeit in sich selbst zu verlieren" (262/228). Bei der „Liebe an und für sich" handelt es sich um die Liebe, insofern sie unabhängig vom Erfolg ihrer Aktualisierung, also von der empirisch sicherzustellenden Beantwortung des Liebens ist. M.a.W. es ist die Liebe als das, was den jeweiligen Liebesakten und deren gefährdeter Einbettung in kommunikative Kontexten vorausgeht; die Liebe als das der zweistelligen Kommunikation Transzendente, das dem subjektiven Liebeshandeln unerreichbar als sein „Grund" vorausliegt und zugleich in diesem Handeln anerkannt und intendiert wird. Dieser Grund ist, wie wir sahen, als die Liebesfähigkeit des Anderen zu verstehen; solche grundsätzliche Liebesfähigkeit ist aber nicht mit einzelnen Akten der Übereinstimmung beider Handlungspartner identisch. Die richtige Selbstinterpretation der Liebe hat demnach die Satzform: Ich glaube und hoffe, daß du (mich) liebst. Denn nur dieser Satz ist in seiner Reziprozitätsstruktur die dem Liebenkönnen angemessene Artikulation, die beides ausdrückt: erstens, daß individuelles Liebenkönnen in der nichtaufgebbaren Kontinuität der Liebesbeziehung besteht, d.h. in der elementaren Verwiesenheit des Liebenden auf den Geliebten; und zweites, daß diese Verwiesenheit auf den Anderen unbedingten Charakter hat und damit vom Erfolg und Glück einer tatsächlichen Erwiderung unabhängig ist. Diese beiden Aspekte der Unbedingtheit der Liebe stehen in einer starken und doch wesentlichen Spannung: das Verhältnis ist von unbedingter Wichtigkeit, aber gerade in solcher Absolutheit kann es nicht in den Begriffen einer bloß zweistelligen Relationalität gedacht werden. Diese Spannung des Basissatzes der voraussetzenden Liebe erfordert den Behauptungsmodus des Glaubens und Hoffens; denn diese sind, wie wir sahen, Formen der absoluten Affirmation im Medium des Relativen und Möglichen. Die Liebesbeziehung zwischen Zweien braucht die Sprache des Unbedingten: sie braucht die „unendliche Vorstellung von der Liebe". Die Nichtaufgebbarkeit der Beziehung in der Sprache der Unbedingtheit auszudrükken bedeutet, die starken Wertungen des individuellen Handelns gegenüber dem Anderen zu artikulieren 12 . 12

Bei aller hilfreichen Analogie ist eine wesentliche Differenz gegenüber Taylors Konzept der starken Wertungen festzuhalten: Bei Taylor ist es, im Anschluß an Wittgenstein, stets ein mehr oder weniger allgemeiner Wert und damit eine bestimmte gesellschaftlich vorgeformte Regelhaftigkeit, die in starken Wertungen artikuliert wird (vgl. Sources, Kap. 3); für TL hingegen ist das Artikulierte die jeweils partikulare Beziehung zum Anderen. Die fundamentale Bedeutung der unbedingten Satzform für die Struktur von Handlungsintentionen betont auch D. Davidsons Handlungstheorie, allerdings in

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3. Kapitel: Das Können

In dieser Interpretation durch den Begriff der starken Wertung scheint nun aber für die Schlußformen von Glauben und Hoffen das Problem einer eigentümlichen Doppelheit zu entstehen: Einerseits sind sie starke Wertungen, die allen konkreten Handlungen immer schon zugrundeliegen; andererseits aber handelt es sich auch gerade um eine je aktuelle Verhaltenswahl. Mir scheint nun, daß dieses Problem nicht durch Hereinnahme einer fremden Auslegungskategorie entsteht, sondern daß es sich um ein immanentes Sachproblem von Kierkegaards Theorie handelt. Es geht nämlich um die Frage, die eben bereits angeklungen war: Wie können Glauben und Hoffen als aktuell wirksame Handlungen in bezug auf endlich-begrenzte Handlungssituationen verstanden werden, wenn sie die Form unbedingter Urteile haben? 13 Die Einheit beider Momente kann aufgeklärt werden, wenn man auf den sprachlichen Charakter dieser Schlußformen achtet. Glauben und Hoffen sind nach Kierkegaards Charakterisierung zugleich totale Wertung (mit Horizontcharakter) und konkrete Mitteilung (mit Richtungscharakter); sie bilden einen Prozeß der Selbstinterpretation des Handelnden ab, in dem die grundlegende Wertung durch die aktuelle expressiv-sprachliche Handlung ausgelegt und damit zugleich auch potentiell selbst verändert wird. In den Begriffen der Taylorschen Theorie gesprochen: Beide Pole sind vermittelt durch ihre sprachliche Gestalt der Artikulation, d.h. durch die produktive Eigenständigkeit der jeweiligen Sprachform gegenüber dem sich darin interpretierenden Handelnden 14 . Das Zugleich beider Ebenen liegt in der sprachlichen, d.h. hier: der propositionalen Ge-

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14

einem gegenüber Taylor differenzierteren linguistischen Verständnis des Wertbegriffs. Davidson zufolge ist das „all-out judgement" die wesentliche Form des bloßen Intendierens, wodurch sich solches Intendieren von anderen „pro-attitudes" unterscheidet, die durch „prima facie judgement" bestimmt sind (hierzu zählt Davidson „Wants, desires, principles, prejudices, felt duties, and obligations"), s. Intending, 96f£ In dieser Frageform verkleidet sich das Problem, das Kierkegaard schon sehr früh beschäftigt hat, nämlich die Verhältnisbestimmung von Idealität und Realität, vgl. JC, 154ft, dazu H. Fahrenbach, Ethik, 24f. C. Taylor will einerseits starke Wertungen und einzelne Handlungsentscheidungen unterscheiden, andererseits aber auch die Äußerungen starker Wertungen als zurechenbare und verantwortlich zu übernehmende Handlungen verstehen können; eben dies gelingt ihm mit Hilfe des Begriffs der „Artikulation", s. Menschliches Handeln, 38ff. Hier interpretiert Taylor u.a. das Verhältnis zwischen Wertung und konkreter Wahl nicht als einfache Dialektik zweier Pole, sondern als das Entstehen eines grundsätzlich neuen (Selbst-)Verstehens. Und eben dieser kreative Prozeß wird von Taylor als Aufgabe an die Artikulationsfähigkeit des Handelnden beschrieben, für die er Verantwortung trage: „Im Falle radikaler Umwertungen ste-

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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stalt von Glauben und Hoffen: In den Sätzen dieser expressiven Handlungen implizieren sich, wie wir sahen, das eigene und das fremde Liebenkönnen gegenseitig, d.h. im Aussprechen des Voraussetzens gegenüber dem Anderen drücke ich zugleich die unbedingte Bedeutung des gemeinsamen Verhältnisses aus; umgekehrt kann die Totalität des Verhältnisses nur als Glauben und Hoffen ausgedrückt werden, also als konkrete kommunikative Akte der Affirmation gegenüber einem Handlungspartner, dem geglaubt und für den gehofft wird. Starke Wertungen haben immer eine sprachliche und damit expressive Gestalt, und eben dies gilt für Glauben und Hoffen: Es sind propositionale Sätze, die unbedingte Wertungen ebenso wie konkrete Mitteilung und Gestaltung sein sollen. Glauben und Hoffen werden als Handlungen beschrieben, in denen horizontale Wertung und vertikale Mitteilung zusammenkommen. In beiden Hinsichten ist es die sprachlich-expressive Form, die dazu führt, daß Glauben und Hoffen nicht als bloße Bewußtseinsgehalte, sondern als Handlungen im Sinne von Äußerungen zu verstehen sind15.

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hen per Definition genau die fundamentalsten Kategorien in Frage, die anderen Wertungen zugrunde liegen. Genau weil alle Formulierungen potentiell im Verdacht stehen, ihre Objekte zu verzerren, haben wir sie alle als revidierbar zu betrachten, sind wir gezwungen, sozusagen zu dem nichtartikulierten Bereich dessen zurückzugehen, von dem sie ihren Ausgang nehmen" (ebd. 45). Das sprachpragmatische Verständnis von Glauben und Hoffen kann auch auf das Phänomen der Verzweiflung angewandt werden, das in der neueren KierkegaardLiteratur im Zentrum steht. Der in KT entwickelte Verzweiflungsbegriff wird nämlich oft vom Handlungsbegriff her interpretiert, ohne daß klar wird, was Handlung hier bedeuten soll. So z.B. bei A. Gr0n, Subjektivitet, 153: „Die Handlung, als die sich die Verzweiflung erweist, besteht darin, daß man selbst etwas tut (unendliche Bedeutung beilegt) und daß man selbst etwas tut mit sich selbst (man legt dem, worunter man leidet, unendliche Bedeutung für sich bei)" (eigene Übersetzung). Handlungstheoretisch ist zu fragen: Was bedeutet es, etwas mit sich selbst zu machen? Und in welchem Sinne kann überhaupt ein „Selbst" der Gegenstand des Handelns sein? Nach Gr0n handelt der Verzweifelte an sich selbst, indem er „Hoffnung oder Mut aufgibt" (ebd. 152). Doch wie ist wiederum dieses Aufgeben als Handeln zu verstehen? Ist es ein mentaler Vorgang (z.B. einem Gegenstand Bedeutung beilegen)? Oder handelt es sich um ein Handeln im Sinne eines sichtbaren, leibgebundenen Verhaltens? Offensichtlich soll hier nicht nur eine psychosomatische Konsequenz oder ein Phänomen des Verzweifeins benannt werden, sondern der Vorgang selbst, der das Wesen der Verzweiflung ausmacht. Doch wenn dieses Wesen in einer Handlung besteht, muß der Sinn des Ausdrucks geklärt werden, daß jemand die Hoffnung aufgibt, indem er „an sich selbst handelt". M.E. kann dies gelingen, wenn man das Hoffen als ein sprachgebundenes Handeln beschreibt, das über einen bloßen mentalen Akt hinausgeht: als ein Sich-verhalten nicht gegenüber Objekten (und damit auch dem „Selbst"), sondern gegenüber bestimmten propositionalen Sachverhalten. E. Tugendhat hat diese propositionale

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3. Kapitel: Das Können

Vom Modell der starken Wertungen aus wird noch einmal ein wichtiger Aspekt des Sprechhandelns angesprochen, den wir bereits in 2,1. erwähnt hatten: die Erinnerung daran, daß der Begriff des Propositionalen in Hinblick auf TL nicht zu eng verstanden werden darf. Der kommunikative Aspekt von Glauben/Hoffen hat leiblich-expressive Formen, die über das bloß Semantische eines Satzes hinausgeht; die Schilderung der Mutterliebe gegenüber ihrem Kind aus der Rede 2,1 (246/214f.) ist dafür ein eindrückliches Beispiel (s.o. Kap. 3,1.). Diese Mutter spricht keinen Satz zu ihrem Kind (den diesen ja auch überhaupt nicht verstehen könnte). Aber Kierkegaard hebt eindrücklich hervor, daß ihr geduldiges Verhalten gegenüber dem Kind die Struktur des propositionalen Satzes der Voraussetzung hat bzw. nur in dieser Struktur beschrieben werden kann. Das bedeutet, daß ihr Handeln diese propositionale Struktur regelhaft ausdrückt oder verkörpert.

Ihr

Handeln ist ein leibhaftiges Zeichen der Liebe gegenüber dem Kind, und dieses Zeichen als solches hat eine propositionale Struktur, eine Regel, die vom Beobachter aufgezeigt werden kann16. Kierkegaards Argumentation an dieser Stelle macht deutlich: Die Proposition beschreibt zwar die Intentionalität der Mutter, doch benennt diese intentionale Beschreibung gerade nicht ein individuelles Handlungsmotiv, sondern charakterisiert die Beziehung, in der dieses Handeln stattfindet: als Beziehung von Mutter und Kind. In ähnlicher Weise wird beim Vater des verlorenen Sohnes affektive Expressivität und propositionale Struktur zusammengesehen: „er hoffte alles, deshalb erbaute er in Wahrheit durch seine väterliche Vergebung, eben weil der Sohn recht lebendig empfand, daß die väterliche Liebe mit ihm ausgehalten hatte"

16

Struktur des Kierkegaardschen Selbstbegriffes aufgezeigt, s. Selbstbewußtsein, 158ff. Die propositionale Struktur der Verzweiflung könnte dann lauten: „Ich kann nicht mehr hoffen, daß der Geliebte wiederkommen wird (oder: daß er mich liebt und lieben wird, oder: daß wir unser Liebesverhältnis fortsetzen werden, oder: daß die Liebe noch in ihm zugegen ist)." Zu verzweifeln bedeutet demnach, eine Ja/NeinStellungnahme gegenüber einem Satz abzugeben, der eine existenzielle Möglichkeit beschreibt. Es ist wesentlich eine Sprechhandlung, und gerade die reziproke Struktur der Liebe, wie sie in TL herausgehoben wird, zeigt an, daß in dieser Sprechhandlung der Sprecher sowohl mit sich selbst als auch mit dem Anderen spricht. Der Andere ist nämlich gerade der in der Proposition thematisierte Sachverhalt, der also von der Handlungsstruktur der Verzweiflung nicht abgelöst werden kann. Diese Erweiterung des Ausdruckshandelns über das bloß Linguistische entspricht auch der Bedeutungstheorie C. Taylors. Taylor beschränkt den Bedeutunganspruch („meaning") von Sprache und Sprachhandlung nicht, wie beispielsweise Tugendhat, auf das semantische Grundelement des propositionalen Satzes, sondern will damit die ganze Breite menschlicher Ausdrucksfähigkeit beschreiben, vgl. Language.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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(246/214). Es ist das Verhältnis der beiden Akteure, das durch subjektive Zeichen expressiven Ausdruck als ein Verhältnis der Liebe findet. Das Verhältnis von propositionaler Form und expressiver Leibhaftigkeit kann in der genannten zweigliedrigen Struktur „Mp" des propositionalen Satzes ausgedrückt werden: Demnach steht ein propositionaler Gehalt niemals allein, sondern bedarf stets einer modalen Ausdrucksform; der Satz des reziproken Liebenkönnens verlangt nun eine bestimmte Ausdrucksform, und dies ist die Expressivität von Alles-Glauben und Alles-Hoffen. Diese Ausdrucksform kann dann sogar die explizite Äußerung eines Satzes ersetzen, ohne jedoch damit die propositionale Struktur des Voraussetzens aufzugeben. Die hier versuchte Verwendung des Begriffs der Sprachhandlung bedarf nun noch in einigen Aspekten der Erläuterung. Glaube und Hoffnung bezeichnen den Handlungscharakter der Proposition (der Voraussetzung): ρ gehört zu einer bestimmten Sprechhandlung. Dieser Handlungscharakter ist aber nun entscheidend für die Wahrheit dieses bestimmten ρ der Liebe: Der Satz des Voraussetzens kann ja nicht als direktes Abbild einer Wirklichkeit verstanden werden. Diese Proposition kann sich nicht auf allgemein zugängliche und bestreitbare Wahrheitsbedingungen berufen 17 . Vielmehr muß ihr Inhalt immer erst noch wahr gemacht werden. Dies hatte ich als die dem Voraussetzungssatz zugrundelegende intentionale Beziehung der Liebe auf eine Praxis erklärt. Und eben dieses Wahr-Machen und Wahr-Werden wird durch die expressiven Handlungen angezeigt. Die Wahrheitsbedingungen des Sprechens müssen gewissermaßen erst noch erbracht werden. Doch dieses kann nicht in einem separaten Argumentationsdiskurs geschehen, sondern muß als praktische Wirksamkeit eben desselben Sprechaktes verstanden werden, in dem ein Wahrheitsanspruch erhoben wird. Die Wahrheit des Satzes besteht in dem Erfolg, mit dem er als Mitteilung dazu beiträgt, das in ihm Ausgesprochene

17

In der Sprechakttheorie wird demgegenüber zwischen dem Behauptungssatz und dessen Wahrheitsbedingung bzw. Verifikationsregel unterschieden, s. E. Tugendhat, aaO. 258ff. Zur Differenzierung zwischen Wahrheits,- Verifikations- und Falsifikationsbedingungen vgl. M. Dummet, Theory of Meaning. Eine grundsätzliche Kritik an der Verengung der Sprache auf den designativen Aspekt, wie sie im wahrheitskonditionalen Sprachmodell zum Ausdruck kommt, formuliert C. Taylor, Bedeutungstheorien, 58ff. Für Kierkegaards Liebes- und Handlungsbegriff versuche ich, beide Ansätze fruchtbar zu machen: Den Satz des Voraussetzens verstehe ich als propositionale Basisstruktur, die selbst aber wiederum Ausdruck einer zugrundeliegenden, erstheitlichen Intentionalität ist, nämlich der Liebe als einer schöpferischen Wirklichkeit.

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3. Kapitel: Das Können

zu realisieren: die Liebesfähigkeit des Anderen und damit das gemeinsame Verhältnis als ein Liebesverhältnis. Der Voraussetzungssatz benennt zugleich einen Sprechakt und seine Wahrheitsbedingung; dies ist als analog zu der oben beschriebenen Identität von horizontaler Wertung und vertikaler Mitteilung zu sehen. Auch diese Doppeltheit ist erst mit den Behauptungsmodi Glauben und Hoffen begrifflich erreicht. Wie dies in den Reden beschrieben wird, soll später ausführlicher behandelt werden. Die Verwendung des Begriffs der Sprechhandlung wirft ferner die Frage auf, ob dieser Terminus für das Verständnis von Glauben und Hoffen in den beiden Reden angemessen ist. Denn der expressive oder kommunikative Aspekt spielt auf der Textoberfläche nur eine verhältnismäßig geringe Rolle. Insofern ist nachzufragen, mit welchem Recht meine Interpretation überhaupt Glauben und Hoffen nicht nur als Formen des Selbstverstehens, sondern ausdrücklich auch als Kommunikationsformen darstellt (zumindest soweit die Reden 2,11 und III gemeint sind, denn in 2,1 wird ja, wie gezeigt, der kommunikative Aspekt dieser Handlungen sehr viel stärker herausgehoben). Dazu ist zu sagen: In der Tat sind die beiden Reden primär an der Frage des Selbstverhältnissses der Liebe im Liebenden interessiert. Glaube und Hoffnung werden als die Formen geschildert, in denen der Liebende sich seine Liebe bewahrt. Das Verhalten des Liebenden gegenüber dem Anderen kommt vorwiegend in dieser reflexiven Perspektive in den Blick. Darin ähnelt diese Aufgabenstellung derjenigen in i,V. Doch wie dort, so ist es auch hier eine intentional ausgerichtete Subjektivität, deren Selbstverhältnis thematisch wird. Die intentionale, und d.h. auch immer expressiv-sprachliche Ausrichtung auf einen Handlungspartner ist der unaufgebbare Horizont der beiden Reden. Es geht um das Sich-bewahren in einer Intentionalität, oder anders gesagt: Das Selbstverhältnis der Liebe in einem Subjekt ist immer das Selbstverhältnis der Liebe als intersubjektives Verhältnis. Deshalb ist der Satz, den ich für den Allesglauben und die Alleshoffnung als Kern behauptet habe, nicht nur die Form eines Selbstverstehens, sondern immer auch zugleich die Form der Kommunikation mit dem Geliebten. Der Satz impliziert, daß er zu jemanden gesprochen wird; er wendet sich immer an ein bestimmtes Du, von dem etwas (alles) geglaubt bzw. gehofft wird. An späterer Stelle werden wir sehen, daß in 2,11 und III der Glaube und insbesondere die Hoffnung auch hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Interaktion selbst beschrieben werden können. Eine weitere Frage entsteht an der Angemessenheit von Taylors Begriff der starken Wertung für Kierkegaards Text. Dieser Begriff zielt ja

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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auf einen dynamischen Interpretationsprozeß, in dessen Verlauf alte Wertungshorizonte in Frage gestellt und ganz neue Artikulationen der zugrundeliegenden Gefühle möglich werden. Dieser Prozeßcharakter scheint nun aber bei Kierkegaards Schlußformen ausgeschlossen zu sein; denn der fundamentalste Horizont, das reziprok orientierte Liebenkönnen, steht ja immer schon fest, ebenso wie der diesen Horizont artikulierende Basissatz. Freilich besagt diese Festlegung zunächst nur, daß es bei diesen Formen der Selbstinterpretation nicht um eine unendliche Anzahl verschiedener Phänomene geht, sondern immer nur um das einzelne und somit begrenzte Phänomen der Liebe. Und was steht nun dem entgegen, die praktische Auslegung auch dieses Phänomens als einen innerhalb seiner Gegenstandsgrenzen prinzipiell unabschließbaren Interpretationsprozeß anzusehen? Solche Unabschließbarkeit wird ja vom Vorwort des Buches selbst behauptet: „Was in seinem ganzen Reichtum wesentlich unerschöpflich ist, das ist auch in seinem geringsten 1\in wesentlich unbeschreibbar, eben weil es wesentlich überall ganz zugegen ist, und wesentlich nicht beschrieben werden kann" (5/9)! So sind Glauben und Hoffen letztlich gar nicht nur als einzelne Akte, sondern als Benennung eines umfassenden Prozesses zu verstehen, in dessen Verlauf immer wieder neu etwas Zugrundeliegendes auf eine Weise artikuliert wird, die frühere Artikulationen ungültig macht. Vorläufig können wir sagen: Der reziproke Satz vom Liebenkönnen muß immer wieder und immer weiter artikuliert werden angesichts immer neuer Situationen, die zum Handeln auffordern. Und wenn es zutrifft, daß die Liebe „wesentlich unerschöpflich" und „in [ihrem] geringsten Tun wesentlich unbeschreibbar ist", dann gilt dies auch ebenso für diesen Basissatz18. Ich möchte das bisher Gesagte zusammenfassen, indem ich die Aussagen zur Sprachhandlung auf die Verhältnisstruktur der Liebe zu beziehen versuche. Glauben und Hoffen artikulieren die Selbstinterpretation des Handelnden als eines in einem Handlungsverhältnis Stehenden. Insofern sind Glauben und Hoffen subjektive Artikulationen des Verhältnisses selbst, sie sind damit aber gerade (sprachlich18

C. Taylor geht davon aus, daß es sich bei dem zu Artikulierenden um elementare Gefühle und Motive handelt, nicht um propositionale Sätze. Allerdings müßte er wohl zugeben, daß auch diese Gefühle, einmal artikuliert, sich propositional wiedergeben lassen. Kierkegaard geht demgegenüber in TL anders vor: Er setzt eine bestimmte Definition des zu untersuchenden Phänomens an den Anfang der Untersuchung bzw. setzt diese Definition von Beginn an voraus (der Basissatz der voraussetzenden Liebe). Dieses Vorgehen verdeckt gelegentlich die hermeneutische Dynamik, die auf der Textebene den Phänomenen selbst zugesprochen werden.

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3. Kapitel: Das Können

expressive) Formen von Intersubjektivität. Nur wenn die Artikulation das Verhältnis selbst, d.h. als etwas Drittes, auszudrücken vermag, ist auch die Qualität des Unbedingten erreicht. Diese Qualität wird in den Totalitätsaussagen („alles", „immer") artikuliert. Deshalb werden beide Artikulationsformen auch als die Reflexivität der dritthaften (d.h. die beiden Relate umfassenden) Liebe selbst beschrieben. So entspricht im Fall des Glaubens die Artikulation der Wertung als intentionale Treue ganz und gar der reflexiven Selbsttreue der Liebe in einem Subjekt: „Also, die wahre Überlegenheit kann niemals betrogen werden, wofern sie sich selber treu bleibt. Aber die wahre Liebe ist in Bezug auf alles, was nicht Liebe ist, also in Hinsicht auf jeden Betrug, unbedingt das Überlegene: folglich kann sie niemals betrogen werden, wenn sie, indem sie alles glaubt, sich selber treu bleibt, oder dabei beharrt, die wahre Liebe zu sein" (262/228)). Das Verhältnis der Akteure muß als solches, d.h. als Qualität oder als positives Drittes benannt werden: als „Liebe an und für sich" (s.o., auch 264/230). Nur so kann die Liebe vor dem falschen Verständnis bewahrt werden; jedes bloß zweistellige Verständnis hingegen kann die Liebe nur als „Tausch" verstehen (263f./229f.). In dieser Dritthaftigkeit spiegelt sich die intentionale Handlung des einen der beiden Relate als Reflexivität des Verhältnisses. Insofern rettet das einseitige Handeln das ganze Verhältnis. Umgekehrt bedeutet dies, daß dieses subjektive Handeln ohne das zugrundeliegende interpersonale Verhältnis der Liebe gar nicht zu verstehen ist, wie der Fall der Hoffnung zeigt: „Niemand kann hoffen, ohne zugleich zu lieben, er kann nicht für sich selber hoffen, ohne zugleich zu lieben, denn das Gute hängt unendlich zusammen; liebt er aber, so hofft er zugleich für andere [...] Und im gleichen Maße, wie er für andere hofft, ganz im gleichen Maße hofft er für sich selber; denn dies ist das unendlich genaue, ewige gleich um gleich [Lige for Lige]" (282/245). Die Liebe pflanzt dem subjektiven Handeln eine unaufgebbare Intersubjektivität ein, und so ist es eben auch die Liebe, die, wie wir oben sahen, den Brief der Hoffnung austrägt - zu beiden Beteiligten. Es gibt sozusagen keine private Liebe. In diesem Sinne sind Hoffen und Glauben als Artikulation von Liebe von der Logik der Proposition der Liebe abhängig: daß Lieben nur als reziprokes Liebenkönnen möglich ist. In diesem Sinne ist aber auch „die" Liebe ein der Reziprozität selbst Transzendentes, nämlich ihr „Grund". Glauben und Hoffen sind also die sprachlich-expressiven Formen, deren propositionale Struktur das dialektische Voraussetzungsverhältnis von eigenem und fremden Liebenkönnen realisiert und gera-

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de darin das eigene, subjektive Liebenkönnen bewahrt. Mit Hilfe dieses Modells läßt sich abschließend auch die wiederholte Rede von „dem (oder der) Liebenden" in diesen (und den folgenden) Reden vorläufig aufklären 19 . Diese(r) „Liebende" ist dann nämlich keine normative, sondern eine deskriptive Kategorie. Er bezeichnet die schlichte faktische Voraussetzung, unter der überhaupt die Liebe beschrieben werden kann, und diese Schlichtheit entspricht der undogmatischen Einfachheit der in 7X2,1 genannten Beispiele von Liebenden aus der Alltagserfahrung (s.o.). „Der Liebende" ist dann die Voraussetzung für die Liebesformen von Glauben und Hoffen, allerdings nicht im Sinne eines moralischen Vorbildes, an dem sich die Darstellung und Leser im Sinne einer Tugendlehre zu orientieren haben, sondern als die phänomenale Voraussetzung einer bestimmten Interpretationspraxis: die aus methodischen Gründen erforderliche Annahme, daß es Menschen gibt, die den Satz vom Liebenkönnen in ihrer alltäglichen Praxis artikulieren. Und nur unter der Voraussetzung dieser Praxis kann überhaupt von Glauben und Hoffen als den Taten der Liebe gesprochen werden. Im Kontext von TL ist diese methodische Prämisse zugleich als eine schöpfungstheologische Voraussetzung anzusprechen: die Voraussetzung geschöpflicher Freiheit20. Und umgekehrt gilt: Ist mit dem oder der „Liebenden" das Subjekt des Handelns benannt, so wird dieses Subjekt hier nicht in Form eines reflexiven Selbstbewußtseins dargestellt, sondern als das Subjekt von Sprachhandlungen, die als Artikulationen sowohl das intersubjektive wie das Selbstverhältnis auslegend gestalten.

1.2. Handlungsrationalität: Glauben und Hoffen als Schlußform Ich habe versucht, das Verständnis von Glauben und Hoffen als Handlung und die besondere Stellung dieser Handlung zwischen Vollzug und Voraussetzung (Horizont) zu verstehen, indem ich sie durch Taylors Begriff der „starken Wertung" als eine Form der artikulierten Selbstinterpretation des Liebenden in seinem Liebesver19 20

Vgl. o. Kapitel 3,1., Anm. 30. Im Unterschied hierzu interpretiert P. Müller, Kristendom, 44f. die theologische Funktion des „Liebenden" in TL2 soteriologisch: In der Figur des „Liebenden" solle die Wirklichkeit und Gegenwärtigkeit der rechtfertigenden Gnade als Voraussetzung des Liebenkönnens dargestellt werden. Diese Figur erhält damit entscheidende Bedeutung für die theologische Anlage des Buches. Doch läßt sich diese zentrale Stellung der Rechtfertigungslehre m.E. am Text von TL nicht belegen.

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3. Kapitel: Das Können

hältnis interpretiert habe. Doch sind damit noch nicht alle Probleme des Verhältnisses geklärt, in dem der aktuelle Handlungsvollzug und seine Voraussetzung zueinander stehen. Liegt im Glauben als Artikulation eine propositionale Identität von Grund und Vollzug vor, so muß ja dennoch logisch zwischen beiden Ebenen unterschieden werden; dem aktuellen Glaubensakt muß immer etwas anderes, eine jeweilige „horizontale" Wertung als Grund vorausliegen. Wie aber ist dieses (logische) Verhältnis zu bestimmen? Und woran hängt dann der Wahrheitsanspruch von Glauben und Hoffen? Inwiefern kann es als wahr, d.h. als be-gründet gelten, einem Anderen alles zu glauben und alles für ihn zu hoffen? Was ist der aufweisbare Grund für solches Handeln? Wo liegt der nachweisbare Unterschied dieses Glaubens zu „Leichtsinn, Unerfahrenheit, Arglosigkeit", die doch auch alles glauben, „was gesagt wird" (251/219)? Diese Frage hatten wir bisher nur gestreift und sie soll nun ausführlicher behandelt werden. Im folgenden möchte ich also die bisher entwickelte Struktur der Schlußformen noch einmal betrachten, nun aber unter einer logischen Perspektive. Die Charakterisierung des Glaubens bzw. Hoffens als „Schluß [Slutning]" und die kategoriale Unterscheidung dieses Schlusses als Handlung vom bloßen Wissen erinnert an die Diskussion über den sog. „praktischen Syllogismus" innerhalb der analytischen Handlungstheorie21. Der praktische Syllogismus ist der Versuch, im An-

21

Vgl. G. Anscombe, Intention, 57ff.; G.H. v. Wright, Erklären, 93tf.; ders., Praktisches Schließen-, A. Kenny, Will, 70f£ Zur Kritik des praktischen Schlusses vgl. D. Davidson, Weakness, 31f£; R. Bubner, Handlung 238ff., 260f£ Als eine ontologische Variante des praktischen Schlusses innerhalb der Transzendentalphilosophie kann man Hegels Auffassung des Schlusses verstehen (vgl. G.H. v. Wright, Erklären, 159, Anm. 74; C. Taylor, Hegel, 407f£). In Hegels Logik steht der Schluß am Übergang von der Subjektivität in die Objektivität des Begriffs, so daß alle objektive Wirklichkeit als durch einen Schluß entstanden zu denken ist: „Alles ist ein Schluß" (Enzyklopädie, § 181). Seine praktische Entsprechung findet diese logische Bestimmung im Handlungsbegriff der Rechtsphilosophie: Handeln ist „der in in die äußerliche Objektivität tretende Zweck" (ebd. § 132, vgl. § 8), und die Sittlichkeit stellt - in expliziter Analogie zur Logik - den Übergang des Begriffes aus der subjektiven Gesinnung in die Objektivität der realisierten Freiheit dar (ebd. § 141). Diese reale oder ontologische Auffassung des Schließens findet in TL noch ein deutliches Echo, wenn Kierkegaard schreibt: „die meisten merken gar nicht, daß sie auf die eine oder andere Art jede Minute, die sie leben, in Kraft eines „folglich" [ergo], eines Glaubens leben" (256/223). A. Trendelenburg, Untersuchungen setzt sich in seinem Kapitel über den Schluß kritisch mit Hegels Auffassung auseinander (s. Bd. 2, 360ff, bes. 381ff.). Danach läßt sich zwar ein teleologischer Schöpfungsprozeß in der Form eines Syllogismus

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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schluß an Aristoteles eine spezifische Logik des Handelns herauszuarbeiten, die der theoretischen Logik an die Seite zu stellen wäre. Das Besondere dieser Logik liegt darin, daß die Schlußfolgerung nicht in einem theoretischen Satz besteht, sondern in einer Handlung. Die Behauptung ist, daß sich diese Handlung als praktischer Schluß mit logischer Notwendigkeit aus den Prämissen ergibt und realiter vollzogen wird, indem eine singuläre Tatsachenbehauptung einer all-

darstellen, aber „der Zweck selbst, der diesen Process dem Subjekte aneignet, der die Wirkung zur Ursache und den vorausergriffenen Schlußssatz zum Antrieb des Schlusses macht, gerade die Ausgleichung des Subjektiven und Objektiven ist im Syllogismus nicht mit enthalten und gehört der Synthesis an, die da erzeugt, nicht schließt" (ebd. 385). Trendelenburg will Hegels schöpferischem Verständnis des Schlusses eine analytische und rekonstruktive Funktionszuschreibung entgegensetzen: „Die Natur hat geschlossen, indem sie schuf. Das Ergebnis liegt vor. Der betrachtende Geist sucht den Mittelbegriff dieses schöpferischen Schlusses. Das ist seine Aufgabe in allen analytischen Wissenschaften, die er nur synthetisch löst" (ebd. 390). Kierkegaard nimmt diese Kritik teilweise auf: a) Der Schluß vom Denken auf das Dasein ist, in seiner cartesianischen Form, nicht möglich, weil dieser Schlußakt selbst nicht ohne die existenzielle Voraussetzung des subjektiven Daseins auskommt (s. AUN2 17f.l9£). b) Die ontologische Unmöglichkeit des Schlusses vom Denken auf das Dasein zeigt exemplarisch die Kritik des ontologischen Gottesbeweises (vgl. A. Trendelenburg, aaO. 379f.): Das zu Beweisende muß in seinem Dasein immer schon vorausgesetzt werden (s. PB, 37ít;AUN2, 36ff.). c) Schließlich ist auf die Kritik der sokratischen Sündenauffassung in KT, 87££ hinzuweisen; diese Ausführungen können ebenso auch als Kritik der praktischen Form des Syllogismus gelesen werden: Anti-Climacus versucht, den Beweis zu erbringen, daß die Sünde nicht auf ein falsches Wissen, sondern auf eine bestimmte Willensform zurückzuführen ist. Kierkegaards Verwendung des Schlußbegriffes ist also von einer starken Ambivalenz bestimmt: Einerseits wird in der Auseinandersetzung mit Hegel die Relevanz des bloß logischen Schließens in praktischer Hinsicht abgelehnt, andererseits findet sich jedoch in den Climacus-Schriften ebenso wie in TL auch die bereits genannte grundsätzliche Nähe zur Hegeischen Logik: das praktische Verständnis des Schließens als einer Bestimmung des Handelns im Sinne eines Lebens „in Kraft eines .folglich [ergo]', eines Glaubens". Dieses „ergo" ist nicht eine logische Konklusion, sondern ein leidenschaftlicher Entschluß, aber damit immer noch eine (praktische) Schlußform; diese Ambivalenz spricht Climacus exemplarisch aus: „Des Glaubens Schluß [Slutning] ist nicht Schluß [Slutning], sondern Entschluß [Beslutning]" (PB, 80). Kierkegaard-Climacus denkt sozusagen stets vom (Hegeischen) Schlußbegriff her, doch was er sucht, ist ein Schlußbegriff, der nicht der Logik zugehört. Das Erbe Hegels ist in dieser Suche aber immer noch wirksam, sofern die Funktion des Schlußbegriffs darin liegt, eine reale Bewegung zu benennen; der Unterschied zu Hegel liegt darin, daß Kierkegaard die wissenschaftliche Explikation und Begründung dieser Bewegung nicht der Logik zuschreibt, sondern sie als unhintergehbar zeitliches Phänomen aufweist, vgl. Pap. IV Β 117.

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3. Kapitel: Das Können

gemeinen Handlungsregel (Wunsch, Begehren, Sollen) subsumiert wird. Die allgemeine Form des praktischen Syllogismus kann dann, für den Fall einer Zweck-Mittel-Relation, folgendermaßen beschrieben werden: „A beabsichtigt, ρ herbeizuführen A glaubt, daß er ρ nur dann herbeiführen kann, wenn er a tut. Folglich macht sich A daran, a zu tun."22

Die philosophische Absicht in dieser Form von Handlungsbeschreibungen liegt darin, ein Instrument zur rationalen und verifizierbaren Erklärung von Handlungen und zur Rekonstruktion ihrer Genese zu gewinnen. Auf diese Weise wird eine Handlung erklärbar durch die ihr vorausgehende Intention, ohne daß für diese Intention der unhaltbare Status eines unabhängigen Willensaktes, der die Handlung auf quasi-mythische Weise verursacht, reklamiert werden müßte. Handlung wird durch die Logik ihrer Struktur erklärt, nicht durch ein Ding, das außerhalb der Handlung selbst steht. Ich möchte dieses einflußreiche Erklärungsmodell versuchsweise auf TL anwenden, weil es ein brauchbares Muster sein könnte, anhand dessen man den Handlungscharakter und die Handlungsrationalität der Schlußformen Glauben und Hoffen weiter aufklären kann. Versucht man, den Fall des Glaubens aus 7X2,11 in der Form eines Syllogismus wiederzugeben, so könnte dies folgendermaßen aussehen: A möchte Β lieben (d.h. eine vertrauensvolle Beziehung mit Β realisieren). A glaubt, daß er Β nur lieben kann, wenn er ihm alles glaubt. Folglich glaubt Α Β alles (auch wenn A weiß, daß Β ihn möglicherweise betrügt).

Dieser Syllogismus entspricht zwar formal dem angeführten Musterbeispiel. Doch haben wir damit zugleich die Pointe in Kierkegaards Argumentation verfehlt. Seine für den Glaubens- und Schlußbegriff zentrale Behauptung ist, daß das Schließen als Urteil sich gerade nicht direkt aus der Unendlichkeit des Wissens ableiten lasse; es sei ein kategorialer Betrug zu meinen, „als sei also ewig sicher und völlig entschieden, daß bei gegebenem Wissen auch gegeben sei, wie man schließt" (252/220). Der Übergang von der zweiten Prämisse (Untersatz) zum Schluß scheint gerade nicht notwendig, sondern kontingent zu sein. Diese zweite Prämisse hat den Charakter einer singulären Tatsachenbehauptung, in Kierkegaards Sprache: es ist ein „Wissen" gegenüber partikularen, bestimmten Umständen des Handelns; doch

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G.H. v. Wright, aaO. 93.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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gerade dies ist es, was den „Schluß" als Totalaussage (s.o.) vom „Wissen" qualitativ trennt. Auch scheint es ja möglich zu sein, den entgegengesetzten Schluß (das Mißtrauen) aus genau denselben Prämissen ableiten zu können. Das Problem liegt offensichtlich in der Anwendung der ersten Prämisse (Regel) auf den Einzelfall und seine Umstände (zweite Prämisse). Orientiert man sich stärker an Kierkegaards kategorialer Unterscheidung von Wissen und Glauben (die im Muster des praktischen Syllogismus keine Rolle spielt), so ergibt sich eine andere Reformulierung des Schlusses der Liebe: A möchte Β lieben (d.h. eine vertrauensvolle Beziehung zu Β realisieren). A weiß, daß Β ihn betrügt. A glaubt Β folglich alles (d.h. A hält an dem Verhältnis zu Β fest).23

Der Schlußsatz könnte auch in eine deutlichere propositionale Struktur „Mp" gebracht werden: „A glaubt, daß Β A lieben kann bzw. wird". Doch ist jetzt natürlich zu fragen, ob es sich hier überhaupt noch um eine Schlußform handelt. Ist nicht der Bruch zwischen zweiter Prämisse und Schluß praktisch-logisch unheilbar? Andererseits kann es kaum als Zufall genommen werden, daß TL Glauben und Hoffen durch den logischen Begriff des Schlusses charakterisiert. Eine irgendwie geartete ,Schlüssigkeit', also eine diskursiv nachvollziehbare Bewegung von einem Punkt (Prämisse, Grund) zu einem zweiten (Schluß), scheint diesen Handlungen demnach doch innezuwohnen. Dafür steht zunächst der mehrfach exponiert gebrauchte und (jedesmal kursiv gedruckte) Terminus „ergo"24; damit ist zwar (gemäß der Kritik des cartesischen cogito ergo sum in den ClimacusSchriften25) gerade keine logische Bewegung aus Notwendigkeit an23

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25

Dieser Syllogismus unterscheidet sich von der zuerst angeführten Formel v. Wrights u.a. darin, daß er nicht die explizite Form einer Zweck-Mittel-Relation hat. Das zweite Glied des Schlusses enthält hier nicht ein Wissen über ein Mittel, sondern über einen partikularen Umstand, auf den der unbestimmte Obersatz anzuwenden ist; es handelt sich eher um ein Verhältnis von Regel und Anwendung. Diese Struktur entspricht jedoch nach R. Bubner, aaO. 248f£ dem Aristotelischen Vorbild eher als die Zweck-Mittel-Form dies tut (was auch v. Wright selbst zugibt, s. Praktisches Schließen, 42), vgl. etwa die folgende exemplarische Formulierung eines praktischen Schlusses bei Aristoteles: „wenn man alles Süße kosten soll und dieses da als Einzelnes süß ist, so wird der, der dazu in der Lage ist und nicht gehindert wird, dies gleichzeitig auch notwendigerweise tun" (EN 1147 a 29). S. 252/219; 253/220; 256/223; 259/226; 260/227 (Gerdes' Übersetzung verdeutscht („folglich") und läßt die Kursivschreibung fort); auch der Terminus „Beweis" wird verwendet (282/245). S.o. Anm. 21.

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3. Kapitel: Das Können

gesprochen, wohl aber eine bestimmte Relation zu einem vorhergehenden Zustand, also eine reale Bewegung; diese muß entsprechend in die Theorie mit einbezogen werden. Der Kohärenzanspruch spiegelt sich ferner in der wiederholten Behauptung, daß der konkrete Schlußakt als ein Urteil über den Anderen zugleich die zugrundeliegende Güte des Urteilenden offenbart: „denn über einen anderen urteilen, heißt im letzten Grund nur, über sich selbst urteilen, oder selbst offenbar werden" (259/225). Die Behauptung eines direkten Entsprechungsverhältnisses zwischen ,Außen' und ,Innen', zwischen einer Äußerung und ihrem Grund impliziert ein analytisches Verhältnis beider Seiten26. Eben dies ist es ja, was wir im vorausgegangenen Abschnitt als Verhältnis zwischen Handlungshorizont und aktueller Handlung festgestellt hatten. Die zuletzt vorgeschlagene Form des Schlusses scheint demnach die Pointe ebenso wie die Problematik, die Kierkegaard in 7X2,11-111 mit dem Schlußbegriff verbindet, am besten wiederzugeben. Es gibt in diesem Modell ein Notwendigkeitsverhältnis zumindest zwischen der ersten Prämisse und dem Schluß. Diesem Verhältnis möchte ich mich zuerst zuwenden, um danach die Konsequenzen für das Verhältnis des Schlusses zur zweiten Prämisse zu erörtern. a) Die Perspektive der ersten Prämisse: Unhintergehbare Praxis Wenn die Figur des praktischen Syllogismus versuchsweise auf Kierkegaards Text angewandt werden soll, so bedeutet dies, daß dasjenige Handlungselement, das ich vorhin sprachpragmatisch als starke Wertung beschrieb, nun logisch den Status einer Prämisse einnimmt. Die Frage, warum ein Alles-Glauben und ein Immer-Hoffen in Wahrheit Handlungen aus Liebe sein sollen, kann dann anhand dieser Prämisse beantwortet werden, d.h. es ist zu zeigen, daß die betreffende Handlung durch ihre Prämisse als Tat der Liebe beschreibbar wird27. Für die Interpretation des Textes bedeutet das: Den Status einer Prämisse können wir - versuchsweise - jenen Aussagen zusprechen, die als Begründung für den Schluß des Glaubens bzw. Hoffens angeführt wer-

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27

Dies ist die (dialektische?) Gegenthese zu der Kritik an der hegelianischen Identität von „Innen" und „Außen", mit denen Kierkegaard sein pseudonymes Werk beginnt, s. EOI, 3. Vgl. G.H. v. Wright, Erklären, 102ff.: die Verifikation praktischer Schlüsse kann allein an den Prämissen und d.h. anhand der Intention, nicht aber anhand der sichtbaren Handlungen durchgeführt werden.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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den. Der Grund von Glauben und Hoffen ist dem Text zufolge das, was sich in diesen Handlungen „offenbart": das zugrundeliegende (Liebend-) Sein des Handelnden (s.o.). Und damit wird zugleich erklärt, wie die absolute Differenz der Schlüsse zustande kommt: alles glauben und nichts glauben sind praktische Ergebnisse von je verschiedenen Prämissen. Wie sieht nun die Prämisse von Glauben und Hoffen aus? In der oben versuchten Form des Syllogismus hat die Prämisse des Glaubens/Hoffens die Gestalt einer Intention. Doch nach allem bisher Gesagten ist klar, daß es sich hierbei nicht, wie bei den meisten Erörterungen zum praktischen Schluß, um eine bloß individuelle Absicht handelt. Die Prämisse hat vielmehr die Struktur der reziproken Voraussetzung des Liebenkönnens, und das bedeutet: Die Prämisse ist nicht ein theoretischer Satz, der ein bloßes Wollen beschreibt, das erst noch umgesetzt werden müßte; sondern die Prämisse in der Form des Basissatzes ist bereits der Vollzug einer Praxis, sie steht in-

nerhalb und kommt aus einer vorgängigen Praxis. Die Prämisse besteht m.a.W. in dem Liebesverhältnis und dessen praktischen Vollzug: „Niemand kann hoffen, ohne zugleich zu lieben" (282/245). Die Liebe ist in diesem Zitat als die reale Begründung der Möglichkeit des Hoffnungsschlusses dargestellt, aber die Liebe ist ja im Verständnis von TL immer eine konkrete interaktive Praxis in einem Handlungsverhältnis, nicht nur ein bloß subjektives Wollen. Das als Liebe qualifizierte Handlungsverhältnis selbst ist der immer schon vorauszusetzende Grund, aus dem heraus das individuelle Handeln in Glauben und Hoffen je aktuell geschieht, und deshalb bestehen diese Handlungen auch (bloß) darin, das Verhältnis zu bewahren 28 . Eben dies ist

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Den praktischen Charakter der Prämisse betont R. Bubner und kritisiert damit zugleich die intentionalistische Version des praktischen Syllogismus bei v. Wright u.a., s. aaO. 241ff. „Man versteht den praktischen Syllogismus nur, wenn man im Blick behält, daß die Skizzen des praktischen Schließens die Handlung strukturell voraussetzen. Handeln wird also nicht durch Syllogismen geboren oder kraft logischer Notwendigkeit erzeugt [...] Der Ausgangpunkt ist daher kein Wissen oder Wollen oder Sollen, aus dem ein logisches Verfahren rätselhafterweise einen wirklichen Akt herauszauberte. Die fraglichen Syllogismen stehen bereits unter der Bedingung praktischer Aktivität und demonstrieren die Leistung der Vernunft eindeutig und folgerichtig" (ebd. 246). Bubners Aufweis der praktischen Struktur der Prämisse ist sachlich sehr wichtig, seine Kritik verfehlt allerdings den intentionalistischen Ansatz. Denn dieser meint mit der Prämisse gerade kein leeres, bloßes Wollen, sondern ein gewolltes - d.h. intentionales - Objekt, s. G. Anscombe, aaO. 66. In ähnlicher Weise kann auch bei Kierkegaard die Prämisse des Schließens verstanden werden: als eine intentionale Bezogenheit auf einen Gegenstand. Die Diffe-

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3. Kapitel: Das Können

auch ausgedrückt mit der Beschreibung von Glauben und Hoffen als Artikulation des „Horizontes" des Handelns im vorausgegangen Abschnitt. Der praktische Charakter der Prämisse kommt überall dort zum Ausdruck, wo das einseitige Glauben und Hoffen durch den Hinweis auf die reziproke Struktur der Liebe begründet wird29. So nennt Kierkegaard denjenigen, der nicht für den Anderen hofft, einen subjektiv Verzweifelten. Und warum? Weil auch subjektive Verzweiflung nur innerhalb eines konkreten Handlungsverhältnisses gedacht werden kann, so daß umgekehrt ein Hoffen für sich selbst nicht ohne ein Hoffen für den Anderen denkbar ist (s. 282/245). Ein verzweifeltes Nichthoffen ist also als Schluß nur möglich aufgrund einer bestimmten praktischen Prämisse: nämlich aufgrund einer solchen Praxis der Liebesbeziehung, in welcher der Handelnde immer nur selbstbezogen hofft und so nicht zu einem unbedingten Festhalten am Anderen fähig ist. Hoffen und Vertrauen sind in subjektiver wie intersubjektiver Perspektive nur möglich, wenn die Prämisse die Form der Liebe hat: das reziproke Liebenkönnen als praktischer Vollzug eines Verhältnisses zwischen zwei Handelnden. Die Liebe ist die praktische Prämisse von Glauben und Hoffen. In diesem Sinn sind Hoffnung und Glaube die „Werke", die die Liebe ausführt, indem „sie sich des T\ins von Glaube und Hoffnung annehmen und es noch vollkommener machen kann" (250/218). In ähnlicher Weise hatte bereits das Pseudonym Johannes Climacus den (theoretischen) Schluß als eine Beziehung auf eine welthaft-praktische Prämisse bestimmt: „So schließe ich bestän-

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renz zur herkömmlichen intentionalistischen Beschreibung liegt in der spezifischen Struktur dieses intentionalen Objekts: Für Kierkegaards Liebesbegriff ist dies nicht ein empirischer Gegenstand, sondern das Handelnkönnen des anderen Akteurs und damit letztlich die Handlungsbeziehung beider Akteure. Dies ist dann allerdings eine Form von Intersubjektivität in der Struktur der Prämisse, die bei der intentionalistischen Version des praktischen Schließens nicht vorliegt. Zu der Qualität des Verhältnisses als „Grund" des Glaubens vgl. die Aufzeichnungen des „Quidam" in SLW, 390: „Daß ich alles geglaubt habe, jedes Wort von ihr, so ernsthaft, wie es einem Menschen möglich ist, daß ich mich dadurch gebunden fühle so fest, wie ein Mensch nur kann, ist ganz und gar nicht komisch [...] Ja, hätte ich es lediglich kraft ihrer geglaubt, weil sie es gesagt, hätte ich es geglaubt in Vertrauen auf ihre Beständigkeit, so wäre ich komisch und wäre es in gewissem Sinne bereits gewesen. Aber ich habe ihr geglaubt, weil sie in dem ethischen Verhältnis zu mir stand, so daß es meine Pflicht war, ihr zu glauben, ich habe aus mir selber ihrem Worte das Gewicht der Ewigkeit für mich gegeben, weil ich das Verhältnis respektierte." Es ist deutlich, daß die Wendung „aus mir selber" in diesem Zusammenhang bedeutet: aus mir selber, insofern ich in diesem Verhältnis stehe.

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dig nicht auf das Dasein, sondern ich schließe aus dem Dasein." 30 Das Dasein in seiner welthaften Konkretion und leibhaftigen Relationalität ist die tatsächliche Prämisse des individuellen Schließens, die selbst nicht mehr erschlossen werden kann und jedem Urteil vorausgeht. Ist die Prämisse in dieser Weise selbst bereits praktisch, so ruft dies natürlich die Frage nach einer Begründung dieser vorgängigen Praxis in einer nichtpraktischen Intention, in einem noch nicht realisierten Wollen hervor. Doch läßt sich Kierkegaard auf einen solchen Rekurs nicht ein; „das Gute hängt unendlich zusammen" (282/245), das bedeutet im Kontext der Rede: das in der Hoffnung ursprünglich Gewollte und Erstrebte ist immer schon ein intersubjektiv geteiltes und somit praktisches Gut 31 . Der Zirkel der Praxis läßt sich nicht durch einseitige Willenssetzungen unterbrechen oder setzen. Statt eines linearen logischen Verhältnisses, in dem eine theoretische Prämisse eine praktische Konklusion begründet oder in dem eine Handlung aus einer bloß subjektiven Intention logisch folgt, sind in TL Glaube und Hoffnung Schlußformen innerhalb eines praktisch-hermeneutischen Zirkels: Formen der Selbstinterpretation von Subjekten, die immer schon Handelnde sind und immer schon in Handlungskontexten stehen und in Handlungshorizonten sprechen. Dieser Zirkel scheint durch den Begriff der artikulierten starken Wertung besser ausgedrückt werden zu können als durch den praktischen Syllogismus 32 . Denn es ist gerade die semantische Struktur und damit die Wirklichkeitsform der Prämisse als ein bestimmter Satz, der ihre vorgängige Praxisbezogenheit sicherstellt: A will Β lieben, indem A B's Liebenkönnen voraussetzt. Eine als vor-praktisch gedachte Intention vermag jene Reziprozität nicht auszusagen; der Basissatz der voraussetzenden Liebe bietet keine Möglichkeit für einen solchen Willens30

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PB, 38. Im Unterschied zu TL wird dieser ontologische Begriff der Prämisse nicht ausdrücklich in Form von Intersubjektivität beschrieben. Doch vgl. die These K. Schäfers, daß bereits die Climacus-Schriften ihre Ontologie und das entsprechende Verständnis des Schlusses im Rahmen von Intersubjektivität formulieren {Ontologie, 197f£). Daß der zitierte Halbsatz sich auf die Prämisse des Hoffens bezieht (und nicht etwa direkt auf das Hoffen als Schluß), ergibt sich aus dem Kontext, in dem Kierkegaard eben den Status der Liebe als Voraussetzung des Hoffens herausarbeiten will, vgl. unmittelbar davor: „Niemand kann hoffen, ohne zugleich zu lieben". R. Bubner schlägt vor, das lineare Subsumtionsmodell des praktischen Syllogismus zu ersetzen durch das Verhältnis von Fall und Regel, da erst durch die wechselseitige Bestimmung von Regel und Fall der Voraussetzung von Praxis in der Prämisse Rechnung getragen werden könne, s. aaO. 260ff.

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3. Kapitel: Das Können

begriff. Die Prämisse hat zwar ebenso wie das Schließen die Form einer subjektiven Willensäußerung („A will Β lieben"); doch ist diese Willensäußerung nicht im subjektiven Willen selbst begründet, sondern ist allein in Hinblick auf das praktische Verhältnis zu einem Anderen zu verstehen. Sie ist, so könnte man sagen, a priori intentional, d.h. auf einen Gegenstand bezogen und deshalb niemals ohne ihren intentionalen Gegenstand möglich. Dieser Gegenstand aber ist nicht empirisch, sondern geistig gedacht: es ist die mögliche, zukünftige gemeinsame Handlungspraxis, das Handlungsverhältnis zweier Akteure. Eben dies wird in dem Basissatz des Voraussetzens ausgedrückt 33 . Diese unhintergehbar praktische Struktur der Prämisse, des Wollens, kann selbst in der Form eines Syllogismus ausgedrückt werden, und eben dies tut Kierkegaard auch explizit (s. 282/245): „Niemand kann hoffen, ohne zugleich zu lieben, er kann nicht für sich selber hoffen, ohne zugleich zu lieben [...] liebt er aber, so hofft er zugleich für andere" - dies ist ein logisches Argument, ein „Beweis" (ebd.) für die reziproke Struktur des Hoffens und damit (indirekt) auch für die Notwendigkeit des Immer-Hoffens! Die Prämisse des Hoffens ist gewissermaßen durch die Logik der Liebe, die Logik der Reziprozität (des „gleich um gleich", s. ebd.) strukturiert. Diese Struktur der Liebe ist der logische Nukleus von Hoffen und Glauben. Es könnte nun so aussehen, als wäre damit bereits eine vollständige logische Beschreibung von Liebeshandlungen geleistet. Doch dann wäre Kierkegaards Pointe, nämlich das Insistieren auf dem Kontingenzcharakter des Schließens, noch gar nicht erreicht; an diesem Punkt wäre Kierkegaards Begriff des Schließens also noch gar nicht gedacht. Die Grenze für den Syllogismus ist erst die Anwendung dieser in sich geschlossenen Struktur auf den jeweils neuen und ungewissen Einzelfall; dies wird uns im folgenden Abschnitt beschäftigen.

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Man kann vielleicht sagen, daß Kierkegaard hier die Sprache der Handlungslogik im Dienste einer hermeneutischen Logik gebraucht. Die hermeneutische Unhintergehbarkeit von Praxis zeigt sich eben in der von Kierkegaard beschriebenen logischen Struktur des Handelns: darin, daß die Prämisse (das Wollen) mit einer Begründung arbeitet, die als der reale Grund (die Gegenseitigkeit) des Schließens erkennbar wird. Die Begründung durch die Reziprozität des Verhältnisses ist nicht kontingent, sondern notwendig, und zwar deshalb, weil damit zugleich der Grund des individuellen Wollens genannt ist. Vgl. A. Trendelenburg, aaO. 388: „Was im Realen der Grund ist, das ist im Logischen der Mittelbegriff des Schlusses". Doch ist damit eben der von Kierkegaard gemeinte Schlußbegriff noch nicht erklärt, sondern lediglich die Struktur der diesem Schluß zugrundeliegenden Prämisse.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

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Doch bereits jetzt zeigt sich, daß die Alternative von „Irrationalismus" und „Intellektualismus", in deren Rahmen Kierkegaards Handlungstheorie oft eingeordnet wird, verfehlt ist: Es handelt sich bei dieser Handlungstheorie einerseits nicht um einen bloßen Irrationalismus; denn sie enthält den Anspruch auf die Übereinstimmung des subjektiven Schließens mit seinen Prämissen (wie auch immer dieser Kohärenzanspruch zu verifizieren ist). Andererseits macht die praktische und intersubjektive Gestalt dieser Prämissen eine Begründung des Handelns durch das Denken eines einzelnen rationalen Subjekts unmöglich. Mit dem hermeneutischen Zirkel von Prämisse und Schluß ist ein Begriff von praktischer, leibgebundener Vernunft verbunden, der über den methodischen Solipsismus prinzipiell hinausgeht, der jene Alternative ebenso wie noch ihre Vermittlungsversuche prägt34. Es bedarf aber noch einer Bemerkung zum Verifikationsproblem. TL fragt nach dem Grund des Schließens und gibt zur Antwort: Nur eine vorgängige Praxis der Liebe führt zu einem Schluß der Liebe in Form von Glauben und Hoffen. In unserer (umgekehrten) Fragestellung nach der Logik bzw. Wahrheit des Schießens ist damit zunächst die Rationalität des Kohärenzanspruchs angesprochen: Der Schluß als Handlung muß durch die Prämisse erklärbar und verifizierbar sein. Allerdings kann dies nicht die Verifizierung durch einen externen Beobachter sein. Vielmehr findet die Überprüfung der Kohärenz immer nur innerhalb des Handlungsverhältnisses, also in der Perspektive des Handelnden selbst statt. Die Wahrheit seiner Schlüsse liegt darin, im Glauben nicht betrogen und im Hoffen nicht zuschan-

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Ein Beispiel hierfür ist C.S. Evans, aaO. Für ihn ist die Schlußform nicht das Sprechen eines Satzes, sondern ein Willensakt, der als solcher nicht mehr inhaltlich gefüllt werden kann; denn die Funktion dieses Willensaktes liegt angeblich darin, gerade die Unendlichkeit des propositionalen Überlegens abzuschließen. So stehe der Willensbegriff dafür ein, daß „actions are neither arbitrary nor determined" (ebd. 84). Doch tatsächlich hat Evans damit eine sprach- und weltlose Instanz zum Urheber freier geschichtlicher Handlungen gemacht. Dahinter steht die Annahme, daß a) aus einem Begriff des freien Willens eine kausale Handlungserklärung abgeleitet werden kann, und b) sich bei Kierkegaard ein solcher kausal verstandener Willensbegriff finde. Zumindest für TL kann diese Meinung nur als Mißverständnis gelten (vgl. o. Kap. 2, II.3.). Statt dessen ist hier die intentionale Struktur des subjektiven Willens hervorgehoben: der Wille geht immer auf etwas Bestimmtes, von dem er aber auch wiederum, und zwar vorgängig, bestimmt ist. Dies schließt zugleich eine kausale Interpretation des Willensbegriffs aus, ebenso aber auch eine intentionalistische Interpretation, welche die Funktion des Handlungsverhältnisses als Grund des Handelns verfehlt.

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den zu werden. Kierkegaard reflektiert diese Problemstellung u.a. am Beispiel des Vaters des verlorenen Sohnes. Die Weiterdichtung des biblischen Beispiels soll zeigen, wie der Allesglauben und die Immerhoffnung des Vaters auch dann nicht falsch wird, wenn sich der Sohn letztlich doch als Betrüger und als ewig verloren herausstellen sollte. Denn, so die kritische Anfrage, wäre damit nicht die glaubend-hoffende Liebe des Vaters selbst als falsch erwiesen? Wird nicht durch den Aufweis, daß der Sohn selbst nicht liebte, die fundamentale Voraussetzung der Liebe des Vaters zum Irrtum und seine Liebe zur Illusion? Dagegen argumentieren die Reden: Erstens, dieser Aufweis kann überhaupt nur um den Preis eines performativen Widerspruchs geführt werden, nämlich von einer Stellung des prinzipiellen Mißtrauens aus, die als solche bereits eine Stellung außerhalb des Verhältnisses zum Geliebten ist (270f./235f.). Zweitens kann selbst der Aufweis der Ewigkeit, wo die Erwartung zur Erfüllung wird, der subjektiven Hoffnung nicht den ewigen Wert ihres praktischen Vollzuges wegnehmen, sondern weist gerade diesen auf: „In der Ewigkeit wird jeder genötigt zu verstehen, daß nicht der Ausgang die Ehre oder die Schande bestimmt, sondern die Erwartung an sich" (290/253)35. Beide Argumente zielen darauf, einen Wirklichkeitsbegriff zu begründen, in dem Wirklichkeit so streng und ausschließlich als Wirklichkeit eines Handlungsverhältnisses gedacht wird, daß sogar die Ewigkeit keine andere Wirklichkeit mehr bietet, sondern die letzte Bewährungsinstanz gerade dieser praktisch-leiblichen Wirklichkeit darstellt. Die Verifikationsproblematik ist damit nicht weggeschoben, sondern erweitert: Die Wahrheit der Schlußformen kann nicht auf das logische Kohärenzverhältnis zur Prämisse eingeschränkt werden, sondern ist am Ort des Handelns aufzuweisen durch die Frage danach, wie dieses Handeln leiblich-real auf die Prämisse bezogen ist. Anders gesagt: Die Prämisse des Handelns (Schließens) kann sich immer nur riick35

Nur die Passage aus III spricht ausdrücklich vom verlorenen Sohn. Diese zweite Argumentation (s. 290f./252£) scheint freilich der ersten insofern zu widersprechen, als nun tatsächlich von einer objektiven (ewigen) Erkenntnis der Verlorenheit des Sohnes gesprochen wird; entsprechend kann jetzt auch das Verhältnis von Vater und Sohn als ein tatsächlich gebrochenes beschrieben werden. Damit scheint es aber möglich zu sein, die Wahrheit der Praxis in bloß subjektiven Kategorien und unter Aufgabe der fundamentalen Kategorie der Beziehung zu denken. Der Widerspruch ist jedoch erklärbar durch die Sprache der Eschatologie, in der sich die bloß erwartende Hoffnung in der Ewigkeit in ein erfüllendes Schauen verwandelt und die Hoffnung aufhört. Diese jenseitig-eschatologische Sprache konkurriert hier mit den Formulierungen, die das Ewige in der relationalen Praxis selbst verorten: als „Erwartung an sich".

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wirkend, nämlich durch das je aktuelle Handeln als wahr erweisen36. Damit ist die Frage nach der pragmatischen Wahrheit der Schlußformen gestellt. Ihr werden wir im folgenden Abschnitt begegnen. b) Das Verhältnis von Schluß und zweiter Prämisse: Schöpferische Wiederholung Wie wir bereits gesehen haben, waltet in diesem Verhältnis nach der Aussage der Reden keine Notwendigkeit, sondern Kontingenz. Wie ist diese Kontingenz zu denken, und wie kann sie mit dem Anspruch auf Wahrheit versöhnt werden? Zunächst kann ich das Ergebnis des eben Vorgetragenen weiterführen: Wenn das aktuelle Handeln nicht aus einem prinzipiell weltlosen, nicht-praktischen Wollen, sondern nur aus immer schon sich vollziehender Praxis abgeleitet werden kann, so bedeutet dies: die Wahrheit dieses Handelns liegt in seiner Praxis, d.h. in der von ihm erreichten konkreten Wirksamkeit. Diese Wahrheitsbestimmung kann man „pragmatisch" nennen. Diese Wirksamkeit aber ist hinsichtlich der zweiten Prämisse des oben formulierten Syllogismus zu beschreiben: Sie muß in Auseinandersetzung mit der bedrängenden Situation, die den Handelnden überhaupt erst zum erneuten Handeln innerhalb des Verhältnisses veranlaßt, erzielt werden. Das Kontingente, logisch Nichtableitbare des Handelns liegt dann darin, daß in dieser je einzelnen Situation überhaupt gehandelt wird (im Sinne der Prämisse), oder: daß sich in der je neuen Situation die ursprüngliche Praxis handelnd wiederholt und je neu gestaltet. Glauben und Hoffen sind als Handlungen also Wiederholungen, aber nicht im Sinne einer äußeren Realisierung eines inneren Entschlusses37, son-

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Die retrospektive Erkenntnis von Handlungsgründen ist ein wichtiges Motiv in den eher phänomenologisch orientierten Fragestellungen Kierkegaards, insbesondere im Zusammenhang der Phänomenologie der Verzweiflung, s. KT, 20: „Sobald Verzweiflung sich zeigt, erweist es sich, daß der Mensch verzweifelt schon war"; ähnlich bereits in E02, 205. Solches Sich-Erweisen ist dann auch zu unterscheiden von dem im 290/253 angesprochenen „Ausgang". In dieser Bedeutung wird der Wiederholungsbegriff v.a. in den Texten gebraucht, in denen Kierkegaard versucht, die aristotelische Akt-Potenz-Lehre auf das Problem des subjektiven Denkens anzuwenden. In dieser Verwendung meint der Begriff der Wiederholung die Verwirklichung von Handlungsmöglichkeiten und den darin eingeschlossenen Sprung der Entscheidung. Dies führt jedoch tendenziell zu einer subjektivistischen und zweckrationalen Engführung, indem nun das ontologisch Mögliche mit subjektiven Bewußtseinszuständen identifiziert wird, s. Pap. IV A 156; VI A 112; AUN2, 44£; vgl. dazu K. Schäfer, aaO. 147, 304. Von der Aufgabenstellung in TL her kann dieses Modell beibehalten werden, aber mit einer wesent-

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dem als Wiederholung von Praxis38. Der Kontingenzcharakter dieses Handelns wird deshalb auch gerade durch die Totalitätsaussagen bezeichnet: „in jedem Augenblick allezeit alles zu hoffen" (275/239). Das Alles und Immer bezeichnen die Einzelsituation des konkreten Handelns (also die zweite Prämisse) als den Ort und die Zeit, um die es in den Schlußformen stets geht, und sie wenden zugleich die ursprüngliche Praxis (die Prämisse) in ihrer dritthaften Form, d.h. als Praxisverhältnis in seiner Totalität, auf diese Einzelsituation an. Dieser Wiederholungscharakter der Schlußformen entspricht wiederum ihrem hermeneutischen Verständnis als Artikulation: Glauben und Hoffen stehen für die stetige sprachpragmatische Erneuerung und Anwendung des Horizonts der ursprünglichen Praxis, der darin zugleich handelnd seiner Bewährung und möglichen Veränderung ausgesetzt wird. So ist das Handlungsschließen als Wiederholung des Ursprünglichen zugleich ein kreatives Handeln, in dem jeweils Neues aufgebaut werden muß. In diesem Sinn hatte ich oben bereits vom prozeßhaften Charakter der in Glauben und Hoffen erfolgenden Interpretation gesprochen. Die Wiederholung, also das „in jedem Augenblick", ist die zeitliche Bestimmung dieses Prozesses39. Die Wahrheit der Schlußformen erweist sich also darin, wieweit sie fähig sind, die ursprüngliche Praxis des Liebesverhältnisses wiederholend zu gestalten und zu bewahren 40 . Die Wiederholung ist die Form der Geschichte des Handelns, sofern sie zugleich als Schlußform verstanden wird41. Diese Forderung einer kreativen Wiederhol-

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lichen Veränderung: das Mögliche ist nun nicht mehr als individuelles Bewußtsein, sondern als Möglichkeit des intersubjektiven Verhältnisses zu verstehen: als Können in Reziprozität; entsprechend obliegt auch die Verwirklichung nun beiden Handelnden. Vgl. L. Reimer, Wiederholung, 324t Den damit angesprochenen kreativen Sinn der Schlußformen in TL hat H. Deuser durch den Peirce'schen Begriff der Abduktion interpretiert als ,,de(n) eigentlich erweiternden Schluß, der Neues erbringt und dies im Charakter der Gewißheit: ein Wissen, woran das entscheidende ist, daß ihm vertraut werden kann. Dieser Schluß ist als Basisüberzeugung zu verstehen" {V/irkliche Ethik, 131). H. Deuser, aaO. spricht von dem „pragmatistische(n) und agapistische(n) Sinn" dieser Schlußformen. Eine Interpretation des praktischen Schließens und Argumentierens als Struktur geschichtlicher Übergänge und Bewegungen gibt C. Taylor, Explanation. Nach Taylor ist es nicht der Maßstab externer, objektiver Kriterien, durch den es zu einem Fortschreiten im theoretischen wie praktischen Argument kommt; die entscheidende Bedeutung kommt vielmehr der artikulativen Leistung des Argumentes zu, d.h. dem Vermögen, ein den Argumentierenden gemeinsames intuitives Vorverständnis explizit artikulieren und auf diese Weise überzeugen zu können. Diese Interpretati-

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barkeit ist auf der Ebene der zweiten Prämisse, ontologisch gesprochen: auf der Ebene relational-endlicher Existenz, zu bewähren. Das Faktum der Wiederholung ist diesem relationalen Medium gegenüber aber transzendent, nämlich aus ihm unableitbar und somit kontingent. Und die pragmatische Wahrheit der Schlußformen liegt nun darin, wieweit es ihnen gelingt, diese (dritthafte) Transzendenz der Wiederholung im Medium des Relationalen zu vollziehen. Deshalb muß Wirkung und Wahrheit der Liebe in kosmologischen oder schöpferischen Aussagen beschrieben werden, wie es insbesondere die Rede über die Hoffnung tut: Im Ausbleiben der praktischen Wiederholung wird das Leben seiner transzendenten Öffnung beraubt und damit vergiftet: „denn Weltlichkeit ist an sich lastend, schwer, träge, verdrossen, mißmutig, verstimmt, und kann sich nicht mit dem Möglichen einlassen, am wenigsten mit der Möglichkeit des Guten, weder um ihrer selbst noch um eines andern willen" (284/247). Gegenüber dieser lastenden Schwere, dieser Vergiftung der Wirklichkeit bedeutet die Wiederholung der ursprünglichen Praxis als Praxis der Hoffnung eine Öffnung der Wirklichkeit selbst: sie schafft Beziehung, Intentionalität. Die kosmologische Bedeutung dieser Öffnung liegt erneut darin, daß sich subjektive und intersubjektive Perspektive vollkommen entsprechen. Die Verschlossenheit gegenüber dem Anderen, die sich weigert, für ihn zu hoffen, ist identisch mit der Verschlossenheit gegenüber den eigenen Möglichkeiten, und deshalb ist sie Verzweiflung (s.o.). Umgekehrt ist die Offenheit dessen, der für den Anderen hofft, identisch mit der Offenheit seiner jeweiligen intersubjektiven Handlungswirklichkeit, d.h. sie schafft den darin leiblich betroffenen Akteuren „Luft und Aussicht" (273/237), indem sie Intentionalität, also Bezogenheit auf Lebensmöglichkeiten schafft. Und diese Öffnung wird auf dem Boden eben der Wirklichkeit bewirkt, die in jedem Augenblick in der Gefahr der Abschottung, der Selbstverabsolutierung des Relationalen und damit der Unmöglichkeit zur Beziehungsaufnahme steht42: „Das

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on des Verhältnisses von Vorverständnis und Artikulation ist m.E. vergleichbar mit der Wiederholungstruktur von Kierkegaards Schlußbegriff, sofern man auf den sprachlichen Charakter dieses Schlußbegriffs achtet. Dabei differenziert die Analyse des Nicht-Hoffens: Einerseits gibt es Verzweiflung; dies ist eine Schlußform, die also formal auf derselben Stufe steht wie das Hoffen (s. 280/244). Andererseits gibt es Formen des Sichverhaltens zur Möglichkeit des Bösen, die formal gesehen noch keinen Schluß darstellen, sondern bloße, angstmachende Erwartung (s. 276/240) oder spießbürgerliche „Klugheit", die sich dem Risiko des Schließens als eines Sichverhaltens zur Möglichkeit überhaupt enthält und

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3. Kapitel: Das Können

Christentum führt dich nicht hinauf zu einer etwas höheren Stelle, von wo aus du doch nur einen etwas weiteren Umkreis überschauen kannst: dies ist doch nur eine irdische Hoffnung und eine weltliche Aussicht. Nein, die Hoffnung des Christentums ist die Ewigkeit; und deshalb ist in seiner Zeichnung des Daseins Licht und Schatten, Schönheit und Wahrheit, und vor allem die Ferne der Durchsichtigkeit [Alts Gjennemskuelsens Fjernhed]" (274/239). Die strukturierte Durchsichtigkeit des Daseins liegt in der erneuerten Möglichkeit, sich handelnd auf die Welt, auf andere Akteure und die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten beziehen zu können. Hoffnung ist die Kommunikationsform, in der Intentionalität überhaupt möglich wird. Im Fall des Glaubens wird die kosmologische, d.h. weltverändernde Beschreibung der Wahrheit v.a. durch den Güterbegriff geleistet. Das Risiko des Schließens besteht hier darin, betrogen zu werden, genauer: um etwas betrogen zu werden. Die Schlußform des Glaubens ist dann diejenige Handlung, die sich auf das Verhältnis zum Anderen weiterhin einlassen kann in der Gewißheit, daß sie nichts verlieren kann. Diese Gewißheit kann sie aber nur haben, wenn sie ihr Gut gerade darin hat, alles zu geben. Der weltververändernde und -begründende Charakter liegt hier also in einem Güterbegriff, der den Gefahren endlichen Lebens prinzipiell entnommen ist und dennoch als Bestandteil endlicher Praxis erfahren werden kann. Dies ist „die Seligkeit der Hingebung" (261/227) oder auch „die Seligkeit in sich selbst" (262/228 passim). Dieser Güterbegriff wird scharf unterschieden von einem bloß relational (zweistellig) verstandenem Güterbegriff, der in der Sprache der Geld- und Tauschwirtschaft beschrieben wird (s. 263ff./229ff.). Auch dieser Güterbegriff erweist aber seine schöpferische Bedeutung vollständig erst durch den Aufweis seiner reziproken Struktur: einen Anderen um dieses Gut betrügen heißt, sich selbst zu betrügen (265ff./231 ff.), und alles zu glauben heißt, sich selbst in der Liebe zu bewahren (s.o.). Der Glaube als Wiederholung bewirkt die Selbsterhaltung des Liebesverhältnisses. Die schöpferische Leistung des Glaubens besteht dann darin, Kontinuität zu stiften, parallel zur Stiftung von Offenheit durch die Hoffnung 43 . Und auch diese Kontinuität ist immer nur als intersubjektiv geteilte möglich, als eine Kontinuität, durch die intersubjektive Praxis al-

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insofern bloße „Halbheit" ist (s. 287£/250f.). Diese Differenzierung entspricht den verschiedenen Formen der Verzweiflung, wie sie in KT, 25-74 entwickelt werden. Vgl. P. S0ltoft, Love and Continuity (mit Bezug auf EOI).

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lererst konstituiert wird. Kontinuität als Selbstbewahrung in der Liebe gelingt dem Liebenden nämlich nur, wenn die Glaubenshandlung, durch die eine Interaktion gestaltet wird, selbst nicht an die Erfüllung bestimmter Erwartungen innerhalb dieser Interaktionsbeziehung gebunden ist: „denn das Beste ist die Liebe an und für sich, und die kann man stets behalten, falls man der wahrhaft Liebende sein will" (264/230). Der Glaube zielt statt dessen auf die Bewahrung der Beziehung selbst, denn sie ist die schöpferische Basis für beide Akteure, der Rahmen, in dem sie ihre jeweilige Handlungs- und Liebesfähigkeit ausüben können; für diese umfassende und konstituierende Orientierung steht die „Liebe an und für sich". Die Konstitution von Offenheit und Kontinuität ist die praktische Leistung der Schlußformen Glauben und Hoffen in der Form der Wiederholung: als Artikulation des vorausliegenden Handlungsverhältnisses in unbedingter Sprache. In diesem Verständnis hat das Neue, das mit dem kategorialen Schritt vom Wissen zum Schluß verbunden ist, nicht subjektiv-psychologische, sondern intersubjektiv-praktische und damit kosmologische Bedeutung 44 . Glauben und Hoffen sind Formen schöpferischer Wiederholung. 45 Haben Glauben und Hoffen als Schlußformen die Form der Wiederholung, so bedeutet dies, daß Wirkung und Zeit konstitutive Bedeutung für diese Schlußformen haben. Dieses Ergebnis erlaubt nun endlich eine Einordnung des von Kierkegaard in Anschlag gebrachten Begriffs des praktischen Schließens: Nicht der bei Aristoteles im Zusammenhang der Ethik stehende praktische Syllogismus, sondern die spezifische Schlußform der Aristotelischen Rhetorik, das sog. Enthymema, kann als Muster dieser Praxisbeschreibung gelten. Kier-

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Darin eben scheint mir ein Hauptproblem von C.S. Evans' Handlungsbegriff (und damit auch dem Handlungsbegriff der Climacus-Schriften?) zu liegen, daß er die Kategorie des Neuen psychologistisch versteht: nämlich als einen „leap", der dem reinen Willensakt enspricht (vgl. aaO. 85). Die Vorstellung der Wiederholung als schöpferischem Vorgang taucht explizit in der Literarischen Anzeige auf, und zwar im Hinblick sowohl auf Gottes Schöpfungshandeln gegenüber der Welt wie auch auf das Werk eines Künstlers, s. LA, 12f., ferner W, 5. Es muß hervorgehoben werden, daß der Wiederholungsbegriff hier in bezug auf Handlungen grundsätzlich anders verwandt wird als etwa in Pap. IV A 156: nämlich nicht als äußere Verwirklichung eines inneren Entschlusses, sondern als Wiederholung eines früheren Vorgangs, der ebenfalls völlig leibhaft-äußerlich, nämlich als ein Werk, zu denken ist! Vom Begriff der schöpferischen Wiederholung aus arbeitet H. Schulz den Begriff der „Welt als Wiederholung" als „Kierkegaards Ansatz der Schöpfungstheorie" heraus (Identität, 463-469).

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kegaard hat sich mit dieser rhetorischen Schlußform ausführlich beschäftigt46. Nach Aristoteles muß das Enthymema „auf Dinge angewandt werden, die [...] sich auch anders verhalten können"47; eben dies ist auch das Medium des liebenden Schließens: die „Möglichkeit" und „unendliche Zweideutigkeit" (256/223). Die rhetorische Schlußform zielt auf das Bewirken von Glauben und Vertrauen gegenüber der Äußerung eines Sprechers im Medium des Nichtnotwendigen. Dem entspricht die Funktion des Schlusses, die wir in Kierkegaards Ausführungen feststellen können: Die Artikulation des Basissatzes zielt auf die Wiederholung der ursprünglich gegebenen Beziehung der Handelnden und damit auf die Fortschreibung eines gemeinsamen Vertrauens- und Handlungsraumes; doch diese Fortschreibung ist unabgeschlossen, sie kann ihre Wahrheit erst in der Zukunft erweisen und ist deshalb durch eine unvermeidbare Unbestimmtheit und Vagheit geprägt48.

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47 48

S. Pap. VI A 33: „Schließlich und endlich ist das, was ich einen pathetischen Übergang nenne, das, was Aristoteles ein Enthymema nannte", vgl. ferner Pap. VI A 1719,146-156; VI Β 13,128-137. Das Enthymema ist nach Aristoteles ein Wahrscheinlichkeitsschluß, der infolge seines praktischen Bezugs auf konkrete Hörer und der Aufgabe, diese Hörer argumentativ-schlüssig von einer bestimmten Auffassung zu überzeugen, durch eine Vagheit bestimmt ist, die ihn vom theoretischen Syllogismus unterscheidet, vgl. Aristoteles' Rhetorik I, 1-2. II, 22-24 (vgl. hierzu H. Schepers, Enthymem, 529£). Die Rhetorik zielt nach Aristoteles auf das „Glaubenerweckende", und hierfür sind die Enthymeme die entscheidenden argumentativen Instrumente. Insbesondere die zentrale Stellung des Glaubensbegriffes („p«iw") ist es, die Kierkegaards ontologisches Interesse auf sich zieht; vgl. K. Schäfer, Sören Kierkegaard, 441ff. Die rhetorischen Schlußformen sind nicht identisch mit dem, was die analytische Handlungstheorie als praktischen Syllogismus behauptet; dieser soll i.d.R. gerade nicht als Wahrscheinlichkeitsschluß verstanden werden, sondern als Rekonstruktion einer logischen Notwendigkeit innerhalb der Handlung. Allerdings wird auch unter analytischen Handlungstheoretikern das Element der Vagheit für den praktischen Schluß anerkannt, vgl. A. Kenny, aaO. 81f£; Kenny lehnt ein „enthymematic" Verständnis dieser Vagheit ab und spricht statt dessen von der „defeasibility" des praktischen Schließens (ebd. 92ff.). Aristoteles, aaO. 1,2.13 (S. 16). Ein weiterer Aspekt des systematischen Zusammenhangs von Wiederholung und Artikulation, der in Kierkegaards Text an dieser Stelle allerdings nur mitklingt, kann hier genannt werden: Das Unbestimmte von Glauben und Hoffen, also das Unbestimmte in der Handlungsbeziehung selbst, wird durch Wiederholung des artikulierenden Handelns zunehmend bestimmter. Dieser Bestimmungsprozeß eben kann als Inhalt der gemeinsamen Geschichte der Handelnden verstanden werden; diese Handlungsgeschichte wird damit zur Artikulationsgeschichte; zum produktionsästhetischen Aspekt einer solchen Artikulationsgeschichte vgl. LA, 23: „verändert in der Wiederholung" (mit Bezug auf den schöpferischen Prozeß des Schreibens!).

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Die enthymemische Struktur des praktischen Schließens impliziert eine bestimmte Ontologie. Als Schluß aus dem Dasein sind Glauben und Hoffen Weisen der Wiederholung dieses praktischen Daseins. Und diese Wiederholungsstruktur entspricht einer sprachanalytischen Interpretation der ontologischen Struktur propositionaler Sätze: Der Satz „ich glaube, daß du mich lieben kannst und wirst" (als Umformung des Satzes „ich glaube dir alles") ist keine Prädikation eines Gegenstandes im Sinne von: „du bist liebenswert". Die finite Form des Verbes „sein" im Schlußsatz muß hier vielmehr als Existenzaussage über einen welthaften Tatbestand verstanden werden: „ich glaube, daß es der Fall ist, daß du mich lieben kannst", und nur deshalb hat dieser Satz auch die Form einer begründungsfähigen Ja/NeinStellungnahme49. Die propositionale Struktur der Schlußformen rekurriert auf ein „faktisches Sein" im Sinne der Ontologie der Philosophischen Brocken50. Nicht dem Anderen wird ein bestimmtes Sein im Sinne einer Wesensaussage beigelegt, sondern ein konkretes „Dasein", eine ursprüngliche intersubjektive Praxis wird - in einer neuen Situation - als existent behauptet, und die praktische Bewährung dieser Behauptung als Wiederholung des Ursprünglichen ist das in jenem Satz ausgesprochene Sein. Um das Sichtbarwerden dieses ursprünglichen Seins als eigentlichem Gegenstand von Behauptungs49

50

Zu den ontologischen Implikationen der verschiedenen Satzformen vgl. E. Tugendhat, aaO. 57ff. Higendhats Begriff für das im Aussagesatz ausgesprochene Sein ist der des „veritativen Seins". Dieses Verständnis des Wortes „sein" unterscheidet Tugendhat von der Kopula, durch die Gegenstände direkt, d.h. ohne Berücksichtigung der semantischen Dimension, prädiziert und damit als an sich Seiendes behauptet werden. Das veritative Sein dagegen bringt begründungsfähige Aussagesätze zum Ausdruck, in denen die Gegenstände als „Gesagtes oder Behauptetes" (ebd. 62) benannt werden und das Sein dieser Gegenstände semantisch zu verstehen ist, also als wahrheitsfähige Existenzaussage. Auch bei Kierkegaard taucht die Differenzierung des Seinsbegriffs (im Anschluß an Schelling) als Kopula und Existenzbegriff auf, und zwar an entscheidender Stelle in den Brocken als die Differenz von „at vaere" und „at vasre til", s. PB, 38: „Ich beweise somit nicht, daß ein Stein da ist [vcere/er til], sondern daß das Etwas, das da ist, ein Stein ist [vœre/er]." S. PB, 3. Kapitel, bes. 39£ (Spinoza-Anmerkung); vgl. dazu K. Schäfer, Ontologie, 160f£, 317f Dieses „faktische Sein" darf dabei nicht im empiristischen Sinne mißverstanden werden: Es handelt sich nicht um ein objektives Datum, sondern um eine jeder Prädikation vorausgehende und zugrundeliegende Beziehung zu einem Gegenstand: „Der von Faktizität Betroffene muß sich zum Faktum verhalten, weil es seine Situation mitbestimmt. Es drängt sich ohne Zutun des Subjekts ungefragt von sich aus in eigener Initiative diesem Einzelnen so auf, daß es als das Prius des gesetzten Verhältnisses mit in das Dasein dieses Menschen eingreift" (K. Schäfer, ebd. 163). In diesem nicht-empirischen Sinn von Faktizität ist auch der Handlungspartner und sein Handelnkönnen zu verstehen.

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3. Kapitel: Das Können

handlungen geht es auch Climacus, wenn er vom Schluß aus dem Dasein spricht51. Der Schluß als Wiederholung hat darin ontologische 51

Ich versuche, den Schlußbegriff aus TL in seinem Verhältnis zum Schlußbegriff der Climacus-Schriften zu bestimmen: 1. Die Formel vom „Schluß aus dem Dasein" ist keine Bestimmung des Schlußbegriffes, sondern will auf das Dasein (das „faktische Sein") als dem unbedingt Vorausgesetzten aufmerksam machen: „Ich beweise somit nicht, daß ein Stein da ist, sondern daß das Etwas, daß da ist, ein Stein ist; das Gericht beweist, nicht daß ein Verbrecher da ist, sondern daß der Angeklagte, der ja da ist, ein Verbrecher ist" (PB, 38). Entsprechend scheint das Schließen selbst in dieser Formel noch als Prädizieren eines vorausgesetzten Substrates gedacht zu sei, nicht aber als spannungsvolle Anerkennung des Daseins dieses Substrates (nach Pap. V A 74 wäre dieser Schluß als „Identität" zu bestimmen). Die Bedeutung des faktischen Seins für das Schließen kommt erst mit dem Glaubensbegriff ins Spiel, s. PB, 80f.: Jetzt wird die Erkenntnis der geschichtlichen Faktizität eines Gegenstandes selbst als eine besondere Form des Schließens bestimmt, nämlich als leidenschaftlicher Entschluß, das Gewordensein des Gegenstandes zu glauben; der Schluß im Sinne des Kausalschemas vom Daseienden auf seine Ursache erweist sich so gerade als Entschluß des Glaubens (vgl. Pap. V A 74: der Induktionsschluß ist ein Sprung). 2. Der Schlußbegriff aus TL teilt zunächst die ontologischen Voraussetzungen dieses Glaubensschlusses: der Gegenstand des Schließens ist in seinem faktischen Sein durch die geschichtliche Möglichkeit bestimmt. Die Unterschiede aber sind folgende: a) Das Alles-Glauben der Liebe wird nicht erkenntnistheoretisch, sondern praktisch verstanden: Der Ausgangspunkt für diesen Schluß ist nicht ein objektivierendes Verhältnis zu einem Gegenstand, sondern eine ursprüngliche Praxis, in der beide Beteiligten immer schon miteinander handelnd vermittelt sind. In Climacus' Fragestellung werden die Beteiligten zunächst als getrennte Individuen gedacht, die erst im Augenblick des Glaubens miteinander zu tun bekommen. Die Relativierung des Gegenstandes gegenüber dem subjektivem Dasein des Erkennenden ist für TL unmöglich, da der „Gegenstand" ein ebenfalls freies Subjekt ist. b) Auch der Schluß selbst ist praktisch, d.h. intersubjektiv strukturiert: das Schließen ist nicht bloß ein „inneres Handeln", in dem ein Subjekt auf den Druck eines begegnenden faktisch Seienden reagiert (vgl. K. Schäfer, aaO. 171,320), sondern es ist zugleich auch eine Mitteilung, eine Artikulation. Allesglauben und Alleshoffen sind Interaktionsformen, in denen selbst neues faktisches Sein entsteht und die damit wesentlich über den durch Faktizität bestimmten subjektiven Handlungsbegriff hinausgehen, so wie Schäfer ihn beschreibt: „man ist ständig gezwungen, etwas mit sich selber anzufangen, man ist dabei, etwas aus sich zu machen" (ebd. 318). c) Das bedeutet, daß das kommunikative Handeln selbst unter der Ontologie des faktischen Seins steht: Dieses Handeln hat die Satzform „ich glaube/hoffe, daß es der Fall ist, daß ...". In den Bestimmungen von Pap. V A 74 kann man dann sagen: Dieser Schluß ist gegenüber seiner praktischen Prämisse eine bloße logisch-deduktive „Identität", nämlich identisch hinsichtlich seines propositionalen Gehaltes („daß du lieben kannst"); aber hinsichtlich der Faktizität der Prämisse ist der Schluß ein „Sprung": eine Wiederholung der ursprünglichen Praxis im neuen Augenblick, in dem erneut ein faktisches Sein in der Form einer propositionalen Satzform als wahr behauptet wird. Trifft diese Analyse zu, so ist erneut die Weiterentwicklung benannt, die mit TL gegenüber früheren Schriften erreicht ist: Der problematische Begriff des „inneren

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Bedeutung, daß er eine assertorische Seinsaussage ist, die das Behauptete zugleich praktisch bewährt, d.h. diese Aussage im Vollzug des Aussagens kommunikativ wahr machen muß. Die Strukturelemente Wiederholung und propositionale Form entsprechen sich ontologisch darin, daß sie auf einen pragmatischen oder enthymemischen Wahrheitsbegriff verweisen. Das Sein, das Glauben und Hoffen propositional benennen, ist das, welches in eben diesen Artikulationshandlungen wirklich gemacht wird (als Offenheit und Kontinuität) und sich so als die Wahrheit der Behauptungen erweist. Diese Ontologie des Handelns zeigt m.E. die sachliche Angemessenheit, Kierkegaards Beschreibungen von Glauben und Hoffen als Sprechakte zu interpretieren 52 . Erst jetzt sind wir auch in der Lage, ein Problem zu klären, das bei der Erörterung der propositionalen Form der Schlußformen aufgetreten war: Wenn es sich bei Glauben und Hoffen um das Sprechen eines bestimmten Satzes handelt, welches sind dann die Wahrheitsbedingungen dieses Satzes? Das praktische Wahrwerden und Wahrmachen ist nun die Weise, in der die Wahrheitsbedingung (Verwendungsregel) des propositionalen Basissatzes „ich glaube/hoffe daß p" verstanden werden muß. Dieser Satz ist nicht die Repräsentation eines einfachen Sachverhalts, sondern benennt gerade einen Sachverhalt, der keine Realität unabhängig von dem Sprechen dieses Satzes hat. Man kann den Satz auch im unwahren Sinn gebrauchen, d.h. ohne durch die Praxis des Sprechens den Inhalt wahr zu machen. Der Satz wird nur dort als wahrer verwendet und verstanden, wo sein In-

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Handelns" wird ersetzt durch einen Begriff von Interaktion, der gleichwohl das früher erreichte ontologische Niveau nicht unterläuft, sondern handlungstheoretisch weiterführt. Diese Interpretation wird ferner durch die Tatsache gestützt, daß Kierkegaards Beschäftigung mit den rhetorischen Schlußformen im Zusammenhang mit Erwägungen zu einer „christliche(n) Redekunst" stehen, vgl. Pap. VI A 1: „Die ganze Frage von Sein und Nichtsein, die es in der aristotelischen Philosophie gar nicht gibt [...] verweist er [sc. Aristoteles] an die Rhetorik als der [Wissenschaft], welche die Überzeugung [Overbeviisrting] hervorbringen soll". Hierdurch wird der für Kierkegaard konstitutive Zusammenhang von Handeln, Ontologie und Sprache sichtbar. „Ontologie hängt also mit einer existenzwissenschaftlich orientierten Erforschung der Sprache und der Interpersonalität zusammen" (K. Schäfer, Sören Kierkegaard, 442). G. Pattison, The Aesthetical unternimmt eine Interpretation der Kierkegaardschen Mitteilungstheorie als „rhetorical theology" (ebd. 63ff.). Allerdings scheint mir der von Pattison behauptete Gegensatz von „rhetorischer" und „metaphysischer" bzw. „dogmatischer" Theologie (s. ebd. xvii, 174) an der Sache vorbeizugehen; vielmehr kann man in TL gerade das Ineinander von rhetorischen und metaphysisch-logischen Denkformen beobachten.

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halt zugleich die Form der Interaktion, also der Mitteilung dieses Satzes ist53. Der Satz ist dort als wahrer Satz ausgesprochen, wo er in angemessener Weise verwendet wird, und d.h. wo die praktische Handhmgsbeziehung in der Form dieses Satzes von einem der Handelnden artikuliert wird (und entsprechend von einem Beobachter beschrieben werden kann). Eine unwahre Verwendung des Satzes erfolgt dann, wenn ein Sprecher den Satz gebraucht, ohne mit dieser Äußerung zugleich sein Verhältnis zu dem Anderen zu gestalten, indem er entweder selbst nicht an den Satzinhalt glaubt, und also den Anderen täuscht, oder den Satzinhalt nicht ernstnimmt und ihn einfach nur so dahinsagt; in diesen Fällen drückt der propositionale Bestandteil also tatsächlich nur ein verheimlichtes subjektives Interesse des Sprechers aus und widerspricht damit gerade der ausgesagten Reziprozität des Liebenkönnens: der Täuschende nimmt die Andere nicht als Liebensfähige ernst, und damit auch nicht sich selbst54. Der Begriff der Wahrheitsbedingung muß demnach für TL differenziert verwendet werden: Erstens ist damit ein praktisches Wahrwerden gemeint, also kein von der (sprachlichen) Handlung abstrahierbarer Sachverhalt. Zweitens bedeutet Wahrheit hier nicht die designative Übereinstimmung von welthafter Tatsache und sprachlichem Symbol. Das Beispiel vom Vater des verlorenen Sohnes zeigt, daß für Kierkegaard die Wahrheit seiner Liebeshandlung (die sich im propositionalen Basissatz ausdrückt) nicht durch Rekurs auf externe Erfüllungsbedingungen wirklich wird, sondern durch den Erweis der Ewigkeit, d.h. durch die Qualität der Handlungsbeziehung in der Perspektive ihrer Glieder: ob die jeweilige Handlung weitere Handlungen in dieser Beziehung ermöglicht. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die Charakterisierung von Glauben und Hoffen als Schlußformen ist nicht im Sinne einer abstrakt-vorpraktischen Handlungslogik zu verstehen, sondern stellt die Frage nach der Wahrheit des Handelns in den Zusammenhang mit der Geschichte des Handelns. Intersubjektives Handeln hat eine Geschichte, die die Form der Widerholung hat; dies soll durch den 53 54

Zum Form-Inhalt-Modell bei Kierkegaard s.o. Kap. 3,1., Anm. 23. Zur Illustration kann man hier an den Verführer aus Entweder/Oder denken; auch Climacus muß bei der Beschreibung der Glaubensäußerung zwischen einen bloßen „Ableiern" und einer „Reduplikation des Inhalts in der Form" unterscheiden (AUN2, 326, Anm.). Zur subjektiven Wahrhaftigkeit als Wahrheitsbedingung des Sprechaktes vgl. J. Searle, Sprechakte, 921, 95f. Das Problem der Wahrhaftigkeit als Übereinstimmung von Inhalt und Form der Kommunikation wird zentral in Kierkegaards späterer Kritik des Christentums, s.u. (Kap. 4,1.).

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Schlußbegriff ausgedrückt werden: Handeln hat die Form eines realen, ontologischen Schließens, dessen Wahrheit sich in der Zukunft erst noch erweisen muß. Hinter diesem Verständnis des praktischen Schließens steht die Hegeische Idee eines ontologischen, geschichtlichen Schlusses ebenso wie der Schlußbegriff der Aristotelischen Rhetorik. Der dem rhetorischen Enthymema nahestehende Schlußbegriff steht sowohl für die geschichtliche Folge (Wirkung) als auch für die damit verbundene Unbestimmtheit, das Risiko gegenwärtigen Handelns. Eine ähnliche Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Geschichte des Handelns, allerdings ohne expliziten Bezug auf Intersubjektivität, findet sich einige Jahre später in der Einübung im Christentum. Hier unterscheidet Anti-Climacus zwischen der „Wahrheit im Sinne von Resultat" und der „Wahrheit im Sinne des l e ges',, (EC, 198). Gilt die erste Wahrheitsform für alle Prozesse des technisch-poietischen Herstellens, für die allein das Produkt wichtig ist (was am Beispiel der Erfindung des Schießpulvers verdeutlicht wird), so beschreibt die Metapher des Weges die Wahrheit des Glaubens und damit das „Sein" oder „Leben" des Gläubigen: „Jedoch wenn die Wahrheit selber der Weg ist, so kann der Weg ja nicht sich verkürzen oder fortfallen, ohne daß die Wahrheit verfälscht wird oder gar fortfällt" (EC, 197). Der Weg oder die individuelle Geschichte ist die wesentliche Form des christlichen Handelns. Und dieser Weg-Charakter ist es, der in TL durch den Begriff des Schlusses ausgedrückt wird.

1.3. Die Schlußform als subjektives Phänomen von Liebe Es hat sich m.E. gezeigt, daß Kierkegaards Begriff des Glaubens und Hoffens als eine Form des praktischen Schließens verstanden werden kann, doch in einem anderen Sinn als dem von der analytischen Handlungstheorie gebrauchten. Nach der Diskussion des Schlusses hinsichtlich seiner beiden Prämissen will ich abschließend noch kurz einige Folgerungen in Hinblick auf die Schlußform selbst, also die mit „Glauben" und „Hoffen" benannte Handlung, benennen. Das Kontingente von Glauben und Hoffen liegt, so hat sich gezeigt, nicht in den Schlußformen selbst, sondern in ihrer Prämisse: der faktischen Existenz der ursprünglichen Praxis. Daß dieses Vorausgehende tatsächlich der reale Grund ist, „aus" dem heraus der Schluß erfolgt, erweist sich immer nur im nachhinein oder in actu: erst der Schluß macht die Prämisse real wahr. Die Schlußformen der Liebe sind Er-

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eignisse, die in ihrer Faktizität nicht-notwendig, d.h. kontingent sind, diese kontingente Faktizität aber kann immer nur analytisch beschrieben werden: als konsequente Entfaltung einer vorher unsichtbaren Realität 55 . M.a.W. die Teleologie der Liebe kann für TL nicht, wie es etwa in der Hegeischen Logik für die Bewegung des Geistes gilt, als gesamter Prozeß der Bewegung von innen nach außen in seiner ontologischen Notwendigkeit beschrieben werden, sondern diese Teleologie zeigt sich immer nur an ihren je nicht-notwendigen Wirkungen, ihren „Früchten" (s. i,I); das ist der spezifische phänomenologische Charakter der Liebe in TL. Die Schlußformen Glauben und Hoffen „offenbaren" etwas über den Schließenden und seine Prämissen (s.o.); dies geschieht aber stets innerhalb eines Schließens, das prinzipiell nicht von außen und im vorhinein darstellbar ist. Die Darstellung der Liebe kann also nicht den Gesamtprozeß und seine Bewegungsgesetze erheben, sondern kann nur von den Phänomenen, also den Schlußformen als offenbarender Wirklichkeit sprechen. Die kontigente Existenz dieser Phänomene ist die Voraussetzung solcher Rede. Kontingenz bedeutet hier die Unmöglichkeit, im vorhinein einen Ermöglichungsgrund für solche Handlungsphänomene zu konstruieren; dieser Grund selbst entzieht sich dem begrifflichen Zugriff und bleibt so transzendent-unerreichbar wie der „Ursprung der Quelle" (s. 11/14). Solche Transzendenz des Ursprungs ist zugleich nicht als ein absolut Fernes, sondern als ein Erstes und uneinholbar Unmittelbares zu verstehen: als ursprüngliche Praxis. Das Phänomen der Liebe ist nun aber in diesen Reden stets in einem subjektiven Handeln verortet. Im Hinblick auf die folgenden Reden (V-VIII) ist es wichtig zu sehen: Trotz der grundlegenden kommunikativen, reziproken Struktur des Liebenkönnens sind Offenheit und Kontinuität zunächst Wirkungen am Subjekt des Handelns selbst. Die Wirkung kann noch ganz ohne Rekurs auf die Reaktion des Anderen beschrieben werden. Es ist zunächst das einseitige Liebenkönnen des Subjekts, das durch die reziproken Sprachformen Glauben und Hoffen qualifiziert wird: sein expressives Verhältnis zum Anderen wie auch zu sich selbst, also seine Handlungsfähigkeit 55

Damit ist Nähe und Abgrenzung zum Hegeischen Schlußbegriff genannt: Die Schlußformen der Liebe sind, analog zu Hegel, nicht bloße formale Bestimmungen des Denkens, sondern leiblicher Vollzug von Handlungen, objektive Realität. Doch dieses Notwendigkeitsverhältnis zwischen subjektivem Schließen und objektiver Realität ist als solches nicht notwendig, sondern kontingent: es beruht, wie TL2,1 sagt, auf der Voraussetzung der Liebe „in" dem Andern, die nur geglaubt oder erhofft wird und insofern stets in der Gefahr des Scheiterns steht.

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als Liebender. Eben diese Perspektive halten beide Reden thematisch fest: Glauben und Hoffen qualifizieren die subjektive Seite der intersubjektiven Liebe als eine solche, die „nicht betrogen" und „nicht zuschanden" wird, indem sie in der durch Diskontinuität und Abgeschlossenheit gefärdeten neuen Situation wiederholt wird. Und eben so verläuft ja auch die Struktur des Schlusses: Von der vorausgehenden gemeinsamen Praxis zur einseitigen Wiederholung derselben Praxis. Diese einseitige Wiederholung aber kann wiederum nur als eine Antizipation der gemeinsamen Praxis verstanden werden. Ein Ausbleiben der Wiederholung andererseits kann nur als Selbstwiderspruch und damit als Anzeichen dafür gewertet werden, daß bereits bei der Prämisse die Liebe in ihrer Reziprozität verfehlt war. Man könnte vielleicht sagen: Das Werk oder „Gebäude" der Liebe im Sinne von 2,1 ist in diesen Reden das liebende Subjekt selbst. Indem der Liebende durch die Reziprozität des Verhältnisses, d.h. durch das fremde Können und die ursprüngliche Praxis „erbaut" wird, wird der Handelnde selbst überhaupt erst liebes- und handlungsfähig. Doch hat dieses subjektive Erbautsein zugleich kommunikative Bedeutung: Die Offenheit und Kontinuität wirken auf den Anderen und auf die Beziehung zu ihm ein; nur in dieser Richtung, d.h. in Hinblick auf eine vorliegende Beziehung zu einem Anderen, lassen sich diese beiden Wirkungsweisen von Glauben und Hoffen überhaupt verstehen. Ein Handelnder kann sich selbst in der Liebe nur bewahren, indem er sich selbst in einem bestimmten intentionalen Verhältnis zu einem Anderen bewahrt. Der kommunikative Aspekt ist damit aber noch nicht ausgeschöpft. Eine weitere Pointe der phänomenologischen Argumentation in diesen Reden liegt nämlich gerade darin, daß das kreative Schaffen von Offenheit und Kontinuität in der Wirklichkeit des Lebens immer wieder in radikaler Vereinzelung und Einseitigkeit geleistet werden muß, die die reziproke Grundstruktur dieser Praxis zum Zerbrechen zu bringen droht56. Das Beispiel vom Vater und dem verlore56

M. Kühnlein, Aufhebung hat die konstituierende Bedeutung des Glaubens für das kommunikative Handeln anhand einer Habermas-Interpretation eindrücklich aufgewiesen: „Vertrauen als das den Hintergrundkonsens .Umgreifende'" (402). Dieser Vertrauensbegriff ist allerdings auf einen positivistischen Glaubensbegriff bezogen, der von vorneherein als prinzipiell unproblematische Gemeinschaft gedacht wird: „Vertrauen verweist nicht auf Strukturen sprachlich erzeugter Intersubjektivität, sondern auf Strukturen intersubjektiv gestifteter Glaubensgemeinsschaft" (403). Mit Kierkegaard läßt sich demgegenüber zeigen, daß beim Glauben die Probleme für die Kommunikation nicht aufhören, sondern überhaupt erst anfangen!

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nen Sohn illustriert diese Spannung eindrücklich (s.o.). Der Anspruch der Reden über Glauben und Hoffnung liegt darin, aufweisen zu können, daß in dieser Spannung glaubend-hoffend gelebt und gehandelt werden kann, genauer: daß es gerade die Liebe ist, die den Handelnden dazu nötigt, in dieser Spannung zu leben. Ohne die Liebe wäre das Glauben und Hoffen für den Vater nicht so schmerzvoll. Doch der Schmerz über den Sohn enthüllt die Wahrheit der Liebe; er ist der Aufweis, daß die Liebe, die sich den Gefahren von Betrug und Enttäuschung notvoll gegenübersieht, dennoch eine Wahrheit über sich selbst und die gemeinsame Lebenswelt artikuliert, welche die verschiedenen Subjekte dieser Welt zum Leben unbedingt brauchen. Fassen wir zusammen: Glauben und Hoffen haben sich als besondere Behauptungsformen eines propositionalen Satzes erwiesen. Charakteristisch für diese Behauptungsformen ist die praktische und zeitliche Form ihres Wahrheitsanspruches. Behauptungsform und Satzform machen zugleich den Handlungscharakter dieser beiden Phänomene aus: Es sind bestimmte Weisen, einen bestimmten Satz zu sagen, der sich an einen anderen Sprecher richtet. Die sprachliche Struktur macht es Kierkegaard möglich, Glauben und Hoffen als Vollzugsformen von sprachlichen und expressiv-zeichenhaften Handlungen darzustellen, ohne sie als Phänomene eines vor-sprachlichen und vorleiblichen (nicht handelnden) Bewußtseins ausgeben zu müssen. Die Fähigkeit, den Satz des Voraussetzens zu sagen, erweist sich dabei als subjektives Phänomen einer Liebe, deren Grund transzendent ist und sich diesem Sprechakt selbst zum Ausdruck bringt. Damit ist der subjektive Aspekt des liebenden Aufbauens aber noch nicht vollständig erfaßt. Was beschrieben ist, ist die Wirksamkeit dieser Liebe, insofern sie sich durch ihre sprachliche Form im intentionalen Verhältnis zum Anderen selbst erhält und bewahrt. Damit ist noch nicht beschrieben, was diese Äußerung beim Anderen bewirken kann. Dies wird Thema der Reden V-VIII sein. Was aber ebenfalls noch Umgekehrt ist allerdings an Kierkegaard die Frage zu stellen, ob er nicht den jedem einzelnen Kommunikationsakt vorausliegenden Horizont einseitig vom Vollzugsmoment her versteht und damit das Verständnis für Kontinuität im Handeln wieder verliert. Das Problem wird von Anti-Climacus auf den Punkt gebracht, wenn auch er „Koninuität" durch die Kategorie „Augenblick" interpretiert (KT, 105f£); die Auflösung dieses Gegensatzes miißte wohl mit einem Hinweis auf den kategorialen Status der Begriffe beginnen: der Begriff des Augenblicks ist nicht empirisch-quantitativ, sondern (stadien-) logisch gemeint und muß deshalb zu den jeweils konkreten Kontinuitätsformen nicht im Widerspruch stehen.

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fehlt, ist die Frage nach dem Selbstverständnis dessen, der so liebt. Diese Frage läßt sich in einer Analyse der Rede IV. beantworten.

Exkurs: Die erste Liebe Zunächst aber will ich versuchen, das bisher Gesagte in den Kontext anderer Kierkegaardtexte einzuzeichnen. Die Schlußformen des Glaubens und Hoffens können nur als Handlungen der Liebe gelten, wenn sie die Liebe in Form einer ursprünglichen Praxis als ihren Grund bzw. ihre Prämisse haben. Darin zeigt sich erneut die logische Gestalt des Zirkels oder der Selbstvoraussetzung, die wir bereits früher an dieser Theorie der Liebe festgestellt hatten. Das Element des Neuen, die Synthese hat gleichwohl entscheidende Bedeutung, nämlich als der Ort und der Augenblick der Wiederholung jener ursprünglichen Praxis. Doch damit stellt sich eine Frage an die hinter einer solcher Struktur stehende Vorstellung davon, was Liebe nun eigentlich konkret ist: Besteht das Handeln der Liebe nur aus Wiederholung und damit Bewahrung des Ursprünglichen (wenn auch in einem breiten Interpretationsrahmen), so können als Liebe überhaupt nur diejenigen Beziehungen gelten, die prinzipiell unendlich sind und nicht irgendwann einmal zerbrechen oder beendet werden. Jedes Scheitern der Beziehung müßte demnach als Offenbarung ihrer Unwahrheit gedeutet werden. Das würde bedeuten, daß wahre Liebe nur einmal lieben kann. Ist dies aber nicht eine unrealistische Sicht der Liebe, die zugleich ihren Phänomenbereich, und damit den Bereich dessen, was sie erklären kann, sehr einengt? Kierkegaard selbst äußert den Verdacht der Übertreibung immer wieder in seinen Texten, auch in bezug auf die Liebesvorstellung. „Man liebt nur einmal in seinem Leben" (E02, 63) - diese Behauptung wird in Entweder/Oder ausführlich diskutiert. Im ersten Teil des Buches findet sich unter der Überschrift „Die erste Liebe" eine Besprechung des gleichnamigen Lustspiels von Scribe, die eben jene Überzeugung ironisiert, und zwar auf doppelte Weise: Auf der einen Seite zeigt der anonyme Verfasser der Rezension an dem Stück selbst, wie hier die romantische Idee der ersten Liebe auf genial-nihilistische Weise lächerlich gemacht wird (EOI, 249-265). Zweitens ironisiert die Einleitung der Besprechung ebenfalls jene Idee, indem sie in einer weitschweifigen Analyse des Begriffes des „Anlasses" das Mißverhältnis zwischen dem Anspruch auf unendliche Liebe und den zufälligen und wandelbaren Bestimmungen jener „ersten" Liebe auf-

290

3. Kapitel: Das Können

deckt (EOI, 271-288). Das Ergebnis ist klar: Die romantische Idee der ersten und einzigen Liebe ist Illusion, der Glaube an Kontinuität ein gerechtes Opfer der Ironie. Diese Kritik an der romantischen Liebe in ihrem illusorischen Selbstverständnis wird in den folgenden Teilen des Buches nicht zurückgenommen. Zugleich aber unternimmt der Ethiker in seinem ersten Brief einen neuen und ganz anderen Versuch, die Vorstellung der ersten Liebe gegenüber ihrer nihilistischen Kritik zu retten. Seine These ist: Die erste Liebe wird durch die Ehe gerettet und bewahrt, zugleich aber ist die erste Liebe auch unverzichtbar für die Ehe: sie ist „das Substantielle in der Ehe" ( E 0 2 , 37), denn nur durch sie wird die Ehe ästhetisch57. Damit werden nicht die lächerlichen Figuren aus Scribes Lustspiel rehabilitiert, sondern der Gerichtsrat zeichnet ein anderes Bild der romantischen Liebe als die Ironie: die Liebe ist die Substanz und Qualität der Ehe. Das Prädikat der Erstheit wird als Kategorie der Qualität und damit als Ganzheit gedeutet, die jede quantifizierende Wiederholung ausschließt ( E 0 2 , 42f.). Die Erstheit steht somit für die Faktizität des Phänomens, für die faktische Gegebenheit wahrer Liebe. Angesichts solcher Faktizität muß nun aber der Vorwurf der Zufälligkeit des Ersten abgewehrt werden, und dies geschieht durch einen Rekurs auf die Weise, in der dieses Faktum erfahren wird: „Sie [sc. die erste Liebe] ist Einheit von Freiheit und Notwendigkeit. Der Mensch fühlt sich mit unwiderstehlicher Gewalt hingezogen zu dem andern Menschen, eben darin fühlt er aber seine Freiheit. Die erste Liebe ist Einheit des Allgemeinen und des Besonderen, sie besitzt das Allgemeine als das Besondere, sogar bis hin zur Grenze des Zufälligen" ( E 0 2 , 48.). Gegenüber der Borniertheit des wählenden Verstandes ist die Liebe auf das Sinnliche des überwältigenden Eindrucks gegründet, ist darin aber „doch edel durch das Bewußtsein der Ewigkeit, das sie in sich aufnimmt" ( E 0 2 , 22). So gilt für die erste Liebe ein Doppeltes: Einerseits setzt sie sich selbst „in alle Ewigkeit hinein" voraus ( E 0 2 , 45) und hat darin „Apriorität" (E02, 64); andererseits kann und muß sie „in eine höhere Konzentrizität aufgenommen werden", und zwar ohne den Zweifel der Reflexion ( E 0 2 , 50). Diese höhere Konzentrizität ist die Ehe, durch die die Liebe Geschichte, d.h. Kontinuität gewinnt. Erst dieser Entschluß rettet die ewige Qualität der Liebe „aus dem Sinnlichen heraus" ( E 0 2 , 23). Umgekehrt gewinnt aber auch die Ehe erst durch die apriorische

57

Vgl. H. Friemond, Liebe, 82f£; T. de Bobadilla, Ausnahme, llOff.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

291

Kraft der ersten Liebe ihre sittliche Qualität als „innere Harmonie", die „ihre Teleologie in ihr selber" hat ( E 0 2 , 66). Erste Liebe und Ehe verhalten sich zueinander wie das zugrundeliegende sittliche telos und die dazugehörige geschichtliche Praxis des Strebens: „Man liebt nur einmal. Um das wirklich werden zu lassen, tritt die Ehe hinzu" ( E 0 2 , 6 3 ) . Es ist nun zu fragen, welche Überzeugungskraft diese Ausführungen des Gerichtsrates für die Plausibilität der Argumentation in TL haben. Zunächst ist dafür auf die Unterschiede in der Theoriegestalt hinzuweisen: Das teleologisch-anthropologische Stufenschema, in dem der Gerichtsrat das Verhältnis von Liebe und Ehe versteht, fehlt in TL. Die „Metamorphose [...], die aus den beiden Liebenden Braut und Bräutigam macht" ( E 0 2 , 60) ist für den Ethiker zugleich der Schritt von der unschuldigen und unmittelbaren Sinnlichkeit in die religiös bestimmte Welt des ethischen Entschlusses. Das teleologische Moment an diesem Stufenmodell besteht darin, daß der sittliche Gehalt der ersten Liebe noch aus dem Sinnlichen herausgerettet werden muß und sich erst in der Gestalt der Ehe entfaltet und, hegelianisch gesprochen, zu sich selbst kommt. Ein solches anthropologisch begründetes Entwicklungsmodell findet man in TL nicht mehr. Dies verhindert die Nichtableitbarkeit der Schlußformen „in jedem Augenblick". Die Differenz von Sinnlichkeit und Geist spielt keine Rolle mehr, sondern beide ,Stufen', Prämisse und Schluß, sind als Sinnlichkeit und Geist bestimmt: als Formen leibgebundener Vernunft. Das Verhältnis von Prämisse und Schluß kann dann anders beschrieben werden: Die Differenz liegt in ihrem zeitlichen Verhältnis, der Wiederholung58, die Kontinuität aber in der sprachlichen Gestalt der wiederholenden Handlung. Zugleich ist damit in TL das Phänomenfeld erweitert: Die Darstellung des Gerichtsrates bezog sich nur auf die Frage der geschlechtlichen Liebe und der Ehe. Die vom Begriff der Liebe als eines wirksamen Handelns anvisierten Phänomene sind dagegen eine Vielzahl „primärer" Handlungsbeziehungen: Vater und Sohn, Mutter und Kind, überhaupt Eltern und Kinder (s. o. zu Kap. 3,1.). Diese Beziehungen werden zudem nicht mehr als gesellschaftliche Institutionen oder „Rollen" diskutiert, wie der Gerichtsrat dies für die Ehe tut. In Entweder/Oder muß die sinnliche Liebe erst noch in eine höhere, geistig-sitt58

Unter dem Begriff der Wiederholung diskutieren die auf EO folgenden Pseudonyme die Unfähigkeit, das Liebesverhältnis zu realisieren, die zum Bruch der harmonischen Teleologie der Liebe führt (vgl. W und SLW).

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3. Kapitel: Das Können

liehe Form und damit bürgerliche Institution überführt werden. In TL dagegen ist das ursprüngliche Verhältnis in seiner allerersten Form bereits ein vollständiges Phänomen der geistigen Liebe, das keiner höheren, geistigeren Form mehr bedarf, sofern es sich dabei um ein Phänomen von Aufbauung handelt: Das Handeln der Mutter gegenüber dem Kleinkind kann als ein ursprüngliches Phänomen geistiger Auferbauung gelten. Denn bereits in dieser ursprünglichen und „natürlichen" Form hat die Beziehung die wesentliche „geistige" Gestalt des Aufbauens, nämlich die Satzform des Voraussetzens59. Was nötig ist, ist die lebenslange Wiederholung dieser ursprünglichen, primären Beziehung60. Die Lösung vom anthropologisch-teleologischen Schema führt dazu, daß das spezifische leibliche Handeln der Liebe nunmehr in Begriffen von Zeit und Sprache beschrieben werden kann und damit ein größeres Phänomenfeld erschlossen wird. Zugleich gewinnt damit das begriffliche Instrumentarium eine Distanz von bestimmten ideologischen Voraussetzungen, wie etwa der romantischen Liebes- oder der bürgerlichen Ehevorstellung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gegenüber der ironischen Kritik der ersten Liebe macht die Thematisierung der Eltern-Kind-Beziehung den Aspekt des Faktisch-Gegebenen auf eine geradezu provokative Weise stark. Der bei der erotischen Liebe immer noch denkbare freie Wille eines wählenden Subjekts fällt hier völlig weg, und zwar (für Kierkegaards Auffassung von Familie jedenfalls!) für beide Seiten. Die Nötigung zur Liebe ist hier unausweichlich. In den Reden von TL2 wird sie allerdings nicht als verpflichtende Nötigung beschrieben, sondern als ursprüngliches Vermögen, Zusammenhänge eines gemeinsamen Lebens aufzubauen.

59

60

Dagegen erhält für den Gerichtsrat die Liebe erst im geistigen Stadium der Ehe eine spezifische Sprachform, und zwar durch die Pflicht (s. E02, 158). Die exemplarische Bedeutung der Elternliebe für das Liebesverständnis von TL hebt auch A. Hannay, aaO. 269 hervor. In TL1 spielt demgegenüber die soziale Bedeutung der familiären Bindungen als eine mit bestimmten Normen verbundene Rollenzuweisung eine Rolle, wie wir an der Schilderung des Vater-Sohn-Konflikts aus i,III A. sahen. An der Differenz der jeweils geschilderten Vater-Sohn-Geschichten läßt sich die Differenz der beiden Teile von TL noch einmal exemplarisch ablesen: Im ersten Teil steht der normative Aspekt im Mittelpunkt, deshalb spielen soziale Rollensysteme als Medium des Normativen eine Rolle, und Vater und Söhne werden als Handelnde in diesem Medium geschildert; im zweiten Teil dagegen muß das Lieben-Können auch außerhalb, oder genauer: am Anfang und als Grund solcher Rollenwerteilungen thematisiert werden können, und deshalb wird der Vater des verlorenen Sohnes als derjenige geschildert, der das Verhältnis überhaupt erst und immer wieder neu begründet.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

293

Dieses ursprüngliche Vermögen wird im Eltern-Kind-Verhältnis explizit als leiblicher Zusammenhang gedacht: als biologisches Verhältnis, das freiheitlich gestaltet werden muß. Damit wird die grundsätzlich positive Bestimmung der Sinnlichkeit aus Entweder/Oder aufgenommen, ohne dualistisch relativiert zu werden. Solche „Naturnotwendigkeit" unterscheidet die Liebe auch von allen anderen Handlungsphänomenen. Sie beleuchtet die besondere Struktur eines Handelns, das nicht als voraussetzungslos gedacht werden kann. Die leibliche Konkretion des Anfangs bedeutet zugleich, daß dieser Anfang in seiner „Apriorität" auf Fortführung und Erfüllung angelegt ist. Es ist eben diese Perspektive auf zukünftige Möglichkeiten, die durch die reziproke Struktur des Liebenkönnens verbürgt wird. Glauben und Hoffen sind diejenigen Sprachhandlungen, in denen diese Apriorität und unvordenkliche Faktizität des Handlungsverhältnisses erhalten und in seine Zukunft überführt wird. Diese Handlungen haben eine geschichtliche und narrative Struktur, ihr Wiederholungscharakter bestimmt das subjektive Handeln der Liebe als Artikulationsgeschichte. Die teleologische Denkfigur aus Entweder/Oder ist also auch in TL noch relevant, aber innerhalb eines veränderten ontologischen Rahmens. Glauben und Hoffnung sind subjektive Formen der Selbsterhaltung einer Liebe, die selbst aber über diese subjektive Instanz hinausgeht und sich in jenen subjektiven Formen nur zum Ausdruck bringt. Die primären Handlungsverhältnisse von Eltern und Kindern dienen TL also als die bevorzugten Phänomene, an denen sich die Struktur der ersten Liebe aufzeigen läßt. Gleichwohl ist damit keine Fundamentalisierung oder Festschreibung dieser Verhältnisse gemeint. Denn natürlich ist diese Erstheit nicht als Zahl, sondern als Qualität gemeint (vgl. BA, 27f.), die ebenso in anderen Beziehungsformen aufzufinden ist. Auch die implizite Dynamik der Selbstinterpretationen von Glauben und Hoffnung, auf die ich bereits hingewiesen habe, macht es schwierig, bestimmte Beziehungen in ihrer faktischen Form zu idealisieren und festzuschreiben 61 . Darüberhinaus werden die Reden 2,V-VIII die Konflikte schildern, denen eine solche erste Liebe ausgesetzt ist. Die drohende Möglichkeit, daß das Verhältnis abgebrochen und zerstört werden und daß sich somit auch die erste Liebe als falsch erweisen könnte, muß von Kierkegaard bedacht werden. Diese Möglichkeit aber kann erst auf der nächsten 61

Die spätere radikale Kritik Kierkegaards an der religiösen Überhöhung der Familie kann als werkimmanentes Beispiel für solche Dynamik dienen, vgl. A, 183f., 247f£

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3. Kapitel: Das Können

Theorieebene Raum einnehmen, nämlich dort, wo es um die intersubjektive Gestaltung des Verhältnisses geht.

2. Reflexivität: Das Selbstverstehen

des wirksam

Handelnden

Glauben und Hoffen sind die Formen des wirksamen Handelns der Liebe, an denen TL beschreibt, was der Liebende überhaupt gegenüber dem oder der Geliebten tun kann und worin sein subjektives Liebenkönnen besteht. Doch wie sieht dieses wirksame Handeln in der reflexiven Perspektive aus, in welcher der Handelnde sich über sich selbst in seinem Handeln klar wird? Die Rede über das Aufbauen hatte unter dem Stichwort der „Verborgenheit" und der „Selbstverleugnung" auf die besondere Problematik des wirksamen Liebenkönnens in dieser reflexiven Perspektive hingewiesen (s. Kap.3,1.2.). Bereits dort hatten wir festgestellt, daß TL die reflexive Verborgenheit des Liebens nicht isoliert, sondern innerhalb des praktischen Begriffs des wirksamen Liebenkönnens situiert. Diese ersten Überlegungen sollen nun noch präzisiert werden, indem wir uns der Rede 2, IV zuwenden. Hier wird die Frage nach dem Selbstverständnis des Liebenden ausführlich thematisiert. Im Rahmen der handlungstheoretischen Rekonstruktion ist zu fragen, ob sich auch das Verständnis von Reflexivität an das bisher gewonnene sprachpragmatische Modell anschließen läßt. Unter der Überschrift „Die Liebe sucht nicht ihr Eigenes" führt die Rede den Duktus aus 1. Kor 13 noch einmal weiter und beschließt ihn zugleich vorläufig; die nächste Rede wird einen anderen biblischen Text zum Ausgangspunkt haben, und erst die Rede VI wird noch einmal zu dem paulinischen Liebeshymnus zurückkehren. Auch in dieser äußerlichen Hinsicht läßt sich also leicht der Zusammenhang der drei Reden 2,11 - IV erkennen. Die Rede IV ist deutlich in drei Abschnitte geteilt, die durch im Druck herausgehobene überschriftartige Formulierungen eingeleitet werden. Für die Frage nach dem Selbstverständnis des Handelnden ist nun aber vorwiegend der letzte und umfangreichste Abschnitt (302ff./263ff.) von Bedeutung. Denn erst hier erreicht die Argumentation die Ebene des Handlungsvollzugs. Dies ist kurz zu begründen. Die Frage nach dem „Eigenen" der Liebe ist eine reflexive Fragestellung. Die subjektive Liebe fragt nach dem, was ihr selbst zugehört und was sie als ihr zugehörig anstrebt. Die ersten beiden Abschnitte der Rede thematisieren jedoch das Eigene, genauer gesagt: das Nicht-

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

295

Eigene, primär als Frage nach dem Gesuchten, also dem Gegenstand des Handelns. Das Nicht-Eigene dient zur begrifflichen Erfassung des Gegenstandes als, erstens, eines unbedingt universalen und, zweitens, eines unbedingt einzelnen Gegenstand. Im ersten Schritt (293ff./255f.) transzendiert die Liebe, die das Nicht-Eigene sucht, die Begrenztheit jedes partikularen Verhältnisses, das immer nur unter dem Antagonismus von Mein und Dein gelebt werden kann. In einem zweiten Schritt (298ff./259ff.) erscheint der jeweils konkret andere Mensch mit seiner Individualität als diejenige absolute Transzendenz, die anzuerkennen nur die Liebe vermag, die nicht in Eigensucht die fremde Individualität [„Eiendommelighed"] beherrschen will. Beiden Begriffsbestimmungen waren wir bereits in 7,11 B.-C. begegnet. In 2, IV sind damit reflexive Bestimmungen der handelnden Subjektivität gemeint: Weisen des Wissens um den Gegenstand, denen wiederum ein bestimmtes Wissen um sich selbst entspricht. Die Aussagen „es ist alles mein" (296/257) und „er glaubt ganz im gleichen Sinne an die Eigentümlichkeit jedes Menschen" (300/260) sind zwar einerseits Aussagen des Glaubens und stehen damit innerhalb einer Vermittlungsstruktur von Subjekt und Objekt; doch andererseits sind es auch Bestimmungen, die das Subjekt über seinen (möglichen) Gegenstand im Modus eines objektivierenden Wissens anstellt, so daß vorläufig nur das reflexive Wissen als Vermittlungsinstanz in Frage zu kommen scheint. Das Subjekt bestimmt den Gegenstand seines Handelns reflektierend als allgemein und einzeln, es subsumiert den Gegenstand unter einen Zweckbegriff. Dies aber dürfte nach dem bisher erreichten Stand unserer handlungstheoretischen Überlegungen kaum befriedigen; denn ein solches Wissen steht erstens außerhalb des Handlungsvollzuges und ist zweitens in der Gefahr, als subjektiver Ursprung des Handelns verstanden zu werden, so daß das leibliche Handeln selbst nur als ein sekundäres Folgephänomen einer epistemischen Subjektivität gelten könnte. Doch genau dieses Bild der Subjektivität scheint sich mit dem Bild der Liebe, die nicht ihr Eigenes sucht, überhaupt nicht zu vertragen. Die Kategorie des subjektiven Zweckes erweist sich nämlich als eine unangemessene Beschreibungsform von Selbstlosigkeit62. Denn auch in seiner negativierten

62

Terminologisch sind beide Gedankengänge durch die Leitbegriffe „Selbstverleugnung" und „Opfer" bestimmt. Die Dominanz dieser Begriffe in Kierkegaards Werk, nicht zuletzt auch in TL, ist oft kritisiert worden, vgl. Th. Adorno, Kierkegaard, 151ff.; K.E. L0gstrup, Kontroverse, 89t, 94f. Mit Bezug auf TL2,IV wird aber immerhin deutlich, daß die Problematik dieser Begriffe wesentlich damit zu tun

296

3. Kapitel: Das Können

Form hat der Zweckbegriff seine vergegenständlichende Bedeutung noch nicht verloren, wenn die Reflexivität des Handelnden noch außerhalb des Handlungsvollzuges gedacht wird. Für eine bloß reflektierende Selbstlosigkeit verbleibt der Andere ein anzueignender Gegenstand, dadurch aber wird die freie Subjektivität und prinzipielle Andersheit dieses Gegenstandes vernichtet. Dieser kritische Eindruck ändert sich nun aber mit Beginn des dritten Argumentationsschrittes (302ff./263ff.). Erst von jetzt an ist überhaupt von dem Phänomen die Rede, um das sich alle bisherigen Reden drehten: die Liebe in der Form von „geben", „helfen" und „arbeiten", d.h. hier kommt wirksames, intentionales Handeln als „Wohltat" (303/263) in den Blick. „Liebe sucht nicht ihr Eigenes; denn sie gibt am liebsten dergestalt, daß die Gabe aussieht, als sei sie des Empfängers Eigentum" (302/263). Erst damit ist die Frage nach dem Selbstverständnis auf der Ebene des aktualen Handelns gestellt: Wie muß das „Eigene" des Gebenden gedacht werden, oder: wie muß sich das Subjekt des Aufbauens selbst verstehen, wenn es sich bei diesem Handeln um das Aufbauen von absolut fremder Freiheit, von fremden „Eigentum" handelt? 63 Denn dies war ja der positive Ertrag der vorhergegangenen Überlegungen gewesen: der Aufweis der unbedingten Transzendenz des Gegenstandes in seiner Allgemeinheit und seiner Individualität. Doch war dieser Gegenstand dort noch nicht als selber handelnd in Erscheinung getreten, sondern lediglich als Objekt

63

hat, daß sie im Zusammenhang eines bewußtseins- und erkenntnistheoretischen Paradigmas gebraucht werden. Damit ist aber ihre handlungstheoretische Bedeutung, also die Frage, was diese Begriffe in Hinblick auf den Gebrauch bestimmter Zeichen und Äußerungsformen bedeuten, gerade noch nicht geklärt. Daß die ersten beiden Abschnitte der Rede noch außerhalb der eigentlichen Handlungsthematik stehen, zeigt auch ein Vergleich mit TL1,II B. Auch dort wurde ja der Gegenstand des Handelns als unbedingt allgemein und zugleich als unbedingt konkret-einzeln bestimmt. Doch fand diese Bestimmung bereits innerhalb eines Handlungskontextes statt, nämlich als ein Verstehen, das durch das Liebesgebot bereits performativ in eine Handlungssituation gebracht worden war. Diese Instanz einer in Handlung verwickelnden Sprachform fehlt hingegen am Anfang dieser Rede, so daß das gegenständliche Verstehen der reflektierenden Subjektivität selbst zugesprochen werden muß. Diese Frage nach dem Selbstverständnis des Liebenden ist von dem für 2,II/III eingeführten Begriff der starken Wertung zu unterscheiden: Glauben und Hoffnung artikulierten die Bedeutung, die der Andere und das Verhältnis zu ihm für den Liebenden besitzt, und vollzogen so eine Selbstinterpretation des Liebenden in Hinsicht auf den Horizont seines Handelns; die in 2, IV interessierende Frage ist demgegenüber die nach der Bedeutung und dem Status, den der liebend Handelnde selbst in diesem Horizont einnimmt.

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

297

möglichen Handelns. Das Problem für das „Eigene" des Handelnden entsteht durch jene fundamentale praktische Voraussetzung, die seit der ersten Rede der zweiten Folge gilt: die Voraussetzung, daß der Andere bereits lieben kann, unabhängig vom Handeln des Helfers. Der in 2,1 eingeführte Begriff konkreter Freiheit (das Vermögen, lieben zu können) wird hier zunächst als allgemeiner Autonomiebegriff wiederholt: als das Vermögen des Anderen, „er selbst zu werden, unabhängig, sein eigener Herr [...] daß er alleine stehe" (ebd.). Es ist also der praktische Begriff der fremden Freiheit als eines Handelnbzw. Liebenkönnens, der das handlungstheoretische Problem der Frage nach dem „Eigenen" stellt: Wie soll er sich selbst in seinem helfenden Handeln verstehen, wenn der, dem er hilft, prinzipiell von solcher Hilfe unabhängig ist? Wie muß der Handelnde im Handlungsverhältnis mit einem Anderen, d.h. mit einem fremden Liebenkönnen, das „Eigene" seiner Subjektivität verstehen? Dies ist die klassische Frage der Theorie der indirekten Mitteilung, und zwar in reflexiver Perspektive. Die reflexive Fragerichtung nach dem Selbstverstehen ist motiviert durch die Frage nach der Wahrheit des Helfens: „Wenn ich sage:,Durch meine Hilfe steht dieser Mensch allein', und es ist wahr, was ich sage: habe ich dann das Höchste für ihn getan? Laß sehen! Was sage ich damit? Ich sage: ,Er steht einzig und allein durch meine Hilfe' - aber dann steht er ja nicht allein, dann ist er ja nicht sein eigener Herr geworden, dann schuldet er ja alles meiner Hilfe - und er weiß das. Einen Menschen auf diese Weise helfen, heißt eigentlich, ihn betrügen" (303/263)64. Erstaunlicher-

64

Die gefährliche Nähe der Theorie der indirekten Mitteilung zu einer Manipulationstechnik erörtert ausführlich K. Nordentoft, Psychology, 354f£; vgl. ebd. 357 mit Bezug auf die Rede TL2, IV: „If, indeed, the gift only .looks' like the property of the recipient, but is in fact a gift which the helper gives him by means of trickery, then the method, inspite of all good intentions, is really a deception, a form of manipulation [...] if, on the other hand, one assumes - as other of Kierkegaard's formulations indicate - that what is .given' is in fact the property of the recipient, which he simply has not acquired, then the help does not consist in the helper's forcing upon the other person an understanding which is foreign to his being, or tricking the person into it, but it consists of helping him to acquire what he himself already knows in advance". Nordentoft findet die Lösung des Problems in Kierkegaards Anthropologie, die er allerdings im Sinne einer dynamisierten Substanzontologie verstehen muß (als Idee, Wissen oder „potential", ebd. 102,107f.) und nicht weiter auszuweisen vermag. Meine Interpretation versucht dagegen, jenes schon immer Vorauszusetzende handlungstheoretisch als ein praktisches Können auszulegen: als eine Weise, in der die Handelnden sich zueinander verhalten und ihr Verhältnis gestalten.

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3. Kapitel: Das Können

weise wird hier die Wahrheit des Helfens nicht an der Übereinstimmung mit der empirischen Wirklichkeit gemessen, sondern an der Form des Selbstverständnisses. Die Wahrheit und damit die Wirksamkeit der Hilfe hängt in bestimmter Weise an dem richtigen Verständnis der eigenen Hilfe. Eine falsch verstandene Hilfe kann im Fall der fremden Freiheit nur Betrug sein, selbst wenn das Gesagte „wahr" ist im Sinne der Übereinstimmung mit der empirischen Wirklichkeit, der Andere also auf den ersten Blick tatsächlich „alleine steht". Das Verstehen des eigenen Handelns hat dabei die Form einer Selbstdeutung: das Verstehen besteht darin, einen bestimmten Satz über sich selbst zu sagen. Die Adressaten des Satzes sind nicht genannt. Entscheidend ist offenbar allein, wie der Sprecher den Satz versteht. Das Sprechen und Verstehen eines Satzes entscheidet über die Wahrheit des Handelns, d.h. das Selbstverstehen hat eine explizit propositionale Struktur: ,Ich behaupte, daß der Andere durch meine Hilfe steht.' Der Betrug liegt nämlich genau in der Satzform selbst: Der Satz enthält einen sachlichen Widerspruch, der ihn unwahr macht; es ist der Widerspruch von subjektivem Einwirken und fremder Freiheit. Als Ausdruck des Verstehens eigenen Handelns bildet der Satz in der vorliegenden Form einen performativen Widerspruch ab: Im Vollzug des Sprechens wird das Gesagte unwahr. Die Wahrheit der Hilfe hängt also an der Sprachform des Selbstverstehens. Das Sprechen entscheidet über die Wahrheit der Hilfe. Doch wie hängt dieses Selbstverstehen mit dem gelingenden Verbergen der Hilfe zusammen? Soll ein solcher Zusammenhang überhaupt bestehen, so kann Kierkegaard den Satz offensichtlich nicht nur als Selbstgespräch, sondern muß ihn in irgendeiner Weise auch als Mitteilung oder Äußerung an den Anderen denken. Wie sieht nun der Satz aus, der die Wahrheit des Helfens ausdrückt? „Wofern hingegen jemand sagt: .Dieser Mensch steht allein - durch meine Hilfe', und es ist wahr, was er sagt: ja, dann hat er für diesen Menschen das Höchste getan, was ein Mensch für den andern tun kann, hat ihn frei gemacht, unabhängig, hat ihn zu seinem eigenen Herrn gemacht, und hat ihm eben durch Verbergen seiner Hilfe dazu verholfen, allein zu stehen" (303f./264). Der entscheidende Satz unterscheidet sich nur gering von dem zuerst vorgeschlagenen. Der einzige, aber für die Rede entscheidende Unterschied ist - der Gedankenstrich; dieser Strich ist das Versteck für die Hilfe, „sie ist verborgen hinter dem Gedankenstrich" (304/264.). Was heißt das? Das Bild vom Verbergen ist nicht sehr deutlich. Die räumliche Metaphorik aufnehmend kann man etwa sagen: Der Satz wird geteilt,

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299

und der ausgesagte Sachverhalt wird auf zwei Räume, zwei Bereiche der Wirklichkeit verteilt. Was im erstgenannten Satz innerhalb eines Wahrnehmungsraumes zusammengestellt wurde, wird durch den Gedankenstrich auseinandergerissen und in der rhetorischen Form einer Antithese auf zwei getrennte Bereiche verteilt65, von denen der eine sichtbar, der andere verborgen ist: „er steht allein, mehr siehst du nicht" (ebd.). Mir scheint, daß das hier von der Rede zunächst räumlich Beschriebende am besten durch eine Reflexion auf die mit der schriftlichen Satzform verbundene Sprachpraxis erhellt werden kann66. Dann bedeutet die antithetische Aufteilung des Satzes in zwei Teilsätze, daß eben hierdurch offenbar der performative Widerspruch des Satzes aufgelöst wird: Mit Hilfe des Gedankenstrichs drückt der Satz genau die antithetische Wirklichkeit aus, die mit der zugehörigen Sprecherrolle und -praxis des Helfenden gegeben ist: Der Sprecher

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Zu dem hier behaupteten sachlichen Zusammenhang von Interpunktion und Argumentation vgl. die etwa parallel zur Entstehung von TL niedergeschriebenen Notizen „Einiges über meine Interpunktion", Pap. V I I I 1 A, 33-38/72, 85ff. Dort betont Kierkegaard die rhetorische Funktion von Satzzeichen, die er nutzen möchte, insbesondere zur Darstellung von Gegensätzen und zweigliedrigen Sachverhalten. So beschreibt er seinen (zukünftigen) Gebrauch des Doppelpunktes: „Doppelpunkt [Colon] wird daher gebraucht zum Bilden von Nachsätzen und überall, wo ausgedrückt werden soll, daß zwei Sätze in einem Total-Verhältnis [Total-Forhold] zueinander innerhalb dieses [sc. Verhältnisses] auf gleiche Linie miteinander gesetzt werden [...] Wenn so der eine kleine Satz eine Replik ist, der andere Contra-Replik, und dieses gerade ausgedrückt werden soll, so daß also nicht zwei Gedanken nacheinander ausgedrückt werden sollen, sondern deren zugleich [auch bei SK deutsch] im Verhältnis als Replik und Contra-Replik, dann gebrauche ich [den] Doppelpunkt" (S.23/87, Übersetzung modifiziert). In der unmittelbar vorausgehenden Eintragung hatte Kierkegaard nun aber den Gebrauch von Doppelpunkt und Gedankenstrich gleichgestellt, so daß das über die Funktion des Doppelpunktes Gesagte ebenso für den Gedankenstrich gilt: „Der ethische Akzent, die Begriffsprägnanz, die Antithese, die Anschaulichkeit der zwei Gliedern eines Bildes auf einer einzigen Zeile, das Rhetorisch-Emphatische usw. - für alles das benutze ich Doppelpunkt und Gedankenstrich [...] Überhaupt benutze ich den Doppelpunkt redend" (S. 23/86Í.). Diese Notizen unterstützen den Versuch, den Gedankenstrich in der Rede als Ausdruck einer zweiteiligen Wirklichkeit zu verstehen: als das „Zugleich" zweier gegensätzlicher Sachverhalte in einem Sprechakt („redend"!). Die Rede geht selbst den Schritt von der schriftstellerischen Praxis des Gedankenstrichs zu seiner rhetorischen Bedeutung innerhalb der sprachlichen Selbstdeutung eines Handelnden: „Schau, es gibt viele Schriftsteller, die bei jeder Gelegenheit den Gedankenstrich gebrauchen aus Mangel an Gedanken; und es gibt ja auch die, welche den Gedankenstrich mit Einsicht und Geschmack gebrauchen; aber wahrlich, niemals ist ein Gedankenstrich bezeichnender gebraucht worden und niemals kann er bezeichnender gebraucht werden als in jenem kleinen Satz" (304/264).

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3. Kapitel: Das Können

selbst steht gewissermaßen nur auf der einen Seite der Antithese; er kann nur von seiner Hilfe sprechen, ohne damit die Wirklichkeit der fremden Freiheit von dieser Hilfe ableiten zu können, denn diese Freiheit ist von seiner Hilfe getrennt - durch den Gedankenstrich. Der Sprecher weiß in gewisser Weise mehr als der Andere: er weiß von seiner Hilfe; andererseits aber weiß er nicht mehr als der Andere: auch er weiß nur, was er sieht, bei dem Anderen sieht: dessen Unabhängigkeit. Seine Hilfe ist ihm selbst „verborgen hinter dem Gedankenstrich." Man kann so auch sagen: Der Satz mit Gedankenstrich geht darin weiter, daß er zwei Sprecherrollen zuläßt: Der vollständige Satz ist nur für die Sprecherrolle des Helfers wahr; aber der erste Teilsatz kann auch von dem Anderen als wahr ausgesagt werden. Ohne Gedankenstrich hingegen wäre nur eine Sprecherrolle wahr, die des Helfers. So wird es möglich, den performativen Widerspruch aufzuheben, indem man das Zugleich zweier Wahrheitsansprüche denkt, die ihre Einheit in der Praxis des Sprechens haben. Und für das Selbstverstehen des Helfers ist es entscheidend, daß er in seiner Selbstdeutung beide Sprecherrollen oder Teilwahrheiten zusammen aussprechen muß; denn nur dann entspricht der Satz auch der durch ihn bezeichneten Handlungswirklichkeit, in welcher eben beide Wahrheitsansprüche zusammen auftreten. Der Gedankenstrich bewahrt den ersten Teilsatz davor, vom zweiten Teilsatz geschluckt zu werden. Doch wie ist eine solche absolute Trennung in der Einheit eines Satzes möglich und denkbar? Wie wird der Gedankenstrich als Element eines praktisch-reflexiven Satzes realisiert? Kierkegaard gewinnt eine Antwort hierauf, indem er die Liebe mit der sokratischen Ironie vergleicht. Beide sprechen denselben Satz in der angegebenen Form; aber sie gebrauchen den Gedankenstrich unterschiedlich und sprechen daher doch nicht denselben Satz. Sokrates arbeitet maieutisch an der Freiheit des Anderen und verbirgt diese Arbeit erfolgreich vor diesem. „Dergestalt arbeitete er; und wenn dann die Arbeit fertig war, sagte er ganz sachte zu sich selbst: ,Nun steht dieser Mensch allein'. Aber darauf kommen wir zu dem Gedankenstrich; und bei dem Gedankenstrich tritt das Lächeln auf die Lippen des Edlen und doch so Schalkhaften, und er sagt: ,Nun steht dieser Mensch allein - durch meine Hilfe', er behält das Geheimnis dieses unbeschreiblichen Lächelns für sich" (305f./265f.). Durch das maieutische Verbergen löst Sokrates den realen Widerspruch von Hilfe und Freiheit. Aber er löst nicht den performativen Widerspruch des Satzes: Hinter dem Gedankenstrich verbirgt er nämlich die ei-

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

301

gentliche Wahrheit des Satzes, die die Wahrheit des ersten Teilsatzes beschädigt oder zumindest vergleichgültigt. Im Sprechen des Satzes rettet Sokrates eine Wahrheit für sich selbst heraus, die prinzipiell unabhängig ist von der intersubjektiven Praxis zweier Sprecher. Der Gedankenstrich verbirgt einen Wahrheitsanspruch, der nicht mehr mit dem Anspruch der anderen Sprecherrolle in der Wirklichkeit zweier Handelnder zusammen bestehen kann und muß, da sie ausschließlich im Wissen des Helfers um sich selbst ihre Existenz hat: „das Lächeln verrät doch das Selbstbewußtsein der geistigen Kraft" (306/266). Der sokratische Gedankenstrich führt nicht die Ansprüche zweier Handelnder in der einen Wirklichkeit des Handelns konfliktreich zusammen, sondern erlaubt die ironische Distanzierung der reflexiven Subjektivität vom Anspruch der fremden Freiheit 67 . Eben dies kann die Liebe nicht tun. Sie verhält sich zum Freiheitsanspruch des Anderen vielmehr „im Sinne der Bekümmerung [i Bekymringens Forstand]" (ebd.). Das bedeutet: Der Gedankenstrich steht nicht für die Distanz, sondern im Gegenteil für die Übernahme der fremden Perspektive, für das leidend-leidenschaftliche Interesse an der Wirklichkeit des fremden Liebenkönnens: „Denn in diesem Gedankenstrich ist die Schlaflosigkeit der Angst verborgen, nächtliche Arbeit, beinahe verzweifelte Anstrengung" (ebd.). Solches Wirklichkeitspathos gehört zu dem Satz, der auch die fremde Wirklichkeit aussprechen soll, originär dazu. Denn der performative Widerspruch ist erst gelöst, wenn der Satz tatsächlich beide Ansprüche auf Wahrheit und Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Es hat sich ja gezeigt, daß die Wirklichkeit des ersten Teilsatzes ständig in der Gefahr ist, vom zweiten Teilsatz beherrscht (so der Sprecher ohne Gedankenstrich) oder alleingelassen zu werden (so Sokrates). Die Liebe nun ist dazu in der Lage, in ihrem Satz jene fremde Wirklichkeit als vollkommenen eigenständige Wirklichkeit pathetisch auszusagen, weil für sie

67

Kierkegaards Kritik an Sokrates enthüllt hier große Ähnlichkeit zu Hegels Kritik der romantischen Ironie, s. Rechtsphilosophie, § 140f.: „Die hier noch zu betragende Spitze der sich als das Letzte erfassenden Subjektivität kann nur dies sein, sich noch als jenes Beschließen und Entscheiden über Wahrheit, Recht und Pflicht zu wissen, welches in den vorhergehenden Formen schon an sich vorhanden ist. Sie besteht also darin, das sittlich Objektive wohl zu wissen, aber nicht sich selbst vergessend und auf sich Verzicht tuend in den Ernst desselben sich zu vertiefen und aus ihm zu handeln, sondern in der Beziehung darauf dasselbe zugleich von sich zu halten, und sich als das zu wissen, welches so will und beschließt, und auch ebensogut anders wollen und beschließen kann." Zu Hegels Einfluß auf Kierkegaards Sokratesbild vgl. ferner BI, 226ft, 269f£

302

3. Kapitel: Das Können

„Gott" diese fremde Wirklichkeit verbürgt und somit zum absolut getrennten - Gegenstand des Handelns macht: „Mit Dank gegen Gott sagt er [sc. der Liebende] deshalb: ,Nun steht dieser Mensch allein durch meine Hilfe'. Aber in diesem letzten ist keine Selbstzufriedenheit; denn der Liebende hat verstanden, daß wesentlich doch jeder Mensch allein steht - durch Gottes Hilfe, und daß die Selbstvernichtigung des Liebenden eigentlich nur geschieht, um das Gottesverhältnis des anderen Menschen nicht zu verhindern, so daß alle Hilfe des Liebenden in dem Gottesverhältnis unendlich verschwindet" (306f./ 266). Erst jetzt wird es möglich, den selbstdeutenden Satz mit Gedankenstrich ohne performativen Widerspruch auszusprechen: als Verbindung zweier absolut unabhängiger Sprecherrollen, die gleichwohl in der einen Wirklichkeit des Handelns (Sprechens) praktisch aufeinander bezogen sind und miteinander zu tun haben. Der Gedankenstrich ist absolute Trennung und absolute Beziehungssetzung in eins, und hinter ihm verbirgt sich „Gott" als Garant der Handlungswirklichkeit, wir können auch sagen: als der Dritte im Miteinanderhandeln zweier Akteure. Diese Wirklichkeit der kommunikativen Praxis ist dem selbstdeutenden Satz und den verschiedenen Sprecherrollen ontologisch vorgängig, denn erst in ihrem Rahmen macht der Satz überhaupt Sinn. Die von Gott vorgegebene Handlungswirklichkeit, nämlich der durch das gegenseitige Liebenkönnen erschlossene intersubjektive Handlungsraum, ist demnach der Ausgangspunkt und der Raum reflexiver Selbstdeutung: der liebend Helfende versteht sein eigenes Handeln im Horizont der Liebe. Er kann sich so weder als Begründung von Praxis noch als ein Punkt außerhalb der Praxis verstehen. Gott zwingt ihn hinein in die vorgegebene Wirklichkeit, in der eigene und fremde Ansprüche aufeinanderprallen. Diese vorgegebene Wirklichkeit ist bestimmt durch das „Gottesverhältnis", d.h. sie hat die Struktur der Freiheit und damit, als konkrete Freiheit, die Struktur des Liebenkönnens. Solches Liebenkönnen ist erst mit dem Gottesverhältnis erreicht, noch nicht mit dem sokratischen Begriff der Freiheit. Erst durch das Gottesverhältnis wird jene Freiheit zu einer konkreten und deshalb immer gefährdeten Freiheit, nämlich zu einem praktischen Können, das in der Wirklichkeit des Handelns jederzeit Gefahr läuft, seine Kunst zu verspielen. Erst damit wird auch der Zusammenhang von Wahrheit und Wirksamkeit, von performativem und realem Widerspruch klar. Der Satz der Selbstdeutung wird erst durch den Gedankenstrich und dessen richtige Deutung wahr, aber auch erst dadurch wirksam. So-

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

303

krates' Hilfe war zwar ein - maieutisch legitimierter - Betrug „in die Wahrheit" (305/265), und gerade insofern auch wirksam; zugleich aber verfehlte sie die Wirklichkeit des fremden Gottesverhältnisses, d.h. diese Hilfe hatte noch zuviel „Eigenes". Die Liebe hingegen hat in ihrer Selbstdeutung nichts Eigenes mehr, da sie alle Wirksamkeit ihrer maieutischen Tätigkeit dem Gottesverhältnis des Anderen zuschreibt. Doch erst mit dieser Zuschreibung ist auch die reale Wirksamkeit der Liebe angemessen benannt. Denn diese Wirksamkeit hängt in dieser Deutung eben nicht an der subjektiven Mächtigkeit eines Handelnden, sondern an dem Prozeß der intersubjektiven Handlungswirklichkeit. Und doch handelt es sich andererseits dabei um die Wahrheit einer subjektiven Selbstdeutung. Die Wahrheit der Wirksamkeit hängt also an der Wahrheit des Selbstverstehens des Helfenden, ohne daß doch dieses Selbstverstehen konstitutiv für die Wirksamkeit sein kann. Die wahre Selbstdeutung ist die angemessene subjektive Wiedergabe oder Reflexion einer ontologisch vorgängigen Wirksamkeit der intersubjektiven Praxis selbst. Diese intersubjektive Praxis in der Form des geschöpflichen Liebenkönnens hat die Stellung eines gegenüber den Subjekten „positiven Dritten". Für diese Drittheit steht der Gedankenstrich in seiner Ambivalenz von Trennung und Beziehung: „Wunderliches Gedenken, welches der Liebende erwirbt als Dank für all seine Arbeit! Er kann auf gewisse Weise sein ganzes Leben in einen Gedankenstrich einschließen. Er kann sagen: Ich habe gearbeitet wie niemand sonst, früh und spät, aber was habe ich ausgerichtet - einen Gedankenstrich" (307f./267). Der Liebende arbeitet an und mit dem Anderen, indem er alles glaubt und alles hofft; aber die Wirksamkeit seiner Arbeit kann er sich nicht selbst zuschreiben. Diese gehört der kommunikativen Praxis selbst, sofern diese vom Begriff des kreatürlichen Liebenkönnens aus theologisch gedacht wird; denn dann ist solche Praxis, in dem zwei Handelnde miteinander zu tun haben, zugleich die Erscheinung ihres transzendenten Grundes. Die asketisch-selbstlose und aufopfernde Selbstdeutung, in dem einer auf alles „Eigene" verzichtet und „zu einem bloßen Werkzeug in Gottes Hand" wird (308/268), ist die reflexive Kehrseite eines Verständnisses von intersubjektiver Praxis, in dem diese Praxis gegenüber ihren Subjekten dadurch einen selbständigen Status erhält, daß sie schöpfungstheologisch und insbesondere vorsehungstheologisch begründet ist68. Zugleich wird damit der

68

Zum Begriff des göttlichen Werkzeuges vgl. H. Schulz, Identität, 563-568.

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3. Kapitel: Das Können

Andere, der Gegenstand des liebenden Helfens, vor einer Vergegenständlichung und Bemächtigung durch den Helfer geschützt69. Dieser selbständige Status der gemeinsamen Praxis gegenüber dem individuellen Vermögen des einzelnen Liebenden kann handlungstheoretisch durch die Differenz von „Handlung" und „Ereignis" umschrieben werden: Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen ist so zu bestimmen, daß „Handlung" eine Ereignisform ist, die im Unterschied zu anderen Ereignissen eine intentionale Beschreibung verlangt70. Auf unsere Fragestellung angewandt heißt das: Die gemeinsame Praxis hat nicht mehr den Status einer Handlung, sondern hat als Ereignis zu gelten, und zwar als ein solches Ereignis, das mit der Intentionsform der individuellen Handlung in keiner wesentlichen (etwa kausalen) Beziehung mehr steht71. Es findet sozusagen eine ,Ent-Intentionierung' statt, und dafür steht die Begriff der „Selbstvernichtigung". Dieser spiegelt die Tatsache, daß der Prozeß der befreienden Praxis ein eigenständiges Drittes neben dem subjektiven Vermögen des Liebenden gegenüber dem Anderen ist. Das Subjekt der Praxis ist ein anderes als das Subjekt der individuellen Handlung des Helfens; der Handelnde wird zu Gottes „Werkzeug". Und dennoch gibt es hierbei auch eine Kontinuität zwischen Handlung und Ereignis. Dafür steht der Begriff der Liebe, der sowohl das Ereignishafte benennt, in dem beiden Handelnden verbunden sind, als auch das individuelle Tun des Helfers. Die Liebe als gemeinsame Praxis oder Handlungsraum wird zwar durch eine

69

70 71

Dieses Ergebnis der Analyse zeigt, daß M. Bongardts These vom nichtdialogischen und selbstbezüglichen Charakter der Liebe in TL fehl geht, vgl. Widerstand, 306f. Die Rede TL 2,IV. ist Bongardts Hauptbeleg für seine These, doch zu Unrecht. Bongardt übersieht die Pointe der Rede, nämlich die Bedeutung der gemeinsamen Praxis, die Kierkegaard in den Ausführungen über den Gedankenstrich herausstellt. Durch den Gedankenstrich wird klar, daß es hier nicht um eine selbstbezügliche oder selbstmächtige Subjektivität geht, sondern um das Verhältnis der Subjektivität zu der dialogisch geteilten Praxis. S. D. Davidson, Agency, 46£ Dieser Schritt kann mit D. Davidsons Handlungstheorie nicht mehr gegangen werden. Auch Davidson unterscheidet zwar zwischen „primitive action" und deren „consequences", doch diese Unterscheidung gilt nur auf der Ebene der Beschreibung. In der Realität sind diese beiden Elemente im Sinne der Kausalität verbunden, wie er unter Hinweis auf den „accordion effect" behauptet: „In briet once he [sc. the agent] has done one thing (move a finger), each consequence presents us with a deed; an agent causes what his actions cause" (aaO. 53).

II. Liebenkönnen als subjektive Bestimmung des Handelns

305

individuelle intentionale Handlung initiiert, ist aber zugleich kategorial von dieser unterschieden. Kierkegaards Argumentation folgt der methodischen Maxime, das individuelle intentionale Handeln aus Liebe so zu beschreiben, daß in ihm diejenige Beschreibungsebene ansichtig („reflektiert") wird, die mit dem individuellen Handeln zwar in einer narrativen Verbindung steht, ihm aber dennoch nicht als „Eigenes" zugeschrieben werden kann. Ein weitere Klärung dieses Verhältnisses kann aber erst im nächsten Kapitel unternommen werden, wenn die intersubjektive Praxis als solche Thema der Untersuchung ist. Doch soviel kann vorläufig festgehalten werden: Die ontologische Selbständigkeit oder Priorität der Praxis zeigt sich in der Weise, wie diese Rede reflexive Subjektivität darstellt. Solche Subjektivität erscheint in der Rede nicht als das Bewußtsein eines Gegenstandes, sondern als das Äußern und Verstehen eines Satzes. Der dritte Abschnitt der Rede bestätigt die bereits mehrfach festgestellte Ablösung von der gegenständlichen und am Subjekt-Objekt-Verhältnis orientierten Ontologie des Idealismus. Das Phänomen des Selbstbewußtseins wird erneut als ein sprachliches Vermögen dargestellt. Diese Darstellung entspricht der in den vorhergegangenen Reden entwickelten Auffassung des intentionalen Handelns als eines sprachlich verfaßten Verhaltens. Die in Liebe handelnde Subjektivität besteht wesentlich aus der Fähigkeit, in Sätzen und Zeichen ein bestimmtes Verständnis der Handlungswirklichkeit zu artikulieren und damit diese Wirklichkeit zugleich kommunikativ zu gestalten. Auch der Satz, in dem hier die Liebe ihr eigenes Tun für sich selbst deutet, spiegelt den Basissatz der aufbauenden Liebe, in dem sie die Liebe bei dem Anderen voraussetzt. Kierkegaards Argumentation mit der rhetorischen Form des assertorischen Satzes (Gedankenstrich) und seinen inhaltlichen Implikationen nötigt erneut die Interpretation dazu, die Sprachform des Selbstbewußtseins als Ausgangspunkt zu nehmen. Diese ontologische Umorientierung ist motiviert durch ein bestimmtes Verständnis von Liebe; denn das Verständnis von Liebe als Liebenkönnen, d.h. als konkrete Freiheit im Sinne von Handlungsfähigkeit, impliziert die radikale Ent-Gegenständlichung des Gegenstandes. Der Gegenstand des Handelns, der Andere oder die Geliebte, kann nicht mehr als Gegenstand verstanden werden, den ein Subjekt durch repräsentierende Vorstellungen sich selbst vergegenwärtigen könnte; statt dessen ist für die Liebe der oder die Andere ein Mit-Subjekt des Handelns, und dieses Mitsein kann Kierkegaard offensichtlich nur als eine Form von

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3. Kapitel: Das Können

Mit-Teilung, also als eine Form von handlungsgebundener Sprache denken 72 . Damit haben wir Kierkegaards Verständnis des reflexiven Selbstverhältnisses des Liebenden in seiner Praxis herausgearbeitet. Diese Fragestellung ist zu unterscheiden von derjenigen der Reden 2,II-III; dort ging es um das Selbstverhältnis in seinem intentionalen Aspekt, um das Sichbewahren der Liebe in ihrer praktischen Bezogenheit auf den Anderen. Auf der anderen Seite muß die Thematik der Rede 2, IV auch von den folgenden Erörterungen abgegrenzt werden: Zwar war die interaktive Praxis des Helfens auch für die Frage nach dem reflektiven Selbstverständnis der methodische und sachliche Ausgangspunkt; doch hat die Rede noch nicht beschrieben, wie solche Hilfe konkret vollzogen wird und wie die angedeutete Wirksamkeit der Hilfe erreicht werden kann. Hierzu ist es nötig, den Anderen und seine Reaktion in die Phänomenbeschreibung hineinzuholen. Dies ist das Thema des folgenden Kapitels.

72

Man kann also sagen, daß der Begriff der Selbstverleugnung eine radikale Offenheit gegenüber dem begegnenden Handlungspartner intendiert. Genau das Gegenteil behauptet K.E. L0gstrup in seiner Kritik des Kierkegaardschen Opferbegriffes: Die als Opfer verstandene Nächstenliebe würde auf eine Form der radikalen Distanzierung vom Nächsten und einer Immunisierung gegenüber seinen Ansprüchen hinauslaufen, vgl. aaO. 101. Darüberhinaus ist von 7X2,V aus L0gstrups Interpretation des Opfernbegriffs zu korrigieren: Das Opfer der Selbstverleugnung ist hier erstens keine intentionale Handlung, sondern eine Form des Selbstverständnisses; und zweitens handelt es sich um ein Selbstverständnis in Hinsicht auf den größeren Sinnzusammenhang einer gemeinsamen, aufbauenden Praxis.; vgl. auch die Metakritik H. Friemonds an L0gstrup (s. aaO. 132-134).

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens: Versöhnung - enigmatisches Thema mit vier Variationen 1. Introduktion Das Thema in handlungstheoretischer Perspektive: Liebe als expressive Wirklichkeit Die Rekonstruktion des Liebenkönnens ging aus von dem Begriff des wirksamen Handelns. Die Reden 2,II-IV erörterten die subjektiven Bedingungen, unter denen solches Handeln denk- und beschreibbar ist: Glauben und Hoffen als Formen der subjektiven Realisierung der Liebe in Form eines performativ artikulierten Selbstverständnisses, dem die reflexive Einstellung der Selbstverleugnung entspricht. In diesem Kapitel nun will ich den Begriff des wirksamen Handelns der Liebe weiterentwickeln. Auch dieser Rekonstruktionsschritt wird dem Gang der Darstellung in TL folgen. In den Reden V-VIII aus dem zweiten Teil des Buches wird die bloß subjektive Perspektive verlassen. Erneut findet ein Wechsel der Ebene statt: von der Betrachtung der handelnden Subjektivität in ihrer vorgängigen Bestimmtheit durch Intersubjektivität zur Betrachtung der Intersubjektivität selbst und ihres Vollzuges. Diese Reden fragen danach, wie das subjektive Liebenkönnen als wirksames Handeln in Hinblick auf einen anderen Akteur verstanden werden kann, m.a.W. wie Liebe in der Interaktion zu beschreiben ist (analog zu i,III-IV). Erneut wird diese handlungstheoretische Frage nicht als Konstruktion einer formalen oder allgemeinen Handlungstheorie durchgeführt, sondern ist eingekleidet in die Thematisierung existenzieller und moralischer Probleme von Intersubjektivität. Das existenzielle Sachthema, das diese Reden durchzieht und dominiert, ist das Problem der Trennung und des Zerbrechens von Handlungsbeziehungen. Das Werk der Liebe ist dementsprechend als Heilung und Wiederherstellung dieses Bruchs zu beschreiben. Die Möglichkeit von Versöhnung ist damit zugleich das handlungstheoretische Sachproblem dieser Reden 1 . In vier Variationen wird dieses The-

1

Zur Bedeutung der Versöhnungsthematik für Kierkegaards Liebesbegriff vgl. Pap. V i l i A 472 (ca. Ende 1847): „Wenn ich einmal Reden über die Versöhnung heraus-

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3. Kapitel: Das Können

ma durchgeführt. Diesen Variationen möchte ich in meiner Interpretation nachgehen, bevor ich Kierkegaards Erörterung der Versöhnung mit einigen Überlegungen zum Verständigungsproblem aus der Sicht der Bedeutungstheorie kontrastieren werde. Um den systematischen Zugriff auf den handlungstheoretischen Kern der vier Variationen zu erleichtern, möchte ich einen Vorentwurf des zu entfaltenden Handlungsbegriffs an den Anfang stellen. Dieser Vorbegriff soll zugleich einige der bisher entdeckten Motive und Interpretationsmuster aufnehmen und bündeln. In der Vorüberlegung sollen anhand weniger Textstellen einige Grundbegriffe zusammengeführt werden, die für das theoretische Verständnis von versöhnender Interaktion grundlegend sind. Die Leitfrage lautet: Unter welchen ontologischen und metaphysischen Voraussetzungen beschreibt TL diese Interaktion? Und was ergibt sich daraus für die Interpretation der Versöhnung? Ganz am Anfang des hier interessierenden Redenkomplexes findet sich ein Textstück, das vor allen kontextuell-narrativen Beschreibungen das Wesen der Liebe im Rahmen einer knappen metaphysischen Begriffsbestimmung einleitend bestimmt (s. 309ff./269ff.)2. Ausgangspunkt ist der bereits bekannte Begriff der „Verdoppelung in sich selbst [Fordoblelse i sig selv]" ((309/269; vgl. o. Kap. 2,III.). Diese Selbstverdoppelung wird als ein Wesensmerkmal des Ewigen eingeführt, wodurch dieses sich von allen zeitlichen Dingen unterscheidet: „[...] Verdoppelung in sich selbst hat ein zeitlicher Gegenstand niemals; wie das Zeitliche in der Zeit vergeht, so ist es auch nur in den Eigenschaften gegenwärtig. Wenn jedoch das Ewige in einem Menschen zugegen ist, so verdoppelt dieses Ewige sich dergestalt in ihm, daß es, jeden Augenblick, da es in ihm zugegen ist, auf eine doppelte Weise in ihm zugegen ist: in der Richtung nach außen hin und in der Richtung nach innen hin zurück in sich selbst, aber dergestalt, daß dies ein und dasselbe ist; denn sonst ist es keine Verdoppelung" (309/269). Die metaphysische Differenz von Zeit und Ewigkeit wird hier zunächst in der Form der traditionellen Unterscheidung von Substanz und Eigenschaft, von unteilbarem Sein und vielfältigen

2

geben sollte, wäre es an besten, sie ,Das Werk der Liebe [Kjerlighedens Gjerning]' zu nennen." Innerhalb von TL gebraucht Kierkegaard den Versöhnungsbegriff in Kontexten, die der Problematik intersubjektiver Anerkennung gewidmet sind; dies trifft auch auf die erste der beiden Verwendung dieses Begriffes in TL1 zu, s. 124/112; lediglich in 221/193 ist ausschließlich der dogmatische Sinn angesprochen. Zu diesem Textstück vgl. J. Ringleben, Aneignung, 375f£

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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Realitätsformen dargestellt. Alles Sichtbare ist vergänglich, und ewig im Sinne eines unvergänglichen Seins kann nur das sein, was selbst nicht sichtbar ist, sondern dem Vergänglich-Sichtbaren zugrundeliegt bzw. ihm als Zugrundeliegendes zugeschrieben werden muß: „das Ewige ist" (ebd.). Doch damit ist noch nicht der Verdoppelungsbegriff beschrieben. Dieser kommt erst dort herein, wo Kierkegaard diese metaphysischen Überlegungen mit zwei Behauptungen weitertreibt: erstens, daß dieses Ewige, diese Substanz selbst in das Zeitliche hinausgeht, und daß zweitens gerade dieses Hinausgehen das Wesen des Ewigen ausmacht. Diese beiden Aspekte werden durch den Verdoppelungsbegriff benannt. Zur ersten Behauptung: Wenn das Unveränderlich-Ewige aus sich herausgeht und als Ewiges in dem Zeitlichen ist, so wird der Begriff der Substanz als einer letzten Einfachheit aufgegeben. Statt dessen verlangt die „Richtung nach außen hin", das ewig Eine als Einheit von Zweien zu denken. Das Sich-selbst-Verdoppeln ist der Begriff einer reflexiven Bewegung: das Ewige bewegt sich selbst nach außen, d.h. es wird nicht bewegt, sondern bewegt sich selbst und bleibt in der Bewegung bei sich selbst. Die Bewegung des Ewigen in das Zeitliche ist reine Selbstvermittlung.3 Zur zweiten Behauptung: Die Reflexivität der Bewegung bedeutet also nicht, daß das Ewige an zwei Orten gleichzeitig ist. Vielmehr wird die reflexive Bewegung nach außen durch den Verdoppelungsbegriff als das Wesen des Ewigen bestimmt, wodurch es ist, was es ist: „Das Ewige ist nicht bloß in seinen Eigenschaften gegenwärtig, sondern ist in seinen Eigenschaften bei sich selbst, es hat nicht bloß die Eigenschaften, sondern ist bei sich selbst, indem es die Eigenschaften hat" (ebd.). Das Sich-über-sich-Hinausbewegen ist das Wesen des Ewigen, denn in seinem Hinausgehen ist es bei sich selbst4. Zusammengefaßt bedeutet das: Geht das Ewige nach außen, so äußert es sich, d.h. es ist in seiner Äußerung vollständig da, vollständig bei sich. Das Ewige ist das, was es ist, nämlich unvergängliches Sein, dadurch daß es ein Sich-Äußern ist. Das Wesen des Ewigen ist SelbstÄußerung. Die Äußerung selbst ist demnach nicht etwas Abgeleitetes oder Nachgeordnetes gegenüber dem Subjekt der Äußerung, viel-

3 4

Vgl. o. Kap. 2,111. zur Form der Selbstverdoppelung als Bewegung. Die hier beschriebene Figur der Verdoppelung des Ewigen ist für Kierkegaards Gottesbegriff, insbesondere im Spätwerk, von entscheidender Bedeutung, s. Pap. XI 2 A 97/73, 313£; zur Interpretation dieses Gottesbegriffes im Kontext des Spätwerkes vgl. K. Nordentoft, Brand-Majoren, 235ft

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3. Kapitel: Das Können

mehr ist die Äußerung wesentlich für das Ewige selbst. Ist das Ewige im Sich-Äußern ganz bei sich selbst, so bleibt auch nichts hinter der Äußerung zurück, kein ideales, leibloses Wesen, weder Idee noch Substanz. Das Wesen des Ewigen ist seine Äußerung. Und eben diese Wesensbestimmung wird dann im folgenden auf die Liebe übertragen. Doch handelte es sich bei der Bestimmung des Ewigen als Selbstäußerung tatsächlich von Anfang an um eine Bestimmung der Liebe; denn die gesamte Beschreibung wird, wie Kierkegaard sagt, erst gültig, wenn sie für den Fall gilt, wo „das Ewige in einem Menschen zugegen ist"; und eben dies ist die Liebe. Im Lichte unserer bisherigen Interpretationsergebnisse bedeutet dies: Die Bestimmung des Ewigen als Sich-Äußern bringt den Begriff des Phänomens ontologisch auf den Begriff. Die „Frucht" der Liebe (i,I) ist als eine Selbstäußerung der Liebe zu verstehen. Und eben diesen phänomenalen Charakter hatten wir bei der Erörterung von Glauben und Hoffen festgestellt (2,II-III). Damit erhält nun aber auch die bisher in allen Kontexten begegnende sprachlich-expressive Charakter der Liebe eine Begründung. Liebe ist wesentlich Äußerung, Sich-Äußern. Liebe drückt sich selbst in der Zeit aus. Das Wesen der Liebe ist Expressivität im Sinne von Selbst-Ausdruck, das bedeutet: die Äußerung ist wesentlich für das, was sich da zum Ausdruck bringt; dieses sich Äußernde kann nicht abgesehen von seiner Äußerung beschrieben werden 5 . Und die Formen der Wirklichkeit der Liebe sind allesamt sprachliche oder sprachanaloge, affektivexpressive Äußerungsformen: das Vernehmen der Liebespflicht in Antworten und Fragen (7,111-IV), die affektiv-kommunikativen Formen von Subjektivität als Ernst (7,V), Glauben und Hoffen als Sprechhandlungen (2,II-III). Es ist diese expressive Seinsbestimmung der Liebe, die auf den folgenden Seiten der angesprochenen Einleitung zu 2,V ausgeführt wird. Die Perspektive ist nun nicht mehr das Ewige als solches, sondern „der Liebende". Das heißt, daß die metaphysische Wesensbestimmung der Liebe als Expressivität jetzt auf der pragmatischen Ebene des Handelns weitergeführt wird. Die Differenz von „der Liebe [Kjerligeheden]" und „dem (oder der) Liebenden [den Kjerlige]" ist, wie wir noch sehen werden, von wesentlicher Bedeutung für die Argumentation und wird von Kierkegaard sehr konsistent durchgeführt. Die früher bereits versuchte erste Bestimmung dieser Diffe5

Zu den begrifflichen Voraussetzungen der Rede von „expression" und einem „expressive object" vgl. C. Taylor, Expression.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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renz ist nun hier fortzuführen. Zunächst findet in der Differenz von Liebe und Liebendem ein Subjektwechsel oder eine Subjekterweiterung statt: Die Liebe, deren Wesen im Sich-Äußern besteht, nimmt Gestalt in Äußerungshandlungen endlicher Subjekte. Dabei gewinnt der vorläufige Begriff der Expressivität weitere Konturen. In einem ersten Schritt wird die Einheit von Substanz und Eigenschaft übersetzt in die Einheit von 1\in und Sein: „Was Liebe tut, das ist sie; was sie ist, das tut sie - und zwar in ein und demselben Augenblick" (ebd.). Diese Bestimmung macht nun keine Schwierigkeit, wenn sie für „die Liebe" im metaphysischen Sinn des „Ewigen" gelten soll. Doch wie ist die Einheit von Tun und Sein in Hinblick auf endliche Handlungssubjekte zu verstehen? Kierkegaard interpretiert die ontologische Einheit von 1\in und Sein pragmatisch als die Einheit von Geben und Empfangen: „Was der Liebende tut, das ist er, oder das wird er; was er gibt, das hat er, oder richtiger, das empfängt er" (310/270). Doch was heißt das? Wie kann ein Geben identisch sein mit einem Empfangen? Offensichtlich ist diese Einheit nur möglich durch eine weitere inhaltliche Bestimmung der sich-äußeraden Liebe: „der Liebende, der sich selbst vergißt, an den erinnert die Liebe sich. Einer denkt an ihn, und daher kommt es, daß der Liebende empfängt, was er gibt" (ebd.). Das Sich-selbst-Vergessen der Liebe stellt also die Einheit zwischen Geben und Empfangen her. Solches Sich-selbst-Vergessen kann in diesem Kontext als eine weitere Beschreibung des Äußerungscharakters der Liebe verstanden werden: als völliges Aus-sichheraus-Gehen, als Selbstlosigkeit. Doch wie ist dann die Rückkehrbewegung, also das Empfangen zu verstehen, wenn sie für ein endliches Subjekt gelten soll, das als solches gerade nicht „das Ewige" ist? Was bedeutet es, daß die Liebe sich an den selbstvergessenen Liebenden erinnert? Offensichtlich spricht Kierkegaard hier in der Metaphorik eschatologischer Gerichtsvorstellungen; aber wie läßt sich diese eschatologische Form der Expressivität auf der Handlungsebene, also im pragmatischen Kontext des Liebens beschreiben? Es scheint mir, daß Kierkegaard eine Antwort eher beiläufig gibt, wenn er auf die Einzigartigkeit der Einheit von Geben und Erhalten im Fall der Liebe (im Unterschied zu anderen Handlungsformen) hinweist: „Nun ja, aber ist es denn auch stets der Fall, daß man behält, was man gibt, oder daß man selbst empfängt, was man einem anderen gibt, daß man gerade durch Geben empfängt, und eben das gleiche [netop det Samme] empfängt, was man gibt, so daß dies Geben und dies Empfangen ein und dasselbe ist?" (311/270). Hier wird

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3. Kapitel: Das Können

die in Frage stehende Einheit differenziert: Die Identität der Handlungen von Geben und Empfangen wird begründet durch die Identität des Gegenstandes der Handlungen: Es ist „eben das gleiche", das gegeben und empfangen wird. Der Gegenstand des Gebens ist gegenüber dem Geben und dem Gebenden als eine eigene, unterschiedene Größe zu denken, und nur deshalb kann der Gebende diesen Gegenstand auch empfangen. Auf den Begriff der Expressivität der Liebe angewandt bedeutet dies: Die Liebe wird durch den Liebenden einem Anderen gegeben, doch durch diesen Akt des Gebens oder Ausdrückens ist das Ausgedrückte nun auch für den Ausdrückenden zu einer Realität geworden. Erst im Geben der Liebe erhält der Gebende das, was er gibt. Dieses Paradox ist nur möglich, wenn die Gabe nicht als Eigentum oder Wirkung des Gebenden gedacht wird, sondern als eine dritte Größe neben oder zwischen den Handelnden: als eine Wirklichkeit, die sich in subjektiven Ausdruckhandlungen selbst zum Ausdruck bringt und eben dadurch auch für den Handelnden zu einer Wirklichkeit wird, auf die dieser sich beziehen kann bzw. die sich auf ihn bezieht („erinnern"). Die Liebe in dieser Form als expressive Wirklichkeit zu beschreiben bedeutet: Erstens, die Liebe ist an Ausdruckshandlungen gebunden: an solche Handlungen, in denen sich eine Bezogenheit (Intentionalität) auf einen bestimmten Gegenstand zum Ausdruck bringt, und dies als Moment eines intentionalen Handelns (einer Gebehandlung) mit einem anderen Akteur. Zweitens, durch diese Ausdruckshandlungen wird das Ausgedrückte eine leibhaftige Wirklichkeit, indem sie zum einen vor den Handelnden (den Geber) selbst und zum anderen zwischen Geber und Empfänger tritt. In diesen beiden unterschiedlichen Perspektiven ist die Liebe ein Drittes neben den beiden Handelnden selbst. Als expressive Wirklichkeit tritt die Liebe so in einen „öffentlichen Raum", den sie selbst durch ihren Ausdruck erst eröffnet 6 . Mit dem bedeutungstheoretischen Begriff des öffentlichen Raumes ist der Prozeß gemeint, in dem ein sprachlicher Ausdruck Bedeutung für die an dieser Äußerungshandlung teilnehmenden Subjekte erhält. Dieser öffentliche Raum konstituiert sowohl eine subjektiv-re6

Diesen Begriff des öffentlichen Raumes übernehme ich erneut von C. Taylor, s. insbesondere Bedeutungstheorie, 67f£; Social Goods, 139; vgl. auch J. Simon, Sprachphilosophie, 184ff. Der bereits früher konstatierte Unterschied zwischen Taylor und Kierkegaard gilt auch hier: Taylor benennt allgemeine Strukturen von Sprache und Gesellschaft, die auch für Kierkegaards Vorstellung von Intersubjektivität relevant sind, von diesem aber nicht als Gesellschaftstheorie entwickelt werden, sondern innerhalb der Beschreibung partikularer personaler Beziehungen.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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flexive als auch eine intersubjektive Perspektive. Die erste Perspektive war bereits in den Reden II-IV leitend, indem Glaube und Hoffnung als diejenigen dritthaften Ausdrucksformen beschrieben wurden, in denen der Liebende seine Stellung innerhalb der Handlungsbeziehung artikulieren und so die Beziehung selbst gestalten konnte (durch Offenheit und Kontinuität). Die intersubjektive Perspektive, die durch den expressiven Raum entsteht, ist nun das Thema der Reden V-VIII. Hier wird der Prozeß beschrieben, in dem eine subjektive Äußerung einen intersubjektiven, öffentlichen Raum konstituiert und so der expressiv ausgedrückten Liebe eine Bedeutung für beide Beteiligten verschafft. Damit haben wir drei verschiedene Hinsichten zur Bestimmung der Liebe als Interaktionsform gewonnen: Selbstäußerung als (metaphysische) Wesensbestimmung, Expressivität als Vollzugsbestimmung, und Drittheit bzw. öffentlicher Raum als Bestimmung von Intentiona-

lität. Dieser letzte Aspekt ist in dem hier zitierten Textzusammenhang noch nicht explizit gemacht. Doch in einem anderen Kontext, nämlich der Einleitung zur Rede VI, wird die Drittheit der Liebe begrifflich festgehalten. Nach einem Verweis auf die göttliche Schöpferliebe, die „das ganze Dasein trägt" (332/289), fährt Kierkegaard fort: „Doch in dieser kleinen Schrift handeln wir beständig nur vom Tun der Liebe, und deshalb nicht von Gottes Liebe, sondern von menschlicher Liebe. Natürlich, kein Mensch ist Liebe; er ist, falls er in der Liebe ist, ein Liebender. Indessen ist Liebe überall zugegen, wo ein Liebender ist. Man sollte glauben, und man meint wohl zumeist, Liebe zwischen Mensch und Mensch sei ein Verhältnis zwischen zweien. Das ist auch wahr, ist aber unwahr, sofern dies Verhältnis zugleich ein Verhältnis zwischen dreien ist. Zuerst ist da der Liebende; dann derjenige oder diejenigen, die der Gegenstand sind; aber zum dritten ist die Liebe selbst mit zugegen" (332f./289). Die Bestimmung der Liebe als Drittes geht von der genannten Differenzierung zwischen Liebe und Liebenden aus: „kein Mensch ist Liebe". Darin steckt erstens eine schöpfungstheologische Bestimmung: geschaffenes Lebens ist von der schöpferischen Kraft selbst zu unterscheiden. Zweitens wird damit eine Hypostasierung der Liebe ausgesprochen; das bedeutet: Liebe ist ein subjektives Gefühl oder Leidenschaft, aber sie ist nicht die Leidenschaft des Subjekts, sie hat ihren Ursprung nicht im menschlichen Subjekt. Drittens ist diese Hypostasierung aber auch nicht mythologisch gemeint, sondern hat einen pragmatischen Sinn. Die relationstheoretische Bestimmung der Liebe als Drittes versucht nämlich, das Problem zu beantworten, das durch die theologi-

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sehe Interpretation menschlicher Liebe entsteht: Wie kann die Liebe zugleich als etwas „Ewiges", Göttliches und als Aspekt menschlicher Handlungen verstanden werden? Der Begriff der Drittheit formuliert dann nur strukturell oder relationstheoretisch, was der Begriff der Expressivität bereits ausgesagt hat: Im menschlichen Handeln kommt das Ewige der schöpferischen Liebe zum Ausdruck, aber eben als etwas gegenüber den Handelnden Eigenständiges. Insofern ist es die schöpferische Liebe selbst, die sich in adäquten Ausdruckshandlungen menschlicher Subjekte äußert. Die handelnde Subjektivität und die Transzendenz der Liebe müssen im Handeln zusammengesehen, aber zugleich ontologisch unterschieden werden7. Als expressive Wirklichkeit ist die schöpferische Liebe Bestandteil intersubjektiver Handlungswelten, ohne doch auf die bloß zweistellige Form eines Handlungserhältnisses, in der lediglich von den beiden Handelnden die Rede wäre, reduziert werden zu können. Eben dies scheint der Sinn der Unterscheidung von „der Liebe" und „dem Liebenden" zu sein8. Die Subjektivität des Handelns ist zugleich Ausdruck einer anderen, transzendenten Wirklichkeit9. 7

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9

Der hier eingeführte Begriff der Transzendenz ist nicht identisch mit Kierkegaards Begriff des „Ewigen". Der Terminus Transzendenz ist eine Interpretation von Kierkegaards relationstheoretischer Bestimmung des „Dritten": Transzendent ist demnach eine Größe, die nicht unter Hinweis auf die sichtbaren Bestandteile einer gegebenen Relation zweier Relate (Akteure) aufgewiesen werden kann. Der metaphysische Begriff des Ewigen dagegen verweist auf die Struktur der absoluten Selbstvermittlung und damit auf die expressive Qualität der im Medium leiblichendlicher Kommunikation sich als Dritttes darstellenden Liebe. In dem von mir vorgeschlagenen Begriff der Liebe als expressiver Wirklichkeit sollen die als Ewigkeit und Transzendenz (bzw. Drittes) unterschiedenen Aspekte zugleich aufeinander bezogen werden: als Momente eines Begriffs von intersubjektiver Handlung. Zum differenzierten Zusammenwirken von Liebe und Liebendem im expressiven Handeln vgl. auch innerhalb des zuerst behandelten Kontextes: „Wenn wir sagen: .Liebe gibt Freimut', so sagen wir damit, der Liebende mache durch sein Wesen andere freimütig; überall, wo die Liebe zugegen ist, breitet sie Freimut aus." (309/269). Vgl. J. Ringleben, aaO. 379 (unter Bezug auf den Verdoppelungsbegriff von 309/269): „Kierkegaard denkt wahres Sein als die Selbstgegenwart absoluter Subjektivität." Allerdings scheint mir Ringlebens spekulative Bestimmung der Liebe als absoluter Subjektivität die pragmatische Pointe des Textes und insbesondere der Verdoppelungsfigur zu verfehlen: die Frage nämlich, wie von der ewigen Liebe aus die menschliche Liebe als ein Verhältnis zwischen zwei Subjekten gedacht werden muß. Ringleben versteht die menschliche Liebe als „Abbild" und „Teilhabe" an der ewigen Liebe (ebd. 382£). Dies ist jedoch nur eine einfache Übertragung der begrifflichen Struktur der Ewigkeit auf die menschliche Liebe. Wonach Kierkegaard jedoch fragt, ist das Problem, wie solche ewige Liebe „in einem Menschen" möglich ist und wirklich werden kann. Wie muß die ewige Liebe unter den Bedin-

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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Die metaphysische Frage, was diese transzendente Wirklichkeit nun genau sein soll und wie sie zu bestimmen und zu erkennen ist, wird von Kierkegaard nicht direkt beantwortet. Es geht ihm vielmehr um die performativen Formen, in denen das Ewige oder die Liebe in Handlungssituationen wirksam und damit sichtbar wird. Im Kontext der VIII. Rede findet sich eine Formulierung, die das ontologische Verhältnis von endlichem Handlungssubjekt und transzendent-ewiger Liebe durch den Begriff der Drittheit als expressiver Wirklichkeit bestimmt: „Um das Demütigende und Kränkende wegzunehmen, schiebt der Liebende etwas Höheres zwischen sich und den Lieblosen ein, und schafft damit sich selber fort" (372/324). Sich selbst fortzuschaffen bedeutet hier, daß der Handelnde sich zu dem verhalten muß, was er selbst als ein Höheres ausgedrückt hat. Es sind zwei Schritte, die an dem Handelnden zu beobachten sind: Zuerst „schiebt" er ein Höheres zwischen sich und den Anderen, und dann überläßt er diesem, von ihm selbst erst hingestellten Höheren seinen Platz als Kommunikator der Liebe. Das bedeutet einerseits, daß die Drittheit im expressiven Handeln des einzelnen Subjekts beschrieben werden muß, d.h. als die Form seiner Intentionalität: als das, auf was er sich in seiner Handlung mit dem Anderen bezieht und das er vor diesem zum Ausdruck bringt. Andererseits wird so das individuelle Handeln auch gerade in seiner Drittheit beschreibbar, d.h. in seiner Auswirkung auf beide Handlungspartner: „Mit Hilfe des Dritten, welches der Liebende zwischen sie eingeschoben hat, sind sie beide gedemütigt" (ebd.) 10 . Eine genauere Analyse dieser Stelle überlasse ich der späteren Interpretation; jetzt kommt es mir nur auf die erkenn-

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gungen endlicher Existenz gedacht werden, wie muß also ihre leibhafte Verwirklichung gedacht werden? Diese Frage kann offensichtlich nur beantwortet werden, wenn man die Interaktionsvollzüge beschreibt, in denen Liebe gelingt; und der Aufweis des Gelingens ist der Aufweis und die Rechtfertigung der ewigen Struktur dieser Liebe als Selbstverdoppelung. Dies ist aber etwas anderes, als die Struktur der Selbstverdoppelung auch für menschliche Liebe zu postulieren bzw. den spekulativen Begriff der Liebe bloß analogiehaft oder metaphorisch auf die endlichmenschliche Liebe anzuwenden. Die Methode Kierkegaards in TL ist pragmatisch gerade darin, daß sie die Realität ewiger Liebe im leiblichen Medium kommunikativer Praxis aufweisen und aufdecken will. Vgl. bereits 167/147, wo vom reflektierenden „Spiegel der Aufrichtigkeit" die Rede ist, den die erotische Liebe [Elskov] (!) zwischen die Liebenden stellt, so daß sich beide darin betrachten und ihre Aufrichtigkeit prüfen können; die Spiegel-Metapher wird dann im folgenden durch den Begriff der „Verdoppelung" metaphysisch und theologisch interpretiert (167/148).

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3. Kapitel: Das Können

bare Grundstruktur des Verhältnisses von subjektiver Expressivität, Intersubjektivität und Drittheit an11. Die Weise, in der die ewige Liebe als Drittes in der Handlungsbeziehung gegenwärtig und wirksam ist, möchte ich als ihre expressive Wirklichkeit bezeichnen, d.h. als diejenige Wirklichkeit, die ihrem Wesen als Selbstäußerung entspricht; diese Wirklichkeit wird von Kierkegaard in den drei genannten Hinsichten gedacht: als Selbstäußerung des Ewigen, expressives Handeln eines Subjekts und drittheitliche Intentionalität dieses Handelns. Damit aber geht auch derjenige Aspekt in die Beziehung ein, der für die göttliche Liebe wesentlich ist: das Schöpferische findet in der Handlungsbeziehung seinen expressiven Ausdruck und ist damit in der Beziehung praktischschöpferisch wirksam. Erst als expressive Wirklichkeit kann die Wirksamkeit der Liebe in geschöpflich-endlichen Handlungskontexten verstanden werden, und damit ist das Verständnis der entsprechenden Handlungen entscheidend verändert: „Wenn wir nun in Bezug auf menschliche Liebe davon sprechen, daß Liebe bleibt, so zeigt sich leicht, daß dies ein Tun [Gjerning] ist, oder daß es nicht eine ruhende Eigenschaft [hvilende Egenskab] ist, welche die Liebe als solche besitzt, sondern eine in jedem Augenblick erworbene Eigenschaft [erhvervet Egenskab], die zugleich in jedem Augenblick, da sie erworben wird, wieder ein wirkendes Tun ist" (333/289). Erwerben und Wirken - diese beiden Aspekte des Handelns verweisen zurück auf die oben genannten zwei Perspektiven, die der expressiv dages[tellten Liebe gegenüber möglich sind: die subjektive Perspektive, in der der expressiv Handelnde selbst in einem Verhältnis zu dem von ihm Dargestellten steht und eben durch diese Äußerung hindurch sein eigenes Liebend-Sein erst erwirbt; und die intersubjektive Perspektive, in der das expressive Dritte das Verhältnis von Liebenden und Geliebten in solcher Weise bestimmt, daß der subjektive Ausdruck der dritthaften Liebe auch immer als indirekte Wirkung auf den Anderen

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Hier ist noch einmal daran zu erinnern, daß auch in den vorausgegangenen Reden des zweitens Teils Liebe als Drittheit dargestellt worden war: Der dritthafte Status von Glauben und Hoffen läßt sich beschreiben als ,horizontale' Artikulation der Beziehung zweier Handelnder. Auch hinsichtlich der logisch-kategorialen Bestimmung erweisen sich diese Handlungen als Formen von Drittheit, nämlich der Schluß als die Erscheinung einer uneinholbaren Voraussetzung innerhalb eines neuen Kontextes. Schließlich war auch das dem Liebenkönnen spezifische Selbstverständnis allein im Hinblick auf etwas Drittes zu verstehen: Die Verborgenheit der Selbstverleugnung entsteht gegenüber dem „Ereignis" einer intersubjektiven Wirksamkeit, die der Handelnde sich selbst gerade nicht zurechnen kann.

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zu begreifen ist. Denn das subjektive Ausdruckshandeln als expressives Darstellen der dritthaften Liebe hat qua Ausdruck eine leibliche Gestalt. Doch indem dieses leibliche Gestalten Ausdruck der dritthaften Liebe ist, hat das Gestalten selbst dritthaften Charakter, d.h. es kann nicht auf die Äußerung einer der beiden Akteure reduziert werden. Das Leibliche wird zum Zeichen der transzendent-schöpferischen Liebe, und darin liegt die praktische Wirksamkeit der menschlichen Liebe12. Erst hiermit haben wir die pragmatische Ebene erreicht, auf der auch die eingangs angeführten Texte zu verstehen sind. Die ontologischen und theologischen Bestimmungen der Liebe dienen hier wir stets in TL dazu, die Bedeutung der Liebe im Geflecht menschlicher Handlungen aufzuklären. Sie dienen nicht der Formulierung einer metaphysischen oder spekulativen Theorie. Vielmehr sind es ontologische Implikationen und Denkvoraussetzungen einer bestimmten Praxis, die in den folgenden vier Reden beschrieben wird. Die Voraussetzung dieser Praxis ist der Begriff eines Werkes, das einerseits dem expressiven Handeln eines einzelnem Subjekts zuzuschreiben ist, andererseits aber auch erst durch das subjektive Äußern für dieses Subjekt selbst eine Wirklichkeit wird, zu dem es sich verhalten kann. Erst wenn sich die expressive Äußerung als etwas dem Äußernden gegenüber Eigenständiges verstehen läßt, kann auch das Verhältnis von einseitig-individuellem Handeln und unhintergehbarer Intersubjektivität für TL geklärt werden. Denn, wie wir schon oft gesehen haben, die Liebe als Liebenkönnen läßt sich gerade nicht als einseitiges Können verstehen, sondern ist für Kierkegaard allein unter der Voraussetzung des fremden, anderen Liebenkönnens möglich. Dieses Verhältnis wird sich auch in der Form der subjektiven Ausdruckshandlungen niederschlagen: Die semantische Struktur der expressiven Handlungen muß sich als kongruent mit dem Basissatz aus 2,1 erweisen; in der Interpretation wird es sich zeigen, daß die subjektiven Handlungen der Liebe jeweils als Äußerungen beschrieben werden können, in denen der Handelnde das fremde Liebenkönnen arti12

Der sprachpragmatische oder performative Begriff des Expressiven führt also auch in entscheidender Weise über das Schema von Form und Inhalt hinaus, mit dem in LA, 64f. die Struktur der Leidenschaft erläutert wird und das zunächst auch auf das Verhältnis von Ausdruck und Ausgedrücktem anwendbar ist (s.o. Kap. 3,1.): In TL kommt es wesentlich darauf an, welche Rolle die jeweilige Handlungsform in der Kommunikation spielt; erst in dieser performativen Perspektive scheint es möglich zu sein, die Wirklichkeit der Liebe denken zu können, insofern diese Wirklichkeit eine unreduzierbar praktische Form ist.

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3. Kapitel: Das Können

kuliert und als vorausgesetztes zur Sprache bringt. Was die Darstellung der Reden V-VIII von den vorausgegangenen unterscheidet, ist die Frage nach der intersubjektiven Wirksamkeit dieses Artikulationshandelns und seiner Semantik; es ist die Frage nach der Möglichkeit von Versöhnung. In der Verbindung mit dem Problem der Versöhnung wird so schließlich die bedeutungstheoretische Fragestellung sichtbar, die sich mit dem Begriff des expressiven Handelns verknüpft: Wie kann das Handeln der Liebe so verstanden werden, daß es als ein Ereignis sichtbar wird, in dem eine einzelne Ausdrucksform eine bestimmte, nämlich versöhnende Bedeutung für die Handelnden erhält? In dieser Form möchte ich die Frage nach derjenigen Theorieform stellen, die den vielfältigen Ausführungen und Beschreibungen der Reden VVIII zugrunde liegt und die rekonstruiert werden soll. Die bedeutungstheoretische Fragestellung liefert den theoretischen Zugang zu der Aufgabe, Kierkegaards metaphysischen Begriff der Selbstverdoppelung und der Wiederholung als Beschreibung von praktischer Interaktion zu verstehen. Daher will ich abschließend den Begriff der Expressivität noch einmal reformulieren 13 , und zwar hinsichtlich seiner bedeutungstheoretischen Bedingungen14: a) Die Grundform einer sprachlichen Repräsentation ist: eine Handlung oder ein Ausdruck χ steht für y, oder: y kann in χ gesehen werden. b) Diese Grundform wird erweitert zur dynamischen Form der Äußerung, wenn gilt: y kommt so zum Ausdruck, daß es nicht durch einen Beobachter erschlossen wird (d.h. durch deduktiven oder induktiven Verweis auf andere, bereits bekannte Zeichen verstanden wird), sondern indem y sich dem Beobachter in χ selbst erschließt, 13

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Zugleich scheint es nötig zu sein, den umgangssprachlich vielfältig verwendbaren Terminus „Ausdruck" für die Verwendung in der Interpretation genauer zu bestimmen. „Ausdruck" ist im Rahmen dieser handlungstheoretischen Interpretation in einen ganz bestimmten Sinn gemeint, der von anderen möglichen Verwendungen zu unterscheiden ist. Vgl. C. Taylor, Expression·, Taylor faßt den sprachanalytischen Begriff des Expressiven folgendermaßen zusammen: In einer „expression" manifestiert sich etwas in einem „embodiment", dies aber auf eine Weise, von der gilt: „(1) what ist manifest cannot be observed in any other way than a physiognomic reading; and (2) some verbs of utterance can be attributed to the object, and not just of the agent in emitting/creating the objekt, so that: (a) what it expresses is not just a matter of what can be physiognomically read in it; and (b) we can apply adverbs of utterance to it" (78; Hervorhebung U.L.).

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oder: indem χ etwas über y sagt, so daß erst durch dieses Sagen die Bezugnahme auf y möglich wird 15 . c) Diese expressiv-dynamische Form der Funktion „x steht für y" hat im Fall der ewigen Liebe die Struktur der Wiederholung: χ sagt dergestalt etwas über y, daß y in χ vollständig präsent ist. Die folgenden Analysen werden dementsprechend versuchen, den metaphysischen Begriff der Selbstverdoppelung oder Selbstäußerung unter der bedeutungstheoretischen Perspektive eines expressiven Handelns zu explizieren. Zugleich müssen sie zeigen, ob der hier rekonstruierte Begriff einer in ihrer Bedeutung sich selbst erschließenden Handlung philosophisch begründbar ist. Es wird sich dabei zeigen, daß Kierkegaard keine metaphysischen oder logischen Begründungen gibt, sondern phänomenologisch vorgeht: Das Argument zugunsten dieses Bedeutungsbegriffs wird darin bestehen, in beschreibbaren Handlungskonstellationen solche Handlungs- und Sprachformen aufzuweisen, die eine expressivistische Deutung verlangen. Thema der vier Reden ist die Frage, wie individuelles Ausdruckshandeln die Versöhnung zweier Akteure ermöglicht. Allerdings führen die Reden keine Theoriediskussion. Vielmehr verfolgt Kierkegaard jedesmal eine konkrete praktische, sozusagen materialethische oder existenzielle Fragestellung, die erst noch auf ihre theoretischen Gehalte hin zu befragen ist. Die folgende Interpretation der Reden versucht, diese methodische Schwierigkeit zu berücksichtigen, indem sie jede Rede unter einem Doppelaspekt liest: Einerseits ist der in15

„the point is that with expressive objects, their expressing/saying/manifesting is something that they do in a sense, rather than something which can happen through them" (C. Taylor, aaO. 76). Die von mir hier versuchte begriffliche Differenzierung läßt sich auch an der Verwendung des Terminus' „Ausdruck [Udtryk]" wiederfinden. Man kann in TL drei Bedeutungen bzw. Verwendungsweisen dieses Wortes unterscheiden: 1. im allgemeinen indexikalischen Sinn: χ steht für y, z.B. 20/22, 58/55 u.a.; 2. in bezug auf einen bestimmten Sprachgebrauch: χ wird innerhalb eines bestimmten Sprach- und Vorstellungszusammenhangs (Alltagssprache, Bibel etc.) verwendet: 92f./84, 103/94, 234/204 u.a.; „Ausdruck" ist in diesem grammatischen Sinne weitgehend identisch mit „Vorstellung [Forstilling]"·, 3. als Beschreibung einer kommunikativen Äußerungshandlung, weiter zu differenzieren als: a) eine Handlung, die dem Handlungspartner und/oder dem Beobachter etwas Uber den Handelnden und seinen Handlungsgrund (Handlungsverhältnis) aussagt: 85/78,196/172 u.a., b) der affektive, u.U. auch gerade tatenlose Ausdruck:49/47,206f./181f. u.a., c) der künstlerische, mimisch-gestische Ausdruck: 197/1731 u.a.

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haltliche Aspekt zu entfalten, um die Interaktion der Liebe als Praxis der Versöhnung beschreiben zu können; jede der Reden wird dazu einen Baustein liefern. Andererseits läßt sich auch in jeder Rede ein je spezifischer Teilaspekt derjenigen theoretischen Handlungsbestimmung aufzeigen, die ich hier als expressive Wirklichkeit der Liebe bezeichnet habe. Auf diese Weise möchte ich versuchen, für jede Rede jeweils einen Aspekt der Versöhnungspraxis wie auch des zugrundeliegenden Handlungsbegriffs zu entfalten und damit die beiden Leitbegriffe Versöhnung bzw. Expressivität schrittweise, gewissermaßen additiv zu entwickeln16. Der eben ausgeführte bedeutungstheoretische Begriff von Expressivität führt zu einer letzten Darstellungsanweisung für das Folgende. Mit dem bedeutungstheoretischen Verhältnis von χ und y muß auch das Verhältnis von Grund und Folge für die Handlung der Liebe beschreibbar sein. Der Begriff des expressiven Handelns (in dem hier gebrauchten Sinn) zielt nicht nur auf die sprachliche Dimension des Handelns, sondern enthält zugleich eine bestimmte Auffassung der Ontogenese des Handelns 17 . Wird nun die Äußerung der Liebe als das Wesen der Liebe gedacht, so ist hiermit auch das Verhältnis von Grund und Folge der betreffenden Handlung erfaßt, und zwar als das Verhältnis von expressivem Sein und expressiver Wirkung der in dieser Doppelheit identischen Liebe: die Liebe „ist" ausschließlich in ihrer Wirkung, d.h. die Liebe als Handlung und als das diese Handlung Ermöglichende sind zwei verschiedene Beschreibungsformen der einen, nämlich wesentlich expressiven Wirklichkeit. Der Begriff des expressiven Handelns zielt auf ein logisch-analytisches Verhältnis von Grund und Folge. Ich versuche damit interpretatorisch der Tatsache gerecht zu werden, daß auch diese Texte keinerlei psychologische oder bewußtsseinstheoretische Erklärung für das Liebeshandeln geben. Kierkegaard ist nicht an einer subjektiv-kausalen Begründung des Handelns des Liebenden durch Willensakte, Motivationsstrukturen oder Formen des Selbstverständnisses interessiert. Statt dessen beschreibt er diese subjektiven Handlungen von Beginn an im Horizont „der Liebe" als einer anderen, dritten Wirklichkeit und ihrer expressiv-semiotischen Wirkung. Erst durch diese andere Wirklichkeit als dem eigentlichen, transzendenten Subjekt des Handelns wird das

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Zum Zusammenhang von Verdoppelungs- bzw. Wiederholungsbegriff und Versöhnungsthematik bei Kierkegaard vgl. D. Glöckner, Wiederholung, 132f£ Vgl. o. Kap. 2,11.3. zur logischen Grundstruktur des nicht-kontingenten Verhältnisses von Grund und Folge beim dialogischen Handeln.

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subjektive Handeln des Liebenden verständlich als ein Ereignis, in dem sich die Liebe als Wirklichkeit „zwischen" zwei Handelnden zum Ausdruck bringt und so sich selbst als Grund dieses Handelns und des Verhältnisses der Handelnden zu erkennen gibt. Dieses Verhältnis von Sein und Wirkung ist also in jeder der vier Reden jeweils aufzuzeigen.

Zwischenspiel: Expressivität und transzendenter Grund ein Hinweis auf Schellings Philosophie der Offenbarung Die eingangs zitierten Textstellen skizzieren eine bestimmte ontologische Auffassung der Liebe, die ich „expressiv" genannt habe. Dieser Begriff soll die ontologische Struktur der Liebe als Selbstvermittlung und Selbstäußerung charakterisieren. Zugleich möchte ich damit eine, wenn auch sehr grobe, geistesgeschichtliche Einordnung versuchen18. Die Figur der Selbstvermittlung ist eine Grundform idealistischen Denkens. Es ist dabei insbesondere die Spätphilosophie Schellings, die unter diesem Aspekt möglicherweise einige Analogien zu der eben skizzierten Theorie der ewigen Liebe aufweist. Bevor ich diese Theorie anhand der folgenden Reden in ihrer Handlungsstruktur zu entfalten versuche, möchte ich den angesprochenen geistesgeschichtlichen Hintergrund kurz beleuchten. Schelling fragt in seiner „Philosophie der Offenbarung"19 nach 18

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Eine geistesgeschichtliche Beschreibung der Romantik und des Deutschen Idealismus unter dem Leitbegriff der Ausdrucksanthropologie unternimmt C. Taylor, Hegel, 13-80. F.W.J. Schelling Philosopie der Offenbarung. Die im folgenden zitierte Ausgabe ist eine frühere Fassung („Urfassung") jener Vorlesungen, die Schelling 1841/42 in Berlin hielt und die dort von Kierkegaard gehört wurden. Der Text der Urfassung folgt einer Vorlesung, die Schelling 1831/32 zum ersten Mal hielt. Kierkegaards Mitschrift der ersten 41 Berliner Vorlesungen findet sich in Pap. III C 27 (abgedruckt in Pap. XIII, 253-329). Zu dieser Begegnung mit Schellings Spätphilosophie vgl. N. Thulstrup, Schellings's Philosophy. Allerdings unterschätzt Thulstrup m.E. den Einfluß dieser Philosophie auf Kierkegaard. Auch die bekannten Äußerungen Kierkegaards, die seine Enttäuschung über Schelling dokumentieren (vgl. B, 102ff.), dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kierkegaard immerhin über mehrere Monate hinweg 41 Vorlesungen tatsächlich mitschrieb und noch einige mehr besuchte, ohne Mitschriften zu machen. Die erste entschiedene Mißfallensäußerung über Schelling findet sich erst in einem Brief vom 6. Februar 1842, s. B, 99. Auch wenn diese Bemerkung wohl eine schon länger anhaltende Unzufriedenheit ausdrückt, so kann man doch nicht sagen, daß Kierkegaards Reaktion auf Schelling

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dem Grund der Vernunft. Die für seine Spätphilosophie zentrale Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie ist insofern immer noch eine transzendentalphilosophische Fragestellung: Es ist die Vernunft, die nach dem fragt, „was vor dem Sein ist, um eben das Sein zu begreifen" 20 , dazu aber muß sie gerade über sich selbst hinausgreifen auf einen nicht mehr denkbaren Grund ihrer selbst21. Dieser undenkbare und nichtgegenständliche Grund ist das positive Prius der Vernunft, während sie selbst die Wirklichkeit bloß negativ zu erfassen vermag, d.h als immanente Konstruktion der Wesensgehalte des Wirklichen, die in ihrem Fortschreiten an den Gottesbegriff als jenen letzten, ursprünglichen Punkt kommt, den sie zwar ableiten, aber nicht mehr als Wirklichkeit setzenden Ursprung denken kann. Diesen Ursprung als positiv Seiendes zu denken ist die Aufgabe der positiven Philosophie. Sie denkt ihn als reine Tätigkeit, als die reine Vermittlung des vermittelnden Denkens der Wirklichkeit22. Dies geschieht im Durchgang durch die beiden Kategorien des Seins, das „sein Könnende" als „pura potentia" und das „reine Sein" als „purus actus" des Seins23. Es zeigt sich, daß diese beiden Bestimmungen nur in ihrer „substantielle(n) Identität" gedacht werden können 24 . Damit ist der Geistbegriff als dritte Bestimmung erreicht. Entscheidend für den Geist als das Dritte ist es aber nun, ihn nicht als negativen, sondern als positiven Begriff zu verstehen, d.h. als ein solches Drittes, das nicht nur im gegenseitigen Aufheben der beiden Momente besteht, sondern in einem ursprünglichen und damit freien Setzen: „Das Dritte, als das von beiden Einseitigkeiten Freie, kann nur das sein, in welchem der actus nicht die Potenz, und die Potenz nicht den actus ausschließt, oder welches im Vergleich mit dem sein Könnenden nicht

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ausschließlich ablehnend war. Die Vorlesungsmitschriften spiegeln im Gegenteil eine intensive Beschäftigung mit Schelling wieder. Ich werde versuchen, zu den im folgenden gegebenen Belegen aus der Urfassung Entsprechungen in Kierkegaards Mitschrift anzugeben. Einige detaillierte Hinweise zur Aufnahme und Verarbeitung Schellings durch Kierkegaard (sowie einige recht einseitige Urteile über Schelling) finden sich bei K. Schäfer, Ontologie, 112-115,264-267. F.W.J. Schelling, aaO. 23, vgl. Pap. XIII 255f., 259. Allerdings taucht die Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie in der Urfassung von 1831/32 terminologisch nur am Rande auf (s. ebd. 24). Den idealistischen Charakter der positiven Philosophie betont W. Schulz, Vollendung gegenüber einem realistischen Verständnis, s. ebd. 90,323f. W. Schulz, aaO. 80. F.W.J. Schelling, aaO. 34; vgl. Pap. XIII 259. F.W.J. Schelling, aaO. 42; vgl. Pap. XIII 261.

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aufhört, Sein zu sein. Wie der wahrhaft sich selbst besitzende Geist im Menschen sich keineswegs vor der Äußerung zu bewahren hat, so ist auch dieses Dritte das, dem es nicht verwehrt ist, herauszugehen." 25 Der absolute Geist ist dasjenige freie Können, das sich im Übergehen aus der Potenz in den Akt noch selbst bewahrt und erhält: „Der sein Könnende Geist ist der sich ungleich sein Könnende Geist; der rein Seiende ist der sich gleich sein Könnende Geist, der im Akt derselbe bleibt und kein anderer wird."26 Erst mit dieser absoluten „Freiheit der Seinsentstehung" 27 , die im Hinausgehen über sich selbst sich selbst in ihrer Freiheit erhält, ist der Punkt erreicht, an dem es der Philosophie möglich wird, von der Wirklichkeit als einer positiv gesetzten zu sprechen und sie von diesem absoluten Grund her nach-denkend zu erfassen: „Die Vernunft ist da, nur weil jener Geist ist, und der Geist ist nicht, damit es ein vernünftiges Sein gäbe. Der Geist ist also grundlos, er ist ohne vorausgehende Notwendigkeit. Daß der Geist ist, das eben ist der wahre Anfang [...] Der Beweis dieses Geistes kann nicht von der Philosophie, sondern nur durch die Philosophie gegeben werden. In diesem Sinne betrachtet wird die Existenz des Geistes nur a posteriori erwiesen. Denn die Philosophie kann als Wissenschaft a priori und als Wissenschaft a posteriori erkannt werden. Sie ist nämlich in Ansehung der Welt Wissenschaft a priori, in bezug auf den Geist Wissenschaft a posteriori" 28 . Damit ist zugleich der transzendentale Ausgangspunkt verlassen, allerdings gerade im Interesse der Transzendentalphilosophie 29 . Formuliert man das Problem der Transzendentalphilosophie als Problem ei25

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F.W.J. Schelling, aaO. 59; vgl. Pap. XIII 259f. Allerdings haftet diesem Geistbegriff auch eine systematische Zweideutigkeit an: Einerseits tritt er als das dritte Moment des entfalteten Bewußtseins auf, andererseits steht er gerade für jenen uneinholbaren, absolut unbestimmten Grund des Bewußtseins und stellt damit ein viertes Moment dar. F.W.J. Schelling, aaO. 63; vgl. Pap. XIII 259. Der Geistbegriff erscheint in Kierkegaards Mitschrift nur in einer summarischen Zusammenfassung; gegenüber der Urfassung sind die Berliner Vorlesungen stärker am Gottesbegriff orientiert. F.W.J. Schelling, aaO. F.W.J. Schelling, aaO. 69f; vgl. Pap. XIII 281. Die Struktur dieser positiven Philosophie bezeichnet D. Korsch (gegen W. Schulz) als „hypothetisch gegliederte(n) metaphysische^) Empirismus" (Grund, 189). W. Schulz, aaO. 204: „An die Stelle des transzendentalen Bezuges zum Sein tritt die reine Transzendenz als eine Substantialisierung des Geistes f...] Die Transzendenz ist nötig um willen der Transzendentalität: weil das einfache Zurückbiegen immer zum Verlust der Transzendentalität führt, muß dieser Umweg einer Loslösung gegangen werden, damit das Ziel: eine zwingende und einsichtige Ableitung des Seienden aus seinem Ursprung erreicht werde."

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ner Bestimmtheitstheorie, so kann Schellings Lösung folgendermaßen beschrieben werden: Das Absolute wird als der unvermittelte Grund, als die durch keine Bestimmung hintergehbare Faktizität der im Vollzug des Denkens aufweisbaren Einheit von Unbestimmtheit und Bestimmung aufgewiesen. Die Faktizität des Denkens ist seine Trans : zendenz: „Der Geist ist actus purissimus, d.h., die Wirklichkeit vor aller Möglichkeit - er ist die erste absolute Wirklichkeit"30. Und im Bewußtsein dieser unhintergehbaren Faktizität, in der „Einsicht in die Unfähigkeit der Vernunft zur Selbstverwirklichung"31 kommt die Bewegung des Geistes zu ihrer Erfüllung. Damit sind zwei Aspekte dieses Geistbegriffes genannt, die ihn für unseren Kontext interessant machen. Erstens ist es eben jene Fähigkeit, im Hinausgehen über sich selbst bei sich selbst zu bleiben, die wir bei Kierkegaards Liebesbegriff in der oben rekonstruierten Form wiederfinden. Kierkegaard konstatiert die Selbstverdoppelung als die Ewigkeitsstruktur, die den Charakter der Liebe als Expressivität und als Handlung ermöglicht; nur unter der Voraussetzung dieser Selbstvermittlung kann Liebe als ein Drittes gedacht werden. Es ist die Liebe selbst als ein Subjekt und damit als ein Drittes zwischen den Liebenden, die das Lieben erst wirklich macht. Dieses Dritte ist das ontologisch Erste, gerade so wie der Geist bei Schelling das Prius der Vernunft und aller durch Vernunft zugänglicher Wirklichkeit ist. Diese ontologische Priorität muß als solche, d.h. als Positivität und absolute Subjektivität, ausgedrückt werden, und dies gelingt in beiden Theoriekomplexen nur in Begriffen, die die Selbstäußerung dieser Positivität benennen 32 . Zweitens aber kann solche Selbstvermittlung des Geistes nach Schelling nicht ihrerseits als eine bestimmte substanzielle Form verstanden werden, sondern muß als absolute Unbestimmbarkeit, als Faktizität der Vernunft gelten. Kierkegaards substanzialisierte Rede von der Liebe als Drittem scheint dem zunächst nicht zu entsprechen. Doch kann auch bei ihm die Transzendenz der dritthaften Liebe allein

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F.W.J. Schelling, aaO. 70£; zu der bestimmheitstheoretischen Interpretation vgl. C. Danz, Offenbarung, 178. D. Korsch, aaO. 195. Die Selbstlosigkeit der Äußerung der Liebe findet sich ebenso (als zweites Moment) in Schellings Geistbegriff: „Als der für sich seiende Geist ist er ebenso unselbstisch, nur umgekehrterweise, indem er nur ist, ohne sich um sich selbst anzunehmen - er ist ganz selbstlos, weil er ganz außer sich, weil er nur für den an sich ganz seienden Geist da ist" (F.WJ. Schelling, aaO. 76). Damit jedoch der Geist in dieser Selbstlosigkeit als mit sich selbst identisch ausgesagt werden kann, ist die dritte Bestimmung notwendig: „der im an sich Sein für sich seiende Geist" (ebd. 77).

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von der bestimmten Form der Äußerung her beschrieben werden: als das Jenseits dieser Äußerung, wodurch die Äußerung aber zugleich überhaupt erst möglich wird. Auch Kierkegaards Bestimmung der Ewigkeit der Liebe geschieht im Horizont endlich-bestimmter Phänomene: nur von dem innerweltlich uneinholbaren Ursprung der einzelnen Liebesäußerungen her können diese als welthafte Äußerungen, als Phänomene von Liebe gedacht werden 33 . An dem Verhältnis zwischen Immanenz und Transzendenz zeigt sich nicht nur eine strukturelle Nähe zu Schelling, sondern zugleich damit auch ein Unterschied gegenüber der Konzeption Hegels. Die Figur der Selbstvermittlung als Selbstäußerung läßt sich zwar ebenso für Hegels Geistbegriff reklamieren. Doch muß hier differenziert werden: Hegel entwickelt zwar die Bewegung des Begriffs als das jeweils Dritte, das die gegensätzlichen Momente vermittelt und aufhebt; aber dies ist nicht im gleichen Maße die Bewegung eines ontologisch Ersten oder Ursprünglichen. Hegels Geist entfaltet sich rein immanent, d.h. innerhalb der Vermittlung von Unbestimmtheit und Bestimmung, während Schelling gerade die absolute Transzendenz und Unbestimmbarkeit des Ursprungs herausarbeitet, um die Wirklichkeit als die immanente Wirklichkeit dieses Geistes beschreiben zu können 34 . Und eben diese Transzendenz scheint mir auch bei Kierkegaards Liebesbegriff entscheidend zu sein; denn allein auf diese Weise wird es möglich, das tatsächliche, individuelle Handeln zugleich als Form eines Dritten und d.h. als Ausdruck einer ursprünglichen, schöpferischen Liebe zu verstehen, die ihrerseits nicht mehr als durch die Handelnden bestimmbar gedacht werden kann. In Kierkegaards Liebesbegriff ist die Transzendenz des Grundes ebenso konsequent gedacht wie bei Schelling: „Wie der stille See in dem tiefen Quell in undurchdringlicher Finsternis seinen Grund hat, so hat eines Menschen Liebe rätselhaft ihren Grund in der Liebe Gottes. Wie der stille See dich zwar einlädt, ihn zu betrachten, dir aber mit dem Spiegelbild der Finsternis verbietet, ihn zu durchschauen: ebenso verbietet dir der rätselhafte Ursprung der Liebe in Gottes Liebe, ihren Grund zu schauen" (12/15). Es ist gerade die Immanenz, nämlich die

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Dieser phänomenologische Ansatz Kierkegaards entspricht dem doppelten Erfahrungsbegriff, der nach D. Korsch mit Schellings „metaphysischem Empirismus" verbunden ist: einerseits handelt es sich um sinnliche Erfahrung, andererseits um „.übersinnliche* Erfahrung: Erfahrung, die im Sinnlichen Erfahrung des an sich Übersinnlichen, aber Erfahrungsmäßigen ist" (aaO. 191). Vgl. W. Schulz, aaO. 102f£; vgl. Pap. XIII 264f£

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bestimmte Form des expressiven (Handlungs-) Charakters der Liebe, der es verlangt, diesen transzendenten Ursprung zu denken und zu benennen - trotz seiner Unbestimmbarkeit. Dabei ist die dialektische Pointe des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz hier ebenso entscheidend wie bei Schelling: U m der Immanenz (Bestimmtheit) der Liebe willen muß ihre uneinholbare Transzendenz (Unbestimmtheit oder Selbstvermittlung) gedacht werden als diejenige Bewegung, in der die immanente Erscheinungsform erst gesetzt wird35. Das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz ist nicht als ein einfacher Gegensatz, sondern als ein dialektisches Verhältnis innerhalb der Liebe zu denken 36 . Solche Dialektik wird von Kierkegaard, wie wir sehen werden und bereits gesehen haben, als expressive Struktur beschrieben: Selbstvermittlung wird als Selbstäußerung gedacht, und zwar als die Selbstäußerung eines Liebes Verhältnisses, das darin seine eigene unergründliche Faktizität zum Ausdruck bringt. Diese Struktur von Immanenz und Transzendenz kann auch Schelling, etwa in der Freiheitsschrift, durch den Liebesbegriff explizieren 37 . 35

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D. Korsch bestimmt die Aufgabe von Schellings positiver Philosophie folgendermaßen: es „muß im Horizont der Totalität der Möglichkeiten eine Erfahrung zu machen sein, die sich als Grund der Totalität zu verstehen gibt"; zugleich allerdings und hier weicht Korsch von W. Schulz ab - „ist die Konstruktion dieser Unabhängigkeit im Raum mundaner Immanenz nur die logische Bewahrung der Unverrechenbarkeit, ohne damit über deren Wirklichkeit entscheiden zu können" (aaO. 196t). Vgl. A. Gr0n, Transzendenzproblem, bes. 1401 Gr0n interpretiert Transzendenz bei Kierkegaard in Bezug auf den Existenzbegriff und findet hier die strukturellen Ähnlichkeiten zu Schellings positiver Philosophie. Die Erkenntnis eines engen Zusammenhangs zwischen Schellings Spätphilsophie und Kierkegaards Denken geht auf W. Schulz zurück, vgl. aaO. 274ff. Schulz sieht diesen Zusammenhang zunächst in der unmittelbaren Selbstvermittlung der Existenz als unhintergehbarer und unvermittelbarer Faktizität, s. aaO. 275. Im Glaubensbegriff der Krankheit zum Tode entdeckt er dann zweitens den Verweis auf jene absolute Transzendenz (das „andere" des Selbst), die diese Struktur der Selbstvermittlung in ihrer Widersprüchlichkeit setzt (aaO. 277). Die Selbstvermittlungsstruktur der Existenz wird insofern gerade als eine Verstehensbewegung in oder auf die Transzendenz hin durchsichtig. Analog zu Schelling seien schließlich auch die Konsequenzen zu sehen, die sich daraus für Kierkegaards Ansatz ergeben: das Herausarbeiten der Endlichkeit der Subjektivität und der Umschlag der negativen Bewegung in die Positivität des Glaubens (aaO. 279). S. Werke VII, 408. Schellings Schrift „Über das Wesen der menschlichen Freiheit" ist v.a. für Kierkegaards Konzeption der Freiheit im Begriff Angst wichtig geworden, vgl. dazu G. Figal, Freiheitsbegriff; W. Dietz, Freiheit, 353f. Für Schelling kann man freilich fragen, ob die Figur der Selbstvermittlung und ihre Interpretation als Selbstäußerung nicht zu stark ist, ob also der Urgrund als schöpferisch vorgestellt werden kann. Denn immerhin wird der Urgrund als reine Unbestimmtheit gedacht. Die Frage ist also, ob die von Schelling gebrauchten Bewe-

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Warum ist es überhaupt notwendig, diese Überlegungen zum Begriff der Transzendenz, der mit Hilfe von Schelling expliziert werden kann, anzustellen? Der Aufweis einer transzendenten Größe ist für TL m.E. notwendig, um den Wirklichkeitsanspruch der Theorie des Expressiven rechtfertigen zu können: die Transzendenz und „Ewigkeit" des expressiv Bezeichneten stellt sicher, daß dem Ausdruck auch eine Realität entspricht, die freilich niemals anders als im Ausdruck da ist. Wir erhalten so ein dialektisches Resultat: Einerseits ist der Begriff des Expressiven so gedacht, daß der leibhaftige Ausdruck selbst die einzige Realität des Ewigen ist, ohne auf eine dahinterliegende Realität zu verweisen (s.o.); andererseits muß gerade diese Realität als ewig und „unergründlich" (ebd.) gedacht werden, wenn es sich um eine Form von Liebe handeln soll. Wir können beide Momente vorläufig zusammendenken in den Begriffen Selbstbewegung, Selbstverdoppelung oder Wiederholung - doch wohlgemerkt als Begriffe, die die expressive Struktur einzelner Handlungen beschreiben. In der Philosophie Hegels wird die expressive Realität geschichtlich gedacht: als Geist, der sich im geschichtlichen Durchgang zum Ausdruck bringt und darin Immanenz und Transzendenz vermittelt38. Die Nähe zum Transzendenzkonzept Schellings erlaubt es dagegen Kierkegaard, die Liebe als expressive Vermittlung von Transzendenz und Immanenz in bezug auf einzelne Handlungen zu denken, ohne sie innerhalb einer logisch gegründeten Geschichtsphilosophie verankern zu müssen39.

38 39

gungsbegriffe und kosmologischen Darstellungsformen nur metaphorisches Gewand einer reinen Strukturtheorie des Denkens sind. Eine Antwort in diesem Sinne wäre dann allerdings von Kierkegaard her möglicherweise als Reduktion zu bestimmen, insofern damit die zentrale performativ-expressive Bedeutung der sprachlichen Form dieser Struktur unterschlagen wäre. Vgl. C. Taylor, Hegel, 113f£ In AUN2, 38f. beruft sich Climacus in seiner Hegelkritik ausdrücklich auf Schellings Transzendenzkonzept: im Begriff der intellektuellen Anschauung habe Schelling nach einem „neuen Ausgangspunkt" außerhalb der Immanenz der Reflexion gesucht (vgl. auch AUN1, 139, Anm.). Allerdings kritisiert Kierkegaard an dieser Auffassung des frühen Schelling, daß hier das Absolute zur „Indifferenz", zum „Nullpunkt" werde, „von dem eigentlich nichts ausging, sondern der bloß anzeigte, daß hinter dem Absoluten nichts sei"; im Unterschied zu dieser „Ruhe" sei Hegels Philosophie „in Fahrt", wenn auch nur „vermeintlich", nämlich „in der Fahrt der Methode" (Pap. VIII A 14/72, 80f.). In Schellings Spätphilosophie ist nun (möglicherweise) das Absolute nicht mehr als Indifferenz, sondern als produktiv gedacht. Auch wenn Kierkegaard diese Weiterentwicklung der Schellingschen Philosophie nicht wahrgenommen oder nicht gebilligt hat, so ist die zitierte Notiz doch ein Beleg dafür, daß Kierkegaard nach einer Möglichkeit sucht, das Absolute als produk-

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3. Kapitel: Das Können

Kierkegaard denkt die Transzendenz des Ursprungs der Liebe, um ihre bestimmte affektive und intersubjektive Form als Handlung zu begreifen. Was da als absolut transzendent oder selbstvermittlelt behauptet wird, ist zugleich eine bestimmte empirische, leibhaftige Realität, nämlich ein bestimmtes Verhältnis zweier Handelnder und dessen Gestaltung. Die Sprache der Transzendenz benennt die kontingente Faktizität dieser Wirklichkeit, die kontingente Faktizität der Liebe als eines praktischen Verhältnisses. Damit wird aber zugleich der wesentliche Unterschied zu Schelling deutlich: Schelling denkt die absolute Transzendenz des Geistes um der Transzendentalität der Vernunft willen. Nicht das faktische Gegebensein von Gegenständen der Erfahrung wird durch den Rekurs auf Transzendenz begründet, sondern die Faktizität des bestimmenden Denkens, das diese Erfahrung ermöglicht. Es handelt sich hier letztlich um die Geschichte des Bewußtseins, während bei Kierkegaard die intersubjektive Beziehung zweier Subjekte das ursprüngliche und erklärungsbedürftige Phänomen darstellt, das nicht erst noch durch den Rekurs auf die reflexive Bewußtseinsstruktur vermittelt werden muß. Schelling denkt das Absolute als die Unbestimmtheit der Einheit von Bestimmung und Unbestimmtheit; Kierkegaard dagegen denkt dieses bestimmungstheoretische Verhältnis nicht als ein strukturelles, sondern als ein sprachliches: Was durch die Ewigkeit als selbstvermitteltes Drittes qualifiziert wird, ist nicht eine allgemeine Struktur des Bewußtseins, sondern ein bestimmter sprachlicher Ausdruck innerhalb einer intersubjektiven Beziehung. Es geht in TL nicht um die Faktizität des Denkens, sondern um die der Liebe, d.h. um die Faktizität einer bestimmten intersubjektiven Handlungsstruktur, um die Faktizität eines sprachlichen .Ereignisses' zwischen und mit zwei Akteuren. Anders gesagt: Das mit Kierkegaards Liebesbegriff verbundene Verhältnis von Immanenz und Transzendenz ist nicht unter dem Aspekt der Bewußtseinstheorie, sondern in Hinsicht auf die bedeutungstheoretische Fragestellung auszulegen; wie bestimmte sprachliche, symbolische oder affektive Äußerungen zwischen (mindestens) zwei Akteuren

tives, dynamisches Prinzip denken zu können, und zwar anders, als Hegels Dialektik dies tut. Insofern kann man sagen, daß Kierkegaard Motive beider Denker aufnimmt: Was er sucht, muß das Schellingsche Absolute mit der Hegeischen Bewegung verbinden können, ohne dabei in Mythologie oder Logik verwandelt zu werden. Die Liebe als expressive Wirklichkeit in konkreten Handlungszusammenhängen kann möglicherweise als ein Versuch Kierkegaards gelten, hier eine Antwort zu finden.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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wirken, d.h. bedeutungsvoll werden - dies ist die Frage, um die es in den Texten aus TL geht. Trifft aber diese Unterscheidung in der Fragestellung zu, zumindest soweit TL betroffen ist, dann muß auch Kierkegaards Aufnahme der Schellingschen Denkfiguren anders bewertet werden als eine Interpretation es tut, die sich vornehmlich an Kierkegaards Existenzbegriff orientiert. Dann erweist sich Kierkegaards Denken nicht mehr als „eine neue Art von Reflexionsphilosophie nach der Vollendung der idealistischen Reflexionsmethode", in der sich „Existenz erfährt [...] als Zirkelgeschehen"40. Als Reflexionsmethode verstanden kann solche Zirkelhaftigkeit nur das reflexive Verstehen beschreiben, in dem der Existierende zur Anerkenntnis des transzendenten Gesetztseins der eigenen Existenz gelangt. TL hingegen legt die Zirkelstruktur als die positive Setzung eines bestimmten intersubjektiven Verhältnisses als eines Verhältnisses der Liebe aus. Als ein solches Liebesverhältnis muß das Verhältnis zwar immer erst noch durch den oder die Liebenden gestaltet und artikuliert werden. Doch eben dies kann nicht als reflexive Leistung des Selbstverständnisses des Liebenden verstanden werden, insofern es ja immer schon um das Verhältnis zu einem Anderen geht. Die Gestaltung des Verhältnisses hat also stets leiblichen Handlungscharakter und sie ist stets die Leistung des Verhältnisses selbst; dieses aber ist es, was TL mit der Liebe als dem „Dritten" identifiziert. Die Figur der Selbstvermittlung des Ewigen beschreibt das, was zwischen zwei Handelnden vorgeht und entsteht, und deshalb muß, wie ich versuchen werde zu zeigen, die Liebe in Begriffen von Sprache und Expressivität beschrieben werden. Damit aber wird in TL diese Figur aus dem Reich der Transzendental- und Reflexionsphilosophie herausgeholt und im Kontext eines pragmatischen Denkens verankert. Diese These möchte ich nun in den folgenden Textanalysen ausführen.

40

W. Schulz, aaO. 276.

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3. Kapitel: Das Können

2. Erste Variation (2,V) Versöhnende Liebe als Wirksamkeit: Gesellschaft und Sprache 2.1. Öffentlichkeit als geschichtlicher

Wirkungszusammenhang

Die fünfte Rede des zweiten Bandes hat in mehrfacher Hinsicht einleitenden Charakter. Die erste Hinsicht habe ich eben benannt: Die einleitenden Absätze dieser Rede skizzieren einen ontologischen Begriff von Expressivität, der für das Folgende entscheidend ist. Doch auch in materialer Hinsicht eröffnet die Rede ein neues Kapitel: Mit dem thematischen Wechsel auf die Ebene der Interaktion ist die thematische Gewinnung der sozialen und geschichtlichen Dimension verbunden. Kierkegaards Begriff für diese Dimension ist der der „Mannigfaltigkeit [Mangfoldighed]", genauer gesagt: der „Mannigfaltigkeit der Sünden" 41 . Diese Mannigfaltigkeit wird in der Rede durchgehend nicht auf einen einzelnen Akteur bezogen, sondern stets auf eine soziale Wirklichkeit, also auf eine Form von gesellschaftlicher Öffentlichkeit 42 . Nicht die Sünde, wohl aber die Mannigfaltigkeit der Sünden erscheint als ein Phänomen, das durch soziale Interaktion überhaupt erst entsteht. Dies wird beispielhaft an einer Stelle sichtbar, an der die Rede das Verschweigen der Sünde als ein Decken und damit als reales Verringern der Sündenmannigfaltigkeit beschreibt: „Sage nicht, ,daß die Mannigfaltigkeit der Sünden doch gleich groß bleibe, ob sie nun verschwiegen oder erzählt werde, da Schweigsamkeit doch wohl nichts wegnehme, weil man nur verschweigen könne, was da sei', antworte lieber auf die Frage: ob nicht einer, der die Feh41

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7X2, V ist eine Rede über 1. Petr 4,8. Erstaunlicherweise ist ihr aber der biblische Text nicht vorangestellt oder markiert, wie dies bei allen anderen Reden des gesamten Buches bis hierher stets der Fall war. Mit Ausnahme von VI fehlt auch bei allen folgenden Reden des zweiten Teils ein Bibeltext zwischen Überschrift und Text. Im Fall von V kann vielleicht die Überschrift als Ersatz gelten, da sie mit dem biblischen Wortlaut identisch ist. Über die Gründe für diese veränderte Praxis kann man nur im Rahmen einer Rekonstruktion des Gesamtaufbaus des Buches mutmaßen. Kierkegaard hat 1. Petr 4,8 mehrmals bearbeitet und insgesamt vier Reden zu diesem Text veröffentlicht, s. 3R3, 102-125; RAF, 31-39 (in der Überschrift wird hier irrtümlicherweise V. 7 angegeben). Der Begriff der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, der für die Rede V wichtig ist, ist terminologisch zu unterscheiden von dem oben eingeführten Taylorschen Begriff des „public space": dieser „öffentliche Raum" beschreibt das sprachliche Geschehen zwischen zwei Akteuren, während die in V angesprochene Öffentlichkeit ebenso auch den über diese basale Interaktion hinausgehenden gesellschaftlichen Zusammenhang vieler Individuen meint.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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1er und Sünden des Nächsten erzählt, die Mannigfaltigkeit der Sünden vergrößere!" (318f./277). Es ist also zu unterscheiden: Der rhetorische Einwand redet, wie der Kontext der Stelle deutlich macht, von der Sündenmannigfaltigkeit eines bestimmten Individuums, Kierkegaards Antwort dagegen bezieht die drohende Sündenmannigfaltigkeit auf ein ganz anderes Subjekt: nämlich auf jeden, der über die Sünden des Erstgenannten spricht. Der Begriff der Sündenmannigfaltigkeit benennt also nicht die individuelle sündige Handlung eines Einzelnen, oder etwa die Anzahl seiner Sünden, sondern es ist ein Begriff, mit dem das Reden über die individuelle Sünde erfaßt wird; und dieses Reden über oder das Umgehen mit der individuellen Sünde ist ein soziales Phänomen. Erst hier, beim öffentlichen Umgang mit der Sünde, spricht Kierkegaard vom Vergrößern oder Verringern der Sünde, und eben dies ist der Gegenstand der Rede. Es findet also ein bemerkenswerter Subjektwechsel mit bezug auf die Sünde statt: Nicht der einzelne Sünder, sondern der öffentlich mit der Sünde umgehende Mitmensch wird zum Subjekt der Sünde. Dieser Subjektwechsel wird deutlich benannt: „[...] sagen wir nicht, daß das Gerücht gern vergrößere? Wir meinen damit, daß das Gerücht gern die Schuld größer mache, als sie wirklich ist. Doch daran denke ich jetzt nicht. In einem ganz anderen Sinne muß man sagen, daß das Gerücht, welches die Fehler des Nächsten erzählt, die Mannigfaltigkeit der Sünden vergrößere. Man nehme es nicht zu leicht mit diesem Wissen von den Fehlern des Nächsten, als sei alles in Ordnung, wenn nur entschieden wäre, daß wahr sei, was da erzählt ward. Wahrlich, nicht jedes Mitwissen von dem, was wahr ist in Betreff der Fehler des Nächsten, ist deshalb ohne Schuld, und eben dadurch, daß jemand zum Mitwisser gemacht wird, kann er leicht selbst schuldig werden. Dergestalt vergrößert das Gerücht oder der, welcher die Fehler des Nächsten erzählt, die Mannigfaltigkeit der Sünden" (319/277f.). Die Sünde zu vergrößern bedeutet hier also nicht, einen Sachverhalt verzerrend wiederzugeben und die Sünde als größer darzustellen, als sie tatsächlich ist. Um diese Sünde geht es hier gar nicht. Vielmehr ist es derjenige, der mit der Sünde des Anderen umzugehen hat, der in eben diesem unausweichlichen Umgehen in ständiger Gefahr ist, selbst zum Subjekt der Sünde zu werden. Und das bedeutet in Hinsicht auf den Begriff des Vergößerns der Sünde ein doppeltes: Erstens wird der Sprecher selbst sündig; doch wäre damit der soziale Sinn des Vergrößerungsbegriffs wiederum nicht erfüllt, da das Vergrößern sich dann erneut auf einen bloß individuellen Sündenschatz bezöge. Nein, hauptsächlich und damit zweitens ist das Vergrößern

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3. Kapitel: Das Können

der Sündenmannigfaltigkeit durch den falschen Umgang mit der individuellen Sünde als ein Beitrag zum sozialen Schatz oder öffentlichen Kosmos der Sünde zu verstehen: als eine Handlung, in welcher das sündige Umgehen der Öffentlichkeit mit der Sünde des Einzelnen erneut manifestiert und weiter festgeschrieben wird: „Wer aber durch Erzählen der Fehler des Nächsten die Menschen verderben hilft, der vergrößert ja die Mannigfaltigkeit der Sünden" (319/278). Das „Verderben" bezieht sich hier nicht primär auf den einzelnen Sünder, den Gegenstand des öffentlichen Redens. Nicht seine Sünde wird vergrößert, nicht er wird verdorben; sondern verdorben werden gerade die Subjekte dieses Redens, denn Verderbtheit ist das Attribut einer bestimmten Sprachpraxis: „neugierig, leichtfertig, mißgünstig darüber zu schwatzen, ist deshalb ein Zeichen von Verderbtheit" (ebd.). Das Vergrößern der Sündenmannigfaltigkeit durch den lieblosen Umgang mit der individuellen Sünde ist erstens ein Zeichen und damit praktischer Ausdruck der Verderbtheit des Handelnden. Es ist zweitens aber auch ein reales, wirksames „Verderben" von anderen Handelnden, und auch dies kann in einem doppelten Sinn verstanden werden: Die Teilnahme an einem sündigen, destruktiven Diskurs hilft einerseits dabei, den Angeklagten zu „verderben"43; andererseits ist diese Teilnahme die Fortsetzung und Verfestigung einer destruktiven öffentlichen Sprachpraxis, die wiederum andere Menschen zur Teilnahme und damit zur Verderbtheit verführen kann. Der Begriff der Sündenmannigfaltigkeit wird konsequent auf den sprachlichen Umgang mit der fremden Sünde bezogen, d.h. er wird als ein Begriff sozialer Praxis verwendet. Diese Handlungsorientierung wird an anderer Stelle noch deutlicher, indem die reale Wirkung dieses Handelns auf ein Minimum reduziert wird (und doch dadurch erst umso stärker sichtbar wird): Kierkegaard erzählt von einem „Liebenden", der trotz aller Angriffe seiner Umwelt auf ihn bei seinen Mitmenschen keine Sünde entdecken kann; dagegen entdeckte seine Frau, „eben weil sie ihn liebte, [...], wie mannigfaltig gegen ihn gesündigt werde, sie entdeckte [opdage], gekränkt, mit Bitternis in der Seele, jeden spöttischen Blick, sie hörte *mit tränendem Herzen die Verhöhnung - während er, der Liebende, nichts entdeckte [...] Siehst du nun, indem du bedenkst, was die Ehefrau, und zwar zu Recht entdeckte, siehst du, wie wahr es ist, daß der Liebende, der nichts entdeckt, *die Mannigfaltigkeit der Sünden deckt [skjuler]!

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Man mag hier an Kierkegaards eigene Erfahrungen in der Corsar-Affäre denken.

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Denk dir das dann auf alle Lebensverhältnisses angewandt, und du wirst gestehen, daß der Liebende wirklich [virkelig] die Mannigfaltigkeit deckt!" (318/277). In welchem Sinn ist dieses „Decken" der Mannigfaltigkeit ein „wirkliches", also wirksames Decken oder Verbergen? Wirksam ist das Decken darin, daß der Liebende durch sein Nicht-Entdecken der Sünde sich nicht an einem ,Sündendiskurs' beteiligt. Seine Frau führt diesen Diskurs durch ihr Entdecken, es ist der Diskurs der Verbitterung. Im Kontext der Rede muß diese Verbitterung der Ehefrau als Teilnahme an einem Umgang mit der fremden Sünde verstanden werden, durch die die Mannigfaltigkeit der Sünde vergrößert wird: Ihre Reaktion auf die Sünde der Anderen führt diese Sünde in gewisser Weise weiter, führt zu einer praktischdiskursiven Kontinuität der Sünde. Die Ehefrau ist das Gegenbild zum Liebenden, obwohl sie zugleich in gewisser Weise auch das Opfer seines Verhaltens ist. Denn es ist seinetwegen, daß sie - aus Liebe! - verbittert, d.h. an der Mannigfaltigkeit der Sünden teilnimmt. Was tut hingegen der Liebende? Sein Nicht-Entdecken bedeutet die Nicht-Teilnahme an diesem Diskurs. Durch sein Nicht-Entdecken wird die Kontinuität der Sünde in gewisser Weise unterbrochen. Dies ist die Wirksamkeit des Nicht-Entdeckens 44 . Wie wir sehen, erweist der Begriff der „Mannigfaltigkeit der Sünden" seine soziale Bedeutung darin, daß er auf den Begriff des Vergrößerns bezogen ist, der hier als ein Ereignis von realer intersubjektiver Wirkung verstanden werden muß. Sündenmannigfaltigkeit wird damit zu der Bezeichnung einer bestimmten sozialen Praxisform, einer Form des öffentlichen Diskurses über die Sünde. Der Unterschied gegenüber der Erörterung der Sünde im Begriff Angst ist frappierend, aber konsistent: Nicht die Sünde des einzelnen Subjekts ist der Gegenstand für TL, d.h. die Sünde wird in ihrer Unerklärlichkeit gewahrt und die Freiheitsphilosophie des früheren Buches respektiert. Der Gegenstand der Erörterung ist, so kann man sagen, nicht die Entstehung der Sünde, sondern der geschichtlich-gesellschaftliche Umgang mit ihr. Diese Dimension des Geschichtlichen spielt bezeichnenderweise auch im Begriff Angst eine zentrale Rolle; doch war sie

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Und ohne daß Kierkegaard es an dieser Stelle ausspricht, scheint doch in der Beschreibung die Behauptung mitzuklingen, daß allein dieses individuelle Unterbrechen auch dazu führen kann, die Ehefrau aus ihrer Verbitterung zu erlösen. Möglicherweise ist dies die einzige Möglichkeit, in der der Liebende seine Schuld gegenüber seiner Frau, die seinetwegen verbittert, abtragen kann. Doch läßt Kierkegaard diese Frage offen.

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3. Kapitel: Das Können

dort zugleich gegenüber der genetischen Fragestellung ontologisch abgewertet durch die Unterscheidung von qualitativen und quantitativen Bestimmungen der Sünde45. Dieser Dualismus ist nun hier in

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Der Begriff Angst fragt nach den psychologischen Umständen, unter denen die Sünde in die Welt kommt, ohne damit dieses tatsächliche Entstehen kausal erklären zu wollen. Hieraus ergibt sich die ambivalente Stellung der Schrift zur Geschichte: Einerseits ist die Geschichte des Einzelnen und damit auch des Geschlechts der einzige Ort der Sünde (s. BA, 25f.); andererseits kann die Betrachtung der Geschichte für die Wissenschaft nur psychologische Annäherungswerte geben, quantitative Bestimmungen, die den qualitativen Sprung der Sünde nicht erklären können. Als Anti-Hegelianer will sich Vigilius Haufniensis vor jeder Ableitbarkeit der Sünde schützen, aber als Psychologe ist er gerade auch an den geschichtlichen Konkretionen der Sünde, also an ihrer Situierung in Handlungskontexten interessiert. Diese Ambivalenz ist in der Schrift nicht gelöst, und dies spiegelt sich in dem Dualismus von quantitativ - qualitativ bzw. im Begriff des Sprungs. Der Sprungbegriff steht für die Ambivalenz der Fragestellung des Vigilius: er fragt genetisch nach dem Entstehen der Sünde und weist zugleich diese Frage als unbeantwortbar und unethisch zurück (vgl. BA, 38f. passim). Zu dieser Dominanz der genetischen Fragestellung scheint mir der Autor nun nicht nur durch die theologische Tradition, sondern auch durch die idealistische Philosophie des Selbstbewußtseins gedrängt worden zu sein: Die Sünde wird als ein Ereignis in der Geschichte des individuellen Zu-sich-selbst-Kommen des Bewußtseins dargestellt (vgl. BA, 39ff.). Dieser begriffliche Rahmen ist in TL2,V aufgegeben; die Rede ist statt dessen pragmatisch orientiert, d.h. sie thematisiert nicht das Entstehen, sondern den Umgang mit der Sünde, und damit kann man auch sagen: sie thematisiert das Wiederentstehen oder Weiterbestehen der Sünde in ihrer praktischen Verfaßtheit. Das prinzipiell nicht-ableitbare, „qualitative" Entstehen der Sünde wird schlicht vorausgesetzt und in ein begriffliches Konzept integriert, das die Verortung der Sünde in dialogisch-leiblichen Kontexten beschreibbar macht. Der „Sprung" ist in diesem Rahmen der Sprung der Liebe, nämlich das kontingente Gelingen der Vergebung und der Verhinderung von weiteren Sünden. Der Unterschied zwischen den beiden Schriften zeigt sich letztlich im Geistbegriff: Im Begriff Angst ist der Geist qualitativ vom Leib-Seele-Verhältnis unterschieden; der Geist ist zwar das Dritte, worin Leib und Seele ihre Synthese finden (BA, 41), doch zugleich werden Leib, Seele und Geist hierarchisch geordnet (BA, 141; ebenso hierarchisch ist das Verständnis der Sinnlichkeit als Entfremdung des Geistes, s. die Ausführungen zur Scham BA, 68£). Andererseits ist auch die Revolte des Leibes gegen die Herrschaft des Geistes als eine Verschwörung der Freiheit gegen sich selbst, damit als ein Ereignis im Geist beschrieben (ebd.). Geist und Leib stehen so in einer fundamentalen Spannung zueinander: Der Geist ist immer schon leibgebunden, zugleich aber zielt er auf Ungebundenheit von Leib und Welt (vgl. W. Schulz, Geist, bea 361fñ). Auch in TL kommt das hierarschische Stufenverhältnis von Leib-Seelischem und Geistigem zum Zuge (s. 2,1). Doch wird der Geist hier als eine Weise des welthaften Handelns ausgelegt, z.B. als eine bestimmte Weise des Umgangs mit der Sünde und ihren Äußerungen; m.a.W. das Leib-Seele-Verhältnis ist nicht allein „Organ" des Geistes (BA, 141), sondern ist dessen wesentlicher Ausdruck und damit dessen wesentliche Wirklichkeit. Der ontologische Rahmen für TL ist nicht mehr die (psychologisch gewendete) Selbstbewußtseins-

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TL entfallen, ohne daß die Frage der individuellen Sünde relativiert oder empirisch-geschichtlich reduziert wäre. Die Fragestellung hat sich verschoben, damit aber auch der ontologische Ansatz: Die Wirklichkeit der Freiheit wird nicht mehr innerhalb eines transzendentalphilosophischen Rahmens des Zu-sich-selbst-Kommens des Freiheitsbewußtseins verstanden, sondern Freiheit wird als praktisches Problem expliziert: als eine Form des Umgehens mit der objektiv vorliegenden Sünde. Dieses Umgehen mit der Sünde nun hat in dieser Rede leiblichen Charakter: es ist ein Handeln in und mit der Öffentlichkeit der Sünder. Es ist im Medium dieser leibhaftigen Öffentlichkeit des Handelns, daß von Sünde und Freiheit die Rede ist. Im Begriff Angst war das Entstehen der Sünde unmittelbar an die Genese des Selbstbewußtseins gebunden. In unserer Rede hingegen wird die Wirklichkeit der Sünde im öffentlichen Raum leib- und sprachgebundener Intersubjektivität gestellt. Die paradoxe Unerklärbarkeit der Sünde wird damit nicht verneint, sondern die reale Wirkung der Sünde ebenso wie ihr Gegenbild, die realisierte Freiheit als Liebe, wird beschreibbar. Sünde wird zu einer Beschreibung von Öffentlichkeit und Geschichte, und diese Geschichte wird damit umgekehrt in einem „qualitativen" Sinn (in der Sprache des Begriffs Angst) beschreibbar. Die Rede beschreibt Sünde nicht nur als Möglichkeit des Individuums, sondern als Wirklichkeit praktischer Intersubjektivität 46 . Das Umgehen mit der Sünde des Anderen erweist sich als fundamentales Ereignis von Freiheit. Denn nicht nur ist die Sünde allein

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theorie, sondern liegt in dem oben explizierten pragmatischen Begriff der Selbstäußerung des Ewigen. Allein deshalb ist es, wie wir sehen werden, für die Rede möglich, die Liebe als Geistbegriff nicht auf der Ebene des individuellen Bewußtseins, sondern auf der Ebene der Interaktion, d.h. als ein Drittes zwischen zwei Handelnden, zu verorten. Auf dieser pragmatischen Ebene wird diejenige Spannung beschrieben, die Vigilius anthropologisch als die Angst des leibgebundenen Geistes beschrieben hatte. Pragmatisch kehrt diese Spannung wieder als die Mühsal und die Gefahr, die die Arbeit des Vergebens gegenüber dem Druck der „Welt" und ihres Sündendiskurses ausgesetzt ist. Diese andere, pragmatische Perspektive auf die Sündenthematik ist in gewisser Weise im Begriff Angst bereits angelegt, nämlich im Begriff der „zweiten Ethik" (BA, 18ff.). A. Gr0n versucht, den gesamten Entwurf von TL als die Umsetzung dieser angekündigten zweiten Ethik zu beschreiben (vgl. Subjektivitet, 278ff.). In meiner Interpretation hingegen tritt erst hier in 2,V eine Theorieform in Erscheinung, die einen solchen Vergleich erlauben könnte. Auch liegt der Ansatz dieser Theorie m.E. nicht, wie Gr0n behauptet, beim Siindcnbewußtsein, sondern beim Umgang mit der Sünde. Ist es nun möglich, die „zweite Ethik" als die Aufgabe zu bestimmen, mit der Sünde umzugehen, so läßt sich auch der Inhalt zumindest der folgenden drei Reden für diesen Ethikbegriff aufnehmen.

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durch Freiheit bestimmt, sondern dasselbe gilt ja auch für die Liebe, wie wir sahen: Das individuelle Liebenkönnen ist nicht denkbar ohne das fremde Liebenkönnen, und das bedeutet nun für die Rede über die Sündenmannigfaltigkeit, daß auch der Umgang der Liebe mit der fremden Sünde nicht ohne das fremde Liebenkönnen denkbar ist. Einen ersten Hinweis darauf, wie Kierkegaard dieser Ausgangsstellung gerecht wird, haben wir bereits bei dem Beispiel von der Ehefrau des Liebenden kennengelernt: Wenn die Liebe des Mannes wirksam sein soll, und damit auch für seine Frau Wirkung haben soll, so kann dies, zumindest an dieser Stelle, offensichtlich nur indirekt gedacht werden: Die Unterbrechung des Sündenzusammenhangs enthält auch für die verbitterte Ehefrau eine Möglichkeit, sich aus dem Zusammenhang der Sünde zu befreien; es enthält die Möglichkeit, neu und anders zu reagieren. Doch ist die wesentliche Indirektheit der Wirksamkeit hier nur sehr schwach angedeutet; ich werde im Verlauf meiner Darstellung weiter auf sie eingehen müssen. Der Begriff des Vergrößerns hat sich als Bezeichnung einer Wirksamkeit erwiesen. Ein bestimmtes öffentliches Umgehen mit der individuellen Sünde vergrößert die Wirklichkeit der öffentlichen Sünde, ein anderes verringert, „deckt" diese Wirklichkeit. Damit bezeichnet der Begriff „Mannigfaltigkeit der Sünde" einen Wirkungszusammenhang·. Die Teilnehmer des öffentlichen Diskurses wirken durch ihre individuellen (Sprech-) Handlungen aufeinander ein; es ist dieses Einwirken, das von der Rede als „Vergrößern" der Sündenmannigfaltigkeit bezeichnet wird. Die Mannigfaltigkeit ist ein Zusammenhang darin, daß dieser Sündendiskurs eine Kontinuität herstellt, eine quasi-substanzielle ,Wirklichkeit', welche sich zu den individuellen Handlungen wie das Ganze zu seinen Teilen verhält. Die Sündenmannigfaltigkeit ist ein eigener Kosmos, der in Analogie zur „Mannigfaltigkeit der Schöpfung" gestellt wird (311/271). Denoch hat diese Ganzheit eine praktische Form. Die Sündenmannigfaltigkeit wird dort vergrößert, wo auf die Sünde in einer Weise reagiert wird, die die Sünde fortsetzt und so zu einem umfassenden intersubjektiven Praxiszusammenhang macht. Der Begriff der Mannigfaltigkeit ist darin ein Praxisbegriff, daß er ein bestimmtes intersubjektives Reagieren auf die fremde Sünde benennt 47 . Entsprechend ist auch der Gegenbegriff zu 47

Dieser Begriff der Sünde als sozialer und geschichtlicher Zusammenhang ist im Begriff Angst bereits deutlich ausgeprägt. Vigilius Haufniensis nimmt die Schleiermachersche Interpretation der Erbsünde als „Gemeinschaftliches" und „Gesamttat" des Geschlechts auf (vgl. F. Schleiermacher, Glaube, § 71), um damit die

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verstehen, der das Thema der Rede ist: Die Liebe „deckt" die Sündenmannigfaltigkeit, und solches Decken ist dann das Unterbrechen dieses Zusammenhanges. Mit diesen beiden Begriffen, dem „Vergrößern" und dem „Decken", ist nun die Kategorie der Wirksamkeit zum Thema erhoben, die in 2,1 durch den Begriff des Aufbauens bereits angekündigt war. Hervorzuheben ist, daß in 2,V die Einführung der Wirkungskategorie in direkter Verbindung mit einem sehr starken Begriff von Sozialität und Öffentlichkeit steht. Die Verbindung dieser Begriffe liegt darin, daß es sich auf beiden Seiten um Handlungsbegriffe handelt: Wirksames Handeln konstituiert Öffentlichkeit im Sinne einer gegenseitigen Einwirkung zweier oder mehrerer Handelnder. Diese intersubjektive Einwirkung wird in den Handlungsmetaphern Decken und Vergrößern beschrieben. Das Verständnis von Öffentlichkeit und Sozialität als Handlungsbegriffe ist der Rahmen, in dem sowohl das Tun der Liebe wie die Gefärdung dieses Tuns gestellt sind. Deshalb sind auch gelegentliche Polemiken gegen bestimmte Formen des sozialen Umgangs48 als Zeitkritik zu verstehen, nicht aber als grundsätzliche Infragestellung der sozialen, relationalen Bestimmtheit des menschlichen Lebens. Theologisch gesprochen: Kierkegaards Kritik der sozialen Praxis („Weltlichkeit") ist zu unterscheiden von seiner Bewertung der geschöpflichen Ordnung des Menschseins als Gemeinschaftswesen49. Liebe und Sünde oder Weltlichkeit sind unterschiedliche Formen, diese soziale Bestimmtheit zu gestalten. Wenn ich behaupte, daß mit dem Begriff der Mannigfaltigkeit der Sünden die Dimension der Öffentlichkeit angesprochen ist, so bedeutet dies auch: In diesem Begriff ist das bloß private Verhältnis zwischen zwei Akteuren überschritten. Der übergreifende praktische Zusammenhang des Diskurses fungiert in gewisser Weise als eine dritte Größe; die Ehefrau im zuletzt zitierten Beispiel verkörpert diese dritte Größe exemplarisch: Die Sünde entsteht im Verhalten der Mitmenschen zu ihrem Mann, doch es ist das Verhalten der Frau ge-

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geschichtliche Wirkung der Sünde als Angst der Geschlechtlichkeit darzustellen: „Angst als Erbsünde im Fortschreiten" (BA, 51ff.). Vgl. etwa 314/273: „Aber im Umgang, in Gesellschaft, wenn man zu vielen oder doch zu mehreren beisammen ist, und also der Vergleich, das Vergleichs-Verhältnis in der Gesellschaft eine Rolle spielt, worüber die Eitelkeit unmöglich unwissend bleiben kann; dann reizt einer den anderen, zu verraten, was er entdeckt hat." Diese Differenzierung läßt sich beispielweise im Kontext des in Anm. 48 zitierten Abschnittes aufzeigen: der betreffende Absatz ist sachlich und terminologisch gerade bestimmt durch die Unterscheidung der kreatürlichen Güte des Menschen („im Grunde", 313/2721) von der Sünde als Praxisform der „Welt" (313/273).

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3. Kapitel: Das Können

genüber dieser Sünde, das als ein Beitrag zur Sündenmannigfaltigkeit zu bewerten ist. Der kategorial dritthafte Status des „Diskurses" liegt also in der Tatsache, daß es sich hierbei um ein Sich-Verhalten-zu, um ein Reagieren auf eine bestimmte Wirklichkeit handelt. Fragen wir nach dem Handlungscharakter der Liebe, so müssen wir also an dieser Stelle nach den praktischen Formen fragen, in denen der Liebende auf die fremde Sünde reagiert. Dies ist dann auch die Stelle, an der wir die expressive Wirklichkeit der Liebe als einem „Drittem" beschreiben können.

2.2. Wirkung durch Formen des Reagierens: Regel, Rhetorik und Zeichen Wir haben gesehen, daß im Kontext dieser Rede die Wirksamkeit des Handelns in der Form des Re-Agierens, des Umgangs mit einer begegnenden Wirklichkeit geschildert wird. Wie ist nun die Reaktionsweise der Liebe zu beschreiben, wenn sie als wirklich-wirksames „Decken" der Sündenmannigfaltigkeit verstanden werden soll? Welches sind die Handlungsformen, in denen ein Handelnder so auf die Sünde reagiert, daß er sie durch sein Handeln nicht fortsetzt? Dies ist die wesentliche Frage für die Rede, und sie wird beantwortet in drei thematisch differenzierten Durchgängen. Jeder dieser Durchgänge orientiert sich an einem anderen Aspekt der Handlungsmetapher „decken [at skjule]". Für unsere handlungstheoretische Fragestellung ergeben sich daraus drei unterschiedliche Formen des Handelns im Sinne des Umgehens mit oder des Reagierens auf die Sünde eines Anderen. a) Der erste Durchgang entfaltet das „Decken" als Nichtentdecken der Sünde. Dieses Nichtentdecken wird zunächst mit einem polemischen Bild der Öffentlichkeit kontrastiert, wie Kierkegaard sie in seiner Gesellschaft wahrnimmt. Dieser öffentliche Diskurs ist demnach fundamental von dem Bedürfnis geprägt, das Schlechte und Böse zu entdecken. Die ursprünglich naturwissenschaftliche Orientierung an Entdeckungen dringt normativ in das soziale Verhalten ein: „Denn selbst in Bezug auf das Böse, in Bezug auf die Sünde und die Mannigfaltigkeit der Sünde ist das Entdecken, ist der schlaue, listige, durchtriebene, vielleicht sogar ein wenig halbverdorbene Beobachter, der richtig entdecken kann, in der Welt hoch angesehen" (313/272). Wie ist gegenüber dieser Kultur des Entdeckens das Nicht-Entdek-

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ken in bezug auf die Sünde zu verstehen? Zunächst kann es nicht ein bloßes Verschließen der Augen vor dem Offensichtlichen sein. Entdecken und Nichtentdecken sind überhaupt keine Formen eines bloß unmittelbaren Sehens, sondern es sind Formen des Verstehens, wie Kierkegaard am hypothetischen Fall eines Kindes in einer Räuberhöhle zeigt: Das Kind sieht das Böse um sich herum in allen Einzelheiten, aber es versteht diese Handlungen nicht als Böses. Was dem Kind also fehlt, ist „der Verstand [Forstaná] für das Böse"; doch der Verstand für das Böse ist „im Verständnis [Forstaaelse] mit dem Bösen" (315/274). Das Nicht-Entdecken der Sünde ist also ein bestimmtes Verstehen der Sünde, das nicht im „Verständnis" mit der Sünde ist. Wie ist das zu verstehen? Zunächst ist das Beispiel des Kindes kein Zufall, sondern thematisch motiviert: Das Kind steht für die noch von keiner Weltlichkeit zerstörte ursprüngliche Reinheit oder Unschuld. Solche Unschuld illustriert die Rede auch noch an einigen weiteren Figuren: Erstens ist da der Verliebte, der ganz in seine Liebe versunken ist und deshalb von den „klugen" Weltmenschen ebenso verspottet wie auch heimlich bewundert wird (314/273f.). Zweitens ist die Rede von einem „göttlichen Wahnsinn", der darin besteht, „liebend das Böse nicht sehen zu können, das gerade vor einem liegt" (317/276). Schließlich ist es das Bild des gefangenen Christus, der vielen feindlichen Blicken ausgesetzt war, und doch in diesen vielfältigen Zeichen des Hasses „nichts entdeckte" (ebd.), und gerade dadurch die Sündenmannigfaltigkeit deckte. Wie diese Wirkung zu verstehen ist, habe ich bereits zu erklären versucht. Doch wie läßt sich das Decken, Nichtentdecken selbst in seiner Möglichkeit verstehen? Was sagen die angeführten Beispiele über das Nichtentdecken als expressive Wirklichkeit aus? Wie kann das Nichtentdecken positiv, d.h. als eine Form des Reagierens auf die Sünde verstanden werden? Die Handelnden in den angeführten Beispielen verstehen die Sünde nicht. In gewisser Weise leben sie in einer anderen Wirklichkeit als ihre Umwelt. Gerade diese andere Wirklichkeit ist es wohl, auf die das Beispiel des Wahnsinns zielt. Die andere Wirklichkeit, die vom Liebenden wahrgenommen wird und in der er liebt, ist die Wirklichkeit der ursprünglichen Güte der Menschen. Es ist die Entdeckung, „wie gutmütig doch im Grunde [i Gründen] wohl beinahe jeder Mensch ist" (313/272). Doch wie kann nun diese Entdeckung als Reagieren auf die fremde Sünde verstanden werden? Kierkegaard gebraucht an einer Stelle die Metapher des Spielens zur Beschreibung dieser besonderen Interaktion: „Es ist etwas so unendlich Erha-

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benes, und doch zugleich etwas so Kindliches, etwas, das ans Spiel des Kindes erinnert, wenn dergestalt der Liebende, indem er überhaupt nichts entdeckt, die Mannigfaltigkeit der Sünden deckt - etwas, das ans Spiel des Kindes erinnert; denn auf die Art spielen wir ja mit dem Kind, wir spielen, daß wir das Kind nicht sehen können, welches doch vor uns steht [...] Das Kindliche liegt hier nun darin, daß der Liebende, wie bei einem Spiel, mit offenen Augen nicht sehen kann, was gerade vor ihm geschieht, das Erhabene liegt darin, daß es das Böse ist, was er nicht sehen kann" (316/275). Die Liebenden reagieren auf die Sünde, indem sie ein anderes Spiel spielen. Ein anderes Spiel zu spielen bedeutet, anderen Regeln zu folgen. Es ist hier keine Rede davon, daß der Liebende andere Regel einsetzt. Er wird lediglich darin beschrieben, daß und wie er anderen Regeln folgt. Gerade darin besteht sein Handeln des Nichtentdeckens: einer bestimmten Spielregel zu folgen, ein bestimmtes Versteckspiel zu spielen50. Die Liebe, die die Sünde nicht entdeckt, ist, so kann man sagen, ein bestimmtes Spiel, d.h. ein System von Regeln. Und die Handlung des Liebenden besteht darin, dieses Spiel nach seinen Regeln zu spielen. Das Spielen dieses Spiels ist die dritthafte, expressive Wirklichkeit der Liebe. Expressiv ist es darin, daß es immer schon ein Ausführen der Regeln, ein Spielen des Spiels ist, nicht aber eine Reflexion auf die Regeln; diese Spielregeln sind immer schon „Regeln in Anwendung" 51 . Die Handlung ist das regelgeleitete Spielen, die Konstitution

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L. Wittgenstein hat ein Handlungsverständnis begründet, wonach Handeln als das Befolgen einer Regel zu verstehen ist, vgl. Untersuchungen, §§ 197ft Der Regelbegriff meint dabei eine pragmatisch unhintergehbare, logische Voraussetzung des Handelns in Form von „Gepflogenheiten" (ebd. § 199). Handeln als Regelbefolgung ist das apriorische Verflochtensein des Handelnden in ein Hintergrundwissen, das handelnd angewandt und interpretiert wird (vgl. C. McGinn, Wittgenstein, 53ff.; C. Taylor, Rule). Der Zusammenhang dieses Regelbegriffs mit der Erörterung des Spiels bzw. des „Sprachspiels" (s. L. Wittgenstein, ebd. § 7) ist es, der die Analogie des von Kierkegaard beschriebenen Spiels zu Wittgensteins Regelbegriff herstellt. Zu der systematischen Nähe zwischen Kierkegaard bzw. TL und Wittgenstein hinsichtlich des Regelbegriffs finden sich Andeutungen bei J. Glebe-M0ller, Two Views, bes. 105£ R. Bubner, Handlung, 183; in Anlehnung an J. Searle, Sprechakte kann man hier auch von „konstitutiven" im Unterschied zu „regulativen" Regeln sprechen: „Regulative Regeln regeln eine bereits existierende Tätigkeit, eine Tätigkeit, deren Vorhandensein von den Regeln logisch unabhängig ist. Konstitutive Regeln konstitutieren (und regeln damit) eine Tätigkeit, deren Vorhandensein von den Regeln logisch abhängig ist" (ebd. 54f.); ebendies finden wir in der oben zitierten Passage aus TL: „wir spielen, daß wir das Kind nicht sehen können, welches doch vor uns steht". Dasselbe Verhältnis von Regel und (Nicht-)Sehen hatten wir bereits in

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der Regel aber liegt jenseits des Handelns. Die tatsächliche Geltung der Regel ist identisch mit der Wirklichkeit der Liebe selbst, oder die Regel wird allein durch die Wirklichkeit der Liebe konstituiert; die Liebe ist darin expressiv, daß sie eine Handlungsregel in Kraft setzt und ein Spiel spielen läßt. Auch die Regel dieses Spiels läßt sich in der Rede finden: es ist die bereits benannte Entdeckung der ursprünglichen Güte der Menschen. Und diese ,Regel' verweist wieder zurück auf den Basissatz des reziproken Liebenkönnens aus 2,1: daß die Liebe beim Anderen „im Grund" vorhanden ist. Interessanterweise taucht in diesem Kontext die Terminologie der Vorbildchristologie auf (s. 317/276). Das Beispiel des leidend-nichtentdeckenden Christus ist das Vorbild, das dabei hilft, jene Regel wiedereinzuüben, die jedes Kind „im Grunde" schon kennt und quasi instinktiv befolgt. Das Kind in der Räuberhöhle ist gewissermaßen das (romantische) Urbild, die ursprüngliche Artikulation der Regel, die keine Sünde erkennt. Der leidende Christus dagegen ist das Vorbild, der diese Regel unter bestimmten geschichtlichen Umständen anwendet und damit die Nachahmung, d.h. eine entsprechende Regelbefolgung ermöglicht und fordert. 52 Ist diese Spielregel in Kraft und wird befolgt, so ist damit die Kontinuität der Sünde, ihre Mannigfaltigkeit, unterbrochen, indem jemand, der mit der Sünde des Anderen konfrontiert wird, das Sündenspiel nicht

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TLl.ll B-C entdeckt (s.o. Kap. 2,1.2. und 3.). L. Wittgenstein, aaO. § 201 zeigt die Unmöglichkeit, die bestimmte Regelbefolgung auf eine dahinterliegende Reflexion („Deutung") zurückzuführen; die jeweils aktuale Regelbefolgung wird hier als „Äußerung" und „Ausdruck" einer bereits gültigen Regelhaftigkeit bezeichnet. Die Einführung der Vorbildchristologie an dieser Stelle gewinnt durch den Kontext von Spiel- und Regelbeschreibungen eine besondere Pointe: Das beispielhafte Handeln ist nämlich entscheidend für das verstehende Anwenden einer Regel und insofern für ein regelgeleitetes Handeln unverzichtbar, vgl. D. Böhler, Pragmatik, 226: „Das Entwerfen und Vorführen eines Paradigmas ist ein spezifisch kommunikatives, auf Entsprechung und Fortsetzung angelegtes Handeln [...] auch das routinierte exemplarische Handeln, das keine neuen Paradigmen entwirft, sondern altbekannte Beispiele gibt (was etwa Lehrer und Erzieher oft tun), ist auf eine weitergehende Geschichte seines Gebrauchs angelegt. Es eröffnet eine Gebrauchsgeschichte, die mögliche Veränderungen einschließt - eine Geschichte der situativen Anwendung und möglichen situativen Veränderung von Sinn. Wer ein Beispiel gibt, provoziert eben damit einen Prozeß künftigen situativen Sinngewinns." Das Verhältnis der beiden Beispielfiguren, des Kindes und des Christus, spiegelt genau das Verhältnis zwischen einer ursprünglich gegebenen Regel (die von Kierkegaard allerdings nicht als kulturelles Regelwerk, sondern wohl eher im Sinne eines anthropologischen Grunddatums verstanden wird) und seiner geschichtlichen Applikation, die wiederum eine bestimmte „Gebrauchsgeschichte" initiiert.

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mitspielt, sondern ein neues, anderes Spiel beginnt. Die Kontinuität der Sünde wird hier gewissermaßen nur für den Bereich des Spielers unterbrochen: er verhindert für sich selbst die Verbitterung; mit Verbitterung auf die Sünde zu reagieren hieße, das Spiel der Sünde mitzuspielen, ihren Regeln zu folgen und ihre Sprache weiterzusprechen. Auswirkungen auf andere Beteiligte hingegen, z.B. auf die Ehefrau oder die sündig Handelnden, lassen sich an diesem Punkt nur sehr schwach und indirekt benennen. Doch diese weitergehende Wirkung wird zunehmend in das Zentrum der Rede treten. b) Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit dem Umgehen mit der Sünde, wenn diese nicht mehr zu übersehen ist. Die Reaktion des Liebenden auf die nunmehr für ihn selbst manifest gewordene Sünde wird unter den Stichworten des Verschweigens, der mildernden Erklärung und der Vergebung beschrieben (318ff./277ff.). Damit steigt der Liebende selbst in den öffentlichen Diskurs über die fremde Sünde ein. Das „bedeckende" Handeln der Liebe ist nunmehr selbst als diskursives Handeln, als eine bestimmte Rhetorik innerhalb des Sündendiskurses zu beschreiben. Der Zusammenhang der Sünde ist jetzt rhetorisch zu unterbrechen. Erneut wird das Kontrastbild einer nach dem Bösen suchenden Öffentlichkeit gemalt. Gegenüber der „teuflischein) Leidenschaft" dieses Diskurses ist zunächst schon die bloße Enthaltsamkeit, die Verweigerung der Teilnahme eine Weise, die Sündenmannigfaltigkeit zu decken. Doch bleibt Kierkegaard nicht dabei stehen. Der nächste Schritt ist die eigene rhetorische Handlung der Liebe: Kierkegaard beschreibt die „mildernde Erklärung" als Teilnahme an dem öffentlichen Sündendiskurs. Diese Rhetorik der Liebe hat erstens quasi-institutionellen Charakter: „Wir halten es für ein beschwerliches, aber in anderer Hinsicht auch zufriedenstellendes 1\in, der Diener der Gerechtigkeit zu sein, der Schuld und Vergehen entdeckt [...] wir bewundern es, wenn es einem solchen Diener der Obrigkeit gelingt, durch Aushalten mit einem recht verstockten und durchtriebenen Heuchler, wie er ihn nennt, diesem dennoch den gleisnerischen Schein zu entwinden und die Schuld offenbar zu machen. Sollte es nicht ebenso befriedigend, ebenso fesselnd sein, durch rechtes Aushalten mit dem, was man ein selten niedriges Verhalten nennt, zu entdecken, daß es etwas ganz anderes, etwas Wohlgemeintes wäre!" (322f./280f.). Der strafenden Obrigkeit stellt Kierkegaard hier eine Art Anwaltsamt entgegen (ohne damit das Recht der Obrigkeit auf Strafverfolgung in Frage zu stellen!), das allein darauf aus ist, eine Erklärung für das Handeln des

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Angeklagten zu finden, die diesen in einem besseren Licht erscheinen ließe. Solches Erklären geschieht in der Öffentlichkeit und gegenüber der anklagenden Öffentlichkeit, und es ist dieser öffentliche Platz, der dem Erklären seinen eigentümlichen Amtscharakter in der Beschreibung einbringt. Doch eine zweite Charakterisierung ist wichtig: Solches Erklären ist eine Kunst im Sinne einer lebenslang erworbenen Handlungsfertigkeit: „Denk dir einen solchen Liebenden, von der Natur ausgerüstet mit den herrlichsten Gaben, um die ihn jeder Richter beneiden müßte; aber diese Gaben würden alle angewandt mit einem Eifer und einer Anstrengung, von denen ein Richter Ehre hätte, um sich im Dienst der Liebe in der Kunst zu üben, und um die Kunst auszuüben, die Dolmetschkunst [Fortolkningskunst], die mit Hilfe einer mildernden Erklärung die Mannigfaltigkeit der Sünden deckt!" (323/281). Diese Kunst hat die Form von Sprechhandlungen, durch die eine bestimmte Wirklichkeit konstituiert wird: Der Verteidiger muß die anklagende Öffentlichkeit rhetorisch von der Güte des Angeklagten überzeugen. Doch Kierkegaard macht klar, daß hier kein manipulatives Rhetorikverständnis gemeint ist: ausfürlich beschreibt er die Langwierigkeit der Suche nach der Erklärung; denn diese Erklärung muß tatsächlich das Gute im Angeklagten finden, nicht nur das scheinbar Gute, das die Öffentlichkeit überzeugen könnte. Die Kunst des Erklärens besteht darin, so lange zu suchen, bis es dem Erklärenden tatsächlich gelingt, „das Gute oder doch das Bessere zu entdecken, weil er sein Urteil lange, lange in der Schwebe gehalten hatte, bis, ganz richtig, ein kleiner Umstand an den Tag kam, der ihm auf die Spur half" (ebd.). Erst wenn er das wirklich zugrundeliegende Gute entdeckt hat, erst dann hat er auch „mit seiner Erklärung gesiegt" (ebd.) 53 . Die Erklärung siegt, indem sie das Gute im Angeklagten findet und der Öffentlichkeit überzeugend mitteilt; man kann auch sagen: die Erklärung siegt, indem sie das verborgene Gute des Angeklagten öffentlich zu artikulieren vermag. Es ist diese Artikulation des verborgenen Guten, d.h. der im Grunde präsenten Lie-

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Dieses Insistieren auf das reale Sein des Guten und des damit gegebenen realistischen Sinnes der Erklärung verweist auf Kierkegaards Verständnis der Aristotelischen Rhetorik. Nach Pap. VI A 1 sieht er in der Rhetorik die eigentliche ontologische Wissenschaft des Aristoteles. D.h. in der Rhetorik geht es um das Verhältnis von Sein und Nicht-Sein, indem ein Redner bei seinen Hörern „Glauben (pistis) weckt im Verhältnis zu Wahrscheinlichkeit" (Pap. VI A 19; vgl. VI C 2). Für einen bloß wahrscheinlichen, nicht apodiktisch gewissen Sachverhalt Glauben zu wecken bedeutet, diesen Sachverhalt als etwas Seiendes in einer Öffentlichkeit zu etablieren.; vgl. ferner o. Kap. 3,11., Anm. 52.

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besfähigkeit des Anderen, die den Wirkungszusammenhang der Sünde unterbricht, indem sie das Gute des Sünders zur allgemeinen, öffentlichen Anerkennung bringt. Das „wie [hvorledes]" oder die Modi dieser Sprachhandlungen, in denen das verborgene Gute artikuliert wird, sind übrigens, wie Kierkegaard ausführlich betont, dieselben, die wir bereits in 2, II-III kennenegelernt haben: Alles glauben und alles hoffen „sind die beiden Haupt-Hilfsmittel, welche die Liebe, dieser milde Dolmetscher, zu der mildernden Erklärung gebraucht" (324/282)54. Der begriffliche Zusammenhang ebenso wie die thematische Entwicklung zwischen II-IV und V wird somit ausdrücklich benannt. Doch ist damit die rhetorische Leistung der Liebe innerhalb des Sündendiskurses noch nicht ausgeschöpft. In ausgesprochener Dichte geht die Argumentation nun zum Begriff der Vergebung über. Vergebung wird als ein Zunichtemachen, ein Wegnehmen der sichtbaren Wirklichkeit der Sünde beschrieben. Doch die Schwierigkeit besteht in diesem Kontext darin, die Sünde als etwas wegzunehmen, das auch und gerade für die Anderen, für die Öffentlichkeit sichtbar ist. Die Vergebung muß öffentliche Wirksamkeit haben mit dem Effekt, daß auch für die Öffentlichkeit nichts mehr von der Sünde zu sehen ist. Die Vergebung des Opfers gegenüber einem Täter muß als so wirklich beschrieben werden, daß auch für die Öffentlichkeit nichts Sündiges mehr übrig bleibt, auf das sie noch so reagieren könnte, wie sie herkömmlicherweise auf eine Sünde reagiert: mit Strafen. Ein solches Reagieren auf die Sünde wäre erneut eine Fortsetzung des sündigen Umgangs mit der Sünde. „Wenn eine Sünde nicht vergeben ist, fordert sie Strafe, sie schreit zu den Menschen oder zu Gott nach Strafe; aber wenn eine Sünde nach Strafe schreit, so sieht sie ganz anders aus, viel größer, als wenn dieselbe Sünde vergeben ist" (327/284). Deshalb muß die Vergebung als so realistisch wie möglich gedacht werden, als ein Zunichtemachen der Sünde im ontologischen Sinn.

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Diese Stelle bestätigt noch einmal nachträglich die oben vorgenommene Interpretation von Glauben und Hoffen als expressive Elemente einer Sprachhandlung. Sie bilden, wie Kierkegaard hier sagt, das „wie [hvorledes]" einer rhetorischen Praxis der Liebe. Wäre es möglich, die hier verwendeten Begriffe „wie" und „Hilfsmittel" im Sinne einer kausalen Voraussetzung oder Ermöglichung des Handelns zu verstehen, so wäre damit ein Verständnis von Glaube und Hoffnung als Dispositionen möglich. Doch scheint mir, daß diese beiden Begriffe hier erneut primär als affektiv-modale Elemente einer bestimmten Handlungsform, nicht aber als (kausale) Handlungserklärung zu gelten haben.

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Solches Zunichtemachen ist die Vergebung zunächst darin, daß sie das Vergangene, die erlittene Sünde, vergißt. In analoger Rede kann dieses Vergessen als eine Umkehrung der Schöpfung interpretiert werden, das dem Gewesenen alles Sein entreißt: „Vergessen, wenn Gott es in Bezug auf die Sünde tut, ist das Gegenteil von Schaffen; denn Schaffen heißt, etwas aus Nichts hervorbringen, Vergessen heißt, etwas ins Nichts zurücknehmen [at tage tilbage i Intet]" (326/284). Doch solches Vergessen muß einen leiblichen, sichtbaren Ausdruck haben; sonst könnte weder der Sünder noch, und dies scheint in diesem Kontext entscheidend zu sein, die Öffentlichkeit etwas davon merken. Die leibliche Form von Gottes Vergessen ist, daß er die Beziehung zum Sünder wieder aufnimmt, indem er die Sünde hinter sich wirft: „Und gerade derart vergibt der Liebende; er vergibt, er vergißt, er löscht die Sünde aus, liebend wendet er sich dem zu, dem er vergibt; aber wenn er sich ihm zuwendet, kann er ja nicht sehen, was hinter seinem [sc. des Liebenden] Rücken liegt" (ebd.). Durch die leibhaftige Zuwendung zum Anderen gerät die Sünde außer Sicht, indem sie der Liebende nun hinter sich, auf seinem Rücken hat. Diese Zuwendung in ihrer leiblichen Elementarität und Erkennbarkeit ist es, durch welche die Sünde in einer öffentlichen Weise zunichtegemacht und so der öffentliche Wirkungszusammenhang der Sünde unterbrochen ist. Ein bloß inneres Vergessen ohne leiblichen Ausdruck hätte keine Wirkung, weil es die Sichtbarkeit der Sünde nicht durch eine andere sichtbare, leibliche Form ersetzen würde. Vergessen muß zur Gestik werden, um reale Vergebung sein zu können. Und allein durch solche Zeichen und Verkörperungen der Vergebung sind Täter, Opfer und Öffentlichkeit miteinander wirksam in Beziehung zu bringen. Insofern ist auch die Vergebung, wie sie hier beschrieben wird, als eine rhetorische Zeichen-Handlung zu verstehen. „Was tut also jemand, der die Vergebung verweigert? Er vergrößert die Sünde, er bewirkt, daß sie größer scheint. Und darüber hinaus: Vergebung nimmt das Leben von der Sünde; aber die Verweigerung der Vergebung nährt die Sünde" (327/285). Das hier angesprochene Wachsen ist wohl auf alle zu beziehen, die an diesem Diskurs teilnehmen: sowohl der individuelle Sünder wie sein Opfer wie auch die Öffentlichkeit der Mitmenschen, sie alle sind davon betroffen, wenn die Sünde weiterwachsen kann, statt durch einzelne Vergebungshandlungen am Wachsen gehindert zu werden. Sie alle sind durch ihr spezifisch unterschiedenes Handeln verantwortlich auf die Mannigfaltigkeit der Sünde bezogen: „daß eine Sünde währt, ist eine neue Sünde" (ebd.). Dies eben ist die Formel für die Kontinuität der Sünde.

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c) Die dritte Form, in der die Liebe den Sündenzusammenhang unterbricht, ist die Weise, in der die Liebe bereits das Entstehen der Sünde „verhindert" und „erstickt [...] in der Geburt" (327ff./285ff.). Hier wird Liebe in ihrer expressiven Wirklichkeit interpretiert durch die Begriff „Anlaß" und „Umgebung". Denn Sünde entsteht immer in einem Verhältnis zu einem Anlaß, der aus der Umwelt des Handelnden an diesen herantritt. Kierkegaard hütet sich davor, dem Anlaß die entscheidende oder gar ausreichende Bedingung in Hinblick auf die Sünde zuzuschreiben; denn damit wäre der Ursprung der Sünde in der Freiheit unmöglich gemacht. Aber deutlicher als in anderen Schriften hebt er die Bedeutung des Anlasses als einer notwendigen Bedingung der Sünde hervor. In dieser Weise kann dann auch die notwendige Bedeutung der Umgebung für das Entstehen der Sünde nicht geleugnet werden: „Wenn die Sünde in einem Menschen von Sünde umgeben ist, ist sie in ihrem Element. Genährt durch die Häufigkeit des Anlasses wächst und gedeiht sie" (328/286). Doch wie ist der Begriff des Anlasses genauer zu bestimmen? Die Funktion des Anlasses wird in einem dialogischen Schema beschrieben: „Das Gebot, das Verbot reizt, gerade weil es das Böse bezwingen will; und nun nimmt die Sünde den Anlaß, sie nimmt ihn, denn das Verbot ist der Anlaß. So ist denn der Anlaß gleichsam ein Nichts, ein flüchtiges Etwas, das zwischen der Sünde und dem Verbot einhergeht, in gewissem Sinne beiden zugehört, während es in einem anderen Sinne gar nicht da zu sein scheint, ungeachtet doch wieder nichts, was wirklich geworden ist, das ohne einen Anlaß geworden wäre" (328/285). Ich möchte vorschlagen, diese Struktur des Anlasses über den Zeichenbegriff zu interpretieren: Der „Anlaß" ist als ein Zeichen zu verstehen, das in seinem Objektbezug von einem Rezipienten aufgenommen und in Form von Reaktionshandlungen interpretiert wird55. Das Zeichen in Form einer bestimmten expressiven Handlung steht dann gewissermaßen ,zwischen' dem, was sich in ihm ausdrückt (Objektbezug), und der freien Reaktion des Interpretanten; es gehört in gewissen Sinne zu beiden, und ist doch andererseits „gar nicht da". Damit wären sowohl die Notwendigkeit als auch die Nichtigkeit des Anlasses für eine Handlung gewahrt, und die Reaktion muß nicht mechanistisch gedacht werden. Die Sünde ist „in einem Menschen" (328/286), aber sie steht zugleich im Verhältnis zu einer „Umwelt", die ihr Anlässe gibt, d.h. die ihr Zeichen gibt, auf die sie reagiert, in55

Zum Zeichenbegriff und insbesondere zu der hier angedeuteten dreigliedrigen Struktur vgl. H. Deuser, Semiotik.

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dem sie real wird in Form von sündigen Handlungen. Für unseren Kontext bedeutet dies: So wie das Gesetz zu einem Zeichen wird, das in Form der Sünde interpretiert werden kann, so wie eine bestimmte Struktur der Umwelt zu einem Zeichen für die Sünde wird, so muß umgekehrt die Liebe als ein Zeichen beschrieben werden, das eine nicht-sündige Interpretation oder Reaktionshandlung ermöglicht. Und in eben dieser Weise beschreibt Kierkegaard auch den Zusammenhang von Liebe und Anlaß: „in Bezug auf die Sünde ist doch keine Umgebung so zwingend, aber zugleich keine zwingende Umgebung so heilsam wie Liebe. Wie oft wurde nicht der Zorn, der im Innern glomm und bloß auf einen Anlaß wartete, wie oft wurde er nicht erstickt, weil die Liebe keinen Anlaß gab" (329/286f.). Die Liebe gibt der Sünde keinen Anlaß, sie gibt kein Zeichen, auf das die Sünde reagieren könnte. Auf den eben zitierten Fall folgen an derselben Stelle noch vier weitere Beispielfälle, in denen dieser Interaktionsprozeß zwischen einem Zeichen und dessen Interpretation beschrieben wird; viermal bleibt die Reaktion der Sünde aus, „weil die Liebe überhaupt keinen Anlaß gab" (ebd.). Der Begriff des Anlasses darf nun aber nicht auf ein bloß zweistelliges Verhältnis zwischen Zeichen und Interpretation (Reaktion) beschränkt werden. Vielmehr ist dieses zweistellige Verhältnis überhaupt nur zu verstehen, wenn der Objektbezug als die dritte Größe in der Struktur wahrgenommen wird. Es ist eben die Liebe selbst und nicht bloß der Liebende, die ein Zeichen von sich gibt (indem sie keinen Anlaß zur Sünde gibt). Das bedeutet, das Zeichen der Liebe wirkt nur dann in der beschriebenen Form, wenn es als Zeichen der Liebe interpretiert werden kann, d.h. wenn in ihm der Interprétant die aufbauende Liebe des Handelnden wahrnehmen kann. Solches Aufbauen hat jeweils konkrete, der Situation entsprechende Formen der Affirmation und Anerkennung; aber es ist stets die Liebe als Drittes, die sich in diesen konkreten Formen zum Ausdruck bringt, oder semiotisch gesprochen: die Liebe ist das Objekt, das den Ausdruck (Zeichen) bestimmt: „Wie oft erstarb nicht die böse Lust, die in der Neugier wollüstiger Angst auf der Lauer lag und nach einem Anlaß spähte, wie oft erstarb sie nicht in der Geburt, weil die Liebe überhaupt keinen Anlaß gab" (ebd.). Dem Anderen in nicht-ängstigender Weise zu begegnen bedeutet positiv, ihn in Formen von angstfreier Anerkennung seiner Handlungs- und Liebesfähigkeit anzuerkennen. Und solche Anerkennung ist nach 2,1 eben die Weise, in der sich die Liebe selbst aufbauend mitteilt. Das exemplarische Zeichen der Sünde ist die Angst in ihren vielfältigen Formen 56 , und die Liebe

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kann entsprechend als das der Angst genau entgegengesetzte Zeichen verstanden werden. Die zuletzt benannten positiven Beschreibungen des Zeichenhandelns der Liebe gehen freilich über das hinaus, was der Text explizit selbst sagt. Kierkegaard hält sich auch hier durchgehend an eine negative Deskription: die Liebe gibt keinen Anlaß. Wie dieser Nichtanlaß aussieht und was sich in ihm ausdrückt, bleibt unbetont. Die von mir versuchte semiotische Interpretation des Anlaßbegriffes will auf die zugrundeliegende, implizite Positivität aufmerksam machen: daß in konkreten Handlungskontexten erstens auch solches Nicht-Handeln stets nur als eine bestimmte Form von Handeln verstanden werden kann, die zweitens als eine Weise, in der sich die Liebe selbst als das Subjekt dieses Handelns zum Ausdruck bringt, zu begreifen ist. Mit den Aussagen über das Zeichenhandeln der Liebe ist die stärkste Form der Wirksamkeit erreicht, in der die Liebe den Zusammenhang der Sünde unterbricht. Zugleich ist damit die stärkste Form von Expressivität erreicht. Die Liebe ist eine expressive Wirklichkeit in Form einer Zeichenstruktur, d.h. in Form einer solchen leibhaftigen Gestaltung der Umwelt eines Anderen, die es ihm ermöglicht, auf diese Umwelt in der Form der Liebe zu reagieren. Liebe ist die bestimmte expressiv-affektive Gestaltung eines Handlungsraumes, sie ist Selbst-Äußerung in Form von bestimmten Zeichen. Zugleich ist in diesem Äußerungsbegriff, im Begriff der Liebe als (Nicht-) Anlaß oder Zeichen, die Reaktion des Rezipienten mitgedacht. Dies ist der Schritt zur Thematisierung der Interaktion, wie sie in den Reden 2,1156

Im Begriff Angst ist die Angst einerseits vom äußeren Anlaß zu unterscheiden, da sie eine Leistung der freien Subjektivität darstellt. Andererseits ist sie doch auch konstitutiv auf den Anlaß bezogen, wie die intentionale Erklärung durch den Pathosbegriff deutlich macht (s. BA, 40: „Angst ist eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie"). Gleichwohl ist deutlich, daß im Begriff Angst die intrasubjektive Perspektive eindeutig über die intersubjektive Perspektive dominiert: Angst wird primär als psychologische Komponente der Selbsttätigkeit des Subjekts beschrieben; die Tendenz geht dahin, den äußeren Anlaß zu eliminieren, so daß die Angst letztlich an jedem Gegenstand entstehen könnte. Die bestimmten äußeren Gegenstände der Angst verlieren ihre Bedeutung bei der Entstehung der Angst. Andererseits wird der Status der Angst als „Zwischenbestimmung" erkannt (BA, 48), womit sich das Verständnis der Angst an die Beschreibung des Anlasses in 7X2, V annähert. In TL nun ist die Angst aus ihrer bloß intrasubjektiven Verortung herausgeholt und ihr Bezogensein auf bestimmte Zeichen und Anlässe herausgestellt. Auch hier kann die Sünde subjektiv immer noch an allen möglichen Anlässen entstehen, aber die Erörterung wendet sich nun den bestimmten Formen dieser Anlässe zu; erst durch diese Bestimmtheit wird der Anlaß zum Zeichen und die monokausale Erklärung der Sünde überwunden.

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IV noch nicht im Blick war. Damit zeigt sich auch die Bedeutung der negativen Form dieser Argumentation: Das bloß negative Verhindern ist die Kehrseite der positiven Freiheit des Anderen, auf die NichtAnlässe (also auf die Zeichen der Liebe) mit seiner eigenen Liebe zu reagieren. Fassen wir die drei thematischen Durchgänge zusammen: Die Rede gibt Beschreibungsformen von der Wirksamkeit der Liebe und ihrer expressiven Wirklichkeit, die ich mit den Begriffen Regel, Rhetorik und Zeichen handlungstheoretisch zu verorten versucht habe. Diese Begriffe beschreiben das Werk der Liebe als wirksames und heilsames Eingreifen in den Diskurs über die Sünde, der alle Bereiche des Lebens in der Gesellschaft durchdringt. Alle drei Begriffe bezeichnen nicht individuell verursachte oder motivierte Handlungsformen, sondern sie stehen für die vorgängige Wirklichkeit der schöpferischen Liebe, die sich als Regel, rhetorische Praxis und Zeichenstruktur in individuellen Handlungen äußert51. Es sind in der Tat jeweils indivi57

Bereits im Einleitungsteil der Rede, unmittelbar vor dem Übergang in den thematischen Teil, hatte Kierkegaard darauf hingewiesen, daß sich diese Rede auf den Aspekt der Äußerung der Liebe konzentrieren werde; der Aspekt, daß der Liebende selbst der Vergebung bedarf und allein durch die erfahrene Vergebung zum eigenen Vergebungshandeln fähig ist, sei nicht Gegenstand dieser Schrift, wo die Liebe ausschließlich „in der Richtung nach außen" betrachtet werde (311/271). Diese thematische Reduzierung kann nun aber nicht so verstanden werden, als sei die „Richtung nach innen" damit ausgeschlossen und als könne man die beiden Aspekte oder Richtungen ontologisch voneinander trennen; denn dann wäre der Begriff des Ewigen als Selbstäußerung verloren. Möglich aber ist eine thematische und hermeneutische Begrenzung: Gerade wenn die beiden „Richtungen" für die sich-äußernde Liebe nicht getrennt werden können, ist bei jeder Thematisierung des „Gebens" auch das „Empfangen" mit erfaßt, ohne daß es thematisch werden müßte. Gerade eine Rede über das Tun der Liebe am Anderen kann das Tun der Liebe am Täter der Liebe verdeutlichen. Solche Dialektik ist jedoch nicht reibungslos in die Sprache theologischer Anthropologie zu übersetzen. Hier ist ein gewisser Bruch, zumindest solange man die Vergebungserfahrung als zeitlich vorausgehende und prinzipiell unterschiedene Bedingung des Vergebungshandelns versteht, d.h. solange man nicht den rechtfertigenden Gott wesentlich als Liebe versteht. Kierkegaard scheint eine solche nichtdialektische Sicht abzulehnen, (vgl. die Rede über Lk 7,47 von 1849: Zwei Aussagen über die Sünderin werden dialektisch vermittelt: „sie hat viel geliebt" - „ihr ist viel vergeben worden"). Vielmehr faßt er auch in dieser Frage beide Richtungen in der Dialektik der Liebe als sich selbst äußernder Wirklichkeit zusammen. Eben dies wird auch in den beiden früheren Reden über 1. Petr 4,8 von 1843 deutlich. Dort wird die Macht der Liebe zur Sündenvergebung ausdrücklich in den hermeneutischen Zusammenhang von Gesetz und Evangelium gestellt. Die Dialektik dieses Verhältnisses spiegelt sich in der Doppelanlage der beiden Reden: Die erste Rede versteht sich selbst als reine

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duelle Handlungen, in denen einer den anderen liebt. Doch Kierkegaard vermeidet jede psychologische Begründung dieser Handlungen in individuellen Willensakten, Motivationen etc.; ihr Grund liegt vielmehr in der Natur desses, was in ihnen zum Ausdruck kommt: in der Liebe selbst als Drittes. Diese ontologische Vorgängigkeit der Liebe wird auch in dieser Rede an der konstitutiven Bedeutung des fremden Liebenkönnens sichtbar: Alle drei Formen, Regel, Rhetorik und Zeichen, setzten die Liebe „im Grund" des Anderen voraus. Die „Regel" ist die Wahrnehmung dieser Liebesfähigkeit, die „Rhetorik" das Auffinden und Aufzeigen, und das „Zeichen" zielt auf das Hervorbringen, das Veranlassen der fremden Liebesfähigkeit. Damit erweisen sich diese drei Handlungsformen selbst als praktischer Ausdruck des Liebesverhältnisses als solchem; es sind Formen der Drittheit der Liebe. Die thematische Begrenzung der Reden auf das Äußerlichwerden der Liebe begrenzt im übrigen auch prinzipiell die Möglichkeit, die theologische Rechtfertigungsthematik zum bestimmenden hermeneutischen Auslegungsprinzip des Buches zu machen 58 . Rechtfertigung ist implizit im Phänomen der Liebe enthalten, insofern das faktische Wirklichwerden von expressiver Liebe in den Äußerungen eines Individuums nur unter den Bedingungen von Rechtfertigung denkbar ist. Eine explizite Thematisierung solcher Rechtfertigung schließt Kierkegaard aber für dieses Buch gerade aus, wenn er doch hier Versöhnung und Vergebung als eine Wirklichkeit verstehen will, die zwischen zwei Individuen geschieht und also nicht auf die Subjektivität

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Evangeliumsrede, die die mögliche Unfähigkeit zur Liebe methodisch ausblendet („Wir wollen sprechen als zu Vollkommenen", 3R3, 106); gerade dies aber ist ein Lobpreis der tätigen, nach außen gerichteten Liebe. Die zweite Rede hingegen stellt die Liebe in den Kontext des eschatologischen Gerichtes; sie ist eine Trostrede an die „Unvollkommenen" (3R3, 119), die damit jedoch die Erfahrung der eigenen begrenzten Liebesfähigkeit mit der eschatologischen Erfahrung der tröstenden Liebe in Verbindung setzen kann (s. 3R3, 124£). Auch diese Identifizierung ist nur möglich, wenn man Liebe theologisch, und nicht anthropologisch, versteht. Zu Beginn der Rede von 1850 verweist Kierkegaard auf vorausgegangene Stellen, in denen er den „zweifachen Sinn" dieses Verses in bezug auf menschliche Liebe dargestellt habe: das Bedecken der fremden Sünden, wodurch zugleich die eigene Unvollkommenheit bedeckt wird (RAF, 31). Hirsch deutet diesen Hinweis auf die Rede aus TL (s. RAF, Anm. 32). Doch findet sich gerade diese Doppelheit in unserer Rede nicht, sie ist ausschließlich am ersten Aspekt interessiert. Der Hinweis scheint eher auf die beiden Reden von 1843 zu passen, in denen eben dieser „zweifache Sinn" in zwei Reden vorgeführt wird. Dieser theologische Ansatz ist für die Darstellungen von P. Müller, B. Müller und B. Kirmmse bestimmend.

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eines einzelnen beschränkt werden kann. Diese thematische Unterscheidung wird ausdrücklich festgehalten: „In dieser kleinen Schrift handeln wir stets vom *Werk der Liebe, wir betrachten also die Liebe in der Richtung nach außen hin" (311/271). Allerdings kann sehr wohl gefragt werden, ob mit diesem Begriff der sich äußernden Liebe die Rechtfertigungsthematik auch angemessen beantwortet oder berücksichtigt ist. Darauf werden wir später zurückkommen müssen. Diese Äußerungen der Liebe sind Beschreibungsformen, in denen wirksames Handeln (in Form von Nichtentdecken, Verschweigen, Erklären, Vergeben und Verhindern) als Interaktion, d.h. unter Einbeziehung der Perspektive des Handlungspartners theoretisch benennbar wird. Im Unterschied zu den Reden II-IV wird das fremde Liebenkönnen nun selbst thematisch: als mögliches, erwartetes Reagieren. Die intersubjektive Wirksamkeit des Handelns ist damit begrifflich eingeholt; die folgenden Reden werden dieses Thema weiterführen. Dort wird auch der Werkcharakter dieser Interaktion deutlicher werden: die konkrete Form, in der sich die Handelnden auf bestimmte Weise gegenseitig verstehen, zueinander finden. Die Positivität eines solchen gegenseitigen Einverständnisses ist in 2,V noch nicht sehr stark ausgedrückt, da die hier beschriebenen Handlungsformen primär negativen Charakter haben (Nichtentdecken, Verhindern etc.). Noch sind die Akteure gewissermaßen so weit voneinander entfernt, daß ein direktes dialogisches Verhältnis nur andeutbar ist. Doch besonders der letzte Aspekt, die Zeichenform der Liebe, beschreibt schon eine direkte und gelingende Kommunikation. Die folgenden Reden werden die Versöhnung zweier Handelnder zunehmend in Kommunikationsformen beschreiben, die nicht nur indirekt sind. Der inhaltliche oder, wenn man so will, der materialethische Gewinn der Rede innerhalb des Gedankenganges in TL2 ist hingegen darin zu sehen, daß nun der Bereich der Geschichte und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit für die Theorie der expressiven Liebe gewonnen ist. Die folgenden Reden, so werden wir sehen, werden diese Dimension wieder etwas zurücknehmen und (wieder) stärker an der bloß ,privaten' Beziehung zwischen zwei Akteuren orientiert sein. Doch auch dies wird vor einem politischen Hintergrund stehen, der durch das Thema der Versöhnung umrissen ist. Ohne begrifflich bestimmt zu werden, wird die Versöhnungsthematik in 2,V eingeführt, und zwar in zweifacher Hinsicht: Die Wirklichkeit der Sünde erscheint als die Wirklichkeit zwischenmenschlicher Trennung und Entfremdung, und dieses Problem ist zugleich untrennbar an gesell-

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3. Kapitel: Das Können

schaftliche Vermittlungsformen gebunden. Das versöhnende Werk der Liebe kann nicht nur in einem privaten Verhältnis zwischen zwei Personen beschrieben werden, sondern es betrifft zuerst den Umgang mit der Sünde, und dieser Umgang hat eine unausweichlich gesellschaftliche Form59. So wie die Rede V die gesellschaftlichen Vermittlungen von Versöhnung beschreibt, werden die folgenden Reden das Gelingen gesellschaftlicher Versöhnung primär in Hinblick auf die Wirkungen der privaten Versöhnung beschreiben.

3. Zweite Variation (2, VI) Versöhnende Liebe als Drittes: Leiblichkeit 3.1. Leiblichkeit als expressive Wirklichkeit: Die Beziehung der Liebe Einen kurzen Abschnitt aus der Rede VI hatte ich bereits oben herangezogen, um den Begriff der Drittheit einzuführen. Das Verständnis der Liebe als das Dritte in der Liebesbeziehung zwischen zwei Akteuren spielt für die Argumentation dieser Rede eine wesentliche Rolle. Kierkegaard behauptet, daß allein durch diese Drittheit das Bleiben der Liebe nach 1. Kor 13,13 verstanden werden kann. Umgekehrt erhält die bloß strukturelle Beschreibung der Liebe als Drittes durch die Thematik des Bleibens eine bestimmte inhaltliche Konkretion. In der Thematik des Bleibens wird die Kategorie der Drittheit, die für das ganze Buch von zentraler Bedeutung ist, exemplarisch entwickelt. Ich werde versuchen zu zeigen, daß die konkrete Form, in der die Drittheitskategorie in dieser Rede thematisch wird, durch den Begriff der Leiblichkeit verstanden werden kann. Dazu folge ich dem im Eingangsabschnitt zu diesem Kapitel genannten Schema von Sein und Wirkung. Die bleibende Kontinuität der Liebesbeziehung war bereits in unserer Erörterung der Reden 2, II-III wichtig geworden. Dort waren Glauben und Hoffen als die Handlungsweisen verstanden worden, in denen der Liebende sich selbst in seiner Liebe bewahrt. Die damals bereits angesprochene intersubjektive Dimension dieser Kontinuität wird nun in VI explizit thematisiert, allerdings mit einer wichtigen Veränderung der Aufgabenstellung: Glauben und Hoffen waren die Formen, in denen der Handelnde sich selbst vor dem Ab59

Diese gesellschaftliche Ausrichtung der Rede fällt insbesondere im Vergleich mit den anderen Reden Kierkegaards zu 1. Petr 4,8 auf; dort fehlt diese Thematik völlig.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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bruch der Liebesbeziehung bewahrt hatte; in VI. dagegen stellt sich die umgekehrte Aufgabe dadurch, daß der oder die Geliebte das Verhältnis verläßt, und das Bleiben der Liebe wird nun als diejenige Handlungsform entwickelt, in welcher der Liebende mit dieser Situation umgehen kann. Das Thema, das mit dieser Aufgabenstellung gegeben ist, ist also, wie schon in V, die Versöhnung, hier als individuelle Wiedervereinigung der Getrennten gedacht. Wie sieht nun das Bleiben der Liebe aus, wenn der Geliebte das Liebesverhältnis abgebrochen hat? Was bleibt noch von der Liebe, wenn der Andere gegangen ist? Diese Frage wird beantwortet durch eine Überlegung zur relationalen Struktur des Liebesverhältnisses: „Indes nämlich zweie sich in Liebe zueinander verhalten, verhält sich insonderheit jeder von ihnen in sich selbst zu ,der Liebe'. Jetzt geht es nicht ganz so einfach mit dem Bruch. Ehe es zum Bruch kommt, ehe der eine dahin kommt, seine Liebe im Verhältnis zu dem andern zu brechen, muß er erst abfallen [affalde] von ,der Liebe'. Dies ist das Wichtige; deshalb spricht das Christentum nicht darüber, daß zweie miteinander brechen, sondern über das, was stets nur der einzelne tun kann, über den Abfall von ,der Liebe',, (335/292). Im Verhältnis zweier Liebender ist die Liebe selbst das Dritte zwischen den beiden. Deshalb ist zu unterscheiden zwischen „abbrechen" und „abfallen": das Abbrechen betrifft das zweistellige Verhältnis zwischen zwei Relaten, das Abfallen aber steht für das dabei bereits zugrundeliegende triadische Verhältnis. Aus dieser formalen Unterscheidung folgt zunächst, daß keiner der beiden Relate das triadische Verhältnis durch sein Abbrechen einseitig aufheben kann. Denn ist die Liebe zwischen den beiden als das Dritte eine eigenständige Wirklichkeit, so verschwindet sie nicht einfach durch das einseitige Abbrechen. Bricht Β das Verhältnis zu A, so ist immer noch das Dritte da, zumindest solange A sich noch zu diesem Dritten in irgendeiner Form verhält. Solange also einer der beiden noch am Verhältnis festhält, solange ist auch das Dritte im Verhältnis noch da. Darin besteht gerade die ontologische Eigenständigkeit dieses Dritten: daß A auch dann noch auf Β bezogen sein kann, wenn Β seinerseits nicht mehr auf diese Bezugnahme reagiert. A kann noch handeln, er ist durch B's Bruch der Beziehung nicht der Möglichkeit beraubt, weiterhin in dieser intentionalen Beziehung zu leben und zu handeln, d.h. in der Liebe zu bleiben. Wie aber ist das denkbar, wenn doch der Andere gegangen ist? Bei der Antwort hilft der Hinweis auf eine weitere Konsequenz, die sich aus der Unterscheidung von Abfallen und Abbrechen ergibt:

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3. Kapitel: Das Können

Diese Unterscheidung macht nämlich eine definitive Aussage über das Abfallen des Anderen unmöglich. A kann zwar wissen, daß Β das Verhältnis zu ihm abbricht; aber dieses Wissen ist nicht identisch mit einem Wissen über Β's Abfall von der Liebe; denn dieses Abfallen von der Liebe betrifft das Selbstverhältnis des Anderen: die Weise, wie er sich „in sich selbst zu ,der Liebe',, verhält. Und das Selbstverhältnis ist kein Gegenstand des Wissens für einen anderen. Dies aber bedeutet, daß der sichtbare Abbruch durch Β nicht die Möglichkeit ausschließt, daß Β noch im Verhältnis zur dritthaften Liebe steht, positiv ausgedrückt: es ist jederzeit möglich, daß Β zurückkehrt und das Verhältnis zu A wieder aufnimmt. Und eben diese Möglichkeit ist die Form, in der der Verlassene weiterhin in der Liebe bleiben und handeln kann: „Indem er bleibt (und in diesem Bleiben ist der Liebende mit dem Ewigen im Bunde), behält er die Übermacht über das Vergangene, so daß er jenes, was in der Vergangenheit und durch sie ein Bruch ist, zu einem in der Zukunft möglichen Verhältnis umwandelt" (336/293). Die Möglichkeit gründet ontologisch im Liebenkönnen des Anderen, und solange noch von diesem Liebenkönnen die Rede sein kann, solange muß auch noch von der Liebe „im Grund" (s. 2,1) und damit vom Verhältnis zwischen den beiden geredet werden. Eben dies tut der Verlassene durch sein Bleiben. Wie solches Bleiben des Liebenden als wirksame Handlung aussieht, soll im nächsten Abschnitt erörtert werden. Jetzt frage ich zunächst nur nach den Bedingungen dieses Handelns, soweit sie im Begriff der Liebe als Drittheit liegen. Doch wir werden sehen, daß auch diese Bedingungen bereits expressiver, leibhaftiger Natur sind. Die Liebe ermöglicht ein Bleiben des Liebenden also insofern, als sie selbst bleibt, wenn der Verlassene sich weiterhin zu ihr verhält. Sie bleibt als das, worauf der Liebende intentional bezogen ist: nämlich als das intersubjektive Verhältnis selbst. Das dreistellige Verhältnis der Liebe geht dem subjektiven Verhältnis zur Liebe ontologisch voraus. Diese Vorgängigkeit macht Kierkegaard dadurch deutlich, daß er vom Bleiben „in" der Liebe spricht. Die räumliche Metapher drückt sowohl die Differenz als auch die Vorgängigkeit oder Horizontalität der dritthaften Liebe gegenüber der Subjektivität aus. Dann ist aber auch das eben angesprochene Umwandeln des Vergangenen in das Mögliche nicht eine Fähigkeit der endlichen Subjektivität, sondern „dazu gehören die Kräfte der Ewigkeit [Evighedens Krœfter]; und deshalb muß der Liebende, welcher bleibt, in ,der Liebe' bleiben" (337/293). Die Dritthaftigkeit der Liebe bezeichnet das immer schon vorgängige intersubjektive Verhältnis, zu dem sich der Einzelne je-

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weils neu zu verhalten hat (insofern liegt hier dasselbe Denkmodell wie in 2, II/III vor) 60 . Doch indem er sich dazu verhält, gebraucht er die „Kräfte" dieses Gegenstandes; er setzt sie gewissermaßen frei. Und solches Freisetzen der Kräfte der Liebe bedeutet, das Potential oder die Zukunft des Liebesverhältnisses auszudrücken, die Bedeutung oder den Sinn des Verhältnisses leiblich-expressiv zu artikulieren. Sich zur Liebe als dem Dritten zu verhalten ist dann eine Verhaltensweise, die das leibliche Verhältnis zum Anderen auch dann noch in irgendeiner Form realisisert, wenn der Andere schon gegangen ist. In dem Verhältnis des Einzelnen zur dritthaften Liebe gewinnt die Liebe expressive Realität; in seinem Bleiben bringt sich die dem Verhältnis innewohnende Zukunft zum Ausdruck. Das Bleiben der Liebe ist die auf Zukunft gerichtete Leiblichkeit des Verhältnisses zweier Liebender; das Bleiben des Liebenden ist die einseitig subjektive Verkörperung dieser zukünftigen Leiblichkeit. Der Begriff der Leiblichkeit 61 , den ich hier verwende, soll zunächst die Tatsache erfassen, daß die Argumentation der Rede nicht auf einen idealen oder reflexiven Gegenstand zielt, wenn sie von „der Liebe" als dem Dritten spricht. Die Liebe als das Dritte ist nicht eine Bewußtseinsform, die das Bleiben ermöglichen würde. Vielmehr ist die dritthafte Liebe nichts anderes als die praktische, leibgebundene Weise, in der sich die zwei als Liebende handelnd zueinander verhalten. Die dritte Größe zwischen zwei Relaten steht für das Verhältnis als solches, indem damit die intentionale Form beschrieben wird, in der die beiden Relate aufeinander bezogen sind. Diese Weise oder das Wie des Verhältnisses kann die Qualität des Verhältnisses genannt werden, in diesem Fall die Qualität der Liebe. Doch hat diese Qualität stets die konkrete Form einer bestimmten praktischen Gestaltung: es ist das Wie eines Sich-Verhaltens. Das Dritte ist die bestimmte praktische Gestalt dessen, was „zwischen" den Handlungs60

61

Vgl. 184/161: „Der Ernst liegt gerade darin, daß das Verhältnis selbst [Forholdet selv] mit vereinter Kraft gegen das Unvollkommene kämpfen will" [Hervorhebung U.L.]; die Vorgängigkeit des Verhältnisses und die damit verbundene vorgängige Gegenseitigkeit hebt auch A. Gr0n, Gegenseitigkeit, 229ff. hervor; vgl. auch L. Giess, Liebe als Freiheit 36. Zum Verständnis der Leiblichkeit bei Kierkegaard vgl. W. Schulz, Geist und W. Dietz, Freiheit, 122ff. A. Gr0n, Subjektivitet, 67ff. expliziert, ausgehend vom Begriff Angst, Leiblichkeit als Erfahrung des Fremden im subjektiven Selbstverhältnis und von hier aus als das Ereignis der Vereinzelung, in der ein Subjekt mit sich selbst als einem Anderen zu tun bekommt. Von TL aus kann dagegen Leiblichkeit stärker unter dem kommunikativen Aspekt bestimmt werden: als unhintergehbare intentionale Bezogenheit auf andere Akteure.

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3. Kapitel: Das Können

partnern als Liebenden steht62. Darüberhinaus bestimmt das qualitative Wie das Handlungsverhältnis als raum-zeitliches Verhältnis; es benennt die bestimmte Raum-Zeit-Struktur einer intersubjektiven Handlungsbeziehung: den durch zwei Handelnde eingenommenen Handlungsraum und die Geschichte dieses Handlungsraumes. Kierkegaard drückt diese raum-zeitliche Form der Drittheit durch die erwähnte Formulierung vom Sein „in" der Liebe aus, die auch in einer formelhaften Wendung im Einleitungsteil der Rede auftaucht: „Er [sc. der Liebende] bleibt der Liebende, indem er in der Liebe bleibt" (333/289). Als Drittes ist die Liebe der raum-zeitliche Horizont des Handelns: sie ist die Geschichte eines (Liebes-) Verhältnisses. Dieser geschichtliche Horizont ist aber immer eine leibgebundene Praxisform, in die der Handelnde vorgängig eingebunden ist. „In" der Liebe als dem Dritten zu bleiben bedeutet, in der Geschichte dieses spezifischen Handlungsraumes zu bleiben. Damit ist diese ursprüngliche leibliche Praxis zugleich auch diejenige Wirklichkeit, die „bleibt" und den einzelnen Handelnden Zukunft eröffnet: „der Liebende, welcher bleibt, gehört ja durch sein Bleiben dem Zukünftigen, dem Ewigen" (336/293). Es ist die der ursprünglichen Praxis immanente Zukunft, die sich im Bleiben des einzelnen Liebenden expressiv ausdrückt und mit den „Kräften der Ewigkeit" nach Fortsetzung ruft. Hier liegt ein teleologisches Denkmodell vor. Diese Teleologie gründet in der spezifischen Form von Intersubjektivität, die der Drittheit der Liebe entspricht: einem Verhältnis reziproken Liebenkönnens. Das einseitige Bleiben kann also nur so gedacht werden, daß es immer auch das Liebenkönnen des Anderen expressiv-antizipierend darstellt. Anhand einer Reihe von analogen Phänomenen illustriert Kierkegaard diese .teleologische Reziprozität' (s.337ff./293ff.)63: Ein zusammengesetztes Wort etwa, von dem man nur den ersten Teil und den Bindestrich sieht, zeigt dem Betrachter an, daß noch etwas zur Vollständigkeit fehlt. Ebenso „drückt der Lie62

63

Vgl. den Begriff der „Zwischenbestimmung" (7,111 Α.), ferner s. 372/324: Der Liebende „schiebt" etwas „zwischen sich und den Lieblosen ein" (s.u.). Der Abschnitt bringt insgesamt fünf Beispiele solcher reziproken Ganzheit: das zusammengesetzte Wort, der Satz, das Gespräch, der Tanz und der Lebensweg. Die Steigerung in der Komposition ist deutlich. Das durch die Beispiele vorgeführte Argument lautet jedesmal: Dies ist ein Phänomen, das in seiner fragmentarischen oder gebrochenen Form gerade auf die Erfüllung zur Ganzheit durch das zweite, aktuell fehlende Glied hinweist. Denn ohne diese Erfüllung gebe es das beschriebene Phänomen oder Fragment gar nicht. Im übrigen ist auch bei diesen Beispielen wiederum die zentrale Bedeutung der Sprache hervorzuheben.

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bende aus, das Verhältnis, welches der andere einen Bruch nennt, sei ein Verhältnis, welches noch nicht fertig geworden ist. Aber weil ihm etwas fehlt, deshalb ist es noch kein Bruch" (337/293). Das einseitige Bleiben ist das Fragment einer intendierten Ganzheit. Als Fragment ist es Verkörperung und Beschwörung seiner Ganzheit in doppelter, nämlich räumlicher wie zeitlicher Hinsicht: fragmentarische Verkörperung einer intersubjektiven Gegenseitigkeit und antizipierende Beschwörung einer zukünftigen Erfüllung. „Ist der Tanz abgebrochen, weil der eine Tänzer weggegangen ist? In gewissem Sinne ja. Aber wofern doch der andere stehenbleibt in der Stellung, welche die Verbeugung gegen den ausdrückt, welchen man nicht sieht, und wofern du betreffs des Vergangenen nichts weißt: so würdest du sagen: Jetzt soll wohl der Tanz beginnen, sobald nur der andere kommt, auf den gewartet wird'" (338/294). Das individuelle Bleiben kann also nur als Ausdruck einer ursprünglichen Ganzheit verstanden werden. Ohne den Handlungspartner ist es ohne Sinn und eigentlich unmöglich; Bleiben ist wesentlich ein geteiltes Handeln 64 . Das Bild des einsamen Tänzers symbolisiert diese Doppelheit: In der leiblichen Pose drückt sich die Angewiesenheit auf den Anderen unmittelbar aus. Und zugleich ist es das einsame Handeln des Verlassenen, in dem sich die ursprüngliche Ganzheit und lebendige Gegenseitigkeit eben nur fragmentarisch und damit einseitig darstellt. Es ist somit stets ein individuelles Handeln und hat die Form eines subjektiven Handlungsverstehens: Der Einzelne versteht das Vergangene, d.h. den Bruch, nicht als das Entscheidende, sondern versteht und artikuliert das Verhältnis als ein zukünftiges: „,Ich bleibe', sagt er, ,so sind wir doch auf dem Wege miteinander'" (339/295). Doch darf aus dieser Einseitigkeit nicht geschlossen werden, daß solches Handeln bzw. Verstehen ausschließlich dem Einzelnen zugeschrieben werden kann. Solches Verstehen ist vielmehr als Handlung (Bleiben) nur möglich aufgrund dessen, was es versteht: das fremde Liebenkönnen als Möglichkeit. Diese Möglichkeit aber ist das Potential des bereits bestehenden Ver-

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Die fundamentale Bedeutung, die ein gemeinsamer, von mehreren Aktueren geteilter Rhythmus für viele Handlungsformen hat, beschreibt C. Taylor, Rule, 171ff. Taylor spricht am Beispiel des Tanzes und des Sägens von „dialogical action" in dem Sinne, daß die Handlung „is effected by an integrated, nonindividual agent. This means that for those involved in it, its identity as this kind of action essentially depends on the agency being shared. These actions are constituted as such by a shared understanding among those who make up the common agent" (ebd. 172). Der Hinweis auf diese ,shared agency' wird von Taylor als Argument für die wesentliche Leiblichkeit des Handelns angeführt.

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hältnisses. Das Verstehen der Situation ist nur möglich innerhalb des spezifischen Horizontes, in dem der Verstehende bereits steht. Damit drückt sich im subjektiven Bleiben der leibliche Grund dieses Bleibens leibhaftig aus: die ursprüngliche Ganzheit reziproken Liebenkönnens. Was haben wir mit den bisherigen Überlegungen gewonnen? Das individuelle Bleiben des Liebenden gründet hinsichtlich seiner Ermöglichung als auch hinsichtlich seiner expressiven Form in dem, was die Rede die Drittheit der Liebe nennt. Lediglich nach dem Verständnis dieses Grundes habe ich bisher gefragt. Meine Behauptung dazu ist erstens, daß diese beiden Hinsichten die dritthafte Liebe als expressive Wirklichkeit beschreiben, die sich im Handeln (Bleiben) des Einzelnen zum Ausdruck bringt. Allein auf diese Weise ist es möglich, so scheint mir, das in der Rede beschriebene Handeln überhaupt als individuelles Handeln zu verstehen. Zweitens habe ich zu zeigen versucht, daß die vorgängige und intendierte Drittheit (expressive Wirklichkeit) als Leiblichkeit der Liebe verstanden werden kann, d.h. als die raum-zeitlich strukturierte Praxis des Verhältnisses, in der sich die Akteure als Liebende zueinander verhalten 65 . Doch wie sieht solches Handeln nun in seiner Konkretion und v.a. in seiner Wirksamkeit aus? Wie wird durch das Bleiben des Liebenden die Versöhnung beider Liebender möglich? 3.2. Leiblichkeit als expressive Wirkung: Das Bleiben in der Liebe als versöhnende Vitalität Hinsichtlich der Konkretion des Bleibens ist Kierkegaard an zwei Fragen besonders interessiert: Wie bestimmt solches Bleiben die Weise, in der der Bleibende sein Leben führt? Und wie verhält sich der Bleibende, wenn der Andere tatsächlich zu ihm zurückkehrt? 66 Die 65

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Daß auch das dieser expressiven Wirklichkeit entsprechende individuelle Handeln eine sprachliche Form hat, deutet Kierkegaard selbst an: „Das allmächtigste Wort, welches je gesagt ward, ja, das ist Gottes Schöpferwort: ,Es werde'. Aber das mächtigste Wort, das je ein Mensch gesagt hat, ist das Wort des Liebenden: ,Ich bleibe'" (339/295). Nur kurz geht die Rede auf eine weitere Frage hinsichtlich der Wirksamkeit ein: Wie kann der Liebende den Anderen zur Rückkehr veranlassen? Einerseits ist diese Frage eigentlich unmöglich, da die Rückkehr immer ein Akt der Liebe des Anderen sein muß und insofern nicht direkt veranlaßt werden kann. Andererseits verlangt der Wahrheitsanspruch des Bleibens, daß der Andere tatsächlich früher oder später zurückkommt (vgl. o. Kap. 3,11.). Kierkegaard löst das Dilemma nicht wirklich, sondern verweist auf den .längeren Atem', den die Liebe gegenüber dem Ab-

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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erste Frage kann auch so gestellt werden: Welche Form des Wartens entspricht der Liebe als bleibender Drittheit? Die am Ende des letzten Abschnittes geschilderten Formen des Bleibens können wir als Formen des Wartens bezeichnen. Die in der Liebe Bleibende harrt in der Position des Tanzes der Liebe aus und wartet auf ihren Tanzpartner. Doch ist die Handlung „Warten" damit offensichtlich noch nicht ausreichend beschrieben, zumindest nicht in Hinsicht auf die bleibende Liebe. Daß nicht jede Form des Wartens auch tatsächlich „bleibt", will Kierkegaard in einem ausführlichen Vergleich mit der erotischen Liebe zeigen. Es gibt nämlich sehr wohl eine erotische Liebe, die ein Leben lang auf den Anderen zu warten vermag und dennoch nicht „bleibt". Das Mädchen, das von ihrem Geliebten verlassen wird und unaufhörlich auf seine Rückkehr wartet, ist für Kierkegaard ein Beispiel für die höchste Form immanent-menschlicher Liebe: „derart sich selbst treu zu bleiben in seiner *Liebe [Elskov] ist eine edle weibliche Tat, ein großes und herrliches Tun" (342/297). Solche Liebe ist ein „Opfer", doch enthüllt sich an dem Opfercharakter zugleich die Ambivalenz solchen Wartens: „Und doch ist eben dies das Höchste, was man von einem Menschen sagen kann: er ward geopfert. Die Frage ist nur, wofür er geopfert ward" (342/298). Das liebevoll wartende Mädchen bringt ihr Leben als Opfer für die Liebe, aber als Opfer für die weltliche, bloß erotische Liebe; ihr heldenhaftes Warten ist auf eine innerweltliche Erfüllung gerichtet, und damit auf eine ihrem Warten selbst nicht entsprechenden Gegenstand 67 : „Der Widerspruch liegt nicht in dem Mädchen, sie blieb sich treu; der Widerspruch, den das Mädchen selber erlitt, liegt darin, daß *Erotik [Elskov] nicht das Ewige ist, und also darin, daß es unmöglich ist, sich mit ewiger Treue zu demjenigen zu verhalten, was in sich selbst das Ewige nicht ist" (345/300). Das Warten des Mädchens ist, so können wir jetzt sagen, trotz ihres treu-

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brechen hat: „Kann es die Zeit nicht, so wird doch die Ewigkeit dem andern den Haß entwinden, wird seine Augen öffnen für „die Liebe" und damit auch für die Liebe, welche das ganze Leben lang geblieben ist und nun in der Ewigkeit bleibt" (340/296). Diese Schilderung impliziert eine Kritik des Opferbegriffs, die andeutet, daß Kierkegaard nicht so undifferenziert und einseitig emphatisch dem Opfer gegenübersteht, wie dies manchmal behauptet wird (vgl. Th. Adorno, Konstruktion, 151ff.; K. E. Lögstrup, Kontroverse, 88f£). Kierkegaard bewahrt sich hier, bei aller Bewunderung für das Selbstopfer der Wartenden, den kritischen Blick für das falsche, d.h. sinnlose Leiden. Seine eigene positive Verwendung der Opfervorstellung in TL steht unter dieser Voraussetzung eines sinnvollen oder intentional verstandenen Leidens, wie man an 2,V sehen konnte.

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3. Kapitel: Das Können

en Selbstbewahrens in der Liebe bloß zweistellig strukturiert: Sie wartet auf nichts anderes als auf die Rückkehr des Geliebten. Was sie dabei verfehlt ist das Verhältnis als Drittes; diese Drittheit, d.h. das Ewige der Liebe, das auch noch bei der Abwesenheit des Geliebten möglich ist, hat in ihrem Bleiben keine Bedeutung. Ihr Warten ist unmittelbar auf den Geliebten gerichtet, nicht aber auf das Verhältnis zu ihm als denjenigen bestimmten Handlungsraum, in dem beide ihr individuelles Liebenkönnen ausüben könnten. Mit einem Wortspiel macht Kierkegaard diese zweistellige Struktur deutlich, die trotz des Unterschiedes in struktureller Weise analog ist zum Abfallen [affalde] des Anderen: „die Liebe bleibt, kein Umstand verändert sie oder bringt sie dazu, sich selbst aufzugeben, jedoch verändert sie sich in einer Veränderung, die wir Hinfälligkeit [Affœldighed] nennen" (341/296). Die Hinfälligkeit nun ist die leibliche Form des bloß zweistelligen Wartens; das Mädchen „schwand hin" (342/297). Sie schwindet hin, weil ihr Warten die Form der Zeitlichkeit hat, indem es auf eine Erfüllung in der Zeit ausgerichtet ist. Darin besteht die Zweideutigkeit ihres Selbstopfers: Sie gibt ihr Leben für eine zeitliche Erwartung, für einen „Wunsch" (343/298), doch damit wird dieser Wunsch zu der Form und Gestalt, in der sie ihr Leben als ganzes führt; und eben dadurch wird ihr Leben selbst bloß zeitlich und sterblich 68 . Die Sterblichkeit ihres Wunsches wird zu der Form ihres Lebens: „Sie blieb; aber die Zeit hatte ihr den Wunsch entkräftet, durch den sie lebte, während doch derselbe Wunsch sie verzehrte" (343/299). Das Warten in Form eines unendlich-leidenschaftlichen Wünschens verzehrt das leibliche Leben 69 . Der vorhin gebrauchte Begriff der Leiblichkeit ist nun also noch zu verschärfen. Kierkegaard beschreibt hier das Nicht-Bleiben in Begriffen elementarer leiblicher Zustände und Vorgänge: als den Prozeß des Hinschwindens und Sich-Verzehrens, des Sterbens. Diese leibli-

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Zur Dialektik des wünschenden Wartens gehört es auch, daß solches Warten ebensogut als bloße Selbstliebe gelten kann; dies hebt Kierkegaard kurz vorher bei einem vergleichbaren Bespiel ausdrücklich hervor (s. 339/295). Aber auch die lebenslang wartende Frau entgeht nicht diesem Selbstwiderspruch: „es kann nun einmal nicht anders sein selbst mit der höchsten Treue in der *Erotik, als daß sie beinahe Untreue scheint, weil die *Erotik selbst das Ewige nicht ist" (345/300). Der Selbstwiderspruch der treuen erotischen Liebe liegt darin, „daß es unmöglich ist, sich mit ewiger Treue zu demjenigen zu verhalten, was in sich selbst das Ewige nicht ist" (345/300). Diese Diagnose entspricht dem Schema aus der Nachschrift, wonach man sich nur zu einem ansoluten Telos in absoluter Weise verhalten kann (vgl. AUN2, 92ff.).

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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chen Prozesse erscheinen dabei nicht lediglich als Konsequenzen aus einer falschen, aber prinzipiell nichtleiblichen Willensbildung, vielmehr ist diese Willensausrichtung selbst, also das Wünschen und Warten, in der Form einer in bestimmter Weise qualifizierten Zeitlichkeit zu beschreiben: „Wir sagen sonst nur, daß ,die Zeit gehe', o, sie geht so rasch für den Glücklichen, so unbeschreiblich langsam für den Betrübten. Oder wir sagen, daß ,die Zeit komme', o, sie kommt so langsam für den Hoffenden, und nur allzu rasch für den Fürchtenden. Aber hier sagt der Dichter, und zwar vortrefflich, die Zeit komme und die Zeit gehe, denn er will eine Wartende beschreiben; und für eine solche geht sie nicht nur, sie kommt und geht. Aus Teilnahme für das wartende Mädchen übernahm es gleichsam die Zeit zu tun, was der Treulose getan haben sollte" (341/297). Die Intentionalität der Wartenden hat die leibliche Form einer ermüdenden und auszehrenden, weil endlosen Wiederholung. Dementsprechend ist nun für das wahre Bleiben in der Liebe zu zeigen, wie dort das leibliche Leben bewahrt bleibt. Wie sieht die spezifische Form der Leiblichkeit aus, die diesem Bleiben entspricht? „Aber die Liebe bleibt - sie wird niemals hinfällig. Denn in der Geistesliebe selber entspringt der Quell, der ins ewige Leben fließt. Daß auch dieser Liebende mit den Jahren älter wird und einmal in der Zeit stirbt, beweist nichts; denn seine Liebe bleibt doch ewig jung" (343/298). Kierkegaard führt hier also einen zweiten Begriff von Leiblichkeit ein: Neben die leibliche Konstitution des Handelnden stellt er die der geistigen Liebe selbst eigene Form von Leiblichkeit, die ewige Jugend70. Doch ist dies zunächst nur ein Postulat. Wie kann das Warten als solches, d.h. noch ohne seine Erfüllung gedacht, ewig jung bleiben? Der Unterschied zum verliebten Mädchen scheint darin zu liegen, daß die Geistesliebe nicht auf einen zeitlichen Gegenstand ausgerichtet ist, sondern auf die Ewigkeit. Aber was heißt das? 70

Man könnte diese beiden Formen von Leiblichkeit unterscheiden als die sterbliche Leiblichkeit des Liebenden und den bleibenden Leib der Liebe selbst. Nur muß dabei beachtet werden, daß dies eine Unterscheidung innerhalb eines einheitlichen Phänomens ist: Diese Rede, ebenso wie alle anderen Texte des Buches, handelt stets von „der" Liebe in einem endlichen Subjekt und zwischen endlichen Subjekten. Das Bleiben der Liebe wird in Hinblick auf ein endliches Handlungssubjekt beschrieben. Dies führt jedoch nicht zu einer neuen Geist-Leib-Dichotomie „in" diesem Subjekt, sondern zu einer Beschreibung des subjektiv und intersubjektiv realisierten Geistes als einer bestimmten Form leibgebundenen Handelns. Was damit freilich wegfällt, ist die in der Subjektivität waltende Spannung zwischen Geist und Leib, die für den Begriff Angst so fundamental ist, vgl. W. Schulz, aaO. Diese Spannung wird statt dessen in die Dimension der Intersubjektivität übertragen, in die spannungsvolle Geschichte einer Beziehung.

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3. Kapitel: Das Können

Das Mädchen verhält sich wartend zu dem, was abwesend ist, dem Geliebten. Diese Ausrichtung auf das Abwesende, bloß Zukünftige ist es, was das Leben verzehrt. Die wahre Liebende dagegen verhält sich zu der Liebe als Drittheit, d.h. zu dem leiblichem Verhältnis als Träger von Zukunft und Bedeutung. Und dieses Verhältnis (zum Anderen) kann, wie wir sahen, auch noch gegenwärtig sein, wenn der Andere weggegangen ist. Die Liebende wartet ebenfalls auf den Anderen, aber sie tut dies so, daß dabei das Verhältnis zu ihm entscheidend wird. Was bedeutet das? Die Vorstellung eines Wartens, das nicht zweistellig strukturiert, sondern auf die reale Drittheit des Verhältnisses bezogen ist, kann in den folgenden Punkten näher ausbuchstabiert werden: Erstens ist die Liebe als Drittes nicht einfach ein anderer intentionaler Gegenstand anstelle des Geliebten. Der Bleibende bezieht sich auf sie, doch die Liebe als Drittes ist überhaupt kein Gegenstand eines Wissens oder Wollens, sondern sie ist, wie wir bereits sahen, die bestimmte leibliche Form, in der ein konkreten Handlungsverhältnis als ein Liebesverhältnis qualifiziert ist. Daher liegt sie dem subjektiven Bezogensein voraus als diejenige Wirklichkeit, die sich in dieser Intentionalität selbst ausdrückt und ausspricht. Die Bezogenheit auf die bleibende Liebe ist nicht nur als subjektive Intentionalität, sondern als Expressivität und Verkörperung zu denken. Zweitens bedeutet dies, daß das Warten des Liebenden sein Ziel, auf das es bezogen ist, immer schon bei sich hat. Das Verhältnis selbst ist stets gegenwärtig, und in dieser Gegenwart liegt gerade die jugendlich-vitale Ewigkeit des dritthaften Verhältnisses: „Seine Liebe ist ewig, verhält sich zur Ewigkeit, ruht im Ewigen; deshalb erwartet er jeden Augenblick

[hvert 0ieblik]

das gleiche, was er ewig erwartet,

und deshalb ohne Unruhe, denn in der Ewigkeit ist Zeit genug" (344/299). Was bedeutet es aber überhaupt, daß die Liebe „ewig" ist? Es bedeutet, daß das bestimmte leibhaftige Verhältnis zu diesem bestimmten Anderen als solches gegenwärtig ist und sich selbst zur Gegenwart bringt; die Liebe dieses Individuums ist ewig, weil sich in ihr (d.h. in seiner bestimmten subjektiven Intentionalität) das vergangene Verhältnis zur Gegenwart bringt und damit seinen Anspruch auf Zukunft ausdrückt. Solche Vergegenwärtigung ist demnach eine Selbstvergegenwärtigung des dritthaften Verhältnisses, und die subjektive Liebe ist „ewig" in der Erfahrung dieser Selbstvergegenwärtigung (vgl.o. zum Zusammenhang von Ewigkeit und Selbstvermittlung). Nur insofern das subjektive Warten am Prozeß dieser Selbstvergegenwärtigung teilhat, indem es zu ihrem leiblichen Ort

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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wird, „ruht" es „im Ewigen". Es ist die Präsenz der dritthaften Liebe, die sich im Handeln (Warten) des Liebenden diesem selbst mitteilt und seine Erwartung jung erhält. Und erst durch dieses SichAusdrücken des Dritten im Bleiben des Liebenden erhält der Liebende seinerseits die Form der Leiblichkeit, die nicht verfällt und verzehrt wird durch die „Unruhe", sondern bleibt: die „stille •Beruhigung im Zeitlichen" (ebd.). Diese Ruhe ist die Form und Gestalt seines ganzen Seins und Handelns. Geschieht sein Warten in dieser Gestalt einer vitalen Ruhe, wird es nicht hinfällig. Drittens ist in der ewig-selbstvermittelten Präsenz des Verhältnisses, da es sich stets um ein konkretes Verhältnis zu einem konkreten Anderen handelt, auch dieser Andere, also der erwartete Geliebte, auf bestimmte Weise gegenwärtig. Doch muß hier differenziert werden. Zunächst ist mit der Selbstvergegenwärtigung des Verhältnisses die Gegenwart des Anderen nur als Möglichkeit ausgesagt: „dieses Ewige verleiht das Gleichmaß in der Unruhe, die zwar in der Zeit zwischen Erfüllung und Nichterfüllung schwingt, aber unabhängig von der Zeit, denn die Erfüllung ist keineswegs unmöglich geworden, weil die Zeit vorbei ist" (344/300). In der Ewigkeit ist die Erfüllung möglich, das bedeutet umgekehrt: die Erfüllung ist in der Zeit möglich, wenn man diese Möglichkeit als „ewig" und damit präsentischdritthaft versteht. Besteht die ewige Lebendigkeit des Bleibens darin, im Verhältnis zum Anderen zu bleiben und dieses Verhältnis als dritthafte Leiblichkeit präsentisch auszudrücken, so ist diese Gegenwart des (ewigen) Verhältnisses zugleich die dritthafte Form der Gegenwart des Geliebten. Das Verhältnis als Drittes ist gewissermaßen das Symbol des Geliebten, das ihn vergegenwärtigt. Denn eben dies war ja in den oben beschriebenen Form des Bleibens als Fragment einer intendierten Ganzheit deutlich geworden: daß das Bleiben in der Liebe als Drittem eine Form von Leiblichkeit ist, die den abwesenden Handlungspartner symbolisch-antizipierend vergegenwärtigt. Doch ist dies erst eine Aussage über die Möglichkeit der Erfüllung des Wartens, noch nicht über ihre Wirklichkeit, d.h. noch keine Aussage über die leibhaftige Gegenwart des Anderen. Die bisherigen Ausführungen betrafen die Frage nach dem Bleiben angesichts des Ausbleibens des Anderen. Bleiben als Handlung hatte insofern bisher primär subjektiven Charakter. Die Ebene der Interaktion war zwar stets präsent, insofern der Andere „symbolisch" gegenwärtig ist. Doch die tatsächliche Interaktion kommt erst am Schluß der Rede ins Spiel, wenn es um die zweite der eingangs von mir genannten Fragen geht: Wie verhält sich der Bleibende, wenn der Andere tat-

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3. Kapitel: Das Können

sächlich zu ihm zurückkehrt? Erst mit dieser Frage wird der für die Rede zentrale Aspekt des Leiblichen in die Dimension von Intersubjektivität gestellt, denn erst jetzt muß auch von der Leiblichkeit des Anderen die Rede sein71. Zugleich ist damit jetzt dasjenige Handlungsphänomen wirklich ernstgenommen und ausgelegt, um das die ganze Rede kreist: das Warten. Mit der Thematisierung der leiblichen Gegenwart des Weggegangenen und Zurückkehrenden nimmt Kierkegaard den humanen Kern des Wartens ernst (der in seiner Rhetorik des Ewigen eher in den Hintergrund gerät): daß liebendes Warten nämlich immer ein Warten auf den geliebten Anderen ist. Und damit stellt er zugleich das in sich ruhende, ewige Bleiben der Liebe in den Horizont dieses anthropologischen Bedürfnisses: Auch die Gelassenheit des wahrhaft Liebenden ist immer ein leidenschaftlich-schmerzliches Warten auf den Anderen und seine Rückkehr; nur wird dieses Warten nicht durch den Schmerz seiner Sehnsucht aufgezehrt. Doch wie beantwortet nun Kierkegaard die Frage nach der Rückkehr? Erneut dient die sich verzehrende erotische Liebe als tragisches Kontrastbild. Diese Liebe macht die Rückkehr des Geliebten und die Versöhnung mit ihm gerade durch ihre Hinfälligkeit unmöglich: „was wäre dann trostloser, wie wenn der Liebende dann hinfällig geworden wäre, so daß weder das Verständnis, noch die Wiederherstellung der Freundschaft, noch die Erneuerung der Versöhnung in Liebe wahrhaft zustande kommen könnte mit der seligen Freude der Ewigkeit!" (345/300). Diese Passage ist wohl nicht nur als Beschreibung einer möglichen Gefahr, sondern als grundsätzlicher Einwand zu verstehen. Das bedeutet, daß nicht nur in dem Fall der Rückkehr nach jahrelangen Warten die Versöhnung nicht zustande kommen kann, sondern in jedem Fall, in dem eine Liebende erotisch-wünschend auf die Rückkehr wartet. Denn was ihr in jedem Fall nicht gelingen kann ist die

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Erst damit ist auch der wesentliche sachliche Unterschied zur Erörterung der Hoffnung (2,111) benannt. Das subjektive Bleiben kann ja durchaus als eine Variation der Hoffnung verstanden werden, nämlich als Selbstbewahrung des Liebenden in der Liebe. Die leibhaftige Rückkehr des Geliebten aber geht über diese Selbstbezüglichkeit hinaus und stellt sie in den Kontext eines fremden Anspruches. Was nun beschrieben werden muß, ist die intersubjektiv-leibhaftige Gestaltung des Basissatzes, den die Hoffnung aussagt; vgl. die Passage, mit der die Beschreibung der Versöhnung eingeleitet wird: „Daß er, welcher bleibt, doch niemals hinfällig wird, das ist wohl für ihn selbst ein ewiger Gewinn; ist aber zugleich, und in diesem Sinne betrachten wir es hier, und derart betrachtet er es selbst, ein Um [Gjerning] der Liebe in Treue gegen den, welchen er liebt" (345/300).

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

365

Versöhnung „mit der seligen Freude der Ewigkeit". Die Ewigkeit fehlt ihrem Warten, aber damit auch die bestimmte affektive Struktur, die eine Versöhnung allererst möglich macht. Insofern scheint das Hinschwinden des Mädchens letztlich fast eine Form der Untreue zu sein (s. 345/300), weil sie in der spezifischen Gestalt ihres Wartens keine Kraft zu dieser Freude hat. Nach Kierkegaards Beschreibung aber ist gerade die affektive Gestalt entscheidend für die Möglichkeit der Versöhnung. Das besondere Problem der Rückkehr liegt nämlich in der prekären Situation des Zurückkehrenden: er ist der Schuldige, er muß zurückkommen, und die Gefahr ist, daß ihm dieses Zurückkommen zu schwierig und zu hart wird. Die Aufgabe für den Liebenden besteht entsprechend darin, dem Anderen die Rückkehr so leicht und so weich wie möglich zu machen. Der Liebende, Bleibende muß also die Rückkehr des Anderen gestalten, diese Gestaltung aber ist durch die vorher beschriebene Gestalt des Bleibens bestimmt: „Wenn die zweie von der Vergangenheit beide eine Vorstellung haben, oder davon, daß die Trennung lange gewährt hat, so ist die Vergebung oft ein schwieriger Zusammenstoß, und das Verhältnis wird doch vielleicht niemals ganz wiederhergestellt; aber der Liebende weiß nichts von dem Vergangenen, deshalb tut er in Liebe noch dieses letzte, er fängt den Stoß dergestalt auf, daß es zu keinem Zusammenstoß kommen kann [...] denn es ist ja doch unmöglich, sich an dem zu stoßen, was weicher ist als das Weicheste, an der Liebe" (345f./301). Es ist erneut wichtig zu sehen, daß die Gestaltung der Rückkehr hier als unmittelbare expressive Wirkung der dritthaften Liebe dargestellt wird. Das Auffangen des Zusammenstoßes ist nicht als willentlich-bewußter Entschluß beschrieben, sondern geradezu als bewußtloser Akt des Nicht-Wissens. In der Rede vom „Zusammenstoß" ist die leibliche, ja sogar bloß körperliche Erscheinungsweise dieses gestaltenden Handelns unmittelbar angesprochen. Das heißt nicht, daß solches Gestalten bewußtlos oder mechanisch geschieht, sondern daß es die leibliche Wirkung oder Selbstäußerung einer vorgängigen, dritthaften Leiblichkeit ist. Die Affektivität der Freude ist nicht subjektiv gemacht oder gewollt, sondern sie ist Bestandteil der leiblichen Konstitution des Liebenden. Das „Weicheste" ist eben die Liebe selbst, d.h. als Drittheit, und diese Liebe bringt sich im gestaltenden, willentlichen Handeln des Liebenden zum Ausdruck. Sie bringt sich zum Ausdruck in Form einer bestimmten Leiblichkeit: Weichheit, Leichtigkeit, Natürlichkeit (s. 346/301) und Freude sind affektiv-expressive Bestimmungen, die den „Übergang der Vergebung" (ebd.) zwischen zwei Handelnden erst ermöglichen.

366

3. Kapitel: Das Können

Ich möchte das hier beschriebene expressive Handeln als den Stil des Liebenden bezeichnen und damit auf die ästhetische Dimension von Expressivität aufmerksam machen72. Mit dem Stilbegriff ist bei Kierkegaard ein gestaltendes Handeln gemeint, das durch sein zugrundeliegendes Grundverhältnis „pathetisch" ist (so der Ausdruck der Nachschrift) und in dieser affektiv-expressiven Struktur zugleich auf ein indirektes Verstehen des Anderen zielt. Der Liebende geht mit der gemeinsamen Geschichte und der Schuld des Anderen in einer Weise um, die es dem Anderen ermöglicht, der Vergebung zuzustimmen und so die versöhnende Absicht der Liebe zu verstehen. Der Stil der Liebe zielt darauf, daß der Zurückkehrende die Situation der Wiederbegegnung so verstehen kann, daß er von der Versöhnung nicht zurückgestoßen wird. Diese Wirkung wird erreicht durch die spezifische affektive Gestaltung der Begegnung, wie sie oben beschrieben ist. Die Zustimmung des Anderen kann nicht erzwungen werden, da sie gerade Ausdruck seines eigenen freien Liebenkönnens ist. Aber sie kann vorbereitet, gestaltet oder inszeniert werden, und diese Gestaltung ist die leibliche Wirkung, die der Liebende aufgrund seiner leiblichen Verfassung als in der Liebe Bleibender erzielt: „daß keine, gar keine Stockung eintrete, die vor den Kopf stoßen könnte, weder die einer Sekunde noch die einer Kleinigkeit: das bewirkt [bevirker] der Liebende, denn er bleibt und wird niemals hinfällig" (346/301). Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Kategorie der Drittheit der Liebe wird in der Rede als entscheidender Unterschied zwischen erotischer und schöpferischer Liebe gebraucht. Dabei kann diese Drittheit nicht als Reflexionsbestimmung, also etwa als Bestimmung eines spezifisch christlichen (Liebes-)Bewußtseins, verstanden werden, sondern steht gerade für die ontologische Eigenständigkeit einer dritten Wirklichkeit, in die der Handelnde als wahrhaft Liebender a priori eingebunden ist. Der Liebende bleibt, indem er „in" der Liebe bleibt. Diese Wirklichkeit, die primär als bleibend beschrieben werden kann, versuche ich, als die Leiblichkeit der Liebesbeziehung zu verstehen. Denn die Qualität des Bleibens wird nicht einem einzelnen Bewußtsein oder

72

Den Begriff des Stils übernehme ich aus der Nachschrift, vgl. AUN2, 54ff. Der Stilbegriff bezieht sich dort auf die besondere indirekte Mitteilungsform des subjektiven Denkers, wird also von Climacus als ästhetisch-ethischer Kommunikationsbegriff verstanden. Vgl. ferner C. Taylor, Expression, 80. Mit dem Begriff des Stils wird es (erneut) möglich, das Handeln unter dem Verhältnis von Form und Inhalt zu denken (vgl. o. Kap. 3,1.).

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

367

Willen zugeschrieben, sondern der intersubjektiven Beziehung, die „Liebe" heißt. Der Begriff der intersubjektiven Leiblichkeit verbindet ursprüngliches Sein und Wirkung, Grund und Folge der bleibenden Liebe. Die bestimmte Form von Leiblichkeit, in der der Handelnde als Liebender auf den Anderen bezogen ist, ist zugleich diejenige expressive Wirklichkeit, die sich als Vitalität und somit als leibgebundene Möglichkeit zur Erneuerung jener Beziehung im expressiven Handeln des Liebenden ausdrückt. Der Begriff der Leiblichkeit ist dann insofern ein Aspekt des Handlungsbegriffes der Liebe, als er a) die vorgängige Bestimmtheit des Liebeshandelns beschreibt, nämlich die bestimmte Handlungsbeziehung und ihre bestimmte raum-zeitliche Form, und b) die Wirksamkeit des Liebeshandelns so zu denken erlaubt, daß der Leib dabei nicht als bloßes Instrument des Willens erscheint, sondern als die fundamentale Form und das Medium dieses Handelns; die Wirklichkeit der Liebe kann nicht ohne ihre kommunikative Wirksamkeit (Versöhnung) beschrieben werden, und diese Wirksamkeit nicht ohne den Leib als ihren Ursprung und Form. Den Begriff der Leiblichkeit habe ich bei der Interpretation gebraucht, um den Terminus des „Dritten" auszulegen, der in dieser Rede eine prominente Stellung einnimmt. Damit ist nicht gesagt, daß mit der Rekonstruktion der leiblichen Struktur die von Kierkegaard behauptete Drittheit der Liebe vollständig erfaßt wäre. Doch im Kontext der Rede VI ist Leiblichkeit derjenige Aspekt, unter dem das Handeln in Liebe zu beschreiben ist.

4. Dritte Variation (2, VII) Versöhnende Liebe als Kreativität: Expressivität 4.1. Kreativität Die Rede VII ist eine Auslegung des Begriffes der Barmherzigkeit. Von Beginn an wird hervorgehoben, daß dieses Thema besondere hermeneutische Sorgfalt verlangt. Denn die Frage der Barmherzigkeit ist von einer besonderen Nähe zwischen Sprecher und Hörer, zwischen der Rede und ihrem Handlungskontext geprägt. Es ist nämlich nur allzu leicht, eine Rede über die Barmherzigkeit so zu halten, daß der Redner damit gerade diejenigen, denen Barmherzigkeit gelten soll, unbarmherzig behandelt. Dies passiert, wenn man „die Barmherzigkeit verschweigt, um von Freigebigkeit zu sprechen" (347/

368

3. Kapitel: Das Können

302). Barmherzigkeit und Freigebigkeit dürfen nicht vermischt werden, sie sind vielmehr fundamental zu unterscheiden. Eine Rede über die Freigebigkeit verschweigt nämlich das entscheidende Merkmal der Barmherzigkeit: die Fähigkeit, „Barmherzigkeit üben zu können [at kunne 0ve Barmhjertighed]" (ebd.). Die Freigebigkeit kennt nur die eigenen Gaben und Mittel, die Kierkegaard als „Geld, Geld, Geld" (ebd.) drastisch auf den Begriff bringt. Das eigene Können, die Handlungskompetenz der Angesprochenen hingegen muß im Mittelpunkt der Bestimmung von Barmherzigkeit stehen, weil allein dadurch auch der Handlungskontext als ein Kontext der Liebe thematisiert ist. Denn nach unserer bisherigen Rekonstruktion ist ja das reziproke Liebenkönnen ein entscheidendes Element der Liebe als einer wirksamen Handlung. Eine Rede über die Barmherzigkeit muß nun genau dieses Können thematisieren. Und sie muß dieses Können als eine bestimmte Form von Wirksamkeit beschreiben, die sich von der Wirksamkeit der „Freigebigkeit" unterscheidet. Kierkegaard tut dies, indem er anhand der Barmherzigkeitsthematik das Liebenkönnen als das fundamentale Handelnkönnen, als die Kreativität menschlichen Handelns bestimmt. Auf diesen Aspekt will ich im ersten Abschnitt meiner Besprechung eingehen. Und insofern in einer Rede über die Barmherzigkeit der Handlungskontext des Redenden selbst angesprochen ist, muß die Rede auch auf ihre Form reflektieren. Dieser Forderung kommt Kierkegaard nach, indem er einen bestimmten Kommunikations- und Erfahrungsbegriff entwickelt, der der fundamentalen Stellung des fremden Könnens gerecht wird. Diesen Erfahrungsbegriff werde ich durch die Kategorie des Expressiven deuten und damit zugleich den Zusammenhang mit dem expressiven Handlungsverständnis herstellen, welches ich in der Interpretation dieser Reden verfolge. Das Können wird sich als diejenige Wirklichkeitsform der Liebe erweisen, die nur in einer bestimmten expressiven Form wirklich und wirksam wird. Der Hauptteil der Rede läßt sich in drei Hauptabschnitte unterteilen. Den Aspekt des Handelnkönnens behandelt Kierkegaard primär in den ersten beiden Abschnitten, die jeweils mit einer thesenartigen Überschrift versehen sind: „Barmherzigkeit hat nichts zu geben" (349ff./303ff.) und „Barmherzigkeit vermag nichts zu tun" (356ff./ 309ff.). Beide Thesen sind zunächst polemisch gegen das Handlungsverständnis der Freigebigkeit gerichtet. Die Pointe liegt jedesmal in dem „nichts [Intet]": Die Form der Wirksamkeit, die für die Barmherzigkeit wesentlich ist, wird paradoxerweise anhand dieses Nichts sichtbar, insofern damit die spezifische Differenz zur Freigebigkeit

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

369

benannt ist. Das Verständnis dieses Nichts muß also jeweils zwei Behauptungen belegen: erstens, daß sich eine fundamentale Alternative zur Freigebigkeit überhaupt formulieren läßt; zweitens, daß auch diese Alternative als eine Form wirksamen Handelns aufgewiesen werden kann. Der erste Hauptabschnitt muß eine Alternative zum Etwas-Geben oder Almosengeben formulieren. Die Alternative ist das reine Barmherzigseinkönnen. Solches Barmherzigseinkönnen ist zunächst noch ganz unbestimmt, d.h. es ist noch nicht vermittelt durch die konkreten Gaben. Die Gabe, die es gibt, ist nichts anderes als dieses bloße Können. Wie ist das zu verstehen? Es bedeutet zunächst die Kritik der Vermittlungsgröße, die für die Freigebigkeit entscheidend ist: des Geldes. Kierkegaard illustriert die Differenz durch das Gleichnis vom Scherflein der Witwe (vgl. Lk 21,1-4): Auch wenn man sich vorstellte, daß ihre „zwei Pfennige" gestohlen worden wären, so hätte sie doch immer noch mehr gegeben als der reiche Mann mit seiner vergleichsweise großen Geldgabe (s. 350/304). Die Witwe gibt, aber diese Gabe kann nicht in Geld gemessen werden 73 . Zunächst geht es noch nicht um die Frage, worin diese Gabe selbst denn nun besteht. Die negative Argumentation soll zuerst die kategoriale Differenz der Gabe vom Geben feststellen: Der Satz Jesu, „*sie gab von ihrer Armut [hun gav afsin Armod\u (351/305) bezeichnet für Kierkegaard genau diese kategoriale Differenz. Der Schatz, aus dem die Witwe gibt, ist unter den Begriffen des Geldes ein Nichts, Armut. Das heißt, daß die Gabe aus diesem Schatz prinzipiell nicht in Begriffen jener Praxis beschrieben werden kann, die durch Geld bestimmt ist. Was aber ist so schlecht am Geld? Kierkegaards Kritik an dieser Stelle scheint auf den Vorwurf hinaus zu laufen, daß das Geld an die Stelle der Religion oder der Ewigkeit getreten ist. Die Satire auf das Geld als spießbürgerlich verstandenem „Ernst des Lebens" (s. 352f./306f.) beschreibt, wie das Geld die Funktion übernimmt, die Wirklichkeit zu definieren, und damit zur quasi-religiösen und moralischen Bezugsgröße wird74. Die73

74

Die Pointe des Gleichnisses in dieser Form und diesem Kontext ist also nicht der Hinweis auf eine tugendhafte Gesinnung, die auch trotz eines realen Mißerfolges Gültigkeit hätte; entscheidend ist für Kierkegaard vielmehr die Differenz der Gabe und damit die Differenz der Handlungsform der armen Witwe gegenüber der Gebehandlung des Reichen. Die Arme gibt etwas grundsätzlich Anderes als der Reiche, sie gibt ihr bloßes Barmherzigseinkönnen. Die Verbindung des Geldes mit dem Begriff des Ernstes enthält einen Hinweis auf die handlungstheoretische Bedeutung, die Kierkegaard dem Geld zuweist. In 1,V war mit dem Ernstbegriff die selbstvermittelnde Struktur der Liebe beschrieben

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3. Kapitel: D a s Können

se allgemeine Beobachtung aber bedeutet zugleich für die Frage der Barmherzigkeit, daß das Geld die ursprüngliche religiöse Qualität und Struktur dieses Handelns verdeckt: der Reiche „verdunkelt mit seiner Gabe völlig des Armen - Barmherzigkeit" (350/305). Das Problem des Geldgebens der Freigebigkeit liegt darin, daß hier die Gabe als Vermittlungsgröße des Handelns in den Mittelpunkt rückt, damit aber die ursprünglichere, zugrundeliegende Struktur des Handelns selbst aus den Blick gerät. Der negative Sinn des „nichts" aus der Überschrift ist es zunächst, den Blick auf das ursprüngliche Phänomen der Barmherzigkeit als einer Handlung freizuräumen. Diese ursprünglichere, noch nicht vermittelte Form des Handelns ist es, die an der „Armut" der Witwe abgelesen werden kann; zum einen als negative Differenz zur Kategorie des Geldes, zum anderen aber auch positiv: In der Armut an Mitteln wird der ursprüngliche Reichtum des Handelns sichtbar, nämlich das Barmherzigkeit-übenKönnen, das so fundamental für einen Menschen ist, daß es auch ohne Vermittlungsgrößen gedacht werden muß. Zugleich aber kann Barmherzigkeit eo ipso nicht als Nicht-Geben verstanden werden, sondern auch dieses ursprüngliche Können ist als das Geben einer Gabe zu denken. Die Armut der Witwe ist sozusagen tatsächlich ein Schatz, nämlich der Schatz von ganz bestimmten Gebehandlungen. Das „Nichts" der Überschrift ist nicht ein reines Nichtsein von Gaben, sondern bezeichnet die schöpferische Unbestimmtheit des ursprünglichen Handelnkönnens. Schöpferisch ist diese Unbestimmtheit zunächst darin, daß sie nicht an bereits gegebene Definitionen dessen, was eine Gabe ist, gebunden ist; in dieser Unbestimmtheit ist noch alles möglich. Doch welches sind die dieser schöpferischen Armut entsprechenden Gebehandlungen und Gaben? Es wäre nun möglich, allgemeine Handlungsformen oder Einstellungen zu nennen, die ohne Geld auskommen (etwa Freundlichkeit, Rücksichtnahme etc.). Doch Kierkegaard erörtert die ursprünglichen Gebehandlungen im Kontext der mit der Barmherzigkeit unausweichlich gegebenen Versöhnungsthematik; er beschreibt sie nämlich in Hinblick auf das konkrete komworden. Betrifft der Ernst die Frage der Vermittlung des Handelns, so erweist sich nun das Geld als eine solche Vermittlungsform. Indem das Geld an die Stelle des religiösen Ernstes tritt, geht die kreative Unbestimmtheit verloren, die für den Ernst charakteristisch war (s.o. Kap. 2,III.). Diese Unbestimmtheit, aus der heraus die dritthafte Liebe sich je konkret selbst bestimmt, wird nun durch innerweltliche Gegenstände in eine Bestimmtheit überführt, die nicht mehr die der Liebe sein kann; vgl. M. Theunissen, Ernst, 105ff.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

371

munikative Verhältnis zwischen Armen und Reichen. Das bedeutet für den Reichen, daß er barmherzig gibt, wenn er den Armen auf dessen eigenes Handelnkönnen anspricht. „O, es liegt etwas so unbeschreiblich Versöhnendes darin, daß man zu den Armen vom Üben der Barmherzigkeit spricht" (354/308). Der Reiche kann also nur Worte der Ermutigung oder Anerkennung geben, aber eben damit handelt er versöhnend. Denn es sind Worte und Gesten, durch die er die Anerkennung zum Ausdruck bringt, die dem Handelnkönnen des Anderen gilt. Erneut wird das Werk der Liebe, die Barmherzigkeit, als sprachliche Artikulation des gegenseitigen Handeln- und Liebenkönnens beschrieben. Auch das barmherzige Geben des Armen ist ein durch seine expressive Form bestimmtes Versöhnungshandeln, nämlich das Ver-Geben: der Arme gibt barmherzig, wenn er dem Reichen dessen Hartherzigkeit vergibt. „Falls der Reiche karg und knauserig ist, oder selbst wenn er nicht eben mit dem Geld knausert, jedoch so wortkarg und hochfahrend ist: dann sei du reich an Barmherzigkeit! Denn Barmherzigkeit tut Wunder, macht die zwei Heller zu einer großen Summe, wenn die arme Witwe sie gibt, macht die karge Gabe zu einer größeren Summe, wenn der Arme mit dem Reichen nicht ins Gericht geht, macht den mürrischen Geber weniger schuldig, wenn der Arme es barmherzig bedeckt" (355f./309). Daß die Vergebung des Armen für den Reichen überhaupt von Bedeutung ist, ist nur verständlich unter der Voraussetzung, daß es auch hierbei nicht um eine bloß zweistellige Relation geht. Wenn die Beziehung zwischen dem Reichen und dem Armen als Beziehung eine dritte und damit auch ewige Größe ist (s. 2,VI), dann ist auch die Schuld des einen ein „ewiges" Problem, so daß der Schuldiggewordene unbedingt der Vergebung bedarf. Die orthodoxe Gerichtsterminologie (der Arme hat die Macht, „des Himmels Strafe auf seine Unbarmherzigkeit herabzurufen", ebd.) drückt nicht (nur) pietistische Sündenangst aus, sondern benennt die nicht reduzierbare fundamentale Bedeutung der Handlungsbeziehung. Auch hier wirkt die Konzentration auf die Gabe als Verdunkelung: sie läßt dem Armen als Empfänger einer Gabe keinerlei Chancen auf eine eigene Handlungsfähigkeit. Auf die Gabe kann er nicht eigentlich reagieren, wohl aber auf den Geber und dessen Verhalten. Doch das bedeutet, daß hinter der Gabe der Geber überhaupt erst thematisch werden muß, um die Beziehung der beiden als drittes wahrzunehmen und damit die eigentliche Handlungsproblematik zu entdecken; denn nun spielt die expressive Dimension des Gebens wie des Empfangens die entscheidende Rolle. Dies ist die Ebene, auf der die Verletzung erfah-

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3. Kapitel: Das Können

ren wird (der Hochmut des Gebers) und ihre Heilung durch die barmherzige Vergebung stattfindet. Selbst wenn der Reiche sich dieses Bedürfnisses nach Vergebung nicht bewußt ist und insofern auch die tatsächliche Vergebung gar nicht erfährt (und Kierkegaard macht sich darüber keine Illusionen: die Klage eines Armen über einen Reichen vor Gott ist für die Welt „das Allergleichgültigste", ebd.), so ist dennoch die Vergebung des Armen für das Verhältnis selbst und damit auch für den Reichen unverzichtbar. Diese Unverzichtbarkeit läßt sich nicht mehr direkt innerhalb der Handlungswelt aufweisen, ebensowenig wie die Drittheit der Liebe als qualitatives Verhältnis direkt aufweisbar ist. Aber sie wird erlebt als die Drohung des göttlichen Gerichtes; denn die Ewigkeit ist die Instanz, wo die scheinbar kontingente Handlungsbeziehung zwischen den beiden festgeschrieben wird75. Letztlich ist ein gemeinsames Leben ohne solche Vergebung nicht möglich, zumindest wenn man voraussetzt, daß auch ein Reicher und ein Armer trotz ihrer sozialen und räumlichen Distanz theologisch gesehen „zusammen"-leben und einen gemeinsamen Handlungsraum teilen76. Das schöpferische Nichts der Barmherzigkeit zielt auf das Vermögen, in Situationen von Ungleichheit dennoch die konkrete Beziehung zu dem Anderen als einen lebensermöglichenden Handlungsraum zu gestalten. Das Nichts steht für diese Kreativität der Liebe, die aus Nichts noch etwas macht, nämlich Auferbauung. Die Liebe drückt sich als Kreativität aus, und das schöpferische Nichts ist gewis75

76

„aber dennoch, dennoch, obwohl ich nicht unbekannt bin mit dem Geschrei der Großmäuligkeit - ich wische dergleichen fort, wofern nur kein Armer mich mit Fug anklagen könnte in Einsamkeit vor Gott" (ebd.). Wenn es zutrifft, daß Kierkegaard auch dem hier beschriebenen Verhältnis zwischen den sozial und räumlich Getrennten, den Armen und den Reichen, eine „ewige" Qualität zuschreibt, könnten von hier aus mögliche Konsequenzen für einen positiven Begriff der politischen Gemeinschaft bei Kierkegaard gezogen werden. Die geschilderte Beziehung ist nur punktuell und asymmetrisch, aber dennoch ist sie in der Ewigkeit zu verantworten. Es scheint, als könne Kierkegaard in der orthodoxen Sprache eine gemeinschaftliche Verbindung benennen, die quer zu den gesellschaftlichen Differenzierungen steht und nicht auf die mit diesen Differenzierungen verbundenen sozialen Institutionen (Klassen, Bildung etc.) reduziert werden kann. Die Betonung der affektiven Dimension im Verhältnis zwischen dem Armen und dem Reichen erinnert an die Argumentation in 7,111 B. Dort war am Beispiel der armen Arbeiterin (!) das Affektive unter dem Aspekt der freien Zustimmung und Bejahung der zugemuteten Aufgabe thematisch geworden. Und auch dort gründete die positive Wirkung des Affektiven in der Bedeutung des subjektiven Handelnkönnens, nämlich in der Freiheit, mit der die Arbeiterin ihre Arbeit ausübt.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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sermaßen ihr Zeichen. Das bedeutet, daß die Liebe kein ihr fremdes Zeichen (Geld) braucht, um wirklich zu werden! Die Aufforderung an die Armen, den Reichen zu vergeben, ist insofern auch nicht die zynisch klingende Moral einer reaktionären Politik (obwohl sie bewußt provokativ gestaltet ist!), sondern sie ist in dem Gegenstand der Rede begründet, dem Handeln-Können. In ähnlicher Weise wird im zweiten Hauptabschnitt die Barmherzigkeit als schöpferisches Nicht(s)-Tün entwickelt. Erneut ist das Gegenbild der Reiche. Der Reiche steht für „die Möglichkeit, etwas tun zu können", die unterschieden wird von der „Möglichkeit, barmherzig sein zu können" (357/310). Jetzt wird also das vorher herausgestellte Handelnkönnen weiter differenziert: es gibt verschiedene Formen des Könnens. Das „Etwas", das der Reiche als Reicher tut und mit dem er das unmittelbare Barmherzighandeln verdeckt, ist erneut das Geld. Denn mit Geld läßt sich viel tun und machen. Und erneut zielt die Rede darauf, dieses Sichthindernis aus dem Weg zu räumen. Doch was genau verdeckt das Geld? Es verdeckt erneut den Blick auf die ursprüngliche Kreativität der Barmherzigkeit, nur wird diese diesmal nicht einmal mehr als gebend gedacht. Das Können ist jetzt noch elementarer dargestellt; war das Thema vorher die elementare Form des Gebens, so geht es nun um den Grund dieser elementaren Barmherzigkeit. Die Kreativität, die einen Menschen auch unter den schlechtesten Bedingungen noch handeln läßt, wird nun als solche auf den Begriff gebracht: „Denk dir eine Witwe in Armut: sie hat eine einzige Tochter, aber dieser Tochter hat die Natur stiefmütterlich beinahe jede Gabe verweigert, mit der sie das Schicksal der Mutter lindern könnte - denk dir dieses unglückliche Mädchen, welches unter der schweren Bürde seufzt, wie sie dennoch entsprechend dem geringen Vermögen, das ihr vergönnt ward, unerschöpflich ist an Erfindungskraft [uudt0mmeligt i Opfindsomhed], um das bißchen, das nichts zu tun, was sie vermag, um das Leben der Mutter zu lindern" (358/311f.). Das elementare Barmherzigseinkönnen ist ein unbestimmt-schöpferisches Nichts, das sich in konkreten expressiven Handlungen äußert. Das Nichts an Gaben ermöglicht gerade den Blick auf die Unerschöpflichkeit der expressiven Äußerungen, über die die Handelnde in jeder Situation verfügt. Der Begriff der „Erfindungskraft" benennt dieses schöpferische Vermögen, in jeder Situation noch etwas Barmherziges tun zu können. Es sind die kleinen Handlungen, die gegenüber den großen Hilfsaktionen der Geldgeber verblassen, die aber in Mimik, Gestik, Ausdruck und Phantasie die ursprüngliche Barmherzigkeit sichtbar machen. Kierkegaard faßt sie

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3. Kapitel: Das Können

zusammen im Begriff der „Teilnahme [Deeltagelse]" (359/312), und auch in diesem Begriff ist der affektiv-expressive Ton am stärksten. Expressiv sind die Handlungen der Teilnahme darin, daß sie nichts geben als diejenige Einstellungen und Gefühle, die sie verkörpern; es sind Handlungen, die reiner Ausdruck sind - und sonst nichts. Und was sie ausdrücken, ist ebenfalls nichts außer das, was sie selbst darstellen: das bloße Handeln können. Damit ist auch die Beschreibung der Barmherzigkeit der Armen vertieft und erneut provozierend zugespitzt: Ihr versöhnendes Vergebungshandeln ist eine Form der affektiv wirksamen Teilnahme: „Sei barmherzig gegen uns Glücklichere! Dein kummervolles Leben ist wie ein gefährlicher Einwand gegen die liebende Lenkung, du hast es deshalb in deiner Macht, uns andere zu ängstigen; so sei barmherzig! [...] Was ist wohl am barmherzigsten, entweder der Not anderer mächtig abzuhelfen, oder durch stilles und geduldiges Leiden sich davor zu bewahren, daß man die Freude und das Glück anderer nicht zerstöre? Wer von diesen beiden hat am meisten geliebt: der Glückliche, der mit dem Leiden anderer Teilnahme empfindet, oder der Unglückliche, der mit der Freude und dem Glück anderer wahre Teilnahme empfindet?" (ebd.). Es ist leicht, in dieser Argumentation einen Zynismus zu entdekken, der die Thematik der elementaren Handlungsfähigkeit dazu benutzt, Fragen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit abzuwehren. Dieser Verdacht kann nicht durch den Hinweis ausgeräumt werden, daß es der Rede gar nicht um Gerechtigkeitsfragen geht. Gesellschaftliche Gerechtigkeit ist sehr wohl ein Thema für Kierkegaard, aber es kommt darauf an, wie sie hier verstanden wird. Kierkegaard geht es nicht um Gerechtigkeit im Sinne einer Güterverteilung, wohl aber um die Frage, wie Menschen unter den Bedingungen von Ungleichheit tatsächlich zusammenleben können, anders gesagt: sein Thema ist die Versöhnung von Reichen und Armen in ihrer gegenseitigen „ewigen" Gleichheit 77 . Solche Versöhnung muß nun aber gerade vor

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Vielleicht läßt sich die Differenz so beschreiben: Versöhnung antwortet auf das Problem einer ontologischen Ungleichheit zweier Handlungspartner, während die Ungerechtigkeit zunächst die Ungleichheit der Güterverteilung betrifft, die dann wiederum der Ausdruck einer zugrundeliegenden Ungleichheit des ontologischen Status' sein kann. Die Werturteile, die mit Ungerechtigkeit einhergehen, sind oft Artikulationen einer ontologischen Zuschreibung, also Aussagen über Gleichheit und Ungleichheit. Diese Differenz, wie immer sie auch beschrieben wird, scheint mir wichtig zu sein, um Kierkegaards Mißtrauen gegen sozialpolitisches Handeln zu verstehen (vgl. K. Nordentoft, Brand-Majoren, 78f£). Er insistiert darauf, daß das eigentliche soziale

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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den Gütern ansetzen, sie ist auf einer elementareren Ebene zu thematisieren, nämlich auf der Ebene der urspünglichen Handlungsfähigkeit. In dieser Handlungsfähigkeit wird das Subjektsein, die Autonomie als Handelnder gewonnen. Doch wird diese Autonomie nicht abstrakt als Formel einer allgemeinen, inhaltlich offenen Handlungsfähigkeit beschrieben, sondern als die konkrete Fähigkeit zum versöhnenden Handeln, zum Miteinanderlebenkönnen; und solche Handlungsfähigkeit ist dementsprechend nicht als theoretisches Postulat, sondern in der Beschreibung ihres Vollzugs darzustellen78. Das Nichtvergeben wäre nicht im selben Maße Ausdruck der selbstbestimmten Handlungsfähigkeit. Die Rede fragt nach der Struktur des Handelns, nach dem Handlungsbegriff, aber nicht in einem formalen Sinne; und sie fragt damit auch nicht nach den mit dem Handeln verbundenen Gütern. Fragen der gerechten Güterverteilung sind dadurch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber als eine andere Klasse von Fragen identifiziert79. Kierkegaard thematisiert die Frage der gesellschaftlichen und individuellen Versöhnung als Frage nach der Sprache des elementaren menschlichen Handeln-, nämlich Liebenkönnens. Indem er dieses Handelnkönnen in seinen expressiven Darstellungsformen identifiziert, erschließt er einen Subtext, eine soziale

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Problem nicht die Armut ist, sondern die Wertzuschreibungen, die die moderne Kultur über den Menschen anstellt. In Kierkegaards Texten ist das Interesse an hierarchischen oder ungleichen Handlungsverhältnisses stark ausgeprägt (vgl. etwa PB: König und Bettelmädchen; CR, Erste Abteilung: Arme und Reiche; TL1,UI Α.: Vater und Sohn; III B.: die Arbeiterin); dabei geht es ihm stets um die Möglichkeiten, wie auch innerhalb hierarchischer und gesellschaftlicher Unterschiede ein Verhältnis von prinzipiell Gleichen realisiert werden kann; in diesem Zusammenhang wendet er den Begriff der „Gleichheit" vor Gott an, vgl. o. Kap. 2,1. Solche Gleichheit ist also nicht als ein bloßes Postulat gemeint, sondern als die Bestimmung eines intersubjektiven Verhältnisses, die in den Handlungen der Beteiligten expressiven Ausdruck findet; „Gleichheit" ist die expressive Form, in der ungleiche Akteure als Gleiche miteinander umgehen. Das Insistieren auf der Handlungsfähigkeit und der damit verbundenen ewigen Gleichheit trägt freilich auch einen formalen Zug, der durch die Unbestimmtheit dieser Fähigkeit („Nichts") angezeigt wird. Doch im Unterschied zu einer prozeduralen Ethik verbindet sich mit dieser scheinbaren Leere kein Kriterium zur Beurteilung von Einzelfällen. Kierkegaard sucht zwar nach Kategorien des Handelns, dies aber im phänomenologischen Interesse, d.h. die allgemeingültigen Bestimmungen oder Kategorien werden in der Beschreibung des Einzelfalls gewonnen, nicht aber diesem Einzelfall kriteriologisch gegenübergestellt. Zur Ideologie wird dieses Vorgehen erst, wenn die beiden Fragerichtungen gegeneinander ausgespielt werden und nur noch eine von ihnen als legitim behauptet wird; Kierkegaard wahrt diese Grenze - trotz aller Polemik und zugespitzten Einseitigkeit stellt er die Gerechtigkeitsfrage niemals als solche in Frage.

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3. Kapitel: Das Können

Tiefenstruktur, die allen tatsächlichen sozialen Diskursen zugrundeliegt und von diesen u.U. verdeckt wird. Das „Nichts" des Barmherzigseinkönnens wird so in beiden Abschnitten in doppelter Hinsicht positiv ausgelegt: Zum einen bezeichnet es das von allen endlich-zweistelligen Bestimmungen und Vermittlungen abgelöste bloße Können, sozusagen den bloßen Punkt des reinen Könnens. Das Handeln-Können wird so als Kategorie gewonnen, aber diese Kategorie ist keine Reflexionsbestimmung. Vielmehr wird sie als ein bestimmtes Phänomen am Handeln selbst aufgewiesen, indem sie an einer bestimmten Handlungsweise exemplarisch entdeckt wird. Darin liegt der Unterschied zu einem transzendentalphilosophischen Ansatz, der den Begriff des guten Handelns nicht an einem bestimmten Handlungstyp als solchen empirisch aufweisen könnte, sondern an einem formalen Kriterium (Kant) oder an der Vollzugsform von Subjektivität (Fichte). Die zweite Bedeutung des „Nichts" ist das Element des Schöpferischen, das sich mit der Unbestimmtheit dieses „Nichts" verbindet. Das Nichts an Gütern wird zum Zeichen des kreativen Reichtums, mit dem ein Handelnder kraft seines Menschseins in Situationen zu handeln vermag. Hieraus ergibt sich wiederum ein Doppeltes. Diese Kreativität belegt zum einen erneut das fundamental leibliche Verständnis des Handelns in TL. Denn es sind Körperbewegungen und deren spezifische Expressivität, die von Kierkegaard als Formen des Barmherzigseinkönnens angeführt werden. Bloße Willensakte oder „innere" Absichten können nicht die besondere leibliche Wirksamkeit ausdrücken, die mit der Barmherzigkeit verbunden ist80; und dingliche Vermittlungsgrößen lenken den Blick auf eine prinzipiell andere Form der Wirksamkeit.

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Eine weitere Variation der Samariter-Geschichte aus Lk 10,25f£ belegt, daß Kierkegaard die Barmherzigkeit auch in extremer Beschränkung nicht als monologische Willensbewegung versteht, sondern als intentionale und schöpferische Körperbewegung: „Gesetzt, es wäre nicht ein einzelner Mensch gewesen, der von Jericho nach Jerusalem reiste, sondern es wären zwei gewesen, und beide wären von Räubern überfallen und verstümmelt worden, und kein Reisender wäre vorbeigekommen - gesetzt dann, der eine von ihnen hätte nichts anderes gewußt, als zu jammern, während der andere sein eigenes Leiden vergessen und Uberwunden hätte, um milde und freundliche Worte zu sprechen, oder sich, was mit heftigen Schmerzen verbunden war, zu einem kleinen Wasser hingeschleppt hätte, um den anderen einen Labetrunk zu verschaffen; oder gesetzt, die beiden wären der Sprache beraubt, aber der eine von ihnen hätte in seinem stummen Gebet auch für den andern zu Gott geseufzt: wäre er dann nicht barmherzig gewesen?" (357/310) Bereits zu Beginn der Rede wird der barmherzige Samariter neben der armen Witwe aufgeboten und seine Geschichte neu erzählt (s. 349£/304). Auch dort wird die

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Das bloße Können intersubjektiven Handelns kann nur noch an Handlungsformen aufgezeigt werden, in denen der Handelnde allein seine eigene leib-seelische Bestimmtheit als Medium behalten hat81. Das schöpferische Barmherzigseinkönnen erweist sich als ein Können der ganzen Person, als ein leibgebundenes Sichverhalten zu bestimmten Umständen und Situationen. Und andererseits kann seine Liebe nicht losgelöst von den Körperbewegungen beschrieben werden, in denen sie zum Ausdruck kommt; die Liebe und ihre expressive Gestalt sind identisch82. Zum anderen enthüllt der zweite Aspekt, das Schöpferisch-Unbestimmte, die Rolle, welche „die" Liebe in dieser Rede spielt. „Die" Liebe wird als Subjekt diesmal kaum explizit erwähnt; der Begriff der Barmherzigkeit fungiert als ihr Statthalter, allerdings nur auf der anthropologischen Ebene: als die Tat, die von einem Handelnden getan wird. Als expressives Subjekt des Handelns ist die Liebe damit noch

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Erfolglosigkeit seines Helfens vorgestellt, doch erneut ist es nicht die gute Absicht, die dennoch barmherzig genannt wird, sondern sein tatsächliches, wenn auch vergebliches Hin. Eben diese praktische Äußerlichkeit ist der erneute Unterschied zur Darstellung des Samariters bzw. des Leviten in AUN2, 43f. Der Levit der Nachschrift hat zwar „gehandelt", aber er hat nicht in Liebe und Barmherzigkeit gehandelt; denn es war niemand mehr da, für den seine Umkehr eine Äußerung von Liebe hätte sein können. Es ist also die Bestimmung des Handelns durch Intentionalität, die in TL für den Handlungsbegriff hinzugewonnen wird. Vgl. die Fortsetzung der zuletzt zitierten Passage, eine dreigliedrige Aufzählung extremer körperlicher Behinderungen, deren letztes Glied die Pointe bringt: „...und wenn ich selbst mit gebrochenen Armen oder Beinen daliege, so kann ich mich nicht in die Flammen stürzen, um andern das Leben zu retten: aber gleichwohl kann ich barmherzig sein" (ebd.). H. und E. Hong bemerken in der Einleitung zu ihrer englischen Übersetzung von TL, daß die Rede 2,VII „was written with his crippled nephew Hans Peter Kierkegaard in mind" (Works of Love, xiv). Im Hinblick auf die gegenwärtige ethische Diskussion ist es wichtig zu sehen, daß Kierkegaards Begriff der Handlungsfähigkeit als Barmherzigseinkönnen gerade nicht als ein ausschließendes Kriterium zur Bestimmung des Menschseins verstanden werden kann. Er versteht den Menschen, und d.h. alle Menschen, als grundsätzlich handlungsfähig in diesem Sinn, nicht aber die Handlungsfähigkeit als Kriterium für die Entscheidung, wer als Menschen gelten kann. In dieser Funktion eines Ausschlußkriteriums wird dagegen der Begriff der Handlungsfähigkeit von utilitaristischer Seite etwa in der Euthanasie- oder Transplantationsdebatte verwendet, vgl. E. Stock, Menschliches Leben, 99ff. Nach C. Taylor liegt die Leistung des Ausdruckbegriffs gerade darin, die Einheit von intentionalem Zustand und körperlicher Handlung benennen zu können, zumindest für den „Normalfall" der „unconstrained action": „The locus of desiring in this case, as an essentially intentional state, is just in the action. The action doesn't just enable us to see the desire; it is the desire, embodied in public space" (Expression87).

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3. Kapitel: Das Können

nicht gedacht. Sieht man jedoch, wie die Rede anhand der Barmherzigkeit die fundamentale Kreativität des Liebenkönnens entwickelt, so wird klar, daß eben diese Kreativität der Ausdruck der umfassenden schöpferischen Liebe ist. Im Kontext der Kreativität erinnert das schöpferische „Nichts" der Barmherzigkeit an die creatio ex nihilo und stellt so den inneren Zusammenhang mit der Schöpfungstheologie her: In der schöpferischen Barmherzigkeit drückt sich die geschöpfliche Handlungsfähigkeit von menschlichen Subjekten auf eine solche Weise aus, daß der geschöpfliche Zusammenhang der Handelnden in Versöhnung neu geschaffen wird. Dies ist zugleich als Selbstäußerung der schöpferischen Liebe Gottes zu verstehen. Der soteriologische Zusammenhang von Neuschöpfung (Wiedergeburt) und Versöhnung, den Climacus existenzdialektisch für den subjektiven Einzelnen beschrieben hatte 83 , wird auf diese Weise auch für intersubjektive Existenzverhältnisse aussagbar.

4.2. Expressivität und Innerlichkeit Die ersten beiden Hauptteile der Rede haben die Kategorie des Barmherzigsein-Könnens phänomenologisch, d.h. am Handlungsphänomen selbst aufgewiesen. Dabei hatte sich bereits eine phänomenologische Entsprechung zwischen der Kategorie des Handelnkönnens und der spezifischen Form des expressiven Handelns gezeigt: Das reine Handelnkönnen zeigt sich am deutlichsten an den Handlungsformen der „Armut", die ohne die Vermittlung von Gütern Barmherzigkeit üben muß84; diese Handlungsformen sind aber zugleich wesentlich durch ihre expressiv-affektive Struktur charakterisiert: als Sprechhandlungen, die auf der affektiven Ebene die mit der gesellschaftlichen Trennung verbundenen Gefühle aufnehmen und im Sinne einer fundamentalen Anerkennung gestalten. Das „Nichts" der

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PB, 16f£; H. Schulz zeigt, wie Kierkegaard die absolute Kontingenz und Diskontinuität seines Verständnisses von Neuschöpfung (Wiedergeburt) und Versöhnung durch die Auffassung der Versöhnung als „paradoxer Vorsehung" mit der Kontinuität eines subjektiven Lebens vermittelt (Identität, 477-492). Für die dabei in Anschlag gebrachte Vorsehungstheologie ist wiederum der Begriff der göttlichen Liebe leitend (ebd. 485f.). Zu dieser phänomenologischen Bedeutung der Armut vgl. 357/311: „Die Barmherzigkeit zeigt sich am bestimmtesten [viser sig bestemtest], wenn der Arme den halben Schilling gibt und dennoch all sein Eigentum, wenn der Hilflose nichts zu tun vermag und dennoch barmherzig ist."

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wahren Barmherzigkeit ist gerade darin schöpferisch, daß es dem Alles, dem „Erfindungsreichtum" des barmherzig-versöhnenden Ausdruckgebens entspricht. Dieser Zusammenhang wird im dritten Abschnitt der Rede (359-363/312-316) reflektiert. In diesem Abschnitt antwortet Kierkegaard auf einen Einwand, der gegen das bisher entwickelte Verständnis von Barmherzigkeit vorgebracht werden könnte: Wo bleibt die wirksame Hilfe in diesem Verständnis? Ist die wirksame Beseitigung der realen Not nicht die vordringlichste Aufgabe der Barmherzigkeit? Zunächst scheint Kierkegaard diesen Einwand nur als Kontrastbild zu nutzen, von dem sich seine eigene Auffassung polemisch und provokativ abheben kann: „Nein, antwortet die Ewigkeit, das wichtigste ist, daß Barmherzigkeit geübt werde, oder daß die Hilfe die Hilfe der Barmherzigkeit sei" (359/312). Doch bleibt er nicht bei dem bloßen Kontrast stehen. Vielmehr nimmt er den Einwand auf und versucht, die Weise zu benennen, in der die Barmherzigkeit tatsächlich „Hilfe" ist. Dieser letzte Teil hat damit genau die Aufgabe, die spezifische Wirklichkeits- und Wirksamkeitsform der Barmherzigkeit zu bestimmen. Und hier kommt die Expressivität ins Spiel: „Ist es Barmherzigkeit, Hunderttausende für die Armen zu geben? Nein. Ist es Barmherzigkeit, den halben Schilling für die Armen zu geben? Nein. Barmherzigkeit ist: aufweiche Weise [hvorledes] man gibt" (360/313). Barmherzigkeit ist das „auf welche Weise", das Wie des Gebens. Mit diesem Wie des Gebens wird zunächst das auf den Begriff gebracht, was in den beiden vorangegangen Abschnitten als wesentliches Merkmal der Barmherzigkeit aufgedeckt wurde: die expressiv-affektive Komponente des Handelns, das auf das bloß Leibliche reduzierte und gerade darin den Geist zum Ausdruck bringende Handeln. Die Kategorie des „Wie" hatten wir bereits in mehrerem Zusammenhängen als Bestimmung des Affektiv-Expressiven und der schöpferischen Dimension der Liebe festgestellt 85 . Nun ist in diesem Kontext die Weise der affektiven Gestaltung des Gebens auch noch als die Form seiner barmherzigen Wirksamkeit behauptet. Doch wie ist dieser Begriff des Wie hier genauer zu verstehen? In dem angeführten Zitat wird das Wie des Gebens als der allgemeine Begriff eingeführt, durch den sowohl die große wie die kleine Gabe als Barmherzigkeit bestimmt werden kann. Dies bedeutet zunächst, daß der Vorrang der armen Gabe gegenüber der reichen Gabe nicht

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Vgl.o. Kap. 1, Kap. 2, II.

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3. Kapitel: Das Können

grundsätzlich, sondern bloß phänomenologisch zu verstehen ist: Wenn es auf das Wie ankommt, kann auch ein Reicher barmherzig geben, nur läßt sich dieses Wie beim Armen leichter zeigen (s. 360f./314). Daß dies so ist, hat aber zweitens damit zu tun, daß und wie jenes Wie als eine Bestimmung von Erfahrung verstanden wird. Das Problem der Erfahrbarkeit von Barmherzigkeit ist ja bereits mehrmals angesprochen worden, nämlich als die Dialektik der Gabe, die mit zunehmender Größe das Geben verdeckt; die große Gabe „ist eine glänzende Äußerlichkeit, die eine zufällige Art Bedeutung hat, welche doch stark auf das Sinnliche in mir wirkt, leicht das Augenmerk auf sich zieht und mich darin stört, die Barmherzigkeit zu sehen" (ebd.). Doch das, was die auffällige Gabe oder Hilfe verdeckt, hatten wir vorher bereits als elementares Handelnkönnen identifiziert. Diese Bestimmung ist nun noch weiterzuführen: was die (große) Gabe verdeckt, ist das Handelnkönnen als „Innerlichkeit [Inderlighed]" (362/315). Das Handelnkönnen ist als elementare Grundform der Barmherzigkeit begrifflich vollständig erfaßt, wenn es losgelöst von allen „äußeren" Bestimmungen beschrieben wird. In dieser Unbestimmtheit liegt erneut eine Negativität, und zwar hinsichtlich der begrifflichen Beschreibung. Doch zugleich ist mit dem Begriff der Innerlichkeit eine fundamentale Positivität oder Bestimmtheit verbunden, und zwar hinsichtlich der lebensgeschichtlichen Erfahrbarkeit dieses innerlichen Handelnkönnens: „Worüber sollte man wohl staunen, wenn selbst der Elendeste, und er gerade am besten, Barmherzigkeit üben kann? O, die Barmherzigkeit, wofern du sie in Wahrheit siehst, weckt kein Staunen, sie bewegt dich [r0rer Dig], sie macht, eben weil sie Innerlichkeit ist, den innerlichsten Eindruck [den inderligste Indtryk] auf dich" (363/315). Innerlichkeit bezeichnet die affektive Erfahrungsform, in der das elementare Handelnkönnen wahrgenommen wird. Und damit ist zugleich das expressive Wie benannt, in dem sich dieses Handelnkönnen äußert. Barmherzigkeit wird dort erfahren, wo sich das elementare Handelnkönnen eines Handelnden so äußert, daß es bei einem anderen, dem Empfänger, den „innerlichsten Eindruck" macht. In diesem Sinne ist Barmherzigkeit nicht das Geben von Gütern, sondern die Kommunikation von Innerlichkeit. Damit haben wir auch die begriffliche Ebene des (expressiven) Liebesbegriffs erreicht. Denn Kommunikation von Innerlichkeit kann nur als eine Kommunikationsform gedacht werden, in der die Handelnden ihr gegenseitiges Liebenkönnen symbolisch-expressiv mitteilen und damit austauschen. Eben dies ist auch die Struktur der oben beschriebenen Versöhnungshandlungen: Der Reiche und der Arme

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üben ihre eigene Handlungsfähigkeit aus, indem sie den Anderen auffordernd oder vergebend - auf dessen eigene Fähigkeit zum Handeln hin ansprechen. In beiden Formen solchen Ansprechens wird also der Basissatz aufbauender Liebe ausgesprochen und ausgedrückt. Die eigene Handlungsfähigkeit kann sich überhaupt nur in Hinblick auf die fremde Handlungsfähigkeit äußern. Insofern findet hier stets ein realer Austausch im Sinne der Verdoppelungsstruktur, die ich eingangs als charakteristisch für die Expressivität der Liebe behauptet hatte, statt: „Was der Liebende tut, das ist er, oder das wird er; was er gibt, das hat er, oder richtiger, das empfängt er" (310/270). Aufgrund der (sozialen) Asymmetrie des Handlungsverhältnisses ist dieser Austausch oft nur dem jeweiligen Geber oder Sprecher bewußt. Doch an die Stelle des Reichen, der weggeht und nichts von der Vergebung merkt, die er erfahren hat, tritt hier am Ende der Rede der Leser. Er wird von der geschilderten Barmherzigkeit „gerührt", und so nimmt er sie als „innerlichsten Eindruck" in Empfang, stellvertretend für den eigentlichen Addressaten. Barmherzigkeit wird als die unverwechselbare expressive Form des Mitteilens und Erfahrens einer ursprünglichen Handlungsfähigkeit bestimmt. Damit ist aber die Liebe selbst, die in solcher Barmherzigkeit Gestalt findet, erneut als Expressivität oder als Zeichen verstanden. Liebe ist wesentlich eine expressive Wirklichkeit, d.h. eine Wirklichkeit, die ontologisch die Form des Ausdrucks hat: die Form der Zeichen, die zwei Akteure austauschen und erfahren. Der „Innerlichkeit" der Barmherzigkeit entspricht ihre Äußerung in einem „Eindruck"; keiner dieser beiden Aspekte ist ohne den anderen zu denken, und darin sind sie zusammen Elemente einer expressiven Wirklichkeit und eines durch diese Wirklichkeit bestimmten Kommunikationsvorganges. In Anwendung semiotischer Terminologie86 könnte man auch sagen: Barmherzigkeit bezeichnet einen Kommunikationsprozeß, an dem drei Elemente unterschieden werden können: Das Zeichen (das expressive „Nichts" der jeweiligen Gestaltung oder Äußerung), der Objektbezug (das elementare Handelnkönnen) und die jeweiligen Interpretanten (der Reiche bzw. der Leser bzw. die Versöhnung). Mit der Analyse der Erfahrung der Barmherzigkeit wird erneut die Intersubjektivität als der tragende Rahmen dieses Redenkomplexes (V-VIII) deutlich. Waren die Reden II-IV wesentlich an der Frage in-

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S.o. Anm. 55.

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teressiert: Was teilt der Liebende dem Anderen und sich selbst mit?, so geht es nun um die Frage: Was versteht der Andere, welche Wirkung hat das Zeichen der Liebe bei dem Rezipienten? Aufbauende Liebe wird nun als ein Prozeß gegenseitiger Mitteilung und Verstehens erkennbar. In dieser Hinsicht hat die literarische Hereinnahme des Lesers auch methodische Relevanz. Sie trägt wesentlich dazu bei, die Wirklichkeit der Barmherzigkeit als eine intersubjektive Wirklichkeit in der beschriebenen Zeichenstruktur beschreiben zu können, indem sie die expressiv strukturierte Erfahrung fremder Innerlichkeit beschreibt. Anhand der Barmherzigkeit wird das elementare Handeln- und Liebenkönnen nicht mehr nur als Element des Selbstverhältnisses (wie in II-III), sondern eben als Erfahrung und Verständnis fremder Innerlichkeit thematisierbar.

5. Vierte Variation (2, VIII) Versöhnende Liebe als „public space": Versöhnung 5.1. Versöhnung als reziproke Wiederherstellung der Beziehung Mit der letzten der vier Reden, die ich hier als einen Komplex zusammengenommen habe, tritt der Aspekt der Versöhnung, den ich bereits in den vorhergegangenen Reden als thematischen Leitfaden behauptet hatte, nun auch explizit in den Vordergrund: „Der Sieg der Versöhnlichkeit in Liebe, welche den Überwundenen gewinnt" (364/317), unter dieser Überschrift bedenkt Kierkegaard erneut das Problem der Trennung87. Die Konnotationen von Kampf und Sieg zeichnen den

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Die Rede spricht vorwiegend nicht von „Versöhnung [Forsoning]", sondern meistens von „Versöhnlichkeit [Forsonlighed]". Mit dem zweiten Terminus ist eine eher dispositionelle Beschreibung des Charakters des Handelnden gegeben, während der erstgenannte Begriff stärker den praktischen Werkcharakter des Versöhntseins hervorhebt; mit dem Werkcharakter sind aber eo ipso auch die intersubjektiven Apekte verbunden (s. 368Í./321), und auch der theologische Begriff der Versöhnung spielt bei diesem Terminus mit herein (s. ebd.). Freilich ist es denkbar, daß Kierkegaard die terminologische Differenz gerade deshalb einführt, um den dogmatischen Versöhnungsbegriff nicht - oder nicht zu massiv - einbringen zu müssen. Ich werde mich in meiner Darstellung an dem genannten Werkcharakter orientieren; der Begriff der Versöhnlichkeit wird terminologisch von mir vernachlässigt werden, er wird aber überall dort im Hintergrund stehen, wo es um das expressive Handeln des individuellen Liebenden gehen wird.

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spezifischen Charakter, unter der die Trennungsthematik nun erscheint: Die Trennung der Handelnden ist durch einen bestimmten Antagonismus gekennzeichnet, und zwar durch den Gegensatz von Gut und Böse. Die beiden Handelnden sind darin Antagonisten, daß sie im Verhältnis von gut und böse zueinander stehen. Der eine hat dem anderen etwas Böses getan, und dadurch ist die Beziehung zerbrochen; durch sein einseitiges Unrecht hat der eine die Beziehung verlassen, und der andere ist zurückgeblieben. Und die Aufgabe besteht nun zunächst darin, das Böse zu überwinden. Doch der Antagonismus von Gut und Böse ist nur der eine Aspekt, mit dem die Liebe als Versöhnlichkeit zu tun hat. Es geht nämlich nicht um den metaphysischen oder moralischen Gegensatz Gut-Böse für sich genommen, sondern um diesen Gegensatz, sofern er die praktische Beziehung zweier Handelnder bestimmt. Deshalb spricht die Überschrift vom „Gewinnen" des Überwundenen: Den Bösen zu „gewinnen" ist die Weise, in der die Liebe siegt. Der Antagonismus Gut-Böse ist damit innerhalb einer (positiven) Handlungsbeziehung piaziert, um deren Wiederherstellung es geht; der moralisch-metaphysische Antagonismus ist die Form, in der die Beziehungsebene, nämlich die Trennung zweier Subjekte zu beschreiben ist. Es sind also zwei Probleme, die sich der Versöhnung stellen: Einmal der Gegensatz von gut und böse, zum anderen aber die Trennung selbst, die die Form des Bösen hat. Der moralische Gegensatz ist zu überwinden oder zu versöhnen, aber dieser Sieg ist im Hinblick auf die zweite, personale Versöhnung zu sehen: die Versöhnung der Getrennten, die Wiederherstellung ihrer Beziehung. Bei der Aufgabe der Versöhung handelt es sich also tatsächlich um zwei unterschiedliche Versöhnungen, oder um zwei Phasen der Versöhnung, oder um „zwei Siege" (365/318). Diese beiden Siege hängen gleichwohl unmittelbar zusammen. Die Notwendigkeit des zweiten Sieges ergibt sich direkt aus der Dialektik des ersten Sieges. Dieser erste Sieg, in dem sich der Verlassene als moralisch überlegen gegenüber dem Treulosen erwiesen hat, ist nämlich in der Gefahr, sofort in eine Niederlage für den Sieger umzuschlagen: „Wie oft hat man nicht gesehen, daß jemand, der eine Last gehoben hatte, die Last nicht tragen konnte, weil er sie gehoben hatte; oder daß jemand, der siegreich gegen den Sturm vorwärtsdrang, ohne zu ermatten, erschöpft die Windstille nicht aushalten konnte, welche mit dem Sieg eintrat [...] Und wie oft ward nicht ein Sieg eitel genommen, so daß der Siegende stolz, eingebildet, übermütig und selbstzufrieden wurde und damit just durch Gesiegthaben verlor" (365/318). Worin liegt diese besondere Schwierigkeit des Siegens? Sie

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liegt in der Rückkehr des Siegers zu einer Welt, die nicht mehr durch den Gegensatz bestimmt ist; die Dialektik des Siegens ist der Augenblick, in dem der Kampf vorüber ist und das Zusammenleben der vormals Kämpfenden beginnt: Der erste Sieg gibt noch nicht die Bedingung, durch die der Sieger auch bleibend leben, d.h. mit den überwundenen Umständen und Personen zusammenleben kann. Der erste Sieg allein reicht nicht aus, sondern er bedarf des zweiten Sieges, „in welchem der erste Sieg festgehalten wird" (ebd.) 88 . Diese in den einleitenden Absätzen zunächst nur lose metaphorisch beschriebene Dialektik des Sieges wird deutlicher, wenn die Rede sie auf die Situation des Liebesverhältnisses anwendet. Dabei lassen sich in der Darstellung mehrere Stufen eines dialektischen Prozesses voneinander abheben: 1. Der Kampf zwischen dem Liebenden und dem Treulosen, der das Verhältnis schuldhaft verläßt, ist zunächst der Kampf zwischen Gut und Böse. Wenn dabei von einem Sieg gesprochen werden soll, so ist dieser zu beschreiben als „die Überwindung des Bösen mit dem Guten" (367/319): Der Liebende siegt über den Treulosen, indem er dessen Schlechtigkeit mit Gutem beantwortet; denn dadurch bringt er das Gute zur Geltung und verhindert, daß das Böse das letzte Wort hat. Wenn überhaupt von einem Sieg die Rede sein soll, so kann dies nur so geschehen, daß das Gute auf der Seite des Liebenden den längeren Atem hat. 2. Doch dieser Sieg ist zugleich ein Kampf, ein Gegeneinander, in dem auch der Liebende zunächst nur für sich selbst und um sein eigenes Überleben als Vertreter des Guten kämpft: „Die beiden verhielten sich also kämpfend zueinander, aber außerhalb *zueinander [udenfor hinanden], in gewissem Sinne war der Kampf unversöhnlich, wie es der Kampf zwischen Gut und Böse ist; der eine kämpfte mit Hilfe des Guten, der andere im Bund mit dem Bösen; und der letzte ward zum Überwundenen" (367/320). Auf dieser Stufe des Sieges kann also noch nicht von Versöhnung die Rede sein. Der Kampf ist zugleich die Trennung, nämlich die Stellung der Kämpfenden „außer-

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Mit dieser Problembeschreibung ist erneut die formale Struktur des Wiederholungsbegriffes aus den Pseudonymen Schriften gegeben. Die Rückkehr des Siegers zum Zusammenleben mit dem Besiegten entspricht der Doppelbewegung, die etwa Abraham im Verhältnis zum Ethischen vollzieht: in der „unendlichen Resignation" wendet er sich gegen das Ethische, aber „dann hat er alles wieder ergriffen in kraft des Absurden" (FZ, 40).

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halb zueinander", ohne ein gegenseitig geteiltes Einverständnis. Nur die erste der beiden oben angesprochenen Dimensionen der Versöhnung ist erfüllt: der Gegensatz von Gut und Böse ist überwunden durch den Sieg des Guten. Doch ist dies zugleich ein unversöhnlicher Sieg, d.h. die zweite Dimension ist für die Versöhnung noch nicht erreicht: auf der Beziehungsebene ist der Sieg eine Trennung. Es ist gerade der Sieg des Guten, der die Trennung der Handelnden festschreibt und damit die Rückkehr der Kombatanten zu einem Handlungsverhältnis im Sinne eines geteilten Lebens verhindert. 3. Hieraus ergibt sich schließlich die eigentliche Aufgabe der Versöhnung als Werk der Liebe (bzw. der individuellen „Versöhnlichkeit"): Sie muß den Gegensatz von gut und böse so überwinden, daß damit auch die Trennung der beiden Protagonisten überwunden ist. Der Sieg des Guten über das Böse ist so zu gestalten, daß eine Rückkehr der Kämpfenden zu einem gemeinsamen Leben möglich ist, in welchem sie nicht mehr als Sieger und Verlierer gegeneinander und damit getrennt, „außerhalb zueinander" stehen. Diese Überwindung der Trennung ist die Aufgabe, die als „gewinnendes" Handeln der Liebe beschrieben wird: „er [sc. der Liebende] kämpft nicht bloß dafür, daß das Gute in ihm selbst bleibe, sondern er kämpft versöhnlich dafür, daß das Gute in dem Lieblosen siege, oder er kämpft dafür, den Überwundenen zu gewinnen [at vinde den Overvundne]" (368/320). Damit ist die Aufgabe bestimmt und zugleich ein erster Hinweis auf ihre Lösung gegeben: Ein versöhnliches Gewinnen des Anderen überwindet darin den Antagonismus, daß es die eigene und die fremde Perspektive zusammenführt. Der Sieger hat dafür zu sorgen, daß das Gute nicht „in ihm selbst bleibe" als sein Eigentum oder Zuschreibung, mit der er sich von dem anderen unterscheidet; der Andere ist vielmehr unter dieselbe Bestimmung zu bringen, die auch für den Liebenden gilt. Man kann dies vorläufig als eine praktische Übernahme der fremden Perspektive verstehen, und als ein solcher Perspektivenwechsel wird es auch von Kierkegaard beschrieben: „der Liebende kämpft auf Seiten des Feindes für dessen Vorteil, er will die Sache des Lieblosen durchkämpfen bis zum Sieg" (ebd.). In diesem Perspektivenwechsel ändert sich das Verhältnis der Handelnden grundlegend: aus dem Kampf gegeneinander wird die Aufgabe, „für den Feind zu kämpfen" (368/321). Der Perspektivenwechsel ist nicht theoretisch, sondern praktisch verstanden: als ein Kämpfen dafür, daß das Gute in dem Lieblosen ebenso siegt wie in dem Liebenden. Insofern handelt es sich aber andererseits - und hier müssen wir den Begriff der Perspektivenübernahme hinter uns lassen - bei jenem „für" auch nicht

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um eine subjektive Übernahme der fremden Perspektive 89 . Nicht ein Austausch der fremden Sicht durch die subjektiv-partikulare Sichtweise des Liebenden ist gemeint. Vielmehr spricht der Text stets davon, daß „das" Gute siegt. Das Gute nimmt hier m.a.W. die Stellung eines Dritten zwischen den Handelnden ein, und die Aufgabe des Handelnden besteht darin, das Gute als Drittes im Anderen geltend zu machen, doch dies nicht ohne die freie Zustimmng des Anderen; denn er „kämpft für dessen Sache" (368/320). Das Gute ist „die Sache" des Anderen, nicht das autoritäre Partikularinteresse des Liebenden. Die Realisierung der Versöhnung ist identisch mit der Geltung des Guten als eines Dritten in beiden Subjekten. Die gemeinsame oder geteilte Geltung des Guten ist die Weise, in der ein gemeinsames Leben, eine Handlungsbeziehung wieder möglich ist. Doch diese ersten Bestimmungen müssen weiter konkretisiert werden: Was bedeutet denn der Begriff „das Gute" überhaupt in diesem Kontext? Und wie ist die geteilte Geltung dieses Guten zu verstehen? Zunächst ist festzustellen, daß der Begriff des Guten hier praktisch verankert wird: es geht um die „gemeinsame" oder „geteilte" Geltung in einem Handlungsverhältnis, das durch das Problem von Trennung und Versöhnung bestimmt ist. Das Gute bezeichnet nicht mehr ein metaphysisches Prinzip, wie noch in der Phase des ersten Kampfes, sondern eine bestimmte Struktur praktischer Reziprozität. Die geteilte Geltung entspricht nämlich dem geteilten und gemeinsamen Bedürfnis nach Versöhnung: „wer bedarf denn der Vergebung: der Unrecht getan hat, oder der Unrecht gelitten hat? Freilich bedarf der, welcher Unrecht getan hat, der Vergebung, o, aber der Liebende, der Unrecht gelitten hat, hat das Bedürfnis zu vergeben, oder das Bedürfnis zur Aussöhnung, zur Versöhnung, welches Wort nicht wie das Wort Vergebung Unterschied macht, indem es an Recht und Unrecht erinnert, sondern liebend im Sinne hat, daß beide bedürftig sind [at begge ere trœngende]. Es ist nicht im vollkommenen Sinne Versöhnlichkeit, daß man vergibt, wenn man um Vergebung gebeten wird, sondern es ist Versöhnlichkeit, daß man schon 89

In diesem reflexiven Sinn, nämlich als Antizipation der Reaktion des Anderen auf das Sprechangebot des Sprechers, wird der Begriff der Perspektivenübernahme bei J. Habermas (im Anschluß an Mead) verstanden, s. Individuierung, 218£ Solche Antizipation der Reaktion ist zunächst durchaus zweckrational gedacht: der Sprecher antizipiert die mögliche Reaktion im Interesse seines eigenen Reagierens darauf. Demgegenüber ist die Ausrichtung auf „das Gute" ein Verstehen des Anderen in Hinblick auf eine Handlungsmöglichkeit, die auch den eigenen Standpunkt des Verstehenden transzendiert; vgl. o. Kap. 3,11. zur Perspektivenübernahme der Hoffnung.

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dann das Bedürfnis hat zu vergeben, wenn der andere vielleicht am wenigsten geneigt ist, Vergebung zu suchen" (369/321). Für den Liebenden ist die Versöhnung ein Bedürfnis, in dem der Liebende den Anderen ebenso braucht wie der Schuldige die Vergebung90. Der Liebende braucht den Schuldigen nämlich in eben dem eingangs beschriebenen Sinn der Rückkehr zum Leben: er bedarf des Schuldigen, um mit ihm gemeinsam leben zu können; denn ohne dieses gemeinsame Leben lebt auch seine Liebe nicht. Und um dieses geteilten Lebens in einem Verhältnis gegenseitiger Handlungs- und Liebesfähigkeit willen bedarf der Liebende der Zustimmung des Schuldigen zu seiner Vergebung. Damit ergibt sich die weitere Konkretisierung der Aufgabe: „wir sprechen über den liebenden Kampf dafür, daß der andere die Vergebung empfangen, sich versöhnen lassen wolle" (ebd.). Der Kampf um die Versöhnung ist also als der Kampf um die Zustimmung des Anderen zu beschreiben. Das gewinnende Handeln der Liebe muß so gestaltet werden, daß der Lieblose die Vergebung annehmen kann. Erst dadurch wird Versöhnung wirklich. Und es zeigt sich die fundamentale Reziprozität der Aufgabe: Das Gewinnen als individuelles Handeln muß auf die Zustimmung des Anderen zielen, und umgekehrt muß der Schuldige die angebotene Vergebung als die Vergebung verstehen können, der er zustimmen kann. M.a.W. das Gewinnen hat die Struktur einer gegenseitigen Verständigung·, Verständigung ist die Form der Versöhnung als praktische Reziprozität. Versöhnung wird als eine Kommunikationsform erkennbar, die nicht als einseitiger Mitteilungsprozeß, sondern als komplexe Struktur von Mitteilung und Verstehen zu beschreiben ist. Damit sind wir beim letzten Punkt der Aufgabenbeschreibung. Denn der zuletzt angedeutete Verständigungsprozeß der Versöhnung ist durch ein besonderes Problem bestimmt. Der erste Sieg des Guten über das Böse ist nämlich für den Überwundenen mit einem „demütigendein) Gefühl" (371/323) verbunden, und es ist dieses Gefühl, das es dem Überwundenen so schwer macht, die angebotene Vergebung zu verstehen und anzunehmen. Den Anderen gewinnen kann der Liebende also nur, indem er die Demütigung des Anderen, die durch seinen Sieg entsteht, überwindet. Auf der anderen Seite kann die Thematisierung der Schuld und des Bösen vom Liebenden auch 50

K.-M. Kodalle, Moralismus, 390 spricht hier von der „vorlaufende(n) Solidarisierung" mit dem Widersacher; allerdings geht Kodalle nicht auf die konstitutive Bedeutung des „Bedürfnisses" im Sinne einer kommunikativen Reziprozität ein.

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nicht einfach vermieden oder großzügig überspielt werden. Denn er muß ja das Gute im Lieblosen zur Geltung bringen, und dazu gehört gerade, daß dieser einen möglichst starken Eindruck seines Unrechts erhält. Die Aufgabe des Gewinnens erhält so die Form eines Dilemmas: „zugleich von sich zu stoßen und für sich zu gewinnen, zugleich derart streng zu sein, wie die Wahrheit es heischt, und dennoch derart mild, wie die Liebe es wünscht, um den zu gewinnen, gegen welchen man die Strenge gebraucht" (372/323). Damit erst ist das Problem der Versöhnung beschrieben. Es ist wesentlich ein Problem des Sprechens. Denn das Demütigende und Abstoßende betrifft die Weise, in welcher der Sieger zu dem Besiegten spricht, in Worten, Gesten und Zeichen. Wie ist eine Kommunikation denkbar, die gleichermaßen sowohl das Abstoßen als auch das Gewinnen des Anderen bewirkt? Durch welche Sprache gewinnt der Liebende den Lieblosen, ohne die Differenz von Gut und Böse aufzugeben? Und wenn wir die oben getroffenen Beobachtungen über den dritthaften Status des Guten aufnehmen, läßt sich die Frage noch weiter zuspitzen: In welcher Sprache macht sich das Gute derart in beiden Akteuren geltend, daß es als Drittes Versöhnung zwischen den beiden stiftet?

5.2. Versöhnung durch Expressivität: „public space" Die Lösung der Aufgabe kann, zunächst in ihrer formalen Struktur, folgendermaßen zusammengefaßt werden: Der Liebende bringt das Gute in seiner Dritthaftigkeit auf eine solche Weise zum Ausdruck, daß sich beide Handelnde jeweils unterschiedlich auf dieses Dritte beziehen und in dieser unterschiedlichen Perspektive gerade ihre Einheit, ihre Versöhnung finden können. „Mit Hilfe des Dritten, welches der Liebende zwischen sie eingeschoben hat, sind sie beide gedemütigt: denn der Liebende demütigt sich vor dem Guten, dessen geringer Diener er ist, und zwar, wie er selbst eingesteht, in Gebrechlichkeit; und der Überwundene demütigt sich nicht vor dem Liebenden, sondern vor dem Guten. Aber wenn in einem solchen Verhältnis zwischen zweien beide gedemütigt sind, so liegt darin ja nichts Demütigendes für den einen von ihnen" (372f./324). Dem Dritten wird hier eine besondere sprachliche Funktion zugeschrieben: Es kommt zwischen den beiden Handelnden zum Stehen und wirkt auf sie, und sowohl dieses Zum-Stehen-Kommen als auch das Wirken haben sprachlichen Charakter: das Dritte ist ein bestimmter sprachlicher Ausdruck des Liebenden, der wiederum sprachlich-expressiv, nämlich

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demütigend auf beide Akteure wirkt, also auch auf den Liebenden, wie das Zitat ausdrücklich hervorhebt. Diese Funktion des Dritten möchte ich mit dem bereits erwähnten Taylorschen Begriff des „public space" benennen. Mit diesem Begriff ist es möglich zu beschreiben, wie der individuelle sprachliche Ausdruck eine dreistellige Beziehungsstruktur konstituiert, die nicht auf die Zweistelligkeit der beiden Relate reduziert werden kann: „Something is common when it exists not just for me and for you, but for us, acknowledged as such."91 Das Dritte zwischen den Handlungspartnern konstituiert deren Verhältnis hinsichtlich einer bestimmten Qualität, indem beide in einem je eigenen Verhältnis zu diesem Dritten stehen. Die expressive Wirkung des Dritten ist das „Demütigende". Damit nimmt die Rede exakt die vorher beschriebene Problemlage auf: Das Demütigende der schuldhaften bösen Tat ist nicht verdeckt; zugleich aber bezieht sich das den Schuldigen Demütigende nun nicht mehr direkt auf das Verhältnis zum Liebenden, sondern zuerst auf das Verhältnis zum Dritten, d.h. zum Guten selbst. Auf diese Weise macht sich das Gute „in" beiden Akteuren geltend und stiftet Versöhnung. Doch ist dies immer noch eine nur vorläufige Beschreibung. Wir haben bis jetzt nur die expressive Wirkung des Dritten auf die Handlungspartner beschrieben. Wie aber sieht die expressive Struktur des Dritten selbst aus? In welcher Sprache bringt sich das versöhnende Dritte als individueller Ausdruck des Liebenden zur Geltung? Es ist ja dieser doppelte Aspekt, den eine solche Sprachform erfüllen muß: sie muß etwas ausdrücken, was dritthaft auf beide Handlungspartner einwirkt, aber sie muß dies zugleich als subjektives Ausdruckshandeln des einen der beiden Beteiligten erreichen. Der Liebende muß so sprechen, daß er sich selbst in seinem Sprechen gewissermaßen zum Verschwinden bringt: „Der Liebende verbirgt sich selbst. Um nicht zu stören, ist er gleichsam nur verborgen gegenwärtig, während das eigentlich Gegenwärtige die erhabene Majestät des Guten und Wahren ist" (374/325). Die Sprache nun, in der der Liebene diese erhabene Majestät dritthaft und leibhaft ausdrückt, ist die „heilige *Scham [hellig Undseelse]" (374/32Ó)92. Diese heilige Scham ist zunächst einmal verbun-

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C. Taylor, Social Goods, 139; im Kontext dieses Zitats beschreibt Taylor die sprachliche Struktur von „undecomposable social good(s)" (ebd. 136); zur bedeutungsstheoretischen Signifikanz des „public space" vgl. ders., Bedeutungstheorien, 76ff. Eine psychologische Analyse der Scham gibt der Begriff Angst, dort jedoch unter dem Terminus „Blufaerdighed" (BA, 68ff.). Dieses Wort verwendet übrigens auch

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den mit einem bestimmten Bewußtsein, nämlich dem Wissen um die Gegenwart Gottes: „Man ist nicht schamhaft vor dem anderen Menschen, sondern vor dem Dritten, der gegenwärtig ist, oder man ist schamhaft vor dem anderen Menschen, sofern man bedenkt, wozu die Gegenwart dieses Dritten den andern Menschen macht" (375/326). Die Scham selbst ist nicht nur das Bewußtsein, sondern bezeichnet das leibhaftige Verhalten und Reagieren gegenüber dem gewußten Dritten („man ist schamhaft vor ..."). Damit aber ist die Scham die Form, in welcher der Liebende sein Gottesbewußtsein im Verhältnis zum Anderen zum Ausdruck bringt. Das Bewußtsein von dem Dritten ist direkt mit der affektiven Form der Scham verbunden und tritt allein in dieser Verbindung in Erscheinung. In diesem Sinne

unsere Rede einmal, s. 375/326; Gerdes übersetzt es mit „Schamhaftigkeit", gibt dann aber den Terminus „Undseelse", der an dieser Stelle als Gegensatz zu „Blufaerdighed" gebraucht wird, mit „Schamröte" wieder; damit trägt er eine sonst nicht verwendete Redeweise hinein, welche die Bedeutungseinheit der Verwendung von „Undseelse" in der Rede zerstört. Sachlich ist Gerdes' Vorgehen allerdings durch den Gegensatz von psychologischem und religionsphänomenologischem Schambegriff begründet, auf den Kierkegaards Gegenüberstellung der beiden Termini zielt. Der psychologische Schambegriff aus Begriff Angst unterscheidet sich insofern von dem Begriff der „heiligen Scham", als in dem früheren Buch die Scham als ein Phänomen der Angst, und damit des noch nicht voll realisierten Geistes, geschildert wird. Scham ist die ängstigende Reaktion des leiblich gefangenen Geistes auf seine eigene Möglichkeit als Freiheit, in welcher der Geist über das Leibliche „gesiegt" hätte (BA, 69); allerdings ist dieser Sieg gerade nicht als Leiblosigkeit, sondern als ethische Durchdringung der leiblichen Konstitution vorgestellt (BA, 71). Scham ist der Ausdruck der Tatsache, daß der Geist noch nicht als Geist gesetzt ist, sondern als Leib. Die Problematik des Verhältnisses von Leib und Geist als einer spannungsvollen Hierarchie spielt demgegenüber für den Begriff der heiligen Scham in TL keine Rolle mehr. Zwar ist die heilige Scham nicht sexuell bestimmt. Aber auch diese Scham ist ein leibliches Phänomen, sie ist etwas in der Kommunikation unmittelbar Erlebbares, nämlich eine bestimmte Weise des Sehens und Angesehenwerdens. Aber zugleich ist sie als leibliche Äußerung ein direkter Ausdruck des Geistes, der sich als Scham in der gelingenden Versöhnung ausdrückt: sie ist nicht von der unbestimmten Spannung zwischen Leib und Geist (Freiheit) her verstanden, sondern von der bestimmten Möglichkeit des in Gott gründenden Liebenkönnens (des eigenen wie des fremden). Der Geist ist hier durch den Leib nicht eingeschränkt, sondern findet in ihm sein adäquates, nämlich Versöhnung ermöglichendes Ausdrucksmittel. Die Scham ist die kommunikative Form, in der der Geist (als intersubjektive Liebe) wirklich wird. Kurz: Die heilige Scham wird nicht anthropologisch-subjektivitätstheoretisch, sondern theologisch bestimmt, s. 374/326: „Die *Scham der Frau betrifft das Irdische, und in der *Scham fühlt sie sich gerade höher als das Irdische, während der Widerspruch schmerzt; aber die heilige *Scham entsteht dadurch, daß ein Gott gegenwärtig ist, und in der *Scham empfindet der Mensch seine Niedrigkeit." Vgl. ferner Pap. X 3 A 501.

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kann man sagen, daß die Scham die expressive Sprachform ist, in welcher der Liebende die Drittheit innerhalb des intersubjektiven Verhältnisses wirksam ausdrückt93. Und allein auf diese performativsprachliche Darstellung des Gottesbewußtseins im Kommunikationsverhältnis kommt es Kierkegaard hier durchgehend an. Die heilige Scham ist die leibliche und expressive Äußerung des Gottesverhältnisses. Durch die affektiv-sprachliche Form seines Gottesbewußtseins manifestiert der Liebende die Gegenwart dieses Heiligen in einer solchen Weise, daß der Andere ebenfalls zu einem Verhältnis zu diesem Heiligen befähigt wird und das Demütigende seinen angemessenen Gegenstand findet: „Aber wenn der Liebende selber der Schamhafte ist, wenn er seine Augen kaum aufzuheben wagt, um auf den Überwundenen zu blicken, wie kann es dann demütigen, der Überwundene zu sein! Ein Mensch ist ja schamhaft, wenn ein anderer auf ihn blickt; aber wenn dieser andere, der ihn durch seinen Blick schamhaft machen sollte, selber dabei schamhaft ist, so gibt es ja niemanden, der auf ihn blickt. Aber wenn niemand da ist, der auf einen blickt, so kann ja auch nichts Demütigendes darin liegen, daß man sich vor dem Guten oder vor Gott demütigt" (375/327). Wenn der Liebende sich in heiliger Scham gegenüber dem Anderen verhält, so ist dies gleichermaßen eine Manifestation des Heiligen wie ein Sich-selbstVerstecken des Liebenden. Doch welcher dieser beiden Aspekte hat sachlich die Priorität? Führt das Manifestieren, etwa in Form eines expliziten Benennens und Anklagens des Bösen, zum Selbstverbergen, indem diese Anklage in Scham geschieht; oder ist das schamhafte Wegssehen selbst identisch mit der Weise, in welcher der Andere die Gegenwart des Heiligen erfahren kann? Mir scheint, daß Kierkegaard hier die zweite Alternative meint: An keiner Stelle erwähnt er eine direkte ,Gerichtsrede' des Liebenden an den Lieblosen; ein ungebremster Ernst im Verhältnis zum Schuldigen wird vielmehr ausdrücklich 93

Zum kognitiven Gehalt von Emotionen und Affekten vgl. L. Wingert, Gemeinsinn, 74ff.; E. Higendhat, Selbstbewußtsein, 200f£; mit Bezug auf Kierkegaard vgl. v.a. R. Roberts, Existence, 184£, 189f£ Die Einsicht in die expressiv-performative Funktion des Schamaffektes verdeutlicht den Unterschied zu einem subjektivitätstheoretischen Ausdrucksmodell: In Kierkegaards heiliger Scham äußert sich nicht ein subjektives Bewußtsein, sondern das mit diesem Bewußtsein gegebene intentionale Objekt. Dieses intentionale Objekt wird nicht als etwas geschildert, das von einem Subjekt gewußt wird, sondern als wirksame sprachliche Äußerung: kraft der Äußerung nimmt es eine bestimmte performative Stellung im Kommunikationsverhältnis ein, d.h. es hat eine Wirkung im Verhältnis der Handelnden, und die Beschreibung dieser semiotischen Wirksamkeit ist Gegenstand der Texte.

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kritisiert (s. 373/325). Es spricht daher einiges dafür, daß Kierkegaard hier ausschließlich an ein Wegsehen denkt, ohne jede Form von direkter Anklage oder Thematisierung des Bösen. Diese Thematisierung überläßt er vielmehr dem individuellen Gottesverhältnis des Schuldigen selbst. Der Liebende hilft dem Schuldigen auf den Weg zu diesem Gottesverhältnis, indem er in seinem Verhältnis zu ihm eine Scham ausdrückt, welche dieser als Gegenwart des Heiligen verstehen kann. Versteht der Schuldige die Scham in dieser Weise, so ist damit zugleich sein Verhältnis zum Sprecher (dem Liebenden) von allem Demütigenden befreit und die Trennung überwunden. Auf diese Weise ist die heilige Scham des Liebenden die expressive Form, in der das Dritte zum „public space" zwischen den Handlungspartnern wird und ihre Versöhnung ermöglicht und gestaltet. Die heilige Scham in der beschriebenen Form wird von Kierkegaard ausdrücklich als expressiv-sprachliches Phänomen gekennzeichnet, wenn er von ihr - noch vor ihrer eigentlichen Einführung im Text - als einer rhetorischen Kunstform oder „Kunstaufgabe" (ebd.) spricht: „Wie findig kann doch Liebe sein, was für ein Tausendkünstler ist sie! Möchtest du lieber, daß ich, wie du sagst, ernsthafter spräche, o, du kannst glauben, dem Liebenden gefällt es am besten, daß ich auf solche Art spreche; denn selbst in Bezug auf das, was einem mit dem Ernst der Ewigkeit beschäftigt, gibt es eine Freude über das Gelingen, welche bewirkt, daß man am liebsten auf jene Weise reden will. Es liegt auch in jener Art des Redens eine Art der Schamhaftigkeit, und insofern wieder eine Fürsorge für den, der unrecht hat" (ebd.) Die Gefahr der Kommunikation zwischen Sieger und Besiegtem liegt gerade darin, daß der liebende Sieger „zu ernsthaft" redet und damit dem Anderen den Zugang zur Versöhnung erschwert (ebd.). Der Ernst des Gottesverhältnisses darf nicht zur „Sauertöpfigkeit" (ebd.) werden 94 . Gesucht ist vielmehr die Form, in der der Sprecher behende und „gewandt" (ebd.) handelt, d.h. in der 94

Die Warnung vor zuviel Ernst in der Kommunikation wirft erneut Licht auf die Funktion des Ernstbegriffes. Aus der Verwendung des Begriffes in / , V und 2,VIII ergibt sich, daß für TL der Ernst des Gottesverhältnisses in die Sphäre des Selbstverhältnisses und der Vermittlungsstruktur der Liebe innerhalb des Selbstverhältnisses gehört. Von daher ist es konsequent, wenn in unserem jetzigen Kontext der Ernst des Gottesverhältnisses zu einem Problem wird: das intersubjektive Verhältnis und die direkte Kommunikation ist nicht der genuine Ort des Ernstes, es sei denn, daß der Ernst in der Kunst der Leichtigkeit ausgeübt wird und die Form des Humors oder der Ironie annimmt; zu diesen ernsten Formen von Humor und Ironie vgl. M. Theunissen, aaO. 66ff.

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er sich wirklich und fürsorglich dem Anderen zu- und sich von sich selbst und seiner eigenen Gewichtigkeit abwendet. Expressivität hat hier die Konnotation derjenigen Leichheit und Grazie, die in der Äußerung von sich selbst fortkommt. Die heilige Scham ist eine solche Form des behenden Aussichherausgehens, der leichten Selbstentäußerung des Subjekts95. Darin ist sie gerade eine „Kunst" des Sprechens, die man von Gott lernt (ebd.).96 Das schamhafte Wegsehen ist aber nicht die einzige Form, in der sich das Dritte versöhnend ausdrückt. Das Wegsehen hat eine negative Form. Dieser stellt Kierkegaard ein positives Gegenstück zur Seite, die Beziehung zum Schuldigen aufzunehmen. Allerdings wandelt sich auch hier die Metaphorik des Sehens bald zu der Beschreibung eines primär sprachlichen Vorgangs. Kierkegaard beschreibt zunächst die affirmative und auffordernde Art und Weise, in welcher der Liebende den Schuldigen anschaut. Der wesentliche Ausdruck dieses Sehens ist der einer „erhabene(n) Ruhe" (376/327). Die Erhabenheit verbindet dieses Phänomen mit der heiligen Scham. Diese Ruhe ist die expressive Form, in der sich das Dritte nun ausdrückt. Die expressive Wirksamkeit der erhabenen Ruhe, ihre Selbständigkeit gegenüber dem expressiv Handelnden wird in der sich unmittelbar anschließenden Charakterisierung deutlich: „[...] die ihm wiederum hilft, daß er den Sieg der Versöhnlichkeit gewinnen kann" (ebd.). Der Liebende drückt eine erhabene Ruhe aus, aber diese Ruhe wiederum ist nicht ein bloß sekundärer Ausdruck eines subjektiven Willens zur Versöhnung, sondern sie ermöglicht ihm überhaupt erst die Versöh95

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Gerade in der Bewegung des Subjekts von sich selbst fort liegt die Leichtigkeit des liebenden Ausdrucks im Unterschied zum Sich-selbst-gewichtig-Werden, s. 325/283; 346/301; 277/241; 152/134; vgl. ferner die Aussagen über die „Schwere" der Weltlichkeit als Ausdruck ihrer belastenden, Kommunikation zerstörende Verschlossenheit: 272£/237£; 283Ê/247. Zu diesem Wortfeld gehört aber ebenso die korrespondierende Aussage, daß der kommunikativen Leichtigkeit das „Gewicht" des Gottesverhältnisses zugrundeliegt, durch welches das Herausgehen der Äußerung subjektiv erst möglich wird: 163£/144£; 178/156; 209£/183f. Diese rhetorische Bedeutung der Scham erinnert an Aristoteles' Rhetorik und Ethik, die Kierkegaard rezipiert hat: Rhetorik II, 6 erörtert die Scham als eine der affektiven Bedingungen der Rede; Aristoteles nimmt ferner das Sprichwort auf: „In den Augen ist der Sitz der Scham". EN 1123 b 10f£ beschreibt den ethischen Status der Scham. Wichtig ist, daß hier die Scham nicht als eine Tugend oder Charakterbestimmung (hexis), sondern als ein körperlicher Affekt (pathos) bestimmt wird. Eben dieser leiblich-affektive Sinn der Scham als Pathos ist es, der für Kierkegaards Vorstellung der heiligen Scham wichtig ist. Beide Aspekte, den rhetorischen wie den leiblichen, versuche ich für Kierkegaard mit dem Begriff des Expressiven wiederzugeben.

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nung; sie ist auf eine noch zu bestimmende Weise die sprachliche Form, in der sich die versöhnende Liebe ausdrückt und die Versöhnung Wirklichkeit wird. Doch was ist nun unter dieser erhabenen Ruhe genauer zu verstehen? Es ist die Ruhe des Werbens, mit dem der Liebende um die Liebe des Anderen wirbt und „freit" und ihn so „befreit" (ebd.). Damit ist erstens eine Analogie zum erotischen Werben gemeint: der Liebende wirbt um den Geliebten und drückt damit aus, wie wichtig dieser ihm ist. Der Liebende wirbt um die Liebe des Anderen und damit zugleich um dessen Güte. Er ruft ihn werbend und fragend zu seiner eigenen Liebesfähigkeit auf. Auf diese Weise ist das Demütigende in der Beziehung erneut überwunden. Zweitens aber ist die Analogie zur Erotik durch die Erhabenheit gebrochen: „Denn der Liebende wünscht zwar, diesen Überwundenen zu gewinnen, aber dieser sein Wunsch ist zu heilig, um die Art Leidenschaft zu haben, welche sonst ein Wunsch hat" (ebd.). Man könnte vielleicht hinzufügen, daß im Unterschied zur Leidenschaft, die auf einen endlichen Wunsch gerichtet ist, die erhabene Ruhe expressiv auf das Ewige bezogen ist. Dies bedeutet im Anschluß an 2, VI, daß die Ruhe durch ein unablässiges Bleiben gekennzeichnet ist. Sie gibt immer wieder neue Zeichen des Werbens um den Anderen, ohne dabei der Dialektik des Wünschens zu verfallen. Aber gerade die Bezogenheit auf eine andere, dritte Größe ist es, die einen kommunikativen Raum zwischen den beiden Handelnden eröffnet. Solche erhaben-ruhige Unablässigkeit des Werbens illustriert Kierkegaard abschließend in einem eigenartigen Dialog zwischen den beiden Akteuren. In diesem Gespräch ist der Punkt der Rückkehr des Lieblosen zum Liebenden beschrieben, aber diese Rückkehr des einen erweist sich zugleich als die gemeinsame Rückkehr beider in das gegenseitige Handlungsverhältnis: „Denn wenn der Überwundene fragt ,Hast du mir nun auch vergeben?' so antwortet der Liebende: .Liebst du mich nun wirklich?'" (376f./328). In diesem Dialog kommen die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Handelnden zur Geltung: Der Schuldige fragt nach der Vergebung des Liebenden, der Liebende aber fragt nach dem Liebenkönnen des Schuldigen. Das Merkwürdige dieses Dialogs scheint zunächst nur darin zu liegen, daß der Liebende die Frage mit einer Gegenfrage beantwortet. Diese Frage artikuliert die Liebesfähigkeit des Anderen, indem sie um die Ausübung dieser Liebe bittet. Die eigentliche Pointe aber ist, daß sich gerade in dieser Gegenfrage die dritthafte Einheit der Akteure manifestiert. Jene Fragen sind unterschiedlich als Perspektiven, aber gerade darin drücken

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sie doch eine fundamentale Einheit aus: „Wunderliches Gespräch! Es ist ja gleichsam kein Sinn in ihm, der eine fragt ja dahin, und der andere antwortet dorthin: und dennoch sprechen sie, ja das versteht die Liebe, dennoch sprechen sie von ein und demselben [dog tales der om Eet og det Samme]" (377/328). Trotz der scheinbaren Gegensätzlichkeit des Sprechens gibt es ein gemeinsames Objekt. Sie fragen nämlich beide nach der Liebe als dem Dritten in ihrem Verhältnis, aber auf je unterschiedliche Weise. Der eine fragt nach der Liebe in Form der Vergebung, der andere nach der Liebe in Form der Gegenliebe. In dieser Identität liegt die praktische Einheit, die Versöhnung der beiden, die doch die Unterschiedlichkeit der individuellen Perspektiven bewahrt. Jenes „ein und dasselbe" benennt erneut die versöhnende Liebe als diejenige dritthafte Wirklichkeit, die durch ihre expressive Form einen „public space" zwischen den Handelnden einnimmt und diese gerade dadurch aufeinander bezieht. Die Beiden sprechen von ein und demselben, indem sie dadurch von der Liebe sprechen, daß sie von ihr je individuelle Liebesbedürfnis artikulieren. Initiiert wird dieser öffentliche Raum durch die individuelle Sprechhandlung des Liebenden, seine Gegenfrage. Sie drückt die erhabene Ruhe der Liebe aus, die um die Liebe des Anderen wirbt. Doch kann der derart geschaffene öffentliche Sprach- und Handlungsraum nicht als Werk oder Wirkung des individuellen Handelns angesehen werden. Vielmehr drückt gerade die Frageform seiner Handlung aus, daß auch er auf das in seiner Frage expressiv dargestellte Dritte auf eine Weise bezogen ist, die ihn dem anderen fundamental gleichmacht. Denn seine Frage ist Ausdruck seines Bedürfnisses und seiner Angewiesenheit auf die Liebe des Anderen 97 ; „Gottes Gegenwart macht die beiden wesentlich einander gleich" (375/326). So wie die beiden in der Scham gegenüber der Präsenz Gottes zueinanderfinden, sind sie nun durch das perspektivisch unterschiedliche Werben um Liebe performativ vereint. In dem jeweiligen subjektiven Bezug auf das Dritte der Liebe findet eine Einheit statt, die den Charakter einer (performativen) Verständigung hat: Die Handelnden verstehen sich gegenseitig in einem Dritten, obwohl sie

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Zur Bedeutung der fundamentalen Bedürftigkeit des Liebenden, die sich als die bittende Frage nach der Liebe des Anderen äußert, vgl. 7, IV. Dort findet sich auch ein ähnlicher Dialog zweier Liebesbedürftiger - nämlich Christus und Petrus - die nur scheinbar aneinander vorbeireden (171f./151f.). Allerdings geht es dort nicht um das Problem einer gegenseitigen Versöhnung, weshalb auch nur einer der beiden im Modus des Fragens spricht (nämlich Christus).

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unterschiedliche Sprechakte vollziehen. Diese Verständigung wird möglich durch die sprachlich-expressive Wirklichkeit des Dritten, d.h. durch den spezifischen „public space", den es konstituiert. Diese Verständigungsstruktur möchte ich noch etwas genauer belegen: Daß es sich in dem beschriebenen Dialog tatsächlich um eine dritte Größe handelt, die von den beiden Akteuren selbst und den ihnen zuschreibbaren Möglichkeiten unterschieden ist, dies zeigt sich nicht trotz, sondern gerade an der Unterschiedlichkeit der Sprechakte. Die Bezogenheit beider auf ein Drittes macht sich an der Form der Frage, genauer: der Gegenfrage kund. Durch eine direkte assertorische Beantwortung der Frage mit „ja" oder „nein" würde der Sprecher das Erfragte (die Vergebung) als eine ihm selbst zur Verfügung stehende Handlungsmöglichkeit oder Intention behaupten; damit aber wäre das Verhältnis rein zweistellig und eo ipso als ungleich verstanden: als ein Verhältnis von Sieger und Besiegtem, von Schuldigem und Unschuldigem. Antwortet der Unschuldige hingegen mit der Gegenfrage, so weist er von der Ungleichheit der Akteure weg und hin zu einem forensischen Bezugspunkt, vor dem beide gleich sind98. Zugleich aber ist seine Frage auch wieder an den Schuldigen gerichtet, und dessen Antwort mit seiner Gegenfrage wiederholt denselben Verweisungsprozeß. Die jeweilige Gegenfrage wird zum Ausdruck einer dritten, externen Größe im Verweisungsspiel. Die prinzipielle Offenheit oder Unabschließbarkeit dieses Spiels wird durch jenes Dritte garantiert; umgekehrt wird das Dritte hier nur performativ, also im Vollzug des Dialogs, ansichtig. Zur Verständigung kommt es, indem die jeweilige Frage des Anderen als Ausdruck der dritthaften Liebe verstanden wird". Die Unterschiedlichkeit der Sprechakte verweist schließlich auf die Distanz, die zum Begriff des public space oder des Handlungsraumes wesentlich dazugehört. Verständigung bedeutet nicht eine neue un-

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Das forensische Verhältnis zweier Sprecher „vor" einer dritten Instanz entspricht genau der Öffentlichkeitsmetaphorik in Taylors Begriff des „public space". Verständigung kann natürlich auch zweistellig gedacht werden, etwa in der Form „ich brauche dich, und du brauchst mich". Mit Kierkegaard läßt sich zeigen, daß ein solches Verständnis von Beziehung als reiner Gegenseitigkeit sich selbst nicht versteht, insofern in der genannten Aussage zwei Momente fehlen: einerseits die Frage, worin das „brauchen" eigentlich besteht oder worin es gründet; andererseits der Aspekt des Performativen, des Verwirklichens und Gestaltens eines solchen gegenseitigen Bedürfens. Kierkegaards Konzeption der Liebe als Drittem kann als Aufarbeitung dieser beiden Defizite verstanden werden.

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mittelbare Einheit, vielmehr bleibt in ihr als Vollzug die Eigenständigkeit der jeweiligen individuellen Perspektiven gewahrt; die Sprecher verstehen sich, „eben weil sie vereinigt sind in ideeller Fernheit" {LA, 66). Jener seltsame Dialog findet nun allerdings auch einmal ein Ende: „der Liebende behält das letzte Wort" (377/328). Dies ist kein Widerspruch zu der eben behaupteten versöhnenden Einheit, die bereits im Vollzug des Dialogs selbst zu finden ist. Vielmehr handelt es sich um ein letztes Fortschreiten des bisherigen Ganges, der in doppelter Weise bestimmt werden kann: Erstens ist nun die Verständigung auch für die Beteiligten, insbesondere für den Schuldigen, manifest und nicht mehr bloß performativ sichtbar. Zweitens bezeichnet die erhaben-ruhige Sturheit des Liebenden, die ihn das letzte Wort behalten läßt, den Punkt, an dem der Schuldige endgültig seine Scham losgeworden und wieder zum Handeln innerhalb des Verhältnisses befreit ist. Der Dialog der Fragen kennzeichnet den Punkt des Überganges, die Grenze zur Versöhnung, in dem die beiden zueinander zurückkehren. Der Sieg des sturen Liebenden benennt den Punkt, an dem das Miteinanderleben und -handeln beginnt. Im Dialog hat sich der gemeinsame Sprach- und Handlungsraum artikuliert, und nun wird er handelnd in Anspruch genommen. Eben diese Inanspruchnahme des Verhältnisses als eines Handlungsraumes ist das Telos der beiden Sprechakte. Damit ist letztlich auch der Schritt von der Vergebung zur Versöhnung vollzogen: Die Versöhnung als erneuerte Inanspruchnahme eines gemeinsamen Handlungsraumes geschieht dadurch, daß der Schuldige nicht mehr nach Vergebung fragen muß. Die Vergebung selbst erweist sich als eine ambivalente Erscheinung, und eben dies war das Thema der vier Reden. In jeder der Reden ging es um das Problem, wie die Vergebung so gestaltet werden kann, daß der Andere, dem vergeben werden soll, diese auch annehmen kann. Das „Störende" und der „Anstoß" (376/327), der mit der Vergebung für den Schuldigen gegeben ist, mußte nicht nur in dieser Rede beseitigt werden. Dabei läßt sich so etwas wie eine systematische Vertiefung des Problems im Fortlauf der Reden feststellen: War in V die Annahme der Vergebung als solche noch unproblematisch und die Vergebungsthematik hinsichtlich ihres sozialen Umfeldes thematisiert, so nehmen die folgenden Reden das Problem der Reziprozität immer stärker in den Blick. Am Schluß von VIII schließlich erweist sich die Vergebung als ein Punkt, der prinzipiell nicht der Schlußpunkt sein kann, sondern das Eingangstor zu etwas Anderem: zu einer erneuer-

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ten Inanspruchnahme der Handlungsbeziehung in Versöhntheit. Die Vergebung ist eine zentrale Handlung der Liebe, zugleich aber ist sie als Grenze etwas prinzipiell zu Überwindendes. Isoliert man sie von dem Handlungsleben, das durch sie ermöglicht wird, so verfällt sie einer ähnlichen Dialektik, wie sie der Begriff Angst für die Reue festhält: Im subjektiven Handlungserleben ist die Reue ein ethisch notwendiges Phänomen, das doch zugleich den Reuigen vom Weiterleben und -handeln abhält100. In einer analogen Weise stellt im Bereich der Interaktion die Vergebung eine unausweichliche Aufgabe dar; doch muß sie gerade deshalb in der beschriebenen Form der Liebe, nämlich unter Berücksichtigung des fremden Liebenkönnens, gestaltet werden, weil allein dadurch die Vergebung als Beginn eines gemeinsamen Handelns und Lebens möglich wird. Vergebung ist die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft des Handlungsverhältnisses, genau deshalb aber ist sie das eigentliche Problem des intersubjektiven Handelns, das von diesen Reden zu bearbeiten ist.

6. Finale Expressivität und Bedeutung - Versöhnung als Verständigung Die Diskussion der vier Reden V-VIII sollte den eingangs skizzierten Begriff des expressiven Handelns anhand der Texte verifizieren. Ich habe in meiner Diskussion versucht, in jeder der Reden einen bestimmten Aspekts des expressiven Handelns herauszustellen: in V waren es bestimmte Formen der wirksamen Äußerung wie Regel, Sprache und Zeichen, in VI die Kategorie der Drittheit, in VII der Aspekt der Expressivität selbst als Phänomen der Kreativität des Handelns, und in VIII schließlich die einheitsstiftende Funktion der Äußerung als „public space". Analog zu dieser Rekonstruktion eines bestimmten handlungstheoretischen Begriffes lief die Rekonstruktion der materialethischen Diskussion, die ich unter dem Stichwort der 100

BA, 121; neben dem Aspekt des Ausbleibens der Handlung nennt Vigilius auch noch einen anderen Aspekt des „ethische(n) Selbstwiderspruch(s)" der Reue: sie hält gerade fest, was sie beheben soll, nämlich die Schuld; und diese Ambivalenz ist erst „in der Versöhnung" behoben (Versöhnung wird hier im dogmatischen Sinne hinsichtlich der Erbsünde verstanden). Es handelt sich um dasselbe Festhalten dessen, was zu beheben ist, das auch die Dialektik der Vergebung im Bereich der Interaktion ausmacht: Sie schreibt das hierarchische Verhältnis von Schuldigem und Nichtschuldigem fest, zumindest solange man bei ihr stehenbleibt. Und die Überwindung dieser Festschreibung ist das Thema von rL2,VIII.

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Versöhnung zu entfalten versuchte. Auch hier liefert jede der Reden einen spezifischen Beitrag zum der Frage, wie eine zerbrochene Handlungsbeziehung geheilt und erneuert werden kann: Die Rede V entwickelte die geschichtliche und öffentliche Dimension der zerbrochenen Handlungsbeziehung, VI stellte den Aspekt der Leiblichkeit dieser Beziehung heraus, VII thematisierte die Versöhnung in ihren sozialen und politischen Formen, und VIII entwickelte schließlich einen expliziten Begriff von Versöhnung, der die Dialektik des Vergebens löst. Versöhnung zeigt sich somit als intersubjektive Wirkung des expressiven Handelns der Liebe. Dieses expressive Handeln kann in der Weise, wie es in diesen Reden dargestellt wird, erneut als eine Form von Sprechhandeln verstanden werden. Das Handeln des Liebenden kann dabei immer noch auf den Basissatz der Eingangsrede von 7X2 zurückgeführt werden: Jede einzelne der beschriebenen Handlungen stellt eine Äußerung jener Voraussetzung dar, daß der Andere lieben kann. Gleichwohl gehen diese Handlungen und ihre Expressivität über die Semantik des Satzes hinaus, insofern es die unendliche Vielfalt von expressiven Äußerungen in Zeichen, Worten, Mimik, Gestik und anderen, im weitesten Sinne als Körperbewegung zu klassifizierenden Handlungen ist, in der sie aufzufinden sind. Im Kontext dieser vier Reden gilt nun aber die Rede von sprachlichem Handeln einem fundamental intersubjektiven Phänomen: dem Ereignis, in dem zwei Akteure ihre Trennung überwinden und zu einer neuen Einheit finden. Intersubjektive Gestalt hat dieser Vorgang in der Darstellung Kierkegaards dadurch, daß er nicht als Leistung eines einzelnen der beiden Beteiligten beschrieben wird, sondern als ein Ereignis, das gleichermaßen beide als Handelnde umfaßt und insofern nur als ihr gemeinsames und gegenseitiges Handeln verstanden werden kann. Individuelles Liebenkönnen hat, wie wir bereits in 2,1 sahen, eine reziproke Grundstruktur. Wird diese Intersubjektivität durch ein Sprachhandeln bewirkt, so hat das intersubjektive Verhältnis selbst eine wesentlich sprachliche Struktur. Diesen Zusammenhang habe ich im vorigen Kapitel durch die Bemerkung auszudrükken versucht, daß die versöhnte Einheit den Charakter einer Verständigung hat. Verständigung bedeutet dabei zunächst nur, daß zwei Sprecher sich gegenseitig verstehen. Für den Fall der Versöhnung, so wie von Kierkegaard in diesen Reden dargestellt, heißt das: Der Schuldige oder Rückkehrer versteht das Zeichen der Liebe, das der Andere in seinem Handeln gibt, so daß er in ein Verhältnis zu ihm zurückkehren, d.h. daß er auf dieses Zeichen mit seiner Liebe

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antworten kann. Dieses Verstehen ist jedoch nur möglich, weil und wenn der Andere, der Liebende, seinerseits den Rückkehrer als einen versteht, der in Liebe antworten kann, und sein Zeichen demensprechend expressiv gestaltet. Das gegenseitige Verstehen der jeweiligen Zeichen ist also wesentlich dadurch bedingt, daß sich diese Zeichen auf etwas beziehen, was nicht in der zweistelligen Struktur des Verhältnisses (in der beispielsweise immer einer der Schuldige und einer der Unschuldige sein muß) aufgeht, sondern vielmehr gerade eine Differenz gegenüber dieser Struktur unmittelbarer Gegenseitigkeit zum Ausdruck bringt: Die beiden verstehen sich nicht anders als durch eine dritte Größe, nämlich „in" der Liebe. Worin aber diese Vermittlungsleistung, d.h. die wirksame Präsenz jener dritten Größe liegt, dies muß in der spezifischen Form der sprachlichen Äußerungen und Zeichen gesucht werden. Wenn Versöhnung von Kierkegaard als Verständigungsprozeß dargestellt wird, stellt sich die Frage nach der sprachlichen Struktur dieses Prozesses. Um diese Struktur deutlicher werden zu lassen, möchte ich sie abschließend in den Kontext der Bedeutungstheorie stellen. Der analytischen Bedeutungstheorie geht es nämlich um eine analoge Frage, wenn auch in allgemeinerer Hinsicht: „Die Bedeutungstheorie soll die Frage beantworten, was es heißt, den Sinn eines - wohlgeformten - symbolischen Ausdrucks zu verstehen."101 J. Habermas hat seine Theorie des kommunikativen Handelns im Kontext der bedeutungstheoretischen Frage und in kritischer Auseinandersetzung mit ihren verschiedenen Theorietypen entwickelt. Dabei dient die Bedeutungstheorie als Leitmodell, in dem der Kern der Habermas'schen Theorie, nämlich die Frage nach dem Verständnis von sozialer Handlungskoordination, expliziert werden kann. Das Verstehen sprachlicher Ausdrücke wird von ihm als Verständigungsgeschehen interpretiert, und zwar unter den drei Aspekten des „sich/ über etwas/ mit einem Anderen/ Verständigens"102. Ich möchte im folgenden Habermas' kritische Darstellung dieser Theorietypen und seine eigene Weiterentwicklung in knapper Form aufnehmen, um mit ihrer Hilfe die Umrisse der rekonstruierten Theoriegestalt aus TL weiter zu schärfen. Habermas unterscheidet zwischen der intentionalistischen, der formal-semantischen und der gebrauchstheoretischen Bedeutungstheorie. Das Problem des Intentionalismus, der ersten von ihm unter101

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J. Habermas, Bedeutungstheorie, 105; die folgende Darstellung orientiert sich an diesem Aufsatz, vgl. ausführlicher Kommunikatives Handeln Bd. 1, 369-452. Bedeutungstheorie, 106.

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suchten Theorieform, liegt Habermas zufolge in der einseitig strategisch-teleologischen Weise, in welcher hier die Sprache gesehen wird. Die sprachliche Äußerung erscheint als ein bloßes Mittel, durch das der Sprecher dem Kommunikationspartner seine Intentionen deutlich macht. „Der Bedeutungsgehalt einer Äußerung ,x' von S soll allein durch die Intention, mit der S den Ausdruck ,x' in einem gegeben Kontext äußert, erklärt werden" 103 . Sprachliche Interaktion wird als bloße Zwecktätigkeit der beteiligten Akteure verstanden, die „gewiß zur wechselseitig reflektierten Zuschreibung von propositionalen Einstellungen und Gehalten führen (kann), aber nicht zu so etwas wie im strikten Sinne intersubjektivem Wissen."104 Wendet man diese Analyse auf TL an, so zeigt sich die Übereinstimmung mit Habermas' Kritik: Der Versöhnungsprozeß wäre nicht möglich, wenn er als Mitteilung einer versöhnlichen Absicht des Liebenden verstanden wäre. Der Schuldiggewordene, der zurückkehrt, versteht die Äußerung des Liebenden nicht als dessen subjektive Intention, auf die er sich dann in der Versöhnung einzulassen hätte; vielmehr versteht er jene Äußerung in Hinsicht auf sein eigenes Liebenkönnen, d.h. er versteht sie in Hinblick auf die Zukunft dieses Handlungsverhältnisses als eines geteilten Handlungsraumes. Zugespitzt gesagt: Die Äußerung wird nicht als eine fremde Intention verstanden, sondern als eine fremde Intentionalität, nämlich als Ausdruck einer Bezogenheit des Anderen auf eine dritte, gemeinsame Größe. Solches Verstehen wiederum wird möglich durch die besondere Gestaltung der expressiven Äußerung des Liebenden. Sie wird möglich dadurch, daß der Liebende in seiner Äußerung das fremde Liebenkönnen ausdrückt (etwa in der in VI beschriebenen symbolischen Vergegenwärtigung des Weggegangenen) und ihm Raum zur Antwort gibt. Von hier aus zeigt sich die Problematik des Kierkegaardschen Begriff der „Mitteilung", der besonders in den Pseudonymen Texten eine wichtige Rolle spielt: Dieser Begriff ist immer in der Gefahr, intentionalistisch mißverstanden zu werden, auch noch in der Form der indirekten Mitteilung105. Bereits die Rede 2, IV nimmt diese Gefahr ausdrücklich auf und versucht, praktische Kommunikation in Hinblick auf ein Drittes, der mitteilenden

103 104 105

AaO. 108. AaO. 115. Die bedeutungstheoretische Problematik des Mitteilungsbegriffs deckt, unter Bezug auf die einflußreiche Bedeutungstheorie von H.P. Grice, E. Tügendhat, Einleitung, 232t auf.

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3. Kapitel: Das Können

Subjektivität Transzendentes zu begreifen. Dieser Versuch wiederholt sich in jeder der folgenden vier Reden. Die zweite Theoriegestalt, die Habermas in seiner Darstellung ins Spiel bringt, ist die Wahrheitssemantik. Sie löst die Bedeutungsfrage zunächst aus ihrem kommunikativen Kontext und verwurzelt sie in der assertorischen Satzform und ihren logisch-semantischen Strukturen. Die Bedeutung eines Satzes ist demnach „der Sachverhalt, den er wiedergibt; und wenn dieser Satz genau dann wahr ist, wenn der ausgedrückte Sachverhalt existiert oder der Fall ist; dann verstehen wir den Satz, sofern wir nur die Bedingungen kennen, unter denen er wahr ist."106 Habermas' Kritik an den Vertretern der Wahrheitssemantik richtet sich nun gegen die Einseitigkeit, mit der diese Theorie sich an dem assertorischen Modell von Wahrheit orientiert. Die vielfältigen nicht-assertorischen Funktionen der Sprache werden auf diese Satzform herunterdekliniert und mit Erfüllungs- und Wahrheitsbedingungen versehen, die zu wissen die Voraussetzung ihres Verstandenwerdens sei. Nach Habermas ist diese Auffassung unzutreffend, da sie den pragmatischen Kontext der Sätze vernachlässigt: die in den Sprechakten sich äußernden Geltungsansprüche und damit die in diesen Akten verankerten spezifischen Regeln des jeweiligen Sprachspiels. Unter diesem Mangel leidet Habermas zufolge auch die Weiterentwicklung des semantischen Ansatzes in den Sprechakttheorien von Austin und Searle. Das illokutionäre Element eines Satzes, auch schon eines assertorischen Satzes, kann nicht auf propositionale Wahrheit reduziert werden: „H versteht einen Imperativischen Satz erst als Befehl, Anweisung, Bitte o.ä., wenn zur Kenntnis der (im Satz propositionalen Gehalts angegebenen) Erfolgsbedingungen die Kenntnis jener (im illokutionären Bestandteil enthaltenen) Bedingungen hinzutritt, unter denen S begründen könnte, warum er eine Aufforderung des Inhalts ρ für legitimiert oder durchsetzbar hält. Dabei kommt ein Geltungsanspruch normativer Art ins Spiel, der sich nicht auf einen Wahrheitsanspruch reduzieren läßt."107 Für 7X2 nun hat die Wahrheitssemantik nach meiner Lesart eine wichtige Bedeutung. Die in 2,1 entwickelte Vorstellung von der Vor-

106

107

Bedeutungstheorie, 110. Dieser Ansatz wurde v.a. im Anschluß an die Semantik Freges und des frühen Wittgenstein entwickelt. Der Begriff der Wahrheitsbedingung ist jedoch, wie M. Dummet, Theory of Meaning zeigt, zu stark und muß durch die pragmatische, auf ein Begründungs- und Ausweisungsspiel bezogene Rede von Verifikations- und Falsifikationsbedingungen ersetzt werden. Bedeutungstheorie, 122.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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aussetzung der Liebe läßt sich, wie ich versucht habe zu zeigen, als semantische Basisstruktur für das Verständnis des subjektiven Liebenkönnens verstehen. Dieser Basissatz spielt auch in den Reden VVIII eine zentrale Rolle: Alle subjektiven Äußerungen des Liebenden folgen dieser Semantik; es sind stets Äußerungen, in denen der Liebende die Liebe des Anderen voraussetzt, in dem er ihn auf dieses Liebenkönnen anspricht. Das Liebenkönnen ist, in den Worten der Wahrheitssemantik, diejenige Tatsache, deren Kenntnis die Äußerung verständlich macht. Diese Bedingung aber, so hatten wir gesehen, kann nun weder als unmittelbar aufweisbare Tatsache noch als subjektives Wissen über eine Tatsache auf der Seite des Handlungspartners gedacht werden. Das Liebenkönnen muß vielmehr vorausgesetzt werden, und zwar als ein spezifisches Können, das beide Akteure umfaßt und nur in dieser Reziprozität verstanden werden kann. Diese Voraussetzung aber, und dies ist der wesentliche Unterschied zum semantischen Ansatz, ist nicht eine bloß kognitive Struktur, sondern sie hat selbst performativen Charakter: sie muß ausgedrückt und kommuniziert werden. Es ist die Beziehung der beiden Akteure, die in den Äußerungen des reziproken Liebenkönnens thematisiert und als Bedingung des Verstehens zum Ausdruck gebracht wird, und das bedeutet, daß auch die Bedingung des Verstehens stets innerhalb dieser Beziehung und ihrer bestimmten kommunikativen Gestaltung zu verorten ist. Dieser Aspekt steht im Mittelpunkt der Reden V-VIII. Der Schuldige versteht demnach die Äußerung des Liebenden nicht, indem er die objektiven Bedingungen kennt, unter denen sie wahr ist. Vielmehr versteht er sie nur, wenn er in ihr den Verweis auf die gemeinsame Handlungsbeziehung erkennt und dies zum Anlaß nimmt, seinerseits seine Liebe auszuüben und auszudrücken - oder auch nicht. Die Wahrheit des Basissatzes ist also nicht ein außerhalb der praktischen Perspektive des Rezipienten zu beschreibender (und beschreibbarer) Sachverhalt, sondern sie kann überhaupt nur unter Berücksichtigung dieser Perspektive beschrieben werden: als das, was die Äußerung mit dem Rezipienten macht - und der Rezipient mit der Äußerung. Die Äußerung des Liebenden wird von dem Anderen verstanden, wenn er sie in Hinsicht auf die Zukunft des gemeinsamen Handelnund Liebenkönnens versteht. Die Scham des Liebenden versteht der Schuldige, wenn er darin das Heilige versteht und so zu seiner eigenen Scham gegenüber dem nun auch für ihn gegenwärtigen Heiligen veranlaßt wird. Der Arme versteht die barmherzige Rede des Reichen, wenn er sie in Hinblick auf sein eigenes Barmher-

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zigseinkönnen versteht, durch das er wiederum einem Reichen vergeben kann. Wenn dies aber so ist, kann der Wahrheitsbegriff nicht ohne weiteres als Bindeglied zwischen dem symbolischen Ausdruck und seiner Bedeutung gelten. Die Äußerung des Basissatzes der Liebe wird nicht durch eine objektiv verifizierbare Tatsache wahr gemacht, sondern allein durch die Geschichte zwischen den beteiligten Sprechern. Eine externe Verifizierung anhand objektiver Kritierien und Wahrheitsbedingungen kann es nicht geben, denn die Verstehensbedingung, die Liebe als Drittes, ist nicht eine Tatsache, sondern hat selbst die Form einer sprachlich-symbolischen Äußerung innerhalb der Geschichte und Beziehung der Sprecher. Diese Äußerung ist dabei nicht als Abbild oder Repräsentation einer externen Wirklichkeit gedacht, sondern als Artikulation einer Wirklichkeit, die es nicht ohne diese Artikulation ,gibt'. Die Sprache der Liebe, in der die beiden Handelnden zueinander finden, verweist nicht auf externe Erfüllungsbedingungen, sondern sie ist „innerlich" im Sinne einer Binnenperspektive: allein innerhalb des realisierten Liebesverhältnisses, allein für die Handelnden ist diese Sprache gültig und bedeutsam 108 . Insofern kann dann auch der Basissatz, der die Liebe beim Anderen voraussetzt, nicht als einfache Existenzbehauptung und damit im Sinne einer repräsentativen Sprachauffassung verstanden werden: Die intentionale Bezugnahme ist hier nicht als sprachliche Repräsentation eines objektiv existierenden Gegenstandes gedacht, sondern als ein Bezug, der erst durch die bestimmte Sprachform möglich wird109. Die 108

109

In Habermas' Terminologie könnte man sagen: Das Verstehen dieser Sprache ist dadurch möglich, daß die Liebe eine für beide Beteiligten gültige „Regel" eines sie vorgängig umfassenden „Sprachspiels" darstellt. Der institutionelle und soziale Charakter der Sprache spielt für TL durchaus eine Rolle, wie v.a. die Reden V und VII zeigen. So verweist etwa die Beschreibung der Begegnung von Reichen und Armen in VII auf das Liebenkönnen als eine soziale Tiefenstruktur, die von den aktuellen sozialen Diskursen lediglich verdeckt wird. Ohne die Analogie zu weit treiben zu wollen, kann man darüberhinaus in Anschluß an VI vielleicht auch von personalen Institutionen innerhalb der Ich-Du-Beziehungen sprechen: nämlich die bestimmte leibliche Form eines Handlungsverhältnisses, die in seiner Fragmentarisierung die Vergangenheit dieses Verhältnisses auf eine Weise symbolisch vergegenwärtigt, die es dem Anderen ermöglicht, erneut in das Verhältnis einzusteigen (s. das Bild vom Tanz). Gewohnheiten, Regelmäßigkeiten, eingeübte Verhaltensund Reaktionsweisen und dazugehörige Sprachspiele gibt es ja durchaus auch (oder gerade) innerhalb einer Zweier-Beziehung. Zur Kritik der repräsentativen oder „designativen" Sprachauffassung in den wahrheitskonditionalen Bedeutungstheorien vgl. C. Taylor, Bedeutungstheorien, bes. 55ff. Taylor kritisiert zusammenfassend zwei Tendenzen der wahrheitskonditionalen An-

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Liebe als das Dritte denkt Kierkegaard als die Weise, in der die beiden Akteure aufeinander bezogen sind, und die expressiv-sprachlichen Darstellungsformen dieses Dritten sind die Mittel, durch die der intentionale Bezug des einen auf den anderen überhaupt erst realisiert wird. Die vorausgesetzte Wirklichkeit der Liebe ist die Voraussetzung von Intentionalität. Diese Voraussetzung aber wird in den Texten nicht als objektive Wahrheit aufgewiesen, sondern als performative Form: als der Vollzug solcher Intentionalität mittels der expressiven Formen des Dritten. Diese Grenze des wahrheitssemantischen Ansatzes in TL hatte ich bereits im Zusammenhang von 2, II/III angesprochen; sie wird aber erst in der Intersubjektivitätsthematik endgültig deutlich. Seinen eigenen bedeutungstheoretischen Ansatz entwickelt Habermas in historischer Anlehnung an die von ihm so genannte und v.a. mit dem späten Wittgenstein verbundene Gebrauchstheorie der Sprache. Die Gebrauchstheorie geht von der zuletzt genannten kommunikativen Bedeutung der Regeln eines Sprachspiels aus. Habermas führt diesen Ansatz weiter, indem er auf die fundamentale Bedeutung der Geltungsansprüche hinweist, die in Sprechakten enthalten sind. Demnach wird ein Ausdruck verstanden, wenn die kritisierbaren Geltungsansprüche des Sprechers und seine dafür anführbaren Gründe verstanden sind. „Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht." 110 Dieses Wissen hängt wesentlich an den intersubjektiv-normativen und subjektiv-expressiven, also den illokutionären Elementen des Sprechaktes; ihnen schreibt Habermas eine wahrheitsanaloge Bedeutung zu, so daß das Primat der propositionalen Wahrheitsbedingung gebrochen ist. Dieses wahrheitsanaloge Wissen ist jedoch rational, nämlich an Gründe gebunden. Die Konstitution von Bedeutung ist im strukturellen Zusammenhang „von Gültigkeitsbedingungen, darauf bezogenen Geltungsansprüchen und Gründen für die Einlösung der Geltungsansprüche" 111 zu verorten. Das Verstehen zielt so auf die gegenseitige Verständigung der Sprecher über etwas. Diese Verständigung ist wesentlich intersubjektiv im Sinne einer nicht strategisch manipulierbaren Gegenseitigkeit, insofern sie „die Orientierung an wechselseitig erhobenen kritisierbaren Geltungsan-

110 111

sätze: „ihre Betonung der Repräsentation und ihre Übernahme der externen Einstellung des Beobachters" (ebd. 62). J. Habermas, Bedeutungstheorie, 127. AaO. 124.

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Sprüchen verlangt."112 Der Akt des Verstehens ist auf diese Weise identisch mit der Aufgabe der Handlungskoordinierung, in denen die Handelnden ihre Pläne und Handlungen wechselseitig aneinander anschließen. Erst in der Form von kommunikativem Handeln, das in seiner sprachlichen Form auf Verständigung zielt, wird die Handlungskoordinierung als nichtstrategisches und gewaltfreies Ereignis möglich. Denn es ist das in der Sprache gebundene rationale Potential der Verständigung durch gegenseitig kritisierbare Geltungsansprüche, das auf diese Weise die intersubjektiven Beziehungen regelt. Habermas erklärt die soziale Verständigung und „Versöhnung" 113 von Handelnden, indem er die sprachliche Struktur dieses Handelns aufdeckt und es als verständigungsorientiertes Sprachhandeln identifiziert. Kierkegaard beschreibt die versöhnende Leistung der Liebe in Interaktionskontexten, indem er die sprachliche Form dieser Liebe in ihren individuellen Äußerungen hervorhebt. Doch hier beginnen die Unterschiede. Kierkegaards Beschreibung dieser versöhnenden Sprache und Verständigung ist nämlich prinizipiell verschieden von Habermas' Sprachbegriff. Der Unterschied ist im wesentlichen der zwischen einer bestimmt-expressiven und einer formal-prozeduralen Auffassung von sprachlicher Verständigung. Von Kierkegaards Liebesbegriff aus gesehen besitzt Habermas nämlich keinen eigentlichen Begriff eines bestimmten „Dritten" in dem Verhältnis zweier Sprecher, durch welches diese Verständigung vermittelt und ermöglicht wäre. Diese Behauptung scheint zunächst ins Leere zu gehen, betont doch Habermas die konstitutive Bedeutung der kommunikativen Vernunft für die Verständigung, und diese Vernunft beschreibt er explizit als eine den individuellen Handlungsinteressen transzendente Größe: „Kommunikatives Handeln unterscheidet sich also vom strategischen dadurch, daß sich eine erfolgreiche Handlungskoordinierung nicht auf die Zweckrationalität der Handlungsorientierungen, sondern auf die rationale motivierende Kraft von Verständigungsleistungen, d.h. auf eine Rationalität zurückführen läßt, die sich in Bedingungen für kommunikativ erzieltes Einverständnis manifestieren." 114 Es scheint das transsubjektive Telos der Verständigung selbst zu sein, das der sprachgebundenen Rationalität inkarnatorisch innewohnt und sie so von den isolierten Perspektiven der Akteure ab112 113

114

AaO. 130. Habermas nennt den religiösen Versöhnungsgedanken als „grundlegende Intuition" seiner Theorie des kommunikativen Handelns, s. Rationalisierung, 202. Bedeutungstheorie, 130.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

407

setzt. Andererseits aber ist zu fragen, wie sich diese Rationalität oder dieses Telos eigentlich inhaltlich von den partikularen Einzelperspektiven unterscheidet. Habermas spricht von „Verständigung" und „Anerkennung", doch er kann keine Inhalte oder Bestimmungen neben den Einzelperspektiven angeben, die den Vollzug dieser Verständigung bestimmen und bedingen könnten. Verständigung als Austausch von Geltungsansprüchen erfolgt zwar vor einem normativen Hintergrund, der diese Geltungsansprüche allererst ermöglicht; doch die bedeutungsstiftende Kraft dieses Hintergrundes bleibt gegenüber dem Vollzug des gegenseitigen Austausches der Ansprüche unklar. Die bedeutungsstiftende Verständigung wird zwar formal als dreistellig, hinsichtlich ihrer materialen Bestimmungen aber als zweistellig gedacht, d.h. die Akteure bestimmen ihre Beziehung ausschließlich durch sich selbst und ohne konstitutiven Bezug auf ein drittes Strukturelement ihrer Beziehung. Kandidaten für ein solches drittes Element wären entweder einzelne Bestimmungen jenseits der Partikularperspektiven (z.B. bestimmte Werte oder eine Gruppenzugehörigkeit) oder die Beziehung der Akteure als Beziehung. Diese dritthafte Stellung der Beziehung selbst taucht zwar bei Habermas geltungstheoretisch als normativer Hintergrund auf, nicht aber als Gegenstand und Inhalt der jeweiligen Kommunikation; dies aber ist eben die Rolle, die man in Kierkegaards Begriff der dritthaften und expressiven Liebe entdecken kann. Habermas' Formalismus führt im ethischen Kontext zum Dualismus von Diskurs und Lebenswelt, von Moralität und Sittlichkeit115, 115

Vgl. J. Habermas, Diskursethik, 108-119. Dabei geht es Habermas freilich nicht um einen Dualismus, sondern um die Unterscheidung zweier Bereiche, die zugleich unaufgebbar aufeinander bezogen sind; doch muß Habermas zugeben, daß durch die „Abstraktionsleistungen der Moralität" die „Folgeprobleme einer Vermittlung von Moralität und Sittlichkeit" entsteht (ebd. 118). Den notwendigen Schritt vom Horizont der unproblematisierten Alltagspraxis zum praktischen Diskurs, und damit die Verbindung beider Bereiche, sieht er in der Tatsache begründet, daß gerade die partikular erhobene Sollgeltung „in performativer Einstellung" auf Universalität drängt: „Die transzendierende Kraft eines frontal verstandenen Geltungsanspruchs ist auch empirisch wirksam [...] Der universelle Gehalt dieser Normen selbst bringt den Betroffenen, im Spiegel veränderter Interessenlagen, die Parteilichkeit und Selektivität von Anwendungen zu Bewußtsein" (ebd. 114f.). Habermas behauptet damit auch für die diskursiv erhobenen Geltungsansprüche einen direkten Bezug zu dem, was sie ursprünglich meinen oder bezeichnen. Gleichzeitig aber sieht er sie einem rationalen Diskursverfahren ausgesetzt, in dem die Sprecher von diesen partikularen Bezügen methodisch gerade abstrahieren müssen. Damit sieht es so aus, als müßte man die ursprüngliche, auf universale Geltung zielende Bedeutung, aufgeben, um mit Hilfe der diskursiven Verfahrensregeln zu neuen Bedeutungen zu gelangen. Habermas behaup-

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im bedeutungstheoretischen Kontext aber zum Dualismus von Verständigungsakt und dem Gegenstand der Verständigung. Habermas hebt den Gegenstand des Verstehens zunächst ausdrücklich hervor: „Einen Ausdruck zu verstehen, heißt zu wissen, wie man sich seiner bedienen kann, um sich mit jemandem über etwas zu verständigen" [Hervorhebung U.L.].116 Doch für die Verständigung konstituierende Rationalität kann dieses „etwas" keine Bedeutung mehr haben: Wie wir sahen, erfolgt Habermas zufolge Verständigung unter Absehung von materialer Bestimmung und stellt insofern eine zweistellige Struktur dar. Diskursive Vernunft als prozedurale Vernunft muß also nicht nur von den partikularen Perspektiven der Diskursteilnehmer abstrahieren, sondern damit zugleich auch von den eigentlichen Gegenständen des Diskurses. Anders als die individuellen Ansprüche der Teilnehmer ist der sachliche Gegenstand (in Form eines Problems) zwar im Austausch der Sprechakte ständig präsent und thematisch. Aber dies gilt nur für die lebensweltliche, d.h. die noch unproblematische, eingespielte Bedeutung; für die im Anschluß an eine Problematisierung diskursiv zu erzielende Verständigung kann dem Gegenstand selbst kein Anteil und keine Bedeutung zugesprochen werden. Die kommunikative Vernunft und ihre Versöhnungsleistung sind nicht an den Gegenstand gebunden, sie haben zu ihm nur ein zufälliges Verhältnis: Die reziproke Verständigung der beiden Sprecher entscheidet über den Gegenstand. In dieser Hinsicht kann Habermas' Sprachbegriff als nominalistisch bezeichnet werden 117 .

116

117

tet zwar, daß praktische Diskurse ihre pragmatischen Voraussetzungen der Alltagspraxis „entlehnen" und insofern lediglich eine „Reflexionsform des verständigungsorientierten Handelns" darstellen (ebd. 110). Doch scheint mir der Schritt in die Reflexionsform ein Schritt aus dem ursprünglichen Handlungskontext heraus zu sein, und damit auch ein Schritt aus der ursprünglichen bedeutungsstiftenden Situation. Die Frage ist, in welchem Verhältnis die Bedeutung einer partikularen, lebensweltlich verorteten Sollgeltung zu der möglicherweise neuen oder relativierten Bedeutung steht, die diese Sollgeltung innerhalb eines praktischen Diskurses erhält. Bedeutungstheorie, 128. Die Vernachlässigung dieses Objektbezugs kritisiert Habermas im übrigen an der von Kierkegaard inspirierten dialogischen Intersubjektivitätstheorie Theunissens, s. Kommunikative Freiheit, 32. Doch scheint mir diese Kritik - in veränderter Form - ebenso auf Habermas selbst anwendbar zu sein! Mit „nominalistisch" bezeichne ich hier eine Auffassung, derzufolge eine Bedeutung eines Ausdrucks auf das Wissen eines oder zweier Aktoren zurückgeführt werden kann. Die Annahme, daß Bedeutung durch den Ausdruck selbst gegeben, d.h. als durch eine vom verstehenden Bewußtsein unabhängige Größe konstituiert wird, kann demgegenüber „realistisch" genannt werden. Allerdings hat Habermas' Verständigungsbegriff auch realistische Züge, insofern er den Verständigungsprozeß unter einen normativen Vernunftbegriff stellt, vgl. J. Simon, aaO. 146t

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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Demgegenüber hatte sich Kierkegaards Begriff von Versöhnung als ein Sprachgeschehen erwiesen, das wesentlich durch den Gegenstand, das „etwas" des Sprechaktes bestimmt ist. Der Gegenstand der expressiven Äußerung des Liebenden ist die Liebe in ihrer dritthaften Form (also das intersubjektive Verhältnis als solches), und dieses Dritte ist es nun, das den Verständigungsprozeß generiert. Das „wunderliche Gespräch" am Schluß von 2, VIII zeigt dies sehr genau: Beide Sprecher beziehen sich mit ihren sehr unterschiedlichen Sprechakten auf etwas Gemeinsames, Drittes, und erst dadurch finden sie zu einer Verständigung. „Es ist ja gleichsam keine *Bedeutung [Mening] in ihm, der eine fragt ja dahin, und der andere antwortet dorthin: und dennoch sprechen sie, ja das versteht die Liebe, dennoch sprechen sie von ein und demselben" (377/328). Im Sprechen der beiden Sprecher mit ihren partikularen Perspektiven bewirkt ein bestimmtes Drittes als Gegenstand die Einheit der beiden. Dieses Dritte muß also als eine dem Dialog selbst vorgängige Wirklichkeit gedacht werden, und zwar, so hatte ich vorgeschlagen, als eine expressive, d.h. Bedeutung setzende Wirklichkeit. Dieses bestimmte Dritte ist die Liebe, genauer gesagt, die bestimmte Liebesbeziehung zwischen den beiden Sprechern, die in der Vergangenheit in einer ganz bestimmten, d.h. leiblichen Form bestanden hatte, und die in expressiven Handlungen des Liebenden und in der Reaktion des Schuldigen als das Versöhnende leiblichen Ausdruck findet. Die Voraussetzung dieser Beschreibung ist die unterschiedliche Stellung und Perspektivität, in der sich beide Akteure von Beginn an befinden (als Schuldiger und Unschuldiger). Diese Voraussetzung erweist sich gegenüber der Habermas'schen Diskurskonstruktion als realistischer und lebendiger: Sie verortet kommunikative Verständigungsleistungen im leiblichen Kontext lebensweltlicher Ungleichheit, die Kierkegaard gerade nicht ausblenden will. So läßt sich die bedeutungstheoretische Differenz zu Kierkegaard präzisieren: Bei Habermas ist der Gegenstand des Sprechaktes bloßes Objekt, aber niemals das Subjekt der Verständigung. Als ein solches Subjekt, das in irgendeiner Weise von sich aus die Einheit der Sprechenden konstituieren würde, ist es in Habermas' prozeduraler Rationalität gerade ausgeschlossen. In diesem Sinne kann eine bestimmte sprachliche Äußerung niemals als solche die Handelnden zu einer Verständigung bringen. Das aber bedeutet bedeutungstheoretisch: Es ist niemals die mit dem sprachlichen Ausdruck bezeichnete Wirklichkeit selbst, die verstanden wird, sondern es sind die zeichengebenden Sprecher, die „sich" verstehen, indem sie sich über „etwas" verständigen. Letztlich scheinen so nur noch die zeichengebenden Subjekte als

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Teilnehmer des Verstehensprozesses übrig zu bleiben, der Gegenstand aber ist nicht mehr Teil desjenigen Vorganges, der Bedeutung hervorbringt. Wenn es in diesem Vorgang aber nichts anderes außer den Sprachsubjekten mehr gibt, stellt sich die Frage, wo dann noch die von Habermas beschworene kommunikative Rationalität Platz hat. Habermas will sie in der Sprache selbst lokalisieren, in dem „den sprachlichen Strukturen innewohnende(n) Telos der Verständigung"118. Doch scheint es angesichts der nominalistischen Auffassung zunehmend schwierig zu sein, diese Sprache noch als ein selbständiges Drittes neben den Subjekten, die sie instrumentalistisch zur Repräsentation von Sachverhalten benutzen, erkennen zu können. Von Kierkegaard aus kann gefragt werden, ob Habermas nicht tendenziell das verliert, was er doch für die Erklärung der Verständigung als eines intersubjektiven Vorgangs unbedingt braucht: eine dritte Größe, welche die Perspektiven der zeichengebenden Subjekte transzendiert. Freilich, als normativer Hintergrund oder Horizont für jeweils erhobene Geltungsansprüche spielt der dritthafte Status der Sprache auch bei Habermas eine Rolle. Aber wenn dieser Hintergrund lediglich kognitiv im Sinne einer Akzeptanzbedingung interpretiert wird, dann hängt die Bedeutung des einzelnen Ausdrucks doch wieder an einem subjektiven Wissen in bezug auf einen objektiven Sachverhalt, nicht aber an der bedeutungsstiftenden Kraft des Ausdrucks selbst. Das diskursive Ringen um gemeinsame Bedeutung und Verständigung tendiert als Reflexionsprozeß sozusagen dazu, aus seinem Hintergrund herauszuwachsen und sich zunehmend zu verselbständigen, ohne daß dieser Hintergrund selbst thematisch werden könnte. Der Geltungshintergrund ist lediglich eine kognitive Voraussetzung, nicht aber Inhalt des jeweiligen sprachlichen Ausdrucks. Anders gesagt, Habermas vermag nur der Hintergrundfunktion der Sprache eine dritthafte Struktur zuzuweisen, nicht aber ihrer Funktion als Äußerung. Das aber bedeutet, daß er nicht erklären kann, wie die Verständigung durch „die" Sprache in Form eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks konstituiert wird; an die Stelle der Sprache im Sinne einer bestimmten, partikularen Äußerung setzt er ein prozedurales Vernunftverständnis, das aber als solches auch ohne die bestimmte sprachliche Äußerung, also ohne eine leibhaftige Form gedacht werden könnte119. 118 119

Bedeutungstheorie, 131. Die „Versprachlichung des Heiligen" muß daher nicht unbedingt ein Gewinn an Sprache, sprachlicher Bedeutung und sprachlich konstituierter Verständigung be-

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Kierkegaard beschreibt dagegen den Vorgang, in dem eine bestimmte sprachliche Äußerung ein bestimmtes Drittes zwischen zwei Akteuren wird. Sie wird dies aufgrund ihrer bestimmten expressiven Form, in der sie sich als „Liebe" äußert und damit ein vorgängiges Drittes zur Darstellung bringt. Auch in diesem Modell, zumindest in der von mir rekonstruierten Form, gibt es formalistische Elemente, etwa die Aussage über die Realität der fremden Liebe als allgemeine Fähigkeit, in Liebe handeln zu können. Aber dennoch ist es stets die bestimmte, partikulare, leibhaftige Äußerung „des Liebenden", in der sich „die Liebe" versöhnend realisiert; und stets ist es das Liebenkönnen in einer bestimmten Liebesbeziehung und in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Handlungspartner. Was Kierkegaard damit als expressive Wirklichkeit der Liebe beschreibt, ist bedeutungstheoretisch gesehen die Wirklichkeitserschließende Leistung der Sprache überhaupt, und hier liegt der wesentliche Unterschied zu einer repräsentativen und auf Wahrheits- oder Akzeptanzbedingungen verweisende Sprachauffassung. C. Taylor hat diese Leistung der Sprache als „das Hineinstellen der Dinge in den öffentlichen Raum und auf diese Weise die Konstitution eines solchen öffentlichen Raumes" beschrieben120. Taylor zufolge ist es eine fundamentale Leistung der Sprache und des einzelnen sprachlichen Ausdrucks, solch einen öffentlichen Raum zu eröffnen. Diese dritthafte Leistung kommt dabei gerade der Äußerungsfunktion der Sprache zu: kraft seiner expressiven Struktur stellt der einzelne sprachliche Ausdruck etwas so vor beide Akteure, daß es nun für beide ist121. Sprache ist dann nicht nur die Weise, in

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deuten, vgl. J. Habermas, Kommunikatives Handeln Bd. 2,118f£ In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, daß bei Kierkegaard Formen von „heiligen", ursprünglich ritualgebundenen Sprachhandlungen sehr wichtig sind: Akte der Vergebung und der Versöhnung, die heilige Scham. C. Taylor, aaO.74. AaO. 78: „Meine Einstellung zum Thema, zu Dir, dies sind Dinge, die ich in der Weise enthülle, in der ein Ausdruck etwas enthüllt. Ich mache sie im öffentlichen Raum sichtbar, und indem ich dies tue, erzeuge ich diese Art von öffentlichem Raum für uns [...] Der öffentliche Raum jedoch wird durch ein Zum-AusdruckBringen konstituiert, und daher müssen alle auf ihn bezogenen Enthüllungen expressiv sein." Die These vom öffentlichen Raum ist Teil einer Argumentation, mit der Taylor die Priorität der expressiven gegenüber der designativen Sprachfunktion aufzeigen will. Der Vorgang, in dem ein Ausdruck für zwei Sprecher eine identische Bedeutung annimmt, läßt sich Taylor zufolge analytisch nicht auf den Austausch je individueller Aussagen und deren Wahrheitsbedingungen reduzieren; zumindest in normativen Kontexten sind diese Sprechakte vielmehr nur möglich durch die Bedeutung, die ein sprachlicher Ausdruck von sich aus für zwei Handelnde stiftet. Die Einsicht in die wesentlich expressive Form der Sprache hängt in Tay-

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der sich Subjekte auf eine Wirklichkeit beschreibend beziehen, sondern sie ist diejenige Form, in der sich diese Wirklichkeit allererst konstituiert, indem sie als etwas Vorauszusetzendes in Anspruch genommen wird. Auf diese Weise wird es möglich, ein Drittes zwischen den Handelnden zu denken, und zwar als ein Drittes in der leiblichen Form eines bestimmten expressiven Ausdrucks 122 . Kierkegaards Auffassung der Versöhnung in TL scheint mir ein Beispiel für diese expressive Bedeutungstheorie zu sein. Er selbst entwickelt keine Theorie der Bedeutung, sondern er beschreibt die wirksame Realität der Liebe als die schöpferische Verwirklichung von Versöhnung, die im wesentlichen auf dem sprachlich-expressiven Charakter der Liebe beruht. Das Wesen der religiösen Sprache und ihre kommunikative Bindungskraft wendet er auf das personale Verhältnis zweier Handelnder an und stellt damit das Verständnis von Handlung und Sprache in eine religionsphilosophische Dimension.

Nachklang: Zum expressiven Handlungsmodell

in Kierkegaards Werk

Nachdem ich im Vorstehenden versucht habe, den Handlungsbegriff von TL durch den Begriff des expressiven Handelns zu rekonsturieren, sind einige Hinweise auf die Verwendung dieser Vorstellung auch in anderen Texten Kierkegaards nötig. Allerdings kann es sich im folgenden nur um einige wenige und lediglich angedeutete Verweise handeln. Das Verständnis subjektiven Handelns durch den Begriff des Expressiven findet sich auch in den Pseudonymen Schriften häufig (vgl. bes. BA, 108; AUN1, 159f., II, 42-45, 99, 112). Mit wenigen und nur

122

lors Schriften aufs engste mit seiner wissenschaftstheoretischen Kritik des „externen Beobachters" oder „disengaged reason" zusammen, vgl. ebd. 98f£ Wenn dies die Aufgabe ist, nämlich ein versöhnendes Drittes zwischen zwei Akteuren zu denken, dann scheint mir eine häufig von Kierkegaard-Interpreten vorgebrachte Kritik an Habermas zu kurz zu greifen: So geht etwa C.S. Evans' Kritik an Habermas (Authority; 28f.) nicht nur an Habermas, sondern auch an Kierkegaard vorbei, wenn er Habermas vorwirft, die Teilnahme am Diskurs verlange es, die eigenen Überzeugungen vorher aufzugeben. Von TL aus zeigt sich, daß es bei der Liebe gerade nicht um bloß individuelle Standpunkte und Wertungen geht; vielmehr liegt die Pointe darin, daß Habermas nicht erklären kann, wie ein sprachlicher Ausdruck durch sich selbst und zwischen zwei Akteuren Bedeutung gewinnt und damit Versöhnung stiftet.

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sehr groben Einordnungen will ich diesen Sprachgebrauch skizzieren. Der Begriff „Ausdruck" und verwandte Termini werden in den angegebenen Stellen innerhalb der Existenzdialektik verhandelt. Der Grundgedanke dabei läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Existenz als ganze ist der Ausdruck eines absoluten Verhältnisses zu dem Ewigen in der Zeit, und dieser Ausdruck hat zugleich die kommunikative Bedeutung, eine Mitteilung dieses spannungsvollen Verhältnisses zu sein (s. AUN2, 84); Handeln bedeutet, „in" einer absoluten Existenzmitteilung zu existieren, so daß vom absolute Telos her die Existenz des Subjekts „umgebildet" wird (AUN2, 42ff.). Religiöses Handeln ist also erstens ein vom Telos her Umgewandelt· Werden, und deshalb auch ein „Pathos", und zweitens (und zugleich) ein Zum-Ausdruck-Bringen dieses teleologischen Verhältnisses, und deshalb ein subjektives Handeln. Dieses Verständnis eines Ausdruckshandelns ist jedoch aus folgenden Gründen problematisch: Erstens kann im Rahmen einer subjektiven Bewußtseinsphilosophie das Verhältnis von Passivität und Aktivität nicht geklärt werden: Ist das Ausdruckshandeln nun eine dem Subjekt zuzuschreibende Wirklichkeit, oder drückt sich darin das absolute Telos selbst aus? Und zweitens führt das bewußtseinsphilosophische Paradigma zu einem Verständnis des äußerlichen Zum-Ausdruck-Bringens, in dem das Subjekt prinzipiell von der Äußerung unterschieden und distanziert wird. Die Äußerung wird als Zweites dem Verhältnis zum Telos prinzipiell nachgeordnet. Dies bedeutet aber, daß das Subjekt ein instrumentelles Verhältnis zum Handeln hat, wie es exemplarisch in Pap. IV A 156 beschrieben wird: Die Kategorie der Wiederholung wird u.a. als das Nacheinander von Handlungsabsicht und Verwirklichung verstanden, nicht aber als ein Zugleich von Ausdruck und Ausgedrücktem, Zeichen und Bezeichnetem. Dieser Wiederholungsbegriff, der zugleich das soteriologische Verhältnis von Sünde und Erlösung beschreiben soll, scheint ein anderer zu sein als der expressivistische Begriff der Selbstverdoppelung, der für TL so wesentlich ist. Denn wenn nun für die religiöse Existenz das Leiden in Form des Schuld- und Sündenbewußtseins „der entscheidende Ausdruck des existenziellen Pathos" (vgl. AUN2, 235ff.) wird, so ist dies gerade kein äußerer, kommunikativer Ausdruck mehr (vgl. o. Kap. 3,1.) Diese Nachordnung des expressiven Handelns gegenüber dem innerlichen Verhältnis führt schließlich drittens zu der Negation des äußerlichen Handelns: das absolute Verhältnis findet keinen entspre-

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chenden Ausdruck („Kommensurabilität") im Äußeren, vgl. AUN2, 193,201 !23. Diese Negativität kann als Kritik des romantischen Ausdrucksideals der Selbstverwirklichung gelesen werden: als Aufweis, daß das Streben nach authentischem Selbstausdruck nicht einfach gelingt, sondern nur in einer paradoxen Dialektik des Religiösen gedacht und realisiert werden kann124. Was in dieser Kritik destruiert wird, ist der Begriff der „immanenten Teleologie". In Entweder/Oder wird mit diesem ästhetischen Ideal die Lebensbewegung benannt, in der das Individuum sich in seine konkreten Bestimmungen hinausbegibt und darin seine ethische und ästhetische Bestimmung findet: „So wird denn seine Bewegung von sich selbst fort durch die Welt zu sich selbst hin gehen. Hier ist Bewegung, und zwar eine wirkliche Bewegung; denn diese Bewegung ist der Freiheit Tat, aber zugleich immanente Teleologie, und erst hier kann darum von Schönheit die Rede sein" (s. E02, 293). Climacus' paradox-christliche Destruktion dieses Ausdrucksideals wird schließlich vom Pseudonym H.H. auf den Begriff gebracht in der Kritik des Geniebegriffs: Das Genie ist nunmehr der höchste, aber auch der sozusagen letzte Vertreter jenes Ideals einer immanenten Teleologie. Das Genie stellt die reinste Form jenes Handlungstypus dar, der in der Selbstverwirklichung der eigenen natürlichen Anlagen besteht: „Ein Genie lebt in sich selbst; und es ver-

123

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Die religiöse Kritik am Ausdrucksparadigma markiert exakt die Grenze zwischen der Religiosität A und Religiosität B: Am Paradox des geschichtlich erscheinenden Ewigen enden alle Versuche der Subjektivität, das Ewige als Existenzinnerlichkeit in indirekt-negativen Formen zum Ausdruck zu bringen. Die paradoxe Religiosität selbst ist demnach nicht mehr durch Ausdruck bestimmt, wohl aber durch ein Gegenstandsverhältnis (Intentionalität): „Im Paradox-Religiösen ist das Ewige an einer bestimmten Stelle, und das ist gerade der Bruch mit der Immanenz" (AUN2, 283). Wenn nun aber die Nachschrift derart anthropologische Expressivität und theologische Positivität (das Ewige als bestimmte geschichtliche Erscheinung) voneinander absetzt, so kann man in TL eine neue Verhältnisbestimmung erkennen: Die ewige Liebe ist das positive Dritte im Handlungsverhältnis, dies aber stets in der expressiven Form von Äußerungen und Zeichen. Der (jeweilige) Ausdruck selbst wird nun zum positiven Dritten, dies jedoch deshalb, weil er theologisch gemeint ist, nicht mehr anthropologisch: Es geht nicht um den Ausdruck der menschlichen Subjektivität, sondern um die Äußerung der göttlichen, schöpferischen Liebe. Zu der Vorstellung der expressiven Selbstverwirklichung im Sturm und Drang und der Deutschen Romantik vgl. C. Taylor, Hegel, 28-59. Kierkegaards Kritik an Goethe und der Romantik und dem mit dem Geniebegriff verbundene expressiven Ideal beschreibt W. Anz, Philosophie, 191f£ Kierkegaards Kritik am romantischen Ausdrucksideal in seiner unmittelbaren Form findet sich auch in TL, so z.B. in der Gegenüberstellung von „Handlung" und „Ausdruck", s. 208/182.

III. D i e kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

415

mag humoristisch in einer zurückgezogenen Selbstzufriedenheit zu leben, ohne darum seine Begabung eitel zu nehmen, wenn es nur ohne Rücksicht darauf, ob es andern Gewinn bringt oder nicht - sich selber mit Ernst und Fleiß entfaltet, indem es einem eigenen Genius folgt" (ZKA, 133). Neben diesem kritischen existenzdialektischen Begriff eines Existenzausdrucks findet sich bei den Pseudonymen aber noch eine andere Denkform, in der Expressivität als Kategorie positiver aufgefaßt wird. Es ist dies die psychologische Methode, mit der insbesondere Vigilius Haufniensis und Anti-Climacus alltägliche Verhaltensformen als Phänomene von Angst und Verzweiflung identifizieren. Hier erscheint die grundsätzliche Ausdrucksfähigkeit des Verhaltens als Voraussetzung einer phänomenologischen Methode. Und unter dieser Voraussetzung wird es dann möglich, auch und gerade die Verschlossenheit als sichtbaren Ausdruck eines ethischen Verhältnisses zu verstehen, nämlich der Angst vor dem Guten. Die Verschlossenheit ist darin expressiv, daß der Beobachter der Physiognomie und dem Schweigen des Verschlossenen die Angst abgelesen kann; darüberhinaus aber drängt die Verschlossenheit selbst dazu, sich unfreiwillig zu offenbaren: „Das geringste Anrühren, ein Blick im Vorbeigehen usf. reicht dazu hin, daß jene entsetzliche, oder - im Verhältnis zum Inhalt der Verschlossenheit - jene komische Bauchrednerei ihren Anfang nimmt. Die Bauchrednerei selber kann geradenwegs kundmachend sein oder auch mittelbar, so wie wenn ein Irrer seinen Irrsinn verrät, indem er auf einen andern Menschen zeigt und erklärt: ,er ist mir höchst ungemütlich, er ist ganz gewiß irre'. Das Offenbarwerden kann geschehen in Worten, wo denn der Unglückliche damit endigt, jederman sein versteckte Heimlichkeit aufzudringen. Es kann geschehen in Mienen, in Blicken; denn es gibt ein Blinken des Auges, mit dem der Mensch unfreiwillig offenbart, was er verbirgt [...]" {BA, 133)125. So kann Vigilius dann auch gerade im Zusammenhang mit der dämonischen Verschlossenheit eine Sprachauffassung formulieren, der den expressiven Charakter der Sprache geradezu klassisch hervorhebt: „Das Verschlossene ist eben das Stumme; die Sprache, das Wort ist eben das Befreiende, das von der leeren Abstraktion der Verschlossenheit Befreiende" {BA, 128). Die Sprache ist hier kein bloßes Referenzinstrument, sondern das Vehikel oder die Form, in der sich das Freiheitsbewußtsein unvertretbar zur Darstellung bringt. 125

Eine ausführliche - subjektivitätstheoretische - Erörterung dieses phänomenologischen Ansatzes findet sich bei A. Gr0n, Subjektivitet, 35ff., 137ff.

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3. Kapitel: Das Können

Der Fall der Verschlossenheit zeigt, wie ein bestimmtes Verhältnis, nämlich die Angst vor dem Guten, sich selbst im Äußeren zum Ausdruck bringt. Das Problem der Existenzdialektik, wie sich der subjektiv-aktive und der pathetisch-passive Anteil an solchem Offenbaren verhalten, fällt hier weg. Der Grund dafür ist ein methodischer: Die Fragestellung bei Vigilius ist eine phänomenologische, er ist Beobachter von psychischen Zuständen, die sich zur Darstellung bringen; der existenzdialektische Ausdrucksbegriff dagegen ist von vornherein ethisch gedacht, d.h. er enthält eine Aufforderung zum (als aporetisch bewußtem) expressiven Darstellen, und der Text entwickelt nun das Scheitern der Ethik vor dieser Aufforderung. Gemeinsam ist beiden Ansätzen ihre Negativität, die jedoch für die Frage des Expressiven unterschiedliche Konsequenzen hat: Geht es bei dem einen um negative Phänomene (Angst und Verzweiflung), die sich sozusagen ,erfolgreich' zur Darstellung bringen, so geht es in der Existenzdialektik um das Scheitern einer immanenten, auf Selbstverwirklichung zielenden Ethik, das zugleich als Scheitern der ethischen Expressivität geschildert wird. Man kann also die zwei verschiedenen Bewertungen der Expressivität zwei verschiedenen methodischen Ansätzen im Werk Kierkegaards zuordnen: Die Existenzdialektik beschreibt im ethischen Stadium die Existenz als Subjektivität im Werden; hier wird die Expressivität problematisch und wird zugleich im Horizont einer Reflexionsphilosophie eingezeichnet, die das expressive Handeln dem subjekiven Bewußtsein oder Wollen grundsätzlich nachordnet. Auf der anderen Seite findet sich die phänomenologische Beschreibung von psychischen Zuständen, in denen diese als Subjekt ihrer Erscheinungen und Äußerungen in den Blick kommen: „die" Angst, „die" Verzweiflung und eben auch „die" Liebe126. Von der Vorgehensweise der Existenzdialektik unterscheiden sich diese dritthaften Phänomene in zweifacher Hinsicht: Hier handelt es sich erstens um abgeschlossene Gestalten, und deshalb sind sie überhaupt als Phänomene beschreibbar. Zweitens aber sind es Phänomene, die nicht mehr als individuelle Bewußtseinsform beschrieben werden können; vielmehr sind es intentionale Beziehungen eines Subjekts und zugleich damit Praxisformen dieser Beziehungen. Die Verzweiflung ist nicht ein blo-

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Dies hebt auch A. Gr0n als Merkmal der (Bewußtseins-) Phänomene hervor, s. aaO. 138; vgl. auch Gr0ns summarische Bemerkung zum Begriff Angst „Was Kierkegaard interessiert, ist nicht die Angst als ein Zustand für sich, sondern das, was die Angst zeigt - über das Menschsein" (Begrebet Angst, 14, eigene Übersetzung).

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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ßer Bewußtseinszustand, sondern ist immer schon eine in bestimmter Weise realisierte Beziehung zu einem Gegenstand oder Handlungspartner. Angst und Verzweiflung sind nicht ein bloßes Wollen, sondern ein Wollen in Beziehung auf bestimmte Ziele und Partner. Es gibt hier keinen methodischen Schritt aus dieser unhintergehbaren Konkretion und Relationalität hinaus. Eben diesen Schritt aber geht die Existenzdialektik; denn sie, so kann man vielleicht sagen, versucht, gerade den Weg vom einen Zustand zum anderen zu beschreiben, nämlich den Weg von der Angst und Verzweiflung der Sünde zum liebenden Glauben. Sie verbindet dies mit einer Kritik der romantischen Selbstverwirklichungsidee127. Die Reden aus TL orientieren sich m.E. methodisch eindeutig am phänomenologischen Ansatz. Aus diesem Grund gelingt es Kierkegaard hier, den expressiv-leiblichen Aspekt für das Handeln der Liebe in einer fundamentalen Weise zu berücksichtigen. Neben der Angst und der Verzweiflung ist die Liebe das dritte zentrale Phänomen im Werk Kierkegaards überhaupt. Mit den anderen beiden teilt die Liebe ihre phänomenale oder expressive Struktur, unterscheidet sich aber von ihnen u.a. darin, daß sie kein negatives Phänomen ist. Der hier behauptete Gegensatz von phänomenologischer und existenzdialektisch-reflexiver Fragestellung darf allerdings nicht als absoluter Gegensatz verstanden werden. Im Schlußkapitel werden wir sehen, daß Kierkegaard in TL auch eine Verbindung von phänomenologischer und reflexiver Perspektive versucht.

127

Abgesehen von dieser Differenz in der Bewertung ist die Verbindung von Ausdrucksterminologie und Begriffen des Handelns im gesamten Werk Kierkegaards überaus stark vertreten. Angesichts der Unzahl von Belegen für diesen expressivistischen Sprachgebrauch kann ich hier nur ausschnitthaft und ohne weitere Differenzierungen an einige Formeln erinnern: das Allgemeine im Einzelnen ausdrükken {FZ, 58), der ethische Ausdruck {Pap. IV A 62), der Ausdruck durch das Leben {Pap. VII A 244), Existenzausdruck als Reduplikation {Pap. IX 1 A 207), das Gelernte in Handlung ausdrücken {Pap. VIII 1 A 554), das Gesagte handelnd ausdrücken {EC, 226), die Wahrheit ausdrücken {EC, 172), das Erhabene im Gehen ausdrücken {FZ, 41). Es liegt hier nicht immer der in diesem Kapitel herausgearbeitete Sinn des Expressiven vor, doch ist klar, daß die Terminologie der Ausdrucksanthropologie auf jeden Fall von fundamentaler Bedeutung für die Interpretation des Ethischen und des Christlichen in Kierkegaards Texten ist. Es ist auch deutlich, daß Kierkegaard trotz der Abgrenzung vom romantischen Ausdrucksideal in der Kritik der ästhetischen Lebensform sehr stark in dieser Tradition verwurzelt ist; dies zeigt sich z.B. in der Äußerung des Climacus, „daß in Griechenland der Denker kein verkrüppelter Existierender war, sondern daß er selber ein existierendes Kunstwerk war" {AUN2, 31). Vgl. ferner o. Anm. 15.

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3. Kapitel: Das Können

Abschließend möchte ich daran erinnern, daß auch für Kierkegaards politische Vorstellungen die Vorstellung des Expressiven sehr wichtig sind. Es ist der Begriff der „Repräsentation", mit dem in der Literarischen Anzeige das bisher gültige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beschrieben wird: „Das Altertum ist dialektisch in Richtung auf das Hervorragende (der einzelne Große - und dann die Menge, ein eiziger Freier - und dann Knechte); das Christentum ist bis auf weiteres dialektisch in Richtung auf Vertretung [Repräsentation] (die Vielzahl schaut sich selber an in dem, der sie vertritt, wird vermöge des Bewußtseins, daß sie es sind, die er vertritt, freigemacht in einer Art Selbstbewußtsein)" {LA, 90). Das Prinzip der Repräsentation ist das Bild einer hierarchisch gegliederten Gesellschaftsordnung, in der sich das Ganze aller Glieder der Gesellschaft in einzelnen herausgehobenen Individuen bzw. Rollen verkörpert und selbst anschaut128. In diesen bringt sich, so kann man sagen, die Gesellschaft (oder der objektive Geist, in Hegelscher Terminologie) selbst expressiv zum Ausdruck und erlangt damit zugleich ein Selbstbewußtsein. „Das Individualitätsprinzip in seiner unmittelbaren und schönen Gestalt bildet die Generation vor in dem Ausgezeichneten, dem Hervorragenden und läßt die untergeordneten Individualitäten sich als Gruppe um den Vertreter [Repräsentanten] schließen" {LA, 95): Freilich diagnostiziert Kierkegaard zugleich den historischen Verfall dieser Gesellschaftsform und die Weiterentwicklung zu einem neuen Individualismus, in dem das Ganze keine Ausdrucksformen mehr findet: „Die neue Entwicklung unserer Zeit kann nicht eine politische werden, denn das Politische ist dialektisch im Verhältnis von menschlichem Geschlecht und Einzelnem, sofern es den Einzelnen bloß repräsentiert,; aber zu unserer Zeit ist bereits jeder Einzelne auf dem Wege, zu sehr reflektiert zu sein, um sich damit begnügen zu können, bloß repräsentiert zu sein" {Pap. VII 1A 17/72, 30). Dennoch ist mit dem Verlust des Repräsentationsprinzips nicht das Prinzip der Expressivität verloren, es ist lediglich individualisiert. „Daß die Zeit der Repräsentationen vorbei ist bedeutet, daß die Individuen ihre je eige128

Man hat diese organische Gesellschaftsauffassung als „Biirkean conservatism" bezeichnet (A. Rudd, Limits, 125). Insbesondere im Begriff des Repräsentativen zeigt sich aber auch ein starker Einfluß der Hegeischen Staatsauffassung, die gerade nicht mit Burkes Konservatismus gleichgesezt werden kann, vgl. C. Taylor, Hegel, 522f. Der in der Literarischen Anzeige verwendete Begriff des Repräsentativen ist im übrigen nicht mit dem bedeutungstheoretischen Repräsentationsbegriff zu verwechseln, der im vorangegangenen Abschnitt gebraucht wurde.

III. Die kommunikative Gestaltung des Liebenkönnens

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ne Bedeutung haben"129. In TL wird diese Veränderung m.E. in Hinblick auf den Handlungsbegriff reflektiert: Wenn nun die alte Form der politischen Expressivität, also die repräsentativ-organische Gesellschaft, untergeht, so wird sie abgelöst durch eine neue, individualisierte Form gemeinschaftlichen Handelns: durch die individuellen intersubjektiven Verhältnisse, also durch die institutionellen wie auch gerade die nicht-institutionellen Handlungsräume, in denen ein Individuum sich vorfindet und deren Bedeutung er ausdrückt und gestaltet. Die Liebe ist nun diejenige Wirklichkeit, die die Handelnden untereinander verbindet, und zwar auf expressive Weise130.

129 130

K. Norderntoft, Brand-Majoren, 31. Es ist interessant zu sehen, wie die Begriffe „Repräsentation" und „Reflexion" in vielfältigen Variationen und Anwendungen in der Literarischen Anzeige verwendet werden: So steht „Reflexion" u.a. für das ästhetisch-literarische Prinzip, „den Widerschein des Zeitalters im häuslichen Leben aufzufangen und durch ihn das Zeitalter zu beleuchten"; dies gelingt aber nicht durch ein ungebrochenes Durchscheinen des historisch Allgemeinen in den individuellen Figuren, sondern durch „Vermittlung einer psychologischen Zwischenbestimmung der Individualität" (LA, 42). Dieses Vorgehen entspricht Hegels Prinzip, daß der objektive Geist sich allein in den vollendeten Formen des Subjektiven zum Ausdruck bringen kann. Das Verhältnis von geschichtlicher Objektivität und subjektiver Individualität wird von Kierkegaard in den ersten beiden, ästhetischen Teilen des Buches durchgehend als „Reflexion [Reflex]" bezeichnet, während der dritte, ethische Teil „Reflexion [Reflexion]" als mentale Aktivität, also als subjektive Reflexion versteht und gegen diesen polemisiert; es ist klar, daß nur der erste dieser beiden Bedeutungen dem Begriff des Expressiven entspricht. Ein weiteres Beispiel für die Weise, wie Kierkegaard in diesem Text mit expressiven Vorstellungen arbeitet und spielt, ist der mehrfache Gebrauch von „Repräsentativ" zur Bezeichnung von Papiergeld {LA, 79; Hirsch übersetzt mit „Stellvertretung"), das als Beispiel für die gesellschaftliche Abstraktion dient.

IV. Liebenkönnen: Handeln als Hermeneutik der Lebensbeziehungen Zu Beginn dieses Kapitels hatte ich den Begriff des Liebenkönnens als zentrale Kategorie für TL2 behauptet und die Erwartung geäußert, daß diese Kategorie ebenso wie das Liebensollen im ersten Teil in drei Hinsichten verhandelt wird. Die zurückliegenden Analysen haben versucht darzustellen, wie das Liebenkönnen in den Reden IIIV auf der Ebene des Handlungssubjekts, in den Reden V-VIII aber auf der Ebene der Interaktion beschrieben wird. Was jetzt noch fehlt, ist die Beschreibung des Liebenkönnens in seiner Struktur als Können. Wenn die Liebe grundsätzlich als wirksames Aufbauen von Lebensmöglichkeiten verstanden werden soll (2,1), so muß auch die prinzipielle Fähigkeit zu dieser Wirksamkeit aufgewiesen werden. Genau diese Wirksamkeit hatten die Reden II-VIII in konkreten subjektiven und intersubjektiven Erscheinungsformen aufbauender Liebe zu erweisen versucht. Doch was sie noch nicht geleistet haben, ist eine Analyse des schöpferischen Könnens selbst, im Unterschied zum Werk- und Wirksamkeitscharakter1. Die subjektiven und intersubjektiven Handlungsphänomene haben das Liebenkönnen beschrieben, aber noch nicht das Lieben-Können. Dieses Können ist bei allen Formen aufbauender Liebe immer schon in Anspruch genommen, aber bisher noch nicht als solches in den Blick genommen. Solches Vermögen hat zunächst den phänomenologischen Status eines letzten, nicht mehr auflösbaren Elementes der beschriebenen Phänomene. Damit verbindet sich der ontologische Status einer unhintergehbaren realen Voraussetzung, einer nicht mehr ableitbaren Faktizität des schöpferischen Handelns. Es ist die Freiheit zum Lieben im Sinne eines bestimmten Handelnkönnens. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es sich hierbei notwendigerweise um eine transzendentale Bedingung handelt. Das Charakteristische der Methode Kierkegaards in TL ist es vielmehr, auch diese unhintergehbare Voraussetzung phäno-

1

Vgl. o. Kap. 3,1. Die Rede VII hatte das Element der Kreativität bereits herausgestellt, doch noch nicht als reines Können, sondern in Hinsicht auf die Wirksamkeit: als bestimmtes Lieben-Können, d.h. als Versöhnen-Können.

IV. Liebenkönnen: Handeln als Hermeneutik der Lebensbeziehungen

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menologisch zu erschließen, d.h. der Aufweis ist an ein leibliches Phänomen handelnder Liebe gebunden, und zwar an ein ganz bestimmtes Phänomen. Dieses Phänomen ist das liebende Gedenken an einen Verstorbenen, das in der Rede IX dargestellt wird. Die handlungstheoretische Interpretation dieser Rede muß sich zwei Fragen stellen: Inwieweit kann solches Gedenken überhaupt als eine Handlung gelten, die der Liebe zuzuschreiben ist und damit etwas über das Liebenkönnen aussagen kann? Und was sagt diese spezifische Handlung über das schöpferische Können des Liebens aus?

1. Trauern als Grenzphänomen der Liebe Zunächst also: Warum und mit welchem Recht kann das Totengedenken überhaupt ein Werk der Liebe genannt werden? Diese Frage ist in kritischer Absicht an die Rede 2, IX gestellt worden, und die Darstellung des Liebesverhältnisses als eines Verhältnisses zu einem Toten hat man als verräterischen Hinweis auf die Unmenschlichkeit und Lieblosigkeit des gesamten Liebeskonzepts Kierkegaards gewertet 2 . Die Kritik stößt sich dabei v.a. an der Behauptung, daß im Totengedenken die Liebesbeziehung jede Gegenseitigkeit verloren hätte und gerade diese Einseitigkeit dessen, der auch den Toten noch liebt, die besondere Qualität der Liebe ausmache. Kierkegaard behauptet, daß das Totengedenken im höchsten Maße „uneigennützig" ist ohne Wiedervergeltung (382ff./332ff.), „frei" ohne Nötigung (385ff./335ff.) und „treu" ohne Veränderung (388ff./338ff.). Doch gerade diese heroische Einseitigkeit scheint es unmöglich zu machen, solches Gedenken als menschliche Liebe zu verstehen: „die Liebe zu den Toten ist die, welche den lebendigen Wiederliebenden, eigentlich Subjektivität überhaupt am vollkommensten ausschließt."3

2

3

Vgl. Th. Adorno, Kierkegaards Lehre·, M. Bongartz, Widerstand, 315; B. Müller, Nächstenliebe, 144ff. K.E. L0gstrup überträgt faktisch, ohne dies explizit auszusprechen, den spezifischen Relationsbegriff der Rede über das Totengedenken auf das gesamte Buch, um damit die angebliche Abstraktheit und Verobjektivierung des Anderen im Begriff der Nächstenliebe zu belegen, s. Kontroverse, 85ff. Eine Verteidigung Kierkegaards gegen diese Kritik unternimmt R S0ltoft, Presence. Th. Adorno, aaO. 233. Für Adorno ist damit die Objektlosigkeit der Kierkegaardschen Liebe in diesem Text zu ihrem stärksten Ausdruck gekommen: Diese Liebe verliert in ihrer subjektiven Innerlichkeit ihren Gegenstand, und der Ausdruck dafür ist eben der Tod.

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3. Kapitel: Das Können

Daß diese Kritik einige wichtige Aspekte des Textes übersieht, zeigt sich, wenn man auf den besonderen Charakter dieser Rede und ihres Gegenstandes achtet. Es scheint mir, daß Kierkegaard das Totengedenken als ein Grenzphänomen der handelnden Liebe einführt und beschreibt. Mit diesem Begriff versuche ich, verschiedene Elemente der Methode dieser Rede zusammenzufassen, wie sie in den einleitenden Absätzen dargestellt werden: a) Zunächst hat das Totengedenken den Charakter eines in bestimmter Hinsicht erschließenden Phänomens, und zwar kraft des allgemeinen Zeichencharakters des Todes: „Ja, gehe einmal wieder hinaus zu den Toten, um dort das Leben * ins Visier zu nehmen [at tage Sigte paa Livet]: genauso verhält sich ja der Schütze, er sucht einen Platz, wo der Feind ihn nicht treffen kann, von wo er aber den Feind treffen kann, und wo er vollkommene Ruhe zum Zielen haben kann" (378f./329). Durch seine absolute Gleichheit und Unparteilichkeit gibt der Tod ein vollkommenes Bild des Lebens, er ist „der kürzeste Inbegriff des Lebens, oder ist das Leben, auf dessen kürzeste Gestalt zurückgeführt" (378/329). Und ebenso ist nun auch das Liebesverhältnis zu einem Toten ein Bild der lebendigen Liebe, die „kürzeste Gestalt" des Liebesverhältnisses zwischen Lebendigen. Das liebende Verhältnis eines Subjekts zu einem Verstorbenen sagt in besonderer Weise etwas darüber aus, wie dieses Subjekt seine Liebe zu Lebenden gestaltet: „hier wird der Lebende offenbar, hier muß er sich ganz so zeigen, wie er ist" (381/331). Das Verhältnis zum Tod ist von einer ausgezeichneten phänomenologischen Qualität. b) Solche besondere Aussagekraft macht das Totengedenken zu einem „Maßstab" (392/341) und einer „Probe" (380/330), an der alle anderen Formen von Liebe gemessen werden können. Damit steht dieses besondere Phänomen über allen anderen Liebesphänomenen und -formen. Kierkegaard denkt diesen Maßstabsstatus ethisch, nämlich in Hinblick auf die Beobachtung und Selbstprüfung des Handelnden; er denkt ihn aber nicht ontologisch. Denn dieses besondere, herausgehobene Liebesphänomen muß doch, wenn es als Phänomen im Sinne der expressiven Ontologie verstanden werden soll, im selben Sinne wie alle anderen Erscheinungen ein Ausdruck der Liebe sein und ebenso wie diese von der sich ausdrückenden Liebe her gedacht werden; d.h. ontologisch ist ein Standpunkt außerhalb der expressiven Wirklichkeit der Liebe, etwa in Form einer formalisierten Anwendungsregel, nicht möglich. Das Totengedenken ist also einerseits eine Liebesform wie alle anderen auch und ist doch andererseits, nämlich aufgrund seines besonderen Charakters als Bild und

IV. Liebenkönnen: Handeln als Hermeneutik der Lebensbeziehungen

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„Gestalt", die Probe auf alle anderen Formen. Doch zur Probe wird es nur, wenn man es auch als Probe gebraucht. Dies aber kann nicht der Text tun, sondern dies ist die Aufgabe des Lesers. c) Diese eigentümlich doppeldeutige Stellung des Totengedenkens wird noch deutlicher, wenn man sich klar macht, daß es sich bei diesem erschließenden Phänomen tatsächlich um eine Äußerung der Liebe, d.h. um eine leibliche Handlung handelt: „Sollen wir die Menschen lieben, welche wir sehen, dann auch die, welche wir gesehen haben, aber nicht mehr sehen, weil der Tod sie weggenommen hat [...] ,Man soll nicht zu sehr weinen über den Toten; denn er ist zur Ruhe gekommen', sagt Sirach (22,12); und ich weiß das wahre Gedenken nicht besser zu bezeichnen als durch dieses stille Weinen, das nicht im Augenblick aufschluchzt - und alsbald aufhört. Nein, man soll des Verstorbenen gedenken, stille weinen, aber lange weinen" (381/331f.). Das Totengedenken ist nicht ein bloß mentaler Vorgang, nicht ein bloßes Denken; sondern es meint eine leibliche Handlung, insofern damit das Trauern über einen Verstorbenen gemeint ist. Das Weinen selbst ist bereits ein unmittelbares, gewissermaßen vormoralisches leibgebundenes Handeln, das aber durch den Pflichtcharakter Kontinuität und damit zugleich seine spezifische, der Liebe entsprechende leibliche Form erhält: „stille weinen" 4 . Auf der anderen Seite sind Weinen und Trauern affektive Verhaltensformen, die herkömmlicherweise gerade nicht dem Begriff des intentionalen Handelns subsumiert werden; wenn Kierkegaard das Trauern durch die Forderung als subjektiv verantwortetes Verhalten, also als Handeln bestimmt, so verbindet er den Handlungsbegriff erneut mit jenen Attributen, denen wir schon so oft begegnet sind: leibliche Affektivität als Zeichen für die vorgängige Bezogenheit dieses Handelns auf einen Handlungspartner. Das Trauern ist eine Handlung innerhalb der Geschichte einer Beziehung. 4

Eine ähnlich enge Beziehung zwischen Trauern und Lieben findet sich in 7,11 A. (49f./47£): das Gebot der Liebe wird parallelisiert mit dem Gebot zur Trauer. Das Identische in beiden gebotenen Affekten ist offensichtlich die Intentionalität, d.h. die Bezogenheit des Gefühls auf einen Handlungspartner; das Gebot zielt darauf, das durch diese Intentionalität konstituierte Verhältnis zu bewahren. Um dieser grundlegenden Beziehung willen ist die intentionale Handlung des Trauerns trotz des Schmerzes unbedingt gefordert: „Ich soll nicht die Erlaubnis haben, mich wider des Lebens Schmerz zu verhärten, denn ich soll trauern; und doch soll ich auch nicht die Erlaubnis haben zu verzweifeln, denn ich soll trauern; und doch soll ich auch nicht die Erlaubnis, daß ich aufhöre zu trauern, denn ich soll trauern." Zur „Grammatik" des Affektiv-Emotionalen bei Kierkegaard vgl. R. Roberts, Existence, bes. 189fl

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3. Kapitel: Das Können

Das Trauern in seiner geforderten, andauernden Form des stillen Weinens ist so das leibliche Phänomen, das in der Rede beschrieben und ausgelegt wird. Dies unterstreicht die eben gewonnene Einsicht, daß das Totengedenken keine abstrakte oder formalisierte Regel, keinen kategorischen Imperativ des Liebens darstellt. Als leibliche Handlung handelt es sich vielmehr um ein bestimmtes, einzelnes Liebesphänomen, das dennoch eine Probe auf alle anderen sein soll. Denn dieser externe Status des prüfenden Maßstabs ist mit dem Hinweis auf die ontologische Gleichheit noch nicht beseitigt; die besondere phänomenologische Qualität der Trauer entsteht gerade auf dem Hintergrund dieser Gleichheit. d) Für das Vorgehen der Rede ist es nun entscheidend zu sehen, daß sich nach dieser Einleitung theoretisch zwei Möglichkeiten der Erörterung bieten: Die Rede könnte entweder beschreiben oder auch fordern, wie der Handelnde oder der Beobachter jene „Probe" auf seine eigene Lebenspraxis anwendet; oder sie könnte den vorausgehenden Schritt machen und zunächst das Bild, das als Probe dienen soll, selbst erst einmal genauer zeichnen. M.E. ist es deutlich, daß die Rede in ihrem Hauptteil den zweiten Weg einschlägt: Sie beschreibt nicht den Prozeß der Selbstprüfung, sondern sie führt das Bild jener Praxis aus, die zu einer solche Selbstprüfung dienen kann 5 . Sie erörtert den Begriff der Probe nicht als reflexive Praxis, die etwas über das diese Probe ausführende Subjekt oder den Prozeß dieser Prüfung aussagen könnte; vielmehr erörtert sie die Probe in ihrer objektiven, phänomenalen Form: als ein Phänomen oder ein Bild, als eine „Gestalt", die etwas über die sich darin ausdrückende Liebe aussagt. Dieses Vorgehen hält sich an die Indirektheit, die Kierkegaard von der ethischen Mittei5

Zwar führt Kierkegaard auch eine Methode der Prüfung ein: die Methode der „Doppelberechnung", die den Handlungsanteil des Akteurs von den Anteilen der Umwelt und des Handlungspartners analytisch ablöst und so sein reines Handlungsvermögen herausdestilliert (380/331). Doch die sachlich nachgeordnete Bedeutung dieses Prüfungsverfahrens zeigt sich gerade darin, daß die Erörterung dieser Methode unmittelbar dazu übergeht, das Verhältnis zum Verstorbenen als dasjenige reale Phänomen vorzuführen, welches die methodische Forderung der Doppelberechnung bereits verwirklicht. Auch sonst verweist die Rede immer wieder darauf, was der Leser vom Totengedenken „lernen" kann (s. 391/340 passim). Doch solches Lernen ist nicht mit dem Werk der Liebe identisch, welches das Thema der Rede ist. Dieses Werk ist die objektive Erscheinungsform der Liebe in bestimmten Phänomenen, die von der Rede zu beschreiben sind. Im übrigen wird die Anwendung der Prüfung auch vom Text immer wieder evoziert, jedoch stets als etwas, das der Kompetenz des Lesers („Du") überantwortet ist; eine direkte Prüfung durch und im Text findet nicht statt.

IV. Liebenkönnen: Handeln als Hermeneutik der Lebensbeziehungen

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lung verlangt6: Sie stellt keine direkte Forderung an den Leser; nicht einmal die Prüfung selbst nimmt sie vor, denn damit wäre sie bereits nicht mehr bei ihrem Thema. Ihr Thema ist nämlich die Liebe selbst und das Bild, das diese von sich gibt; dieses Bild ist so zu beschreiben, daß ein Leser es auf sich selbst prüfend anwenden kann 7 . Damit ist klar, daß Kierkegaard mit seiner „Probe" die Ebene der Phänomenbeschreibung nicht verläßt. Der Probecharakter des Totengedenkens als eines exemplarischen Phänomens zwingt jedoch die Interpretation zugleich dazu, im Begriff des Phänomens zu differenzieren; hierzu dient der Begriff des Grenzphänomens. Damit soll das angesprochene Schwanken dieser Handlungsform angedeutet werden: Innerhalb des Kreises der leiblichen Äußerungsformen der Liebe stehend spricht sie dennoch von außerhalb dieses Kreises, indem sie ein Probebild und Maßstab für jede konkrete Liebespraxis gibt; als eine partikulare Liebesform sagt sie etwas aus über die Totalität aller leiblich-welthaften Liebesformen: „das Leben, auf dessen kürzeste Gestalt zurückgeführt." Allerdings ist damit bis jetzt nur der methodische Standpunkt eines Grenzphänomens beschrieben. Es ist noch nicht erklärt, weshalb gerade das Trauern ein solches Grenzphänomen sein soll. Die sachliche Rechtfertigung ist bisher nur sehr vorläufig gegeben, nämlich mit dem Hinweis auf den besonderen Zeichencharakter des Todes. Doch eben diese Rechtfertigung muß die Durchführung der Rede erst noch leisten; sie muß jene Behauptung einlösen und zeigen, daß das Verhältnis zu einem Verstorbenen tatsächlich in unvertretbarer Weise etwas Wesentliches über das Liebesverhältnis aussagt. Und erst dann kann die Kritik der angeblichen Objektlosigkeit dieser Liebe beantwortet werden. Aufgrund welcher inhaltlichen Elemente also kann die stille Trauer über einen Verstorbenen ein Grenzphänomen handelnder Liebe sein?

6 7

Vgl .Pap. VIII 2 B, 79-89. Im übrigen wird an dieser Indirektheit des literarischen Vorgehens erneut deutlich, daß ein deontologisches Verständnis den Ansatz von TL verfehlt. Das Vorgehen dieser Rede (wie auch aller anderen) ist nicht normativ in dem Sinne, daß sie selbst eine bestimmte Verwirklichung von Liebe vom Leser fordert und damit die Liebe als eine ethische Möglichkeit auffaßt; vielmehr geht sie durchweg von einer positiv gegebenen Wirklichkeit aus. Es geht in der Rede nicht direkt darum, wie und ob eine derart beschriebene Liebe realisiert werden kann, sondern es geht um die richtige Beschreibung einer solchen Liebe. Eine Liebesform wie das Totengedenken muß nicht erst realisiert werden, sondern die Rede spricht von ihr als etwas, das vorliegt.

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3. Kapitel: Das Können

Die Grenzposition dieses Phänomens macht sich v.a. an der Negativität des Handlungspartners fest. Wiederholt stellt die Rede fest: „Ein Verstorbener ist kein wirklicher Gegenstand" (381/331, ebenso 389/338). Und die drei am Totengedenken herausgearbeiteten Merkmale sind durchweg von dieser Negativität bestimmt: Diese Liebe ist dadurch die uneigennützigste, daß sie ohne Wiedervergeltung auskommt; sie ist die freieste, weil sie nicht erzwungen werden kann; und sie ist die treueste, indem sie an ihrem Gegenstand keine Veränderung finden kann, die ihr das Vergessen erlauben könnte. Es ist also die relationale Struktur, die dieser Trauer fehlt. Es gibt kein Gegenüber, keinen wirklichen Gegenstand für diese Liebe. Doch muß der Begriff der Relationalität hier differenziert werden: Im Trauern der Liebe gibt es keine Relationalität im Sinne eines dialogischen Geflechts von Fragen und Antworten, keine Relationalität im Sinne von „reziproken Beziehungen von Erwartungen konkreter oder generalisierter anderer an das Handeln eines Akteurs und von Ansprüchen des Akteurs auf Anerkennung seines Handelns durch die anderen."8 Der Andere ist ein „Niemand" (381/331), der weder Ansprüche äußern noch Erwartungen wecken noch auf das Verhalten des Liebenden reagieren kann. Doch kann man von dieser Form von Relationalität eine zweite unterscheiden, und diese scheint mir in der Rede vorzuliegen: Der Ausfall von lebendig-dialogischem Austausch bedeutet noch nicht, daß es kein wirkliches Verhältnis zwischen dem Trauernden und dem Verstorbenem mehr gebe9. Im Gegenteil scheint mir die Pointe des Textes darin zu liegen, daß auch die Trauer noch als ein Verhältnis zu beschreiben ist. Der Andere ist „kein wirklicher Gegenstand" (389/338), aber das bedeutet noch nicht, daß er überhaupt kein Gegenstand ist. Ist er kein wirklicher Gegenstand, so kann er doch als ein intentionales Objekt10 verstanden werden. Und dann wäre die Trauer eine Form von Relationalität, die nicht durch die Reziprozität des Austausches, sondern durch die Einseitigkeit einer intentionalen Handlung oder eines Gefühls bestimmt wäre. Doch auch dies wäre eine relationale Struktur, ein Verhältnis zwischen Zweien. Nach all dem, was wir bisher über die Liebe in diesem Buch erfahren haben, kann diese offenbar doch nur gedacht werden als ein Verhältnis; denn nur dann kommt auch die Liebe selbst als ein Drittes ins Spiel, nämlich gerade als das Verhältnis selbst zwischen Zwei-

8 9 10

D. Böhler, Pragmatik, 236. Vgl. A. Gr0n, Gegenseitigkeit. Vgl. die Hinweise auf E. Tugendhat und C. Taylor in Kap. 3,1.2.

IV. Liebenkönnen: Handeln als Hermeneutik der Lebensbeziehungen

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en. Ohne diese Verhältnisstruktur könnte für TL keine Rede von Liebe sein, und ohne sie könnte Kierkegaard auch das Trauern um einen Verstorbenen nicht ein Werk der Liebe nennen. Auch wenn der Andere tot ist, so ist er für die Trauer doch in gewisser Weise existent: Der Trauernde verhält sich zu dem Toten, dies gerade macht sein Handeln aus; ohne den Toten gäbe es das Trauern nicht. Der Verstorbene ist der Gegenstand der Gedanken und Empfindungen des Trauernden. Versteht man dieses Handeln des Trauerns als ein intentionales Ausgerichtetsein, so zeigt sich: der Trauernde verhält sich zu einem Anderen, von dem er (in diesem Ausgerichtetsein) weiß, daß er nicht mehr „wirklich" ist, aber gerade damit wird der Andere ein Gegenstand, zu dem er sich verhalten kann, nämlich in Trauer11. Das Trauern ist auf einen Anderen bezogen und ist ohne diesen nicht möglich12. Der intentionale Gehalt der Trauer (d.h. die Tatsache, daß diese Handlung auf einen Anderen bezogen ist) zeigt an, daß sie als eine Verhältnisstruktur zu denken ist. Es handelt sich tatsächlich um ein Verhältnis zwischen Zweien, dessen Aktualisierung in Form von Handeln durch die bestimmte Form dieses Verhältnisses selbst bestimmt ist: Der Lebende kann sich zum Verstorbenen überhaupt nur deshalb in der Form des stillen und anhaltenden Trauerns verhalten, weil dieser für ihn radikal zu einem Nichts geworden ist; dies aber ist eben die Form des Verhältnisses, in dem der Lebende zum Toten steht. Der Grund oder Urheber der Trauer ist also nicht der Trauernde selbst, sondern die Weise, in welcher der Andere für ihn ist, die Weise, in welcher der Trauernde auf den Verstorbenen als auf einen Anderen bezogen ist13. Diese Verhält11

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Darin scheint mir das Problem der apologetischen Interpretation von P. S0ltoft, aaO. zu liegen: Sie übersieht diese intentionale Struktur des Trauerns und versteht die Abwesenheit des Verstorbenen als dessen ontologisches Nichtsein für die Liebe; deshalb interpretiert sie das Totengedenken ausschließlich als eine ethische Aussage in Hinblick auf den lebenden, gegenwärtigen Nächsten, s. ebd. 125f. Damit aber hat sie das Totengedenken als Phänomen oder Werk der Liebe aufgegeben. Den phänomenologischen Status des Verstorbenen als eines Anderen betont Kierkegaard nachdrücklich. Der Andere ist gerade der, der nicht in der bloßen Gegenseitigkeit des relationalen Handelns „geschluckt" und in einen Nahen oder Verwandten verwandelt werden kann. Und diese unbedingte Unverfügbarkeit und unbezwingbare Fremdheit des Anderen ist erst in der anhaltenden Trauer gegeben: „Denn ein Verstorbener ist, obwohl man das nicht sieht, ein starker Mann: er hat die Stärke der Unveränderlichkeit. Und ein Verstorbener ist ein stolzer Mann" (391/340). Die Thematik der Unverfügbarkeit des Anderen nimmt die Diskussion der Reden 7,11 A.-C. auf. Eine subjektivistische Deutung des Liebesbegriffs aus TL verfehlt diese Verhältnisstruktur; sie muß davon ausgehen, daß beim Totengedenken nur noch der Ge-

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nisbestimmung ist der intentionale Gehalt der liebenden Trauer; die Merkmale der Uneigennützigkeit, Freiheit und Treue sind die Auslegung dieser Intentionalität14. Die bestimmte Form der Trauer als eines langen, stillen Weinens, das der Liebespflicht entspricht, ist das Grunddatum der Argumentation; sie ist die ursprüngliche Verhältnisstruktur, in der die treueste, freieste und uneigennützigste Liebe sich selbst darstellt15. Damit ist auch das Problem beantwortet, daß die Realität der intentionalen Bezogenheit noch nichts über die Realität oder Wahrheit des vermeinten Gegenstandes aussagt. Denn einerseits ist im Falle der Trauer der Gegenstand ja gerade als nicht existent gemeint. Zum anderen ist die Trauer eben dasjenige Grenzphänomen, in dem die vermeinte Nichtrealität des Gegenstandes noch nichts über die Realität oder Irrealität des Verhältnisses aussagt. Vielmehr ist es gerade die besondere negative Form des Gegenstandes, die das Verhältnis als Gestalt des Trauerns bestimmt. Die Realität des Verhältnisses ist es, die durch den Pflichtcharakter festgeschrieben wird; denn die Verhältnisstruktur ist es, die die liebende Trauer mit den anderen Liebesformen ontologisch verbindet: „Die Pflicht, die Menschen zu lieben, welche wir sehen, kann nicht aufhören, weil der Tod sie von uns scheidet, denn die Pflicht ist ewig; also kann aber die Pflicht gegen die Verstorbenen auch die Mitlebenden nicht dergestalt von uns scheiden, daß diese

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denkende Übriggeblieben ist. Die Bestimmung der Liebe als das Dritte, die doch so zentral für TL ist, ist damit verlorengegangen. Der Behauptung, daß die Verhältnisstruktur fortbesteht, scheint die folgende Bemerkung zu widersprechen: „Denn nicht einmal derjenige, welcher wirklich vergessen hat, was man zu ihm gesagt hat, kann bestimmter ausdrücken, daß es vergessen ist, daß das ganze Verhältnis zu ihm, die ganze Sache mit ihm vergessen ist, wie das der Verstorbene tut" (392/341). Doch auch dieses Vergessen des Verhältnisses setzt das Verhältnis selbst voraus und beschreibt lediglich eine negative Form seiner Realisierung. Denn der Verstorbene wird ja gerade durch das Vergessen als ein Handlungspartner beschrieben. Insofern ist es klar, daß mit dieser intentionalen Struktur nicht jede Trauer gemeint ist, sondern nur eine ganz bestimmte, nämlich eben diejenige, die sich durch die drei genannten Merkmale beschreiben läßt. Darauf zielt Kierkegaards Unterscheidung der geforderten und damit anhaltenden Trauer von einer bloß leidenschaftlichen und damit augenblicklichen Trauer (s. 381f./332). Gleichwohl muß die Beschreibung dieser Merkmale die Existenz solcher Trauer voraussetzen, d.h. die Auslegung der intentionalen Struktur ist nicht die Konstruktion der Wirklichkeit der wahrhaft, und d.h. der pflichtgemäßen liebenden Trauer. Diese Wirklichkeit, oder das Bild dieser Wirklichkeit, ist eine unhintergehbare Voraussetzung der Argumentation.

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nicht Gegenstand unserer Liebe bleiben" (392/341 )16. Das bedeutet auch, daß der Pflichtcharakter der liebenden Trauer die Verhältnisstruktur der affektiven Trauer voraussetzt. Würde man die Pflicht und Aufgabe zur Trauer als Bestimmung des subjektiven Willens verstehen, so wäre die fundamentale Bedeutung der Verhältnisstruktur verloren, zumindest wenn damit die einseitige Begründung oder Setzung der Handlung durch das Subjekt gemeint wäre17. Was die Pflicht aber in dieser Rede tatsächlich meint, ist die Bewahrung des Afffekts bzw. der mit dem Affekt gesetzten intentionalen Struktur: „weine lange". Die Pflicht ruft zur Wahrnehmung des durch die Trauer erschlossenen Handlungsraumes, sie fordert die Fortsetzung des Verhältnisses, das sich in der Trauer vorgängig artikuliert. Die Pflicht kann insofern als die immanente Forderung der affektiven Trauer, als die sachgemäße Artikulation ihrer intentionalen Struktur verstanden werden. Die anhaltende Bedeutung der Verhältnisstruktur trotz des Wegfalls von lebendiger Reziprozität manifestiert sich in den Beschrei16

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Vgl.o. Anm. 4! Zum ontologischen Status von intentionalen Gegenständen, insbesondere im Fall von scheinbar gegenstandslosen Gefühlen und Affekten, vgl. C. Taylor, Erklärung, 84ff.: Entscheidend für das Verständnis von Gefühlen ist nicht die objektive Realität ihres Gegenstandes, sondern daß dieser Gegenstand für den Fühlenden wirklich ist. Dies trifft sogar noch auf solche Gefühle zu, die sich anscheinend auch für den Akteur auf nichts beziehen (wie gegenstandslose Furcht oder namenloser Schrecken); auch für diese Gefühle gilt, „daß wir niemals gänzlich ohne Gegenstand sind, denn zumindest wissen wir, daß der Gegenstand, was er auch sei, den Charakter hat, welcher das Gefühl definiert" (ebd. 87). Das grundlegende Problem des Intentionalitätsbegriffs seit Brentano liegt darin, daß der Gegenstand einerseits als unmittelbar-innerlich mit dem Bewußtseinsakt verbunden, zugleich aber als etwas dem Bewußtsein Externes gedacht werden muß (vgl. M. Dummet, Ursprünge, 39ff.). Kierkegaards Rede über das Totengedenken kann auch als Reflexion genau dieser Problematik verstanden werden. Die Absicht oder der Wille kann natürlich genauso wie ein Gefühl als eine intentionale Struktur gelten, die dann auch ein entsprechendes intentionales Verhältnis impliziert (und für die Theoretiker des Intentionalismus wie z.B. A. Kenny geht es bei Intentionalität primär um den Willen). Der Unterschied zwischen Wille und Gefühl kann aber darin gesehen werden, daß beim Gefühl der Gegenstand und das Verhältnis zwar für das Gefühl präsent, aber nicht durch es selbst gesetzt ist; der Willen dagegen ist gerade als dasjenige Vermögen auf den Gegenstand bezogen, welches diesen Gegenstand als Gegenstand für das Bewußtsein überhaupt erst setzt. Der Verstorbene als Bewußtseinsinhalt einer Willenshandlung - diese Form scheint durchaus dem Begriff der „Erinnerung" zu entsprechen, der in Kierkegaards Text dominiert. Doch ist dies m.E. ein mentalistisches Mißverständnis eines Totengedenkens, das für Kierkegaard fundamental leiblichen und affektiven Charakter hat. Dies ist der Grund, weshalb ich den mißverständlichen Terminus „Totengedenken" vermeiden und statt dessen von „Trauer" sprechen möchte.

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bungen des Trauerhandelns, die der Text gibt. Gerade durch seine radikale Negativität wird der Verstorbene nämlich zu einem festen Bezugspunkt, zu einer absolut externen, widerständigen und damit durchaus gegenwärtigen Realität: „das Furchtbarste ist eben, daß der Verstorbene sich überhaupt nichts anmerken läßt. Fürchte deshalb den Verstorbenen, fürchte seine Klugheit, fürchte seine Bestimmtheit, fürchte seine Stärke, fürchte seien Stolz! Aber liebst du ihn, so gedenke seiner liebevoll, und du hast keinen Grund, dich zu fürchten; du wirst von dem Verstorbenen, und gerade von ihm als Verstorbenem, die Klugheit des Gedankens lernen, die Bestimmtheit des Ausdrucks [Bestemthed i Udtrykket], den Stolz im Leben, wie du das von keinem Menschen, auch dem am stärksten Begabten nicht, derart lernen könntest" (391/340). Solche Bestimmtheit des Toten ist die dialektische Kehrseite seines völligen Schweigens, mit dem er sich nicht „von der Stelle rührt" und den Lebenden nicht „zwingt" (385/335); solche Widerständigkeit ist die positive Form jener Negativität, durch die der Tote als Partner aus der Handlungsbeziehung verschwindet, ohne doch damit als intentionaler Bezugspunkt verloren zu gehen. Seine stille Verschwiegenheit kann nicht bedeuten, daß er nicht, als Toter, „da" ist. Er ist vielmehr als Toter da für die Trauer. Das Schweigen, mit dem er sich selbst zum Vergessen bringt, setzt die positive Beziehung, nämlich das Trauern als intentionales Handeln, voraus; nur aus dem Trauern als Beziehung und Verhalten zu einem Verstorbenen läßt sich das Schweigen ableiten, nur durch oder im Trauern ist es überhaupt möglich18. Die Behauptung, daß eine intentionale Form von Relationalität auch für die Trauer gilt, wird schließlich auch durch die bereits benannte Leiblichkeit dieses Handelns bestätigt. Als Trauer ist das Totengedenken eine leibliche Äußerung. Und diese Äußerung ist zu verstehen als die Äußerung des realen Verhältnisses, das der Trauer vorausgegangen ist. Der Tod des Geliebten ist ein Ereignis in der Ge-

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Die ursprüngliche Positivität des Verstorbenen als eines Bezugspunktes kommt am deutlichsten bei dem dritten Merkmal, der Treue, zum Ausdruck; die Negativität des Anderen wird hier zur Positivität eines bestimmten Handlungspartners, der durch den Handelnden nicht beeinflußt werden kann. Die Darstellung der beiden anderen Merkmale dagegen verhüllt diese Positivität eher, d.h. sie verhüllt die Tatsache, daß auch die freieste und uneigennützigste Liebe stets innerhalb eines Verhältnisses zu einem Anderen steht. Diese Voraussetzung kommt auch in der Methode der „Doppelberechnung" zum Ausdruck (s.o.): Die methodische Abstraktion des einzelnen Handelnden aus seinem Handlungsverhältnis setzt dieses Verhältnis ontologisch gerade voraus, vgl. die Bilder vom Tänzer und Fechter (380/331).

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schichte dieses Liebesverhältnisses, aber er ist nicht das Ende des Verhältnisses selbst. In der Trauer wird das Verhältnis ausgespannt zwischen Erinnerung und Zukunft: „Nein, man soll des Verstorbenen gedenken, stille weinen, aber lange weinen. Wie lange, das läßt sich nicht im Voraus bestimmen, da kein Gedenkender mit Bestimmtheit wissen kann, wie lange er von dem Verstorbenen geschieden sein wird" (381/332). Die Trauer ist der leibliche Ausdruck dieser Spannung, in der das Verhältnis steht. Sie ist in ihrer Leiblichkeit zugleich die symbolische Vergegenwärtigung des abwesenden Anderen 19 . Diese geschichtliche Dimension und ihren leiblichen Ausdruck hatten wir bereits in der Rede VI kennengelernt, und auch dort ging es um den abwesenden Geliebten. Hier nun ist die temporäre Abwesenheit, die die Möglichkeit der Rückkehr einschließt, zugespitzt auf den Fall des Weggehens ohne Rückkehr. Indem die Trauer sich auf einen Gegenstand bezieht, der für sie gerade nicht mehr wirklich ist, ist sie ein Grenzphänomen der Liebe20. Die für die Liebe konstitutive Verhältnisstruktur ist noch vorhanden, aber nur noch in einer negativen Form. Der Andere wird geliebt, aber nur noch in einer Form, die seiner Negativität entspricht. Zugleich aber hindert diese Negativität nicht, auch hier von Liebe zu sprechen. Der Trauernde liebt den Verstorbenen als den Abwesenden, d.h. als den radikal Anderen, aber in seiner Trauer liebt er ihn tatsächlich, d.h. er gestaltet das Verhältnis zu ihm weiterhin. Wie sehr diese Handlung auf der Grenze des Lebens steht, zeigt sich, wenn man versucht, den Basissatz der aufbauenden Liebe auf sie anzuwenden: Dies scheint zunächst unmöglich zu sein, denn der Trauernde verhält sich ja intentional zu einem Toten, der nicht zu einer Beantwortung der Liebe fähig ist; aber zugleich ist dieses intentionale Verhalten eine Affirmation des Verstorbenen, ein leibhaftiges Festhalten an ihm, d.h. ein Festhalten an ihm als einem menschlichen Subjekt, 19

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Zu dieser symbolischen Vergegenwärtigung vgl.o. zu 2, VI. Zur leiblich-relationalen Gegenwart von Verstorbenen aus theologisch-anthropologischer Sicht vgl. E. Stock, Menschliches Leben, 107£ An manchen Stellen der Rede scheint Kierkegaard früher gemachte Aussagen und Beispiele der Liebe wieder zurückzunehmen oder zu relativieren, indem er etwa das Eltern-Kind-Verhältnis als Beispiel für eine gerade nicht völlig uneigennützige oder freie Liebe anführt (s. 383/333; 385/335; vgl. dazu die exemplarische Bedeutung der Mutterliebe in 2,1). Doch ist auch hier zu differenzieren: Die Relativierung gilt nicht dem Phänomen als solchem, sondern der Brauchbarkeit dieses Phänomens als Probebeispiel: Bei der Elternliebe ist es nicht möglich, die subjektive Liebe im gleichen Maße wie bei der Trauer phänomenal zu isolieren und aus dem Verhältnis herauszudestillieren.

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das handlungs- und liebesfähig ist. Dies ist gerade der Sinn des positiven Merkmales der Treue. Ohne diese Affirmation des nichtigen Anderen wäre eine Trauer der „treuesten Liebe" ((388/338) sinnlos. Der Basissatz der aufbauenden Liebe wird so auch noch auf der Grenze angewandt: als treues Festhalten am Anderen sogar angesichts seiner nicht geleugneten, sondern gerade angenommenen Nichtigkeit. Trauern wäre dann intentionale Bezogenheit: ich trauere um die Andere und die gemeinsame Geschichte mit ihr, aber zugleich mit der propositionalen Struktur: ich setze voraus, daß sie trotz des Todes noch lieben kann, d.h. noch ein Subjekt ist. Der Trauernde erfährt die Geliebte als nichtig, aber in seiner Trauer spricht er sie dennoch auf ihr Liebenkönnen an21; ausschließlich tot und nichtig ist die Andere nur für den externen Betrachter, nicht aber für den Trauernden22. Das Trauern artikuliert die Positivität der aufbauenden Liebe in der Gegenwart des zerstörenden Todes; sie ist zugleich die Akzeptanz dieser Nichtigkeit und die leibliche Vergegenwärtigung der Wirklichkeit, die gewesen war, sie ist die Bejahung der Anderen im Angesichts ihres Todes 23 . Eben darin zeigt sich der Status der Trauer als ein Phänomen der Liebe auf der Grenze zur Nicht-Liebe. Ich habe versucht zu zeigen, warum das Totengedenken überhaupt als eine Form der Liebe im Sinne der vorausgegangenen Begriffsbestimmungen gelten kann. Dieser Aufweis verlangt, die Rede ein we-

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Solche .Kommunikation' mit dem Toten kann man vielleicht sogar als den verborgenen Inhalt der Rede IX bezeichnen. Denn der Tote ist zwar absolut schweigsam; aber die Qualität der Trauer als liebendes Handeln erweist sich gerade erst darin, wie sie sich zu diesem Schweigenden in bestimmter Weise verhält. In Beziehung auf das Schweigen des Toten erweist sich das entsprechende Verhalten des Erinnerns und Trauerns als eine Form des Nichtschweigens, des Sprechens. Kierkegaards Praxis, seine erbaulichen Reden dem Andenken an seinen verstorbenen Vater zu widmen, kann als eine Form dieser Trauersprache gelten. Die externe Perspektive ist allerdings diejeninge, in welche der Leser von Kierkegaard geführt wird, und zwar gerade durch die paränetische Rhetorik: Die reine Nichtigkeit des Anderen wird für den Betrachter betont, der von dieser Negativität auf seine eigene Liebesfähigkeit verwiesen wird. Damit ist jedoch die Binnenperspektive des Phänomens der Trauer verlassen. Vgl. Th. Adorno, aaO. 234ff.( der die im Negativen versteckte Positivität der Liebe zu den Toten darin findet, daß sie die Idee der Zweckfreiheit inmitten und gegen die Tauschgesellschaft ausdrückt. Für Adorno ist es im übrigen gerade das Phänomen der „Trauer", das über die Lieblosigkeit der Nächstenliebe hinausgeht und in ihrer „Hilflosigkeit" zum Bild humaner Freiheit wird. Unter dem Stichwort der „anamnetischen Solidarität" steht das Verhältnis zu den Toten und der damit verbundene theologische Wirklichkeitsbegriff im Mittelpunkt der theologischen Handlungstheorie von H. Peukert, s. Wissenschaftstheorie, 312ff.

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nig gegen ihren Strich zu lesen, nämlich gegen die durchgehend paränetische, auf Selbstprüfung zielende Tendenz des Textes. Diese Tendenz betont die Negativität des Phänomens und verdeckt damit diejenigen positiven Aspekte, die es überhaupt erst als ein Phänomen und damit als ein Werk und ein Handlung der Liebe qualifizieren. Der positive phänomenale Gehalt des Trauerns als einer leiblich-relationalen Handlung mußte zunächst rekonstruiert werden, um den Zusammenhang mit den übrigen Aussagen des Buches herzustellen und Mißverständnisse auszuräumen. Der Kritik, die in der Darstellung des Totengedenkens das Beispiel einer unmenschlichen Ethik sieht, mag damit zumindest eine alternative Lesart zur Seite gestellt sein, die diese Erörterungen ebenso gut als Ausdruck einer radikalen Affirmation des Humanen zu verstehen erlaubt. Was damit noch nicht beantwortet ist, ist die Frage, was dieses Phänomen denn nun über das Liebenkönnen aussagt.

2. Die exemplarische Bedeutung der Trauer: Hermeneutisches Handeln Die drei Merkmale der liebenden Trauer, also Uneigennützigkeit, Freiheit und Treue, benennen die Unabhängigkeit der Liebe: das wahre Lieben ist zu seiner Realisierung nicht abhängig von einer lebendigen Interaktion mit dem Geliebten. Diese Unabhängigkeit kann man verstehen als das Vermögen, Liebe zu üben, auch wenn der Gegenstand dieser Liebe tot ist. Insofern dient das Grenzphänonem der liebenden Trauer dazu, die positive Freiheit des Lieben-Könnens aufzuzeigen. Zugleich ist dieses Können aber, wie sich in der ersten Analyse des Totengedenkens gezeigt hat, keine beziehungslose Unabhängigkeit und kein voraussetzungsloses Vermögen. Die Frage ist, wie jenes Vermögen zur Liebe mit der Verhältnisstruktur zusammengedacht werden kann. Das Herausarbeiten der Unabhängigkeit des Totengedenkens scheint zunächst dazu zu führen, daß dieses Handeln der Spontanität des Lebenden und Liebenden zugeschrieben werden muß. Unter Spontanität verstehe ich dabei diejenige Auffassung des Könnens, derzufolge der Handelnde den Verstorbenen zu lieben vermag, weil er dieses will24. Allerdings ist sofort deutlich, daß diese Erklärung auf 24

Vgl. die Definition von Spontanität bei A. Kenny, Will, 122: „we are free in doing something if and only if we do it because we want it." Das Verständnis der Hand-

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den Fall der liebenden Trauer nicht so ohne weiteres paßt. Denn die Trauer ist zunächst nicht ein Wille oder Wunsch, sondern ein Affekt. Das bedeutet, daß es für dieses Verhalten konstitutiv ist, auf einen Gegenstand bezogen zu sein, wie „wirklich" dieser auch immer ist. Die Trauer kann eben nicht gedacht werden ohne das Verhältnis, d.h. ohne die Weise, in welcher der Andere für den Lebenden ist. Die Trauer wird nicht durch einen bloßen Wunsch oder willentlichen Entschluß eines Subjekts konstituiert, sondern durch das intentionale Verhältnis zwischen diesem Subjekt und dem Gegenstand, auf den es sich bezieht. Das Können liegt also nicht im subjektiven Gefühl oder Handeln als einer bloß subjektiven Größe. Vielmehr ist dieses Gefühl niemals ohne dieses Verhältnis. Affektives Handeln und Verhältnis sind gleichursprünglich, oder: das affektive Handeln ist der Ausdruck des Verhältnisses zwischen dem Liebenden und dem Verstorbenen. Das Vermögen zum Lieben ist das Können eines Handelnden in einem Verhältnis. Trifft dies aber zu, dann kann die von Kierkegaard behauptete Negativität des Gegenstandes und die Unabhängigkeit des Liebens nicht mehr als Ausdruck für die Macht des Liebenden über seinen Gegenstand verstanden werden. Nicht ein subjektives Wünschen oder Wollen ist der letzte Grund dieser Liebe, sondern ein inter subjektives Verhältnis. Eben dieses Merkmal aller vorausgegangenen Beschreibungen der Liebe hält auch die liebende Trauer noch an der Grenze lebendiger Intersubjektivität fest. Es ist also nicht die Unabhängigkeit des Liebenden, die negative Freiheit seines Könnens, die in der Trauer illustriert wird, sondern es ist die unhintergehbare Ursprünglichkeit und Nichtableitbarkeit des Verhältnisses zwischen dem Liebenden und seinem Geliebten. Dieses Verhältnis als solches liegt nicht in der Macht des einzelnen Handelnden, auch nicht im Fall des Totengedenkens. Er kann es nicht willentlich herstellen.

lungsfreiheit als Spontanität („liberty of spontaneity") wird traditionellerweise unterschieden von der Fähigkeit, auch jeweils anders oder nicht handeln zu können („liberty of indifference"). Die Spontanität des Handelns denkt Kenny freilich nicht als einfach als leeren, irrationalen Willen, sondern als rationalen Willen, nämlich als rationale Erklärung der eigenen Handlung (die gleichwohl „ineradicably defeasible" bleibt, ebd. 144). Die Differenz zwischen Selbstbestimmung (spontaneity) und Selbstverfügung (liberty of indifference) geht in der Zielbehauptung jener Interpreten verloren, denen zufolge es sich bei Kierkegaards Darstellung des Totengedenkens um eine Form von verabsolutierter individueller Handlungsfreiheit handele, vgl. etwa Bongardt, L0gstrup u.a.

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Allerdings ist das liebende Trauern ein ganz und gar subjektives Handeln. Und allerdings sind die Merkmale Uneigennützigkeit, Freiheit und Treue Formen des subjektiven Handelns. Doch sagen diese Merkmale noch nichts darüber aus, ob dieses subjektive Handeln, das liebende Trauern, auch von dem uneigennützig-frei-treuen Handelnden verursacht wird. Die drei Merkmale stehen zunächst lediglich für die Behauptung ein, daß der Grund dieses Handelns nicht im Verhalten des Handlungspartners oder in anderen externen Bestimmungen liegt. Aber das bedeutet noch nicht, daß der Grund statt dessen im Handlungssubjekt zu suchen sei. Die drei Merkmale machen darauf aufmerksam, daß das liebende Trauern nur aus sich selbst heraus zu verstehen ist. Sie benennen also die „Innerlichkeit" dieses affektiven Handelns, d.h. eine solche Struktur, in der das Handeln prinzipiell nicht ohne seinen Ermöglichungsgrund auftritt und dieser Grund nicht abgelöst von diesem Handeln beschrieben werden kann 25 . Aber die entscheidende Frage ist, welche Vermittlungsleistung denn nun mit dieser Innerlichkeit beschrieben wird, also mit welchem Grund hier das Handeln verbunden ist, und da zeigt sich: Die innerliche Struktur des liebenden Trauerns betrifft nicht die Verbindung zwischen einem subjektiven Wollen und seiner Ausführung 26 , sondern sie betrifft die intersubjektive Verhältnisstruktur dieses bestimmten Handelns: das affektiv-intentionale Verhältnis zwischen dem Handelnden und dem Gegenstand als das nicht weiter auflösbare, nicht-kontingente, innerliche Grundverhältnis. Im pflichtgemäßen Trauern sind nicht subjektives Wollen und Ausführung innerlich miteinander vermittelt, sondern Subjekt und Gegenstand; und die Trauerhandlung ist 25

26

Vgl. o. Kap. 2,11.3. zur Unterscheidung dieses innerlichen, nicht-kontingenten Verhältnisses von dem kausalen Handlungsmodell. Dies entspräche dem Begriff der Handlungsfreiheit als Spontanität, s. A . Kenny, aaO. 142. Ein solches Verständnis von Spontanität hat jedoch keinen Platz für die Einsicht, daß ein Subjekt sich über seine eigenen Ziele und Motive täuschen kann, vgl. die Kritik des „negativen" Freiheitsbegriffs bei C. Taylor, Irrtum. Gegenüber dieser grundsätzlichen Beschränkung im Begriff der subjektiver Spontanität verweist Taylor auf die fundamentale Bedeutung der bestimmten intentionalen Ziele des Wollens für die Freiheit des Handelnden: Freiheit liegt demnach nicht in der Möglichkeit des subjektiven Wollens und seiner nachfolgenden Realisierung, sondern in der bestimmten Wirklichkeit eines Selbstverständnisses, das sich von den Bedeutungen seiner konkreten Ziele und Wünsche her bildet; subjektive Freiheit als Selbstverwirklichung hängt an der Bedeutung der externen Ziele für das Subjekt. In ähnlicher Weise scheint mir auch Kierkegaards Begriff der Liebe als ein Begriff bestimmter Freiheit gelten zu können, indem das freie Vermögen zum liebenden Handeln nicht im Subjekt lokalisiert wird, sondern in dem bestimmten intentionalem Verhältnis.

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3. Kapitel: Das Können

nicht die Wirkung einer Ursache (Wille), sondern ist der leibliche Ausdruck, die Erscheinungsform dieser Vermittlungsleistung. Dieser Ausdruck ist immer konkret, so wie auch das Verhältnis immer in bestimmter Weise qualifiziert ist; und deshalb wird das Trauern nicht als souveränes Vermögen eines Subjekts beschrieben, sondern als inhaltlich bestimmte Form: als Bejahung und Affirmation des Verstorbenen. Uneigennützigkeit, Freiheit und Treue beschreiben also nicht die Souveränität eines Handlungssubjekts, sondern den innerlichen, ursprünglichen Status eines Handlungsverhältnisses. Die drei Merkmale sind begriffliche Auslegungen eines Verhältnisses, in dem - im Fall der Trauer - nur noch einer lebendig handeln kann; aber dieser eine kann so nur handeln aufgrund dieses Verhältnisses. Die Uneigennützigkeit, Freiheit und Treue, mit der jemand liebt, beschreiben nicht sein individuelles Handlungsvermögen, sondern beschreiben die Gestalt und Qualität des Liebesverhältnisses, innerhalb dessen er steht und handelt. Die Negativität des Gegenstandes erschließt die Spontanität des Liebens: „,*hier wird nicht genötigt'" (386/336); aber diese Freiheit von Nötigung charakterisiert eben das Verhältnis der beiden, nicht das Vermögen des einen. Das „hier" ist der Standort eines Handelnden im Verhältnis zu einem Anderen. Es ist eine Aussage über einen intersubjektiven Handlungsraum. So ist die radikale Einseitigkeit und subjektive Vereinzelung des Handelns im Fall der Trauer gerade der Fall, der die Relationalität als unbedingten Grund des Liebens offenbaren. Was bedeutet dies für unsere Frage nach dem Lieben-Können? Was Kierkegaard mit der Beschreibung des Totengedenkens vorstellt, ist keine Aussage über eine allgemeine metaphysische Handlungsfreiheit des Individuums, sondern über eine bestimmte Handlungsform. Die Rede wendet sich in der Tat paränetisch an das Handlungssubjekt (den Leser) und verweist auf seine individuelle Verantwortung und Handlungsfähigkeit, doch setzt diese beschworene Fähigkeit das bestimmte intentionale Verhältnis gerade immer schon voraus: „Wahrlich, willst du dich dessen recht vergewissern, was in dir oder einem andern Menschen an Liebe zugegen sei, so achte darauf, wie er sich zu einem Verstorbenem verhält. Wenn man über einen Menschen Beobachtungen anstellen will, so ist es um der Beobachtung willen so wichtig, daß man, dieweil man ihn in irgendeinem Verhältnis erblickt, doch allein auf ihn blickt" (380/331 )27. Die Rede appel27

Diese Aussage verdeckt freilich die Identität der inneren und äußeren Bestimmung: die Liebe „in" dem Subjekt muß als identisch mit seinem „Verhältnis" verstanden

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liert nicht an eine unbestimmte Handlungsfreiheit, sondern ruft zu einer bestimmten Handlungsweise auf, die dem zugrundeliegenden Verhältnis entspricht. Denn der Liebende kann ja nicht aus dem Verhältnis herausgelöst werden, innerhalb dessen er überhaupt erst als Liebender bestimmt ist. Die Liebe „in" einem Handelnden liebt, indem sie als intentionale Äußerung (Trauer) ein „Verhältnis" konstituiert und artikuliert. Lieben(können) ist dasjenige Vermögen, das die Liebe „in" einem Subjekt überhaupt erst in Beziehung zu einem anderen Subjekt setzt, indem es die beiden Subjekte in ein bestimmtes Verhältnis zueinander bringt. So ist es die Liebe, die „in" einem Individuum ist und zugleich ausschließlich als ein „Verhältnis" gedacht werden kann, die gewissermaßen das Subjekt des Liebens ist (vgl. 184/161). Kierkegaards personalistische Redeweise von „der" Liebe ist auch an der eben zitierten Stelle ontologisch gemeint: sie benennt einen Subjektwechsel, der das Lieben-Können als transzendenten Grund des Liebens festzuhält. „Die" Liebe ist das Können des Liebens. Ich fasse die Ergebnisse zusammen, indem ich versuche, den damit gegebenen Handlungsbegriff zu skizzieren: 1. Handeln hat die Form der Interpretation: Die affektive Handlung der Trauer ist der leibliche Ausdruck und darin die Interpretation eines Verhältnisses. Handlung wird hermeneutisch verstanden, d.h. Handeln ist ein Interpretieren von Verhältnissen, in denen der Handelnde steht. Zugleich aber hat das hermeneutische Verstehen die Form des Handelns: Verstehen ist ein leibhaftiger Ausdruck und ein Ausdrücken. Das Verhältnis selbst wird im und durch den Ausdruck immer wieder neu konstituiert, d.h. wiederholt. Darin liegt die Wirksamkeit des Liebenkönnens, und dies auch noch bei dem Grenzfall

werden. Diesem extern-expressiven und relationalen Sinn der „inneren" Liebe waren wir bereits früher anhand des Begriffs der Selbstverdoppelung begegnet, und hierauf möchte ich mich berufen, wenn ich, scheinbar gegen den Wortlaut der Rede, auf die Identität von innen und außen beharre. Eine bloß innerliche, objektlose Liebe ist ebenso eine Abstraktion wie ein Liebesverhältnis, das nicht durch eine intentionale Liebeshandlung begründet wäre. Zu dieser abstrahierenden Beschreibung gelangt Kierkegaard aufgrund seiner Frage nach der Probe. Mit dieser Frage nimmt er eine externe Beobachterposition gegenüber dem Liebesphänomen ein, die ihn sogar vermeintlich in den Stand setzt, ganz verschiedene Liebesverhältnisse zu vergleichen. Dies aber ist nicht der Standpunkt innerhalb des wahrgenommenen Phänomens; dieser interne, phänomenologische Standpunkt muß der abstrahierenden Methode der Rede abgerungen werden, wenn man nach dem Sinn von „Liebe" fragen will.

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3. Kapitel: Das Können

des liebenden Verhaltens gegenüber dem Toten: Die Trauer führt das Verhältnis weiter, indem sie ihm leibhaftigen Ausdruck verschafft. 2. Der Handelnde ist dabei der Interpretierende und Verstehende, und hierin liegt zunächst sein spezifisches Können. Liebenkönnen ist dann das Vermögen, das Verhältnis zum Anderen zu verstehen, in dem sich der Handelnde befindet, und dieses Verstehen hat die Form von Handlungen und Gefühlen. In affektiven Handlungen artikuliert der Akteur das Verhältnis, in dem er steht, und seine eigene Position, die er innerhalb eines Verhältnisses einnimmt. Liebend handeln zu können ist das Vermögen zur Artikulation des Liebesverhältnisses. Die anläßlich von 2,1 aufgestellte Bestimmung bezüglich des Könnens kann somit noch einmal aufgenommen werden: lieben zu können bedeutet, einen bestimmten Satz sagen zu können. Die Reden VVIII hatten bereits die Schwierigkeiten beschrieben, die mit dem Sprechen dieses Satzes bzw. den entsprechenden expressiven Handlungen in konkreten Handlungsbezügen verbunden waren, und dadurch war das Können bereits als ein bestimmtes Vermögen qualifiziert worden. Die Rede über das Totengedenken hat diese Qualifikation noch weiterschrieben, indem sie das Problem verschärfte: Die liebende Trauer enthüllt das Vermögen, auch an der Grenze des Lebens jenen Basissatz noch sagen und somit den Anderen noch bejahen zu können. 3. Solches Verstehen ist aber demnach nicht reflexiv gedacht, sondern intentional: Die Artikulation erfolgt in Hinsicht auf den Handlungspartner und das bestimmte Verhältnis zu ihm; sie artikuliert die Bedeutung, die der intentionale Gegenstand für den Interpretierenden hat. Der Handelnde legt nicht sich selbst aus, sondern das Verhältnis, in dem er steht. So ist die Trauer nicht eine reflexive Form des Selbstverstehens, sondern wird von Kierkegaard primär als eine Form der Affirmation des Anderen und des Verhältnisses zu ihm verstanden. Das Selbstverstehen ist in ein vorgängiges intentionales Verstehen eingebunden, es ist eine interpretierende Ortsbestimmung innerhalb eines durch Intentionalität erschlossenen Handlungsraumes28. 28

Diese hermeneutische Struktur des Verhaltens unterscheidet sich von der hermeneutischen Deutung, die H. Fahrenbach im Anschluß an den Selbstbegriff der Krankheit zum Tode als dialektische Grundstruktur der menschlichen Existenz entwickelt hat: Der Relationsbegriff des Selbst wird von Fahrenbach nämlich als Reflexionsfigur verstanden, als ein „reflektiertes Sich-verhalten" {Ethik, 13), in dem sich das Selbst seine Bestimmtheit verstehend aneignet. Die hermeneutische Dimension des Handelns ist dann als reflexives „Sich-selbst-in-Existenz-verstehen" zu bestimmen (ebd. 49). Wendet man den Begriff der Hermeneutik dagegen auf

IV. Liebenkönnen: Handeln als Hermeneutik der Lebensbeziehungen

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4. Wenn in dieser Weise aber der intentionale Gegenstand zentrale Bedeutung für die Interpretation hat, dann handelt es sich beim Handeln des Subjekts um eine Interpretationsäußerung, in der der Gegenstand so zum Ausdruck kommt, daß er sich selbst darin ausspricht. Die Trauer ist in diesem Verständnis der subjektive Ausdruck des intersubjektiven Verhältnisses. Die Merkmale der liebenden Trauer, also Freiheit von Nötigung, Uneigennützigkeit und Treue, sagen dann primär nicht etwas über den Liebenden aus, sondern über „die" Liebe, die „in" ihm ist. Sie benennen die Faktizität des Liebesverhältnisses als jener ursprünglichen und nicht mehr ableitbaren Wirklichkeit, durch die das subjektive Handeln als ein Handeln aus Liebe erst möglich wird. Die liebende Trauer enthüllt die Selbstvermittlungsstruktur der dritthaften Liebe. Menschlich lieben zu können ist das wirksame Können der dritthaften Liebe, die die leibliche Wirklichkeit

TL an, so zeigt sich ein wesentlicher Unterschied: Hier geht es nicht darum, daß der Handelnde sich selbst versteht, sondern daß er das Verhältnis, in dem er steht, in Gefühlen und Handlungen auslegt. Man könnte einwenden, daß es auch dies ein reflexives Verstehen sei: ein Sich-selbst-Verstehen in diesem bestimmten Verhältnis. Doch verläßt dieser Einwand m.E. die Grundlage, von der aus die Aussagen aus TL erst verständlich sind: die Intuition, daß es bei dem, was hier als Liebe beschrieben wird, für Kierkegaard immer und unhintergehbar um ein Verhältnis zu und mit einem Anderen geht. Daß es keinen Weg hinter diese Intersubjektivität zu einer ursprünglichen, reinen Subjektivität gibt, zeigt gerade die Rede über das Totengedenken: Selbst das Phänomen radikalster Einseitigkeit enthüllt eine zugrundeliegende Intersubjektivität. Mit anderem Akzent, aber unter denselben handlungstheoretischen Voraussetzungen wie Fahrenbach interpretiert A. Gr0n Kierkegaards Ethik (ausgehend von der Nachschrift), nämlich als ein Verstehen des Anderen (s. Subjektivitet, 270ff.). Auch diese Hermeneutik ist aus dem Begriff der reflektierenden Subjektivität entwickelt: Das Subjekt entdeckt den Anderen als ein anderes Subjekt, das dieselbe existenzielle Aufgabe vor sich hat wie es selbst: ein Selbst zu werden; Intersubjektivität entsteht demnach erst durch den Reflexionsprozeß, in dem ein Akteur sein eigenes reflexives Selbstverhältnis auf den Anderen anwendet. Auch in dieser Konstruktion fällt also das intersubjektive Verhältnis als ursprüngliches Phänomen aus, und genau dies diagnostiziert Gr0n als Mangel in Kierkegaards Theorie (ebd. 275). Doch möglicherweise liegt das Problem ja auch darin, daß der subjektivitätstheoretische Ansatz (der Nachschrift) zur normativen Kategorie für das Verständnis des Gesamtwerkes, damit auch von TL, erhoben wird? Zumindest mit Bezug auf die Interpretation von TL gilt, daß die Versuche, hinter das intentionale und intersubjektive Grundverständnis, d.h. hinter das Phänomen Liebe zurückzugehen und das Verhältnis zum Geliebten vom reflexiven Begriff des Selbstverhältnisses aus zu konstruieren, in der Gefahr stehen, eine petitio principii vorzunehmen, mit der sie eine von seinem Objekt prinzipiell geschiedene Subjektivität erst als Voraussetzung in den Text hineintragen, die sie dann im folgenden als Subjektivismus kritisieren (so etwa bei K.E. L0gstrup, aaO., B. Müller, aaO. u.a.).

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3. Kapitel: Das Können

eines Verhältnisses ist und dieses dadurch, daß sie sich selbst in Formen leiblichen Handelns und Empfindens wie der anhaltenden Trauer äußert. Die Negativität des Gegenstandes der Trauer zielt nicht auf ein objektloses Handeln des Subjekts (Adorno), sondern sie legt im Gegenteil die Faktizität eines intentionalen Verhältnisses auch an der Grenze des Lebens aus: Wenn auch hier noch von Liebe die Rede sein soll, so muß eine Handlungsform beschrieben werden, in der trotz des Todes des einen der Handlungspartner die intentionale Struktur dieses Handelns noch ein Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem Gegenstand voraussetzt. Dieses Verhältnis liegt dem bloß subjektivem Anteil des betreffenden Handelns logisch und ontologisch voraus. Die scheinbare Objektlosigkeit des subjektiven Handelns ist in Wirklichkeit die prinzipielle Objektlosigkeit einer sich selbst vermittelnden und mitteilenden Liebe, die immer schon und immer nur als diejenige Kreativität verstanden werden muß, in der das Verhältnis zweier Subjekte faktisch und unhintergehbar konstituiert wird. So wird an dem Trauern eines Individuums, das sich in seiner bestimmten Form als uneigennützig, frei und treu beschreiben läßt, dasjenige schöpferische Können sichtbar, das auch bei allen anderen Formen wahrer Liebe am Werk ist. Das liebende Trauern wird zum Zeugen für diese Kreativität, die auch gegenüber dem Toten noch am Lebendigen festhält: an dem Anderen als dem Partner einer gemeinsamen Geschichte, die erinnerte Vergangenheit, symbolische Gegenwart und erhoffte Zukunft hat.

V. Fazit: Liebenkönnen als expressive Intentionalität In diesem Kapitel habe ich versucht, die Texte des zweiten Teils von TL unter der Fragestellung zu betrachten, was sie über das Lieben als ein Können aussagen. Der Begriff des Liebenkönnens wird in der ersten Rede intoniert; diese Rede dient gewissermaßen als Exposition, deren Motive in den folgenden Reden ausgeführt werden. Dabei hat sich im Aufbau dieser folgenden Reden eine Dreiteilung herauskristallisiert, die für die Entwicklung des Begriffs des Liebenkönnens drei Aspekte ergibt: Liebenkönnen wird nacheinander als subjektives Vermögen (II-IV), als gelingende intersubjektive Praxis (V-VIII) und schließlich als Vermögen überhaupt, d.h. hinsichtlich seiner Ermöglichungsstruktur (IX), beschrieben. Freilich mag dies als ein eher künstliches, dem Text selbst aufgelegtes Schema erscheinen. Trotz dieser Künstlichkeit hat es für meine Darstellung seine Berechtigung; denn erstens handelt es sich um die Rekonstruktion eines Begriffes, der von Kierkegaards Text selbst nicht systematisch durchgeführt wird und also in der Tiefenstruktur des Textes herausgearbeitet werden muß; zweitens wird auf diese Weise der systematische Zusammenhang mit dem ersten Teil von TL deutlich. Es handelt sich nämlich um dieselben Beschreibungsebenen wie beim Begriff des Liebensoliens, nur in einer anderen Reihenfolge: auch das Liebenkönnen wird in subjektiver, intersubjektiver und schließlich kategorialer Hinsicht beschrieben. Doch kann man den genannten Dreischritt auch noch anders und stärker an der Oberflächenstruktur des Textes orientiert beschreiben, und zwar hinsichtlich der lebensgeschichtlichen Konkretionen, die jeweils mit den dargestellten Phänomenen verbunden sind: Die erste Rede beschreibt den Anfang des eigenen Liebenkönnens, was sich insbesondere in der zentrale Rolle ausdrückt, die die Beispiele aus dem Familienbereich in dieser Rede einnehmen. Die Reden II-IX folgen dann der lebensgeschichtlichen Gestaltung und Durchführung dieser Liebesfähigkeit; sie beschreiben die Geschichte der Liebesverhältnisse eines individuellen Lebens als die Geschichte der Gefahren und des möglichen Gelingens dieser Verhältnisse. Die Rede IX schließlich führt diese Geschichte an ihr Ende, indem sie die Liebe

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3. Kapitel: Das Können

an der Grenze zum Tode beschreibt, und zwar so, daß das zeitliche Ende der Liebesgeschichte nicht als Ende der Liebe verstanden werden muß. Auf diese Weise erscheint TL2 als eine systematische Phänomenologie der Liebe an ihrem lebensgeschichtlichem Ort. Neben dieser lebensgeschichtlichen Verortung hat der Begriff der Phänomenologie, so wie er in dieser Interpretation verwendet worden war, noch weitere Aspekte 1 . Einerseits ist er ontologisch gemeint: Kierkegaard versteht die Liebe unter dem Aspekt ihrer Selbstdarstellung. Dieses Moment, das in 7X7,1 bereits ins Zentrum rückt („Früchte"), wird in 7X2 erstens als geschichtliche Bewegung (II-III) und zweitens als expressive Selbstvermittlung des Ewigen (V-VIII) entwickelt. Hierauf bezogen ist ein eher methodischer Sinn, wie er besonders in der Rede IX beobachtet werden kann: die Verortung der Darstellung der Liebe in der Perspektive der ersten und zweiten Person Singular, d.h. die Liebe kann nur am Ort ihrer Selbstdarstellung angemessen beschrieben werden, nämlich innerhalb des als „Liebe" zu prädizierenden intersubjektiven Verhältnisses. Dieses phänomenologische Vorgehen erweist damit seine Verwandtschaft mit der Hegeischen Phänomenologie, doch mit (mindestens) einer wesentlichen Differenz: Die Liebe, die sich hier selbst zur Darstellung bringt, ist nicht mehr wie Hegels „Geist" in der dialektischen Struktur des Bewußtseins gedacht, sondern als eine unhintergehbar performative und intersubjektive Wirklichkeit; diese Liebe ist wesentlich Interaktion, Äußerung. Der Grund für diese pragmatische' Wendung der Phänomenologie liegt möglicherweise in der Abkehr vom Entwicklungsprinzip: Das einzelne Phänomen hat nicht eine nur relative Stellung innerhalb des umfassenden Prozesses der Selbstentfaltung eines sich selbst wissenden Geistes, sondern für jedes einzelne Phänomen gilt nun das Entweder-Oder von Gelingen und Verfehlen; „in jedem Augenblick" (275/239) steht die Wirklichkeit der Liebe auf dem Spiel, und deshalb kommt es nicht auf die Vollendung eines Prozesses an, sondern jedes Phänomen muß allein aus sich selbst heraus - d.h. als „Wiederholung" - und damit in seinem jeweils bestimmten Vollzug verstanden werden 2 . Dieser Vollzug aber ist im Fall der Liebe nicht nur Aktion, sondern Inter-Aktion, Äußerung. 1

2

Zur Relevanz des Phänomenologiebegriffs für Kierkegaards Philosophie vgl. v.a. A. Gr0n, Subjektivitet, 35ff., hierzu die Rückfragen von H. Deuser, Kierkegaards Phänomenologie, 271ff. Vgl. H. Deuser, aaO. 275.

V. Fazit: Liebenkönnen als expressive Intentionalität

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Man kann also für TL einerseits von einem metaphysischen Phänomenologiebegriff sprechen, insofern es um die Selbstdarstellung einer transzendenten Wirklichkeit, der Liebe, geht. Andererseits denkt Kierkegaard diese Selbstdarstellung nicht in bezug auf eine umfassende Totalität, sondern in bezug auf je einzelne Handlungsvollzüge. Es ist der Handlungsbegriff selbst, den er damit ins Zentrum rückt, anstatt ihn zugunsten einer umfassenderen Kategorie hinter sich zu lassen. Die Orientierung am Handlungsbegriff setzt philosophisch das praktisch-soteriologische Interesse am Gelingen des Lebens und seiner Beziehungen um, anstatt der Frage Hegels nach der Bewegung des Bewußtseins als dem „Weg zur Wissenschaft" zu folgen 3 . Die in TL1 entdeckten Grundstrukturen des Handlungsbegriffes haben wir auch in TL2 wiederentdeckt, jedoch in anderer Form: Das intersubjektive Verhältnis bildet das Fundament des Handelns, wird aber erst durch die Formen verständlich, in denen es handelnd verwirklicht und vollzogen wird. Diese Handlungsformen sind wesentlich durch ihre sprachliche, expressive und affektive Struktur bestimmt. In diesem begrifflichen Gerüst wird das Verständnis des Liebens als eines subjektiven Vermögens ausgespannt, das fundamental auf das Können des Anderen angewiesen ist; entsprechend kann der Vollzug dieses Könnens allein in Hinsicht auf eine gemeinsame Praxis gedacht werden. Die Vergangenheit und die Zukunft dieser gemeinsamen Praxis sind der Inhalt der Artikulationshandlungen, in denen der Liebende das Liebesverhältnis so auslegt und kommuniziert, daß dieses sich darin selbst zum Ausdruck bringt und zugleich jeweils neu konstituiert als ein Handlungsraum, der den Akteuren ein gemeinsames Leben, d.h. die Ausübung von Liebeshandlungen, ermöglicht. Dies ist der pragmatische Gehalt des Begriffs der aufbauenden Liebe, durch den das Liebeshandeln in Hinsicht auf seine Wirksamkeit beschrieben ist. Dieser Beschreibung des Könnens liegt eine Auffassung des Handelns zugrunde, die eine bestimmte Handlung im wesentlichen als Ausdruck einer Intentionalität versteht. Der Inhalt dieser Intentionalität ist das gemeinsame Können der Handelnden. Der Begriff der Intentionalität meint also nicht ein bloß subjektives Bewußtsein, sondern die Struktur einer intersubjektiven Beziehung: die Weise, in welcher ein Akteur auf einen anderen bezogen ist. Diese Bezogenheit ist dadurch bestimmt, daß sie ein gemeinsames und gegenseitiges Handeln-Können darstellt. Ihre intentionale Form ist propositional, was

3

G.W.F. Hegel, Phänomenologie, 68.

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3. Kapitel: Das Können

Kierkegaard in dem Basissatz des Liebenkönnens formuliert: die Behauptung, daß der Andere lieben kann. Die einzelne Handlung ist dann die expressive Darstellung dieser propositionalen Beziehungsstruktur. Zugleich hat diese Intentionalität kein eigenständiges Bestehen vor oder abgesehen von einzelnen expressiven Handlungen, es ,gibt' sie nur in konkreten Handlungen des Sprechens und Zeigens. Die intentionale Bezogenheit der Liebe ist wesentlich Äußerung und Ausdruck. Dieser Grundcharakter spiegelt sich in der begrifflichen Grundstruktur, die wir in unterschiedlichen Variationen in allen Texten antrafen: das expressive Handeln hat die Struktur der Wiederholung. Der Begriff der Wiederholung als Beschreibung des expressiven Handelns hält zwei Momente zusammen: 1. Dieses Handeln ist durch einen bestimmten propositionalen Gehalt geprägt („Intentionalität"): 2. insofern dieser propositionale Gehalt die praktische Handlungsbeziehung des Akteurs zu einem anderen benennt, ist die Handlung selbst als kommunikativer Ausdruck dieses Gehaltes zu denken („expressiv"). Beide Momente kann Kierkegaard zusammenhalten, indem er die Liebe im Begriff des Ewigen als Selbstverdoppelung und Wiederholung denkt. In dieser Wiederholungsstruktur lassen sich zusammenfassend drei Kategorien oder Beschreibungsebenen des Handelns identifizieren: Relationalität als die Ebene des zugrundeliegenden Verhältnisses der Handelnden, Intentionalität als die Ebene des Gegebenseins dieses Verhältnisses für den Handelnden und Expressivität als die Ebene des Vollzugs der dieser Intentionalität entsprechenden Handlung. Von hier aus erschließt sich der architektonische Zusammenhang der beiden Teile des Buches. Beschreibt TL2 die Interaktionsformen, in denen der Basissatz „Du kannst lieben" als Grundelement auftritt, so vollzieht TL1 dasselbe für einen anderen Basissatz: „Du sollst lieben". Die Reden in beiden Teilen explizieren die Werke der Liebe, indem sie in phänomenologischer Einstellung der wirksamen Realität dieser Sätze in Interaktionskontexten nachgehen. In stark verkürzender Form kann man sagen: Wenn TL1 die Entstehungsbedingungen von liebender Intentionalität formuliert (s.o. Kap. 2, IV.), so kann TL2 als Entfaltung der Vollzugsbedingungen dieser Intentionalitätsform gelten.4

4

Hierbei darf allerdings das Verhältnis von Entstehungs- und Vollzugsbedingungen nicht als eine bestimmte ontologische Ordnung verstanden werden; insofern beide Aspekte die transzendente Liebe thematisieren, bedingen und erfordern sie sie sich gegenseitig.

V. Fazit: Liebenkönnen als expressive Intentionalität

445

Es handelt sich also bei den Taten der Liebe um eine ganz bestimmte Klasse von Handlungen, nämlich um jene Handlungen, welche die Basissätze, die Grammatik des Liebensoliens und Liebenkönnens zum Ausdruck bringen. Es sind solche Handlungen, deren expressive Grammatik durch die beiden Basissätze geregelt sind. Entscheidend für diese Basissätze ist die in ihnen ausgesagte Reziprozität des Handelns: So wie der Sprecher des Satzes „du kannst lieben" zugleich mit diesem Satz sein eigenes Liebenkönnen aussagt und vollzieht, so ist auch der Satz „du sollst lieben" nur gültig im Zusammenhang mit dem Zusatz: „...wie dich selbst" (s. 21ff./23ff.). Die Taten der Liebe sind Handlungen, die durch eine spezifische Grammatik der Reziprozität geregelt werden. Zugleich aber sind die Handlungen dieser Klasse durch eine wesentliche Unbestimmtheit oder Vagheit geprägt. Denn was sie zum Ausdruck bringen, ist kein subjektives Wissen, Wollen oder Vermögen, sondern ist ein Drittes zwischen den beiden Handelnden: ihr eigenes Verhältnis als die Möglichkeit oder der Raum für ein gemeinsames Handeln. Dieser Unbestimmtheit oder Vagheit trägt Kierkegaards Beschreibung Rechnung, wenn er den sprachlichen und expressiv-affektiven Aspekt des Handelns betont. Der expressive Charakter dieses Handelns scheint in die engen Grenzen zu passen, die Kierkegaard dem Handlungsbegriff zieht: Das Handeln der Liebe muß als leibhaft und wirksam erkennbar sein, darf aber zugleich nicht auf bestimmte Gestaltungs- und Gebrauchsvollzüge der bürgerlichen Welt und ihrer Praxisbegriffe festgelegt werden; dies ist das Kriterium des „Wie", das in TLl,l aufgestellt wird. Es wird eine bestimmte Mischung von leiblicher Bestimmtheit und kreativer Unbestimmtheit verlangt. Dabei darf jene Unbestimmtheit aber nicht von der Handlung selbst getrennt werden (etwa im Sinne einer Gesinnungsethik), sondern ist am Handlungsphänomen selbst aufzuzeigen. Im Begriff der expressiven Intentionalität werden Unbestimmtheit und Bestimmtheit im Handeln zusammengedacht. Damit ist die Beschreibung der Liebe als Beschreibung ihrer Erscheinungsformen abgeschlossen, aber noch nicht der Gedankengang von TL an sein Ende gekommen. An die phänomenologischen Ausführungen schließt Kierkegaard nämlich noch zwei weitere Themenkomplexe an, die sich durch die Interpretation der Liebe als Grundphänomen der Ethik ergeben, und auch diese Komplexe sind handlungstheoretisch zu rekonstruieren: 1. Der Status des Buches selbst in Bezug auf seinen Gegenstand muß reflektiert werden. Die Reden von TL stellen die Kommunikati-

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3. Kapitel: Das Können

on eines bestimmten Liebesbegriffes dar. Den Vollzug dieser Kommunikation beschreibt Kierkegaard wiederum als eine bestimmte Handlung, die besonders hinsichtlich ihrer Kommunikationsbedingungen zu reflektieren ist. Dies läßt sich als die diskurstheoretische Fragestellung hinsichtlich des entwickelten Handlungsbegriffs verstehen. 2. Das Verhältnis der bestimmten Phänomenologie der Liebe zu anderen, insbesondere negativen Formen der Wirklichkeitserfahrung ist zu klären. Ein allgemeinerer Begriff des (ethischen) Handelns muß gefunden werden, der an die Phänomenologie der Liebe anschließt, diese aber auch mit anderen Phänomenen in Beziehung zu setzen vermag. In diesen beiden Schritten geht Kierkegaard über die Phänomenologie der Liebe hinaus, indem er diese direkt auf die Handlungswirklichkeit derer bezieht, die von Anfang an an jener Phänomenologie beteiligt waren: der Autor und die Leser. Auf beide hatten die Reden immer wieder am Rande verwiesen, ohne sie doch selbst als bestimmte, partikulare Subjekte in den Mittelpunkt der Erörterungen zu stellen. Im Mittelpunkt der Texte standen stets die Liebe und die exemplarischen Figuren, an denen diese Liebe und ihrer Fehlformen beschrieben werden konnten: Liebende, Dichter, Arme, Reiche, Eltern, Kinder etc. Doch bereits TL2, IX hatte die Leser als Gegenstand einer direkten ethischen Anrede ausführlich einbezogen. Die Perspektiven von Redner und Hörer/Leser sind für die handlungstheoretische Fragestellung darin wichtig, daß sie den bisher phänomenologisch entwickelten Handlungsbegriff um die Dimension der Reflexivität erweitern. Denn nun geht es um die Frage, was Autor und Leser selbst, d.h. in Hinsicht auf ihre eigene Lebenspraxis, mit der Liebe machen und erfahren. Mit dieser reflexiven Perspektive erst wird das Programm von TL1, I vollständig eingelöst (vgl. o. Kap. 1): die Taten der Liebe als das subjektive Umgehen mit den Werken und Zeichen der Liebe zu beschreiben.

4.

Kapitel:

Jenseits der Phänomenologie: Das Handeln der Liebe in reflexiver Perspektive I. Die Liebe im Diskurs

Die Rede über das Totengedenken hat die Phänomenologie der Liebe an ihre Grenze gebracht. Doch ist damit das handlungstheoretisch relevante Material von TL noch nicht ausgeschöpft. Kierkegaard verfolgt die Frage nach dem Handeln der Liebe in einigen weiteren Textstücken, die allesamt den literarischen Charakter des Abschlusses haben. Insgesamt drei solcher Buchschlüsse lassen sich identifizieren: die letzten Seiten des ersten Teils (211-225/185-197), die bereits vom „Schluß dieses kleinen Buches" sprechen (211/185)1; die Rede X des zweiten Teils, die eine Reflexion auf den literarischen Charakter des gesamten Unternehmens anstellt; und schließlich die mit „Schluß" überschriebene letzte Rede des Buches. Was diese drei Komplexe gemein haben, ist ihre Theoriegestalt, die sich von der bisher rekonstruierten phänomenologischen Vorgehensweise unterscheidet: Die Liebe wird nicht mehr in der Weise beschrieben, wie sie sich selbst in ihrem Vollzug darstellt und sich dem Betrachter auf einer vortheoretischen Ebene zeigt, sondern die Erwägungen gehen nun den Schritt über die Phänomenologie hinaus und betrachten das Phänomen abschließend von außen. Die Liebe wird jetzt auf einer diskursiven und reflexiven Ebene thematisiert. Damit verändert sich auch der Ton: Insbesondere die beiden ersten der genannten Textkomplexe sind von einer starken Polemik und einer Rhetorik der Selbstunterscheidung von der „Welt" geprägt. Diesen veränderten Ansatz möchte ich zunächst mit Hinsicht auf die Schlußpassage von TLiy und die Rede X aus TL2 erörtern; in beiden Texten wird der Diskurs über die Liebe als Streit zwischen verschiedenen Liebesbe-

1

Vgl. o. Kap. 3.1. (Anm. 1) zum entstehungsgeschichtlichem Verhältnis der beiden Teile von TL.

448

4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

griffen geschildert. Die Schlußrede hingegen vertieft die reflexive Gestalt des phänomenalen Liebesbegriffs in Richtung auf seine mögliche Verallgemeinerungsfähigkeit; dies soll dann in einem weiteren Kapitel thematisiert werden. Da auch diese beiden Kapitel dazu dienen sollen, Kierkegaards Handlungsbegriff herauszuarbeiten, muß mit dem methodischen Neuansatz der Texte auch die Frage nach dem Handlungsbegriff noch einmal neu gestellt werden.

1. Diskurs und

Konflikt

Der veränderte Ansatz zeigt sich deutlich in der Thematik von TLiy (Schluß) und TL2,X: der Gegenstand der Erwägung ist nicht mehr die Liebe selbst, sondern das Reden über die Liebe. Der Schluß von 7,V geht vom Problem der „christlichen Vorträge" aus (211/185) und entwickelt Leitlinien für die öffentliche Rede über die christliche Liebe; 2,X erörtert noch grundsätzlicher die Aufgabe, „über die Liebe zu sprechen" (393/342), als eine Handlung [„Gjerning"] der Liebe, die mit dem Terminus „anpreisen" versehen wird. Der methodische Neuansatz ist also erneut als eine bestimmte Praxis gekennzeichnet: Der Gegenstand der Untersuchung ist die öffentliche Rede über das Phänomen der Liebe, die Beschreibung des Handlungsphänomens wird abgelöst durch eine Erörterung des Diskurses über das Phänomen 2 . Die handlungstheoretische Fragestellung ist besonders an dieser praktischen Form interessiert und muß versuchen, von hier aus die inhaltlichen Probleme anzugehen. Daß es sich um einen Diskurs handelt, ergibt sich aus der vorläufigen Bestimmung der Begriffe Rede und Anpreisen. In beiden Fäl2

In der reflexiven Bezugnahme auf die Liebe in diesen Texten liegt der Unterschied zu jenen Formen eines öffentlichen Diskurses, die wir bereits in der phänomenologischen Darstellung der Liebe angetroffen haben, s.o. Kap. 3,111.2. Im Übrigen ist die Differenz von phänomenologischer und reflexiv-diskursiver Perspektive wichtig, um eine bestimmte Form der Kierkegaardschen Auffassung von Sprechen und Handeln richtig einzuordnen: Die in manchen Texten Kierkegaards anzutreffende Kritik der Reflexion und des reflexiven Zeitalters ist die Kritik an einem bloß reflektiererenden und geschwätzigen Sprechen über das Handeln, das dieses Handeln gerade verhindert, vgl. LA, 72f£; ZKA, 80f. Für die von mir in dieser Arbeit vertretene These vom Charakter der Liebe als Sprachhandeln ist es nun entscheidend zu sehen, daß jene Kritik gerade nicht die phänomenalen Formen meint, in denen sich die Liebe selbst äußert (als Sollen und Können); denn diese Formen sind zwar ein Sprechen der Liebe und des Handelnden, aber nicht ein Sprechen der Liebe oder des Handelnden über sich selbst.

I. Die Liebe im Diskurs

449

len handelt es sich um Sprechhandlungen, zu deren Begriff es gehört, innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft und damit in konkreter Bezugnahme auf andere Sprecher vollzogen zu werden. So zielen auch Kierkegaards Ausführungen nicht auf eine monologische Redeform, sondern sind fundamental an Rezipienten und deren Reaktion orientiert: Die Überlegungen zum christlichen Vortrag nennen als ihren Ausgangspunkt das Problem des Hörers („Jüngling"), den eine falsche Redeform „in die Irre führen" kann (211/185); und beide Textkomplexe sind über weite Strecken eine Beschreibung der feindlichen Reaktion, die der Redner der wahren Liebe von seiner Umwelt erfährt. Reden und Anpreisen erweisen sich somit formal als diskursive Formen. Ihre pragmatische Grundform ist die Verantwortung: Das Handeln der Liebe erregt eine Rückfrage der Mitmenschen, und damit ist die Diskurssituation gegeben, in welcher der Handelnde antworten und sein Handeln gegenüber der Frage verantworten und die von ihm erhobenen Geltungsansprüche begründen muß. Diese vorläufige Bestimmung von Diskurs und Verantwortung ist gegen drei Mißverständnisse zu verteidigen. Erstens: Kierkegaards Polemik gegen die theologische Apologetik (s. 220f./193f.) ändert nichts an der formalen Bedeutung der Verantwortung als sprachpragmatisches Merkmal der Rede. Er argumentiert dort ausschließlich inhaltlich, nämlich mit der These, daß die Apologetik die für den Glauben unverzichtbare Möglichkeit zum Ärgernis abschafft; doch gebraucht er dies nicht als ein Argument dafür, überhaupt mit dem christlichen Reden, und d.h. mit dem Reden vor bestimmten Hörern aufzuhören. Zweitens ist darauf hinzuweisen, daß dieser sprachpragmatische Verantwortungsbegriff nicht in Konkurrenz zu dem religiösen Begriff der Verantwortung steht. Kierkegaard denkt Verantwortung primär als Verantwortung gegenüber Gott, doch dies schließt nicht die Nötigung an den Sprecher der Liebe aus, auf die Reaktion der Mitmenschen gegenüber seinem Tun seinerseits in irgendeiner Form eingehen und es beantworten zu müssen. Drittens wird man diesen dialogischen Diskursbegriff auch nicht durch die Kierkegaardsche Unterscheidung von dem „Einzelnem" und der „Menge" los3; denn auch wenn die „Menge" keine Verantwortung und keine Reue kennt, so ist der Diskurs doch immer noch als ein Gespräch zwischen „Einzelnen" denkbar. Und eben auf ein solches Gespräch

3

Vgl. die beiden mit „Der Einzelne" überschriebenen Aufsätze, bes. SS, 99-106.

450

4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

zwischen vielen Einzelnen scheint der Begriff des „Einzelnen" auch zu zielen: „der ,Einzelne' kann bedeuten Jedermann" (SS, 109). Die Hörer in diesem Diskurs sind auf signifikante Weise von dem Handlungspartner unterschieden, der im Phänomen der Liebe gegeben war. Die Hörer sind, zumindest zunächst und formal gesehen, keine Gegenstände der Liebe, sie sind keine Geliebten. Es ist bezeichnend, daß in diesen Texten der oder die Geliebte gar keine Rolle mehr spielt. Dies ist ein weiteres Indiz für das Verlassen der phänomenologischen Betrachtungsweise. Jetzt ist nicht mehr die Rede von einem jeweils konkreten einzelnen Anderen, sondern von „den" Anderen im Sinne einer meist amorphen Um- und Mitwelt; für dieses Gegenüber steht der Terminus „Welt". Auch der „Jüngling" kann nicht aus dieser Mitwelt herausgelöst werden, sondern ist ein nur hypothetisches Gegenüber, der selbst jederzeit an der spezifischen Reaktionsweise der Mitwelt teilnehmen könnte 4 . Die Mitglieder dieser Mitwelt sind als Hörer zunächst Gegner, die dem Sprecher der Liebe mit Unverständnis und Feindseligkeit antworten. Über weite Strekken wird der Diskurs als ein Konflikt zwischen Sprecher und Umwelt beschrieben, und zwar als ein unvermeidbarer Konflikt: „[...] im christlichen Sinne steht der Widerstand der Welt in einem wesentlichen Verhältnis zur Innerlichkeit [Inderlighed] des Christlichen" (214/188). Die polemische Kritik Kierkegaards am „Bestehenden", die für das Spätwerk entscheidend ist und im Kirchenkampf von 1854/55 kulminiert, ist hier bereits voll entbrannt 5 . Die handlungstheoretische Fragestellung soll jedoch dabei helfen, diesen Konflikt

4

5

Deshalb ist es auch nicht möglich, das Reden über die Liebe als ein monologisches An-Reden, ein Reden an einen Einzelnen in verkündigender oder erzieherischer Manier zu verstehen. Zur Differenz von phänomenologischer Nähe (die Perspektive der ersten Person) und diskursiv-kritischer Distanz (die Perspektive der dritten Person) vgl. 217Í./191: „Soweit jemand von seinem eigenen Verhältnis zur Welt sprechen sollte, wäre das eine andere Sache, da ist es Pflicht, so milde, so entschuldigend wie möglich zu sprechen, und selbst wenn der Betreffende das tut, ist es Pflicht, in der Liebe Schuld zu bleiben. Aber wenn wir zurechtweisend [veiledende] sprechen, dürfen wir nicht verschweigen, was vielleicht wenig geschickt ist, die Rede bei der sehnsüchtigen Vorstellung eines schwärmerischen Jünglings einzuschmeicheln" (mit dem letzten Punkt ist die realistische Erwartung des Widerstandes der Welt gemeint). Vgl. B. Kirmmse, Golden Age, 318ff. Kirmmse sieht das Weltverhältnis des Handelnden in TL noch auf der Grenze zwischen der integrierten Position des „citizen" und der isoliert-oppositionellen des „saints", s. ebd. 328. Zu den literarischen und zeitgeschichtlichen Aspekten des Spätwerkes vgl. H. Deuser, Dialektische Theologie, 33-89; J. Elrod, Christendom, Kap. 6 - 7; K. Nordentoft, Brand-Majoren.

I. Die Liebe im Diskurs

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auf dem Hintergrund des darin gebrauchten Handlungsverständnisses zu verstehen. Ein weiterer Hinweis auf den diskursiven Charakter des Konfliktes liegt in der Tatsache, daß Kierkegaard das individuelle Sprechen über die Liebe in den Zusammenhang der Wahrheitsfrage stellt. Der Streit entsteht gerade erst durch die Frage nach der Wahrheit (s. 401/349), damit aber als die Frage eines praktischen Diskurses: Welches ist „die wahre Vorstellung [Forestalling] von der Liebe" (404/351)? Über die Liebe zu reden bedeutet, der in den vorausgegangenen Reden entwikkelten Bedeutung des Wortes „Liebe" im öffentlichen Diskurs und im Streit mit anderen, „menschliche(n) Vorstellung(en)" (219/192) Geltung zu verschaffen. Die Bestimmung des Diskurses als eines Konfliktes scheint einen Aspekt auszuschließen, der ein wesentliches Merkmal des diskursiven Sprechens ist: Der Diskurs zielt seinem Begriff nach nicht auf einen Konflikt, sondern auf das freie Einverständnis der Handlungspartner; er impliziert die Absicht eines Sprechers, in Hinblick auf bestimmte Hörer und deren Einverständnis Wirkung zu erzielen6. Nun kann natürlich auch der Widerstand der Welt als intendierte Wirkung verstanden werden. Doch wäre dies eine zuhöchst manipulative Praxis, die die Freiheit der Anderen dem eigenen Zweck unterwirft, sie auf diesen Zweck hin instrumentalisiert und den provozierten Widerstand zur Selbstbestätigung des Sprechers nutzt. Ein solches (martyrologisches) Verständnis des unvermeidbaren Konflikts ist von Kierkegaard an anderer Stelle ausdrücklich abgelehnt worden, und zwar mit dem Hinweis auf die wesentliche Gleichheit von Mensch und Mensch7. Dieser Tatbestand kann dahingehend verstanden wer-

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7

Vgl. J. Habermas, Kommunikatives Handeln Bd. 1, 410f£ Die Begründung des Diskursbegriffs im Begriff eines verständigungsorientierten Handelns darf nicht mit dem transzendentalphilosophischen Diskursmodell verwechselt werden, wie es exemplarisch von Κ .O. Apel entwickelt wurde. Bei Apel wird ungleich stärker als bei Habermas dem Ziel einer idealen Kommunikationsgemeinschaft eine ontologische und normative Superiorität gegenüber der individuellen Verantwortung der einzelnen Akteure zugesprochen. Eine kritische Abgrenzung der Kierkegaardschen Mitteilungstheorie gegen dieses Apelsche Diskursmodell nimmt K.-M. Kodalle vor (Eroberung, 142ft). Die ohne Letztbegründungsansprüche auskommenden Kategorien von Verständigung und Einverständnis sind dadurch aber für die Interpretation von Kierkegaards Kommunikationsbegriff nicht obsolet geworden. Vgl. die Abhandlung „Darf ein Mensch sich für die Wahrheit totschlagen lassen?" Diese erste der beiden Abhandlungen, die 1849 unter dem Pseudonym „H.H." erschienen, wurde im selben Jahr wie TL geschrieben (vgl. das „Vorwort" aus ZKA, ferner Pap. VIII 1 A 271/72, 160ff.). Kierkegaard bzw. H.H. geht in dieser Schrift

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

den, daß für Kierkegaard der Konflikt zwar ein wesentlicher Umstand des Diskurses ist, nicht aber sein Ziel. Was aber ist dann das Ziel dieser konfliktreichen Kommunikation? Auch wenn die Texte sich auf die Darstellung der Umstände und des Konfliktes konzentrieren, lassen sich doch Andeutungen in dieser Richtung erkennen: „Wer aber Liebe anpreist, der versöhnt alle, nicht in einer gemeinsamen Armut, auch nicht in einer gemeinsamen Mittelmäßigkeit, sondern in der Gemeinschaft des Höchsten [i det H0iestes Fœllesskab]" (400/348). Das Anpreisen als der konfliktreiche Diskurs der Liebe zielt offenbar auf Versöhnung und Gemeinschaft, also auf Einverständnis, und dies trotz des Konfliktes; deshalb kann solches Anpreisen auch selbst als „*Tat der Liebe" (so die Überschrift dieser Rede) gelten (und damit auf dieser Ebene doch wieder der Phänomenologie der Liebe zugerechnet werden). Diese diskursive Zweckbestimmung ist entscheidend für das Verstehen dieser Texte, weil sie einer einseitigen Beschränkung der Interpretation auf den Konfliktcharakter wehrt und die Frage nach dem Grund dieses Konfliktes überhaupt erst stellt8. Kierkegaards Rhetorik betont den Gegensatz und

8

zwar ausdrücklich von der Möglichkeit einer „Überlegenheit" eines Sprechers („Bußpredigers") über die anderen aus, die schließlich selber „die Zeit so in Leidenschaft (bringt), daß sie zurückschlägt" ( Z K A , 105). Doch zugleich weist H.H. die Ausführung dieser Möglichkeit als ethisch-religiös unerlaubt zurück, da sie eine absolute „Heterogenität" in der Handlungsbeziehung beanspruche, die aber im Verhältnis zwischen Menschen, d.h. zwischen Sünder und Sünder, gerade nicht gelten könne (ZKA, 109£); vgl. auch die Ausführungen im Buch über Adler zur indirekten, nämlich „leidende(n) Überlegenheit" ( B Ü A , 182). Die kommunikative Gleichheit von Sprecher und Hörern als einer Gleichheit der endlichen Freihheit und Verantwortung wird hier also ausdrücklich festgehalten, zugleich aber wird an dem Kontrastbild einer christologisch gedachten Kommunikation der Allmacht der Konflikt innerhalb dieser Gleichheit scharf herausgestellt. Nach den revolutionären Ereignissen von 1848 ändert Kierkegaard allerdings seine Beurteilung des bewußt herbeigeführten Martyriums: er betrachtet es nun mehr und mehr als ein erlaubtes und unumgängliches Provokationsmittel, vgl. K. Nordentoft, aaO. 129ft So kommt etwa B. Kirmmse über den positivistischen Befund eines semantischen Gegensatzes nicht hinaus: „Collision with the world is inescapable because it is simply the case that, although the world and Christianity both claim to honor ,love' and to disdain ,self-love', they mean extremely different things by these terms" (aaO. 320). Die m.E. entscheidende Interpretationsfrage ist: Wie kommt es zu diesem Gegensatz, und unter welchen Bedingungen ist die Behauptung des christlichen Sprechers überhaupt denkbar? Wie ist die Situation bedeutungstheoretisch zu erklären, in der eine solche semantische Kollision möglich ist? Der Verweis auf die Diskursform des von Kierkegaard gezeichneten Konfliktes soll die Frage des semantischen Gegensatzes aus seinen pragmatischen Bedingungen als einer Sprechsituation klären. Daß die Reduktion des Verhältnisses von Liebesrede und Welt auf den bloßen Konflikt eine Verkürzung der Kierkegaardschen Perspektive darstellt, mag ein er-

I. Die Liebe im Diskurs

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legt so diese Beschränkung oft nahe. Doch in der diskurstheoretischen Perspektive erscheint der Konflikt nicht mehr als ein metaphysischer Zusammenstoß von Welt und Gott, Zeit und Ewigkeit, sondern als eine Interaktion mit bestimmter Zweckbestimmung. Damit stellt sich die Frage, die unsere Analyse beantworten muß: Aufgrund welcher handlungstheoretischen Grundentscheidungen kann Kierkegaard Liebe und Konflikt im Diskurs zusammendenken? Wie kann der Konflikt als Diskurs verstanden werden?

2. Der stumme Tanz Zunächst ist zu klären, wie es zum Konflikt zwischen dem Sprecher der wahren Liebe und der Gemeinschaft kommt. Der Konflikt entsteht an der Handlung der Liebe, und erst durch den Anstoß und Widerstand der Anderen wird der Handelnde zur diskursiven Antwort genötigt; erst durch den Widerstand wird aus dem Handelnden ein Sprecher im Diskurs. Der Widerstand der Welt gegen den Sprecher besteht darin, daß er „keinen Lohn in der Welt empfange" (212/186). Hierin liegt der Unterschied zur menschlichen Form von Selbstverleugnung: das selbstlose und aufopfernde Handeln wird nicht geehrt und belohnt, sondern ausgelacht (215/188). Dem Handelnden wird damit jede welthaft-immanente Form genommen, sich der Geltung und Wahrheit seiner Handlung zu versichern. Es gibt keine welthafte Instanz mehr, an der sich die Bedeutung der Handlung ablesen ließe, während der „Lohn" der menschlichen Selbstverleugnung in der gesellschaftlichen Anerkennung und Verehrung besteht (ebd.). „Lohn" ist in diesem Zusammenhang ein Geltungs- und damit ein Bedeutungsbegriff: Eine Handlung „ohne Lohn" hat keine Geltung, d.h. sie wird von den Diskursteilnehmern nicht als das akzeptiert und verstanden, was es für den Handelnden ist. Auf diese Weise ist die wahre Liebe im Unterschied zur einfachen Selbstverleugnung durch eine „Doppelgefahr" (214/188) gekennzeichnet, d.h. zum Leiden des selbstlosen Handelns tritt noch die Erfahrung hinzu, daß diese Selbstverleugnung von der Mitwelt nicht verstanden und sogar abgelehnt

neuter Verweis auf die erste Abhandlung von H.H. illustrieren: „Das Unwahre liegt alsdann darin, daß der auf diese Weise Kämpfende sich "'bloß polemisch [sie!] zu den andern verhält, daß er bloß an sich denkt, und nicht in Liebe die Sache der andern bedenkt [...] Überlegenheit heißt doch gerade, seines Feindes Anwalt zu sein" (ZKA, 113).

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

wird. Diese zweite Leidenserfahrung hat einen besonderen Hinweischarakter: „die zweite Gefahr, oder die Gefahr an zweiter Stelle ist eben die Bürgschaft [Sikkerheden], daß es mit dem Gottesverhältnis seine Richtigkeit habe, daß es ein reines Gottesverhältnis sei" (215/189). Die Stellung der Reaktion der Welt als „Bürgschaft" in diesem Satz ist jedoch zweideutig: Handelt es sich um eine notwendige Voraussetzung oder um ein Zeichen für das Gottesverhältnis? Der theologische Liebesbegriff, dem wir bisher in TL begegnet waren, und der die Transzendenz des Ursprungs der Liebe betont, schließt die erste Möglichkeit aus9. Aber was heißt es dann, die „Bürgschaft" der zweiten Gefahr, also die Geltungslosigkeit der Handlung, als Zeichen zu verstehen? Offensichtlich ist es als eine notwendige Konsequenz der wahren Liebe gemeint, die untrennbar an das Gottesverhältnis als Grund der Liebeshandlung gebunden ist - aber wie kann diese notwendige Verbindung erklärt werden? Die Lohnlosigkeit als ein Zeichen des Gottesverhältnisses zu verstehen bedeutet, sie vom Gottesverhältnis her zu verstehen. „Lohn" wird, wie wir sahen, von Kierkegaard als Geltungsverhältnis verstanden. Auf das Gottesverhältnis angewandt bedeutet dies, daß eine Handlung oder eine Aussage, für die das Gottesverhältnis wesentlich ist, keine welthafte Geltung findet; sie wird nicht verstanden und hat für die Hörer keine oder eine falsche Bedeutung. Das bedeutet aber gerade nicht, daß sie überhaupt keine Geltung oder Bedeutung hat, denn dann wäre im Kontext des Diskurses auch die Rede vom Gottesverhältnis überflüssig. Sofern es sich aber gerade um das Zeichen („Bürgschaft") des Gottesverhältnisses handelt, ergibt sich die Paradoxie: die Bedeutungslosigkeit der Handlung ist gerade ihre Bedeutung als die einer Handlung im Gottesverhältnis; der Widerstand der Welt ist als das positive Zeichen, als die vom Gottesverhältnis her konstituierte 9

Die Kritik von K.E. L0gstrup an Kierkegaards Liebesbegriff in TL beruht im wesentlichen auf dem exegetischen Mißverständnis, daß für Kierkegaard der „wesentliche Widerstand" der Welt eine oder gar die einzige Konstitutionsbedingung der Nächstenliebe sei, s. Auseinandersetzung, 891, 94f. Im übrigen nimmt L0gstrup damit zugleich eine gehörige Reduktion vor: Für ihn liegt der Kern des Liebesbegriffes in dem Verhältnis von Liebe und Widerstand - dies aber wird fast ausschließlich in den beiden Komplexen aus 1,V und 2,X thematisiert (ferner noch in einigen Passagen von 7,111 A.); die Vielfalt der in TL vorgenommenen Beschreibungen, Phänomene und Definitionen wird reduziert auf die eine angeblich zentrale Vorstellung der Liebe als inszenierter Selbstverleugnung gegenüber der Welt. Dabei hat nicht einmal dieser Leitbegriff in allen Texten dieselbe Bedeutung: So ist etwa in 2,IV mit „Selbstverleugnung" kein Konflikt mit dem Geliebten oder gar der Welt gemeint, sondern die Verborgenheit des Helfers.

I. Die Liebe im Diskurs

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Bedeutung zu verstehen. Doch ist damit nicht der Begriff der Bedeutung aufgehoben? Wie kann der Widerstand der Welt zugleich eine negative Reaktion (Bedeutungslosigkeit) und ein positives Zeichen (Bedeutung) sein? Mir scheint, daß Kierkegaard eine Beschreibung gibt, die genau diese beiden Momente zusammenhalten soll: „Die Welt hat keine oder höchstens eine sehr entfernte FesttagsVorstellung davon, daß es ein Gottesverhältnis gebe, geschweige denn, daß es eines Menschen Leben tagtäglich bestimmen sollte deshalb muß sie derart urteilen. Das unsichtbare Gesetz für eines solchen Menschen Leben, für sein Leiden und für seine Seligkeit, ist für die Welt überhaupt nicht vorhanden: folglich muß sie ein solches Leben günstigstenfalls als Sonderbarkeit erklären, ebenso wie wir es ja als Irrsinn erklären, wenn ein Mensch sich in einem fort nach einem Vogel umblickt, den niemand von uns andern sehen kann, oder wenn ein Mensch tanzt - nach einer Musik, die zu hören keinem andern Menschen, selbst bei redlichstem Willen, möglich ist, oder wenn ein Mensch durch seinen Gang ausdrückt, daß er vom Wege abweicht wegen etwas - Unsichtbarem" (223f./195f.). In dieser Beschreibung haben wir beide Momente: Jemand handelt und drückt damit etwas aus, aber was er ausdrückt, und d.h. was hinter seinem Handeln steht, wird von den Anderen nicht verstanden. Tanzen ohne hörbare Musik - dies ist ein sehr eindrückliches Bild für diese Spannung. Die Handlung drückt in stärkster Expressivität etwas aus, aber die Anderen können darin keinerlei Bedeutung erkennen; sie sehen nur den Ausdruck, hören aber nicht das, was sich darin ausdrückt. Dieses Verborgene, Ungehörte ist das „unsichtbare Gesetz" des Handelnden. Dies aber ist Gott, denn „Gott [...] kann nur unsichtbar und unhörbar gegenwärtig sein" (ebd.). Der Widerstand der Welt, der formal ein Mißverstehen ist, ist also im ontologischen und bedeutungstheoretischen Sinne wesentlich: Gottes Unsichtbarkeit impliziert die weltliche Unverständlichkeit und Bedeutungslosigkeit derjenigen Handlung, für die das Gottesverhältnis bestimmend ist. Gleichzeitig aber hat die Handlung auch eine Bedeutung, nämlich vom Gottesverhältnis des Handelnden her und damit (nur) für ihn. Die Geltungslosigkeit („ohne Lohn") des Sprechens kann umgekehrt als Ausdruck für die Selbstmitteilung des unbedingten Gottesverhältnisses verstanden werden. Doch wird diese Selbstmitteilung offenbar nicht verstanden, zumindest nicht als eine Bedeutung innerhalb einer Sprachgemeinschaft: die Handlungspartner können keine Musik hören. Der Konflikt zwischen dem Sprecher der Liebe und der Gemeinschaft besteht darin, daß seine Handlung zugleich bedeutungslos (für die Anderen)

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

und bedeutungsvoll (für den Sprecher) ist. Man kann vielleicht auch von der Kollision verschiedener Geltungsbedingungen sprechen: der Differenz von immanenten und transzendenten oder eschatologischen Geltungsbedingungen. In einer weiteren Bildrede, die zugleich den Abschluß von 7,V bildet, vergleicht Kierkegaard den Konflikt mit einer Gruppe von Kindern: Unter ihnen ist eines, das strenge Eltern hat, und aufgrund dieser Erziehung nimmt es nicht an den frechen Streichen der anderen teil, was diese wiederum nicht verstehen können. Erneut streicht Kierkegaard damit die Unmöglichkeit des Verstehens heraus: „Wofern die Eltern [sc. des streng erzogenen Kindes] sichtbar zugegen wären, so daß die unartigen Kinder sie sähen, so könnten sie jenes Kind besser verstehen" (224/196). Nun ist es der elterliche „Maßstab" (ebd.), der verborgen ist und die Handlung unverständlich macht. Kierkegaard gebraucht dieses Bild durchaus auch zur Entschuldigung der Welt: Angesichts der Unsichtbarkeit des Maßstabes können die Kinder (Welt) das artige Kind überhaupt nicht verstehen, und das Mißverstehen kann man „deshalb keineswegs ohne weiteres Schadenfreude oder Bosheit von den weniger artigen Kindern nennen" (ebd.). Der Konflikt mit der Welt beruht nicht „ohne weiteres" auf einem bösen Willen, sondern ist zuerst als eine bestimmte Kommunikationsstruktur zu beschreiben: „Die Welt kann es überhaupt nicht in ihren Kopf bekommen [...]" (225/197). Diese Kommunikationsstruktur des Mißverstehen ist allerdings auch unvermeidbar, solange die Welt keine Vorstellung vom Gottesverhältnis hat (und darin schuldig ist). Damit haben wird den Konflikt in seiner diskursiven Form, d.h. in seiner Handlungsstruktur beschrieben. Diese Form läßt zwei verschiedene Interpretationen zu: a) die Handlung im Gottesverhältnis, d.h. die christliche Liebe, kann niemals von der Welt verstanden werden, sie hat innerhalb des Diskurses der Welt keine Bedeutung; in diesem Fall wäre der Diskurs beendet und der Konflikt als das Ziel und die innerweltliche Bedeutung der Liebe bestimmt; oder b) die Liebe konstituiert ihre Bedeutung ausschließlich aus sich selbst, d.h. aus dem Gottesverhältnis, damit aber negativ gegenüber der Welt; doch diese innerweltliche Negativität kann selbst Bedeutung innerhalb des Diskurses gewinnen: dann nämlich, wenn das „unsichtbare Gesetz" und der „Maßstab" offenbar werden, das bedeutet aber: in ihrer weltnegierenden Transzendenz offenbar und sichtbar werden. Der Konflikt könnte dann als ein auf Versöhnung ausgerichteter Dis-

I. Die Liebe im Diskurs

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kurs weitergedacht werden (s.o.), wenn es gelingt, die transzendente Negativität des Gottesverhältnisses als eine mögliche Bedeutung innerhalb des welthaften Diskurses zu beschreiben. Meine These ist, daß Kierkegaard eben dieses versucht, wenn auch nur sehr zögernd und andeutend, und zwar in der Rede über das Anpreisen (2,X).

3. Der erbauliche Klang des Fremden Die Rede 2,X mit dem Titel: "*Die Tat der Liebe, die Liebe anzupreisen" ist als ein zweifacher Argumentationsgang komponiert. Der erste Teil beschreibt die „Selbstverleugnung" als diejenige Form, in der das Anpreisen „nach innen hin" vollzogen wird (394ff./343ff.). Die zweite Argumentationsreihe verfolgt das Anpreisen in der Richtung „nach außen hin" in ihrer Transzendenz und arbeitet als wesentliche Bestimmung die „Uneigennützigkeit" heraus (400ff./348ff.). Selbstverleugnung und Uneigennützigkeit sind Formen des Gottesverhältnisses im Anpreisen und damit durch dieselbe Negativität gegenüber der Welt bestimmt, die wir oben bereits kennengelernt haben. Das Ziel der Rede ist es offenbar, beide Aspekte und Beschreibungsebenen in der Weise aufeinander zu beziehen, daß das Anpreisen als ein unbedingtes Entsprechungsverhältnis von innen und außen, von Inhalt und Form in der Perspektive des Gottesverhältnisses erkennbar wird10: Das Anpreisen der Liebe im Diskurs der Welt muß einerseits die Transzendenz des in der Liebe wirksamen Gottesverhältnisses gegenüber dem Diskurs ausdrücken, indem gezeigt wird, daß der Gegenstand des Anpreisens nicht von der Welt seine Bedeutung erhält, sondern allein durch sich selbst; dies wird in der Doppelmaxime ausgedrückt: „Der Redende muß sich selbst zu dem *Selbstliebenden [Selvkjerlige] machen, und der Inhalt der Rede muß die Liebe zu dem nichtliebenswerten Gegenstand sein" (406/353). Dies ist die bereits oben angetroffene notwendige „Lohnlosigkeit" des Sprechens, deren positive Umkehrung die absolute Selbstmitteilung des Gottesverhältnisses ist. Doch diese „äußere" Negativität wird nun andererseits auf

10

Daß das Verhältnis von Innen und Außen des Handelns von Kierkegaard als Entsprechungsverhältnis von Form und Inhalt des Sprechens gedacht wird, habe ich in den vorausgehenden Kapiteln zu zeigen versucht, vgl. zum Form-Inhalt-Schema LA, 64f. In komprimierter Form drückt es Anti-Climacus in der Einübung mit Bezug auf Christus aus: „Er steht zu seinem Wort, oder er ist selber sein Wort, er ist was er sagt [...]" (EC, 10).

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

die „innere" Negativität bezogen: auf die „Selbstverleugnung" als jenem Wandlungsprozeß, in dem die Selbstsucht „gebrochen" wird und Gott als die Lebenskraft des Subjekts erscheint (s. 395f./344f.) n . In diesem Prozeß der Selbstverleugnung wird das Subjekt gewissermaßen völlig leer, so daß es nun von Gott ausgefüllt und zu einem „Werkzeug [Redskab] für Gott" werden kann. Kierkegaard drückt dieses Verhältnis von Selbst und Gott in der Dialektik des Könnens aus: „ganz eigentlich und buchstäblich nichts zu vermögen, und dagegen in einem bestimmten uneigentlichen Sinne gleichsam alles zu vermögen" (398/346). Da es sich auch hierbei um den Fall des Anpreisens, also um eine Sprechhandlung handelt, kann man sagen: der Grund des Sprechens ist nicht mehr das Subjekt und seine Weltbezüge, sondern die Rede geht nun direkt vom Gottesverhältnis aus; in dieser Perspektive hat dann das Sprechen „seinen Lohn in sich selbst" (400/348). Kierkegaards Ausführungen zu dieser „Selbstverleugnung" sind im einzelnen nicht immer ganz klar. Doch woraus es mir hier ankommt, ist der fundamentale Zusammenhang mit der äußeren „Uneigennützigkeit": So wie das Gottesverhältnis in der Form der Selbstverleugnung der Grund und die Voraussetzung für die Realisierung der Uneigennützigkeit ist (denn allein im völligen Leer-Werden des Subjekts vor Gott verliert die Welt die Funktion, einen das Sprechenkönnen des Subjekts ermöglichenden Bezug zu geben), so ist auch umgekehrt die Uneigennützigkeit der wesentliche äußere Ausdruck dieses Gottesverhältnisses. Die Auslegung des Gottesverhältnis „nach innen" läßt den Hintergrund des uneigennützig-lohnlosen Sprechens über die Liebe aufleuchten und erklingen. Und zugleich wird in der Form der Selbstverleugnung der stumme Hintergrund selbst, das „unsichtbare Gesetz" zu einer klingenden und sprechenden Form, denn das Sprechenkönnen des Subjekts ist nun bezogen auf das Sprechen Gottes. Damit aber ist Kierkegaard einen entscheidenden Schritt über die in 7,V entwickelte Konfliktlage hinausgegangen. Dort war die Erörterung bei der Unsichtbarkeit der Handlungsregel („Maßstab") stehengeblieben. Mit dem jetzt entwickelten Modell des Anpreisens wird es demgegenüber möglich, von der diskursiven Sichtbarkeit der Regel zu sprechen. Die Uneigennützigkeit in bezug auf Gegenstand und Sprecher wird verstehbar als der wesenhafte Ausdruck der Regel, also als direkter Ausdruck des Gottesverhältnisses. Auch dieser Aus-

11

Vgl. S. Ake, Heurisitc Values.

I. Die Liebe im Diskurs

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druck ist negativ, insofern als er der Welt jede bedeutungskonstituierende Leistung für sich selbst abspricht; Bedeutung erhält das Sprechen über die Liebe allein durch seinen eigenen Grund, nicht durch welthafte Referenz oder Wahrheitsbedingungen. Doch ist diese Negativität nun nicht mehr primär an der Reaktion der Welt ausgewiesen, sondern die Verbindung mit der Innenperspektive des Handelnden erweist sie als wesentlich durch die Handlung und das dieser Handlung zugrundeliegende Gottesverhältnis selbst gesetzt. Das Anpreisen der Liebe konstituiert keine innerweltliche Bedeutung, sofern diese durch welthafte Referenz bedingt ist; aber diese Nicht-Bedeutung ist nicht durch die Welt, sondern durch die Sprechhandlung selbst gesetzt, und das ist dann wiederum eine Bedeutung, die sie innerhalb der Welt (des Diskurses) setzt. Die Uneigennützigkeit drückt in ihrer Negativität die unbedingte Transzendenz der Liebe aus (das Gottesverhältnis in Selbstverleugnung), aber als leibgebundener Ausdruck steht sie eben innerhalb des Diskurses und drückt insofern diese Transzendenz flir andere aus. Durch den Verweis auf die Innerlichkeit, die dem Ausdruck zugrundeliegt, wird das Verstehen des Ausdrucks möglich: die Negativität ist nicht mehr bloße Unverständlichkeit, sondern kann als Transzendenz verstanden werden. Das absolut Neue erscheint im Alten. Die Form des Sprechens und der Sprecher in seiner leiblichen Existenz sind das gültige Zeichen der Liebe, das die Transzendenz dieser Liebe expressiv darstellt: So ist der Sprecher der Liebe jemand, „der, ohne von andern etwas zu fordern, dadurch, daß er streng und im Ernst von sich selbst viel fordert, doch daran erinnert, daß es eine solche Forderung gibt" (405/352)12. Ob dieser Ausdruck tatsächlich

12

Die semiotische Bedeutung des Handelnden als eines existenziellen Zeichens wird in der Einübung in christologischer Perspektive weiterentwickelt, vgl. EC, 118ff. Auch der Begriff des „Wahrheitszeugen" gehört hierher, der von 1848 an in Kierkegaards Texten wichtig wird und der ebenfalls durch die expressive Entsprechung von Form und Inhalt bestimmt ist, nun aber als ethisches Verhältnis von Wort und Tat: „Nein, bei einem 'Wahrheitszeugen' muß ethisch gesehen werden auf das persönliche Existieren in seinem Verhältnis zum Gesagten, ob das persönliche Existieren das Gesagte ausdrückt [...]" (WS1, 114), vgl. ferner Pap. X 2 A 157,557; 3 A 59. Zugleich findet damit aber eine Akzentverschiebung gegenüber dem „Anpreisen" statt: Beim Wahrheitszeugen kommt es Kierkegaard auf die Übereinstimmung von Sprechen (Bezeugen) und der sich daran anschließenden Handlung an, während das Bezeugte und Bezeichnete (die „Wahrheit") damit nicht als solche erfaßt ist; dies aber gerade ist das Eigentümliche des Anpreisens: das Anpreisen ist eine Existenzform, in der Sprechen und Handeln zusammengedacht sind, dies aber gerade dadurch, daß sie expressiv auf jene Innerlichkeit verweist, die sie mitteilt. Das An-

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

von den Diskursteilnehmern verstanden wird, ist für unsere Frage nicht entscheidend; entscheidend ist, daß die diskursive Möglichkeit zum Verstehen des Anpreisens, das Erinnert-Werden, gegeben ist, und dies ist erst dadurch der Fall, daß die äußere Form (Uneigennützigkeit) an einen inneren Grund gebunden wird, der im Äußeren zum Ausdruck kommt. Damit ist das Sprechen über die Liebe über die Unsichtbarkeit der eigenen Regel hinausgekommen und erweist sich als ein diskursives Sprechen, in dem ein Sprecher derart innerhalb einer Sprachgemeinschaft spricht, daß er etwas für andere auf eine solche Weise sichtbar macht, daß sie darauf reagieren können. Was hier sichtbar wird, ist die Liebe als ein „Drittes". Erst damit ist auch die Freiheit der Anderen gewahrt, denn nun stehen diese nicht mehr einer stummen Leere gegenüber, sondern können sich zu dem verhalten, was ihnen in der Äußerung des Sprechers als Telos ihres eigenen Lebens gegenübertritt. Ich habe versucht, Kierkegaards Schilderung des Konflikts auf seine formalen Voraussetzungen und Implikationen zu befragen. Danach ist der Streit zwischen dem Sprecher der Liebe und der Welt im wesentlichen als Diskurs über die Bedeutung („Forestilling") des Wortes „Liebe" zu verstehen. Das Anpreisen erweist sich als eine Sprachform, in der die diskursive Bedeutung von Liebe expressiv, d.h. in reiner Selbstreferenz und ohne Verweis auf externe Wahrheitsbedingungen konstituiert wird. Erst auf dem Umweg über diese formale Rekonstruktion scheint es mir möglich zu sein, auch die inhaltlichen Akzente zu verstehen, die Kierkegaard mit dieser Diskussion setzt. Das inhaltliche Problem des Sprechens über die Liebe besteht darin, daß er zu seiner Mitwelt über einen Gegenstand sprechen muß, für den diese Welt in ihrer geschichtlich-kulturellen Konkretion keine Begriffe hat; dies war zumindest die polemische These, die Kierkegaard in der vorausgehenden Analyse des Liebesbegriffes zu belegen preisen ist streng vom Bezeichneten her gedacht. Die Begriffe des Bezeugens und Bekennens stehen im Zentrum der theologischen Handlungstheorie von E. Arens, allerdings ohne Bezugnahme auf Kierkegaard, vgl. Christopraxis, 131ff. Dabei zeigt Arens' Begriff des „Bezeugens", insbesondere der des „pathischen Bezeugens" (ebd. 136ff.), gewisse Ähnlichkeiten zu Kierkegaards Terminus „Anpreisen". Im Unterschied zum Begriff des Anpreisens umgeht Arens allerdings das entscheidende Problem der Geltung: Die Differenz von immanenten und expressiv-eschatologischen Geltungsbedingungen, die für Kierkegaard entscheidend ist, spielt bei ihm keine Rolle. Dies führt dann dazu, daß er die verschiedenen Formen des Bekennens und Bezeugens in der Manier eines 'Praxispositivismus' klassifiziert, die die Möglichkeit, daß diese Sprachhandlungen u.U. nicht anerkannt werden, gar nicht erst erwähnt, geschweige denn bearbeitet.

I. Die Liebe im Diskurs

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versucht hatte. Andererseits handelt es sich um einen Gegenstand, der unbedingt zur geschöpflichen Welt dazugehört; denn diese geschöpfliche Welt ist das Werk und der Ort der Liebe (s. 6/10). Kierkegaards Lösung des Problems scheint nun darin zu bestehen, daß das geschichtlich-kulturell verortete Sprechen über die Liebe die unbedingte Fremdheit der Liebe gegenüber den kulturell („weltlich") dominanten Begriffen festhält, zugleich aber die Geschöpflichkeit der Liebe achtet und an ihr seine Sprachform orientiert. Diese Geschöpflichkeit besteht darin, daß Liebe „alle Verschiedenheit überwindet" (393/342), und das bedeutet für Kierkegaard zunächst, daß alle Menschen die Liebe anpreisen können (ebd.). Das bedeutet aber auch - und hierin gehe ich mit Kierkegaard über den Wortlaut hinaus - daß das Anpreisen sich an alle Menschen richtet. „Eben deshalb ist es so erbaulich [opbyggeligt], über die Liebe zu sprechen, weil man beständig bedenken und zu sich selbst sagen muß: ,Das kann jeder, oder das sollte jeder können',, (ebd.). Die Erbaulichkeit dieses allgemeinen Könnens macht alle Menschen zu Sprechern, damit aber auch zu Hörern. Im Anpreisen und für den Anpreisenden werden alle Menschen zu einer Sprachgemeinschaft der Liebe. Noch einmal ist also das reziproke Lieben-Können die Leitfigur des von TL beschriebenen Handelns, nun auch auf der diskursiven Ebene der Darstellung. Dieser Aspekt einer Gemeinschaft von Sprechenden geht in Kierkegaards Darstellungen des Konfliktes und seiner Polemik gegen die Mitwelt scheinbar verloren. Es war die Absicht meiner Rekonstruktion zu zeigen, daß auch der Konflikt noch als ein Diskurs zu verstehen ist, und zwar als ein Diskurs, der auf gegenseitiges Verstehen und damit auf Versöhnung zielt. Dazu bedarf es einer Sprachform, die die unbedingte Fremdheit der Liebe innerhalb einer Sprachgemeinschaft und für sie auszudrücken vermag. In dieser Sprachform muß die geschöpfliche und deshalb erbauliche Allgemeinheit zum Ausdruck kommen, welche die Grundlage des Sprechens ist. Dies ist die unbedingte Allgemeinheit des Gottesverhältnisses. Das expressive Verständnis des Anpreisens, in dem das Verhältnis von äußerer Form und innerem Grund als Ausdrucksgestalt und als Faktor einer Bedeutungsstiftung verstanden werden kann, ermöglicht es so, in der Konfliktsituation die versöhnende Perspektive zur Geltung zu bringen: daß der Sprecher, der die Liebe anpreist, alle versöhnt „in der Gemeinschaft des Höchsten" (400/348). In dieser Perspektive wird deutlich, daß der Konflikt zwischen dem Sprecher der Liebe und der Sprachgemeinschaft nicht der unvermittelte Zusammenstoß zweier

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

Welten und ihrer nicht-kompatiblen Begriffe ist, sondern als diejenige unvermeidbare Diskursform zu verstehen ist, in welcher allein die schöpferische Liebe Bedeutung erhalten und verstanden werden kann13. Unvermeidbar ist der Konflikt, weil das im Anpreisen Dargestellte die eschatologische Qualität des Neuen hat, das sich auf keine weltliche Bestimmung berufen kann. Der Grund des Konfliktes aber ist die schöpferische Kommunikation von Versöhnung, die innerhalb der geschaffenen und sündigen Welt stattfindet, weil sie für sie stattfindet.

13

M. Westphal, Commanded Love behauptet einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen einer auf Verständigung zielenden Diskurstheorie a'la Habermas und der in TL dargelegten Auffassung eines transzendenten, heteronomen göttlichen Willens. Doch begeht Westphal m.E. darin einen Trugschluß, daß er aus der geschichtsphilosophischen Anfechtbarkeit der Habermas'schen These von der Versprachlichung des Heiligen (die Westphal mit Anleihen bei einer postmodernen Vernunftskepsis kritisiert) auf eine prinzipielle Unvereinbarkeit von religiöser Transzendenz und diskursiv-sprachlicher Immanenz schließt. Denn erstens miißte er zeigen, wie die von Kierkegaard aufgerufene göttliche Autorität auf eine nicht-sprachliche Weise für die Gemeinschaft und (!) den Einzelnen verfügbar wäre; Westphals Bemerkung, „God cannot just be another member of the speech community" (ebd. 20) kann ja gleichermaßen als Argument gegen die Diskurstheorie wie gegen den Gottesbegriff vorgebracht werden. Zweitens ist es durchaus möglich, die sprachliche und zugleich intersubjektive Struktur der göttlichen Liebe bei Kierkegaard aufzuzeigen, ohne auf Habermas' Sprachbegriff rekurrieren zu müssen; dies habe ich mit mittels der expressiven Bedeutungstheorie Taylors versucht. Mit diesem Sprachbegriff kann die jeweilige Äußerung der Liebe als eine sprachliche Bedeutung verstanden werden, die nicht durch Verweis auf immanente Tatsachen (Meinungen) Geltung findet, sondern durch ihre eigene Gestalt sich selbst unter den Sprechern erst geltend macht. Auf diese Weise wird es möglich, zwischen der sprachlichen Gestalt der Liebe und ihrer faktischen diskursiven Geltung zu unterscheiden, insofern diese Geltung in der Anerkennung durch die Sprecher bzw. Hörer liegt. Eben diese Differenz wird in der Einübung festgehalten: nämlich die Einsicht, „daß es des Christentums Wille war und ist, an alle verkündigt zu werden, jedoch keineswegs, daß es die Meinung des Christentums sei, alle würden es annehmen" (EC, 214)

II. Handlung und Gottesbegriff

1. Teleologische Bestimmtheit und reflexive Subjektivität Die Rekonstruktion des Handlungsbegriffes in TL hatte sich bis jetzt stets auf die Liebe als eine bestimmte Handlungsform bezogen. Handeln war dabei als die Äußerungsform und Gestaltung einer personalen Beziehung und einer damit jeweils schon gesetzten Intentionalität, eben der Liebe, beschrieben worden. Die Begriffe Intentionalität und Relationalität standen gleichermaßen für die vorgängige Bestimmtheit des Handelns, die jeder Selbstbestimmung des Subjekts zuvorkommt. Der einzelne findet sich immer schon in personalen Beziehungen vor. Die Rekonstruktion hatte entsprechend, und darin Kierkegaards „relationstheoretischem" Ansatz folgend, die Form einer Phänomenologie der diesen Beziehungen entsprechenden Intentionalität angenommen: die Beschreibung der Handlungsformen, in denen sich eine bestimmte Intentionalität selbst zu erkennen gibt und so beschreibbar wird. Bei diesem Vorgehen wird jedoch die konstitutionstheoretische Frage konsequent ausgelassen: Das kontingente Faktum der Liebe ist für die Phänomenologie kein Thema theoretischer Explikation, sondern ist ihre eigene „unergründliche" Voraussetzung (vgl. das Bildwort vom Quellgrund: llf./15). Dies spiegelte sich wieder in Kierkegaards expressivem Handlungsverständnis, in dem menschliches Liebeshandeln als Selbstausdruck ewiger Liebe gedacht wird. Doch so entscheidend der methodische Ansatz bei einer kontingent-uneinholbaren Bestimmtheit der Intentionalität für die adäquate Beschreibung des Liebeshandelns ist, so wenig kann die handlungstheoretische und ethische Reflexion hierbei stehenbleiben, denn: Wie ist jene uneinholbare Bestimmtheit der Intentionalität Liebe mit dem ethischen Anspruch auf Selbstbestimmtheit und Verantwortlichkeit zu vermitteln? Ist hier das endliche Handlungssubjekt noch Subjekt seiner eigenen Handlungsintentionalität, oder ist er nur das hilflose Vehikel für den Selbstausdruck einer übergeordneten, ewigen Instanz? Handlungstheoretisch stellt sich die Frage, wie eine solche bestimmte Phänomenologie noch mit den Erscheinungsformen anderer Intentionalitäten vermittelbar ist; etwa mit dem Fall des

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

nicht-liebenden Handelns. Dieser Fall des Scheiterns und der Negation der Liebe war im gesamten Buch beständig gegenwärtig, nämlich als die Negativfolie der gelingenden, christlichen Liebe, und man wird wohl sagen können, daß nach Kierkegaard die Gesamtheit des sozialen Handelns in die Alternative von Liebe und Nicht-Liebe eingezeichnet werden kann. Doch wie ist dieses Verhältnis positiv, d.h. jenseits eines bloßen gegenseitigen Ausschließens zu denken? Und wie kommt in diesem Verhältnis der jeweils Handelnde zu stehen; wie läßt sich die unbedingte Alternative, oder auch die absolute Bestimmtheit des individuellen Lebens durch die Liebe mit der subjektiven Selbsterfahrung dieses Handelnden vermitteln, der sich als Handelnder beständig der Möglichkeit des Nichtliebens und damit der Wahl ausgesetzt sieht? Nun lautet die handlungstheoretische Frage also: Wie kann die subjektiv uneinholbare intentionale Bestimmtheit des Handelns durch die Liebe mit der subjektiven Notwendigkeit ethischer Reflexion und verantwortlicher Wahl vermittelt werden? Welcher Begriff von Subjektivität läßt sich in den bisher beschriebenen Modell eines teleologisch bestimmten Handelns einzeichnen? Diese Frageform läßt das Problem als eine Variante der Verhältnisbestimmung von Moralität und Sittlichkeit erscheinen1. Eine Auseinandersetzung Kierkegaards mit der Problematik findet, so scheint mir, im Abschlußkapitel von TL („Schluß") statt. Hier thematisiert er nämlich das Verhältnis der in TL durchgeführten Beschreibung der Liebe (dieses Beschreiben bezeichnet er nun retrospektiv als „Anpreisen" (411/357)) zu der Selbsterfahrung endlicher Subjekte, die sich als unvollkommen in bezug auf diese ideale Liebe wissen. Es geht Kierkegaard darum, wie die Phänomenologie der Liebe, das Bild des wirklichen Handelns einer bestimmten Intentionalität, mit der endlichen und unvollkommenen Wirklichkeit endlicher Handlungssubjekte vermittelt werden kann. Denn ist nicht das in TL gezeichnete Bild der Liebe dem Vorwurf ausgesetzt, daß es die realisti1

Zu dieser durch die Kantkritik Hegels gestellte und im Streit von Diskursethik und Neoaristotelismus erneuerte Debatte vgl. W. Kuhlmann, Moralität. In der hier von mir formulierten Kierkegaardschen Variante nimmt die Liebe den Platz der sittlich-sozialen Welt ein, ohne allerdings die geschichtliche Konkretion und Breite zu beanspruchen, die bei Hegel damit verbunden ist. Doch wie unsere Rekonstruktion gezeigt hat, folgt Kierkegaards Liebesbegriff derselben Thematik wie die Hegelsche Sittlichkeit, allerdings auf einer anderen, vorinstitutionellen Ebene: der leiblichen Verflochtenheit des Handelnden in ein Handlungsgefüge von intersubjektiven Beziehungen, die durch eine vorgängige Geschichte bestimmt sind.

II. Handlung und Gottesbegriff

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sehen Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten menschlicher Subjekte völlig übersteigt? Eine mögliche Antwort könnte zunächst darin bestehen, dieses Problem als das Verhältnis von Idealität und Realität zu begreifen, das sich in der Erfahrung des Sollens ausdrückt: das Ideale (die Liebe) wird als die Forderung erkannt, die erfüllt werden soll. Doch reicht diese Beschreibung noch nicht aus, da sie offen ist für ein doppeltes Mißverständnis: Einerseits wäre nicht geklärt, warum nun gerade diese kontingente Forderung an den Handelnden gestellt werden könnte, und die Gefahr der Heteronomie wäre gegeben. Andererseits könnte die subjektiv-reflexive Erfahrung des Sollens als autonome Selbstbestimmung und damit als der verallgemeinerungsfähige, formal beschreibbare Akt verstanden werden, in dem der Handelnde sich jenseits kontingenter Bestimmungen stellt, auch dann noch, wenn er die Forderung nicht umsetzen kann; damit aber wäre auch die zentrale Bedeutung der intentionalen Bestimmtheit für das Handeln grundsätzlich eliminiert. Der (kantianische) Gegensatz von Idealität und Realität genügt also nicht als Problembeschreibung, sondern muß erweitert werden um die Frage nach der Vermittlung von teleologischer

Bestimmtheit

und reflexiver Subjektivität.

Es geht

darum, wie der intentional Handelnde, der sich als solcher immer als auf eine andere Person ausgerichtet vorfindet, zugleich als Subjekt seiner Handlung gedacht werden kann. Worum es bei dieser Vermittlung von Teleologie und Reflexivität geht, ist nichts weniger als die Begründung eines für die Theoriegestalt des ganzen Buches entscheidenden Grundgedankens: die Rechtfertigung des von mir so genannten „relationstheoretischen" Ansatzes, der den Handlungsbegriff vom Verhältnis der Handelnden aus denkt. Dieser Ansatz muß nun abschließend auf das Interesse der subjektivitätstheoretischen Fragestellung bezogen werden und sich ihr gegenüber ausweisen. Daß es sich bei Kierkegaard um eben die genannte Vermittlungsaufgabe handelt, läßt sich daran sehen, wie er anhand der johanneischen Aufforderung „Ihr Lieben, laßt uns untereinander lieben" (1. Joh 4,7) die Rede einleitet: Diese Aufforderung stellt in ihrer sprachlichen Form eine spezifische Verbindung des subjektiv-reflexiven Elementes mit dem einer unhintergehbaren teleologischen Bestimmtheit dar: Der Sollenscharakter ist stark abgemildert und nur noch angedeutet, und zwar aufgrund der subjektiv einsehbaren Geltung und Selbstevidenz des Gesollten. „Das Gebot sagt, du sollest lieben, o, aber wenn du dich selbst und das Leben verstehen willst, dann ist es

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

ja, als solle der Befehl nicht nötig sein; denn die Liebe zu den Menschen ist doch das einzige, wofür zu leben sich lohnt, ohne diese Liebe lebst du eigentlich nicht" (411/357). Die Liebe erscheint hier als der immanente Grund und das Ziel des guten, gelingenden Lebens; dieses Telos muß subjektiv angeeignet werden. Die Liebe und die sprachliche Form des Gebotes, die Bestimmtheit und das subjektive Verstehen verhalten sich zueinander wie das Uralt-Bekannte und dessen je neue sprachliche Aktualisierung und Aneignung: „das Liebesgebot ist das alte Gebot, das immer neu wird" (ebd.). So ist in diesem Fall die vorgängige Handlungsbestimmung völlig mit dem ethisch-subjektiven Selbstverstehen vermittelt: der Handelnde versteht sich selbst, indem er das Gelingen seines Lebens im Horizont der Liebe versteht. Allerdings ist damit nur der Ausnahmefall des Apostels, der in der Liebe Vollkommenheit erreicht hat, beschrieben, nicht aber die Situation derer, die nur unvollkommen zu lieben vermögen, also die Situation des Autors und seiner Leser. Das Beispiel der apostolischen Redeweise dient als Leitbild, nicht aber als Lösung der Aufgabe. Der Gegensatz von Idealität und Realität bleibt bestehen, doch ist mit dem Leitbild die hermeneutische Aufgabe dieses Gegensatzes klarer erfaßt: Es ist diejenige Beschreibungsform zu finden, in welcher das in der Spannung von bestimmter Idealität und Realität erfahrene Sollen zugleich die Form eines angemessenen subjektiven Selbstverstehens des Handelnden hat; das subjektiv erfahrene Sollen ist so zu beschreiben, daß es als Vermittlung von Bestimmtheit und Subjektivität erscheinen kann 2 . Umgekehrt muß von der Beschreibung des Handelnden aus die Behauptung verteidigt werden können, daß die Liebe für das Gelingen des Lebens von zentraler Bedeutung ist. Die Orientierung am Gelingen des einzelnen Lebens, also das Selbstverhältnis des Handelnden, wird zum Prüfstein der Liebe. Es ist m.a.W. die Ausgangsthese, mit der TL auf der ersten Seite einsetzt, die nun einsichtig werden muß: „Sich selbst um die Liebe zu betrügen, ist das Entsetzlichste, ist ein ewiger Verlust, für den es keine Erstattung gibt, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit" (8/11). Der Kreis der Erwägungen schließt sich hier.

2

Der Akzent in dieser Aufgabenstellung liegt also darauf, die geforderte Idealität als bestimmte Forderung zu verstehen: nicht als irgendeine Forderung, sondern als Forderung der Liebe. Diesen Akzent hat die Dialektik von Idealität und Realität in der existenzdialektischen Darstellung noch nicht; dort wird Idealität als formale Kategorie, d.h. inhaltlich offen verstanden, vgl. H. Fahrenbach, Ethik, bes. 103ff.

II. Handlung und Gottesbegriff

467

Kierkegaard findet die gesuchte Beschreibungsform zunächst im Begriff des Gewissens. Das Gewissen ist diejenige Instanz, in der die „Erziehung" des Individuums durch Gott stattfindet: „Im Gewissen blickt Gott auf den Menschen, so daß der Mensch nun in allem auf ihn blicken muß. Dergestalt erzieht Gott" (413/359). Dieser lebenslange Erziehungsprozeß ist als die Vermittlung von teleologischer Bestimmtheit und subjektivem Selbstverhältnis zu verstehen, insofern die von Gott gesetzte Bestimmtheit sich im Subjekt als dessen eigene, subjektive Vollendung entfaltet. Kierkegaards Orientierung am Gewissen folgt exakt der Logik der eingangs entwickelten Aufgabenstellung, wie ein Vergleich mit Hegels Gewissensbegriff zeigt: Hegel versteht das Gewissen nämlich als genau jenes Phänomen, das den Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit markiert, und dies so, daß in ihm das Sittliche als allgemeines Gutes bereits vorhanden ist, aber noch ohne dessen „objektiven Inhalt" 3 . Kierkegaard stellt den Gewissensbegriff an dieselbe systematische Stelle: zwischen Selbstbestimmung und vorgängiger Bestimmtheit. Doch ist mit dem Gewissensbegriff zunächst nur der Rahmen zur Beantwortung der Frage vorgezeichnet. Entscheidend ist nun, wie solche Erziehung, solche Entfaltung der Bestimmtheit im subjektivem Leben zu denken ist. Meine These, die im folgenden ausgeführt werden soll, lautet, daß Kierkegaard in der Beantwortung dieser Frage nicht subjektivitätstheoretisch, sondern handlungstheoretisch vorgeht, und zwar mit Hilfe des Gewissensbegriffs4. Er versucht, den Vorgang der Erziehung im Gewissen durchsichtig zu machen durch eine erneute, diesmal vom Liebesbegriff zunächst absehende, allgemein-kategoriale Beschreibung des Handelns. Dabei spielt nun der Gottesbegriff eine entscheidende Rolle, durch ihn wird die besondere Form des zu untersuchenden welthaft-leiblichen Handelns eines Individuums bestimmt: „in allem mit Gott zu tun zu haben" (413/359). Die teleologi3

4

G.W.F. Hegel, Rechtsphilosophie §137 (S.122); vgl. S. Hübsch, Gewissen, 112-134. Entgegen der Tendenz, Hegels Gewissensbegriff einseitig im Lichte seiner Kantkritik zu lesen und entsprechend abzuwerten, deckt Hübsch die positive Bedeutung auf, die der Gewissensbegriff für Hegels praktische Philosophie und insbesondere für das Verhältnis von moralischer Subjektivität und sittlichem Sein hat. Kierkegaard selbst interpretiert Hegels Gewissenstheorie einseitig: als Verteuflung des Gewissens und Vergötterung des „Bestehenden", s. EC, 81f. Für einen Versuch, Kierkegaards „kantinanische" Ethik der Beichtrede (ERG, 11-160) im Licht der Differenz von Kant und Hegel zu verstehen, s. A. Hannay, Kierkegaard, 231-240. Zu Kierkegaards Gewissensbegriff vgl. A. Gr0n, Subjektivitet, 190ff. Zur fundamentalen Differenz von Selbstbewußtsein und Gewissen s. Pap. VII 1 A 10/72, 29.

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

sehe Bestimmtheit, die eingangs über den Liebesbegriff formuliert worden war, wird nun durch den Gottesbegriff eingeholt. Die allgemeine Struktur des Handelns in diesem Horizont des Gewissens bringt Kierkegaard auf die Formel: „das christliche gleich um gleich [Lige for Lige], das gleich um gleich der Ewigkeit" (412/358). Diesem religionsphilosophischem Handlungsbegriff möchte ich in dem abschließenden Kapitel in Hinblick auf die genannte systematische Aufgabenstellung nachgehen.

2. Gott als Wiederholung (religionsphilosophischer Handlungsbegriff) a) „Gleich um gleich" Was ist nun mit dem „christlichen gleich um gleich" gemeint? Kierkegaard erläutert den Begriff an drei Beispielen, die er dem Neuen Testament entnimmt. Wie sich zeigen wird, handelt es sich dabei um jeweils einzelne Sätze, die als elementare Handlungsbeschreibungen verstanden werden können, d.h. es sind Sätze, die eine Handlung in einer Weise benennen, die nicht die „äußeren" von den „inneren" Ereignissen trennen muß5; man kann die Sätze als Formulierung einer die Handlung als ganze beschreibenden Intentionalität, die kognitive, volitive und affektive Elemente gleichermaßen umfaßt, verstehen. Die Verwendung solcher Handlungssätze bedeutet, daß Handlungen hier ganz im Medium des Empirischen und Ereignishaften zur Sprache kommen, und zwar deshalb, weil dies das Medium des eigentümlichen Austausches ist, um den es bei dem angesprochenen Gleich-um-Gleich geht: des Austausches von Tün und Erfahren, von Geben und Empfangen. Daß Handeln durch einen solchen Austausch und die genaue Entsprechung beider Momente bestimmt ist, ist das Gesetz, das mit dem Gleich-um-Gleich formuliert werden soll. Dadurch ist bereits ein zentrales handlungstheoretisches Motiv des 5

Zum Begriff des Handlungssatzes und der logischen Problematik von Handlungssätzen vgl. D. Davidson, Logical Form. Davidson zeigt, daß Handlungssätze im Kern Beschreibungen von Ereignissen sind, und daß nur eine bestimmte Klasse dieser Beschreibungen auch das Ereignis mit Handlungsintention versieht (s. ebd. 120£). Wir werden sehen, daß auch die von Kierkegaard angeführten biblischen Handlungssätze den Ereignischarakter des Handelns in besonderer Weise herausstellen und die Bedeutung der subjektiven Intentionalität erst im Zusammenhang hiermit entfaltet wird.

II. Handlung und Gottesbegriff

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vorher entwickelten Liebesbegriffs aufgenommen: Handlungen sind innerhalb eines Mediums, einer leiblichen Kommunikation zu beschreiben, nicht aber als bloß monologische Akte. Ebenso ist nun auch die verantwortlich handelnde Subjektivität innerhalb eines Kommunikationsmediums zu beschreiben. Diese vorauseilenden Bemerkungen können jedoch erst einsichtig werden, wenn im folgenden klar wird, was mit jenem Austausch von gleich und gleich gemeint ist. Der erste biblische Handlungssatz ist Jesu Antwort an den römischen Hauptmann: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast" (Mt 8, 13, s. 414/360). Kierkegaard interpretiert diese Aussage dahingehend, daß ein erhofftes Ereignis völlig jener intentionalen Handlung entspricht, in welcher es glaubend erhofft wird. Er bezieht den Satz dabei ausschließlich auf den religiösen Glaubensbegriff, d.h. die Hoffnung auf Erlösung im Glauben an das Evangelium. Die Entsprechung von Glaube und Geschehen macht es möglich, den Glauben an das Evangelium als eine Struktur von absoluter Selbstbezogenheit zu denken, die in Absehung von jeder externen und vom Glauben selbst unabhängigen Größe zu beschreiben ist. So wird das erhoffte Evangelium nicht durch den objektiven Vollzug der Taufe oder des Abendmahls zu einem Geschehen für den Einzelnen, sondern allein durch seinen Glauben an die Erlösung, die ihm in Taufe und Abendmahl begegnet. Das Geglaubte ist vollständig durch die Handlung des Glaubens qualifiziert, objektive Daten haben keine Bedeutung. „Der Hauptmann, obwohl nicht getauft, hat geglaubt; deshalb ist ihm geschehen, wie er geglaubt hat, erst mit seinem Glauben ist das Evangelium ein Evangelium" (ebd.). Das Gleich-um-Gleich der Entsprechung von Glauben und Geschehen legt den Glauben als eine Intentionalität aus, die in absoluter Selbstreferenz auf sein intentionales Objekt (das erhoffte „Geschehen") bezogen ist. Mein Begriff der Selbstreferenz soll besagen, daß die Relation zum intentionalen Gegenstand unterschieden ist von allen anderen Relationen des Handelnden zu seiner Umwelt: der Gegenstand kann gar nicht losgelöst von der auf ihn gerichteten Intentionalität gedacht werden. Intentionalität und Objekt bilden so ein Verhältnis, das „nicht auf eine äußere Weise" zustande kommt, sondern allein durch das Absolute und Unvermittelte, sich unbedingt selbst Vermittelnde: „in jedem Augenblick [...] mit Gottes Hilfe" (416/361). Die radikale Negation aller externen Bezüge für die Konstitution des Glaubens schließt die Begründung des Glaubens durch Gott ein; denn Gott ist das, was nicht durch Anderes, sondern allein durch sich selbst ist. Im Glauben bestimmen sich Tun und Geschehen gegenseitig, Intentionalität und Objekt bilden eine untrennbare Ein-

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

heit und damit zugleich die zwei Momente, durch welche die Handlung erst vollständig beschrieben ist als eine in sich differenzierte Einheit. Diese Einheit ist darin, daß sie alle welthaften Vermittlungsbezüge ausschließt, zugleich als die Selbstvermittlung eines Absoluten, das sich in eben dieser subjektiven Handlung zum Ausdruck bringt, zu verstehen; die subjektiv verantwortete Handlung (das Glauben) hat, insofern sie in der Struktur des Gleich-um-Gleich beschrieben werden kann, die Form des Ewigen. Dabei ist zu beachten, daß Glauben hier von Kierkegaard ausdrücklich als eine weltbezogene Handlung gedacht wird: Gott hat nicht die Stellung des Geglaubten (intentionales Objekt), sondern ist der Grund oder die Ermöglichung des Glaubens, der eine welthaft-leibliche Erlösung erhofft. Die Handlung des Glaubens kann jedoch durch die Struktur der absoluten Selbstvermittlung kategorial bestimmt und von allen anderen Weltbezügen unterschieden werden: Glauben ist diejenige Bezogenheit auf ein Objekt, die jede objektiv-welthafte Konstitution dieses Objekts ausschließt. Doch was bedeutet diese Struktur nun in Hinsicht auf den Handelnden? Mit der Struktur der absoluten Selbstvermittlung wird erst verständlich, inwiefern die Handlung des Glaubens ein leibliches Gleich-um-Gleich beschreibt; dies läßt sich sprachanalytisch ausdrükken: Der propositionale Gehalt ρ eines intentionalen Handlungssatzes „ich glaube daß p" ist zugleich eine Aussage über den Sprecher selbst; der Sprecher ist wesentlich durch das qualifiziert, was er als Gegenstand seines Handelns ausssagt. Darin, wie er an die Erlösung glaubt, macht der Handelnde etwas mit sich selbst. Seine Handlung, sei es die des Glaubens oder des Zweifeins, enthält jedesmal ein „Urteil über ihn" (415/360). Und eben auf diesen Charakter der Handlung als Aussage kommt es Kierkegaard, wie wir sehen werden, besonders an. Im Glauben ist das Gleich-um-Gleich ein Austausch mit dem Gesamtentwurf eines individuellen Lebens, eine Kommunikation im Selbstverhältnis; für diese Kommunikation steht das Element des Geschehens oder Widerfahrens. Daß es Kierkegaard aber ebenso um die intersubjektive Kommunikation geht, zeigt sein zweites Beispiel, eine Auslegung der jesuanischen Forderung „vergebet, so wird euch auch vergeben" (Mt 6,14, s. 416/361). Hier handelt es sich um eine Imperativische Redeweise, doch Kierkegaard kommt es erneut auf die darin ausgesprochene ontologische Aussage an: das Gesetz des Gleich-umGleich. Auch hier bezeichnet das Gleich-um-Gleich die vermittelte Einheit von Geben und Nehmen; doch soll diese Einheit nicht als ab-

II. Handlung und Gottesbegriff

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strakte Identität austauschbarer Begriffe mißverstanden werden, sondern ist ausschließlich als Beschreibung der intentionalen Handlung gemeint: „die Vergebung, welche du gibst, empfängst du, nicht umgekehrt gibst du die Vergebung, welche du empfängst" (416/362). Das Empfangen erscheint am Geben, nicht umgekehrt; die Handlung hat das Primat. Ebenso kann diese Einheit wiederum hinsichtlich ihres Aussagecharakters ausgedrückt werden: „Vergebung ist Vergebung; deine Vergebung ist deine Vergebung; deine Vergebung gegenüber einem andern ist deine eigene Vergebung" (416/361f.). Die Aussage eines Sprechers, nämlich die Sprechhandlung, mit welcher er Vergebung gegenüber einem Anderen vollzieht, kann auf ihn selbst angewendet werden, und so entsteht eine neue Aussage, eine neue Prädikation: deine (gegebene) Vergebung „ist" deine eigene (d.h. empfangene) Vergebung. Doch wie kommt in diesem Fall die Identität der Aussagen zustande, wie kann sie einsichtig gemacht werden? Es scheinen mir mindestens zwei Hinweise zu sein, die Kierkegaard anführt, und beide zeigt er am Gegenbild des Nichtvergebens auf: Erstens geschieht jedes Nichtvergeben unter einer bestimmten reflexiven Voraussetzung: „Es ist auch eine Einbildung, daß man selber seine Vergebung glaube, wenn man nicht vergeben will; denn wie sollte der Mensch in Wahrheit an Vergebung glauben, dessen eigenes Leben ein Einwand dagegen ist, daß es Vergebung gibt" (417/362). Der im ersten Beispiel erörtete Glaubensbegriff wird hier also aufgenommen und weitergeführt: Das tatsächliche Vergeben setzt einen Glauben daran voraus, daß es Vergebung überhaupt gibt. Diese Voraussetzung hat die Form einer Behauptung („daß es Vergebung gibt"), und zwar einer Behauptung mit unbedingten Charakter: entweder es gibt Vergebung - oder es gibt sie nicht. Die unbedingte Ausschließlichkeit dieser Behauptung liegt darin, daß sie auf keine weiteren Wahrheitsbedingungen zurückgeführt werden kann, sondern selbst der letzte (oder erste) Grund des Handelns ist. Erneut also finden wir den Begriff eines absoluten Grundes oder absoluten Ersten vor, den Kierkegaard an der Handlungsform selbst entwickelt. Dieses Absolute ist eine Qualität der intentionalen (Vergebungs-) Handlung, die als Absolutes nicht auf den intentionalen Gegenstand beschränkt werden kann, sondern ebenso auch für den Täter selbst gilt. Zur Erläuterung dieses Aspekts dient der zweite Hinweis, in dem Kierkegaard explizit auf den Gottesbegriff Bezug nimmt: Gegenüber dem Absoluten kann man sich nicht „privat" verhalten (ebd.). Es ist wie im Verhältnis zur Obrigkeit, die sich niemals die Partikularinteressen des Einzelnen zu eigen macht, sondern alle Bürger unter den gleichen Maßstab stellt:

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

Ebenso führt auch das Durchsetzen eines partikularen Interesses innerhalb einer intersubjektiven Beziehung in Form eines Nichtvergebens dazu, daß der Handelnde durch diese seine Handlung selbst den absoluten Richter aufruft, der ihm gegenüber den Maßstab seiner eigenen Handlung anlegt. Wenn die Handlung des Vergebens wie des Anklagens unvermeidlich ein Absolutes artikuliert, so ist damit eo ipso die Beziehung der Beteiligten unter eine unbedingte Gleichheit gestellt: „Gott schaut gleichmäßig [ligelig] auf alle" (418/363). Diese Gleichheit ist es, die das Gleich-um-Gleich im Fall des Vergebens meint und den Austausch der Aussage ermöglicht: „Deshalb heißt, einen andern Menschen vor Gott anklagen, sich selbst anklagen, gleich um gleich" (417/362). Auch die dritte Durchführung folgt einem Wort Jesu: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?" (Mt 7, 3, s. 419/363). Hier wird in Kierkegaards Lesart der Austausch der Aussagen zu einer neuen Prädikation sogar noch überboten und als „verschärfende Ungleichheit" wirksam: „Also ein Splitter ist ein Balken!" (ebd.). Auch dieses hyperbolische Gleich-um-Gleich wird von Kierkegaard durch eine Interpretation des Gottesbegriffes erläutert. Nun ist es die Allgegenwart Gottes, die das intentionale Handeln des Verurteilens auf den Handelnden in Vergrößerung zurückspiegelt: „Ist das nicht eine Strenge, die eine Mücke zu einem Elefanten macht! O, aber wenn du bedenkst, daß im christlichen und im wahrsten Sinne Gott stets überall dabei ist, daß einzig und allein um ihn sich alles dreht, so wirst du diese Strenge wohl verstehen können, du wirst verstehen, daß das Erblicken des Splitters im Auge deines Bruders - in Gottes Gegenwart (und Gott ist ja stets gegenwärtig) ein Majestätsverbrechen ist" (ebd.). Die vorher bereits aufgezeigte Gründung des Handelns in einem absoluten Ersten wird nun durch die Vorstellung der Gegenwart Gottes in den Formen des leiblich-relationalen Handelns ausgelegt. In Gottes Gegenwart gibt es keine Verurteilung, sondern nur noch die Anerkennung des Anderen. Es ist der Begriff des „Dritten" im Handlungsverhältnis, der bereits bei der Analyse des Liebeshandelns so bedeutsam war und insbesondere die Möglichkeit von Versöhnung, d.h. intersubjektiver Anerkennung verständlich machte. Die strukturelle Verwandschaftschaft des Gleich-um-Gleich mit dem Liebesbegriff wird erneut deutlich. Zugleich ist damit das Verhältnis von Handlung und Gottesbegriff, das eingangs als Ausgangspunkt benannt worden war, akzentuiert: Handeln wird unter dem Aspekt beschrieben, „in allem mit Gott zu tun zu haben" (413/359).

II. Handlung und Gottesbegriff

b) Handlung und

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Gottesbegriff

Bevor ich das systematische Ergebnis diskutiere, das Kierkegaard zu diesen drei thematischen Variationen formuliert, soll zuerst noch die Bedeutung des Gottesbegriffes in der bisherigen Argumentation deutlicher erfaßt werden. Es hat sich gezeigt, daß Kierkegaard den Begriff des Gleich-um-Gleich nur durch den Aufweis einer unbedingten Qualität in der Handlung einsichtig machen kann. Der Gottesbegriff benennt jeweils einen absoluten Grund der Handlung, durch den diese erst in ihrer Struktur des Gleich-um-Gleich verständlich wird. Die Absolutheit dieses Grundes liegt darin, daß er ein Beschreibungselement der Handlung ist, ohne doch selbst Moment des für diese Handlung charakteristischen Austausches zu sein: als absolute Selbstreferenz, absolute Gleichheit und absolutes Drittes ermöglicht „Gott" den Austausch von gleich um gleich. Doch was bedeutet die Rede von Grund und Absolutheit hier? Entscheidend ist die Einsicht, daß in Kierkegaards Darstellung der Gottesbegriff nicht reflexionstheoretisch verstanden werden kann: der Gottesbegriff benennt nicht eine reflexive Voraussetzung des Handelns, die transzendentallogisch rekonstruiert werden könnte, sondern mit der Rede von Gott ist die phänomenologische Beschreibung eines vorreflexiven Handlungselementes verbunden. Diese Behauptung ist allerdings zunächst zu verteidigen und am Text auszuweisen. Denn schließlich geht es doch hier um die Frage nach dem Verständnis des ethisch-gewissenhaft reflektierenden Subjekts! Und habe ich oben nicht selbst von der Voraussetzung des Glaubens gesprochen - wie soll man eine solche Voraussetzung aber anders verstehen können denn als eine Form des subjektiven Wissens, mithin also als eine reflexive Voraussetzung? Und schließlich, wie soll Kierkegaards Formulierung „vor Gott", die in demselben Kontext auftaucht (417/362), verstanden werden, wenn nicht als eine bestimmte Bewußtseinsform? Die Antwort liegt in dem Hinweis auf Kierkegaards Vorgehensweise: Er bringt das Absolute oder „Gott" durchgehend als Element oder Moment einer bestimmten Handlung zur Sprache. Sein Ausgangspunkt ist jeweils ein einzelner Handlungssatz, der eine bestimmte Handlung benennt, und damit wird der absolute Grund jeweils auf eine einzelne, bestimmte Handlung bezogen; die jeweilige Rede von Gott ist verortet in der Beschreibung einer partikularen Handlung (des Glaubens, Vergebens und Verurteilens). Das bedeutet, daß „Gott" in dieser Beschreibung (zunächst) kein Allgemeinbegriff ist, kein Gegenstand des Wissens, der als solcher verallgemeinbar

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

wäre. Die Absolutheit liegt nicht darin, der höchste Einheitspunkt des Wissens zu sein, sondern sie ist auf die einzelne Handlung der Form Gleich-um-Gleich zu beziehen, als deren Beschreibungselement sie auftritt, und das bedeutet: das Absolute liegt in der bloßen Faktizität dieser Handlung, darin daß diese bestimmte Handlung von dem Subjekt vollzogen wird. Absolut ist die Handlung, genauer gesagt: die Handlung der Klasse „Gleich-um-Gleich", hinsichtlich ihrer Kontingenz und Faktizität: „(aber) des Glaubens Gewißheit, oder die Gewißheit, daß du, gerade du glaubst, mußt du in jedem Augenblick erlangen mit Gottes Hilfe, also nicht auf eine äußere Weise" (416/361; Hervorhebung U.L.). Das Gottesverhältnis ist das unmittelbar Erste oder der Anfang einer Handlung 6 , und zwar einer solchen Handlung, die durch die Struktur des Gleich-um-Gleich bestimmt ist. Solche unvermittelte Erstheit ist auch der Sinn der Formel „vor Gott". Das Gottesverhältnis als Erstes und Anfang ist die Qualität, durch welche die Handlung überhaupt erst zu einer bestimmten, d.h. identifizierbaren Handlung des Gleich-um-Gleich wird7. Ein Verständnis Gottes als Gegenstand eines reflektierenden Wissens würde diese unhintergehbare Erstheit in einen Vermittlungsprozeß des diskursiven Bewußtseins aufheben, doch damit wäre zugleich die bestimmte Handlung als das zu erklärende Einzelne, d.h. Unmittelbare verloren 8 . Doch eben auf diese Handlungen und ihre Gleich-um-Gleich-Struktur kommt es Kierkegaard ja an. Freilich kann er die durch den Gottesbegriff benannte Erstheit nur in reflexiv-vermittelter Weise beschreiben. Er kann den absoluten Gehalt einer Handlung nur benennen, indem er auf Reflexionsfor6

7

8

Vgl. die Bemerkungen über den Anfang des Handelns in 7,111 A. (129/116); auch dort wird dieser Anfang mit Beschreibungen des Gottesverhältnisses als eines unmittelbar Ersten zusammengebracht: „die Leibeigenschaft des Menschen in Bezug auf Gott" (128/115). Und auch Anti-Climacus beschreibt in seinem Schema des Selbstbegriffs das Gottesverhältnis als Anfang und Erstheit: nämlich als dasjenige Andere, „welches das ganze Verhältnis gesetzt hat" (KT, 9, Hervorhebung U.L.). Mit dieser Formulierung versuche ich, die inzwischen aufgetretenen Äquivokationen in der Verwendung des Begriff der Bestimmtheit zu klären: Zu Beginn des Kapitels war „Bestimmtheit" im Sinne von teleologischer Determiniertheit verstanden worden, im jetzigen Kontext aber meint das Attribut „bestimmt" die konkrete Individualität einer einzelnen Handlung. Die Identität beider Bedeutungen liegt im Gottesbegriff: Erst durch den Gottesbegriff wird einsichtig, daß eine einzelne Handlung die Form des Gleich-um-Gleich hat und insofern als eine solche identifiziert werden kann. Zum Zusammenhang von Gottesbegriff und Bestimmtheit vgl. R. Neville, God the Creator, 65-74. Zu Kierkegaards Verständnis der „Realität" als Unmittelbarkeit gegenüber der diskursiven „Idealität" vgl. JC, 154ff.

II. Handlung und Gottesbegriff

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men Bezug nimmt. Dies ist charakteristisch für seine negative Vorgehensweise in diesem Text, so etwa im Fall des Anklagens (s. 417/362): Die Erkenntnis, daß vor Gottes Majestät die Anklage gegen einen Anderen für ihn selbst gefährlich und eigentlich unmöglich ist, ist als ein nur hypothetischer Fall beschrieben, denn offensichtlich ist das tatsächliche Anklagen ein Zeichen dafür, daß der Handelnde diese Erkenntnis gerade nicht hat; dennoch handelt auch er „vor Gott" und damit im Licht der unbedingten Bedeutung seiner Handlung, nur ohne das Gleich-um-Gleich darin zu verstehen. Diese negative Darstellungsform trägt einen Großteil der Argumentation und gibt ihr die nötige empirische Basis, indem sie deutlich machen will: Wenn ein Handelnder sich richtig versteht, dann muß er erkennen, daß er mit seiner Handlung des Anklagens oder Glaubens in den gefährlichen Bereich des absoluten Gleich-um-Gleich tatsächlich eingetreten ist. Das Problem besteht nur darin, daß jemand in diesen Bereich eintreten kann, auch ohne es zu wissen, d.h. ohne sein Handeln zu verstehen. Das bedeutet, daß das Bewußtsein um das Gleich-um-Gleich die angemessene diskursive Auslegung einer prä-reflexiven Qualität ist, die mit dem reinen Faktum der Handlung gegeben ist: Mit der Alternative von Anklagen und Vergeben begibt sich der Handelnde „vor Gott", indem er die absolute Alternative für das Gelingen des relationalen Lebens aufruft: ob es Vergebung gibt oder nicht. Die Handlung des Vergebens wie des Anklagens setzt diese absolute Alternative nicht voraus, sondern setzt sie in Geltung, ruft sie auf. Im Setzen dieser Geltung, im Eröffnen dieser Dimension und dieser Situation für den Handelnden durch seine eigene Handlung liegt die Bedeutung des Gottesbegriffes als Erstheit. So wird es möglich, die Bestimmtheit einer einzelnen Handlung mit dem Gottesbegriff zu verbinden10. 9

10

Auch der oben von mir als „reflexive Voraussetzung" dargestellte Glaube an die Existenz der Vergebung ist als diskursive Beschreibungsform, nicht aber als transzendentalpragmatische Voraussetzung, etwa im Sinne K.O. Apels, zu verstehen. Worauf es Kierkegaard an diesem Beispiel ankommt, ist nicht der Status der Voraussetzung, sondern der Charakter des Absoluten, der in der Alternative liegt. Die hier gebrauchte Formulierung der Erstheit einer Handlung („vor Gott") kann mit Hilfe des Begriffs des Willens plausibel gemacht werden, den Anti-Climacus in der Krankheit zum Tode als christliche Differenz zum sokratischen Sündenverständnis herausstellt. Gegenüber dem sokratischen Verständnis, in dem das sündige Handeln auf ein Nichtverstehen des Guten zurückgeführt wird, behauptet Anti-Cimacus den Wille als diejenige Instanz, an der jene direkte Entsprechung von Erkennen und Tun auseinanderbricht: der Wille ist die dialektische Zwischenbestimmung „betreffs des Übergangs von dem etwas verstanden Haben zum es Tun" (KT,

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

c) Der expressive Begriff der Wiederholung Die Rekonstruktion des Gottesbegriffes als absolut Erstes und Bestimmendes einer bestimmten Handlung kann uns nun dabei helfen, die Bedeutung zu verstehen, die Kierkegaard dem Gottesbegriff zusammenfassend für das Problem des verantwortlich handelnden Subjekts zuschreibt. Zunächst läßt sich durch den eben rekonstruierten Gottesbegriff darstellen, inwiefern gerade durch die kommunikativaustauschende Struktur des Gleich-um-Gleich das subjektive Problem des Handelns benannt ist: „Du hast nur mit dem zu tun, was du gegen andere tust, oder damit, wie du *entdeckst [opdager], was andere gegen dich tun; die Richtung geht nach innen hin, du hast wesentlich nur mit dir vor Gott zu tun" (420/365). Hier haben wir die Skizze eines formalen Handlungsbegriffs vor uns, der zunächst ohne intentionale oder teleologische Bestimmt-

92). Doch inwiefern ist nun dieser Willensbegriff davor geschützt, wiederum durch das „sokratische" Postulat eines vorausgegangenen Erkennens übertrumpft zu werden? Wieso sollte nicht auch dieser Wille wiederum ein Nichtverstehen des Guten oder Geforderten sein? Aus diesem unendlichen Regreß kommt man m.E. nur heraus, wenn man den Willen auf einer anderen Ebene als das Wissen thematisiert und ihn nicht als Vermögen des subjektiven Bewußtseins versteht, in dem Wollen und Erkennen niemals analytisch getrennt werden können (vgl. KT, 46!). Eben diese kategoriale Differenz scheint mir Anti-Climacus herausstreichen zu wollen, ohne allerdings deutlich zu sagen, wie der Wille losgelöst vom Wissen zu verstehen ist. Seine Ausführungen machen dann Sinn und benennen die Differenz, wenn man den Willen als Begriff für die faktische Konstitution eines intentionalen Bewußtseins versteht, als Benennung des unmittelbar-kontingenten Gegebenseins eines bestimmten Verhältnisses von Erkennen und Tun (vgl. KT, 88: „... das Voraus (Prius), in welchem die Sünde sich selbst voraussetzt"). In diesem Sinne geht der Wille als Kategorie der Erstheit dem reflexiv wollenden Ich voraus und muß ihm doch zugleich als sein Wille zugeschrieben werden: „Trotz" (KT, 92). Der Willensbegriff thematisiert das faktische Sein einer jeweils bestimmten Intentionalität, wie AntiClimacus in seiner Abwehr des cogito ergo sum herausstellt: „christlich hingegen heißt es: dir geschehe wie du glaubest, oder wie du glaubest, so bist du, glauben ist sein" (KT, 93)! Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß diese Definition des Willens erst im zweiten Teil der Schrift vorgenommen wird und damit konstitutiv an eben jene religiöse Bestimmung gebunden ist, die auch für den Schlußtext von TL wesentlich ist: „vor Gott" (KT, 75 passim). Kierkegaards Begriff des Willens wird also mißverstanden, wenn er als psychische Entität zwischen Verstehen und Handeln aufgefaßt wird; vielmehr ist der Wille als ein jeweils bestimmtes Verhältnis zwischen Verstehen und Handlung zu denken, dessen Nichtableitbarkeit aber als Gottesverhältnis. Vgl. A. Gr0n, aaO. 329, der von einem Willen vor oder hinter dem bewußten Wollen spricht und damit offenbar, ohne es zu sagen, Schellings Begriff des Grundes auf den Verzweiflungsbegriff anwendet.

II. Handlung und Gottesbegriff

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heiten auszukommen scheint. Dieser Handlungsbegriff hat es mit dem Ganzen des relationalen Tuns und Empfangens zu tun, dies aber so, daß dieses Ganze für den Handelnden selbst thematisch wird. Die leiblichen Relationen erscheinen nicht als Gegenstände eines Sollens, sondern als die Verhältnisse und die Handlungen, in denen das Subjekt sich selbst vorfindet; dies ist die Form des Selbstverhältnisses, auf die es Kierkegaard ankommt. Zu erklären ist nun, wie dieses Sichselbst-Vorfinden gedacht werden muß. Entscheidend ist hierfür der Zusatz „vor Gott". Unsere vorangegangene Diskussion hat gezeigt, wie diese scheinbar inhaltlich offene Formel die Beschreibung bei der Konkretion einer bestimmten Handlung und deren Qualität behaftet. Durch das Gottesverhältnis kommt eine Bestimmtheit in den formalen Handlungsbegriff hinein, nämlich die Bestimmtheit der jeweiligen, als Form des Gleich-um-Gleich identifizierbaren einzelnen Handlung. Die bestimmte Handlung geht dem Selbstverhältnis also logisch und real voraus. Das subjektive Selbstverhältnis wird durch die Handlung des Gleich-um-Gleich überhaupt erst möglich und gesetzt11. Dieses Primat der Handlung wird durch eine weitere Formulierung verstärkt, und damit sind wir bei der entscheidenden Bestimmung des Gottesbegriffes: „(Denn) Gott ist eigentlich selber dieses reine gleich um gleich, die reine Wiedergabe [Gjengivelse] dessen, wie du selber bist. Ist Zorn in dir, so ist Gott Zorn in dir; ist Milde und Barmherzigkeit in dir, so ist Gott Barmherzigkeit in dir" (421/365). Wenn die Handlung das Selbstverhältnis setzt, und wenn dies wesentlich durch den der Handlungsbeschreibung innewohnenden Gottesbegriff geschieht, so muß mit Hilfe dieses praktischen Gottesbegriffes erklärt werden können, wie das Selbstverhältnis entsteht. Die Antwort ist nun klar: Das ethische Selbstverhältnis des Handelnden wird möglich durch Gott als „Wiedergabe", d.h. durch den sprachlich-expressiven Charakter der eigenen Handlungen. Gott ist die Wiederholung der (Sprech-) Handlungen eines Subjekts, nun aber als Wiedergabe an dieses Subjekt zurück. In dieser sprachlichen Funktion liegt die Pointe der Beispiele, die allesamt Sprechhandlungen beschreiben 11

Zur Vorgängigkeit einer religiös bestimmten Handlungswirklichkeit für die Wirklichkeit der Subjektivität s. SLW, 450: „Die aesthetische Idealität ist höher als die Wirklichkeit vor der Wirklichkeit, mithin in der Illusion; die religiöse Idealität ist höher als die Wirklichkeit nach der Wirklichkeit, mithin kraft eines Gottesverhältnisses." In diesem ontologischen Verhältnis von Handlung, Gottesverhältnis und Selbstverhältnis liegt auch der systematische Ansatzpunkt für das Projekt einer „zweiten Ethik", die „ihre Idealität (hat) in dem durchdringenden Bewußtsein der Wirklichkeit, der Wirklichkeit der Sünde" (BA, 18).

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

(Glauben als Aussagesatz, Vergeben und Verurteilen als performative Sprechakte in sozialen Kontexten); man kann auch sagen: Die Pointe der Beispiele liegt darin, daß Kierkegaard das Gleich-um-Gleich wesentlich als einen sprachlichen Vorgang versteht. Die Handlungen sprechen zu ihrem Subjekt, und sie tun dies durch die Eigenart ihrer eigenen konkreten Bestimmtheit, also dadurch, daß sie Handlungen sind, die Gott als ihr Erstes haben: „In der Einsamkeit, das weißt du wohl, wohnt das Echo. Es achtet genau, o so genau auf jeden Laut, auch den geringsten, und gibt ihn genau, o so genau wieder. Gibt es ein Wort, welches du nicht gern zu dir gesagt hören möchtest, dann hüte dich, es zu sagen, hüte dich, daß es dir nicht in der Einsamkeit entschlüpft, denn sogleich wiederholt das Echo und sagt es ,dir' [...] aber falls du in Wahrheit einsam wardst, so lerntest du auch, daß Gott alles, was du zu anderen Menschen sagst und gegen sie tust, bloß wiederholt, er wiederholt es in der Vergrößerung der Unendlichkeit. Gott wiederholt das Wort der Gnade oder des Gerichts, welches du über einen anderen aussprichst, er sagt wortgetreu das gleiche über dich: und dieses gleiche ist die Gnade oder das Gericht über dich" (421/366). Die Wiedergabe entspricht exakt der ursprünglichen Handlung, weil diese bereits eine religiöse Form hatte. Gott ist die Wiederholung und Wiedergabe des Gesagten, aber er ist dies nur, weil er auch das Erste, der unvermittelbare Anfang dieser Sprachhandlung ist12. Gott ist das Erste einer Handlung und ihre Wiedergabe, und „dazwischen" liegt die bestimmte leibliche Handlung selbst und das handelnde Subjekt. Unter der Perspektive des Gleich-um-Gleich erweist sich Handeln als eine dreigliedrige Struktur: 1. die bestimmte einzelne Sprachhandlung in allen kognitiven, volitiven und affektiven Aspekten, 2. „vor Gott" als das nichtvermittelte, bestimmende Erste dieser Handlung, 3. „Gott" als die Wiedergabe dieser Handlung an oder für den Handelnden.

12

Dieser Gottesbegriff kann als Antwort auf Feuerbachs Projektionsthese verstanden werden: „Gott" ist nicht das an den Himmel gemalte Wesen des Menschen, sondern ist die Macht, die den Menschen in der bestimmten irdischen Wirklichkeit seines gegenwärtigen Handelns festhält.

II. Handlung und Gottesbegriff

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Diese Struktur entspricht exakt den drei Kategorien, die wir in der Phänomenologie der Liebe entdeckt hatten (vgl. o. Kap. 3,V.): Relationalität als das Erste, Intentionalität als das Bestimmt-Subjektive und Expressivität als den dritthaften Ausdruckscharakter einer Handlung. Nicht alle denkbaren Handlungen sind in dieser Weise zu beschreiben, wohl aber alle jene relationalen Handlungen, in denen der Handelnde in einem Austausch mit anderen Individuen und darin mit seinem eigenen Leben und dessen Gelingen steht. Dies genau ist auch der Themenkreis des Liebesbegriffes, und für Kierkegaard ist damit durchaus das Handeln „in allem [t Alt]" (413/359 passim, s.o.) umrissen. Eine solche Handlung wird allein durch ihre religiöse Form und Bedeutung verständlich, und zugleich sichert diese religiöse Form (der Gottesbegriff) den Vorrang der Handlung vor einer Subjektivitätstheorie: Subjektive Bedeutung entsteht erst durch die Handlung und allein an der Handlung. Der Gottesbegriff wird dabei in der Struktur einer Selbstverdoppelung entfaltet: Gott als das Erste und als die Wiederholung. Menschliches Handeln wird auf diese Weise beschreibbar als Gottes Wiederholung und Selbstvermittlung, ohne daß diese beiden Ebenen sich gegenseitig ausschließen oder einseitig dominieren. In der Struktur der Wiederholung als absoluter Selbstverdoppelung wird der Begriff des expressiven Handelns, der für die Analyse der Liebe entscheidend war, wieder aufgenommen, doch nun in einer offeneren Form: Das subjektive Handeln erscheint nicht als unmittelbares und exklusives Ausdrucksmedium einer transzendenten Realität (der göttlichen Liebe); statt dessen bezieht sich die Expressivität des Handelns nun auf die Wiedergabe der einzelnen Bedeutung und Bestimmtheit, die mit der jeweiligen Handlungsform in der Offenheit von gut und schlecht, Gelingen und Scheitern gegeben sind. Gott als „reine", d.h. ebenso exakte wie bloße Wiedergabe (421/365) steht nicht allein für die Liebe, sondern genauso für das Gericht, das sich derjenige selber zuspricht, der nicht selbst glaubt und seinen Mitmenschen anklagt. Der Gottesbegriff ist hier ein Element der Handlungsbeschreibung, ein Handlungsbegriff. Er beschreibt die sprachliche Struktur des Gewissens. Das Gewissen war eingangs als ein gegenseitiges Sehen von Gott und Individuum bestimmt worden (s. 413/359). Der Begriff der Wiedergabe enthüllt den Sinn dieses vagen Gewissensbegriffs, indem sie ihn in der leiblichen Konkretion der einzelnen bestimmten Handlung zu verorten vermag: Das gegenseitige Sehen vollzieht sich jeweils als echohafte Wiederholung einer einzelnen

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

Sprechhandlung13. Das Bild vom Echo beleuchtet die Besonderheit dieses Gewissensbegriffs: Das Gewissen ist hier nicht das Urteil, das am Bewußtsein eines allgemeinen Sollens entsteht14. Es entsteht vielmehr an der einzelnen bestimmten Handlung selbst, denn nicht 13

14

Hier zeigt sich erneut, wie die Semantik des Sehens mit einer Sprachtheorie verbunden ist und erst durch diese verständlich wird. Dem Bild vom Echo und seiner expressiven Funktion entspricht die Metapher des Wortes als Spiegel: Die erste der Reden aus Zur Selbstpriifiing (s. ZS, 45-88) entwickelt eine biblische Hermeneutik, bei der das Wort Gottes ausschließlich in seiner Funktion als „Spiegel" für den Leser oder Hörer Bedeutung erhält, ohne daß noch Platz bliebe für einen historischen, ethischen oder weltanschaulichen Eigenwert der biblischen Aussagen; das Wort ist ganz und gar Spiegel, der dem Leser sein eigenes Tun und Lassen enthüllt, und dies ist der Gegenstand und Inhalt des Wortes. Zur expressiv-sprachlichen Funktion des Bildes vom Spiegel in TL vgl. 167/147. Eine frühere Entsprechung zur Echometapher ist die grundlegende Charakterisierung des Ärgernisses als „Gehörstäuschung" (PB, 48). Mit dieser akustischen Metapher wird ausgedrückt, daß das negative Phänomen nicht durch sich selbst, sondern erst von dem Positiven her zu verstehen ist, das in ihm zugleich zum Ausdruck kommt. Die eigentümliche Nicht-Äußerung, das Nichtglauben, entsteht an der ursprünglichen Äußerung: „Der Ärgernis Nehmende spricht nicht aus seinem Eignen, er spricht aus dem was des Paradoxes ist" (ebd.). Eben diese zweifache Struktur der Äußerung ist es, die in TL im Begriff der „Wiedergabe" reflektiert wird. In Kierkegaards letzter schriftstellerischer Äußerung schließlich wird die Echometapher zu einem ontologischen Begriff: „Das Dasein ist: *akustisch [akustisk], Achte nur darauf, was das Echo antwortet, und du wirst sogleich wissen, was was ist" (A, 323). Hier ist das Echo ausdrücklich als soziales Phänomen gemeint: als die Reaktion der Mitwelt auf die christliche Verkündigung. Vgl. I. Kants Definition (Werke VIII, 572ff): Das Gewissen ist das „Bewußtsein eines inneren Gerichtshof im Menschen", mit Gott als dem durch die Vernunft geschaffenen Anderem und Richter; „Gott" entspricht dabei der oberen „Fakultät" des Menschen, der als „doppelte(s) Selbst" gedacht wird. Die Terminologie einer solchen Reflexionstheorie findet sich freilich auch in Texten Kierkegaards, vgl. die Unterscheidung vom „ersten" und „tieferen Selbst" in 4R4, 20ff. Im Vergleich mit diesem früheren Text kann der Entwicklungspunkt verdeutlicht werden, den Kierkegaards Denken in TL erreicht: Die Rede von 1844 denkt das Verhältnis der beiden Selbstformen als reflexives Verhältnis innerhalb des Prozesses der Selbsterkenntnis; demzufolge ist das „tiefere Selbst" als eine Bewußtseinsform oder innere Stimme zu verstehen, die dem weltzugewandten Selbst aus dem Äußeren zurückholt. Was in diesem Modell jedoch problematisch ist, ist die Frage, wie ein solches tieferes, innerliches Bewußtsein überhaupt möglich sein kann, wenn doch sein Träger ganz und gar durch Intentionalität, also durch leibhaftige Weltbezüge bestimmt ist (s. ebd. 16f.). Wo kommt also das „tiefere Selbst" her, wenn man es nicht wie Kant aus dem Faktum der Vernunft ableitet? In TL scheint mir dieses Problem dadurch gelöst zu sein, daß nun die reflexive Funktion (das „tiefere Selbst") von der bestimmten Handlung aus gedacht wird und damit selber eine leibhaftige Form erhält. Reflexion entsteht durch Ausdruck oder Zeichen, und die Verdoppelung des Selbst erweist sich als die Wiederholungsstruktur eines Zeichengebrauchs.

II. Handlung und Gottesbegriff

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das Selbstbewußtsein, sondern diese Handlung ist der erste Ort des in der Form des Gewissens erfahrenen Gottesverhältnisses. Jener Augen-Blick, mit dem Gott das Individuum anschaut und in seine erzieherische Macht zwingt (413Í./359), ist das nichtvermittelte Erste, der bestimmende Anfang einer bestimmten Handlung des Gleich-umGleich. Die absolute Wiedergabe erschließt die religiöse Situation, die ein Individuum durch seine bestimmte Handlung selber evoziert. Daß dieser expressiv-evokative Charakter des religiösen Sprechhandelns 15 für Kierkegaards Auffassung fundamental ist, belegt eine Passage aus der Einübung im Christentum, in der Anti-Climacus von der Predigt der „christlichen Wahrheit" sagt: „[...] sie hat nämlich, wenn ich so sagen darf, Ohren, damit zu hören, ja, sie ist wie lauter Ohr, sie hört hin, derweile der Redende redet; man kann von ihr nicht reden wie von einem Abwesenden oder von einem nur als Gegenstand Gegenwärtigen, denn da sie von Gott her ist und Gott in ihr, so ist sie in ganz eigenem Sinne gegenwärtig, derweile von ihr geredet wird, nicht als Gegenstand, eher wird der Redner ihr zum Gegenstande, er beschwört einen Geist, der ihn abhört [overh0rer harn], derweile er redet" (EC, 226). Die Sprache des Religiösen ist nicht designativ-referentiell, d.h. auf einen vorliegenden Gegenstand bezogen, sondern sie ist expressiv-erschließend; und eben diese Qualität wird in der Schlußrede aus TL für das Handeln in Anspruch genommen. Die sprachlich erschlossene Situation ist der offene Raum, der ein ethisches Selbstverhältnis ermöglicht. Die für das Gewissensphänomen wesentliche Dualität wird damit bei Kierkegaard nicht mehr in den reflexiven Kategorien von Allgemeinheit und Besonderheit ausge-

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Eine unserem Text sehr nahestehende Verwendung des Begriffs „Wiedergabe" findet sich in ERG, 131£: Hier ist es der Beichtende, der allein vor Gott als Redner und Hörer „durch sich selbst, mit sich selbst, zu sich selbst, mit Hilfe der Rede vor Gott in Schweigsamkeit spricht". Der Begriff der Wiedergabe dient also auch hier zur Entfaltung eines in Sprechakten gegründeten Selbstverhältnisses. Im Unterschied zu TL wird aber die relationale Struktur dieses Sprechens nicht deutlich, d.h. die Wiedergabestruktur wird immer noch als rein subjektives Vermögen gedacht. Die Wiedergabe ist vom Sprecher/Hörer herzustellen, während sie in TL als Form des relationalen Handelns selbst und insofern auch als Prädikat für Gott, der der Grund oder die „Zwischenbestimmung" aller Relationen ist, verstanden wird. Zum „invokativen" Sprachgebrauch in religiösen Kontexten vgl. C. Taylor, Bedeutungstheorien, 106ff. Die Interpretation der „Wiedergabe" als Expressivität verdankt sich, wie mittlerweise leicht zu sehen ist, Motiven der Bedeutungstheorie Taylors.

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

legt16, sondern in den intentionalen Kategorien von Relationalst und Sprache: als Sehen und Wiedergabe17. Doch ist diese Offenheit einer „reinen" religionsphilosophischen Beschreibung, die Scheitern und Gelingen scheinbar als gleichrangig betrachtet, nicht Kierkegaards letztes Wort. Sie ist nötig, um die religiöse Substanz des Handelns auch dann aufzeigen zu können, wenn man die Situation des endlichen Subjekts, das in seinem Handeln stets der Möglichkeit des Scheiterns gegenübersteht, ernst nehmen möchte. Sie ist nötig, um zu zeigen, daß auch diese Situation nicht ohne intentionale Bestimmtheit und religiöse Begriffe gedacht werden kann. Dabei hat sich diese Bestimmtheit als etwas Nicht-Allgemeines herausgestellt, nämlich als die prä-reflexive religiöse Bestimmtheit der je einzelnen Handlung. Allerdings kann oder will Kierkegaard die Offenheit dieser Situationsbeschreibung nicht offenlassen. Dies zeigt sich schon darin, daß ein altbekannter Maßstab verborgen, aber beständig gegenwärtig ist: die Liebe als Grund und

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Vgl. die Darstellungen zur idealistischen Gewissenstheorie (Kant, Hegel, Schleiermacher) bei S. Hübsch, aaO. Ein ganz anderer Versuch, einen spezifisch theologischen Handlungsbegriff vom Gewissensbegriff her zu erschließen, findet sich bei E. Herms. Herms spricht nicht von Gewissen, sondern von handlungsleitenden „Gewißheiten", die einem individuellen Handlungs- und Interaktionszusammenhang zugrundeliegen und phänomenologisch zu erschließen sind (Glaube, 464ff.). Diese Gewißheiten haben die Bedeutung eines Glaubens im Sinne von „belief", d.h. sie sind „der unhintergehbare Ausgangspunkt für den Erwerb allen Wissens", dessen Anerkennung jedoch „nur selbst handelnd, also durch freiwillentliche Wahl von Eigenleibverhalten, erfolgen" kann (ebd. 468/69). Im Arrangement der Gewißheiten hat die Glaubensgewißheit („faith") schlechthin fundamentale Bedeutung: sie motiviert und lenkt die Selbstund Weltgewißheit und das mit ihr verbundene Handeln (ebd. 475). Das Verhältnis von Glaube (faith), Gewißheit und Handeln wird demnach von Herms im Sinne einer hierarchisch gestuften Motivation verstanden: die Gewißheiten unter Führung des Glaubens leiten das Handeln an, freilich als freie Selbstbestimmung. Hiervon unterscheidet sich Kierkegaards Verhältnisbestimmung von Glaube (Gottesverhältnis), Gewissen und Handeln: Das Gewissen als Verhältnis zum Lebensziel motiviert nicht quasi-kausal zum Handeln, sondern 'entsteht' oder aktualisiert sich selbst erst jeweils am Handeln, und dies geschieht durch das Gottesverhältnis; Kierkegaard kommt es wesentlich auf jenen (sprachlichen) Vorgang an, in dem das Gewissen, je aktuell, entsteht. Für Kierkegaard geht es im Gewissen primär nicht um Motivation (dies ist die Kantische Frage nach den „Triebfedern" des Handelns), sondern um Interpretation. Eine ausführliche Bestimmung eines theologischen Handlungsbegriffes auf der Basis von Herms (und Luther) nimmt M. Kuch, Wissen vor (bes. Kap. 4: „Rechtfertigung als Grund sittlichen Handelns"; zum Gewissens- und Gewißheitsbegriff vgl. 199ff.).

II. Handlung und Gottesbegriff

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Ziel des gelungenen Lebens (s.o.); erst dieser Maßstab erlaubt es überhaupt, in den Beispielen von Scheitern und Gericht zu sprechen. Wo kommt dieser Maßstab her, und wie kann die damit verbundene Reflexivität in den Rahmen des jetzt beschriebenen Begriffs eingezeichnet werden? Die Untersuchung der subjektiven Handlungssituation muß sich also abschließend noch einmal dem Liebesbegriff zuwenden und nach seiner Rolle in diesem Text fragen; so wird es auch möglich, das in diesem Abschnitt Erarbeitete zu dem vorher entwickelten Begriff des Liebeshandelns in Beziehung zu setzen.

3. Gottes Wiederholung als Liebe (theologischer

Handlungsbegriff)

a) Bedeutung und Person Der Text dieser Schlußerwägung des Buches kann als der Versuch verstanden werden, die Wirklichkeit der Liebe unter den Bedingungen endlicher und unvollendenter Subjektivität zu erfassen. Unter dieser Maßgabe kann die Liebe, das Telos des individuellen Lebens (s.o.), nicht mehr (nur) gewissermaßen positivistisch in der Ungebrochenheit ihrer Selbstdurchsetzung beschrieben werden, sondern ist innerhalb der notvoll spannungsreichen und unabgeschlossenen Handlungssituation des endlichen Subjekts zu verorten. Kierkegaard muß die Liebe nun unter einer anderen Gestalt erschließen: unter der Gestalt der Spannung von „Strenge" und „Milde". Dieses Begriffspaar durchzieht den gesamten Text. Strenge und Milde ist das, was der Handelnde im Gewissen, also durch die göttliche Wiedergabe, von seinem Handeln erfährt, es ist das, was er über sein eigenes Handeln hört. Auf dieses Hören und Verstehen zielt der eben rekonstruierte Handlungsbegriff, insofern erst damit die religiöse Situation des Handlungssubjekts als Gewissenserfahrung erfaßt ist: „Schau, das ist die Einheit von Strenge und Milde, daß du dich in allem zu Gott verhältst, ist die größte Milde und die größte Strenge" (414/359). Die „Wiedergabe" einer Handlung ist insofern als die Konstitution einer (objektiven) Bedeutung zu verstehen: Der Handelnde erfährt etwas über sich selbst, nämlich Milde oder Strenge, er versteht sich darin, aber dieses Selbstverstehen wird erst durch die Handlung und ihre spezifische Struktur möglich. Die Wiederholungsstruktur der Handlung konstituiert Bedeutung und ermöglicht Prädikationen, nicht Tautologien: „Vergebung ist Vergebung" (416/362). Durch die intentionale Handlung wird das Subjekt dieser

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

Handlung selber prädiziert, so daß es eine Bedeutung erhält, die von ihm ausgesagt werden kann 18 . Dieser Bedeutungsprozeß kann als die Struktur eines Personbegriffs interpretiert werden: Durch das Handeln wird ausgedrückt und damit überhaupt erst aussagbar, was der Handelnde ist und was ihn ausmacht. Der Handelnde wird dadurch eine Person, daß er Träger von Bedeutung wird, indem er zum Gegenstand von Wertungen („Strenge-Milde") wird. Vom Sein des Handelnden kann erst aufgrund der expressiven Wiederholungsstruktur gesprochen werden, d.h. durch den Hinweis auf Gott als der „reine(n) Wiedergabe dessen, wie du bist." Personsein ist das, was die Handlungen über ihr Subjekt aussagen. Doch dieses Sein kann nicht im Sinne eines substanziellen Selbstbegriffs verstanden werden. Das Subjekt erhält Bedeutung, und damit die Möglichkeit eines reflexiven Selbstverstehens, durch sein Handeln, aber nicht umgekehrt. Dieses Handeln umfaßt dabei für Kierkegaard, wie wir sahen, die Gesamtheit der Weltverhältnisse eines Subjekts. Zur Person im Sinne eines Bedeutungsträgers wird das Subjekt also allein in seinen Handlungsverhältnissen und aus ihnen heraus, aber nicht durch sie, ebensowenig wie durch sich selbst. Zur Person wird er kraft der Expressivität seiner Handlungen, in Kierkegaards Terminologie: kraft der Qualität des Gleichum-Gleich bestimmter Handlungsformen, kraft derjenigen expressiven Funktion, die Kierkegaard „Gewissen" nennt. Das durch die Bedeutung ermöglichte subjektive Selbstverstehen ist somit letztlich eine durch expressive Handlungen ermöglichte Auslegung jener Relationen, in denen ein Handelnder vorgängig steht; die Aussage über das Sein des Handelnden ist eine Aussage über sein leibliches Sein in der Welti9.

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Dieser Bedeutungsbegriff enthält demnach sowohl einen semantischen als auch einen hermeneutischen Aspekt: Semantische Form hat die „Wiedergabe" als solche, insofern sie eine Prädikation, einen Aussagesatz darstellt. Diese bloße Aussage („dir ist (nicht) vergeben") muß dann aber noch als Milde oder Strenge verstanden werden und die Form eines Selbstverstehens annehmen. Dieser hermeneutische Aspekt wird aber erst im folgenden Abschnitt entfaltet. Die (semantische) Objektivität von Bedeutungen im öffentlichen Raum wird sehr anschaulich in Kierkegaards Gebrauch der Kleidungsmetaphorik, vgl. US, 205,229; die Kleidungsmetaphorik ist dabei stets mit der Ausdrucksterminologie verbunden. Zum Zusammenhang von Person- bzw. Identitätsbegriff und werthaltigen Interpretation vgl. C. Taylor, Sources, 25ff. Die bedeutungstheoretisch-semiotische Funktion der Handlung als Interpretationskonstrukt des Handelnden hebt - in transzendentaler Perspektive - G. Schönrich, Kategorien der Freiheit hervor. Dabei liegt der Bedeutungscharakter einer Handlung darin, daß ein Ereignis jeweils als Zeichen

II. Handlung und Gottesbegriff

485

Diese spezifische Weise, in der ein Handelnder seine Bedeutung ausdrückt und erhält, scheint das wesentliche Unterscheidungsmerkmal des „christlichen gleich um gleich" von seinem Gegenstück zu sein: „Das jüdische, das weltliche, das geschäftliche gleich um gleich ist dies: Achte unbedingt darauf, daß du gegen die andern das gleiche tust wie sie gegen dich" (420/365). Dieses Gegenstück ist das Gleichum-Gleich des strategischen Handelns, das sich zur Durchsetzung seiner Ziele an den erwarteten Handlungen der Handlungspartner orientieren muß. In einer bloß strategischen Reziprozität ist es aber nicht mehr möglich, Aussagen über das Sein oder die Person des Handelnden zu machen, ohne daß dieses Personsein ausschließlich durch die anderen Personen bestimmt wäre. Das Subjekt erhält seine Bedeutung hier allein durch die erwarteten Reaktionen der Anderen. Dabei bestimmen diese Anderen nicht nur die Durchsetzbarkeit, sondern auch die Inhalte dessen, was durchgesetzt werden soll. Die Perspektive der ersten Person Singular wäre hier vollständig gegenüber derjenigen der dritten Person aufgegeben 20 . Kierkegaard versucht demgegenüber, das Sein des Handelnden in seinen relationalen und kommunikativen Handlungen auszusagen, ohne es vom kommunikativen Kontext und seinen antizipierten Zuschreibungen abhängig zu machen; denn dann wäre es nicht mehr das Sein des einzelnen Subjekts, nicht mehr die Perspektive der ersten Person. Aber eben diese

20

einer (selbstgegebenen) Regel interpretiert werden muß. Die notwendigen Gesichtspunkte dieser Interpretation können Schönrich zufolge mit Kants Kategorien der Freiheit rekonstruiert werden. Kierkegaards Begriff Gottes als „Wiedergabe" leistet m.E. etwas Analoges: die Beschreibung der Weise, in der eine Handlung als Ausdruck (Zeichen) einer unbedingten Regel („vor Gott") gelten kann. Eine handlungstheoretisch und anthropologisch elaborierte Theorie, die das strategisch-reziproke Handeln als elementarste Handlungsform behauptet, stellt der symbolische Interaktionismus von G.H. Mead dar. Nach Mead ist das „seif sprachlich vermittelt, und zwar durch eine symbolisch-antizipierende Kommunikation mit einem bestimmten „set" von Stimulus und Response einer jeweiligen Handlungssituation; diese Kommunikation ist „an arousal in the individual himself of the response which he is calling out in the other individual, a taking of the role of the other" (Mind, 73). Selbstbewußtsein im Sinne sozialer Identität entsteht durch Selbstvergegenwärtigung und Übernahme der Rolle des Anderen. Die Gefahr, daß in dieser Konstruktion die Perspektive der ersten Person Singular verloren geht, versucht Mead durch eine Differenzierung innerhalb dieses prozessuralen Selbstbegriffs zu vermeiden: die Unterscheidung von „me" (im Sinne der sozialen Bezogenheit des Reagierens) und „I" (im Sinne von uneinholbarer Spontanität der Reaktion): „it is the presence of those organized sets of attitudes that constitutes that 'me' to which he as an Τ is responding. But what that response will be he does not know and nobody else knows" (ebd. 175); vgl. dazu E. Tugendhat, Selbstbewußtsein, 278ff.; J. Habermas, Individuierung, 210-228.

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

Perspektive muß gewahrt werden, wenn von Bedeutungen und Wertungen die Rede ist. Andererseits kann es sich auch nicht um bloße Selbstzuschreibungen handeln, da diese wiederum ein unmittelbares Gegebensein jener interpretierenden Subjektivität voraussetzen, die erst noch prädiziert wird. Die Differenzierung von Gott und menschlicher Subjektivität im Gewissensbegriff macht es möglich, den konstitutiven Zusammenhang von Subjektivität und Interpretationsprozessen auszusagen, ohne entweder den Handelnden (erste Person) oder seine Handlungspartner (dritte Person) als uneinholbares Subjekt dieser Interpretationen substanzhaft voraussetzen oder transzendental postulieren zu müssen21. In dieser Weise wird der „relationstheoretische" Ansatz, den ich für den Handlungsbegriff von TL behauptet habe, abschließend auf den Begriff gebracht: Die Phänomene der Liebe müssen deshalb konstitutiv vom Handlungsverhältnis her verstanden werden, weil es sich um solche Ausdrucksformen handelt, in denen ein Individuum handelnd die personalen Relationen auslegt, in denen er sich als Handelnder vorfindet. Die Voraussetzung solches Verstehens ist jenes expressiv-artikulative Phänomen, das Kierkegaard „Gewissen" nennt und das sich in seiner Wiederholungsstruktur als ein Phänomen von Transzendenz zu erkennen gibt: als eine Wirklichkeit, die nicht von der bestimmten Relation als solcher aus bestimmbar ist, sondern diese je neu bestimmt. b) Artikulation

und

Maßstab

Milde und Strenge sind aber für Kierkegaard nicht nur (Bedeutungs-) Kategorien der ethischen Situation, sondern sie sind die existenzielle Gestalt der Liebe, also des bestimmten Lebenszieles. Insofern kann das Ganze des ethischen Lebens und jede einzelne relationale Handlung unter die Perspektive der Liebe gestellt werden: In jeder Handlung und ihrer Wiedergabe erfährt das Individuum eine Gestalt der Liebe, in jeder eigenen Handlung hört es „das alte Gebot, das immer neu wird" (411/357). Damit ist zugleich die theologische Differenz im 21

Die Formel: „du hast wesentlich nur mit dir selbst vor Gott zu tun" besagt also: Die Erste-Person-Perspektive hat gegenüber der Perspektive der dritten Person zwar einen Vorrang, aber nur insofern, als die erste Person der Gegenstand ist, über den hier Aussagen gemacht werden; doch kann die erste Person ebensowenig wie die dritte Person als Ursprung oder Sprecher der Aussagen gelten; dies ist vielmehr Gott oder die Stellung „vor Gott", oder anders gesagt: das Gewissen in seiner expressiven Funktion; eben dies stellt auch Pap. VII 1 A 10/72, 29 fest.

II. Handlung und Gottesbegriff

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Liebesbegriff wieder erreicht: Die subjektive Handlung wird wiedergegeben, und diese Wiedergabe konstituiert eine neue Bedeutung, nämlich die Erfahrung von Milde oder Strenge; doch diese Bedeutungsstiftung ist nur möglich, weil sie in Hinblick auf einen externen Maßstab geschieht (die Liebe als Telos), oder anders gesagt: Zur neuen Bedeutung kommt es, weil sich im subjektiven Handeln etwas Anderes artikuliert und zum Ausdruck bringt, das mit dem Handeln selbst nicht identisch ist22. Die Selbstverdoppelung des Absoluten in der bestimmten Handlung als die subjektive Erfahrung der Wiedergabe des Getanen ist zugleich als Selbstartikulation eines transzendenten Absoluten zu verstehen. Die oben rekonstruierte religiöse Form des relationalen Handelns setzt einen theologischen Handlungsbegriff voraus: die Vorstellung der Liebe Gottes als derjenigen bestimmten expressiven Realität, die ein sprachliches Selbstverstehen des Handelnden in den Kategorien von „Wiedergabe", „Milde" und „Strenge" erst ermöglicht. Die Bedeutung des Handelnden entsteht dadurch, daß sich diese Liebe in seinem Handeln negativ oder positiv zum Ausdruck bringt. Auch hier handelt es sich also, trotz des bestimmten Maßstabes, nicht um einen reflexiven, sondern um einen expressiven Begriff von Gewissen und Subjektivität. Angesichts der kulturellen Verzerrungen, durch die der christliche Liebesbegriff „in der beinahe weichlichen Gestalt einer gewissen verzärtelten Liebe" vorgestellt wird (412/359), betont Kierkegaard besonders die Strenge als eine Gestalt der Liebe. Die Strenge ist die (akustische) Erfahrung, die der Handelnde mit seiner lieblosen Handlung macht. Allerdings stellt sich die Frage, ob der Handelnde diese Strenge überhaupt bemerken kann oder will. Denn offensichtlich kann jemand ein falsches Verständnis von Gott und Liebe haben und deshalb seine Handlung des Anklagens ausführen, ohne die Wiedergabe und damit seine Selbstanklage zu bemerken. Diese negativen Möglichkeiten des Selbstbetruges (s. 416/361, 417/362) und des Sich-Selbst-Vergessens vor Gott (420/364) durchziehen den gesamten Text. Kierkegaard nimmt hier vorweg, was Anti-Climacus in der Krankheit zum Tode die „uneigentliche Verzweiflung" nennen wird:

22

Vgl. die Definition des Maßstabs in KT, 78: „was das ist, demgegenüber es [sc. das Selbst] ein Selbst ist"; der Maßstab wird demnach nicht objektivistisch gedacht, sondern relational-expressivistisch: er wird erst ansichtig, indem ein Selbst sich zu ihm handelnd verhält; vgl. auch AUN2, 257f£

488 „verzweifelt

4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

sich nicht bewußt

sein ein Selbst zu haben" (KT, 8) 23 .

Doch bleibt auch in diesen negativen Formen der externe Maßstab, das Telos der Liebe, phänomenologisch erhalten. Das Ausbleiben des Verstehens der durch die Handlung generierten Bedeutung ist möglich, weil Selbstbetrug und Selbstvergessenheit Weisen sind, der eigenen Lebensaufgabe auszuweichen, die darin besteht, die Liebe zu verwirklichen; diese Aufgabe ist also auch in ihnen noch - negativ gegenwärtig. Die Handlung in ihrer faktisch-objektiven Präsenz und Bedeutung erweist sich gegenüber der subjektiven Reflexion erneut als vorgängig und bestimmend: „Aber ob es ein Mensch nun entdeckt oder nicht, das Wort, welches er selbst gesagt hat, wird dennoch über ihn gesagt" (422/366). Unabhängig vom subjektiven Wissen setzt das (bestimmte) Handeln den Maßstab des Gleich-um-Gleich; durch die bloße Faktizität, ihre unhintergehbare Erstheit evoziert die Handlung die Liebe als ihren eigenen Richter. Der teleologische Maßstab ist nicht ein Begriff des reflektierenden Subjekts, sondern ist das expressive Element der bestimmten einzelnen Handlung 24 . Trotz dieser Vorgängigkeit der Handlung und des darin artikulierten Telos ist die Möglichkeit des Selbstbetruges durch den theologischen Handlungsbegriff nicht ausgeschlossen. Der begriffliche Rahmen der endlichen Handlungsituation als einer offenen Situation bleibt auch unter dem Primat der Liebe erhalten. Durch die strenge Anbindung der Bedeutungskategorie (im Spektrum von Strenge und Milde) an die bestimmte Handlung gelingt Kierkegaard eine eigene Klärung des Verhältnisses von Subjektivität und Sittlichkeit: Das 23

24

A. Gr0n, aaO. 125ff hebt hervor, daß diese uneigentliche Verzweiflung nicht eine untergeordnete, sondern gerade eine zentrale Form der Verzweiflung darstellt: den Versuch, sich selbst nicht als Geist verstehen zu wollen (131); das Nichtwissen um die eigene Verzweiflung ist eine „selbstgemachte Unwissenheit" (132). Diese produzierte Unwissenheit ist das, was Kierkegaard vielfach als spießbürgerliche „Geistlosigkeit" bezeichnet (s. 150ff.). Vgl. KT, 125f.: „Vermöge des Gewissens ist es so eingerichtet, daß die gerichtliche Anzeige jede Schuld unverzüglich begleitet, und daß der Schuldige der ist, welcher sie selber schreiben muß..." (diese Passage endet mit dem Bild von jenem Verbrecher, der in derselben Eisenbahn floh, auf deren Strecke sein Steckbrief telegraphiert wurde - „er hatte gewissermaßen die Anzeige selber mitgebracht"). Diesem expressiven Verständnis entspricht die Art, in der die Krankheit zum Tode die negativen Formen, also das Ausbleiben der Erkenntnis des eigenen Scheiterns, beschreibt: nämlich als Phänomenologie dieser Formen, die ihre Negativität an sich selbst aussagen, vgl. A. Gr0n aaO. 137ff; Gr0n spricht sehr schön davon, daß die negativen Formen (oder „Bewußtseinsgestalten", wie er sagt), „über sich selbst sprechen" (139). In dem, was sie über sich selbst aussagen, bringen die Verzweiflungsformen also ihren Maßstab selbst mit und zum Ausdruck.

II. Handlung und Gottesbegriff

489

Selbstverhältnis des Subjekts steht unter dem Primat des leibgebundenen relationalen Handelns, doch diese Relationen sind ihrerseits nicht zur höchsten Instanz hypostasiert, sondern sie sind der Leib, an dem sich das Gottesverhältnis erschließt und in dem das Leben vor Gott gelingen kann: „Gott erzieht ihn zu dem Verständnis, daß all dies nur zur Erziehung benutzt werde" (413f./359). Daß das relationale Leben aber überhaupt „vor Gott" geschieht, ist für Kierkegaard keine Frage des subjektiven Wissens, sondern gehört zum phänomenologischen Begriff des Handelns unabdingbar dazu, insofern allein hierdurch die Qualität des Gleich-um-Gleich erschlossen ist. c) Gesetz und Evangelium Doch ist nun theologisch zu fragen, ob Kierkegaard nicht gerade mit dieser radikalen Offenheit und der Betonung der Strenge eine gesetzliche Theologie der Liebe entwickelt. Denn was für eine Liebe soll das denn sein, die sich primär als Scheitern oder als Verdrängung im Subjekt äußert? Und worin liegt das „aufbauende" Werk dieser göttlichen Liebe, wenn sie ausschließlich als fordernder Maßstab zur Geltung kommt? Wie kann diese Liebe als Evangelium, d.h. als befreiend und erlösend verstanden werden? Mir scheint, daß Kierkegaards theologischer Liebesbegriff auf diese Fragen antworten kann, und daß diese Antwort zugleich das Verhältnis von Gesetz und Evangelium bestimmbar macht 25 . Im Anschluß an die Bestimmung Gottes als „Wiedergabe" nimmt Kierkegaard nämlich noch eine weitere, m.E. entscheidende theologische Aktzentuierung vor: „Das unendlich Liebevolle ist dies, daß er [sc. Gott] überhaupt mit dir zu tun haben will, und daß niemand, niemand so liebevoll jede, auch die geringste Liebe in dir entdeckt [opdager], wie Gott das tut" (421/365). Gottes Liebe besteht demnach 25

Eine kritische Interpretation von TL unter der Perspektive der lutherischen Rechtfertigungstheologie findet sich bei B. Müller, Objektlose Nächstenliebe. Müller konstatiert eine gesetzliche Struktur in Kierkegaards Denken, die das Projekt einer Theorie der Nächstenliebe scheitern lassen müsse. Die These von der Gesetzlichkeit in TL findet sich bereits bei Barth, der von dem „unlieben, de(m) inquisitorischen, de(m) fürchterlich gesetzlichen Charakter" des Buches spricht, s. KD IV/2, 887. D. Gouwens verteidigt TL gegen diese Kritik mit dem Hinweis auf die Priorität der göttlichen Liebe bei Kierkegaard: „Divine love is the source of human love. Agape embraces eros" (Religious thinker, 192). Eine differenzierte Darstellung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium bei Kierkegaard, bezogen auf das Spätwerk und dessen ideologiekritische Denkform, gibt H. Deuser, Dialektische Theologie, 267ff.

490

4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

nicht allein darin, der absolute Maßstab des Handelns zu sein, das Lebensgesetz, das sich in allen Einzelhandlungen zur Geltung und fordernd zum Ausdruck bringt. Dies ist, theologisch gesprochen, ein gesetzlicher Liebesbegriff. Gott ist vielmehr darin Liebe, daß er Liebe entdeckt und aufdeckt. Diese Liebe steht der endlich-subjektiven Liebe nicht als nur transzendenter Maßstab gegenüber, sondern sie kommt dem Handelnden so nahe, daß sie für ihn spricht und diejenige Liebe des Handelnden ausspricht, die sonst niemand entdeckt. Gott als Liebe ist Artikulation: die Äußerung und Aussprache, das Zum-Ausdruck-Bringen der kreatürlichen Liebe. Diese Artikulation geschieht in und an der einzelnen Handlung, und sie geschieht kraft der expressiven Qualität, d.h. der Wiederholungsstruktur der Handlung. Daß Gott „überhaupt mit dir zu tun haben will", ist seine absolute Nähe: die Gegenwart Gottes in der expressiven Wiederholungsstruktur der endlichen Handlung. Umgekehrt erweist sich nun die im Gewissen erfahrene „Wiedergabe" auf eine solche Weise als die Selbstartikulation der Liebe Gottes, daß sie die Verwirklichung der kreatürlichen Liebe ermöglicht und eröffnet: sie „entdeckt" diese kreatürliche Liebe überhaupt erst, und erst durch diese aufdeckende Artikulation kann der Handelnde das vorher Verborgene wahrnehmen, annehmen und gestalten26. Der Inhalt dieser Artikulation ist identisch mit der Erfahrung von Milde und Strenge. Doch jetzt ist der Akzent verändert, und zwar so verändert, daß nun auch die Strenge sub contrario tatsächlich als Gestalt der aufbauenden Liebe erkennbar wird. Die Liebe liegt nämlich darin, daß diese Erfahrung, sei es die der Milde oder die der Strenge, überhaupt möglich wird. Denn in dieser Erfahrung, oder in der Konstitution der Bedeutung, liegt die Möglichkeit, auf das gestörte Verhältnis zum Telos der Liebe aufmerksam zu werden. Dieses Aufmerksamwerden ist ein Verhalten des Handlungssubjekts und unterliegt seiner Verantwortlichkeit, aber 26

Das „Entdecken" der Liebe hat also eine klärende und eröffnende Funktion. Eben dies ist auch, neben dem Aspekt der Verwirklichung, das wesentliche Merkmal des Ausdruckshandelns: durch das Zum-Ausdruck-Bringen einer Form wird diese Form für den Handelnden überhaupt erst geklärt und bestimmt, vgl. C. Taylor, Hegel, 30-33. Auch Kierkegaards Wiederholungsbegriff ist in demselben Sinn als Prozeß fortschreitender Bestimmtheit zu denken, vgl. etwa die Bemerkungen über die Dynamik des eigenen künstlerischen Prozesses, die als „verändert in der Wiederholung" gekennzeichnet wird: „ein bißchen mehr Klarheit in der Darstellung, ein bißchen mehr Leichtigkeit im Fluß des Stils, ein bißchen mehr Bedachtsamkeit in Bekanntschaft mit der Aufgabe, ein bißchen mehr Innerlichkeit in der Erkenntlichkeit: mithin verändert in der Wiederholung" (LA, 23, s. auch 12f.); vgl. ferner J. Ringleben, Wiederholung, 330ff.

II. Handlung und Gottesbegriff

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es setzt die Artikulation der Liebe voraus. Und eben darin besteht das aufbauende Werk der Liebe Gottes. Mehr vermag Kierkegaard im Rahmen einer nachidealistischen Theorie des Subjekts und des Handelns nicht zu sagen, die sich der geschichtsphilosophischen Konstruktion vehement verweigert27. Handeln im expressiven Sinn ist die umfassende begriffliche Form, innerhalb derer die Differenz von Gott und Subjekt ausgesagt wird, nämlich als eine funktionale Differenz innerhalb dieses Leitbegriffes28. Dies bedeutet aber zugleich die Identität von Gottes- und Weltverhältnis auf der phänomenalen Ebene: „Denn im christlichen Sinne ist die Liebe zu den Menschen die Liebe zu Gott, und die Liebe zu Gott die Liebe zu den Menschen" (420/365). Dieses Ineinander von Differenz und Identität beschreibt die leibliche Praxissituation als eine von ihrem schöpferischen Grund her erschlossene, aber der geschaffenen Freiheit zur eigenen Gestal-

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Vgl. SWL, 334: „[...] indem Gott spricht, braucht er den Menschen selber, zu dem er spricht, er spricht zum Menschen durch den Menschen selbst. Darum hat er die Macht, und kann einen Menschen jeden Augenblick, den er will, zermalmen". Die Bedeutung der Liebe Gottes, ein artikuliertes subjektives Selbstverstehen zu ermöglichen, zielt gerade auch auf den Fall der „Strenge", also auf die Einsicht in das eigene Scheitern. Dieser Akzent trifft sich mit der soteriologischen Intention von Anti-Climacus: das Sündenbewußtsein als diejenige Form des Glaubens verständlich zu machen, die von der Krankheit der Verzweiflung erlöst, vgl. KT, 81, 100. Die Bindung der Liebe Gottes an unumgängliche Interpretationsprozesse hat K. Nordentoft in Bezug auf den Gnadenbegriff des Spätwerks herausgestellt (und einseitig überspitzt!): „Die Pointe besteht hier darin, daß gerade die Gnade die Eindeutigkeit der Forderung aufhebt und sie interpretierbar macht, so daß die eigentliche Anforderung an das Individuum die Anforderung ist, selber den Inhalt und die Reichweite der Forderung konkret zu verstehen. Die Gnade hebt nicht das Gesetz auf, sondern dessen Charakter als eindeutige Norm, und damit stellt sie die eigentliche Aufgabe. Die Gnade wird dann zu einem Ausdruck dafür, daß der Mensch darauf verweisen ist, auf eigene Faust seine Seligkeit zu finden" {BrandMajoren, 227, eigene Übersetzung). K.-M. Kodalle, Eroberung, 293ff. expliziert unter Bezug auf Kierkegaard die Christologie als Denkform, in der Subjektivität gegen jeden heilsgeschichtlichen und spekulativen „Heilsutilitarismus" (306) in der Perspektive einer „Zweckfreiheit absoluter Gegenwart" (305) beschreibbar wird. Entsprechend ist dann auch der Wille Gottes als „Sinnerfahrung nur freizulegen, indem profan von dem Einzelnen in seinen kommunikativen Kontexten geredet wird" (311). Dadurch wird es auch möglich, die für die Rechtfertigungstheologie wesentliche Differenz von Person und Werk in dieses Modell einzuzeichnen (vgl. E. Jüngel, Menschlicher Mensch): Vom Personsein eines Menschen kann demnach zwar nur im Rahmen seines Handelns die Rede sein, dies schließt aber das schöpferische und erlösende Handeln Gottes als seine Zuwendung in Gesetz und Evangelium ein.

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tung überantwortete Handlungsstruktur und bewahrt eben damit eine wesentliche Intention lutherischer Ethik29. Gott als „Wiedergabe" ist die Artikulation kreatürlicher Liebe. Die möglichen Formen dieser kreatiirlichen Liebe haben die Reden von TL2 unter dem Leitthema des lAtbenkönnens entfaltet. Es ist festzuhalten, daß mit dem Begriff der „Wiedergabe" der Gottesbegriff nicht im Rahmen eines (psychisch-ontischen oder forensischen) Motivationsmodells verstanden wird, etwa als Vergebungserfahrung, die ein Liebeshandeln freisetzt30. Kierkegaard verortet den Gottesbegriff nicht psychologistisch außerhalb der Handlung, in einer vorausgehenden individuellen Reflexion, Disposition oder Erfahrung. Die Wiederholungsstruktur bringt vielmehr Gott als Geist zur Geltung 31 , und als Geist ist Gott das dynamisch-eröffnende, das sprachliche Element in der einzelnen Handlung selbst, das dem Handelnden die Kommunikation mit seinem relationalen Leben ermöglicht. In allen anderen, vorausgegangenen Reden von TL war es die Perspektive eben dieser Relationen gewesen, unter der dieselbe Geiststruktur entfaltet worden war: Eine bestimmte intentionale Handlung bringt die Unbedingtheit der betreffenden Handlungsbeziehung zum Ausdruck, d.h. ihre Qualität als Gleich-um-Gleich, und insofern dieses Zum-Aus29

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31

Zum schöpfungstheologischem Verständnis der Ethik als ontologischer Reflexion der „Praxissituation geschaffener Freiheit" und der damit verbundenen Absage an einen normativ bestimmten, positiven Begriff eines göttlichen Gesetzes vgl. E. Herms, Kirchenrecht, bes. 240, 274: „Die Existenz der Welt als Praxissituation leibhafter Freiheit ist Gottes Werk; ihre soziale Gestalt aber Werk von Menschen." Vgl. beispielhaft D. Lange, Ethik, 410ff., der das Verhältnis von Rechtfertigung und Handeln als den Schritt von der Vergebungserfahrung zur „Vollmacht" auslegt: „Das befreite Gewissen". Auf diese Weise wird der Gottesbegriff dem Handlungsbegriff im Sinne des Kausalschemas vorgelagert. Dieselbe Aufteilung findet sich auch bei dem theologischen Handlungsbegriff von J. Fischer: Zwar interpretiert Fischer das Verhältnis von Gottes- und Handlungsbegriff nicht als ein psychologischkausales Verhältnis, sondern als ein logisches, nämlich als das Verhältnis von Handlung und Identität (Handlung, 30ff.); doch hierbei wird die Identität als prinzipiell vorgegeben gedacht (nämlich als Rechtfertigungsgeschehen), so daß das Handeln nur noch als Folgephänomen dieser Vorgabe gelten kann. Dann aber hat der Gottesbegriff seinen Ort nicht im Handlungsphänomen, sondern allein in der Handlungsbegründung (ebd. 46f£), und dem Handeln seinerseits wird jede konstitutive Bedeutung für die (theologische) Identität des Handelnden abgesprochen. Kierkegaard dagegen behauptet gerade das Gegenteil: daß Identität, theologisch verstanden, den Handlungsvollzug logisch voraussetzt. Zum direkten Zusammenhang von Geistbegriff und Wiederholungsstruktur in TL vgl. die Rede von „des Geistes Verdoppelung" (201/177). B. Müllers Kritik, daß Kierkegaards Liebesethik wegen des Fehlens eines theologischen Pneumabegriffes gesetzlich werde (Nächstenliebe, 107ff., 254ff.), trifft also nicht zu.

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druck-Bringen zwischen und für beide beteiligten Akteure geschieht, wird es möglich, daß beide ihr Verhältnis aufgrund dieses Ausdrucks gestalten können. Das intersubjektive Verhältnis selbst ist die Möglichkeit geschöpflicher Liebe in eigener Verantwortung, die Expressivität des Verhältnisses aber ist als göttliche, kreatorische Liebe zu bezeichnen: als positives „Drittes" oder Geist. Die Formen expressiver Intentionalität, in denen die vorausgegangenen Reden das Handeln der Liebe dargestellt hatten und die im Zentrum der von mir unternommenen Rekonstruktion standen, können verstanden werden als die bestimmten Formen dieser geistigen Artikulation. Man kann fragen, ob diese Darstellung nicht die optimistische Voraussetzung einer ungebrochenen Liebe „in" dem Individuum macht, die vom Rechtfertigungsglauben her nicht möglich ist. Doch ist es offensichtlich, daß der Akzent nicht auf einer kontinuierlichen, durch keine Sünde fundamental zerstörte Güte des Subjekts liegt (was auch von der Sündentheologie anderer Kierkegaard-Schriften her unmöglich wäre). Vielmehr kommt es Kierkegaard auf das expressive, entdeckende Element an, und dies als das spezifische Tun Gottes: erst in und durch solches Entdecken kann überhaupt von der Liebe „im" Handelnden gesprochen werden; das expressive Zum-Ausdruck-Bringen in der Weise der Wiederholung zeigt nicht eine Form im Äußeren, die auch unabhängig davon im Innern existierte, sondern der Ausdruck konstituiert diese Form überhaupt erst. Was dadurch konstituiert wird, ist das spezifische Personsein des Geschöpfs: seine Liebesfähigkeit. Wird diese Artikulation aber von dem Handelnden selbst verstanden, indem er es subjektiv als Strenge oder Milde erfährt, so ist jene Liebe „in" ihm zugleich in die Dynamik seiner Selbsterfahrung eingebunden, d.h. die Artikulation deckt für den Handelnden die Liebe als sein Telos auf und bindet ihn in die Aufgabe ein, dieses Telos in der relationalen Konkretion seiner leiblicher Existenz zu verwirklichen: „Ein solcher wird es gewiß auch vermeiden, zu Gott vom Unrecht anderer gegen ihn zu sprechen, vom Splitter im Auge des Bruders" (422f./367). Daß die Artikulation der Liebe praktische Kraft entfaltet und sprechend die leibliche Welt schöpferisch verändert, dies ist die hier nur angedeutete, aber in sämtlichen vorausgegangenen Reden des Buches explizierte handlungstheoretische Kernthese. Dieses Handlungsverständnis kann als Versuch gelten, Luthers theologische Begründung der Ethik unter modernen Bedingungen, und d.h. im Bewußtsein der akuten Gefährdung von gelingender Intersubjektivität, und in den Begriffen einer nachaufklärerischen Subjektphilosophie neu zu formulieren: die Einsicht, daß ein guter

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4. Kapitel: Jenseits der Phänomenologie

Baum gute Früchte bringt und „der Mensch in der Person zuvor fromm oder böse sein [muß], ehe er gute oder böse Werke tut" 32 . Eben dieses „innerliche" Verhältnis von Baum und Frucht, von Leben und Äußerung war der Ausgangspunkt des Buches gewesen (s.

TLl,ll).

Die Behauptung einer artikulierbaren kreatiirlichen Liebesfähigkeit ist die ontologische Fundamentalthese Kierkegaards, die zugleich damit die theologische Dimension eröffnet: Der Gottesbegriff ist unverzichtbarer Bestandteil dieser These, genauer gesagt: er ist ihr wesentlicher Inhalt. Denn allein von diesem theologischen Liebesbegriff aus kann jene kreatürliche Liebesfähigkeit gedacht werden: nicht als ontologische Struktur oder Eigenschaft des Geschöpfs, sondern als im Schöpfer gründendes und von ihm ausgehendes Ereignis: als je neue Äußerung der göttlichen Schöpferliebe, die „niemals ohne Zeugnis bleibt" (6/10). Diese theologische Differenz bindet zugleich die handlungstheoretische Differenz mit ein; die expressive Wiederholungsstruktur des Handelns ist nämlich entscheidend für die handlungstheoretische Verortung des Gottesbegriffs: Kierkegaard denkt den Gottesbegriff nicht subjektivitätstheoretisch vom Handeln einzelner Subjekte her, sondern bezieht ihn wesentlich auf die Praxis- und EreignisstTuktUT dieses Handelns, d.h. auf das, was im individuellen Handeln mit und zwischen den Handelnden geschieht. Auf diese Weise kann Kierkegaard die Wirklichkeit Gottes als Dimension der Handlungssituation entdecken, ohne daß die in der Handlung wirksame göttliche Liebe zu einer undialektischen Gesetzlichkeit wird; zugleich aber vermag er den Forderungscharakter in dieser Liebe, also „evangelisch" zu begründen. Die existenziell-hermeneutischen Erfahrungsbegriffe Strenge und Milde gründen gleichermaßen in der (expressiven) Wirklichkeit der Liebe Gottes. Dies entspricht der lutherischen Auffassung, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden und zugleich vom Evangelium her aufeinander zu beziehen33. Kierkegaard verortet die Spannung von Gesetz und Evan32

33

M. Luther, Freiheit, 266; vgl. W. Härle, Dogmatik, 528. Den Verlust der materialethischen Dimension in der Verhältnisbestimmung von Baum und Frucht kritisiert H. Deuser, Glaube, 36, ebenso in Bezug auf TL: Wirkliche Ethik, 131£ Eine ausführliche Interpretation des „gleich um gleich" unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium findet sich bei P. Müller, Kristen· dom, 45ff. Allerdings verfehlt Müller m.E. die Weise, in der Kierkegaard auch das Gesetz vom Evangelium (der Liebe) her versteht: Müller interpretiert das Gleichum-Gleich als bloß immanent-menschliche Form, „innerhalb" derer auch Gott dem Menschen begegnet, ohne doch selbst Element dieser Form zu sein (s. ebd. 46); da-

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gelium im Handlungsvollzug, indem er sie als die Sprachformen deutet, in denen der Handelnde in seiner Handlung mit sich selbst und seinen Relationen zu tun bekommt. Innerhalb der Theorie der Liebe erhält die theologische Differenz von Gesetz und Evangelium handlungstheoretische Plausibilität. Umgekehrt vermag der theologische Begriff die Situation des Handelns adäquat auszulegen, indem er die darin enthaltene existenziell-ethische Spannung ernst nimmt und zugleich schöpfungstheologisch von ihrem kreativen Grund her versteht: „wie das wohlerzogene Kind eine unvergeßliche Vorstellung von der Strenge hat, ebenso darf auch der Mensch, der sich zu Gottes Liebe verhält, falls er sie nicht *,ungeistlich' (1. Tim 4, 7) oder leichtfertig eitel nehmen soll, Furcht und Zittern niemals vergessen, obwohl er in Gottes Liebe ruht" (ebd.). Das hier skizzierte begriffliche Verhältnis von Gott, Handlung und Sprache ist m.E. mehr als ein bloß abseitiges Resultat, das mit Kierkegaards übrigen Äußerungen nur schwer vermittelbar scheint. Es ist auffällig, daß er sich in seinem Spätwerk dem Phänomen der Sprache immer stärker zuwendet, und zwar besonders unter dem Aspekt einer qualitativen Differenz zwischen menschlicher und göttlicher Sprache; in dieser Differenz wird das Versagen der Christenheit gegenüber der Forderung des Christentums beschreibbar. Dementsprechend ist es eine sehr kritische Sicht der (menschlichen) Sprache, genauer gesagt: des Sprachgebrauchs, die hier zum Ausdruck kommt 34 . Daß dabei gleichwohl die Sprache als entscheidendes Phänomen oder Kategorie einer christlichen Reflexion der geschichtlichen Praxis festgeschrieben wird, und dies auf eben die Weise, die wir in der Schlußrede von TL beobachten können, zeigt eine Äußerung aus dem Jahr 1855, die überschrieben ist mit „Die Sprache" und u.a. aus-

34

mit aber verfehlt er Kierkegaards Absicht, gerade im Gleich-um-Gleich den originären Ort des Religiösen aufzuzeigen. Entsprechend muß dann die Gnade als Aufhebung des Gleich-um-Gleich behauptet werden (ebd. 49), dieses selbst aber und das dadurch initiierte lebenslange Strebenmüssen der Liebe als eine durch die fortbestehende Sünde des Menschen verursachte Notwendigkeit (ebd. 50f.). Kierkegaard wird hier unter der Maßgabe einer neulutherischen Zwei-Reiche-Lehre interpretiert, die aber in ihrem Dualismus die lutherische Substanz von Kierkegaards Religionsphilosophie, nämlich die konsequente Zuordnung von Gesetz und Evangelium, verfehlt. Vgl. etwa Pap. XI 2 A 128: Der „Mißbrauch der Sprache" ist eine viel weiter verbreitete und umfassendere Sünde als die „Sünden von Fleisch und Blut". Häufig verweist Kierkegaard auf die menschliche Sprache als „Diebessprache [TyveSprogW vgl. Pap. X I 1 A 226,269,342, 387; Pap. XI 2 A 357,37.

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führt: „Im Geistesverhältnis ist die Gabe immer zugleich ein Richtendes - und durch die Sprache oder durch das, was diese Idealität in seinem Munde wird, richtet der Mensch sich selbst" {Pap. XI 2 A 147). Der Wiederholungsbegriff in seiner sprachlich-expressiven Form wird zur ontologischen Formel: „Das Dasein ist: *akustisch [akustisk]" (A, 323). d) Der Gottesbegriff und die geschichtliche Normativität des Handelns Zum Abschluß dieser Überlegungen möchte ich einen Aspekt noch einmal aufnehmen und vertiefen, der bereits im vorausgegangenen Abschnitt angesprochen worden war. Kierkegaards Verständnis des Gottesbegriffs als bestimmte Artikulation oder Expressivität hat nämlich auch Konsequenzen für seine Auffassung von der Normativität des Handelns. Ich habe versucht, Kierkegaards Gottesbegriff der Wiederholung („Wiedergabe") als Artikulation kreatürlicher Liebe zu interpretieren. Diese Interpretation spiegelt den Argumentationsgang des gesamten Buches wieder. TL beschreibt das Handeln der Liebe, indem es eine Reihe von Intentionalitätsformen beschreibt, die als Sollen und Können zusammengefaßt werden können. Dies sind aber nicht nur exemplarische oder gar zufällige Formen des Sollens und Könnens der Liebe, sondern es handelt sich um die bestimmten und unverwechselbaren intentionalen Ausdrucksformen dieser Liebe, also um die bestimmten Formen der göttlichen „Wiedergabe". Insofern entwickelt Kierkegaard eine materiale Theorie der Liebe, eine Phänomenologie ihrer Formen. Das bedeutet, daß auch die handlungstheoretische Kategorie der Artikulation oder Expressivität nicht nur formalen Sinn haben kann. M.a.W. es gibt auch bestimmte Artikulationsformen, die nicht die der Liebe sind, die aber in formaler Hinsicht als Artikulation zu bestimmen sind. Auch diesen Verstehens- und Handlungsformen waren wir in der Rekonstruktion begegnet, exemplarisch im Fall der romantischen Dichterliebe. Der Phänomenologie der authentischen Ausdrucksformen der Liebe stellt Kierkegaard also eine Reihe von falschen Formen zur Seite. Diese erweisen ihre Falschheit einerseits pragmatisch darin, daß in ihnen die Liebe mißlingt; diesen Aufweis zu führen ist Aufgabe jeder einzelnen Rede des Buches. Die begriffliche oder ontologische Differenz zwischen wahren und falschen Ausdrucksformen der Liebe liegt aber darin, daß nur die erstgenannten

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theologisch qualifiziert sind: nur sie stellen Formen der „Wiedergabe" Gottes dar. In dieser Differenz aber sieht Kierkegaard das entscheidende ethisch-moralische Problem seiner Zeit und seiner Gesellschaft. Diese Differenz betrifft nicht individuelle Glaubensüberzeugungen, sondern die normative Basis der Gesellschaft. In dem zweiten der beiden Aufsätze über den „Einzelnen", die etwa zeitgleich mit TL entstanden, aber erst nach Kierkegaards Tod veröffentlicht wurden, findet sich eine Beschreibung dieser Lage, die diesen Zusammenhang zwischen Artikulation bzw. Wiederholungsstruktur und Normativität beleuchtet: „,Der Einzelne': mit dieser Kategorie steht und fällt die Sache des Christentums, nachdem die Weltentwicklung so weit in Reflexion gelangt ist als sie ist. Ohne diese Kategorie hat der Pantheismus schlechthin gesiegt [...] und der Pantheismus ist eine Gehörstäuschung [et akustisk Bedrag], die Volkes Stimme [vox populi] und Gottes Stimme [vox Dei] verwechselt, eine Gesichtstäuschung, ein aus den Dünsten der Zeitlichkeit erstehendes Nebelgebilde, eine aus ihrem Widerschein erstehende Luftspiegelung, die das Ewige sein soll" (SS, 117f.). Der hier beschworene Begriff des „Einzelnen" entspricht exakt der Struktur des in seinen Relationen auf sich selbst verwiesenen Akteurs, der wir auch in der Schlußrede von TL begegnet waren (s. 420/365). Der „Pantheismus" aber steht für eben diejenigen Versuche eines rein immanenten Selbstverständnisses, das auf Gott als „Zwischenbestimmung" verzichtet und das in TL in den Formen der scheiternden Liebe vorgeführt wird. Interpretiert man diese Passage von TL her, so wird der Sinn von Kierkegaards Klage über den Verlust der Transzendenz, die im Spätwerk nahezu unaufhörlich wiederholt wird, deutlich: Es ist dies primär nicht der reaktionäre und historisch ohnmächtige Versuch, ein ungläubig gewordenes Zeitalter wieder zum Gehorsam gegenüber einem heteronom fordernden Gott zurückzurufen, sondern es ist die Warnung vor dem Verlust einer ganzen Dimension des Handelns, die allein kraft eines Gottesbegriffes verwirklicht werden kann. Das Bild dessen, was hier verloren zu gehen droht, findet sich in TL: Es sind eben die bestimmten Formen von expressiver Intentionalität, die das Handeln der Liebe ausmachen. Diese Handlungsformen sind die normative Grundlage der Gesellschaft, um die es Kierkegaard in der polemischen Auseinandersetzung mit der Kultur seiner Zeit geht. In dieser Auseinandersetzung geht es um die Differenz von bestimmten Formen des Handelns, damit und deshalb aber geht es um die Differenz der Formen von Artikulation: um den Unterschied zwischen „Volkes Stimme" und „Got-

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tes Stimme". Diese Differenz der Artikulation kann direkt in die fundamentale Differenz der Praxisbegriffe zurückübersetzt werden, nämlich in die Differenz von „Menge" und „Einzelnem": „Und jeden einzelnen Menschen ehren, unbedingt jeden Menschen, das ist die Wahrheit und ist Gottesfurcht und .Nächstenliebe'; aber .Menge' ethisch-religiös als Instanz in Beziehung auf .Wahrheit' anerkennen, heißt Gott leugnen und kann darum auch unmöglich .Nächstenliebe' sein. Und der .Nächste', das ist der schlechthin wahre Ausdruck für echt menschliche Gleichheit" (SS, 105). Damit ist vorgegeben, was die Auslegung des Liebesbegriffs leisten muß: sie muß die verborgene Normativität des relationalen Selbst (des „Einzelnen") aufschlüsseln als Antwort auf die geschichtsphilosophische Frage nach der Normativität der gegenwärtigen Kultur. Man kann in dieser Weise die spezifische Stellung und die Aufgabe von TL am Verhältnis von Sprache und Praxis beleuchten: Der Ausgangspunkt wird durch die Analyse der gegenwärtigen und untergehenden Gesellschaft in der Literarischen Anzeige bereitgestellt. Dort wird die gegenwärtige Lage im wesentlichen als ein Problem der Sprache beschrieben: Die Auflösung gemeinsamer Bedeutung und das Entstehen einer „Zweideutigkeit" in den sozialen Diskursen führt zum Untergang der alten „repräsentativen" Sozialformen, und dies ist zugleich der Verlust einer gemeinsamen und bedeutungsvollen Sprache: „es bleibt keiner mehr übrig, der redet" (LA, III) 3 5 . Angesichts dieser Lage versucht TL, der Möglichkeit gelingender Interaktion noch einmal neu nachzugehen. Das Buch tut dies in der Form einer Phänomenologie der Liebe und ihrer Praxis, die vor allem eine Phänomenologie der Sprache der Liebe ist. Kierkegaard deckt diejenigen Sprach- und Zeichenformen auf, die immer schon und immer noch in den Fällen verwendet werden, in denen Liebe gelingt. Dem in der Literarischen Anzeige konstatierten Verlust der Sprache setzt TL die wieder-holende Entdeckung einer anderen, ursprünglicheren Sprache entgegen. „Das Liebesgebot ist das alte Gebot, das immer neu wird" (411/357). Die in diesem Buch beschriebenen Artikulationsformen sind als normativ für das gesellschaftliche Zusammenleben gemeint, im Privaten wie im Öffentlichen; aber diese Normativität wird nicht postuliert, sondern sie wird entdeckt, sie wird dem vorgefundenen Alltagsverhalten abgerungen. Es ist eine Archäologie

35

Vgl. ferner LA, 82,104, s. hierzu die verstreuten Bemerkungen in der vorliegenden Untersuchung (Kap. 2, II, 1.1. und 1.2.4.).

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oder Phänomenologie des Normativen. Die entscheidende Frage in Hinblick auf die nach 1847 folgenden Texte Kierkegaards lautet, ob für ihn diese normativen Formen weiterhin Bestand haben und ob bzw. wie sie in seine zunehmend kritischere Stellung gegenüber der bürgerlich-liberalen Gesellschaft und ihrer Kirche eingehen. Dies aber wäre Gegenstand einer anderen Untersuchung.

Literatur- und Abkürzungsverzeichnis A. Werkausgaben Kierkegaard, S0ren: Samlede Vaerker, 3. udgave ved Peter P. Rhode, bd. 11-19, K0benhavn 1962-64. ders.: Papirer, 2. for0gede udgave, bd. I-XI,3 ved Ν. Thulstrup, bd. XII-XIII Suplementsbind ved Ν. Thulstrup, bd. XIV-XVI Index ved N.J. Cappel0rn, K0benhavn 1968-78 (zitiert als Pap. mit der ensprechenden Bandzahl) Deutsche Ausgaben Die Tagebücher, übers, und hg. von Hayo Gerdes, Bd. 1-5, Düsseldorf/Köln 1962-1974 (zitiert als Tl-5) Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke, übers, und hg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans-Martin Junghans, 2. Aufl., Gütersloh 1986ff. Diese Ausgabe wird in folgenden Abkürzungen zitiert: A Der Augenblick. AU Ν1/2 Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Bd. 1 und 2. Β Briefe. BA Der Begriff Angst. BI Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. BÜA Das Buch über Adler. CR Christliche Reden 1848. Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845. DRG Einübung im Christentum. EC EOl/2 Entweder-Oder, Bd. 1 und 2. Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847. ERG Furcht und Zittern. FZ

502 GWS JC KK KT LA LF PB 2R3 3R3 4R3 3R4 4R4 RAF SLW SS TL US V

w

WS ZKA ZS

Literatur- und Abkürzungsverzeichnis

Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller. Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est. Die Krise und eine Krise im Leben einer Schriftstellerin. Die Krankheit zum Tode. Eine literarische Anzeige. Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel. Philosophische Brocken. Zwei erbauliche Reden 1843. Drei erbauliche Reden 1843. Vier erbauliche Reden 1843. Drei erbauliche Reden 1844. Vier erbauliche Reden 1844. Zwei Reden beim Altargang am Freitag 1851. Stadien auf des Lebens Weg. Die Schriften über sich selbst. Die Taten der Liebe (die beiden Teilbücher bzw. „Folgen" werden als TL1 und TL2 zitiert) Urteilt selbst! Vorworte Die Wiederholung. Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller. Zwo kleine ethisch-religiöse Abhandlungen Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen. Weitere Textausgaben

Sören Kierkegaard. Das Buch Adler oder der Begriff des Auserwählten, deutsch von Theodor Haecker, in: Sören Kierkegaard. Einübung im Christentum und anderes, hg. und eingeleitet von W. Rest, München 1977, S. 317-518 (zitiert als BÜA (H)). Soren Kierkegaard. Works of Love. Some Christian Reflections in the Form of Discourses, transi. H. and E. Hong, Princeton 1995.

B. Hilfsmittel Ordbog over Det Danske Sprog, 28 Bde. Gegr. von V. Dahlerup, hg. von Det danske Sprog- og Litteraturselskab, Kopenhagen 1919ff.

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dies: „Recent English Literature on Works of Love", in: N.J. Cappel0rn/H. Deuser (Hg.): Kierkegaard Studies - Yearbook 1998, Berlin/New York 1998, S. 179-198. Andersen, Lars Erslev: Hinsides ironi. Fire essays om S0ren Kierkegaard, Ârhus 1995. Andic, Martin: „Confidence as a Work of Love", in: G. Pattison (ed.): Kierkegaard on Art and Communication, New York 1992, S. 160184. Anz, Wilhelm: „Philosophie und Glaube bei S. Kierkegaard. Über die Bedeutung der Existenzdialektik für die Theologie", in: H. Schrey (Hg.): Sören Kierkegaard (Wege der Forschung, Bd. CLXXIX), Darmstadt 1971, S. 173-239. ders.: „Schleiermacher und Kierkegaard. Übereinstimmung und Differenz", in: ZThK 82 (1985), S. 409-429. Arbaugh, George E.: „Kierkegaard and Feuerbach", in: Kierkegaardiana 11, Kopenhagen 1980, S. 7-10. Beck, Elke: Identität der Person. Sozialphilosophische Studien zu Kierkegaard, Adorno und Habermas (Epistemata, Reihe Philosophie, Bd. 94), Würzburg 1991. de Bobadilla, Theresa Α.: Kierkegaards Begriff der Ausnahme. Der Geist als Liebe, München 1992. Bongardt, Michael: Der Widerstand der Freiheit. Eine transzendentaldialogische Aneignung der Angstanalysen Kierkegaards (Frankfurter Theologische Studien, Bd. 49), Frankfurt a.M. 1995. Deuser, Hermann: Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards, München 1980. ders.: „Die Taten der Liebe. Kierkegaards wirkliche Ethik", in: W. Härle/R. Preul (Hg.): Gute Werke (Marburger Jahrbuch Theologie V), Marburg 1993, S. 117-132. ders.: Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers (Erträge der Forschung, Bd. 232), Darmstadt 1985.

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