Studien zum Verständnis Herodots [Reprint 2011 ed.] 311013621X, 9783110136210

In der 1968 gegründeten Reihe erscheinen Monographien aus den Gebieten der Griechischen und Lateinischen Philologie sowi

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German Pages 218 [216] Year 1992

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Studien zum Verständnis Herodots [Reprint 2011 ed.]
 311013621X, 9783110136210

Table of contents :
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten
1. Herodots Gygesnovelle
2. Novellen und Anekdoten über Kroisos
3. Novellen und Anekdoten über Kyros
4. Erzählungen über Kambyses
5. Novellen und Anekdoten über Dareios
6. Erzählungen über Xerxes
7. Erzählungen (Novellen und Anekdoten) über griechische und makedonische Politiker
8. Ironie als Kriterium beim Nachweis einer Fiktion (Das Experiment des Psammetichos)
II. Hauptstück: Exkurse
1. Exkurse und Exkurstechnik
2. Das homerische Vorbild
3. Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse
4. Bauwerke, Denkmäler und Weihgeschenke
5. Geographie und Ethnographie
Rückblick und Ausblick
Stichwort- und Namenverzeichnis
Stellenverzeichnis
Griechische Wörter

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H a r t m u t Erbse Studien zum Verständnis H e r o d o t s

w DE

G

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Winfried Bühler, Peter Herrmann und Otto Zwierlein

Band 38

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1992

Studien zum Verständnis Herodots von Hartmut Erbse

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1992

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Erbse, Hartmut: Studien zum Verständnis Herodots / von Hartmut Erbse. - Berlin : de Gruyter, 1992 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Bd. 38) ISBN 3-11-013621-X NE: GT

© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, D-1000 Berlin 61

DIS MANIBUS UXORIS CARISSIMAE SACRUM

Vorwort Thukydides versichert im Prooimion seines Werkes (1,21,1 und 1,22,4), daß er das rein Unterhaltungsmäßige von seiner Darstellung ferngehalten habe. Er nennt das, was er da verschmäht, τό μυθώδες und bezieht sich damit auf den seiner Gegenwart vertrauten Gegensatz von Mythos zu Logos. Seine Bemerkung besagt nicht, daß er die Erforschung der älteren Zeiten ablehnt. Aber er gibt zu verstehen, „daß den Dichtern und Prosaautoren, die über die ferne Vergangenheit geschrieben haben, nicht ohne weiteres zu trauen ist, weil sie den Eigentümlichkeiten eines überlieferten Materials, welches bereits mythisch überformt war, im Hinblick auf den Unterhaltungswert zu sehr nachgegeben haben" (Nickau 89). Die Bemerkungen des Thukydides sind von der gesamten antiken Kritik und von vielen modernen Forschern — wie ich glaube, mit Recht — vor allem auf die Novellen und Anekdoten Herodots bezogen worden. Diesen Teilen seines Werkes verbleibt nach thukydideischer Auffassung nur ein Unterhaltungswert, und ihr Verfasser gilt als unzuverlässiger Plauderer, ja Schwindler (vgl. die Beiträge von Momigliano und Wardman, auch Kapitel II 3 bei Hartog). Herodot selbst hat niemals eine Novelle oder Anekdote als μύθος bezeichnet (er kannte die Antithese Mythos —Logos nicht, oder er ignorierte sie); denn jede dieser Erzählungen gehörte für ihn zu einer Person, die er für historisch hielt. Welche Funktion aber haben Novellen und Anekdoten in seiner Darstellung? Gewiß sollen sie auch unterhalten, und die meisterhafte Form, in der sie vorgetragen werden, erlaubt es nicht, an dieser Bestimmung zu zweifeln. Aber es wäre doch enttäuschend, wenn man in der Erheiterung oder Zerstreuung des Lesers (oder Hörers) ihre einzige Aufgabe sehen müßte. Ein guter Teil des Werkes wäre dann für die Wahrheit des Geschehenen bedeutungslos. Herodot würde in die Nähe dessen geraten, was man als „Pseudo-Historie" bezeichnet hat. Diese Zielsetzung würde sich jedoch nicht mit den sorgfältigen Erkundungen vertragen, die er nach eigener Aussage der Erhellung der Vergangenheit gewidmet hat. Sind diese doch an vielen Stellen seiner Darstellung nachweisbar und zuverlässig! Trotzdem ist man auch heute noch bereit, jene schwer wiegenden Folgerungen in Kauf zu nehmen und den Geschichtsschreiber nur als Geschichten-Erzähler gelten zu lassen. Solche Vorwürfe, die sich in erster Linie an Novellen und Anekdoten knüpfen, bedürfen der Überprüfung. Wir wollen deshalb im ersten Haupt-

VIII

Vorwort

stück unserer Ausführungen derartige Erzählungen nach möglichen Beziehungen zu dem von Herodot geschaffenen historischen Zusammenhang befragen. Dabei geht es uns weniger um den Versuch, den Anteil des Autors an der Gestaltung von Novellen und Anekdoten zu bestimmen (nur in Ausnahmefallen kann man in dieser Hinsicht eindeutige Schlüsse ziehen, meist muß man sich mit Vermutungen begnügen). Wichtiger ist es, Herodots Absichten bei Übernahme oder Konzeption solcher Abschnitte zu erkennen, die doch auf den ersten Blick nur wenig mit der Aufgabe eines Historikers zu tun haben. In den meisten Fällen ist es erforderlich, auch die sonstigen Äußerungen des Autors über die jeweils betrachtete historische Persönlichkeit zu berücksichtigen, weil sich sonst ein angemessenes Verständnis der Novellen und Anekdoten nicht erreichen läßt. Wenn sich aber in Novellen und Anekdoten historisch relevante Aussagen finden, dann stellt sich sofort die Frage nach dem kompositorischen Rang, den sie im Rahmen des Gesamtwerks einnehmen. Und das ist die Frage nach dem Sinn der Digressionen überhaupt und nach der möglichen Einheit des Werkes. Wir versuchen im zweiten Hauptstück, das von den sogenannten Exkursen handelt, zur Lösung dieses Problems beizutragen. Es sei jedoch schon hier betont, daß eine befriedigende begriffliche Klärung nicht gelungen ist. Das hat seine guten Gründe, die sich aus der geistigen Stellung Herodots herleiten. Wir werden ihnen, soweit das möglich ist, nachgehen müssen. Die vorliegenden Untersuchungen sind teilweise unter schwierigen Umständen entstanden. Ich bin mir der Mängel, die meinen Ausführungen anhaften, wohl bewußt, kann aber das Ganze nicht mehr von Grund aus umgestalten, mag es andererseits auch nicht zurückhalten. So kann ich nur hoffen, daß wenigstens einiges zur Weiterarbeit anregt. Zitate aus dem Herodottext habe ich nur dort im griechischen Wortlaut wiedergegeben, wo die Argumentation das nötig machte. Allerdings war es nicht selten erforderlich. Alle Übersetzungen sind der heute maßgebenden Übertragung von W. Marg (Zürich 1973 — 1983) entnommen. Den Herausgebern der „Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte" danke ich auch dieses Mal für die freundliche Aufnahme meines Manuskripts in ihre geachtete Monographienreihe sehr herzlich. — Die Herren E. Barkhausen, Bibliothekar des Philologischen Seminars der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, und A. Kindl Μ. A. haben mich bei Beschaffung der oft schwer erreichbaren Sekundärliteratur unentwegt unterstützt. Herr Kollege A. Köhnken hat die Fahnenkorrektur mitgelesen und mich vor manchem Irrtum bewahrt. Verlag und Druckerei, besonders Frau G. Müller, haben, wie üblich, tadellose Arbeit geleistet. Allen diesen Helfern gilt mein aufrichtiger Dank. Bonn, im Juni 1992

Hartmut Erbse

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Abkürzungsverzeichnis

XI

I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Herodots Gygesnovelle Novellen und Anekdoten über Kroisos Novellen und Anekdoten über Kyros Erzählungen über Kambyses Novellen und Anekdoten über Dareios . . .' Erzählungen über Xerxes Erzählungen (Novellen und Anekdoten) über griechische und makedonische Politiker a) Polykrates b) Alexander I. von Makedonien c) Der Tyrann Hippias d) Themistokles 8. Ironie als Kriterium beim Nachweis einer Fiktion (Das Experiment des Psammetichos)

3 10 31 45 56 74 93 93 99 104 106 113

II. Hauptstück: Exkurse 1. 2. 3. 4. 5.

Exkurse und Exkurstechnik Das homerische Vorbild Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse Bauwerke, Denkmäler und Weihgeschenke Geographie und Ethnographie

119 122 133 146 157

Rückblick und Ausblick

181

Stich wort- und Namenverzeichnis

191

Stellenverzeichnis

194

Griechische Wörter

199

Abkürzungsverzeichnis * Accame Aly Balcer Barth Benardete Binder Bornitz Breitenbach Brown Chiasson Cobet

S. Α., La leggenda di Ciro in Erodoto ed in Carone, in: Miscellanea Graeca et Romana 12, Roma 1982, 1—43 W. Α., Volksmärchen, Sage und Novelle bei Herodot, 2. Aufl. von L. Huber, Göttingen 1969 J. Μ. B., Herodotus and Bisutun ( = Historia Einzelschriften 49), Stuttgart 1987 Η. B., Zu Bewertung und Auswahl des Stoffes durch Herodot, in: Klio 50, 1968, 9 3 - 1 1 0 S. B., Herodotean Inquiries, The Hague 1969 G. B., Die Aussetzung des Königskindes: Kyros und Romulus ( = Beiträge zur Klassischen Philologie 10), Meisenheim 1964 F. B., Herodot-Studien, Berlin 1968 H. R. B., Herodotus pater historiae, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 16, 1966, 4 6 5 - 5 0 0 T. S. B., Herodotus' Portrait of Cambyses, in: Historia 31, 1982, 387-403 C. C. C., The Herodotean Solon, in: Gr. R. Byz. Stud. 27, 1986, 249-262 J. C., Herodots Exkurse und die Frage der Einheit seines Werkes ( = Historia Einzelschriften 17), Wiesbaden 1971

de Sainte Croix

siehe Sainte Croix

Dewald

C. D., Narrative Surface and Authorial Voice in Herodotus' ries, in: Arethusa 20, 1987, 1 4 7 - 1 7 0 H. D., Kleine Schriften, München 1974

Diller Erdmannsdörffer Errington Evans Fehling

Histo-

Β. Ε., Das Zeitalter der Novelle in Hellas, in: Preußische Jahrbücher 25. 1869, 1 2 1 - 1 4 1 und 2 8 3 - 3 0 8 R. Μ. E., Alexander the Philhellene and Persia, in: Studies in Honour of Charles F. Edson, Thessaloniki 1981, 139 — 143 A. S. E., Herodotus, Explorer of the Past: Three Essays, Princeton 1991 D. F., Die Quellenangaben bei Herodot ( = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 9), Berlin 1971 [englische Ausgabe = 2. Aufl.: Herodotus and his Sources, translated from the German by J. G. Houxe, Leeds 1989. Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe]

* Das Verzeichnis enthält nur solche Titel, die mehrmals genannt werden müssen. — Die Kommentare von How and Wells, Lloyd, Macan, Stein und Virgilio sowie die mit Erklärungen ausgestattete Edition Legrands werden nur mit dem Namen des jeweiligen Verfassers zitiert.

XII Flory Fornara Friedrich v. Fritz Frost Gardiner-Garden Glover Grant Hampl

Abkürzungsverzeichnis = S. F., The Archaic Smile, Detroit (Michigan) 1987 = C. W. F., Herodotus, Oxford 1971 = W.-H. F., Der Tod des Tyrannen: Die poetische Gerechtigkeit der alten Geschichtsschreiber und Herodot, in: W.-H. F., Dauer im Wechsel, Göttingen 1977, 3 3 6 - 3 7 5 (geschrieben 1973) = K. v. F., Die griechische Geschichtsschreibung I (Von den Anfangen bis Thukydides), Berlin 1967 = F. J. F., Themistocles and Mnesiphilus, in: Historia 20, 1971, 2 0 - 2 5 = J. R. G.-G., Dareios' Scythian Expedition and its Aftermath, in: Klio 69, 1987, 3 2 6 - 3 5 0 = Τ. R. G., Herodotus, Berkeley 1924 (Nachdruck 1969) = J. R. G., Some Thoughts on Herodotus, in: Phoenix 37, 1983, 283-298

Hofmann und Vorbichler

= F. H., Herodot. Ein kritischer Forschungsbericht nach methodischen Gesichtspunkten, in: Grazer Beiträge 4,1975, 97 — 136. Nachdruck mit Anhang in: F. H., Geschichte als kritische Wissenschaft II, Darmstadt 1979, 221—266. Nach diesem Nachdruck wird zitiert = J. H., Herodotus and Greek History, New York o. J. (1983) = F. H., Le miroir d'Herodote: Essai sur la representation de l'autre, Paris 1980 = Α. H., Hecataeus and the Aegyptian Priests in Herodotus, Book II, in: American Academy of Arts and Sciences, Memoirs 18,2, Boston 1935, 5 1 - 1 3 4 = A. H., Motive von Herodots Lydischem Logos, in: Hermes 101, 1973, 3 8 5 - 4 1 9 = A. H., Hellas, in: Propyläen-Weltgeschichte III, Berlin 1962, 69-400 = S.W. H., Cyrus' Parable of the Fish, in: Class. Journ. 81, 1985, 222-229 = I. H. und Α. V., Das Kambysesbild bei Herodot, in: Archiv für Orientforschung 27, 1980, 8 6 - 1 0 5

Immerwahr

= Η. R. I., Form and Thought in Herodotus, Cleveland 1966

Jacoby

= F. J., Herodotos, in: R. E. Suppl. 2,1913, 205-520 (s. v. Herodotos Nr. 7)

Kaiser

= W. K., Zu den Quellen der ägyptischen Geschichte Herodots, in: Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde 94, 1967, 93-115 = D. K., Persians, Greeks and Empire, in: Arethusa 20, 1987, 59 — 73

Hart Hartog Heidel Heuß Heuß. Hellas Hirsh

Konstan Labarbe Lang Lateiner Long Marincola

= J. L., Polycrate, Amasis et l'anneau, in: L'Antiquite classique 63, 1984, 1 5 - 3 4 = Mabel L. L., Herodotean Narrative and Discourse, Cambridge (Mass.) 1984 = D. L., Nonverbal Communications in the Histories of Herodotus, in: Arethusa 20, 1987, 8 3 - 1 1 9 = T. L., Repetition and Variation in the Short Stories of Herodotus ( = Beiträge zur Klassischen Philologie 179), Frankfurt 1987 = J. M., Herodotean Narrative and the Narrator's Presence, in: Arethusa 20, 1987, 123-137

Abkürzungsverzeichnis Meier Momigliano

Nicolai Nickau Parke Pohlenz Regenbogen Reinhardt de Romilly de St. Croix Schmidt Schulte Shimron Späth Stahl (1968) Stahl Stößl Strasburger (1983)

XIII

= C. M., Historical Answers to Historical Questions: The Origins of History in Ancient Greece, in: Arethusa 20, 1987, 41—57 = A. M., The Place of Herodotus in the History of Historiography, in: Secondo contributo alia storia degli studi classici, Roma 1950, 29-44 = W. N., Versuch über Herodots Geschichtsphilosophie, Heidelberg 1986 = Κ. Ν., Mythos und Logos bei Herodot, in: Memoria Rerum Veterum (Festschrift für C. J. Classen), Wiesbaden 1990, 8 3 - 1 0 0 = H.W. P., Croesus and Delphi, in: Gr. R. Byz. Stud. 25, 1984, 2 0 9 232 = Μ. P., Herodot, der erste Geschichtsschreiber des Abendlandes, 3 Darmstadt 1973 = O. R., Herodot und sein Werk, in: Die Antike 6, 1930, 2 0 2 - 2 4 8 = W. d. F. 5 7 - 1 0 8 (Zitate nach diesem Nachdruck) = K. R., Herodots Persergeschichten, in: Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960, 1 3 3 - 1 7 4 (geschr. 1940) = J. de R., La vengeance dans l'ceuvre d'Herodote, in: R. Et. Gr. 84, 1971, 3 1 4 - 3 3 7 = Ε. M. de St. Cr., Herodotus, in: Greece and Rome 24, 1977, 1 3 0 148 = E.-G. S., Menschenbild und Motivierung des Handelns bei Herodot, in: Der Mensch als Maß aller Dinge, her. von R. Müller, Berlin 1971, 1 3 7 - 1 6 5 = Ε. H. S., Herodots Darstellung der großen griechischen Feldherrn (in ihrer Bedeutung für seine Geschichtsauffassung), Diss. Marburg 1966 = B. S., Politics and Belief in Herodotus ( = Historia Einzelschriften 58), Stuttgart 1989 = T. S., Das Motiv der doppelten Beleuchtung bei Herodot, Wien 1968 = H.-P. S., Herodots Gyges-Tragödie, in: Hermes 96, 1968, 3 8 5 - 4 0 0 = H.-P. S., Learning through Suffering? Croesus' Conversations in the History of Herodotus, Yale Class. Stud. 24, 1975, 1 - 3 6 = F. S., Herodots Humanität, in: Gymnasium 66, 1959, 477 — 490 = H. S., Herodot als Geschichtsschreiber, in: Herodot, Geschichten und Geschichte Β. 5 — 9, übers, von W. Marg, Zürich 1983, 383 — 465

Vorbichler

siehe Hofmann und Vorbichler

Walser

= G. W., Der Tod des Kambyses, in: Althistorische Studien, H. Bengtson zum 70. Geburtstag dargebracht, Wiesbaden 1983,

Wardman

= Α. E. W., Myth in Greek Historiography, in: Historia 9 , 1 9 6 0 , 4 0 3 413 = K. H.W., Herodotus on Tyrants and Despots, A Study in Objectivity ( = Historia Einzelschriften 15), Wiesbaden 1971 = K. H.W., Herodotus the Historian, London 1985 = Wege der Forschung Bd. 26: Herodot, eine Auswahl aus der Forschung, her. von W. Marg, 3 Darmstadt 1982 Da mir diese (vergriffene) Auflage nicht erreichbar war, zitiere ich nach der zweiten von 1962 (lt. Katalog unterscheiden sich die Seitenzahlen beider Auflagen nicht)

8-18

Waters (1971) Waters (1985) W. d. F.

Erstes Hauptstück Novellen und Anekdoten

1. Herodots Gygesnovelle Es ist außerordentlich schwierig, die schriftstellerische Absicht voll zu erfassen, die Herodot mit der Konzeption seiner Novellen und Anekdoten verbunden hat. Die Behauptung, er habe lediglich etwas Interessantes oder gar Amüsantes schaffen wollen, befriedigt nicht einmal in einigen wenigen Fällen. Sie wird außerdem dem das Werk einleitenden Satze (dem Prooimion) nicht gerecht, in dem der Autor sein Bestreben, denkwürdige Taten aufzuzeichnen und so der Nachwelt zu erhalten, mit einer historischen Frage (der Frage nach der Ursache der großen Auseinandersetzung zwischen Asien und Europa) verbunden hat. Mithin ist man bei Betrachtung der Novellen und Anekdoten fast nur auf Vermutungen angewiesen, deren Begründungen allein dem herodoteischen Wortlaut entnommen werden können. Die Gefahr, in Zirkelschlüsse zu verfallen, ist groß. Nur in einem einzigen Fall kann man Herodots Weise, vergangenes Geschehen zu rekonstruieren und in Form einer Novelle darzubieten, näher beschreiben, in der Geschichte von Gyges und Kandaules (1,8 — 14). Die Frage nach Herodots Methode bei Gestaltung seiner Erzählung läßt sich in diesem Fall einigermaßen beantworten, da genügend Parallelmaterial überliefert ist. Die Eigenart der herodoteischen Gygesnovelle wird am besten deutlich, wenn man ihren dramatischen Ablauf mit dem alten Volksmärchen vergleicht, das Piaton (Rep. 2,3 p. 359c6 — 360b2) kurz erwähnt. Hier dringt Gyges, ein einfacher Hirt, aber glücklicher Finder des Zauberrings, der ihn auf Wunsch unsichtbar macht, mühelos in die Königsburg ein, verführt die Königin und bringt mit ihrer Hilfe den rechtmäßigen Herrscher um. Beide führen ihr verwegenes Unternehmen ganz skrupellos durch, beide machen sich bewußt schuldig, aber sie haben Erfolg, und Gyges ist fortan König. Das Märchen spiegelt den volkstümlichen Wunsch wider, sich den fast unvorstellbaren Aufstieg des Usurpators Gyges zu erklären. Man darf wohl annehmen, daß auch Herodot diese Erzählung gekannt hat, zumal auch er von der Beteiligung der Königin am gewaltsamen Thronwechsel weiß 1 . Für eine Darstellung, deren Substanz Anspruch auf historische

1

Vgl. Diller 461 (geschrieben 1956). — Die Vermutung, das alte Märchenmotiv des Zauberrings und der von ihm ausgehenden Wirkungen und Möglichkeiten sei erst in

4

I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Glaubwürdigkeit erheben könnte, waren allerdings die unglaubhaften Voraussetzungen des Volksmärchens unannehmbar. Herodot verwarf also den Zauberring und arrangierte die Fakten so, daß die Königin und vor allem Gyges selbst zum Anschlag auf den Herrscher gezwungen sind: Die Frau ist tief gekränkt, weil der König seinem Wesir befohlen hat, sie beim Auskleiden zu beobachten. Gyges aber wird von seiner Herrin vor die Wahl gestellt, entweder selbst zu sterben oder den König am Abend desselben Tages im Schlafgemach zu töten. Beide, die Königin und der Wesir, sind ohne eigenes Verschulden in die schwierige Situation geraten, die mit einem Morde endet. Den Anlaß zu dieser tragischen Verstrickung gab Kandaules selbst2. Ihm schreibt Herodot ein geradezu krankhaftes Verlangen zu (vgl. 1,8,3), sich mit der Schönheit seiner Frau zu brüsten, auch wenn dabei die Achtung vor ihr zerstört werden sollte3. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht erstaunlich, daß Gyges in seiner Zwangslage das Leben wählt und zum Morde bereit ist. Nach Tötung des Kandaules und Erwerb seiner Gemahlin wird er König des Landes. Snell (Ζ. P. E. 12, 1973, 201) sagt sehr richtig: „Daß eine äußere Bedrohung jemand an einen Punkt führt, wo er zwei Wege vor sich sieht, ist eine typische Szene für die Tragödie des Aischylos." Das kann aber nicht besagen, daß Herodot ein Gyges-Drama vor sich gehabt haben müsse, in dem er die uns in seinem Text vorliegende Entscheidungsszene fand. Es besagt lediglich, daß er die dramatische Wirkung solcher Szenen aus dem Theater kannte und selbständig nachzubilden verstand. Wer Herodot der Gyges-Tragödie folgen läßt, deren Reste seit 1949 bekannt sind (Pap. Ox. 2382 = T. G. F. II, Fr. ad. 664), verkennt m. E. seine schriftstellerische Selbständigkeit. Deshalb ist es auch nicht möglich, die genannte GygesTragödie wegen der Beziehungen ihrer Reste zum Text des Geschichtswerkes in vorherodoteische Zeit zu setzen. Hierfür wären andere Argumente erforderlich. Ein entscheidender Einwand gegen Snells Versuch, die Priorität des Dramas gegenüber Herodot nachzuweisen, übrigens schon bei R. Kassel, Ζ. P. E. 14, 1974, 216 ( = Kleine Schriften, Berlin 1991, 319). Siehe ferner Waters (1985) 168. — Die letzte ausführliche Besprechung der Gyges-Tragödie

2

3

nachherodoteischer Zeit mit der historischen Gestalt des Gyges verbunden worden (so v. Fritz I 212 f.), überzeugt nicht. V. Fritz meint, der letzte und älteste Ursprung der von Herodot erzählten Novelle liege doch in einem historischen Faktum (dem gewaltsamen Wechsel der Dynastie in Lydien). Jedoch gerade dieses Ereignis war so erstaunlich, daß der Erzähler des Märchens sich veranlaßt sah, mit den Mitteln seiner Kunst einen einleuchtenden Grund zu suchen. Es ist nicht einzusehen, weshalb das nicht schon lange Zeit vor Herodot geschehen sein sollte. Es läßt sich jedoch nicht übersehen, daß auch Gyges fehlte („er hat eine soziale Norm verletzt": Heuß 392). Herodot jedoch will das so verstanden wissen, daß Gyges dazu gezwungen worden ist, d. h. unfreiwillig handelte. — Über die kompositorischen und sprachlichen Mittel, mit denen Herodot eine einzigartige seelische Vertiefung in der Darstellung der drei Hauptpersonen erreicht, soll hier nicht erneut gehandelt werden. Vgl. dazu die eindringende Analyse Stahls (1968) 3 8 9 - 3 9 7 und Friedrichs (372-375); über die Bedeutung der Wiederholungen (Wörter, Kola, Sätze) vgl. Long 19 und 24 ff. Zum Sinn der Worte άμα δέ κιθώνι έκδυομένω συνεκδύεται και την αιδώ γ υ ν ή vgl. W. Porzig, Die Namen für Satzinhalte im Griechischen und Indogermanischen, Berlin — Leipzig 1942, 301 f.; R. Harder, Kleine Schriften, München 1960, 2 0 8 - 2 1 1 .

1. Herodots Gygesnovelle

5

von N. Holzberg (Zur Datierung der Gyges-Tragödie P. Ox. 2382, in: Ziva Antika 23, 1973, 273—286) endet mit einem Non liquet. Der Verfasser stellt aber sehr richtig fest, daß die Frage nach dem Datum der Tragödie (vor oder nach dem Werk des Geschichtsschreibers) nur vom Herodottext aus beantwortet werden kann. Das Gygesdrama könnte nur dann vorherodoteisch sein, wenn sich zeigen ließe, daß Herodot ganze Tragödien (nicht bloß einzelne Situationen oder einzelne sprachliche Wendungen) in seine Darstellung übernommen hat. Dafür gibt es m. E. kein Beispiel.

Der Sinn von Herodots Umordnung der überlieferten Tatsachen ist offenkundig. Der Begründer der Mermnadendynastie durfte kein Verbrecher sein, und er durfte sich nicht mit einer Ehebrecherin verbinden; denn die neue Dynastie fand, wie Herodot ausdrücklich versichert, die Anerkennung Delphis 4 . Die Befragung des Orakels aber war nach dem Umsturz unumgänglich, weil nur durch seine gültige Antwort die drohende Auseinandersetzung zwischen Anhängern des Gyges und Freunden der bisherigen Königsfamilie vermieden werden konnte (vgl. 1,13,1). Es ist freilich unwahrscheinlich, daß Herodot einen Orakelspruch aus der Zeit des Gyges (7. Jh. v. Chr.) zur Verfügung gehabt hat. Jedoch in dem Zusatz, den die Pythia (laut Herodots Bericht) macht (in der fünften Generation nach Gyges müsse das Unrecht an den Herakliden gesühnt werden), verraten sich Zeit und Herkunft des Spruches: Die Begrenzung der Mermnadenherrschaft auf fünf Generationen ist Inhalt jener Antwort, die man dem Kroisos nach Verlust seines Reiches in Delphi erteilte. Kroisos fragte an, weshalb Apollon sich für die zahlreichen Weihgeschenke des lydischen Königs nicht dankbar erwiesen habe. Die Priester brachten eine umfangreiche Entschuldigung vor, deren Anfang von Herodot folgendermaßen wiedergegeben wird (1,91,1—2): „Dem beschiedenen Geschick kann niemand entgehen, auch ein Gott nicht. Kroisos aber hat seines fünften Vorfahren Vergehen gebüßt, der da, der Herakliden Leibwächter, eines Weibes List nachgab und seinen Herrn erschlug und dann Würden an sich nahm, die ihm nicht gebührten. Loxias aber hat sich bemüht, daß erst bei den Nachkommen des Kroisos Sardes' Sturz eintrete und nicht zu Kroisos eigener Zeit, doch gelang es ihm nicht, die Moiren abzulenken" 5 . Herodot hat die Verse der Pythia, die in dem ausgeschriebenen Text paraphrasiert sind, in Delphi kennen gelernt. In den delphischen Orakeln

4

5

1,13,2: άνεΐλέ τε δή τό χρηστήριον (seil, die Anerkennung des neuen Königs) και έβασίλευσε ούτω Γύγης. τοσόνδε μέντοι είπε ή Πυθίη, ώς Ήρακλείδησι τίσις ήξει ές τόν πέμπτον άπόγονον Γύγεω. Vgl. den ähnlichen Orakelspruch 4,163,2. Die oben verwendete Schlußfolgerung über Herodots Interpretationen in Anlehnung an Heuß 393. 1,91,1 —2: τ η ν πεπρωμένην μοΐραν άδύνατά έστι άποφυγεΐν και θεώ. Κροίσος δέ πέμπτου γονέος άμαρτάδα έξέπλησε, δξ έών δορυφόρο; Ήρακλειδέων δόλω γυυαικηΐω έπισπόμενος έφόνευσε τόν δεσπότεα και εσχε τήν έκείνου τιμήν ουδέν οι προσήκουσαν. προθυμεομένου δέ Λοξίεω δκως αν κατά τούς τταΐδας τοϋ Κροίσου γένοιτο τό Σαρδίων πάθος και μή κατ' αύτόν Κροΐσον, ούκ οΐός τε έγένετο παραγαγεΐν Μοίρας.

6

I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

erblickte er ja eine wichtige, zuverlässige Quelle der lydischen Geschichte 6 . Er war zu gottesfürchtig, als daß er die in 1,91 durchscheinende Brüchigkeit der Argumentation, Delphis Ausreden wegen seiner mißglückten prolydischen Politik, kräftiger hervorzuheben wagte. Auch Delphi war nach seiner Ansicht, wie die Pythia ja erklärt hat (vgl. 1,91,1—3), gebunden. So läßt er denn schon dem Gyges eine entsprechende Warnung zukommen (1,13,2), setzt allerdings hinzu, daß niemand sie beachtete. Wir dürfen bemerken: weil sie in Wahrheit gar nicht ausgesprochen worden ist. Unter der Voraussetzung, daß Herodot in 1,91 den Sinn der Worte der Pythia genau wiedergibt, fallt der Ausdruck auf, mit dem von Gyges gesagt wird: δόλω γυναικηΐω έπισττόμενοξ Ιφόνευσε τόν δεσπότεα. In Herodots Darstellung läßt sich ja Gyges nicht durch eine Weiberlist verführen, sondern er steht vor der bitteren Wahl, zu töten oder getötet zu werden. Haben die Priester jetzt, nach Kroisos' Sturz, eine Erzählung im Auge, in der Gyges mit einer ungetreuen Königin gemeinsame Sache macht? Wohl kaum, jedenfalls nicht in dem Zusammenhang, den uns Herodot bietet. Vielmehr läßt der Autor die Priester von Weiberlist sprechen, um dem Einwand zuvorzukommen, Gyges sei ja zum Mord gezwungen worden. Nach Auffassung der Priester bestand die List der Königin darin, daß Gyges der das Leben wählte, nun, ohne es zu wollen, schuldig wurde.

Die Aufspaltung der in 1,91 wiedergegebenen Antwort des delphischen Orakels in zwei Auskünfte (über Gyges Verfehlung und über die politischen Mißgriffe des Kroisos) und ihre Verwendung an verschiedenen Stellen im Hinblick auf weit voneinander entfernte Ereignisse ist ein erstes Zeichen für Herodots Fähigkeit, einzelne Vorgänge in übergreifende Zusammenhänge einzuordnen. Das zeigt: Geschichte ist für ihn nicht chronologische Aufreihung von Fakten, sondern sinnvolle Verbindung von Geschehnissen. Deren Zustandekommen ist ebenso kenntlich wie ihre Wirkung auf die ihnen folgende Zukunft. Dieser Sinn im Ablauf der Ereignisse macht für Herodot die Kontinuität der Geschichte aus. Der Vergeltungsgedanke, den wir später noch näher kennenlernen werden, ist hierbei eine grundlegende Kategorie, die sogar in der Komposition des Gesamtwerks eine wichtige Rolle spielt (vgl. dazu unten S. 93 ff.). Dabei ist es unwesentlich, ob wir Heutigen die vom Autor gewählten (meist religiösen) Prinzipien für naiv halten. Bedeutsam ist für unsere jetzige Betrachtung allein der von ihm zum ersten Male unternommene Versuch, historisches Geschehen gleichsam als Prozeß zu verstehen und durch dieses Vorhaben eine innere Bindung an die Ereignisse der Vergangenheit zu finden. Eine solche Funktion erfüllt die von Herodot umgeschaffene Gygesnovelle. Sie ist in ihrer neuen Gestalt geeignet, den Teil der lydischen Geschichte, den der Autor im Kroisoslogos erzählt, zusammenzuhalten und als sinnvolle Einheit erscheinen zu lassen. Eine wesentliche innere 6

Über Herodots Beziehungen zu Delphi und zu den Nachrichten über Kroisos, die er von dort bezog, vgl. Heuß 399 ff. und Parke 217.

1. Herodots Gygesnovelle

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Verbindung der Ereignisse kommt dann durch die Gestalt Solons hinzu, worüber später zu sprechen sein wird (vgl. unten S. 12 ff.). Die bisherigen Beobachtungen genügen freilich noch nicht, um das Zustandekommen der herodoteischen Gygesnovelle ganz zu verstehen und dadurch Klarheit über die Absichten des Autors zu gewinnen. Wie Diller (462 f.) richtig beobachtet hat, konnte Herodot seine komplexe, psychologisch raffinierte Gestaltung der Novelle kaum in unmittelbarem Anschluß an das Volksmärchen, das wir aus Piaton kennen, konzipieren. Hier fehlt in der allmählichen Fortbildung der Erzählung offenbar ein Zwischenglied: Es war für den Geschichtsschreiber nicht gleichgültig, aus einer bereits vorhandenen Fassung zu erfahren, daß Gyges, als er in nähere Beziehung zur Königin trat, nicht einfacher Hirt, sondern ein angesehener Vasall des lydischen Königs gewesen ist. Diller denkt an eine Form des Berichtes, die wir nicht mehr als Märchen bezeichnen dürfen, sondern höfische Novelle nennen müssen. Diese Aufgabe wird (wenn wir im Rahmen der nachweisbaren Texte bleiben) von der Darstellung des Xanthos (erhalten bei Nikolaos von Damaskos, FGrHist 90,44 § 11 —47) erfüllt. Es wird sich zeigen, daß wir nicht ohne weiteres befugt sind, die von Xanthos geschaffene Form der Gygesnovelle ganz beiseite zu lassen 7 . Bei Xanthos gewinnt Gyges, dessen Vorgeschichte ausführlich erzählt wird, nach harten Prüfungen das Vertrauen des bejahrten Königs (hier: Sadyattes). Er wird nun als Brautwerber ausgeschickt, um die mysische Prinzessin abzuholen, die sein Herr heiraten möchte. Er verliebt sich unterwegs in sie, aber der Versuch, sie zu verführen, mißlingt, und die Braut berichtet nach der Ankunft in Sardes dem König im Schlafgemach über das Verhalten des ungetreuen Wesirs. Wütend versichert Sadyattes, er werde Gyges am nächsten Tage töten lassen. Eine Dienerin, die den Gyges liebt, hört das und benachrichtigt ihn sofort. So kommt Gyges der ihn bedrohenden Gefahr zuvor: Er ruft noch in der gleichen Nacht seine Freunde zusammen, dringt in den königlichen Thalamos ein, erschlägt den König und vereinigt sich mit der jungen Frau, ohne ihr den Verrat zu verübeln, durch den er selbst in höchste Lebensgefahr geraten war. Das ist ein gutgemeinter, aber doch recht umständlicher Versuch, die Ehre der neuen Königin zu retten. Im Gegensatz zu der Rolle, die diese Frau in Piatons Volksmärchen spielt, bleibt sie bei Xanthos, was den Thronwechsel angeht, ganz passiv, sie muß sich sogar in derselben Nacht die Berührung durch zwei Männer gefallen lassen. Der Verfasser hat diese perverse Einzelheit, um sie einigermaßen verständlich zu machen, durch ein Wunderzeichen vorbereitet (FGrHist 90,47 § 6), wodurch sie gewissermaßen unvermeidlich wird: Bei Gyges' Abreise nach Mysien setzen sich

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G u t lesbare, ausführliche Inhaltsübersicht bei Diller 456 f.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

zwei Adler auf das Dach des königlichen Schlafgemachs. Die Wahrsager, die offenbar sofort zur Stelle sind, verkünden, daß die Braut in der ersten Nacht zwei Königen beiwohnen werde. Während also die neue Königin ganz untätig bleibt, kommt Gyges in der ganzen Erzählung wie im Märchen allen Schwierigkeiten zum Trotz mühelos zum Ziel. Selbst der Zufall steht ihm bei, wie das rechtzeitige Eingreifen der Kammerzofe zeigt. Im übrigen ist die ganze Schilderung psychologisch primitiv, ja teilweise fast albern. Es ist kaum denkbar, daß eine solche Konzeption später als Herodots Meisterwerk entstanden sein sollte. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir dieses ganze Gebilde für eine von Xanthos ersonnene Sonderform der alten Gygesnovelle halten. Trotzdem scheint des Xanthos Machwerk nicht ohne Einfluß auf Herodot geblieben zu sein. Wichtig sind für uns neben der bereits erwähnten Tatsache, daß Gyges im Gegensatz zur Darstellung des Märchens als Hofmann auftritt, zwei von Xanthos bewahrte (oder besser: erstmals in die Erzählung eingeführte) Einzelheiten: 1. Der lydische König schickt den auffällig schönen Wesir als Brautwerber aus, ohne die Gefahren zu bedenken, die ihm erwachsen könnten, wenn die beiden jungen Leute (ähnlich wie im Märchen Piatons) gemeinsame Sache machen sollten; 2. Gyges verfügt in der für sein Schicksal entscheidenden Nacht über Mithelfer (FGrHist 90,47 § 8: φίλοι), ähnlich wie bei Herodot am Tage nach der Beseitigung des Kandaules (1,13,1: oi ... τ ο ϋ Γύγεω στασιώται). Beide Mitteilungen könnte Herodot aufgegriffen und in seinem Sinne abgewandelt haben: Er steigerte die Unvorsichtigkeit des Sadyattes zu dem fast krankhaften Begehren des Kandaules, seine unbekleidete Frau von seinem Wesir bewundert zu sehen, und er übernahm die Parteigänger des Gyges. Diese sind zwar unentbehrlich für die Fortführung der Erzählung (nur durch den drohenden Aufstand wird die Nachfrage in Delphi erzwungen), aber sie treten doch (wie man immer gesehen hat) recht unvermittelt auf; denn sie haben am Hauptteil des Geschehens (Hdt. 1,8 — 12) keinen Anteil. Bei dieser Interpretation setzen wir allerdings voraus, daß Herodot das Buch des Xanthos (Λυδιακά) gekannt hat. Vielleicht neigt man der Annahme zu, daß die oft erörterte, umstrittene Frage nach dem Verhältnis beider Schriftsteller zueinander heute der Lösung näher gerückt sei, da die Veröffentlichung der ,Historiai' Fornaras Feststellungen zufolge erst nach Beendigung des Archidamischen Krieges erfolgt sei. Fornaras These aber ist nicht wahrscheinlich 8 . Jedenfalls kann man das Problem nicht so stehen lassen, wie das Herter tut 9 .

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Vgl. Fornara 43 A. 13, v o r allem dens. in: Hermes 109, 1981, 1 4 9 - 1 5 6 . Jedoch hat D. Sansone (Iiiin. Class. Stud. 10, 1985, 1 — 10) den überzeugenden Beweis dafür erbracht, daß Aristophanes (Ach. 523 ff.) im Jahre 425 Herodots Einleitungskapitel parodiert (vgl. bes. Ach. 523 f. mit Hdt. 1,2,1). Die übrigen Argumente Fornaras läßt Sansone (im Gegensatz zu J. Cobet) unangetastet, da er eine sukzessive Publikation der ,Historiai' für

1. Herodots Gygesnovelle

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„Ihre Lebenszeit lag ja nicht weit auseinander; immerhin wäre es auch möglich, daß Herodot ihn (seil, den Xanthos) zwar gelesen, aber doch ziemlich beiseite gelassen hätte ..." Das führt nicht weiter und heißt nichts anderes, als daß Xanthos für die Herodotinterpretation gleichgültig ist. Ich halte es für methodisch geboten, die oben hervorgehobenen Einzelheiten nicht als belanglos abzutun. Es sind freilich keine Belege, die zur Annahme zwingen, Herodot habe Xanthos' Gygesdarstellung benutzt. Wer den Herodottext ohne Berücksichtigung des Xanthos analysieren will, ist kaum zu widerlegen. Immerhin besteht die gewisse Wahrscheinlichkeit, daß Herodot den Xanthos 4,45,3 in seiner Erörterung über die Herkunft des Namens Άσίη zitiert: και τούτου μέν μεταλαμβάνονται τοΟ οϋνόματοξ Λυδοί, φάμενοι έπί Άσίεω τοΰ Κότυοζ τ ο ΰ Μάνεω κεκλήσθαι τ ή ν Άσίην, άλλ' οΰκ έπϊ της Προμηθέος (seil, γυναικά;) Άσίης' Ιττ' δτευ και τ ή ν έν Σάρδισι φυλήν κεκλήσθαι Άσιάδα.

Wir lernen aus der Analyse der Gygesnovelle schließlich noch etwas Allgemeineres: Herodot hat die Form der Novelle (wie die der Anekdote) im ionischen Sprachbereich vorgefunden und nachgebildet. Man muß also immer damit rechnen, daß Erzählungen über die Personen seines historischen Themas umliefen. Wenn jedoch das Zeugnis der Gygesnovelle verallgemeinert werden darf, dann kann man zuversichtlich behaupten, daß der Autor auch in anderen Fällen überlieferte Nachrichten entsprechend seinen geschichtlichen Erkenntnissen und im Einklang mit seiner Teleologie gründlich verändert hat. Diese Folgerung berechtigt zu der weiteren: Man darf in den Fällen, in denen Vergleichsmaterial ganz fehlt, von Erfindungen Herodots sprechen, soweit derartige Abschnitte nicht im Widerspruch zu seinen sonstigen Anschauungen über den jeweiligen Gegenstand stehen 10 .

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möglich hält. Das läßt sich m. E. mit Sicherheit nicht wissen: Tragiker und Komiker könnten sich auch auf mündliche Äußerungen Herodots (Lesungen oder Vorträge) bezogen haben ähnlich wie Euripides auf die Diskussionen des Sokrates. Es ergibt sich: Ar. Ach. 523 bezieht sich auf den schriftlich vorliegenden Bericht Herodots, und da Fornaras übrige Argumente, wie Cobet (Athenäum 65, 1987, 508 — 511) gezeigt hat, nicht durchschlagen, empfiehlt es sich, die bisherige Communis opinio über die Zeit der Veröffentlichung des herodoteischen Werkes (vor 425) beizubehalten. Η. H., R. E. 9 A 2, 1967, 1373, 21 s. v. Xanthos Nr. 25. Dort (1372,42) ausführliche Erörterung des Verhältnisses beider Autoren zueinander und Besprechung des Ephorosfragments FGrHist 70,181. Für die Selbständigkeit Herodots bei Gestaltung der Gygesnovelle ist Stoeßls Analyse (482 f.) besonders lehrreich, da in ihr das menschliche Anliegen des Geschichtsschreibers vortrefflich herausgearbeitet wird. Man vergleiche aber auch die Analyse Florys (31 —38), der allerdings den Gyges sehr negativ beurteilt (F. beachtet m. E. nicht, daß Gyges dem Wunsche seines Herrn nicht ausweichen kann).

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos Herodot hat die Geschichte des Gyges so erzählt, daß der Begründer der Mermnadendynastie als entlastet gelten darf: Obwohl er den bisherigen König gewaltsam beseitigt hat, ist er kein Verbrecher, sondern Revolutionär wider Willen. Er muß sich freilich von offizieller Seite sagen lassen (seil. 1,13,2), daß sein fünfter Nachfolger das vergossene Blut sühnen wird. Der Leser weiß, daß damit Kroisos gemeint ist, dessen Name bereits 1,6,1 genannt wurde. Im Einleitungskapitel 1,5,3 macht der Autor dem letzten Lyderkönig den schweren Vorwurf, als erster den Griechen gegenüber ungerecht gehandelt und damit die weltweite Auseinandersetzung zwischen Asien und Europa veranlaßt zu haben: τον δέ οίδα αυτός π ρ ώ τ ο ν ύπάρξαντα άδικων έργων Is τούς "Ελληνας, τοϋτον ση μήνας προβήσομαι ές τ ό π ρ ό σ ω τοΟ λόγου κτλ. Worin die Ungerechtigkeit besteht, wird dem Leser gleich anschließend erklärt (1,6,2): „Und dieser Kroisos war der erste, der von den Hellenen die einen unterwarf, daß sie Abgaben zahlten (ές φόρου ά π α γ ω γ ή ν ) , mit anderen aber Bündnisse schloß." Das besagt: Kroisos entzog den kleinasiatischen Griechenstädten die Selbstverwaltung und gliederte sie in die Finanzhoheit seines Reiches ein 1 . Seine Vorgänger, deren Zusammenstöße mit den Griechenstädten in den Kapiteln 1,15 — 25 kurz erwähnt werden, hatten sich auf Lokalkriege beschränkt. Unter der in 1,6,2 genannten freundschaftlichen Verbindung des Lyderkönigs mit den Griechen wird sein Vertrag mit Sparta verstanden, der auf Anraten Delphis zustandegekommen war, als die persische Gefahr am Horizont aufzog (vgl. 1,69 — 70,1). Herodot weiß aber auch von einer freundschaftlichen Bindung des Kroisos an die Inselgriechen, die wohl schon vor dem Vertrag mit Sparta verwirklicht worden ist (vgl. 1,27,5: ο ύ τ ω τοΐσι τάς νήσους οΐκημένοισι Ί ω σ ι ξεινίην συνεθήκατο). Ihr Abschluß ist bemerkenswert, weil der Autor ihn in Form einer Anekdote bekannt gibt. Nach Unterwerfung des kleinasiatischen Festlands, so erzählt Herodot (1,27), habe Kroisos den Bau von Schiffen angeordnet, um nun die 1

Der moderne Historiker hat das Recht (sogar die Pflicht) festzustellen, daß Herodots Behauptung falsch sei, er hat aber nicht das Recht zur Annahme, Herodot widerspreche sich selbst. Vermutlich empfand der Geschichtsschreiber die Zerstörung der Selbstverwaltung in den griechischen Städten als Versklavung, vgl. 1,26,3 und Näheres unten S. 29.

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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Inselgriechen in seine Gewalt zu bringen. Da sei Bias (oder Pittakos) zu ihm gekommen und habe auf Befragen nach Neuigkeiten mitgeteilt, daß die Inselgriechen Pferde aufkauften; denn sie hätten die Absicht gegen Lydien zu ziehen. Voller Stolz habe Kroisos solche Pläne freudig begrüßt; war er sich doch der Überlegenheit der lydischen Reiterei völlig sicher. Doch der Weise habe geantwortet: ,Was meinst du, wie die Inselgriechen sich freuen würden, wenn du zur See gegen sie zögest! Dann hätten sie ja Gelegenheit, sich für die Unterjochung ihrer Brüder auf dem Festlande zu rächen.' Da habe sich Kroisos besonnen, habe den Bau der Schiffe eingestellt und zu den Bewohnern der Inseln freundschaftliche Beziehungen aufgenommen (1,27,5: τοΐσι τάς νήσους οίκημένοισι Ί ω σ ι ξεινίην συνεθήκατο). Dieser Bericht kann nicht historisch sein. Von den chronologischen Schwierigkeiten, die er enthält, wollen wir hier absehen. Vor allem ist die Annahme, Kroisos habe von ungewöhnlichen Rüstungen bei den Inselgriechen nichts gewußt, sondern erst aus dem Munde seines weisen Besuchers davon erfahren, reichlich naiv. Trotzdem enthält die Anekdote einen historischen Kern: Wie die Forschung längst erkannt hat, mußte der Lyderkönig angesichts der aus dem Osten drohenden Gefahr Rückendekkung im Westen suchen. Die Griechen aber scheinen die Zurückhaltung, die er den Inselgriechen gegenüber übte, als Zeichen der Schwäche angesehen zu haben. Ob sie wirklich bedauerten, daß ihnen der Lyder nicht auf dem Element entgegentrat, das sie selbst beherrschten, können wir nicht wissen. Herodot aber hat ihr stolzes Gefühl der Überlegenheit zur See in der Antwort des weisen Gastes vortrefflich zum Ausdruck gebracht. Zugleich werden in ihr die Grenzen der lydischen Macht sichtbar, und der Autor versäumt nicht, eine so wesentliche Feststellung recht einprägsam zu formulieren. Die Frage nach der Herkunft der Anekdote wird durch die Behauptung, sie sei „a piece of Greek proverbial philosophy" 2 nicht ausreichend beantwortet. Auch Regenbogens Antwort (W. d. F. 397 ff.), es handele sich um eine ,freischwebende Anekdote', befriedigt wenig; denn der überlieferte Wortlaut ist ja nur in dem vom Geschichtsschreiber geschaffenen Zusammenhang sinnvoll, hier aber höchst aufschlußreich. Da die Anekdote einen konkreten Anlaß hat, muß man wohl annehmen, sie sei eine Erfindung Herodots. Sie ist ein sprechendes Symbol seiner historischen Erkenntnis über die Lage des Lyderreichs im Verhältnis zu den Bewohnern der Aigaiis. Als mögliche Mitunterreder des Kroisos hat er zwei Politiker vorgeschlagen, denen die Verhältnisse vor der kleinasiatischen Küste wohlvertraut sein mußten. Ähnlich wie beim Treffen Kroisos— Solon ging er dabei

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How and Wells I p. 66 zu 1,27,1. Zu unserer eigenen Deutung vgl. Hirsch 226 f.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

mit der Chronologie recht großzügig um (Pittakos war Zeitgenosse des Alkaios, während Bias tatsächlich den König hätte besuchen können). Es ist m. E. unwahrscheinlich, daß Herodot, der so viele vor2Ügliche chronologische Berechnungen angestellt hat, diese einfachen Beziehungen der jeweiligen Lebenszeiten zur Chronologie des dargestellten Geschehens nicht gekannt oder daß er sie leichtfertig vernachlässigt habe. Hier wie oft kam es ihm nur auf die Konfrontation der voneinander abweichenden Ansichten und Urteile an. Da diese Gegenüberstellung in Form eines Gespräches mitgeteilt werden sollte, war es beinahe unvermeidlich, die Chronologie in solchen Fällen zu mißachten.

Herodots Verfahren, aussagekräftige, um eine historische Grunderkenntnis gruppierte anekdotenhafte Einzelheiten an einem bedeutsamen Punkte der Darstellung zu erzählen, wird uns noch mehrmals begegnen. Jedesmal überläßt es der Autor in solchen Fällen seinem Leser, das in der Erzählung verborgene geschichtlich bedeutsame Urteil selbst aufzufinden. Der Leser muß über den Bericht nachdenken, als ob er einem wirklichen Vorgang gegenüberstände. In Kroisos' Gespräch mit Solon (1,29 — 33) tritt die griechische (attische) Sophrosyne der orientalischen Vermessenheit gegenüber und enthüllt deren Unsicherheit, ja Hohlheit. Die Frage des Königs, ob der Gast den schon gesehen habe, der der Glücklichste aller Menschen ist (1,30,2), beantwortet Solon mit zwei Beispielen; in ihnen wird die Forderung nahegelegt, niemanden vor seinem Tode glücklich zu preisen, die Solon in einem dritten (theoretischen) Teil (1,32—33) näher begründet. Der Grundsatz selbst erscheint freilich in den unter Solons Namen erhaltenen Fragmenten nicht 3 . Aber der Dichter schildert doch das Verhältnis von Reichtum zu wahrer Tüchtigkeit (Fr. 14,2 — 4 W.). Er wird nicht müde zu versichern, daß irdischer Besitz den Launen des Schicksals unterliegt und deshalb nicht Grundlage zuverlässigen Glückes sein kann. Wo der wahre Reichtum zu finden ist, sagt er in Fr. 24 W., dessen letzte Verse also lauten: τ α ϋ τ ' 4 αφενός θνητοΐσι - τ ά y ä p περιώσια π ά ν τ α χρήματ' εχων ουδείς ερχεται εις Άΐδεω, ούδ' α ν άποινα διδούς θάνατον φύγοι, ουδέ βαρείας νούσους ουδέ κακόν γήρας έπερχόμενον. Die großen Besitztümer sind am Ende gegen Alter, Krankheit und Tod ohne Wirkung. Mithin wäre es leichtfertig, den Inhaber von solchen Reichtümern glücklich zu nennen (Chiasson 255 f. vergleicht Hdt. 1,32,5). 3

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Die folgenden Bemerkungen über das Verhältnis Herodots zu den Fragmenten Solons berücksichtigen die hilfreichen Ausführungen Chiassons, der die Übereinstimmungen und Differenzen sorgfältig besprochen hat — übrigens als erster in der lang anhaltenden, lebhaften Diskussion über den Abschnitt 1,29 — 33. Da Chiassons Abhandlung vorliegt, durfte ich mich auf Auswahl einzelner Punkte beschränken. D. h. Gesundheit und Familienglück.

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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Solon erinnert auch mehrmals an die Ungewißheit der Zukunft, vgl. Fr. 13,65 ff. W., auch Fr. 17 W.: π ά ν τ η α θ α ν ά τ ω ν αφανής νόος άνθρώποισιν. Die zuletzt genannten Gedanken stehen der herodoteischen Forderung, niemandes Glück vor seinem Tode zu preisen, besonders nahe. Auch an Solons wiederholte Mahnungen, Übersättigung (κόρος) zu meiden, darf in diesem Zusammenhang erinnert werden: Überfülle an irdischen Gütern führt nicht zum Glück, sondern (fr. 6,3 f. W.) τίκτει y ä p κόρος Οβριν, όταν π ο λ ύ ς όλβος ε π η τ α ι άνθρώποις, όττόσοις μή νόος άρτιος fj, siehe ferner Fr. 3,7—10 W. Solons Wissen um das Wirken der Dike, die menschliches Tun überwacht, und, selbst wenn erst spät, die Sühne herbeiführt (vgl. Fr 3,14 und 13,29 ff. W.), bleibt zwar ohne Einfluß auf das Gespräch des Weisen mit Kroisos (siehe Chiasson 259). Die Belehrung, die dem König zuteil wird, geht ja von dem Gedanken aus, daß sich die Zukunft im menschlichen Leben nicht berechnen läßt (1,32,4: π α ν εστί άνθρωπος συμφορή). Aber jenes solonische Wissen ist Herodots Plan der Mermnadendynastie verwandt. Wird doch Kroisos derjenige sein, der für die Bluttat des Gyges büßen muß. Und wenn es so weit ist, werden ihm alle seine Reichtümer nicht helfen. Es ist also durchaus denkbar, daß der Geschichtsschreiber das Thema des fingierten Gespräches, das sein Kroisos mit dem athenischen Staatsmann führt, bei der Interpretation solonischer Elegien gefunden hat. Dem herodoteischen Solon geht es freilich nicht um Verachtung des Reichtums, auch nicht ausschließlich um Empfehlung eines schlichten Lebens, sondern (wie die beiden beispielhaften Geschichten, die von Tellos und die von den Brüdern Kleobis und Biton zeigen) um die Möglichkeit eines guten Endes dieses irdischen Daseins. Eine derartige Möglichkeit ist, wie Solon an der Tagerechnung in 1,32 beweist, angesichts der Fülle denkbarer Unfälle gering. Immerhin hat der mäßig Reiche bessere Chancen, dem Neid der Götter zu entgehen, als der mächtige König von Lydien. Deshalb kann Solon, Herodots Analyse der historischen Situation aufgreifend, befürchten, daß dem überreichen Kroisos ein schlimmes Ende bevorsteht 5 . Er enthüllt die Brüchigkeit seines eingebildeten Glückes schon in den ersten beiden Teilen des Gespräches, indem er die blinde Arroganz des Königs mit wirklich erfüllten Lebensläufen schlichter griechischer Bürger vergleicht. Dieser Tatbestand gestattet die Vermutung, daß erst Herodot die Geschichte von Tellos und die von Kleobis und Biton mit solonischen Gedanken in Verbindung gebracht hat. 5

Siehe T. Krischer, Solon und Kroisos, W. Stud. 77, 1964, 1 7 4 - 1 7 7 .

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Man sieht, wie der Geschichtsschreiber solonische Vorstellungen umgedeutet und seiner Weltansicht so angeglichen hat, daß sie nun als Leitgedanken des gesamten Kroisoslogos wirken können. Der Autor ist davon überzeugt, daß er mit der Erzählung vom Besuch des Solon in Sardes den eigentlichen historischen Grund für den späteren Sturz des Lyderkönigs aufgedeckt hat. Für den aufgeklärten Leser aber steht Kroisos fortan unter dem Verdikt leichtsinniger Zuversicht und unbedachter, ja törichter Anmaßung. Der König muß einen Fehlschlag nach dem anderen hinnehmen, bis er auf dem Scheiterhaufen die Bedeutung und die Wahrheit der Worte Solons erkennt (vgl. 1,86,4). Das Schicksal von Kleobis und Biton wird Herodot in Delphi gehört, das des Tellos könnte er selbst erfunden und gestaltet haben 6 . Dieser unserer Vermutung steht freilich die bekannteste moderne Analyse der Kapitel 1,29 — 33 entgegen, die Regenbogens. Regenbogen hat in einer mit Recht berühmten, vielzitierten Interpretation (W. d. F. 375 — 403) zu zeigen versucht, daß der Geschichtsschreiber das Gespräch in einer verkürzten Gestalt bereits vorgefunden habe: Solon, einer der Sieben Weisen, habe die Frage des Lyderkönigs mit der Lebensbeschreibung des Tellos beantwortet und sei daraufhin in Ungnade von dem enttäuschten Herrscher entlassen worden (a. O. 398 ff.). Das ist natürlich denkbar. Jedoch Regenbogens Argumente beseitigen nicht alle Bedenken. Er stützt sich auf zwei Überlegungen: 1. Plin. n. h. 7,151 und Val. Max. 7,1,2 wissen zu berichten, daß Gyges (nicht Kroisos!) dereinst in Delphi angefragt habe, wer der Glücklichste auf Erden sei. Der Gott habe Aglaos von Psophis genannt, einen kleinen Bauern. Plinius schreibt: Senior hic in angustissimo Arcadiae angulo parvum sed annuis victibus large sufficiens praedium colebat, numquam ex eo egressus atque minima cuptdine minimum in vita malt expertus. Regenbogen meint, hier liege ungeachtet der späten Bezeugung eine ältere Parallele zur herodoteischen Solon-Tellos-Erzählung vor, weil statt Kroisos der früher lebende Gyges genannt wird. Aber die beiden lateinischen Texte können ebensogut auf eine gemeinsame Vorlage zurücklaufen, in der Herodots Schilderung zu einer neuen Erzählung über den berühmten Gyges umgewandelt worden ist7, 2. Das andere Argument besagt (Regenbogen, W. d. F. 395): Wie könnte Kroisos nach der Auskunft über Tellos überhaupt weiterfragen, um sich mit dem zweiten Platz zu begnügen? Ursprünglich habe er das Gespräch nach Solons Auskunft über Tellos abbrechen müssen. Das jedoch überzeugt nicht: Gerade das Verlangen des Lyders, wenn nicht den ersten, dann wenigstens den zweiten Platz zu erhalten, kennzeichnet seine ehrgeizige Arroganz. Es ist jedenfalls kein Anzeichen eines schlechten, erst nachträglich erfundenen Übergangs. Μ. E. läßt sich kein Grund finden, der uns verbieten könnte, die gesamte Partie 1,29 — 33 als Herodots Leistung anzusehen. In der Telloslegende verbirgt sich die Biographie eines ehrenwerten attischen Bürgers, wie sie der Autor in Athen gehört haben mag. Das erfüllte Leben des Tellos hat in der Vorstellung des Autors vermutlich 70 Jahre gewährt — die Zahl, die der Tagesrechnung in 1,32 zugrundeliegt und die Herodot bei Solon (Fr. 27 W.) als ideale 6

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Die dem Autor vorgegebenen Traditionen und seine eigenen Deutungen sind in wünschenswerter Klarheit behandelt von G. Schneeweiß, Kroisos und Solon, in: Apophoreta (Festschrift U. Hölscher), Bonn 1975, 161-188. Dort 162 ff. auch ein Überblick über die zahlreichen modernen Interpretationen der Kapitel 1,29 — 33. Jetzt nachzutragen Long 61—73 (mit interessanten Beobachtungen zur Verwendung der Wortwiederholungen). Über die Quellen des Valerius Maximus vgl. R. Helm, R. E. 8 A 1, 1955, 102, 56 ff., s. v. Valerius Nr. 239. Übereinstimmungen mit Plinius können andeuten, daß Varro zugrunde liegt (a. O. llO.lOff.). Bestätigend W. Kroll, R. E. 21,1, 1951, 308,31 s. v. Plinius Nr. 5.

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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Lebensgrenze vorfand. Allerdings wird Tellos nicht etwa deshalb (wie Chiasson 252 vermutet) an erster Stelle, vor Kleobis und Biton, genannt. — Die Geschichte dieser beiden Brüder ist argivischer Herkunft, aber Herodot hat jene Erzählung, wie man seit Auffindung der Inschrift auf der Statuenbasis weiß, in Delphi gehört. Regenbogens Besprechung des Textes (W. d. F. 384 ff.) zeigt in vorbildlicher Weise, wie der Autor die alte Legende mit delphischem Geist erfüllt und seiner eigenen Welt- und Lebensansicht angepaßt hat. P. Herrmann weist mich freundlich daraufhin, daß die Aufschriften der von Th. Homolle i. J. 1894 ausgegrabenen Doppelbasis nicht Kleobis und Biton betreffen, sondern die Dioskuren. Vgl. C. Vatin, Etudes Delphiques (Bull. Corr. Hellen., Suppl. IV, Paris 1977, 22): „Reconnaitre Cleobis et Biton dans les deux couroi est un acte de foi, rien de plus." Nach der sorgfaltigen Lesung von P. Faure (Les Dioscours ä Delphes, in: L'Antiquite Class. 54, 1985, 56—85 unter gleichzeitiger Auseinandersetzung mit einer zweiten Untersuchung Vatins in: Bull. Corr. Hellen. 106, 1982, 5 0 9 - 5 2 5 ) steht auf der rechten Basisplatte (.Kleobis', vgl. Faure 61): τ[οΐ]ν :

favccfow

: τοΐν Διιός [τόνδε]

Πο[λ]υμέδεζ. έττοί^Έε hapytTos, auf der linken Basisplatte (,Biton', vgl. Faure ebend.): [Δι] to?' hui£o[iv] [Άριστογεί]τον ·' τόνδ' εττοί/^ε[ε]. Die Lesarten Vatins (1982) weichen ab. Alle erforderlichen Angaben in S. E. G. 32, 1985, Nr. 549 ( = S. 166) und 35, 1990, Nr. 479 ( = S. 139). Die angeblich von den Argeiern nach Delphi gestifteten Standbilder der beiden Jünglinge Kleobis und Biton (vgl. Hdt. 1,31,5) haben also nie existiert, oder sie sind verloren gegangen. Unter den vielen Interpreten der Erzählung hat aber erst M. Lloyd in einem bemerkenswerten Aufsatz (Cleobis and Biton, in: Hermes 115, 1987, 22 — 28) ihren eigentlichen Sinn und ihre Verbindung mit der vorangehenden Geschichte von Tellos erkannt: Jedes der beiden Beispiele repräsentiert eine mögliche Deutung des Paradoxons: ,Man kann niemanden vor seinem Tode glücklich preisen' (vgl. Aristot. Ε. N. 1,10 p. 1100 a 11 ff.). Solon verdeutlicht mit seinen Antworten verschiedene Arten des Glückes (vgl. Lloyd 27): „The best that can be hoped is to enjoy continuous moderate prosperity as Tellus does. But if this is not possible then the second happiest condition is death. Thus Cleobis and Biton are specifically said to be second happiest. The third and worst condition is unhappy life or even a life, like that of Croesus, which falls from prosperity into disaster." Der dritte (theoretische) Teil, den Regenbogen ebenfalls sorgfaltig analysiert hat (W. d. F. 390 ff.), entspricht ganz herodoteischen Vorstellungen. Wir gehen hier auf Einzelheiten nicht ein, betonen aber nochmals, daß die nüchterne Zahlenberechnung nicht entbehrt werden kann, wenn die beiden vorangehenden Exempla verstanden werden sollen. Ohne diese theoretische Belehrung könnte der König später (seil, auf dem Scheiterhaufen) dem besonnenen Sprecher nicht nachträglich recht geben 8 .

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In seinem großen Beitrag des Jahres 1975 hat Stahl den Werdegang des Kroisos vom verblendeten Tyrannen zum Ratgeber des Siegers Kyros überzeugend beschrieben, dann aber zu zeigen versucht, daß der bedächtige Warner sein neu erworbenes Wissen um die Bedingungen der menschlichen Existenz in tragischer Weise mißachtet, wenn er den unglücklichen Zug des Kyros gegen die Massageten befürwortet. Wir werden bei Besprechung der Rolle, die Kroisos im Massagetenfeldzug spielt (s. unten S. 26), auf Stahls kühne These zurückkommen.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Kroisos' Unglück beginnt mit dem Verlust des Sohnes Atys. Atys verkörpert, da sein jüngerer Bruder gelähmt und zur Übernahme der Regierung nicht befähigt ist, die Zukunft der Dynastie. Für Kroisos ist der Schicksalsschlag vernichtend. Herodot hat, dem Gewicht des Geschehens entsprechend, den Untergang des Königssohnes zu einem ergreifenden dramatischen Bericht ausgestaltet: Kroisos träumt, daß Atys durch eine eiserne Lanzenspitze umkommen werde. Der König versucht, die Ankündigung des Traumes 9 zu entwerten: Er gibt dem Sohn eine Frau, sendet ihn nicht mehr auf Kriegszüge aus und entfernt alle Waffen aus seiner Nähe (vgl. 1,34,2—3). Da erbitten Myser Kroisos' Hilfe bei der Jagd auf einen großen Eber (1,36,1: ύός χρήμα μέγα), der ihre Felder verwüstet. Der König sagt zu, Atys erhält nach heftigen Bitten die Erlaubnis zur Teilnahme und kommt durch den Fehlschuß eines Mitwirkenden um. Herodot deutet dieses Unglück als göttliche Strafe für den Hochmut des Kroisos (für die Verstocktheit gegenüber Solon). Man prüfe den Einleitungssatz (1,34,1):μετά δε Σόλωνα οϊχόμενον ελαβε εκ θεού ν έ μ ε σ ι ς μ ε γ ά λ η Κροΐσον, cos είκάσαι, δτι ένόμισε έωυτόν είναι ανθ ρ ώ π ω ν α π ά ν τ ω ν όλβιώτατον. Damit ist ein enger, bedeutungsreicher Anschluß an das vorangehende Gespräch des Königs mit dem athenischen Gast hergestellt. Herodot erzählt nun freilich nicht so, wie soeben paraphrasiert wurde, sondern er stellt des Atys beklagenswertes Geschick in eine ebenso traurige Rahmenerzählung, in die Geschichte des Adrastos, des Enkels des Midas. Adrastos hat versehentlich seinen Bruder erschlagen, kommt als Flüchtling nach Sardes und wird von Kroisos entsühnt. Der König sendet ihn als Beschützer seines Sohnes auf jene zuvor erwähnte Eberjagd. Ausgerechnet Adrastos wirft die Lanze, die den Eber verfehlt und Atys tötet. Kroisos verzeiht dem unglücklichen Jüngling; denn er fühlt, daß sich die von Gott verfügte Entwicklung erfüllen mußte. Aber Adrastos geht hin und tötet sich auf dem Grabe seines Freundes. Die dramatische Aussagekraft dieses Abschnitts ist so stark, daß man vermutet hat, Herodot gebe hier den Inhalt einer attischen Tragödie wieder. Jedoch Lesky 10 hat überzeugend nachgewiesen, daß derartige 9 10

D. h. eines Königstraums, der immer ein Wahrtraum ist. A. L. Tragödie bei Herodot? in: Greece and the Mediterranean in Ancient History, Berlin 1977, 2 2 4 - 2 3 0 . Über Herodots Verhältnis zur Tragödie siehe Long 1 8 0 - 1 9 2 . Zur Kennzeichnung der handelnden Personen und der einzelnen Geschehensabläufe durch auffallige Wortwiederholungen vgl. Longs umfangreiches Kapitel über diese Novelle (74—106). Die Erzählung läßt sich, wie Long erkannt hat, in mehrere in sich geschlossene Abschnitte zerlegen; das Prinzip der Wortwiederholung verbindet die Einzelheiten und das Ganze. Möglicherweise klingt in Kroisos' Worten (1,44,2) das Muster einer ,Sündenbockerzählung' nach, vgl. J. Stern, Hermes 119, 1991, 306. Diese Vermutung ist jedoch nicht

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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Spekulationen unbegründet sind. Sie verkennen (ähnlich wie in der Diskussion über die Gygestragödie) die Selbständigkeit von Herodots Arbeitsweise. Man muß allerdings zugeben, daß der Geschichtsschreiber von der Tragödie gelernt und sich klar gemacht hat, wie dramatische Wirkungen zustande kommen 11 . Man wird mithin zur Vermutung veranlaßt, Herodot selbst müsse die ganze Atys-Adrastos-Erzählung entworfen und ausgearbeitet haben. Ihm brauchen nur zwei Tatsachen bekannt gewesen zu sein: 1. Atys, der Sohn des Kroisos, verlor durch einen Jagdunfall sein Leben; 2. Adrastos, Sohn des Gordias, Enkel des Midas, kam an den Hof des Kroisos, vielleicht aus der von Herodot mitgeteilten Ursache. Die kunstvolle Form, in der die einzelnen (vom Autor teilweise erfundenen) Vorgänge mitgeteilt werden, ist allein Herodots Werk. Bei Schilderung der Verwüstungen, die der Eber in Mysien anrichtet, der Not der Bevölkerung und der unglücklichen Jagd (vgl. 1,36,1), hat sich der Autor offensichtlich an die Sage vom Kalydonischen Eber gehalten (vgl. I 538 ff.). Seine Darstellung des Atysschicksals enthält daneben einen besonderen Zug, der für die Fortführung der Geschichte des Kroisos wichtig wird: Kroisos bleibt nicht starr auf dem Standpunkt stehen, den er Solon gegenüber eingenommen und im Gespräch mit ihm beibehalten hat. Jetzt verzeiht er dem, der seinen Sohn getötet hat, und erkennt dabei die göttliche Fügung an, die in seinem Traum offenbar geworden ist. Er sagt zu Adrastos (1,45,2): „Ich habe damit (d. h. mit der Selbstbezichtigung des unglücklichen Jünglings), Fremder, die ganze Buße von dir erhalten, da du dich selbst des Todes schuldig achtest. Doch bist nicht du mir schuld an diesem Schlimmen, nur daß du, ohne zu wollen, es ausführtest, sondern wohl einer der Götter, der mir auch schon lange vorher angezeigt hat, was kommen sollte" 12 . Mithin ist Kroisos auf dem Wege zur Einsicht. Er beachtet die Leitung der Welt, mag auch seine Politik in den folgenden Jahren durch den schweren Fehler der Selbstüberschätzung gekennzeichnet sein. Am Ende wird er Solon verstehen und seinen Worten reuevoll zustimmen.

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unbedingt sicher (siehe Stern ibid. Anm. 15). Im übrigen fragt Stern als Religionshistoriker nach den faktischen Ähnlichkeiten, nicht jedoch danach, ob sich Herodot des Rückgriffs auf die Formen eines Rituals bewußt war. Das aber ist gerade im Falle der Atys-AdrastosGeschichte zweifelhaft. Wie er denn überhaupt Einzelheiten aus der Bühnendichtung herübergenommen hat, vgl. Stoeßl 485 (dem Herodottext verwandte Beispiele bei Sophokles), auch Verf., Ausgewählte Schriften zur Klass. Philologie, Berlin 1979, 143 f. Übrigens wäre eine so sorgfaltige Unterscheidung zwischen Mord und (unvorsätzlichem) Totschlag in einer lydischen (wenn auch Griechisch geschriebenen) Vorlage des 6. Jh.s kaum denkbar. Hinter Herodots Worten steht bereits das Rechtsbewußtsein der klassischen Zeit.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Nach zweijähriger Trauer um Atys wird Kroisos durch den Fall des Mederreichs (dessen König Astyages hat seine Schwester Aryenis zur Frau, vgl. 1,74,5) und durch den Aufstieg der Perser unter Kyros aufgeschreckt (vgl. 1.46.1). Er sucht nach den zuverlässigsten Orakelstätten, um sich beraten zu lassen, gewinnt in Griechenland die Spartaner zu Bundesgenossen und bereitet, angeblich verführt durch die Fehldeutung eines delphischen Orakelspruchs (vgl. 1,53,3), den Feldzug gegen Persien vor. Das Orakel 1,53,3 lautet in Herodots Paraphrase: ήν στρατεύηται έττ'ι Πέρσας, μεγάληυ άρχήν μιν καταλύσειν. Vgl. den (vermutlich originalen) Wortlaut bei Aristoteles (Rhet. 3,5 p. 1407 a 38). — In 1,71,1 (nach Abschluß des Ausblicks auf die bisherigen Vorgänge im griechischen Mutterland) heißt es: Κροίσος δε άμαρτών του χρησμού εποιεετο στρατηΐην §5 Κατττταδοκίην. Über die politische Bedeutung des in 1,53,3 genannten Orakels vgl. Heuß 402 ff. (die Analyse des für Feststellung der Kriegsgründe wichtigen Passus 1,73,1 ebend. 396 f.). — An das letzte (dritte) delphische Orakel (1,55,2) wird Herodot in 1,71,1 nicht gedacht haben; denn dieses Orakel ist die Antwort auf die im derzeitigen historischen Zusammenhang unpassende Frage nach der Dauer der Mermnadendynastie. Das Orakel ist eine nachträgliche Fiktion (vgl. Heuß 406), was Herodot allerdings nicht wissen konnte.

Da gibt ein wegen seiner Klugheit angesehener Lyder namens Sandanis dem König den Rat, den Kriegsplan fallen zu lassen. Sinngemäß sagt er zu ihm (1,71,2 — 4): ,Die Perser sind arme Leute, durch den dürftigen Boden ihrer Heimat zu einem entsagungsvollen Leben gezwungen. Im Falle unseres Sieges ist nichts bei ihnen zu holen. Wenn du aber den Kampf verlierst, werden sie Geschmack an unserem Wohlstand finden, und wir werden sie nicht wieder los. Ich für meine Person danke den Göttern, daß sie die Perser nicht auf den Gedanken kommen lassen, gegen uns ins Feld zu ziehen.' Herodot gibt nur diese Empfehlung des Sandanis wieder und läßt ihr den lapidaren Satz folgen (1,71,4): ταύτα λέγων ούκ εττειθε τον Κροΐσον. Wir sind aber nicht Teilnehmer eines Dialogs, in dem Kroisos seine Politik verteidigen könnte, sondern wir hören lediglich die Ansicht eines Kenners der lydischen und persischen Verhältnisse. Diese Ansicht besteht nun freilich in einer vernichtenden Kritik; denn die Quintessenz der Sandanis-Rede besagt: ,Der geplante Feldzug lohnt sich nicht, ja er ist sinnlos!' Dieselben Grundsätze politischer Opportunität, mit denen Kroisos seinen Präventivkrieg gegen Kyros begründet und vorbereitet (vgl. 1,73,3) 13 , führen im Munde des Sandanis ganz folgerichtig zu einem gegenteiligen Ergebnis: Im eigenen Interesse soll man schlafende Hunde nicht wecken, also ohne zwingenden Grund mit den Persern nicht anbinden 14 .

,3 14

Dazu vgl. Heuß 396. Vgl. Heuß 400, siehe auch ebend. 414, wo von den „Raubtierinstinkten des bedürfnislosen persischen Volkes" gesprochen wird.

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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Es ist übrigens nicht uninteressant, die Argumente des Sandanis neben das Kapitel 9,82 zu stellen: Persische Lebensart erscheint hier auf einer späteren Entwicklungsstufe. Pausanias, der Sieger v o n Plataiai, vergleicht anhand konkreter Belege den Tafelluxus der Perser mit dem einfachen Mahl der Spartaner und tadelt den Unverstand der Besiegten. Diese sind nun ihrerseits gegen ein Land angetreten, in dem nichts zu holen ist. Zwar paßt zu Pausanias diese Folgerung aus der Konfrontation der Lebensstile nicht recht, denn er ist wenig später selbst Bewunderer orientalischen Wesens geworden (vgl. Thuk. 1,130,1; bei Herodot nur die Andeutung 5,32). Aber für Herodots Betrachtung ist gerade diese Veränderung persischer Lebensweise wichtig: Noch im Schlußkapitel seines Werkes (9,122,2) wird er an die Mahnung des Kyros erinnern, der den Persern Härte und Schlichtheit empfahl, wenn sie Herren ihres Reiches bleiben wollten.

Herodot gibt die paraphrasierte Äußerung des Sandanis, die Widerlegung der aggressiven Kalkulation des Lyderkönigs, nur als bloße Verlautbarung bekannt. Kroisos nimmt nicht Stellung. Das ist auffallig. Hinzu kommt, daß man über Sandanis nichts weiter erfahrt. Er ist überhaupt nur aus dieser Herodotstelle und aus einer späteren Nachahmung (?) bei Ammian. Marc. 14,8,3 (Sandan) bekannt. Die Absicht der besprochenen Worte aber ist deutlich: Sie zeigen, daß die Pläne des Königs nach derselben Logik scheitern können, nach der Kroisos ihr Gelingen errechnet hat, und der Leser weiß, daß sie scheitern werden, weil der König den Faktor Kyros in seiner wahren Bedeutung nicht erkannt und berücksichtigt hat. Wir dürfen mit Zuversicht sagen, daß auch in dieser Anekdote ein herodoteisches Urteil niedergelegt ist. Der Geschichtsschreiber hat den Auftritt des Sandanis erfunden, um seinen Leser über das Risiko aufzuklären, das Kroisos mit dem Zug gegen Persien eingeht. Die Formulierung des letzten Satzes der Sandanis-Rede (1,71,4: ε γ ώ μεν νυν θεοΤσι εχω χάριν, οΐ ουκ επί νόον ττοιέουσι Πέρσησι στρατεύεσθαι επί Λυδούς) erinnert an das oben (S. 11) behandelte Gespräch des Kroisos mit Bias oder Pittakos (1,27,3 — 4). Hier wünscht Kroisos, die Götter möchten die Inselgriechen veranlassen, zu Pferde gegen Lydien zu ziehen, und der Mitunterredner versichert, dieselben Griechen ersehnten nichts mehr, als daß der Lyderkönig sie mit Schiffen angriffe. In 1,71,4 aber dankt Sandanis den Göttern, daß sie die Perser nicht auf den Gedanken kommen lassen, gegen Lydien zu Felde zu ziehen. Hier wird der für die eigene Partei günstigste Fall mit Dank als Göttergeschenk bezeichnet, dort als Fügung der Götter herbeigesehnt. Noch anders 3,21,3: Der Dank des Sandanis an die Götter erscheint jetzt im Munde des Aithiopenkönigs als überlegen-höhnische Empfehlung an die Gesandten des Kambyses: „Bis dahin mag er den Göttern danken, daß sie den Kindern der Aithiopen nicht eingaben, ein anderes Land zu gewinnen, hinzu zu dem ihren." Alles das sind Varianten desselben herodoteischen Gedankens. Man kann bei ihrer Betrachtung lernen, mit welcher Umsicht der Autor dasselbe Thema auf verschiedene Situationen abstimmt.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Wir verzichten hier darauf, den großen Mittelteil des Kroisoslogos (die Orakelprobe des Königs 1 5 , seine Bevorzugung Delphis, seine Bündnispolitik und den unglücklichen Krieg gegen Persien) erneut zu behandeln. Μ. E. hat Heuß in seiner grundlegenden Analyse (vgl. bes. Heuß 399 ff.) alle Probleme erörtert und wohl auch überzeugend gelöst. Er hat außerdem das Verhältnis der herodoteischen Darstellung zur historischen Wirklichkeit geklärt und die Schwierigkeiten aufgedeckt, in die der Autor geraten ist, weil er sich in der Hauptsache nur der delphischen Tradition überlassen konnte. Lediglich Herodots Ausführungen über Kroisos' Ergehen auf dem Scheiterhaufen (1,86 — 87,3) erheischen noch einen kurzen Kommentar aus philologischer Sicht. Der Geschichtsschreiber erzählt: Nach der Einnahme von Sardes läßt Kyros den entthronten Lyderkönig fesseln und den Scheiterhaufen besteigen, sei es als Erstlingsopfer für einen Gott, sei es als Einlösung eines Gelübdes, sei es weil er erfahren will, ob der wegen seiner Frömmigkeit bekannte Gefangene Hilfe vom Himmel erhält 16 . Kroisos nun erkennt in seiner Todesangst die Richtigkeit der solonischen Behauptung, daß niemand vor dem Tode glücklich heißen könne. Dreimal ruft er den Namen des Atheners aus. Von Kyros durch Dolmetscher befragt, wen er meine, schweigt er zunächst, sagt dann aber: ,Ich nannte den Namen eines Mannes, der mit allen Herrschern ins Gespräch kommen sollte' (1,86,4). Nochmals bedrängt, berichtet er kurz von Solons Besuch in Sardes und von dessen Aussage, die sich nun bewahrheitet habe. Während die äußeren Schichten des Holzstoßes schon brennen, erkennt nun Kyros, daß Solons Ausspruch auch für ihn Bedeutung habe 17 . Jedoch mit menschlichen Mitteln kann das Feuer nicht mehr gelöscht werden. Kroisos aber bemerkt die Sinnesänderung des Perserkönigs und ruft nun 15

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Die Orakelprüfung und das delphische Orakel 1,47,3 sind Erfindungen der Priester, die damit den Empfang der kostbaren Weihgeschenke von einem König nachträglich erklären wollten, der sein Reich verlor (so Parke 242). — Hingewiesen sei auf die scharfsinnige, originelle Interpretation des schwierigen Orakeltextes durch D. E. Wormell, (Croesus and the Delphic Oracle's Omniscience, Hermathena 47, 1963, 20 — 22). Der ursprüngliche Sinn der Verse bezog sich nach Wormell nicht auf einen Vorgang des Kochens, sondern auf das Schmelzen von Metall (Gold) zum Zwecke der Münzprägung: „The oracle may then depict the strong room of Croesus' treasury while Aeginetan and Milesian coins (Embleme: Schildkröte und Widder) are being assayed, symbolizing a policy of creating Lydian issues which could circulate beside and rival these currencies." Wenn das zutrifft, müßte Herodot unter Verkennung des ursprünglichen Sinnes das Orakel gewissermaßen beim Wort genommen und durch die 1,48,2 berichtete Handlung des Königs erklärt haben. Zu diesem Satz vgl. Stahl 12 f., der mit Recht feststellt (13): „Cyrus is introduced as a human character who thinks in Herodotean categories." 1,86,6: ... μεταγνόντα τε και έννώσαντα ότι και αύτός άνθρωπος Ιών άλλον άνθρωττον γενόμενου έωυτοϋ εύδαιμονίη οϋκ έλάσσω, ζώντα m/pi διδοίη, ττρός τε τούτοισι δείσαντα την τίσιν και έπιλεξάμενοξ ώς ουδέν είη των εν άνθρώττοισι άσφαλέωξ εχον.

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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Apollon unter Hinweis auf seine zahlreichen nach Delphi gespendeten Geschenke an: Er bittet als Vergeltung um Errettung aus der tödlichen Gefahr. Da regnet es bei heiterem Himmel, und das Feuer erlischt. An diesem Wunder erkennt Kyros, daß Kroisos ein gottgeliebter, vortrefflicher Mann ist (1,87,2: θεοφιλής καΐ άνήρ αγαθός). Nun ist der Weg frei für die zukünftige Zusammenarbeit der beiden Männer: Kroisos ist fortan der weise Berater des Großkönigs. Für das Verständnis dieses Berichtes ist es nicht gleichgültig zu wissen, was hier Tradition, was Eigentum des Erzählers ist. Nur nebenbei sei bemerkt, daß der größte Teil des Textes (1,86,3 — 87) in indirekter Rede abgefaßt ist. Das eigentliche Wunder, Apolls Hilfe, erhält die Etikette (1,87,1): έυθαΰτα λέγεται ύ π ό Λυδών. Herodot ist also wenigstens bemüht, den Eindruck der Abhängigkeit von fremden Berichten zu erwecken. Wir ordnen unsere Beobachtungen nach drei Gesichtspunkten: 1. Jeder weiß, daß Solons Besuch am lydischen Hofe nur deshalb in den Kroisoslogos aufgenommen worden ist, weil der König die Gültigkeit der solonischen Worte begreifen und seine eigene Nichtigkeit erkennen soll. Die soeben paraphrasierte Szene, in welcher der zum Tode Verurteilte Einblick in sein Schicksal erhält, ist der Höhepunkt des ganzen Logos (vgl. Heuß 409). Die uns vorliegende Gestaltung der Scheiterhaufenszene ist mithin von langer Hand vorbereitet; denn das Aufleuchten der neuen Erkenntnis kann nur im Angesicht des Todes erfolgen und nur dann die gewünschte Wirkung haben 18 . Man darf sagen: Herodot hat die ihm mitgeteilte Nachricht, daß Kroisos zum Feuertode verurteilt worden ist, dazu benutzt, die geistige Wandlung des selbstbewußten Tyrannen zu ermöglichen 19 . 2. Nach dem heutigen Stand unseres Wissens hat Kroisos die Eroberung von Sardes durch die Perser im Jahre 547 v. Chr. tatsächlich nicht überlebt 20 . Das braucht aber nicht zu besagen, daß seine weitere Existenz am 18

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Herodot kannte die dramatische Wirkung einer solchen Anordnung der Fakten aus der attischen Tragödie. Vgl. Ed. Meyer, G. d. A. III3 (Darmstadt 1954) 184 f.; besonders Heuß 394. Beide Forscher halten den versöhnlichen Ausgang für historisch. Kyros müßte dann den Kroisos ebenso in seiner Umgebung geduldet haben wie den besiegten Mederkönig Astyages (vgl. 1,130,3). Jedoch vgl. die folgende Anmerkung! W. Burkert hat in einem meisterhaften Aufsatz (Das Ende des Kroisos: Vorstufen einer herodoteischen Geschichtserzählung, in: Catalepton. Festschrift für B.Wyss, Basel 1985, 4—15) nachgewiesen, daß der historische Kroisos bei der Eroberung von Sardes im Auftrag des Kyros getötet worden ist. Als Belege nennt Burkert die Nabonid-Chronik aus Babylon und den ersten Teil der Chronik des Eusebius in der aramäischen Übersetzung (S. 33,8 Kaerst). Es ist kaum statthaft bei diesen Nachrichten an eine bloß formale damnatio memoriae zu denken. Das Ereignis (Tod des Kroisos im Jahre 547) wurde bald, nach orientalisch-griechischem Muster, als Selbstverbrennung des besiegten Königs gedeutet (so die Amphora des Myson, um 490). Bakchylides (3,27 — 48) erweitert diese Fassung

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

persischen Hofe in der Darstellung Herodots dessen Erfindung sei. Eine solche Vermutung läßt sich mit den Angaben des Kapitels 1,91 nicht vereinigen. Dort berichtet der Geschichtsschreiber über die aus vier Punkten bestehende Erklärung des delphischen Orakels, in denen die Pythia die kühne Politik, die man in Delphi dem Lyderkönig vor dem Kriege gegen Kyros empfohlen hat, notdürftig rechtfertigt. Es ist nicht denkbar, daß Herodot diese Auskunft der Pythia untergeschoben habe (eine derartige Vermutung vertrüge sich nicht mit seiner Achtung vor dem berühmten Orakel). Man muß vielmehr annehmen, daß die Priesterschaft jene letzte Anfrage des Kroisos fingiert hat. In Delphi war man an einer Nachricht vom Überleben des gestürzten Königs Lydiens besonders interessiert, weil man nur in einer an ihn, den nachträglich Anfragenden, gerichteten Antwort die Gründe seiner Niederlage darlegen und ihm die Schuld zuschieben konnte. Im Hinblick auf die zahlreichen kostbaren Weihgeschenke, mit denen Kroisos das Orakel geehrt hatte, war eine derartige Erklärung unvermeidlich. In Delphi also wird Herodot erfahren haben, daß Kroisos seinen Sturz überlebt habe. 3. Das wunderbare Eingreifen Apolls wird in der soeben genannten (fingierten) Verlautbarung Delphis ausdrücklich hervorgehoben (1,91,3: ... δεύτερα δέ τούτων κααομένω αύτω Ιπήρκεσε). Delphi mußte sich, wenn es überzeugen wollte, auf eine einleuchtende Tatsache beziehen. Was die angebliche Rettung der zum Tode verurteilten Königsfamilie ermöglicht haben soll, läßt sich kaum wissen. Jedenfalls hat in dieser Tradition der Einfluß Solons keine Rolle gespielt. Herodot aber hat den Hinweis der Pythia auf göttliche Hilfe gern aufgegriffen und in seine ergreifende Erzählung umgesetzt (vgl. 1,87,1). Ist doch das Eingreifen des Gottes ein unverkennbares Zeichen der Gnade, die jetzt dem gedemütigten Lyder Kroisos zuteil wird. Kyros, so heißt es 1,87,2, habe (wie bereits erwähnt) zur Entführung des Herrschers zu den Hyperboreern. Burkert sagt mit vollem Recht (14): „Die diesseitige Rettung des Kroisos ... hat Herodot kaum als erster erschlossen und ausgemalt." Aber Burkert irrt, wenn er „die seltsame und nicht immer glückliche Art, in der in späteren Kapiteln der überlebende Kroisos eingeführt ist", als Beweis dafür nennt und meint, Herodot habe „nicht ganz assimilierte Berichte" von Lydern über das Überleben des Kroisos unter persicher Oberhoheit verwendet. Diese Annahme ist aus der uns bekannten Quellenangabe 1,87,1 erschlossen, ohne daß die delphische Tradition berücksichtigt wurde. Wie wir oben gezeigt haben, ist das jedoch nicht statthaft (vgl. unsere Ausführungen unter Nr. 3). Wenn wir übrigens in diesem Zusammenhang Herodots Abhängigkeit von der delphischen Tradition als gesichert voraussetzen, dann bedeutet das gleichzeitig, daß wir annehmen, der Autor habe an der Aufrichtigkeit des göttlichen Sprechers (d. h. der Orakel) nicht gezweifelt. Der Gott hat ja Kroisos nicht getäuscht, sondern ihm gegenüber die Wahrheit bloß verhüllt. Sobald man Shimron (42 — 49) folgt und seine Zweifel an Herodots Vertrauen zur Ehrlichkeit der Gottheit gutheißt, entzieht man der ganzen Darstellung den „historischen" Boden. Sie wird dann sinnlos.

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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nun erkannt, daß der besiegte König wegen seiner Tugenden unter göttlichem Schutze stehe. Herodot erwähnt das Wunder jedoch, wie oben ebenfalls schon angedeutet worden ist, nicht im eigenen Namen, sondern gibt vor, Lyder zu zitieren (1,87,1: ένθαΰτα λέγεται Οπό Λυδών). Daß man hierbei eher an eine schriftliche Vorlage als an einen mündlichen Bericht denken müsse, hat Maehler 2 ' mit achtbaren Gründen vermutet. Er spricht von einer „möglicherweise anonymen Prosaversion". Ob man lieber auf Xanthos raten sollte, ist in diesem Falle nicht auszumachen; denn die Nachricht des Nikolaos, der auf den Λυδιακά des Xanthos fußt (vgl. FGrHist 90,68 § 8 [S. 372 Jac.]), ist von Herodot beeinflußt, enthält auch ganz fremde (jedenfalls dem Herodot nicht bekannte) Bestandteile, wie den Auftritt einer Sibylle. Was bei Xanthos ursprünglich stand, ist nicht kenntlich. Das Erscheinen der Sibylle sollte allerdings nicht als Spätindiz angesehen werden. Parke (229) hat wohl richtig vermutet, daß es sich um die Marpessa handelt, die seit Beginn der Regierung des Kroisos antilydische Propaganda getrieben und den Untergang des Lyderreichs angekündigt hat. In der Scheiterhaufenszene des Nikolaos warnt sie die Perser v o r Tötung der königlichen Familie. Die Rettung wird dann freilich durch das von Apollon gesandte Unwetter herbeigeführt. Kurzum: Die Sibylle könnte schon von Xanthos erwähnt worden sein. Parke hält freilich die ihr zugeschriebenen Verse für ein Fabrikat des Nikolaos, der die Erwähnung des Amphiaraos (V. 2) dem Herodottext entnommen habe (vgl. Hdt. 1,46,2. 49 u. ö.).

Wichtiger als das bisher Gesagte scheint es mir zu sein, folgendes festzuhalten: Maehlers Vermutung gilt nur unter der Bedingung, daß die Quellenangabe in 1,87,1 auf eine unmittelbare Vorlage deutet. Gerade das aber ist zweifelhaft; denn zu dem den Lydern zugeschriebenen Bericht gehören die bereits zweimal zitierten Worte von der Gottgeliebtheit und Vortrefflichkeit des entthronten Königs, der, durch sein unglückliches Schicksal belehrt, ein anderer geworden ist 22 . Damit aber fassen wir den genuin herodoteischen Grundgedanken des ganzen lydischen Logos. Herodot brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er in diesem Zusammenhang eine „fingierte" Quellenangabe machte. Die Pythia (bzw. die Priester, in deren Auftrag sie sprach) mußte sich ja auf einen aus Sardes gemeldeten Bericht stützen. Genaueres als das, was „Lyder" ihr mitteilten, konnte sie nicht in Erfahrung bringen. Das aber bedeutet: Herodots „Quelle" ist die in 1,91 mitgeteilte Antwort des delphischen Orakels auf Kroisos' letzte Anfrage. Dieser Antwort entnahm er die lydischen Berichterstatter für seine Schilderung von Kroisos' Errettung. Außerdem handelt es sich bei dem dramatischen Ausklang des Ereignisses ja um ein Wunder (um ein kräftiges Gewitter just in dem Augenblick, in dem das Feuer den 21 22

Η. M., Die Lieder des Bakchylides, 1. Teil, Kommentar, Leiden 1982, 36. Vgl. dazu Stoeßls Analyse (485 f.).

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

gefangenen König und die Seinen zu erreichen drohte), und in solchen Fällen ist Herodot, getreu seinem Grundsatz ( λ έ γ ω τ ά λεγόμενα) gern bereit, die Verantwortung von sich zu weisen. Alle drei besprochenen Punkte (vgl. oben S. 21) deuten auf die Aufgabe voraus, die Kroisos von nun an als weiser Berater des Kyros wahrnehmen soll. Deren Schilderung ist eine rein herodoteische Weiterführung der bisherigen Wirksamkeit des Königs, immerhin aber eine Fortsetzung seines Schicksals, die aus dem gesamten vorangehenden Bericht sinnvoll hervorgeht. Die beiden ersten Ratschläge, die Kroisos dem Perserkönig erteilt, betreffen die Lyder. Die Empfehlungen sind so gewählt, daß sie, soweit möglich, das Wohlergehen des besiegten Volkes berücksichtigen und gleichzeitig dem Kyros Vorteile bieten. 1. 1,88 — 90: Nach der Einnahme von Sardes plündern die persischen Soldaten hemmungslos. Kroisos macht dem Perserkönig klar, daß es sein, des Eroberers, Gut ist, das jetzt sinnlos vernichtet oder verschleppt wird. Aus dem Übermut, so sagt er, könne Ungehorsam oder gar Aufstand entstehen, und um diese Gefahr zu vermeiden, empfiehlt er, den Plünderern ihren Raub an den Stadttoren abzunehmen; das sei unter dem Vorwand leicht möglich, bei den jeweiligen Gegenständen handele es sich um den Anteil, den die Sieger den Göttern schulden. Kyros sieht die Richtigkeit dieser Ratschläge sofort ein. Besonders beeindruckt ihn Kroisos' Hinweis auf die Möglichkeit einer Meuterei, die vom erfolgreichsten Plünderer angezettelt werden könne. Als vorherodoteische „ionische" Novelle interpretiert Stoeßl (481) dieses Zwiegespräch zwischen Kyros und Kroisos: „Eine typische Anekdote ionischen Stils, voll Trivialität im Augenblick tragisch-schauriger Vorgänge." Μ. E. wird damit eine nebensächliche Eigenheit der Erzählung zu stark betont. Wichtiger ist der Hinweis unseres Autors auf die Klugheit, mit der Kroisos die Situation zugunsten beider Völker rettet. Die Geschichte ist konzipiert als Zeugnis für die segensreiche Wirksamkeit des ehemaligen lydischen Königs, der nun zum weisen Berater geworden ist. Das aber ist ein tragender Gedanke der ganzen Darstellung in Herodots erstem Buche. Sollte er ihn in einer „ionischen" Novelle gefunden haben?

2. Der nächste Ratschlag gehört in eine viel ernstere Lage (vgl. 1,155): Der Lyder Paktyes, von Kyros beauftragt, die persische Kriegsbeute zu verwalten, bringt, während sich der König auf der Rückreise nach Ekbatana befindet, Lydien zum Abfall. Sobald Kyros davon erfahrt, ist er entschlossen, das gesamte Lydervolk zu versklaven. Kroisos aber beruhigt ihn. Er bittet, nicht die Unschuldigen zu bestrafen (den vorangegangenen Krieg habe nur er verschuldet, den jetzigen Aufstand nur Paktyes), und schlägt ihm ein wirksameres Mittel vor (1,155,4): „Sende zu ihnen und verbiete ihnen, Kriegswaffen zu besitzen, und trage ihnen auf, daß sie unter ihren Kleidern feine Wäsche tragen und hohe Schuhe an den Füßen, und gebiete ihnen, ihre Knaben zu Leier- und Harfenspielern zu erziehen

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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und zu Krämern. Und bald wirst du sehen, daß sie Weiber geworden sind statt Männer, so daß sie dir künftig nicht mehr gefährlich sind noch abfallen." Kroisos glaubt, mit diesem Vorschlag dem Ernst der Lage am besten gerecht zu werden, und Kyros übernimmt seine Anregungen. Jeder Zeitgenosse Herodots, der das las, verstand, daß mit der entsprechenden Anordnung des Kyros der gegenwärtige Zustand der Lyder, des typischen Krämer- und Handelsvolks, auf seine Anfänge zurückgeführt und erklärt war. Im übrigen ist die Strafmaßnahme des Perserkönigs cum grano salis zu verstehen; denn beim großen Aufmarsch der asiatischen Völkerscharen, die im Jahre 480 gegen Griechenland ausrücken, stellen auch die Lyder ihr Kontingent (vgl. 7,74,1). Das ist immerhin ein Zeichen dafür, daß kein anderer als Herodot die Nachrichten über Entwaffnungsmaßnahmen der Perser nach dem Aufstand des Paktyes dazu benutzt hat, ein Aition für die jetzige Lebensweise der Lyder zu finden, das der Tendenz seiner Erzählung von Kroisos entspricht. 3. An der dritten Stelle (1,207) tritt Kroisos mit entscheidender Stimme in den Mittelpunkt der hohen Politik. In dem unglücklichen Feldzug gegen die Massageten, der mit Kyros' Niederlage und Tod enden soll, stellt Tomyris, die Königin der Feinde, die Perser vor die Wahl, die Entscheidungsschlacht entweder im massagetischen Gebiet zu schlagen, drei Tagesmärsche jenseits des Araxes, oder in derselben Entfernung vom Fluß auf persischem Boden. Der persische Kriegsrat wünscht Rückzug vom Araxes und Kampf im eigenen Hoheitsgebiete. Kroisos aber bringt (seil. 1,207,3 ff.) Gründe für die andere Möglichkeit vor: Bei einer Niederlage in persischem Gebiete könnte Kyros sein ganzes Reich verlieren, ein Sieg aber brächte nur geringen Vorteil. Er empfiehlt deshalb, den Araxes zu überschreiten und auf massagetischem Boden zu kämpfen. Er stellt aber diesen konkreten Vorschlägen einen allgemeinen Gedanken voran (1,207,1—2), der den Kern seiner Überlegungen bildet und wohl auch der eigentliche Grund für seinen Auftritt unter den persischen Heerführern ist. Er sagt zu Kyros etwa folgendes: ,Ich bin dir von Zeus als Helfer beigegeben, um ein mögliches Unglück von deinem Hause abzuwenden. Habe ich doch aus meinem bitteren Leiden gelernt. Wenn du dich allerdings für einen Unsterblichen hältst, wäre eine Beratung meinerseits zwecklos' 23 . Dann heißt es wörtlich: „Hast du aber eingesehen, daß du nur ein Mensch bist, so merke zuerst auf das eine: Menschendinge sind wie ein Rad: Das dreht sich und läßt nicht immer dieselben im Glück 23

Der herodoteische Kroisos hat Grund, diese Möglichkeit hervorzuheben; denn der Autor hat vorher (seil. 1,204,2) folgende Gründe für den Feldzug des Kyros mitgeteilt: „... es gab viele gewichtige Gründe, die ihn reizten und antrieben. Zum ersten die A r t seiner Herkunft, die Vorstellung, etwas Größeres zu sein als ein Mensch, dann auch das gute Gelingen, das ihn in allen Kriegen begleitete" usw.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

(εκείνο πρώτον μάθε ώς κύκλος των άνθρωπηΐων εστί πρηγμάτων, περιφερόμενος δέ ούκ έα αίεΐ τους αυτούς εύτυχέειν)." Diese Erkenntnis ist ein Grundgesetz herodoteischer Geschichtsbetrachtung 24 . Der Wechsel, überwacht von der Mißgunst der Götter, hält das menschliche Geschehen im Gleichgewicht und dadurch die Welt in harmonischer Ordnung. Die von den Göttern herbeigeführte Vergeltung für geschehenes Unrecht ist lediglich ein Sonderfall dieser sinnvollen Verknüpfung der Ereignisse, die (wie wir bereits gesehen haben 25 ) dem Autor die Möglichkeit gibt, Geschichte als Kontinuum zu konzipieren. Sinnbild des unablässigen Wechsels ist das Rad (κύκλος των άνθρωπηΐων πρηγμάτων), das sich immerfort dreht und dem Einzelnen nicht gestattet, längere Zeit oben (d. h. im Glück) zu bleiben 26 . Kroisos darf diese Erklärung in allgemein gültiger Form aussprechen; denn er hat sie in schmerzlicher Erfahrung gewonnen. Er äußert sie in einem Augenblick, in dem der Großkönig vor einem gefahrlichen, nach Herodots Meinung an Hybris grenzenden Unternehmen steht. Man darf mit gutem Grunde vermuten, daß die allgemeinen Gedanken des Kroisos nicht ohne Bedeutung für seinen nachfolgenden praktischen Rat ( 1 , 2 0 7 , 3 - 7 ) sind. Nun hat Stahl (27 f.) mit Recht betont, daß dieser praktische Rat unvollkommen, ja schlecht ist: Der Lyder erörtert nur die Möglichkeit eines persischen Sieges im Massagetenlande, nicht jedoch die einer Niederlage, wie sie später tatsächlich eintritt 27 . Außerdem empfiehlt er dem Großkönig, die Massageten unter Aufopferung eines Teiles des eigenen Heeres in eine Falle zu locken und dann, wenn sie sich an persischen Wohlgenüssen gesättigt und sich betrunken haben, zu vernichten. Der Rat

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Vgl. Regenbogen, W. d. F. 91 und 101 f.; Nicolai 26 (Lit.). Vgl. oben S. 6, dazu unten S. 93 ff. Vgl. R. Kassel, Untersuchungen zur griech.-röm. Konsolationsliteratur ( = Zetemata 18), München 1956, 66; ders. Ζ. P. E . 35, 1979, 17 f. = Kleine Schriften, Berlin 1991, 305 f.; Erwähnungen der Tyche-(Fortuna-)Symbole in der lateinischen Literatur bis hin zu Boethius bei P. Courcelle, La consolation de philosophie dans la tradition litteraire, Paris 1967, 1 2 7 - 1 3 4 . Siehe ferner Boeth. Philos. cons. 2,1,19; 2,2,9; J. Gruber, Kommentar zu Boethius' De consolatione Philosophiae, Berlin 1976, 170, — Dasselbe Rad wurde später mit dem Sturz Hekabas verbunden und in dieser Kombination bis ins Mittelalter als Symbol der Unbeständigkeit des Glückes angesehen. E s ist nicht leicht verständlich, weshalb Aly (58) unbedenklich sagen konnte: „Wieder gibt Kroisos einen guten Rat." Allerdings urteilt Flory (95 f.) auch so, um zu zeigen, daß Kroisos die günstigere Alternative empfiehlt. Dann bleibt freilich Stahls wirkungsvollster Einwand unbeachtet: Weshalb erwägt Kroisos die Möglichkeit nicht, daß die Perser auch bei Überschreitung des Araxes einen Rückschlag erleiden könnten (wie es ja dann tatsächlich geschieht)? Und schließlich: Weshalb spricht Kroisos in der Einleitung gerade dieser Rede vom Kreislauf (Rad) der menschlichen Verhältnisse, deutet also so eindringlich auf die Vergänglichkeit der Erfolge des Kyros?

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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des Kroisos ist also nicht nur unvollständig, sondern auch wenig ehrenhaft 28 . Hinzu kommt: Der praktische Ratschlag scheint sich mit den vorangehenden allgemeinen Erörterungen nicht zu vertragen: hier (im ersten Teil der Rede) bedächtige Vorsicht, dort (im zweiten) Aufruf zu Eroberung und listiger Vernichtung des Gegners! Wie soll man das verstehen? Stahl hat den kühnen Schluß gezogen, der weise Kroisos sei am Ende wieder blind geworden und habe Kyros regelrecht ins Verderben geschickt. Aber es ist nicht einzusehen, wie aus den zurückhaltenden Bemerkungen der ersten Sätze (1,207,1—2) die folgende Aufforderung hätte hervorgehen können, wenn sie wirklich Äußerung von Blindheit oder Torheit wäre. Ohne entsprechende Hinweise des Autors könnte kein Leser den von Stahl gewünschten Gedankenschritt nachvollziehen. Nimmt man aber probeweise an, Kroisos habe die militärische Lage richtig eingeschätzt (was er ja bei Entfaltung seines Planes voraussetzt) und trotzdem zum Kampf auf massagetischem Boden aufgerufen, dann muß man ihm Charaktermängel (Feigheit oder Unaufrichtigkeit) vorwerfen. Die Lösung des Problems muß augenscheinlich auf einem anderen Wege gesucht werden. Dabei ist zu beachten, daß der Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Teile der Kroisosrede nicht verlorengehen darf. Kroisos gibt (im Sinne Herodots) zu erkennen, daß der geplante Feldzug ein höchst gefahrliches Wagnis ist, bei dem der Großkönig von der Höhe des bisherigen Erfolges stürzen könnte. Der Beschluß des Kriegsrats ist ungeeignet, aber die praktische Empfehlung des Kroisos ist nicht besser. Trotzdem erteilt er sie nachdrücklich und macht sie sogar durch eine infame, aber verlockende List schmackhaft. Das ist das Verfahren einer Trugrede, wie sie bei einer Peira angewendet zu werden pflegte. Herodot mochte diese Behandlung eines widerspenstigen Partners (einer Menge oder eines Einzelnen) aus der Ilias kennen (vgl. Agamemnons Rede Β 110—141)29. Der Sprecher ruft in solchen Fällen zu dem auf, was nicht 28

Herodot läßt auch den König Dareios im Feldzug gegen die Skythen eine ähnliche List erfolgreich anwenden (vgl. 4,134; siehe unten S. 67). Wie oft, verrät die Motivgleichheit eine Erfindung des Autors. Es ist ja auch ganz unwahrscheinlich, daß er militärische Einzelheiten über jene beiden Feldzüge gekannt haben sollte, abgesehen davon, daß die genannten listigen Strategeme unrealistisch sind: Sie kosten, wenn die Täuschung gelingen soll, zu hohe eigene Opfer. Im übrigen ist die Verwendung solcher teuer erkauften Erfolge, wie wir später noch sehen werden, bezeichnend für den herodoteischen Dareios. Man vergleiche auch den tückischen Plan des Zopyros, für dessen Gelingen immerhin 7000 „unnütze" Soldaten des persischen Heeres ins Gras beißen müssen, ohne sich in diesem Kampf wehren zu dürfen.

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Dazu Β 73. Das bekannteste Beispiel bei Xen. anab. 1,3,3—21 (Klearchs Reden), Siehe aber auch Verf., Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos ( = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 24), Berlin 1986, 141. — Man sieht

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

geschehen soll, reizt seine Hörer zum Widerspruch und erreicht schließlich, ihnen scheinbar nachgebend, seine eigentliche, bisher nicht ausgesprochene Absicht. So geht auch Kroisos vor: Er widerrät die Entscheidung der militärischen Experten und legt stattdessen dem Großkönig seinen lükkenhaften, entehrenden Plan vor. Als erfahrener Eroberer müßte Kyros dessen Schwächen und Tücken erkennen. Jedoch das geschieht nun leider nicht: Kyros ist jetzt aus bloßem Expansionsdrang ebenso blind wie später sein Sohn Kambyses, der durchblicken läßt, daß er den Schachzug des Kroisos nicht verstanden hat 30 . Die in 1,207 beschriebene Peira unterscheidet sich von den homerischen Vorbildern in mancherlei Einzelheiten. Jedoch wie die Peira des zweiten Iliasbuches mißlingt auch sie. Wichtig ist indessen, daß sie überhaupt unternommen wird. Nun ergibt sich: Herodot hat auch das Schicksal des Kyros seiner Teleologie zugeordnet. Mit dem Feldzug gegen die Massageten überschreitet der Großkönig die seinen Eroberungen gezogenen Grenzen. Er handelt aus Hybris und büßt diesen Frevel mit Niederlage und Tod. Er hat die letzte besonnene Warnung seines Wesirs nicht einmal verstanden. Es hat seinen guten Sinn, daß Kroisos die Aufklärung über das Wesen menschlichen Geschehens (die Erkenntnis vom notwendigen Wandel jedes Erfolges) erst jetzt, kurz vor dem Ende des Kyros, gibt, und es ist auch verständlich, daß er dabei nochmals auf sein früheres Leid deutet. Wenn man von der eben besprochenen Situation aus zurückblickt, dann zeigt sich: Die oben (unter Nr. 1 und 2) genannten Ratschläge des Kroisos haben innerhalb des jetzt betrachteten Zusammenhangs lediglich vorbereitenden Charakter. Sie können sich inhaltlich mit der im Kriegsrat vorgewiesenen Weisheit des Lyders nicht messen. Kyros hätte die beiden Überlegungen über die Plünderung von Sardes und über die beabsichtigte Versklavung der Lyder auch ohne Hilfe des entthronten Königs anstellen können, ja müssen, wenn anders er ein klug rechnender Politiker war. Man darf die Folgerung aussprechen, daß erst Herodot die Beteiligung des Kroisos an beiden Episoden erfunden hat, um seinen Leser auf die neue Rolle des gestürzten Monarchen einzustimmen und auf den Höhepunkt dieser Laufbahn, auf den Bericht des Kapitels 1,207 vorzubereiten.

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leicht: Die Peira des Kroisos mißlingt wie die des Agamemnon, nur im umgekehrten Sinne. Agamemnon fordert zur Flucht auf und erwartet entrüsteten Widerspruch — aber die Griechen sind zur schmachvollen Heimkehr bereit; Kroisos befürwortet den Angriffskrieg und erwartet den Verzicht des Großkönigs, aber K y r o s übernimmt den Plan, der das Gegenteil erreichen sollte. Vgl. 3,36,3: Kambyses wirft dem Kroisos vor, er habe mit seinem Rat, den Araxes zu überschreiten, seinen Vater und das Perserheer vernichtet. Kroisos erhält keine Gelegenheit mehr zur Rechtfertigung, die hier ja auch nur wie eine Ausrede wirken könnte.

2. Novellen und Anekdoten über Kroisos

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Wenn Kroisos nun gegenüber Kyros die überlegene Weisheit des besonnenen Warners repräsentiert, wie sie Solon ehedem vor ihm selbst dargestellt hat, dann gewinnen wir, so scheint mir, auch ein neues Argument für die Rechtfertigung der jetzigen Stellung des Lydischen Logos im Rahmen der Gesamtkomposition des he'rodoteischen Werkes. An Kroisos wird nicht nur eine, sondern es werden zwei Besonderheiten sichtbar, die den Autor zu seiner Behauptung veranlaßt haben, die besagt: Die Auseinandersetzung zwischen Asien und Europa ist vom letzten König der Lyder, von seinem Handeln und von seinem Schicksal, ausgegangen. Erstens·. Kroisos hat die kleinasiatischen Griechen (die sich natürlich nicht als Asiaten fühlten) unterworfen und als erster zu Tributzahlungen gezwungen (1,6,1 u. ö.). Gegen diese Feststellung Herodots läßt sich, wie bereits oben (S. 10) betont, nicht einwenden, auch die Vorgänger des Kroisos hätten die Griechenstädte bekämpft und unterworfen 3 1 . Herodot sagt ausdrücklich (1,6,3): π ρ ο δέ της Κροίσου αρχής πάντες "Ελληνες ήσαν ελεύθεροι. Diese Annahme wird im Rahmen von Herodots wissenschaftlichen Möglichkeiten bestätigt durch die einleuchtende Argumentation Shimrons 32 : Herodot besaß, wie Shimron nachweist, zuverlässige Nachrichten, d. h. solche, die er durch Nachfragen bei Zeugen kontrollieren konnte, nur bis zur Generation seiner Großväter. N u r von Kroisos, nicht aber von dessen Vorfahren konnte er mit Sicherheit behaupten, der Lyderkönig habe die kleinasiatischen Griechen ihrer Freiheit beraubt. Mithin besteht kein Widerspruch zwischen 1,6,3 und 1,14,4 (... έσέβαλε μεν νυν σ τ ρ α τ ι ή ν καΐ ούτος [d. h. Gyges], έπείτε ήρξε, ες τε Μίλητον και ές Σμύρνη ν και Κολοφώνος τ ό ά σ τ υ εΤλε). Die erste Unterwerfung Ioniens durch Kroisos gilt als Knechtschaft, wie aus den späteren Bezugnahmen erhellt, vgl. 1,169,2 (über Kyros: ο ύ τ ω δή τ ό δεύτερον Ίωνίη εδεδ ο ύ λ ω τ ο , und 6,32,2 über Dareios nach dem Ionischen Aufstande: ο ύ τ ω δή τ ό τ ρ ί τ ο ν Ίωνες κ α τ ε δ ο υ λ ώ θ η σ α ν , π ρ ώ τ ο ν μεν ΰττό Αυδών, δις δέ έπεξής τότε υ π ό Περσέων. Der Herodotleser ist gehalten, diese Bewertung des Geschehens gelten zu lassen. O b sie historisch stichhaltig ist, bleibe hier dahingestellt. Zweitens·. Kroisos ist der erste asiatische Tyrann, der mit der Weisheit des griechischen Geistes konfrontiert wird (wie später vor allem Xerxes). E r sträubt sich gegen deren Einsichten, die Solon ihm vorträgt 3 3 , er muß 31 32 33

So mit Nachdruck auch Heuß 388 f. B. S., Πρώτος τ ω ν ήμεΐξ ίδμεν, in: Eranos 71, 1973, 45 — 51. Das Widerstreben des Königs beschränkt sich auf Herodots (dem Solon in den Mund gelegte) Grunderkenntnis von der Unbeständigkeit menschlichen Wohlergehens; die Tragweite dieser Einsicht bleibt dem König vorerst verschlossen. Anders wohl der Kroisos der vorherodoteischen Tradition: Er war offenbar an griechischer Bildung und Weisheit interessiert (vgl. Schneeweiß a. O. [oben A. 6] 165). Herodot läßt das zwar nur kurz anklingen, aber er zeichnet den Lyderkönig auch nicht als unzugänglichen Tyrannen, sondern als freundlichen Mann mit normalen Umgangsformen.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

jedoch am Ende zugeben, daß er ganz im Unrecht gewesen ist. Er lernt gründlich um und wird nun selbst ein Prophet der Sophrosyne, ein Warner vor leichtfertigen Entschlüssen, der nachdrücklich an die Unbeständigkeit menschlicher Erfolge erinnert. In gewisser Hinsicht nimmt sein Beispiel die großen Leistungen der Griechen in den Perserkriegen voraus, denen es ja nicht nur um militärische Siege gegangen ist, sondern mehr noch um den Vorrang griechischer Sophrosyne vor orientalischer Hybris. Wenn ich recht sehe, hat Herodot gerade diesen grundsätzlichen Hinweis für bedeutsamer gehalten als eine chronologisch exakte und dadurch leichter verständliche Einordnung des Lydischen Logos in die persische Geschichte. Man wird nicht bezweifeln dürfen, daß der Geschichtsschreiber das Schicksal des Lyderkönigs als Exkurs in der Erzählung vom Aufstieg des Kyros hätte behandeln können 34 . Aber es sollte einleuchten, daß dann der paradigmatische Charakter des Leidensweges, den Kroisos zurücklegen muß, erheblich gemindert werden, wenn nicht ganz verlorengehen würde. Als Herr Lydiens wird Kroisos noch einmal 35 im Werke Herodots erwähnt, im sog. Alkmaionidenexkurs, in der amüsanten Anekdote vom Besuch Alkmaions in Sardes (6,125). Alkmaion hat die Abgesandten des Königs, die mit der Orakelbefragung beauftragt worden sind, mit Rat und Tat unterstützt (§ 2) und wird nun von Kroisos eingeladen, der ihm danken möchte. Der König gestattet dem Gast, so viel Gold aus dem Schatzhaus mit sich fortzunehmen, wie viel er tragen kann. Alkmaion belädt sich daraufhin mit Gold und Goldstaub so, daß er die Heiterkeit des freigebigen Spenders erregt und noch viel mehr erhält. Der Anekdote liegt eine vage Erinnerung an die Begründung des Reichtums der Alkmaioniden zugrunde. Wie weit es sich bei dieser Erklärung um Tatsachen handelt, ist ungewiß. Wahrscheinlich unterhielten die Alkmaioniden, entsprechend ihrer liberalen Einstellung, freundschaftliche Beziehungen zu Lydien, vielleicht sogar zum Königshaus (vgl. Glover 125). Herodot mag also eine derartige Tradition vorgefunden haben, in der auch ein Besuch Alkmaions in Sardes erwähnt worden sein kann. Der Geschichtsschreiber braucht also das Ereignis nicht erfunden zu haben. Aber ihm gehören der Ton und die Farbigkeit der Erzählung; dem goldgierigen, pfiffigen Griechen steht der großzügige Gastgeber gegenüber, der über den kindlichen Eifer Alkmaions lacht und ihn mit der Geste des Grandseigneurs noch reichlicher beschenkt. Die Anekdote erklärt Reichtum und Berühmtheit der Familie (vgl. § 5), sie gibt aber gleichzeitig dem Autor Gelegenheit, ohne Bitterkeit von Kroisos zu scheiden, der nun wie ein Märchenkönig gezeichnet ist.

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Vgl. Heuß 387: „Bekanntlich gibt es kaum etwas Elastischeres als Herodots Kompositionsmethode: Die Kroisosgeschichte mit all ihren Appendices im Verband der Geschichte des Kyros sich vorzustellen, bedarf keiner großen Phantasie." Die hier vorausgesetzte Vorstellung von der Kompositionsmethode und von der sog. Exkurstechnik soll uns später beschäftigen (vgl. unten S. 119 ff.). — Über die Stellung des Lydischen Logos vgl. auch Strasburger (1983) 422. Von der kurzen historischen Notiz 6,37,3 — 38,1 (Errettung des älteren Miltiades aus der Gefangenschaft in Lampsakos) dürfen wir hier absehen, da sie nicht zu unserem Thema gehört.

3. Novellen und Anekdoten über Kyros Unter den Novellen und Anekdoten, die den großen Kyros zum Inhalt haben, ist die bei Herodot an erster Stelle berichtete Geschichte von der Jugend des Königs (1,107 — 122) besonders umfangreich und schön. Es ist freilich nicht leicht, die Frage nach der Herkunft der verschiedenen in ihr enthaltenen Bestandteile zu beantworten und Herodots eigenen Anteil zu ermitteln. Trotzdem müssen wir uns bemühen, eine Lösung zu finden; denn die Suche nach dem eigenen Gedankengut des Autors ist zugleich die nach dem Sinn des ganzen Abschnitts. Herodot erzählt folgendes 1 : Astyages, der letzte König Mediens, träumt, seine noch unverheiratete Tochter Mandane überschwemme mit ihrem Urin ganz Asien. Der König wird von seinen Magiern vor einem Enkel gewarnt, der einer standesgemäßen Ehe der Tochter entsprießen könnte 2 , und er vermählt Mandane daraufhin mit dem Perser Kambyses. Der stammt zwar aus gutem Hause und ist friedfertig, steht jedoch im Rang weit unterhalb eines Meders aus dem Mittelstand (ττολλω ενερθε ά γ ω ν α ύ τ ό ν μέσου ανδρός Μήδου). Nach einiger Zeit, als Mandane schwanger ist, träumt Astyages, aus ihrem Leibe wachse ein Weinstock, der ganz Asien überschatte. Nach Rücksprache mit den Magiern 3 läßt der König die Tochter aus Persien kommen, so daß sie ihr Kind an seinem Hofe zur Welt bringen muß. Nun übergibt Astyages das Kind, einen Sohn, seinem Wesir Harpagos mit dem Auftrag, es zu töten. Harpagos delegiert diese peinliche Aufgabe an einen Hirten des Astyages, der im Bergland wohnt und das Königskind an einsamer Stelle aussetzen soll. Durch einen glücklichen Zufall wird sein Leben gerettet: Zur selben Zeit 1

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Vgl. zur Analyse der Geschichte How and Wells I p. 389; von Fritz I 282 — 287; Accame 1 ff. (siehe unten Anm. 10); Long 126 — 175 (ausführliche Analyse des Wortgebrauchs mit guten Beobachtungen über die Funktion der sprachlichen Wiederholungen). Siehe ferner Binder passim (über die Herkunft der einzelnen Motive, die kulturellen Hintergründe und die sagengeschichtlichen Parallelen. Wichtig ist die Zusammenstellung der Texte, in denen die Jugendgeschichte des Kyros berührt wird, und der älteren Lit., ebend. 175) und Evans 51—54. Herodot sagt nur (1,107,1): ϋττερθέμενοξ δε τ ω ν μ ά γ ω ν τοΐσι όνειροπόλοισι τό ένύπνιον, εφοβήθη παρ' α ύ τ ώ ν α υ τ ά έκαστα μαθών. Wieder geht Herodot einer genauen Wiedergabe der Deutung des Traumes, wie sie die Magier gegeben haben müssen, aus dem Wege. Er sagt lediglich (1,108,2): ϋττερθέμενος τοΐσι όνειροττόλοισι ...

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

hat die Frau des Hirten (mit Namen Kyno) ein totes Kind geboren. Sie übernimmt gern den todgeweihten Enkel des Astyages und bestimmt ihren Mann, ihre eigene totgeborene Leibesfrucht auszusetzen und den Spähern des Harpagos als Kind der Mandane vorzuweisen (1,108 — 113). Kyros wächst nun bei den Hirten auf. Als Zehnjähriger tut er sich beim Spiel mit den Dorfkindern, die ihn zum König gewählt haben, durch kluge organisatorische Maßnahmen hervor. Allerdings will sich der Sohn eines vornehmen Meders seinen Anordnungen nicht fügen, so daß Kyros ihn geißeln lassen muß. Daraufhin beschwert sich der Vater dieses Jungen beim König. Der läßt Kyros und den Ziehvater kommen, erkennt den Knaben, verhört den Hirten und ist bald über alle Einzelheiten der Aussetzung unterrichtet. Er befiehlt nun dem Harpagos, der den königlichen Auftrag nicht wortgetreu durchgeführt hat, ihm seinen eigenen 13jährigen Sohn zu senden, läßt diesen Jungen abschlachten und das Fleisch dem Vater bei einem Festmahl vorsetzen. Erst nachträglich wird Harpagos aufgeklärt, indem man ihm Kopf, Hände und Füße des Opfers vorweist. Astyages aber befragt die Magier erneut über die Bedeutung seiner Träume und die unerwartete Rettung des Kyros. Die Traumdeuter meinen einstimmig, die beiden Königsträume hätten lediglich auf die Königs wähl im Kinderspiel gewiesen 4 . Astyages ist nun beruhigt und entläßt den Knaben zu seinen Eltern nach Persien. Dort wächst er zum vielbewunderten Jüngling heran (1,114—123). Dieser Bericht enthält allerlei Seltsamkeiten, gewissermaßen Nahtstellen, die sich bei näherem Zusehen feststellen lassen, obwohl Herodot sich bemüht hat, sie sorgfältig zu verdecken. Zunächst fallt auf, daß Astyages das neugeborene Kind Mandanes dem Wesir Harpagos zur Tötung übergibt, als sei dieser Mann Henker und Totengräber. Weshalb muß ein hoher Staatsbeamter mit dieser abstoßenden Aufgabe betraut werden? Der König könnte das Kind ja selbst aussetzen lassen wie Laios den Oidipus oder auch seine Ermordung anordnen wie später beim Sohn des Harpogos. Man dürfte kaum einwenden, daß Astya-

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1,120,1. Erst jetzt erfahrt der Leser, was die Magier anfangs bei Deutung der Träume gesagt haben: oi δε κατά ταύτά είπαν, λέγοντες ώς βσσιλεϋσαι χρήν τόν παΐδα, εΐ έττέζωσε και μή άπέθανε πρότερου. Nun der König: ,Er lebt und war König im Kinderspiel!' Die Magier können darauf bestehen, daß der Traum erfüllt sei (§ 3): παρά σμικρόν γάρ και των λογίων ήμΤν ενια κεχώρηκε, και τά γε των όνειράτων έχόμενα τελέως ές Ασθενές ερχεται. Diese im Sinne Herodots beinahe frevelhafte Äußerung der Magier klingt nur deshalb folgerichtig, weil die ursprüngliche Traumdeutung erst jetzt fast wörtlich bekannt gemacht worden ist. Die Selbsttäuschung der beteiligten Personen wirkt einleuchtend und abgerundet wie in einem Bühnenspiel. — Man erkennt an derartigen Kleinigkeiten, wie sorgfaltig Herodot seine Worte wählt und postiert. In einem mündlichen Vortrag der Novelle hätte er ständig erklärende Zwischenbemerkungen einfließen lassen müssen.

3. Novellen und Anekdoten über Kyros

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ges keine zuverlässigen, verschwiegenen Gehilfen für derartige Aufgaben hatte. Das Motiv, der an den Wesir gerichtete Mordbefehl des Königs, ist also herodoteisch. Der Autor wendet es später (seil. 3,30,3) nochmals an, wenn er den Großkönig Kambyses seinen Wesir Prexaspes beauftragen läßt, den Kyrossohn Smerdis zu ermorden. In unserem vorliegenden Falle ist offenbar die Harpagosgeschichte nur deshalb in den Zusammenhang eingefügt, weil eine Bestrafung des Wesirs folgen soll. In Herodots Ausführung ist diese Strafe besonders hart: Harpagos, der seinen einzigen Sohn verliert und, ohne es zu wissen, von seinem Fleische ißt, hat nun einen echten Grund, später mit dem Perser Kyros zusammenzuarbeiten. Seine Mithilfe beim Sturz des bisherigen Herrn ist zwar Landesverrat, durch den die Meder ihre führende Stellung und ihre Freiheit verlieren (man vergleiche die Vorwürfe des Astyages nach seinem Sturz gegenüber Harpagos: 1,129!). Aber dieser Verrat ist doch wohl die einzige Möglichkeit für den Privatmann Harpagos (vgl. 1,123,1: E O V T O S ίδιώτεω), sich für die grausame Behandlung an dem Tyrannen zu rächen. Nach Herodots Wunsch sollte diese Rache wenn nicht die Billigung, so doch das Verständnis des Lesers finden. Kyros jedenfalls hat die Hilfe des Harpagos, wenn man der Darstellung des Geschichtsschreibers folgt, später durch ehrenvolle Aufträge belohnt: Nach dem Sturz des Lyderreichs unterwirft Harpagos im Namen des Großkönigs die restlichen Völker Kleinasiens (vgl. 1,162 — 165. 1 6 8 - 1 6 9 . 171 und 174-177). Herodot hat durch seine auf Harpagos übertragene Geschichte vom Thyestesmahl eine einleuchtende Erklärung für die auffällige Tatsache geschaffen, daß ausgerechnet ein Meder als Feldherr im Dienste des persischen Königs tätig ist 5 . Die Erzählung selbst ist griechischen Ursprungs. Der Autor hat sie der Tragödie entnommen, um mit ihren Konzeptionen das spätere Verhalten des tief gekränkten Wesirs einsichtig zu machen. Ein Vergleich mit der kurzen Beschreibung bei Aischylos (Ag. 1593 ff.) liegt für uns am nächsten 6 . Wenn Herodot von dieser Stelle ausgegangen sein sollte, müßte er den unversehrten Körperteilen des Knaben den Kopf hinzugefügt haben. Aber es gab auch andere Schilderungen oder Erwähnungen des abscheulichen Vorgangs im attischen Bühnenspiel 7 . Harpagos sagt seiner Frau, als er vor der Aufgabe steht, Mandanes Kind zu töten (1,109,3): Astyages sei schon alt und ohne männliche 5

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Durch diese Erklärung wird nicht ausgeschlossen, daß schon eine ältere Form der Kyrosnovelle ein ähnliches Ziel verfolgt hat, aber eben ohne Erwähnung des Thyestesmahls. W i r kommen auf diese Möglichkeit zurück. Zum Text vgl. H. Neitzel, Hermes 113, 1985, 408 f. Sophokles und Euripides haben je ein Thyestesdrama geschrieben. Jedenfalls das des Euripides ist v o r 425 entstanden, vgl. A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, 'Güttingen 1972, 504.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Nachkommen (ότι 'Αστυάγης μεν εστι γέρων και άπαις ερσενος γόνου), die Königswürde werde auf Mandane, die einzige Erbin, übergehen und dann er selbst, als Mörder ihres Kindes, in die höchste Gefahr kommen. Von diesen Familien Verhältnis sen ist am Anfang der Erzählung nicht die Rede gewesen. Wenn man sie jedoch, von der Andeutung des Harpagos aus zurückblickend, berücksichtigt, wird das Verhalten des Astyages recht rätselhaft: Über die Aussicht, daß sein Enkel, der erwartete Sohn seiner einzigen Tochter, Herr ganz Asiens werden solle, müßte er sich, so sollte man meinen, herzlich freuen. Weshalb vermählt er unter solchen Bedingungen die Tochter mit einem in Medien wenig angesehenen Perser, nicht aber mit einem vornehmen Meder, zumal ihm von Mandanes Sohn in den nächsten zwei Jahrzehnten kaum eine Gefahr drohen könnte? Durch die Vermählung Mandanes mit einem Perser beschwört Astyages sogar die Gefahr herauf, auf welche die Magier später (seil. 1,120,5 — 6) hinweisen. Nun ist der Enkel Perser, und seine Erhebung zum König Mediens könnte die Vorherrschaft der Perser zur Folge haben. Die Schwierigkeit, vor der wir hier stehen, entstammt zum guten Teil einer dem Autor vermutlich aus griechischen Chroniken des Perserreichs (Περσικά) vertrauten, aber mederfreundlichen Tradition, die den großen Perser Kyros zum Sohn einer medischen Prinzessin machte. Nehmen wir an, der Urheber dieser Überlieferung habe einen sinnvollen Zusammenhang geschaffen! Er müßte dann vorausgesetzt oder ausgesprochen haben, daß der Bericht über die Mesalliance Mandanes und über die Aussetzung ihres Kindes mit der Möglichkeit verbunden war, die legitime Thronfolge eines Sohnes des Astyages werde durch einen zukünftigen Enkel gefährdet. Oder der unbekannte Erzähler müßte vorausgesetzt haben, daß Astyages viel jünger war als in Herodots Bericht und infolgedessen glauben konnte, ein Sohn seiner Tochter könne ihn selbst nach etwa 20 Jahren stürzen. Diese zweite Möglichkeit ist wahrscheinlicher; denn sie hätte eine Entsprechung in dem Traum, der den Eroberer Kyros vor seinem Tode im Massagetenlande vor dem etwa 20jährigen Dareios zu warnen scheint (1,209 f.). Auf jeden Fall muß man annehmen, daß Herodot eine derartige Überlieferung abgewandelt und vereinfacht hat, um nun Verantwortung und Schuld in vollem Umfang dem Astyages zuzuweisen. Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei Darstellungsmöglichkeiten als Vorlagen Herodots: 1. Mandane wird mit dem in Medien wenig angesehenen Perser Kambyses vermählt und übersiedelt nach Persien. Sie verläßt Ekbatana und die königliche Familie, ähnlich wie die euripideische Elektra, von Aigisthos gezwungen, die Königsburg von Mykene, um an der Grenze von Argos als Ehefrau eines Kleinbauern zu leben. Die Kinder beider Frauen können dem jeweiligen Tyrannen nicht mehr gefährlich werden, da sie als unebenbürtige Sprößlinge einen Anspruch auf den Thron nicht erheben dürfen.

3. Novellen und Anekdoten über K y r o s

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In dieser Fassung könnte das Spiel der Dorfkinder untergebracht worden sein (vgl. 1,114,1—4). Wahrscheinlich muß man jedoch jene Episode, wie wir sofort sehen werden, für eine Erfindung Herodots halten. 2. Mandane heiratet den angesehenen Perser Kambyses und bringt ihr Kind bei einem Besuch am Hofe des Astyages zur Welt. Der König fürchtet sich vor den Andeutungen eines schlimmen Traumes und läßt den Enkel aussetzen. Das Kind wird in der Bergeinsamkeit in wunderbarer Weise von einer Hündin gesäugt. Durch den Namen, den Herodot der Frau des Hirten des Astyages gibt, verrät er, daß er diese Version der Geschichte kennt (vgl. lustin. 1,4,11; Ael. v. h. 12,42; Binder 21). Der Gang beider Erzählungen ist abhängig vom Zeitpunkt des Königstraums. Im ersten Fall träumt Astyages noch vor der Vermählung seiner Tochter, im zweiten kurz vor ihrer Niederkunft. Herodot beschreibt den Traum bei beiden Gelegenheiten und muß infolgedessen den Inhalt leicht variieren (Urin — Weinstock). Er gibt durch diese Verdoppelung des Motivs zu erkennen, daß er zwei Varianten desselben Themas miteinander verbunden hat. Schwieriger ist es, den ursprünglichen Gang der Erzählung zu erschließen, in der die Harpagosepisode enthalten war. Man darf ja wohl annehmen, daß auch die dem Geschichtsschreiber vorliegende Überlieferung den Meder rechtzeitig mit Kyros in Verbindung gebracht hat, um seine spätere Tätigkeit in leitender Stellung als Feldherr des Kyros einigermaßen zu motivieren. Das müßte Herodots dritte Vorlage gewesen sein. Er sagt ja (1,95,2), daß er neben dem echten Bericht, den er seinem Leser bietet, drei weitere Fassungen kenne, denen er nicht folgen will: ... έτπστάμενος περί Κύρου και τριφασίας άλλας λ ό γ ω ν όδοϋς φήναι. Allerdings ist er im ganzen Harpagosabschnitt, weil er das Thyestesmahl auf den Wesir übertragen wollte, so selbständig vorgegangen, daß eine ältere Darstellung nicht mehr rekonstruierbar ist. Auch da, wo er im Zuge seiner Schilderung auf den Anfang der ganzen Erzählung zurückgreift, muß er sich großzügig mit Ungenauigkeiten behelfen: Der Knabe Kyros ist durch die Maßnahmen des Wesirs, wenn auch ohne dessen Wissen und Mitwirken, gerettet worden und zu Astyages zurückgekommen. Der König, über alle Vorgänge aufgeklärt, befragt nun die Magier, ob die Aussage des Traumes für ihn noch gefahrlich sei. Durch die Antwort der Seher, die wir bereits kennen, fühlt er sich beruhigt. Er stellt dem Knaben nicht mehr nach. Aber die Antwort der Magier enthält keine erschöpfende Auskunft über die Frage des Königs; denn sein Traumbild zeigte die Überschwemmung oder Beschattung ganz Asiens. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Herodot muß aber die Magier so sprechen lassen, wie wir oben berichtet haben (vgl. Anm. 4), weil Kyros nun aus der Gewalt des Astyages entlassen werden und nach Persien zu seinen Eltern kommen soll.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Der Geschichtsschreiber hat schon 1,95,1, nach Abschluß des Lydischen Logos, angekündigt, daß er über Kyros so sprechen werde wie einige Perser, die feierlichen Übertreibungen abgeneigt sind. Er werde denjenigen Logos wählen, der die Sache trifft 8 . Wie wir soeben gehört haben, setzt er hinzu, daß er noch drei weitere Varianten des Themas kenne. Sind das aber nun drei Fassungen, die neben einer vierten bestehen, neben dem unserem Autor auch überlieferten έών λόγος, dem er folgen will? Wenn das so wäre, müßte man sich fragen, weshalb die „anderen drei Wege" überhaupt genannt werden. Wollte Herodot nur auf die Fülle des ihm zugänglichen Materials deuten? Unsere Analyse widerrät diese Annahme. Wir glaubten, drei Möglichkeiten eines Berichtes über Kyros' Jugend zu erkennen, deren zwei sich mit einiger Sicherheit wenigstens im Umriß rekonstruieren ließen. Ist das aber richtig, dann wäre es seltsam, wenn sich die Aussage über die drei anderen Wege nicht auf diesen Sachverhalt beziehen ließe. Die „treffende" Erzählung (der έών λόγος) müßte dann Herodots eigene Darstellung sein, die er durch kritische Kombination der drei ihm überlieferten Formen gefunden hat. Das besagt: Der έών λόγος ist sein Werk. Zu dieser Interpretation paßt sein Bestreben, Wunder aller Art beiseite zu lassen. Die ihm bekannte Tradition von der säugenden Hündin (sie entspringt einer griechischen Deutung des Namens Kyros) hat er rationalisiert, indem er die Hündin durch eine Hirtenfrau namens Kyno ersetzte und den Bericht über jenes vorgebliche Wunder Kyros' Eltern in den Mund legte, die mit ihm den Persern nahelegen wollten, daß ein Gott ihr Kind errettet habe (1,122,3). Herodot muß angenommen haben, daß durch seine Darbietung der Ereignisse die Entstehung jener verherrlichenden, ans Wunderbare grenzenden Schilderung überhaupt erst möglich geworden sei — womit nun die tatsächliche Entwicklung der Kyrossage auf den Kopf gestellt worden ist! Was aber, so fragen wir am Ende, sagt der die Wahrheit treffende Bericht über Kyros aus? Nicht ohne Grund stehen die wichtigsten Antworten auf diese Frage in den Abschnitten, die wir als herodoteische Konzeptionen erkannt zu haben glauben: das ungewöhnliche Organisationstalent schon des Knaben im politischen Spiel der Dorfjugend (1,114,1—4), der stolze, sichere Ton, den der Zehnjährige dem König gegenüber anschlägt (1,115,2) 9 und die aufrichtige Dankbarkeit, mit der 8

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1,95,1: ώξ ών Περσέων μετεξετεροι λέγουσι ο! μή βουλόμευοι σεμνούυ τά περί Κΰρον, άλλά τον Ιόντα λέγειν λόγον, κατά ταϋτα γράψω. Als unstatthafte Übertreibung mochte ihm die Behauptung gelten, Kyros sei von einer Hündin gesäugt worden (siehe Hampl 251). - Zum έών λόγοζ vgl. 1,116,5; 5,50,2. 106,4 und U. Hölscher, Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie, S. Ber. Ak. Heidelberg 1976, 3 (Heidelberg 1976), 46. Vgl. bes. § 2: ώ δέσποτα, έγώ δέ ταϋτα τοϋτον (seil, den Sohn des Meders Artembares) έποίησα συν δίκη ...

3. Novellen und Anekdoten über Kyros

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er vor den Eltern seiner Ziehmutter Kyno gedenkt (vgl. 1,122,2). Diese Tugenden, Klugheit, Tapferkeit und Güte, sind die Eigenschaften, die Herodot am historischen Kyros bemerkt zu haben glaubt. Im novellenhaften Rahmen der Jugendgeschichte läßt er sie zum ersten Male und sofort in vollendeter Klarheit aufleuchten. Wieder enthält der Kern der Erzählung ein wohldurchdachtes historisches Urteil. Fast erübrigt es sich, ausdrücklich zu betonen, daß die dritte Befragung der Magier durch Astyages, ihre ausführliche, aber leichtfertige Antwort (die Träume des Königs hätten sich durch die Königswahl im Kinderspiel erfüllt) sowie die Reaktion des Astyages (1,120,3 — 4) von Herodot zugesetzt worden sind; denn die Erzählung vom Spiel der Dorf)ugend, an dem zufällig sogar der Sohn eines vornehmen Meders teilnimmt, ist augenscheinlich seine Erfindung. Eine der drei Erzählungen (vgl. 1,95,2), denen Herodot nicht gefolgt zu sein behauptet, könnte die Darstellung des Charon von Lampsakos in seinen Περσικά gewesen sein. Diese Vermutung stützt sich freilich nur auf ein einziges, keineswegs eindeutiges Fragment, das also lautet (FGrHist 262 F 14 aus Tertull. De an. 46,4): Astyages Medorum regnator quod filiae Mandanae adhuc virginis vesicam in diluvionem Asiae fluxisse somnio viderit, Herodotus refert; item anno post nuptias eius ex isdem locis vitem exortam toti Asiae incubasse. hoc etiam Cbaron Lampsacenus Herodoto prior tradidit. Tertullian zitiert die beiden Träume des Königs aus Herodot (1,107,1 und 108,1). Es ist aber so gut wie ausgeschlossen, daß er dieselbe — wie wir gesehen haben, ungewöhnliche — Kombination in einer ähnlichen Vorlage gefunden habe; denn ihre unveränderte Herübernahme durch Herodot würde dessen ganzer Arbeitsweise widersprechen. Mit den Worten hoc etiam Charon Lampsacenus ... tradidit kann Tertullian nur gemeint haben, daß auch dieser von einem Königstraum erzählt habe. Man kann also aus dem Fragment nur schließen, daß Herodot den Charon wahrscheinlich gekannt, aber seine Mitteilungen, ähnlich wie die der Λυδιακά des Xanthos, nach seinen Grundsätzen verändert und ergänzt hat, wenn er sie nicht ganz beiseite ließ. Das gleiche Ergebnis erhält man bei Interpretation der Fragmente 9 und 10 (Plut. mor. 859 a/b und 861a—d): In beiden Fällen gibt Charon knappe chronologische Notizen; Herodot (1,156 — 160 und 5,99 — 102) ersetzt sie durch vollkommenere Berichte. Das kann bedeuten, daß er die Nachrichten des Vorgängers durch eigene Erkundungen berichtigt oder ergänzt hat 10 .

Die folgenden fünf Anekdoten nehmen das in der Jugendgeschichte kenntliche Urteil auf und bestätigen es durch neue Einzelheiten. Allerdings entstammt wohl keine dieser Erzählungen persischer Tradition, wohl keine 10

Vgl. das zurückhaltende Urteil Jacobys (Kommentar S. 17 und 22) zu den drei genannten Fragmenten. Zu Fr. 14 sagt er: „die möglichkeit, daß Herodot den Charon kannte, ist hier so wenig wie in F 9 — 10 zu bestreiten." Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Accame, sein methodisches Vorgehen ist freilich anfechtbar. Accame setzt die Lebenszeit des Charon mit dem Suidas-Artikel χ 136 in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts, darf also unbedenklich annehmen, daß Herodot die Schriften des Lampsakeners gekannt hat. Trotzdem meint er, die Kapitelfolge 1,107 — 122 sei nicht von Charon beeinflußt, sondern müsse auf eine mit ihm gemeinsame Vorlage zurückgeführt werden (a. O. 31 f.). Was aber, fragen wir, ist mit dieser Hypothese gewonnen? Accames Ergebnis überzeugt nicht, weil er Herodots eigenen Anteil an der genannten Kapitelfolge nicht bestimmt (wohl auch unterschätzt). Derselbe Einwand trifft auch Accames weitere Versuche (a. O. 33 ff.), an anderen Stellen Charons Einfluß auf Herodot zu leugnen. Immer wird Herodot nur als getreuer Berichterstatter, wenn nicht gar als Abschreiber, eingeschätzt, nicht aber als selbständig komponierender Forscher und Künstler.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

gibt einen echten Ausspruch des großen Kyros wieder. Die erste Anekdote ist obendrein eher eine Erzählung von Harpagos als von Kyros und immerhin so wirklichkeitsfremd, daß man sie am ehesten für eine Erfindung unseres Autors halten wird. Offenbar lag Herodot mehr daran, etwas Typisches herauszuarbeiten als Unwahrscheinlichkeiten zu vermeiden. 1. Harpagos, der auf Rache an Astyages sinnt, möchte dem in Persien weilenden Kyros seine Gesinnung und seine Absichten mitteilen (vgl. 1,123,1). Wegen der Grenzkontrollen (§ 3: τ ω ν όδών φυλασσομένων) denkt er folgende List aus: Er schlitzt den Bauch eines erlegten Hasen auf und verbirgt im Inneren einen Brief. Ohne das Fell des Tieres abzuziehen, näht er den Leib wieder zu und übergibt den Hasen einem besonders zuverlässigen Diener mit dem Auftrag, Kyros solle das Tier eigenhändig, ohne Beisein eines Zeugen, zerlegen. Der Plan wird ohne Zwischenfall durchgeführt, und Kyros erhält die Gewißheit, daß er bei einem Abfall der Perser mit Unterstützung in Medien rechnen kann. Die List selbst 11 erinnert an den Trick des Histiaios (vgl. 5,35,3), der von Susa aus seinen Schwiegersohn Aristagoras zum Abfall der ionischen Städte Kleinasiens überreden möchte und die hochverräterische Aufforderung auf den geschorenen Kopf eines Sklaven schreibt. Den schickt er, sobald die Haare wieder gewachsen sind, ab mit dem Auftrag, Aristagoras möge ihn scheren und seinen Kopf ansehen 12 . Jedoch in beiden Fällen ist die Wachsamkeit der Kontrollposten erheblich unterschätzt, und im Hinblick auf den ersten könnte man sogar fragen, ob sich der Brief nicht sicherer ohne den verdächtigen Hasen befördern ließ. Offensichtlich ist der Hase mit dem eingenähten Schreiben lediglich ein Symbol für den geheimen, erfolgreichen Verkehr der beiden Männer miteinander. Man wird in der reizvollen Geschichte und ihrer artigen List einen Einfall Herodots erblicken müssen. Der Autor hat eine nähere Nachprüfung der Bedingungen und Begleitumstände des Vorfalls hier ebensowenig erwartet wie im Falle des Histiaios. Immerhin erkennt man leicht, daß der Gedanke des Histiaios geistreicher und sachangemessener ist als der des Harpagos. Er ist mithin morphologisch ursprünglicher, zumal er den Anstoß zu einem Unternehmen gibt, das scheitert, während Harpagos sein politisches Ziel mit Hilfe des Kyros mühelos erreicht. Man wird die verwandte Erzählung von Demarats Geheimbotschaft an die Spartaner (7,239) etwas anders beurteilen müssen. Sobald der ehemalige spartanische, in Susa lebende 11

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Über sie vergleiche man auch D. Konstan, The Stories in Herodotus Book I, Helios 22, 1983, 8: „Inserting the secret message into the belly of the hare is an offense like dressing up a monkey. It is to endow a dumb animal with the speech, a characteristic feature of men ... This is, I think, the ultimate reason for the emphasis Herodotus places on Harpagus' strategem." Man bedauert, daß Herodot diese Deutung nicht kennenlernen konnte. Vermutlich hätte er sich, was er so gern tat, sehr gewundert. Die Straßenkontrolle wird 5,35,3 mit denselben Worten wie 1,123,3 bezeichnet.

3. Novellen und Anekdoten über Kyros

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König ums Jahr 484 (vgl. 7,20,1) vom Kriegsbeschluß des Xerxes gehört hat, schabt er das Wachs einer zweiteiligen Schreibtafel ab, schreibt die Neuigkeit auf das Holz und bedeckt die Buchstaben wieder mit Wachs. Die Tafel erreicht Sparta, aber nur Gorgo, die Tochter des Kleomenes und Gattin des Leonidas, durchschaut die List, so daß die Nachricht gefunden wird. Die Spartaner, die nun als erste vom bevorstehenden Krieg erfahren haben, teilen die Botschaft den übrigen Griechen mit und befragen das Orakel in Delphi. Diese Anekdote stimmt jedoch mit den von Herodot selbst gemachten Voraussetzungen nicht recht überein: Die vier Jahre anhaltenden umfangreichen Rüstungen, nicht zuletzt Athoskanal und Hellespontbrücke, ließen sich nicht geheimhalten (vgl. 7,1,2), und man versteht nicht ganz, weshalb die Botschaft des Demaratos notwendig geworden sein soll, zumal sie dem Manne zugeschrieben wird, der den Spartanern nicht wohlwill. Herodot selbst hat ja Mühe mit diesem Befund (7,239,2: ώξ μεν Ι γ ώ δοκέω, και τό εΙκός έμο'ι συμμάχεται, ούκ ήν εΰυουζ Λακεδαιμονίοισι, π ά ρ ε σ η δέ εΐκάζειν είτε εύνοΐη τ α ϋ τ σ έττοίησε είτε και καταχαίρων). Vermutlich ist die Erzählung nur um der Pointe willen erfunden worden. Die Spartaner sind angesichts der unbeschriebenen Wachstafel ratlos, aber Leonidas' Gattin hat den rettenden Gedanken. Herodot bezeichnet die Geschichte als Zusatz (§ 1): άνειμι δέ έκεΐσε τ ο ΰ λόγου τ η μοι πρότερον έξέλιττε (d. h. 7,200,3). Wahrscheinlich hat er die Geschichte aufgegriffen und wenigstens anhangsweise mitgeteilt, weil er das Wesen einer besonderen spartanischen Frau kennzeichnen wollte (er hat schon vorher bewundernd auf Gorgo aufmerksam gemacht, vgl. 5,51,2) — ein geradezu plutarchisches Thema! Ob man die Anekdote von Gorgo als das Vorbild der beiden zuvor besprochenen Erzählungen von Harpagos und Histiaios bezeichnen darf, ist unsicher. Aber man sollte diese Möglichkeit im Auge behalten.

2. Gewichtiger ist die zweite Geschichte (1,125 f.), die nun ganz dem Perser Kyros gehört und als Beispiel seiner Klugheit gewürdigt werden soll (vgl. 1,125,1). Kyros ruft die angesehensten persischen Stämme zusammen, verliest einen gefälschten Brief, aus dem seine Ernennung zum medischen Feldherrn hervorgeht, und befiehlt den Anwesenden, am nächsten Tage zur Stelle zu sein, jeder mit einer Sichel ausgerüstet. Die Perser gehorchen tatsächlich, und sie müssen nun ein großes Distelfeld, 20 Stadien im Geviert (d. h. etwa 16 qkm) abmähen. Am darauf folgenden Tage haben sie in Festkleidern zu erscheinen, und sie werden jetzt von Kyros aus seinen Privatmitteln festlich bewirtet. Auf die Frage, welcher Tag ihnen mehr zugesagt habe, erhält Kyros eine einstimmige Antwort. Er eröffnet ihnen nun seinen Plan (1,126,5): „Seid ihr gewillt, mir zu folgen, dann gibt es für euch dieses Gute und unzähliges andere, und keine Knechtsarbeit. Wollt ihr mir aber nicht folgen, warten auf euch Mühen, den gestrigen gleich ohne Zahl. Auf denn und folgt mir und macht euch frei!" Wieder ist das Ganze nur ein Zeichen, freilich ein bedeutsames. Daß die Perser die dramatische Belehrung über die Härte der Sklavenarbeit, wie Kyros das nach unserem Text ersonnen haben soll, geduldig über sich ergehen ließen, ist wenig glaubhaft, daß sie sogar die sinnlose Arbeit des Distelmähens widerspruchslos auf sich genommen haben sollten, vollends unwahrscheinlich. Die Frage schließlich, wie Kyros einen großen Teil seines ganzen Volkes bewirten konnte, läßt sich nicht beantworten. Aber

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

sein Organisationstalent und seine Energie kommen in der Darstellung Herodots ebenso kräftig zum Ausdruck wie die Freiheitsliebe der Perser, die nun dem Ruf des neuen Herrn mit Begeisterung folgen. Die Anekdote hält eine historische Stunde vortrefflich im Worte fest. Der Erzähler verzichtet darauf, die geistigen Voraussetzungen und die näheren Umstände des persischen Aufstands zu beschreiben oder in Begriffen einzufangen. Stattdessen zeigt er das Wesentliche im Bilde des Gleichnisses und vermittelt zugleich die Einsicht, daß dieser Kyros der rechte König seines neuen Reiches sein werde: Herodot schildert nicht verbürgte Einzelheiten (die er in den wenigsten Fällen hätte erfahren können), benutzt auch das, was ihm bekannt wurde, nicht zu allgemein gültigen Folgerungen, sondern er erfindet eine Geschichte, der das Wesen des jeweiligen historischen Vorgangs eingeprägt ist. Der Leser wird aufgefordert, durch das bunte Gewirr des novellenhaften Details auf den Grund der Dinge zu sehen und die angedeuteten Ereignisse mitzuerleben. 3. Einen viel urtümlicheren Eindruck macht die Anekdote, die Herodot in Kap. 1,141,1 — 3 erzählt. Das Mederreich ist unterworfen. Da senden die kleinasiatischen Griechen (Ionier und Aioler) Boten zum Sieger nach Sardes und bitten, unter denselben Bedingungen, unter denen sie des Kroisos Untertanen gewesen sind, auch unter der persischen Oberherrschaft leben zu dürfen. Kyros aber trägt ihnen eine Parabel vor: „Ein Pfeifer, sagt er, sah Fische im Meer und blies auf seiner Flöte und meinte, sie sollten herauskommen zu ihm aufs Land. Als ihn seine Hoffnung aber trog, nahm er ein Netz, warfs aus und hatte eine Menge Fische darin und zog sie heraus. Und wie er sie springen sah, sprach er zu den Fischen: ,Hört mir doch auf mit dem Tanzen, denn als ich euch pfiff, wolltet ihr nicht kommen und tanzen.'" Herodot setzt auch sogleich die historische Erklärung hinzu: Kyros erzählte diese Fabel, weil die Ionier zuvor, als er sie zum Abfall von Kroisos aufforderte, nicht gehorchen wollten, jetzt aber, da vollendete Tatsachen geschaffen sind, Willfahrigkeit an den Tag legen, freilich auch Wünsche haben. Kyros sagt das alles im Zorn (§ 4: ό μεν δή öpyfj έχόμενος ελεγέ σφι τάδε.). Die Atmosphäre ist geladen. In der Tat hat der Sieger einigen Grund, verärgert zu sein. Die Griechen verstehen auch sofort, daß der König jetzt das Netz nach ihnen auswirft, und sie treffen entsprechende Verteidigungsmaßnahmen. Trotzdem kann es sich bei dieser Anekdote nicht um ein echtes Kyroswort handeln; denn der Vergleich, den der Sprecher anstellt, gibt ja deutlich zu verstehen, daß die zum Abfall von Kroisos aufgeforderten Griechen die sichere Knechtschaft gewählt hätten, wenn sie den ersten Locktönen gefolgt (und an Land gekommen) wären. So verhielten sie sich denn, um in Freiheit oder in milder Gebundenheit weiterleben zu können, wie die Fische, die sich durch die Flötentöne nicht verlocken lassen, auf den Strand zu springen. Man sieht: Die Anekdote ist ganz aus griechischer

3. Novellen und Anekdoten über K y r o s

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Sicht erzählt. Sie rechtfertigt das Verhalten der kleinasiatischen Städte und kennzeichnet die zielstrebige Entschlossenheit des Eroberers, der nur seinen eigenen Vorteil bedenkt. Wer aber hätte die Lage der Griechen Kleinasiens in diesem kritischen Augenblick so klar erfassen und so eindrucksvoll im Bilde widerspiegeln können, wenn nicht Herodot selbst 13 ? 4. Schwieriger ist es, den nächsten Ausspruch des Kyros (1,153,1—2) richtig zu beurteilen. Der Geschichtsschreiber erzählt: Als nach Eroberung des Lyderreichs die Unterwerfung der kleinasiatischen Griechenstädte drohte, senden die Ionier um Hilfe nach Sparta. Die Spartaner schicken keine Truppen aus, wohl aber senden sie einen Boten nach Sardes, der dem Perserkönig die Einnahme griechischer Städte untersagt (1,152,3: yfjs τηξ 'Ελλάδος μηδεμίαν π ό λ ι ν σιναμωρέειν ώ$ α ύ τ ώ ν οΰ ττεριοψομένων). Dann heißt es wörtlich: „Als der Herold so sprach, soll Kyros die Hellenen, die bei ihm waren, gefragt haben, was denn das für Leute seien, die Lakedaimonier, und wie groß ihre Zahl, daß sie ihm das entbieten ließen. Und als er's erfahren, habe er zu dem spartanischen Herold gesagt: ,Ich habe mich noch nie vor Leuten gefürchtet, die mitten in der Stadt einen Platz dazu bestimmt haben, sich dort zu treffen und gegenseitig mit Eid und Schwur zu betrügen. Die werden, wenn ich gesund bleibe, noch genug zu schwatzen haben, nicht über die Leiden der Ionier, sondern ihre eigenen.'" Wieder sind die historischen Bedingungen der vorliegenden Situation vorzüglich nachgezeichnet: der Unterschied zwischen dem Landleben der persischen Grundbesitzer und dem lebhaften Handel im Herzen griechischer Städte, die Verachtung des siegreichen orientalischen Feldherrn für den Krämergeist der Politen, die nur an ihren persönlichen Vorteil denken, ohne die Not anderer sehen zu wollen. Der herodoteische Kyros trifft mit seiner Kritik eine Tatsache, die jedem Griechen vertraut war. Man könnte vermuten, daß der historische Kyros so gedacht hat, jedenfalls auf der Höhe seiner bisherigen Erfolge. Es kommt dem Autor wohl auch darauf an, daß diese stolze Selbstsicherheit recht sichtbar wird. Jedoch ist es wenig wahrscheinlich, daß Kyros solche Gedanken vor den Ohren des 13

Die Parabel selbst entspricht allerdings orientalischen Vorstellungen, sie könnte von dort angeregt sein, Hart 73; Waters (1971) 51; Hirsch 2 2 2 - 2 2 9 . Hirschs abschließendes Urteil über die Anekdote lautet (226): „... the available evidence suggests that the Parable of the dancing fish had its origins in the Near East and represents the attitude of a land power, such as Persia, toward maritime peoples like the Greeks." Ich halte es indessen für unwahrscheinlich, daß Herodot selbst mit dieser Anekdote den Gegensatz zwischen Land- und Seemacht bezeichnen wollte. Ausgehend von seinem Text wird man nur sagen können, daß er das Motiv der springenden Fische u. U. aus dem Orient übernahm. Die Funktion der Parabel im Zusammenhang der geschichtlichen Erzählung, d. h. ihre Umstellung auf die Sicht der Griechen, ist ganz Herodots Werk.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Abgesandten eines fremden Staates, d. h. bei offizieller Gelegenheit, bedenkenlos ausgesprochen habe. Der Verstoß gegen die Grundregeln der Diplomatie wäre allzu grob. Auch will nicht glaubhaft erscheinen, daß Kyros erst beim Auftreten des Boten sich nach Wesen und Stärke der Spartaner erkundigt haben soll (1,153,1: τίνες έόντες άνθρωποι Λακεδαιμόνιοι και κόσοι πλήθος τ α ϋ τ α έ ω υ τ φ προαγορεύουσι). Das ist wohl nur gesagt, um die Treffsicherheit des nachfolgenden Urteils wirkungsvoller (überraschender) hervortreten zu lassen (ein ähnlicher Kunstgriff im Bericht über das Gespräch zwischen Artaphrenes, dem Satrapen von Sardes, und den um Bundesgenossenschaft nachsuchenden athenischen Gesandten: 5,73,2) 14 . In Wahrheit muß Herodot gewußt haben, daß die Perser ihre westlichen Nachbarn kannten. Auch Kyros verfügt ja an unserer Stelle über sichere Kenntnisse der griechischen Verhältnisse. So spricht denn alles dafür, daß die ganze Geschichte von Herodot geschaffen worden ist, nicht aber aus einer unbekannten (mündlichen) ionischen Vorlage stammt. Bei dieser Annahme erklärt sich auch die Tatsache am einfachsten, daß Kyros seine Rede mit der Abwandlung eines Archilochoszitats beschließt. Herodot sagt 1,153,1: τοΐσι, ήν ε γ ώ υ γ ι α ί ν ω , οΰ τ ά Ι ώ ν ω ν πάθεα εσται ελλεσχα, άλλά τ ά οίκήϊα. Der entsprechende Vers des Archilochos aber lautet (Fr. 20 W.): κλαίω τ ά Θασίων, ου τ ά Μ α γ ν ή τ ω ν κακά 15 . Offenbar soll der Leser des Herodottextes das Zitat wiedererkennen, er soll bemerken, daß die Geschichte fingiert ist, gleichzeitig aber auf den Stolz und die Kraft aufmerksam werden, mit denen der persische Eroberer den Griechen Kleinasiens zukünftig entgegentreten wird. Herodot hebt diese entscheidende Tatsache hervor und erfindet seine Anekdote, um das um so nachdrücklicher tun zu können. 5. So bleibt uns denn für eine schwache Hoffnung auf ein echtes Kyroswort nur die im letzten Kapitel des Werkes (9,122) berichtete Geschichte. Herodot knüpft sie an den Tod des Persers Artayktes an, der von den siegreichen Griechen ans Kreuz geschlagen worden ist. Dessen Vorfahr Artembares hatte dem König Kyros nach dem Sturz des Astyages den Rat gegeben, die Perser in ein fruchtbareres Land mit milderem Klima übersiedeln zu lassen, wo sie ein bequemeres Leben führen könnten. Kyros aber sagte, sie müßten, wenn sie das vollführten, darauf gefaßt sein, nicht mehr zu herrschen, sondern zu dienen. „Denn aus weichen Ländern 14

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Man vergleiche auch 5,105,1: Nach Meldung über den Ausbruch des Ionischen Aufstands, an dem sich Athen mit 20 Schiffen beteiligt, fragt Dareios zunächst, wer die Athener seien. Herodot läßt ihn diese Frage stellen, weil er anschließend eine Anekdote vortragen will, deren Wirkung dadurch verstärkt wird, vgl. unten S. 68. Vgl. Aly 54, der allerdings andere Schlüsse zieht als wir.

3. Novellen und Anekdoten über Kyros

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pflegten weiche Männer zu kommen. Ein und demselben Land sei es nämlich nicht gegeben, sowohl üppige Frucht hervorzubringen als auch Männer tüchtig für den Krieg" 16 . Die Perser nehmen sich das zu Herzen: Die Beachtung dessen, was ihnen ihr großer König empfiehlt, befähigt sie, so soll der Leser verstehen, Herren Asiens zu sein. Jedoch auch bei dieser Äußerung des Kyros handelt es sich nicht um einen historischen Vorgang. Das hat Krischer 17 eindeutig festgestellt: Die Anekdote besitzt rein literarischen Charakter; sie ist aus der Odyssee hergeleitet (vgl. ι 25 — 36), kann also nicht persische Tradition repräsentieren. Die Auswanderungspläne und die Antwort des Kyros sind fingiert. Krischer betont mit Recht, daß Herodot die Perser mit dieser Erzählung ehrt, da er sie entsprechend dem Rat ihres Königs das Leben in der rauhen Heimat der Verweichlichung in einer lieblicheren Gegend vorziehen läßt. Für die Griechen gilt ein ähnliches Lob 18 , aber nur sie verfügen über die άρετή, die sich auf Klugheit und Hochschätzung des Nomos gründet. Krischer (a. O. 98) bezeichnet jedoch die Anekdote des Schlußkapitels als „Versatzstück", das „an jede beliebige Episode, in der Perser mitwirken", angeknüpft werden könne. Diese Behauptung ist fragwürdig. Herodot hat ja mit Beschreibung des Luxus der Perser, ihres Wohllebens besonders auch im Kriege, nicht gespart: Man denke nur an die kurz zuvor berichtete lehrreiche Konfrontation persischer Verschwendung mit spartanischer Einfachheit (9,82) 19 ! Jedenfalls weist ja dieser Bericht auf einen Zustand hin, der einer Entartung in weichlichem Klima nicht unähnlich ist. Die Anekdote des Schlußkapitels darf, wie Krischer gesehen hat, nicht als Warnung verstanden werden. Aber sie weist auf einen wesentlichen Grund der persischen Niederlagen hin. Die Perser haben Grundsätze vernachlässigt, die ehedem von ihnen ohne Einschränkung geachtet worden sind. Auch das ist ein Urteil des Geschichtsschreibers und im Hinblick auf die katastrophalen Mißerfolge der Angreifer eine abschließende, historisch gültige Feststellung.

9,122,3: φιλέειν y a p εκ τ ω ν μαλακών χ ώ ρ ω ν μαλακούς άνδρας γίνεσθαι - ού y a p τι της αυτής γ η ς είναι καρπόν τε θωμαστόν φύειν και άνδρας άγαθούς τ ά πολέμια. Der von Kyros vertretene Grundsatz ist nicht ohne Bedeutung für die Beurteilung von Herodots geographischen Exkursen, vgl. unten S. 157 ff. 17 Τ. K., Eranos 72, 1974, 9 3 - 1 0 0 . Siehe auch Cobet 174. 18 Krischer zitiert die bekannten Worte des Demaratos (7,102,1): τ ή 'Ελλάδι πενίη μεν αίεί κοτε σύντροφος έστι, άρετή δέ έπακτός έστι ά π ό τε σοφίης κατεργασμένη και νόμου ίσχυροΰ" τ ή διαχρεωμένη ή 'Ελλάς τ ή ν τε πενίην άτταμύνεται και τ η ν δεσττοσΰνην. " Man vergleiche dazu Fornara 62 — 65 (mit guter Nachzeichnung von Herodots Pausaniasbild). Uber die grundsätzliche Bedeutung herodoteischer Novellen und Anekdoten lese man die beiläufigen, aber wichtigen Bemerkungen ebend. 61 und 65. Hier heißt es: „What appears to be mere anecdotes without direction are in reality magnificent and richly allusive passages." Siehe auch Strasburger (1983) 458. 16

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Es ist wohl kein Zufall, daß Kyros zuletzt in so mildem Lichte erscheint und als weiser König zu den Persern spricht, begütigend wie ein Vater; denn dieser Abschluß kontrastiert mit dem Ereignis, das Herodot als letztes aus dem Leben des Kyros berichtet hat: Die siegreiche Massagetenkönigin Tomyris wirft sein abgeschlagenes Haupt in einen mit Menschenblut gefüllten Sack, um seine maßlose Eroberungslust und seine Blutgier zu geißeln (1,214,4 — 5). Da diese grausige Geschichte schwerlich historisch ist, auch nicht einer persischen Tradition entstammen wird, darf man annehmen, daß der Autor den Massagetenfeldzug in ihr ebenso verurteilt, wie er die Weisheit des Königs am Ende seines Werkes preist 20 .

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Beide Berichte lassen sich natürlich auch als „Widersprüche" auffassen. Man hat sie nicht selten durch die Vermutung zu erklären versucht, Herodot sei hier (wie oft) von verschiedenartigen Traditionen abhängig. Es braucht nicht näher ausgeführt zu werden, daß diese Deutung nicht zutrifft. Über das Problem selbst vgl. Späth und Flory (passim; zu Florys wichtigem Buch siehe unten S. 184). Über Späths Ausführungen (zu Kyros 56 — 62) hier nur einige grundsätzliche Bemerkungen. Ich kann die Themastellung „Das Motiv der doppelten Beleuchtung" nicht für glücklich halten. Handelt es sich wirklich um ein Motiv? Späth tut so, als ob Herodot neben jede handelnde Gestalt zwei Leuchten gestellt habe, um die Widersprüche seines Wesens besser erkennen zu können. Eine derartige Deutung ist jedoch nur denkbar, wenn man voraussetzt, der Geschichtsschreiber hänge sklavisch von seinen Vorlagen ab. Sobald man Herodots eigene Gestaltungskraft ins Spiel bringt, wird Späths Betrachtungsweise fragwürdig; denn er stellt die entscheidende Frage nicht: ,Was möchte Herodot erzählen, und wie muß die handelnde Person beschaffen sein, wenn die Erzählung (an deren Ergebnis der Darsteller ja gebunden ist) glaubhaft wirken soll?' Die Erzählung ist Herodots primäres Anliegen. Dabei können Unausgeglichenheiten im Charakter eines Handelnden hingenommen werden; denn menschliches Wesen ist nun einmal, wie Späth (29 u. ö.) richtig sagt, mehrdeutig. — Späth hat die Inkongruenzen im Wesen der bei Herodot handelnden Personen übersichtlich zusammengestellt (63—171) und auch auf die politischen Kollektive ausgedehnt (172 — 262). Wir zitieren diese Einzelabschnitte im folgenden nicht mehr, da wir jeweils die gleichen Einwände wiederholen müßten.

4. Erzählungen über Kambyses Herodot hat das erste Buch seines Werkes mit einem Überblick über die persische Stellungnahme zur Frage der Schuld am Kriege zwischen Asien und Europa eröffnet. In ähnlicher Weise leitet er das dritte Buch mit Erzählungen von den angeblichen Anlässen des persischen Zuges nach Ägypten ein. Der erste Logos (3,1) ist persischen, der zweite (3,2) ägyptischen Ursprungs, beim dritten (3,3) wird keine bestimmte Herkunftsangabe genannt. Der Autor weist diese Nachrichten nicht ausdrücklich als unverbürgt zurück, wie er das mit der von der persischen Propaganda vertretenen, mythologisch begründeten Erklärung der Kriegsschuld am Anfang seines Werkes getan hat (vgl. 1,5,3). Jetzt, zu Beginn des dritten Buches, begnügt er sich mit bloßen Berichten. Ihm selbst, wie auch seinem Leser, ist bewußt, daß es sich bei der Eroberung Ägyptens um ein rein machtpolitisches Unternehmen gehandelt hat. Das geht aus der Eigenart schon der bisherigen persischen Außenpolitik (der des Kyros) hervor 1 , ferner aus den Versuchen des Kambyses, von Ägypten aus weitere Eroberungen zu machen (vgl. 3,17. 19,3. 25,1). Diese Unternehmungen haben mit den Begründungen, die in den drei Logoi der Kapitel 3,1—3 genannt werden, kaum noch etwas zu tun. Wir fragen jetzt nur, weshalb der Geschichtsschreiber solche Geschichten überhaupt mitteilt. Wie wir bereits gesehen haben, wird die mehrfach geäußerte Ansicht, Herodot habe alles nacherzählt, was er — sei es auch nur beiläufig — in Erfahrung bringen konnte, nur um einen gefalligen Erzählzusammenhang zu schaffen, weder seinem wissenschaftlichen (historischen) noch seinem künstlerischen Anliegen gerecht. Er muß also mit der Darbietung der drei Logoi einen besonderen Sinn verbunden haben. Die erste, persische Erzählung verfolgt offensichtlich das Ziel, den Angriff des Kambyses zu rechtfertigen, weil er ein gebotener Racheakt gewesen sei: Der Großkönig ist schnöde betrogen worden, als er die Tochter des Amasis für seinen Harem erbat; denn der Ägypter hat eine Tochter seines gestürzten Vorgängers Apries als sein eigenes Kind ausgestattet und nach Persien gesandt. Das Mädchen aber verrät dem Perser-

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Vgl. zum Grundsätzlichen 3 , 1 3 4 , 1 - 2 (Atossa zu Dareios), auch 4,167,3; 7,138,1. 157,1 u. a. Stellen. — Von einer Aufgabe des Großkönigs, einen ägyptischen Aufstand niederzuwerfen, weiß Herodot nichts.

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könig seine Herkunft und versetzt ihn in nicht unberechtigte Wut (3,1,5): „Dieses Wort nun und dieser Anlaß ließen Kyros' Sohn Kambyses in großem Zorn gegen Ägypten ziehen." Es ist nicht uninteressant ähnliche Vorgänge im Neuen Reich zur Zeit der ägyptischen Großmacht zu vergleichen. Als der König Babyloniens, Kadasmancharbe, eine ägyptische Prinzessin für sich begehrte, wurde ihm von Amenophis III. (um 1400 v. Chr.) geantwortet, „von alters her werde eine ägyptische Prinzessin niemandem gegeben", und er (der Babylonier) schämte sich nicht, ihm vorzuschlagen, er solle doch irgendein schönes Mädchen als seine Tochter ausstaffieren; dafür werde er ihm seine eigene Tochter nicht vorenthalten (nach Ed. Meyer, G. d. Α. II 1, Stuttgart 1953, 152). Davon wußte Herodot natürlich nichts. — Übrigens sollte man erwägen, ob nicht Herodots persischer Logos die absichtliche (d. h. von den persischen Berichterstattern geschaffene) Entstellung eines Berichtes ist, demzufolge Amasis die Nitetis in ehrlicher Absicht, vielleicht sogar auf ausdrückliches Verlangen des Großkönigs, nach Persien sandte, weil sie dem letzten legitimen Herrscher der Saitendynastie entstammte, während Amasis selbst ja Usurpator (Emporkömmling) war. Die persischen λ ό γ ι ο ι müßten dann diese Nachricht für ihre Zwecke mißbraucht haben.

Die Geschichte (3,1) soll nach Herodots Wunsch zeigen, wie man sich auf persischer Seite des Kambyses Mangel an Selbstbeherrschung und politischer Vorsicht während seines Aufenthalts in Ägypten zu erklären versuchte (der Autor selbst hat, wie wir sehen werden, bessere Gründe zur Hand). Ähnliches gilt für die ägyptische Auffassung (3,2). Deren Gewährsmänner machen allerdings ganz andere Voraussetzungen: Sie lassen Nitetis, die Tochter des Apries, schon unter Kyros nach Persien gelangen und machen sie zur Mutter des Kambyses. Diese Verschiebung der Tatsachen ist interessant genug: Herodot scheint hier einer Tradition zu folgen, die dem Kambyses freundlich gesinnt ist; denn sie versucht, ihn als ägyptischen Pharao zu legitimieren 2 . Der Autor widerlegt diese Anschauung seiner Gewährsmänner allerdings sofort: Auch die Ägypter wüßten doch, daß ein Bastard in Persien nicht König werden könne, solange ein echtbürtiger Sohn vorhanden ist. Außerdem müßte ihnen ja bekannt sein, daß Kambyses der Sohn der Kassandane aus dem Hause der Achaimeniden war. „Aber sie verdrehen die Geschichte und wollen nur gern mit dem Hause des Kyros verwandt sein." So ist denn in dieser Frage Klarheit geschaffen. Herodot trägt aber gleich danach noch einen dritten Logos (3,3) vor, der ebenfalls Nitetis in den Harem des Kyros kommen läßt. Der Autor verwirft auch ihn als unzuverlässig, teilt jedoch seinen Inhalt mit (dazu Flory 77): Kassandane, die Gemahlin des Kyros und Mutter des Kambyses, habe sich im Beisein ihrer Kinder bei einer Perserin darüber beschwert, daß Kyros die Ägypterin mehr ehre als sie. Dann heißt es wörtlich (3,3,2): „Die sagte das aus Unwillen über Nitetis, der ältere ihrer beiden Söhne aber, Kambyses, sagte: 2

Vgl. Hofmann und Vorbichler 87, auch Brown 393.

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,Darum will ich dann, Mutter, wenn ich ein Mann geworden bin, in Ägypten das Unterste zu oberst kehren und das Oberste zu unterst.' Das habe er gesagt, als er zehn Jahre alt war, und die Frauen hätten sich verwundert." Man wird annehmen dürfen, daß auch dieser dritte, mit λέγεται gekennzeichnete L o g o s aus einer ägyptischen Tradition herkommt, zumal er den großen Kyros mitverantwortlich für das Verhalten des Kambyses macht. Außerdem enthält nur er eine Begründung für den Krieg, während sie in der vorangehenden Erzählung — begreiflicherweise! — fehlt. Ist aber unsere Vermutung richtig, dann darf man sagen: Beide am Krieg beteiligte Parteien erklären sich das ungewöhnliche, ja unverständliche und abstoßende Auftreten des Großkönigs während seines Aufenthalts in Ägypten auf ihre Weise, die Perser fast entschuldigend, die Ägypter (wenigstens im dritten L o g o s ) abweisend, fast anklagend. Z u m Kambysesbild Herodots sei gleich anfangs bemerkt: Das Verhältnis dieser Darstellung zur historischen Wirklichkeit ist von Hofmann und Vorbichler unter sorgfältiger Verwendung zahlreicher neuer Erkenntnisse der Orientalistik gründlich untersucht worden, während Brown quellenkritische und historische Schlüsse fast nur aus dem Herodottext ableitet, Hofmann und Vorbichler folgen allerdings einer Methode, die aus der Sicht des klassischen Philologen antiquiert wirkt. D e m Geschichtsschreiber traut man nur wenig Urteil und Gestaltungskraft zu, vgl. 98 a: „Herodot war kein Erfinder, er gibt wieder, was er und wie er es gehört hat, mit allen Verzerrungen, denen ein Sagenstoff unterworfen ist." Das ist eine unstatthafte Verallgemeinerung des bekannten Prinzips λέγω τ ά λεγόμενα. D a die Verfasser die Konsequenzen ihrer Annahme nicht bedenken, sind sie gezwungen, von einem griechischen Sammler zu sprechen, der die verschiedenartigen, meist aus dem Osten (Babylon) stammenden, nicht immer zu Recht auf Kambyses übertragenen Motive in die „uns jetzt bei Herodot vorliegende F o r m " (115 b) gebracht hat. A u f viel höherem Niveau, in größerer Breite und mit weiterem Überblick argumentiert Balcer (über Kambyses im 3. Buch Herodots: 71 ff.). Aber auch er versucht vor allem, die Motive zu bestimmen, die auf Herodots Darstellung eingewirkt haben, ohne dessen eigene Intentionen ausreichend zu beachten und seinen eigenen Anteil am Duktus der Erzählung auszumachen. Erschwert wird das Urteil über Bakers Analyse durch seine eigene Hypothese, Dareios habe Bardiya ermordet (bzw. töten lassen), habe den Gaumata erfunden und vielleicht noch den Kambyses umbringen lassen. Zu dieser These gehört die kühne Behauptung, Dareios habe nach Besteigung und Sicherung des Thrones in Ägypten eine wirksame Propaganda gegen den toten Kambyses begründet, wobei ihm Serapispriester behilflich waren. Von dieser Propaganda wird auch Herodot abhängig gemacht. — Diese Hypothesen mögen von Kennern gewürdigt werden. Aber das Urteil über die Grundlage des Ganzen steht auch Nichtspezialisten frei. Das ist die Behauptung, die drei Fassungen der BehistunInschrift seien in Wahrheit variierende Wiedergaben eines mündlich vorgetragenen E p o s , durch das Dareios verherrlicht wurde. Das historische Dokument wird also als Dichtung gedeutet und behandelt. Man wird sich jedoch kaum mit der Billigung eines so vagen Analogieschlusses abfinden, sondern einen Beweis verlangen, der die bisher übliche Auffassung zwingend ausschließt; denn man kann zwar aus dem Vorhandensein von Oral Poetry auf das Vorhandensein von Varianten bei der Weitergabe solcher Dichtungen schließen, aber nicht aus dem Vorhandensein schriftlich fixierter Varianten auf die Existenz von Oral Poetry, wie Balcer das tut. Im Gegensatz zu den Thesen der genannten Orientalisten sehen wir unsere A u f g a b e darin, zunächst die Zielsetzung des überlieferten Textes zu beschreiben. Wir verzichten dabei

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

auf die Rekonstruktion einer angeblich vor Herodot liegenden, herodotähnlichen Fassung (die es vermutlich nie gegeben hat) und nehmen an, daß der Autor Verstand genug hatte, die Motive für die einzelnen Frevel des Kambyses (natürlich oft in bereits entstellter F o r m ) von seinen griechischen oder ägyptischen Gewährsmännern zu übernehmen und in seinem Sinne abzuwandeln bzw. zu ergänzen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, fand er eine dem Kambyses feindliche Tradition vor, die vermutlich durch den offiziellen Bericht des Dareios gefördert worden ist. Wie diese Quellenverhältnisse im Einzelnen aber auch gewesen sein mögen: Das Wesen und Gebaren des historischen Kambyses muß von solcher Art gewesen sein, daß es Haß und Verachtung derer, die ihn kannten oder später von ihm hörten, an sich zog.

Die Episode von Phanes, dem Mitarbeiter des Königs Amasis, der zu den Persern überwechselte (3,4—8), soll uns hier nicht aufhalten, weil man aus ihr über Herodots Kambysesbild kaum etwas lernen kann. Phanes stammte aus Halikarnaß, aber Herodot kann ihn nicht mehr gekannt haben, und da seine Söhne von den Ägyptern getötet worden sind (vgl. 3,11), waren wahrscheinlich auch keine Nachkommen vorhanden, die der Geschichtsschreiber hätte fragen können. Phanes wird dem Perserkönig allerlei ägyptische Staatsgeheimnisse verraten haben. Aber wir würden die Diplomatie der persischen Regierung doch wohl unterschätzen, wenn wir mit Herodot oder mit seinen Gewährsmännern annehmen wollten, erst von Phanes habe Kambyses erfahren, daß man sich, um die kasiotische Wüste durchqueren zu können, mit dem König der Araber gut stellen müsse. An Herodots Beschreibung des persischen Marsches durch die Wüste ist nur die zuletzt (3,9,2 — 4) mitgeteilte Variante über die Art der Versorgung des Heeres mit Trinkwasser zugegebenermaßen unglaubwürdig: Mit Hilfe von drei Leitungen, die aus zusammengenähten Tierfellen bestanden, sei das Wasser aus einem arabischen Fluß (den es nicht gibt) über eine lange Strecke hin in die Behälter an der Marschstraße der Perser geführt worden. Herodot verschweigt sein Mißtrauen nicht (3,9,2): δει δέ και τον ήσσον πιθανόν (seil, λόγον), έπεί γε δή λέγεται, ρηθήναι. Grund zum Zweifel an seiner Aufrichtigkeit besteht nicht. Wir werden die Bedeutung der Variante später erläutern (vgl. unten S. 173 f.). In einer Weise, die peinlich berührt, benutzt Kambyses das Unglück des gestürzten Königs Psammenitos, Sohnes des Amasis, dessen Leidensfähigkeit zu erproben (3,14,5, vgl. 3,14,1: διεπειρατο αύτοϋ της ψυχής). Die in Memphis eingeschlossenen Ägypter haben höchst leichtfertig ein von Kambyses gesandtes Schiff, auf dem sich zwecks Verhandlungen ein Herold befand, gestürmt und vernichtet. Nach Eroberung der Stadt beschließen die persischen Richter, für jedes erschlagene Besatzungsmitglied des Schiffes zehn vornehme Ägypter zum Tode zu verurteilen. Psammenitos wird gezwungen, den Zug der Gefangenen an sich vorüberziehen zu lassen, zunächst seine Tochter in Sklavenkleidern mit anderen vornehmen jungen Mädchen, dann seinen Sohn, der mit den übrigen verurteilten

4. Erzählungen über Kambyses

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Jünglingen zur Richtstätte unterwegs ist. Der entthronte König stimmt in das Wehgeschrei der Beteiligten und der Zuschauer nicht ein, sondern neigt sich stumm bis zur Erde nieder. Zuletzt erscheint ganz zufallig ein ehemaliger Freund aus der königlichen Tafelrunde, zuvor ein begüterter Mann, jetzt ein hilfloser Bettler. Da schreit der König laut auf, ruft den Freund unter Tränen bei seinem Namen und schlägt sich vor Verzweiflung das Haupt. Von Kambyses nach dem Grund dieses befremdenden Gebarens gefragt, antwortet er (3,14,10): „Sohn des Kyros, das Leid in meinem eigenen Hause war zu groß, um es zu beklagen, doch das Elend des Gefährten war der Tränen wert, der aus reichem Glück gestürzt und an den Bettelstab gekommen ist, jetzt an der Schwelle des Greisenalters." Die Größe des persönlichen Schmerzes kann nur durch einen Vergleich zum Ausdruck gebracht werden. Kambyses steht der sinnlichen Vorführung dieses Vergleiches bezeichnenderweise ratlos gegenüber und bedarf der erklärenden Deutung. Der Vergleich selbst aber ist nur möglich, weil der Zufall den Bettler vorüberführt, den ein heftiges, aber gemessen am Leid der königlichen Familie doch geringes Unheil getroffen hat. Der Alte verdankt seinen Auftritt einem Kunstgriff Herodots, der mit diesem Darstellungsmittel eine echte tragische Wirkung erreicht. Nun weinen nicht nur Kroisos und die anwesenden Großen der Perser, sondern Kambyses selbst verspürt eine Art Mitleid (3,14,11: α ύ τ ω τε Καμβύση έσελθεΐν οίκτόν τινα) — ein erschütternder Hinweis auf die Anwandlung von Milde, die dem Tyrannen bei aller Grausamkeit eigen sein kann. Er begnadigt den zur Hinrichtung geführten Königssohn, aber sein Befehl, ihn zu schonen, kommt zu spät. Der Ausgang des Berichtes erinnert an die oben (S. 20 ff.) besprochene Szene von Kroisos auf dem Scheiterhaufen (1,86,5 — 87). Nur war eben Kyros fähig, rasch die richtige Einsicht zu gewinnen, und er war glücklicher im Erfassen des rechten Augenblicks. Kambyses aber verfehlt (hier wie oft) die Möglichkeiten, die ihm geboten werden. Die verhüllte Kritik des Autors an den Maßnahmen dieses zwiespältigen Mannes läßt sich kaum verkennen. Sobald das aber bemerkt ist, darf man sagen: Herodot hat nicht nur den Auftritt des Bettlers erfunden, sondern die gesamte Szenerie, wie sie aus den Anweisungen des Herrschers hervorgeht, nicht zuletzt den makabren Einfall, die Leidensfähigkeit des besiegten Königs mit so brutalen Mitteln zu erproben. Schwerlich hat der Geschichtsschreiber von seinen Gewährsmännern mehr erfahren als die schlichte Tatsache, daß der Königssohn mit anderen vornehmen jungen Männern zur Sühne für das Verbrechen der Bewohner von Memphis sterben mußte. Herodot scheint die ergreifende Episode nicht zuletzt deshalb geschaffen zu haben, weil er sein Mißfallen an den Maßnahmen dieses Großkönigs hier besonders eindrucksvoll andeuten konnte. Schon die eben betrachtete Szene deutet die Unberechenbarkeit des Kambyses an: Sadistische Roheit kann plötzlich von Sanftmut abgelöst

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werden, Eitelkeit und Stolz können mit Schwäche und Reue wechseln. Fast immer fehlt dem Großkönig die rechte Einsicht, stets die Selbstbeherrschung. Durch diese ungewöhnliche Mischung einander widersprechender Charakterzüge werden die nachfolgenden Ereignisse bestimmt. Zunächst läßt der König in Sais den Leichnam des Amasis auspeitschen und, als die Mumie sich als widerstandsfähig erweist, verbrennen (3,16,1—2). In Herodots Darstellung soll diese Schändung eines Toten offenbar als Rache für den Betrug gelten, den Amasis nach dem Bericht der Perser (vgl. 3,1,1—5) am Großkönig verübt hat. Man muß freilich, wie wir bereits gesehen haben, mit der Möglichkeit rechnen, daß die persische Propaganda diese Begründung erfunden hat, um das Vergehen des Königs zu entschuldigen 3 . Ägyptische Gewährsmänner haben übrigens die böse Absicht des Kambyses ebenfalls beschrieben, jedoch den Erfolg bestritten. Der persische König, behaupten sie (vgl. 3,16,5 — 7), sei wiederum Opfer einer List des Amasis geworden; denn der habe einen anderen Toten in sein Grab gelegt, sich selbst aber in einem Winkel des Gewölbes bestatten lassen. Jedoch Herodot glaubt ihren Ausführungen nicht (§ 7): άλλως δ' α ύ τ ά Α ι γ ύ π τ ι ο ι σεμνοΰν (seil, δοκέουσι). Brown (393) will die von den Ägyptern mitgeteilte Variante mit der ägyptischen Darstellung in Kap. 3,2 verbinden. Beide Abschnitte lassen, so meint er, eine dem Großkönig freundliche Gesinnung erkennen. Aber das trifft jedenfalls auf 3,16,4 — 5 nicht zu. Hier geht es um die Rettung des Leichnams v o n Konig Amasis, die aber wird nur durch eine Täuschung des Kambyses möglich. Dessen frevelhaftes Vorgehen gegen den Toten wird nicht geleugnet oder beschönigt.

Kambyses erleidet dann schwere Verluste bei schlecht vorbereiteten Feldzügen gegen Aithiopien (3,25) und gegen das Ammonorakel (3,26). Er tötet, nach Memphis zurückgekehrt, die ägyptischen Aufseher der Stadt, weil sie Lügner seien (3,27,3), danach verwundet er — sein schwerstes religiöses Vergehen — den Apisstier und läßt die Priester des Apis auspeitschen (3,29,1 — 2). Nach diesen Ausschreitungen gegen die Unterworfenen und ihre Religion beginnt sein Wüten gegen Angehörige des eigenen Volkes. Er läßt seinen Bruder Smerdis ermorden, weil er sich von ihm bedroht glaubt

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Kambyses verübt ja, da er die Leiche nicht nur auspeitschen, sondern auch verbrennen läßt, eine besonders gottlose Handlung, die weder den Gepflogenheiten der Perser noch denen der Ägypter entspricht. Da in den Kapiteln 3,1 — 16 von Kambyses' Geistesverwirrung noch nicht die Rede ist, müßte man, falls man die oben befürwortete Beziehung der Leichenschändung zum persischen Logos 3,1,1—5 für Herodots Darstellung ablehnt, an einen nur schwer verständlichen Wutausbruch des Königs denken — was sich nicht empfiehlt.

4. Erzählungen über Kambyses

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(3,30), er tötet seine Schwester und Gemahlin (3,32) 4 , er erschießt seinen Mundschenk, den Sohn des Prexaspes (3,35,3) 5 , er läßt zwölf Perser aus nichtigem Grunde lebendig begraben (3,35,5) und die Diener hinrichten, die den alten Kroisos vor seinem wütenden Angriff beschützt haben, obwohl er sich über die Rettung des Lyders freut (3,36,6). Obendrein öffnet er Gräber (3,37,1), verspottet Götterbilder und betritt die für Laien nicht zugänglichen innersten Räume der Tempel (άδυτα, vgl. 3,37,2—3). Herodot wird nicht müde, als Motiv dieser Schandtaten Geistesverwirrung zu nennen (vgl. 3,25,1.3; 3,29,1; 3,30,1; 3,33; 3,35,4; 3,37,1; 3,38,1; 3,61,1). Nach Aussage der Ägypter begann der Wahnsinn sofort, als Kambyses den Apisstier in unbedachter Wut verletzt hatte, vgl. 3,30,1: Καμβύσης δέ, cos λέγουσι Α ι γ ύ π τ ι ο ι , αύτίκα διά τ ο ϋ τ ο τ ό αδίκημα έμάνη), und Herodot setzt hinzu: έών ούδέ πρότερον φρενήρης (vielleicht aus derselben Quelle). Beide Tatsachen, der durch den Religionsfrevel ausgelöste Wahnsinn und die bereits vorhandene Disposition, werden 3.33 (nach dem Bericht über den Tod des Bruders und über den der Schwester) nochmals erwähnt. Das geschieht so, daß der Leser spürt, wie Herodot die medizinische Erklärung nur als Deutung der Vorstufe des eigentlichen Irrsinns gelten läßt: „So wütete Kambyses in seinem Wahnsinn gegen seine Nächsten, ob nun des Apis wegen oder sonst warum, wie ja mancherlei Leiden die Menschen befallen können. Soll doch Kambyses von Geburt an ein schweres Leiden gehabt haben, die heilige Krankheit, wie 4

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Beide für dieses tragische Ereignis angeführten Berichte (von Griechen und Ägyptern erzählt) setzen voraus, daß der unglücklichen Frau die Ermordung des Smerdis bekannt ist, obwohl Herodot doch in seiner späteren Darstellung damit rechnet, außer Kambyses habe nur Prexaspes von ihr gewußt (vgl. vor allem 3,74,1). Das könnte ein Zeichen dafür sein, daß die beiden Erzählungen erst längere Zeit nach Kambyses' Tode aufgekommen sind (die Historizität der Geschwisterehe und des Mordes an der Schwester würde durch diese Annahme nicht berührt). How and Wells (I p. 265) dagegen behaupten, ein bloßer Verdacht („a mere suspicion such as must have been current") habe das Verhalten der Frau rechtfertigen können, und Brown (398) meint, ein kleiner Kreis („an inner group") habe außer Prexaspes von der Ermordung des Smerdis gewußt. Brown könnte sich auf 3,61,1 stützen, w o gesagt wird, daß nur wenige der Perser von dem Mord gehört hätten. Viel näher aber liegt m. E. die Annahme, die in 3,32 erzählten Vorgänge bezögen sich auf die wahren historischen Verhältnisse (Beseitigung des Smerdis vor der Eroberung Ägyptens). Spricht doch die Behistun-Inschrift nur davon, daß das Volk die Wahrheit nicht erfuhr: „Nachdem Kambyses Bardiya getötet hatte, wurde dem Volke nicht bekannt, daß Bardiya getötet wurde." Nach diesem Bericht ist die Wahrscheinlichkeit, daß man am persischen Hofe die Wahrheit kannte, erheblich größer als bei den zuvor genannten Vermutungen. Unsere Annahme wäre zugleich ein Zeugnis dafür, daß Herodot die beiden Erzählungen nicht erfunden, sondern den genannten Traditionen entnommen hat. Er nahm den gut verhüllten Widerspruch zur eigenen Konzeption in Kauf. Dieses Verbrechen könnte allerdings vom Autor erfunden worden sein, weil er die Reaktion des Prexaspes benutzt, um dessen unterwürfige Treue gegenüber dem Königshaus sichtbar zu machen (vgl. 3,74 — 75). Prexaspes' Verhalten steht in schroffem Gegensatz zu dem des Harpagos.

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einige sie nennen. Wenn sein Leib an einer so schweren Krankheit litt, war es nicht so abliegend, daß auch sein Geist nicht gesund war" 6 . Die Diagnose .Epilepsie' mag für den historischen Kambyses gelten, zum Verständnis des herodoteischen reicht sie nicht aus: Sie gibt lediglich zu erkennen, daß der Geist des Königs für den schädigenden Einfluß der zürnenden Gottheit besonders empfänglich ist. Die Richtigkeit dieser Interpretation zeigt sich darin, daß der Wahnsinn beendet ist, sobald Kambyses seine wahre Situation erkennen soll. Von seiner plötzlichen Erleuchtung heißt es in 3,64,1: ένθαΰτα άκούσαντα Καμβύσεα τό Σμέρδιος οΰνομα ετυψε ή άληθείη τ ω ν τε λ ό γ ω ν και τοϋ ενυπνίου. Dann wird mitgeteilt, daß sich der Großkönig beim eiligen Besteigen des Pferdes verletzt und nun, angesichts der Bösartigkeit seiner Wunde, auch das aus dem ägyptischen Buto stammende Orakel versteht, das ihm den Tod in einem Ort mit Namen Ekbatana prophezeit hat. Vgl. 3,64,5: και δή ώς τότε έπειρόμενος έπύθετο της ττόλιος τό ουνομα, ύιτό της σύμφορης της τε έκ τοϋ μάγου έκττεττληγμένος και τοϋ τρώματος έ σ ω φ ρ ό ν η σ ε , συλλαβών δε τ ό θεοπρόπιον είπε κτλ. Die drei überirdischen Phänomene, Königstraum, Zorn der Gottheit wegen Verletzung des heiligen Stieres und Orakel aus Buto, enthüllen in diesem dramatischen Augenblick ihren Sinn und ihre Macht. Kambyses aber ist jetzt ganz Herr seines Geistes. Was das erstaunliche Zusammentreffen der Ereignisse bedeutet, nicht nur für das herodoteische Bild des bedauernswerten Königs, sondern auch für die kunstvolle Gestaltung der ganzen Erzählung, soll im folgenden Überblick noch etwas deutlicher werden. Vermutlich hat Herodot eine griechische Übersetzung der BehistunInschrift (d. h. ein öffentliches, im Griechisch sprechenden Teil des Perserreichs verbreitetes Dokument) gekannt. Die Beziehungen seiner Dar6

Vgl. zu dieser Stelle Immerwahr 168 f. und Friedrich 361 ff. Friedrich stellt richtig fest, daß die sozial bedingten Verfehlungen nicht unbedingt dem „Schuld-Sühne-Mechanismus" unterliegen. Der tritt freilich in Kraft, sobald sich das Wüten des Königs gegen den Apis richtet. Herodot sagt das m. E. deutlicher, als Friedrich meint: ,Kambyses verletzt den Stier Ιών ϋττομσργότερο;' (3,29,1). Friedrich (363) sagt, Herodot verwende „einen zurückhaltenden, geradezu höflich verkleinernden" Ausdruck; er nenne den Kambyses „nur ein bißchen verrückt". Das trifft, gerade bei diesem Sakrileg, schwerlich zu. Es gibt noch zwei weitere Belege bei Herodot (3,145,1 und 6,75,1). Der letztere zeigt deutlich, wie der Komparativ zu verstehen ist (über Kleomenes): ΰπέλαβε μανίη νοϋσοξ έόντα και ττρότεραν Οττομαργότερου, d. h. nicht „ein bißchen verrückt", sondern „allzu, ziemlich verrückt". Und ύποθερμότεροξ heißt der aus Lampsakos stammende Mörder des Stesagoras (6,38), d. i. nicht „ein wenig", sondern „ungewöhnlich feurig". Zum Komparativ vgl. die Beispiele bei Kühner-Gerth II 305. Der Frevel am heiligen Stier überschreitet das bislang kenntliche Maß irrationalen Wütens und fordert die Gottheit zur Bestrafung heraus. Diese Strafe offenbart sich zunächst in dem vollständigen Ausbruch des Wahnsinns.

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Stellung (3,30 — 66) zu jenem Rechenschaftsbericht des Dareios sind vielfältig und kompliziert, aber analysierbar. Köhnken 7 hat sie geklärt: 1. Herodot stimmt mit der Behistun-Inschrift in folgenden Punkten überein: a) Kambyses ermordet seinen Bruder Bardiya; b) Der Empörer Gaumata (Bardiya = Smerdis) war Magier; c) Gaumatas Usurpation fand zu Lebzeiten des Kambyses statt; d) Kambyses starb auf dem Ägypten-Feldzug. 2. In folgenden Punkten weicht Herodot von der Vorlage ab: a) Nach Angabe des Dareios hat Kambyses seinen Bruder Bardiya ( = Smerdis) vor dem Zuge gegen Ägypten umbringen lassen. Bei Herodot erfolgt der Mord (durch Prexaspes), während Kambyses in Ägypten weilt; b) Herodot verdoppelt die Usurpatoren: Der Leiter des Unternehmens ist Patizeithes. Er läßt seinen Bruder Bardiya wegen Gleichheit des Namens und Ähnlichkeit des Aussehens mit dem ermordeten Kyrossohn zum König ausrufen (Patizeithes war von Kambyses zum Verwalter des Kronguts eingesetzt worden, hat also von vornherein eine Schlüsselstellung inne). Dem falschen Smerdis hat Kyros aus einem nicht näher bezeichneten Grunde (3,69,5: εττ' αίτίη δή τινι) die Ohren abgeschnitten (an den abgeschnittenen Ohren kann die Otanes-Tochter Phaidyme den Betrüger erkennen). Herodot erreicht durch diese Abweichungen vom Bericht der BehistunInschrift eine geschlossene, in ihren einzelnen Teilen fest zusammenhängende Erzählung. Der Kyrossohn Smerdis nimmt zunächst am Feldzug teil. Kambyses schickt ihn dann aber aus Mißtrauen (3,30,1: φθόνω, weil er den Bogen, das Geschenk des Königs der Aithiopen, als einziger ein wenig hat spannen können) nach Persien zurück. Ein Traum warnt den Großkönig vor möglichen Nachstellungen des Smerdis 8 . Daraufhin veranlaßt Kambyses die Ermordung seines Bruders. Die Durchführung des peinlichen Auftrags legt der Autor in die Hände des seinem König treu ergebenen Wesirs Prexaspes. Der gerät später durch diese seine Zuverlässigkeit in eine schwierige Lage 9 . 7 8

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Α. K., Herodots falscher Smerdis, in: W. Jhbb. N. F. 6 a , 1980, 3 9 - 5 6 . Köhnken hat die auffällige Form des Traumes richtig beschrieben: Kambyses erhält die Warnung durch einen im Traum erscheinenden Boten. Er sieht den vorgeblichen Usurpator nicht auf dem Throne, da sein Traum ja als Königstraum ein Wahrtraum sein muß. Die gleiche Form indirekter Aufklärung findet sich 3,64,1 nach der öffentlichen Bekanntgabe des Aufstands durch den Herold im Heerlager; vgl. Köhnken a. O. (ob. Anm. 7) 45 ff. Sein tragisches Schicksal ist augenscheinlich ein Werk Herodots. Das heißt nun freilich nicht, daß der Geschichtsschreiber die Gestalt des Prexaspes erfunden habe, vgl. P. Kübler, R. E. 12,2,1954,1840,55 s. v. Prexaspes Nr. 1: „Als historischer Kern dürfte festzuhalten

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Herodot hat durch diese seine Veränderungen der Überlieferung und durch Neuordnung der Fakten erreicht, daß die Tatsachen ,Tod des Smerdis — Usurpation der Magier — Tod des Kambyses' eng aneinander rücken. Wie wir schon hörten, erkennt der König auf dem Rückzug aus Ägypten den wahren Sinn des Traumes, nach den Worten des Autors mit Entsetzen. Zu gleicher Zeit erfüllt sich, wie ebenfalls schon gesagt, das Orakel, das Kambyses in Buto erhalten hat. Auch dieses Orakel ist nach einhelliger Ansicht der Forschung eine Erfindung Herodots. Das dritte Unheil bleibt nicht aus: Beim Besteigen des Pferdes verletzt sich der Großkönig an derselben Körperstelle, an der er den Apisstier getroffen hat. Auch in der Darstellung dieses bedeutungsvollen Zusammentreffens ist Herodots Handschrift kenntlich: Seit Walsers gut dokumentierter Untersuchung (vgl. Walser 12 ff.) steht es fest, daß die Erzählung Herodots von der tödlichen Verwundung des Kambyses historisch zuverlässig ist (anders, aber schwerlich richtig, Balcer 106). Der Geschichtsschreiber muß einen sachangemessenen persischen Bericht zur Verfügung gehabt haben. Daraus folgt: Nicht die Tötung des Apisstiers ist eine Erfindung Herodots (ägyptische Priester werden ihm von diesem Sakrileg erzählt haben), wohl aber die tödliche Verwundung des heiligen Tieres ausgerechnet am Schenkel durch Kambyses. Nun konnte der Autor den Religionsfrevel in eine durchsichtige Beziehung zum späteren Tode des Großkönigs setzen, ganz in Übereinstimmung mit seiner Teleologie (von der gleich die Rede sein soll). Es ergibt sich: Die oben aufgezählten Änderungen im Ablauf des Geschehens bilden die Grundlage von Herodots fesselnder Darstellung. So viel besagt Köhnkens sorgfaltige, im Vergleich mit dem Text der persischen Inschrift gefundene Analyse. Genügt es aber anzunehmen, Herodot habe sich von der Überlieferung nur deshalb gelöst, weil er so eine besonders wirkungsvolle Erzählung schaffen konnte? Man könnte sich vorstellen, daß er die offizielle Überlieferung auch ohne Veränderungen und Ergänzungen in packende Darstellung hätte verwandeln können. Schließlich verstand es Herodot, solcher Schwierigkeiten Herr zu werden. Der Grund für die auffalligen Eingriffe in die Mitteilungen der persischen Vorlage muß also tiefer liegen. Wenn man die teleologischen Überzeugungen des Autors beachtet, ist eine Erklärung nicht allzu schwierig. Mit der tödlichen Verwundung des sein, daß Prexaspes jederzeit treu dem Achaimenidenhaus diente (Herod. III 30. 63. 76)." Reinhardt (155) sagt, die Gestalt des Prexaspes, der durch den Freitod seine Lüge sühnt, sei möglich „in einer halbwegs noch heroisch empfindenden Zeit". Aber dieses Urteil berechtigt nicht dazu, die Aussage des Autors über das Ende des Prexaspes auf eine orientalische Vorlage zurückzuführen. Herodot selbst verfügte über genügend „heroisches Empfinden", um das Leben des Persers Prexaspes mit einem dramatischen Höhepunkt enden zu lassen.

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Apisstiers, eines göttlichen Symbols (nach ägyptischer Auffassung: eines Gottes) hat die Hybris des Kambyses das Maß des Erträglichen überschritten. Die Götter greifen ein. Sie künden in einem (dem Großkönig unverständlichen) Traume seinen Untergang an. Dieser Untergang war schon durch das Verhalten des Großkönigs vor dem Frevel am Apisstier beinahe verdient: Was Kambyses tat, war übereilt und dilettantisch, ja schmachvoll, oft frevelhaft. Herodot spart mit entsprechenden Hinweisen nicht. Selbst für die eigentliche militärische Leistung dieses Herrschers, für die Unterwerfung Ägyptens, hat er kein Wort der Anerkennung übrig. Jetzt nun, nach der tödlichen Verwundung des heiligen Stieres, setzt (wie die Ägypter dem Geschichtsschreiber versichern, seil. 3,30,1) die Geistesverwirrung des Königs ein, die bis zum Aufenthalt im syrischen Ekbatana und bis zur Aufklärung über den Aufstand in Persien anhält. In dieser Verblendung verkennt Kambyses den Sinn des schicksalschweren Traumes und begeht die Schandtaten, die wir bereits aufgezählt haben. Der Ausgleichsgedanke (das Prinzip von Schuld und Sühne) ist mithin auch in der Erzählung von Kambyses und dem falschen Smerdis der eigentliche Grund für Herodots souveränen Umgang mit der vorgefundenen Überlieferung. Auch hier verbirgt sich in seiner Stoffgestaltung ein historisches Urteil: die harte Kritik am Verhalten des Großkönigs Kambyses, den Herodot als verblendeten Tyrannen beschreibt 10 . Die Besonderheit der Kapitelfolge 3,30 — 68 besteht aber darüber hinaus in ihrem Ausklang: Kambyses erhält vor seinem Tode die rechte Besinnung wieder, er erkennt (ähnlich wie Kroisos) seine Fehler und bereut sein Vorgehen gegen den eigenen Bruder. Durch diese späte, aber nutzlose Einsicht wird er zur tragischen Gestalt und erweckt das Mitleid auch des nachgeborenen Betrachters. Es geht in unserem Abschnitt nicht nur um den für Herodot typischen „Schuld-Sühne-Mechanismus", der im Schicksal dieses unglücklichen Perserkönigs Gestalt annimmt und auf das wachsame Mitwirken der Gottheit deutet, sondern auch um das seelische Leiden des Betroffenen: Am Ende seines Lebens muß er einsehen, daß er den eigentlichen Sinn seines Herrscherberufs verfehlt hat 11 .

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Man vergleiche die Einschätzung des Königs durch die Perser (3,89,3): λέγουσι Πέρσαι ώξ Δαρείος μέν ήν κάττηλος, Καμβύσης δέ δεσπότης, ΚΟρος δέ π α τ ή ρ , ferner Walser 12: „Die Herausarbeitung des Schuld-Sühne-Motivs in der Kambysesgeschichte tritt so stark hervor, daß man gerne die Formung des Berichts nach überkommenen Angaben auf Herodot zurückführen möchte." Μ. E. kann daran kein Zweifel sein. Zur Tragik als Darstellungsmittel in Herodots Berichten vgl. Friedrich passim, bes. 360 — 365.

5. Novellen und Anekdoten über Dareios Dareios gehört zu den sieben Verschwörern, die heimlich beschließen, die Fremdherrschaft der Magier zu beseitigen. Er tritt in den Kreis der Verschwörer aber erst ein, als die übrigen sechs unter Führung des Otanes diesen Plan bereits gefaßt haben (3,70,3). Er macht sich dieses Vorhaben — offenbar improvisierend — sofort zu eigen: Sei er doch aus eben diesem Grunde nach Susa gekommen (3,71,2: ... και αύτοϋ τούτου εΐνεκεν ήκω σπουδή ώ$ συστήσων επί τ ω μάγω θάνατον), und fordert unverzügliche Verwirklichung. Den Vorschlag des Otanes, die Zahl der Mitwisser zu vergrößern, lehnt er entschieden ab, da sich dann die Möglichkeit einstelle, daß ein Beteiligter um schnöden Gewinnes willen Anzeige erstatte (vgl. 3,71,4: έξοίσει γ ά ρ τις προς τον μάγον ίδίη περιβαλλόμενος έωυτω κέρδεα). Die Überzeugung, daß der Mensch nur um des materiellen Gewinnes willen handle, ist (wie wir gleich sehen werden) für den herodoteischen Dareios bezeichnend. Dareios verleiht dann seinem Wunsche, sofort loszuschlagen, kräftigen Ausdruck: Wenn heute nichts geschehe, so läßt er wissen, werde er selbst den Plan der Verschwörung den Magiern bekanntgeben (3,71,5). Von Otanes befragt, wie man nach seiner Ansicht die Burgwachen passieren könne, läßt Dareios durchblicken, daß er diesbezügliche Bedenken für unbegründet hält. Er sagt zunächst (3,72,2): „Es gibt manches, was man in Worten nicht erklären kann, wohl aber durch die Tat; anderes ist in Worten möglich, aber keine leuchtende Tat geht daraus hervor." Das besagt: Die Notwendigkeit, den Palast zu betreten, wird auch die Möglichkeit dazu mit sich bringen. Dann führt er aus: Die Wachen würden vor dem Rang der Einlaß Begehrenden zurückschrecken. Außerdem habe er selbst einen vortrefflichen Vorwand (§ 3: σκήψιν εύπρεπεστάτην); denn er wolle sagen, er komme aus dem Perserlande (wo sein Vater Hystaspes Satrap ist) und müsse dem König eine Meldung überbringen. In Wahrheit hat er keine solche Botschaft bei sich. Es handelt sich also um eine Notlüge, deren Berechtigung von der Anerkennung der Verschwörung abhängig gemacht wird. Dieser Sachverhalt nun veranlaßt den Sprecher zu einer grundsätzlichen Erklärung, die sein ganzes Wesen offenbart (3,73,4 — 5): „Denn wo du eine Unwahrheit sagen mußt, sag sie; denn das Ziel ist das gleiche für beide, den Lügner und den, der die Wahrheit sagt: Die einen greifen dann zur Lüge, wenn sie damit überreden und einen Vorteil

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gewinnen wollen, die anderen aber sprechen die Wahrheit, um durch die Wahrheit einen Vorteil zu bekommen und die Leute eher für sich zu gewinnen. So verfahren wir zwar nicht gleich, haben aber das gleiche Ziel im Auge. Fiele aber diese Rücksicht fort, die Hoffnung auf Gewinn, dann würde, wer die Wahrheit spricht, ebenso gern lügen wie der, der lügt, aufrichtig sein" 1 . Niemand erwartet an dieser Stelle der Erzählung eine populärethische Belehrung darüber, daß der Zweck die Mittel heilige, wenn jemand, der glaubt, eine gute Sache zu betreiben, rasch zum Ziele kommen will. Außerdem wird, wer weiterliest, leicht feststellen, daß die von Dareios bereit gehaltene und empfohlene Lüge bei der Durchführung des Anschlags gar keine Rolle spielt (vgl. 3,77). Trotzdem legt Herodot diese Erklärung seinem Sprecher hier (in der Vorberatung 3,72,4) in den Mund, weil er ihn von vornherein als skrupellosen Rechner kennzeichnen will. Der Blick dieses Dareios ruht nur auf dem Erfolg (κέρδος), wie später vor allem in seinen politischen Maßnahmen zum Ausdruck kommen wird, bei denen es sich um Geldeinnahmen handelt. Der Leser erhält schon bald einen Beleg für diese nüchterne Art, den Vorteil der eigenen Herrschaft zu bedenken: Dareios verwandelt als neuer Großkönig das patriarchalische System, in dem die Untertanen ihre Verpflichtungen gegenüber dem K ö n i g durch Geschenke abgelten durften, in ein straff organisiertes Steuerwesen. Die Höhe der Abgaben liegt nun fest, und der geschuldete Betrag wird durch die Satrapen eingetrieben (3,89 — 96). Offenbar hat Herodot diese große organisatorische Leistung des historischen Dareios nur in Verbindung mit einem ganz nüchternen, egoistischen Erfolgsdenken verstehen können. Er läßt kaum eine Gelegenheit vorübergehen, bei der er auf den Krämergeist des Königs (vgl. 3,89,3) hinweisen kann. Er rühmt ihm zwar forsche Tatkraft nach, die sich gerade während des Anschlags auf die Magier (vgl. 3,77 — 79) glänzend bewährt. Aber dieses mannhafte Verhalten erhält durch die mit ihm verbundene Skrupellosigkeit einen schlechten Beigeschmack. Das Schlimmste ist freilich noch nicht gesagt. Wenn Dareios im Kreise der Mitverschwörer die L ü g e anerkennt und für ebenso statthaft hält wie die Wahrheit, entfernt er sich bewußt von einem ererbten Grundsatz der Perser, die nichts für schimpflicher hielten als die Unwahrheit, vgl. 1,138,1: αΐσχιστον δε αύτοΐσι τό ψεύδεσθαι. Die schockierende Erklärung, daß

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"Ενθα γάρ τι δεΤ ψευδός λέγεσθαι, λεγέσθω - του γ ά ρ αύτοΰ γλιχόμεθα οί τε ψευδόμενοι και oi Tfj άληθείη διαχρώμενοι. οϊ μεν γε ψεύδονται τότε, έπεάν τι μέλλωσι τοΐσι ψεύδεσι πείσαντες κερδήσεσθαι, οϊ δ' άληθίζονται, ίνα τι τ η άληθείη εττισττάσωνται κέρδος καί Tis μάλλον σφι έττιτράττηται. ούτω ού ταΰτά άσκέοντες τώυτοϋ ττεριεχόμεθα. εί δέ μηδέν κερδήσεσθαι μέλλοιεν, όμοίως αν δ τε άληθιζόμενος ψευδής εΐη και ό ψευδόμενος αληθής. Vgl. dazu Balcer 46 f., auch Benardete 84, Evans 57 und 60, vor allem Flory 130.

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man, um sein Ziel zu erreichen, Unwahres mit derselben Berechtigung sagen dürfe wie Wahres, wird ausgerechnet von dem Manne abgegeben, der in entscheidender Stunde darauf besteht, daß die althergebrachten Bräuche nicht geändert werden dürfen (3,82,5): εχω τοίνυν γ ν ώ μ η ν ... πατρίους νόμους μή λύειν. Schwerlich hat Herodot gewünscht, daß so auffallige Diskrepanzen zwischen Sprechen und Handeln eines führenden Mannes unbeachtet bleiben sollen. Dem erfolgreichen Attentat folgt die bekannte Debatte über eine mögliche Neuordnung der Verfassung (3,80 —82)2. Bis dahin hat sich Dareios als Mann der Tat bewährt, jetzt setzt er sich in der theoretischen Erörterung durch. Allerdings erschwert man sich das Verständnis der drei Kapitel, wenn man in ihnen den Aufriß der drei klassischen Verfassungen oder gar deren Kreislauf sucht. Alles läuft darauf hinaus, daß Dareios mit seiner entschiedenen Befürwortung der jetzigen Ordnung die Bedenken seiner beiden Vorredner widerlegt. Herodot erreicht dieses Ziel mit folgendem Gedankengang: Ausgangspunkt der Überlegungen, die er den vornehmen Persern in den Mund legt, ist die Hybris des Kambyses. Otanes erinnert an sie und behauptet verallgemeinernd, Hybris befalle jeden Alleinherrscher, außerdem unterliege er der Mißgunst (dem φθόνος) wie jeder Mensch. Die aus beiden Übeln entstehenden Schäden ließen sich aber durch Gleichheit vor dem Gesetz (ίσονομίη) vermeiden, wie sie allein der Demokratie eigen ist 3 . — Gegen Otanes wendet Megabyxos ein: Von Hybris werde auch die Volksmenge beherrscht. Das Volk sei sogar gänzlich unberechenbar, ja es gleiche einem reißenden Gebirgsbach. Deshalb empfiehlt dieser zweite Sprecher die Herrschaft weniger besonnener Männer (d. h. die Oligarchie). — Dareios knüpft an diese Darlegungen an und behauptet folgendes (3,82,3 — 4):,Unter den tugendhaften Regierungsmitgliedern der Oligarchie entstehen heftige Feindschaften, daraus innere Kämpfe, sogar Morde, bis ein Einzelner sich durchsetzt. In der Demokratie aber (vgl. § 5) rotten sich die Bösewichte zusammen und gefährden den Staat, bis ein Retter die Ordnung wiederherstellt.' Beide genannten Staatsformen laufen mithin auf die Monarchie hinaus und beweisen damit deren Vorrang. Dareios schreibt ihr freilich nur zwei Vorteile ausdrücklich zu (§ 2, am Anfang seiner Rede): ,Der beste Mann wird in tadelsfreier Weise für die Menge des Volkes sorgen, und unter seiner Regierung werden die Staatsgeheimnisse am 2

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W i r berühren die viel diskutierte Debatte in diesem Zusammenhang nur im Hinblick auf Plan und Verhalten des Dareios. Dafür beachtenswert Benardete 87 („Darius, then, destroys the basis on which the conspirators had acted"), besonders wichtig Flory 130 ff.; doch siehe auch Hampl 256 f. (mit älterer Lit.) und Verf., Ausgewählte Schriften zur Klass. Philologie, Berlin 1979, 1 6 9 - 1 7 3 . Über den Begriff der Isonomie vgl. die Beobachtungen von J. Bleicken, Historia 28, 1979, 164.

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besten gewahrt sein.' — Dareios schließt (§ 5) mit einem historischen Argument: ,Die Monarchie hat uns die Freiheit im Kampf mit den Medern gebracht. Deshalb liegt kein Grund vor, die ererbten Gesetze zu ändern.' Man spürt zwar, daß Herodot sophistische Verfassungsdebatten kannte. Vor allem wird er sein Wissen über die Sonderstellung der drei genannten Staatsformen von dort bezogen haben. Was er aber wiederzugeben behauptet, ist nicht ein Beitrag zur politischen Theorie. Er rekonstruiert die Überlegungen, die seiner Meinung nach auf den Machtmißbrauch des Kambyses hin angestellt worden sind. Dabei beachtet er die von ihm selbst geschaffene („historische") Situation genau: Sein Dareios erkennt, daß nur die Monarchie, d. h. die von Kyros verwirklichte Regierungsform, der Lage, wie sie sich durch Ermordung der Magier ergeben hat, angemessen und nützlich ist. Herodot sagt also nicht mehr als das: Die Perser waren sich nach dem Sturz der Magier der staatsrechtlichen Möglichkeiten bewußt (was vermutlich übertrieben ist), sie hatten aber gute Gründe, solche Chancen ungenutzt zu lassen. Und es ist das Verdienst des realistisch denkenden Dareios, daß man derartigen Versuchungen widerstand. Der Geschichtsschreiber macht deutlich (3,80,1), daß man damals in Persien über die Zweckmäßigkeit der Staatsformen nachgedacht und debattiert habe. Er scheint das aus den Vorrechten erschlossen zu haben, die er an den Nachkommen des Otanes beobachten konnte (vgl. 3,83,3), vielleicht auch aus der Verpflichtung des Großkönigs, seine rechtmäßige Gemahlin aus den Familien der sieben Verschwörer zu wählen (vgl. 3,84,2) 4 .

Der Satz, mit dem die besprochene, in vieler Hinsicht fesselnde Kapitelfolge 3,70 — 84 schließt, hat nun freilich Seltsames zum Inhalt (3,84,2): „Über die Königswürde aber faßten sie folgenden Beschluß: Sie wollten sich in der Vorstadt zu Pferde setzen, und wessen Pferd zuerst wiehern würde beim Aufgang der Sonne, der solle sie haben" 5 . Weshalb wird nun die Entscheidung von einem scheinbar unberechenbaren Zufall abhängig gemacht? Was soll geschehen, wenn kein Pferd wiehert oder gar mehrere zugleich? Man sollte meinen, Dareios müsse protestieren: Er hat bisher die größte Tatkraft gezeigt, und er strebt als Achaimenide (!) offensichtlich 4

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Herodot benutzt das Vorgehen des Mardonios in Ionien (i. J. 492, vgl. 6,43,3) als Beweis für die Richtigkeit seiner Darstellung in 3,80 — 82 — mit eingeschränktem Erfolg, wie ich meine; denn die Voraussetzungen sind in beiden Fällen verschieden. Vermutlich hat ihm das Verhalten des Mardonios den Gedanken eingegeben, die Perser nach dem Sturz der Magier über Regierungsformen debattieren zu lassen. Περί δε τη? βασιληΤης έβούλευσαν τοιόνδε - ότευ άν ό ΐτπτος ή λ ι ο υ ετταυατείλαντος •πρώτος φθέγξηται έν τ φ ττροαστίω α ϋ τ ώ ν έττιβεβηκότων, τ ο ύ τ ο ν εχειν τ η ν βασιληΐην. Man vergleiche auch Aisch. Pers. 779 (Dareios spricht: κάγώ' π ά λ ο υ δ' εκυρσα τούττερ ήθελον). Balcer (40) meint, Aischylos habe die Geschichte von Oibares gekannt, in der eine alte Indo-Iranische Volkserzählung nachklinge (siehe Balcer 38), und sie in den Akt des Losens verwandelt. Näher liegt m. E. die Möglichkeit, daß sich Herodot durch den Vers des Dichters ermutigt fühlte, jenes Motiv zur Oibaresgeschichte auszubauen.

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dem hohen Amte zu. Außerdem weiß der Leser (wie natürlich Dareios selbst auch) daß ihm, dem Sohn des Hystaspes, durch den Königstraum des Kyros (seil. 1,209,1) der Besitz des Thrones längst zugesagt worden ist. Trotzdem schweigt Dareios gerade jetzt und beteiligt sich am Glücksspiel. Was hat Herodot mit dieser Schilderung beabsichtigt? Zunächst der Inhalt der nun folgenden Geschichte! Dareios beauftragt seinen Reitknecht Oibares, dafür zu sorgen, daß der Hengst des Herrn am nächsten Morgen als erster wiehert. Oibares läßt daraufhin das Pferd während der Nacht vor der Stadt eine Stute bespringen, und als die Reiter am nächsten Morgen an dieser Stelle vorbeikommen, erinnert sich der Hengst der Stute und gibt seiner Freude laut wiehernd Ausdruck. Zu gleicher Zeit erscheinen Blitz und Donner am wolkenlosen Himmel — die göttliche Weihe des neuen Herrschers —, die Mitbewerber aber springen von den Pferden und führen die Proskynese aus 6 . Köhnken 7 hat nachgewiesen, daß die Erzählung vom Stallknecht Oibares keine Vasallengeschichte ist, wie K. Reinhardt annahm, sondern eine Erfindung Herodots. Das geht nicht zuletzt aus der ,Sphragis' hervor, aus der Erwähnung einer fiktiven Inschrift auf einem fingierten Reliefbild, das Dareios angeblich nach seiner Wahl zum König errichten ließ (3,88,4): „Da ließ er nun zuerst einmal ein Relief aus Stein fertigen und stellte es auf; darauf war abgebildet ein Mann zu Pferd, und dazu schrieb er eine Inschrift, die besagte: ,Dareios, der Sohn des Hystaspes, erwarb, im Verein mit dem Verdienst seines Pferdes — nun kam der Name — und seines Pferdeknechts Oibares die Königswürde der Perser'" 8 . Wie Köhnken nachgewiesen hat (a. O. [s. Anm. 7] 132 ff.), bleiben bildliche Darstellung und Inschrift ohne orientalische Parallele. Besonders die Inschrift widerspricht den persischen Vorstellungen von Würde und Unnahbarkeit des Großkönigs. Der ganze Passus über Relief und Inschrift ist also eine Fiktion Herodots, der damit die scheinbare Bestätigung seines ganzen Berichtes über Oibares geben wollte. Man sollte dieses erdachte Monument mit dem Standbild des Arion auf dem Vorgebirge Tainaron (1,24,8, einem ανάθημα χάλκεον) vergleichen und nach ihm beurteilen. Dieser Statue ist eine ähnliche Funktion zugedacht (vgl. unten S. 155). Die Erzählung von Oibares hat auch eine Variante (3,87); denn die Perser berichten sie angeblich in doppelter Gestalt (§ 1: και γ ά ρ εττ' άμφότερα λέγεται ύττό Περσέων). Oibares habe, so sagt man, die Ge-

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3,86,2: ά μ α δέ τ ώ nrrrcp τ ο ϋ τ ο τ τ ο ι ή σ α ν τ ι ά σ τ ρ α τ τ ή έξ αϊθρίης και β ρ ο ν τ ή έγένετο. επιγενόμενα δέ τ α ύ τ α τ ω Δ α ρ ε ί ω έτελέωσέ μιν ώσττερ έκ σ υ ν θ έ τ ο υ τ ε υ γενόμενα, οί δέ κ α τ α θ ο ρ ό ν τ ε ς τ ω ν ΐ τ π τ ω ν ττροσεκύνεον τ ο ν Δαρεΐον. Rhein. Mus. 133, 1990, 1 1 5 - 1 3 7 ; vgl. dazu Flory 70 f. Marg übersetzt statt „seines Pferdeknechts" vielmehr „seines Stallmeisters". Daß das aber nicht der gemeinten Sache entspricht, hat Köhnken (s. vor. Anm.) 126 f. gezeigt.

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schlechtsteile der Stute berührt, seine Hand in seinen Beinkleidern verborgen und sie im entscheidenden Augenblick unter die Nüstern des Hengstes gehalten. Der wurde durch den Geruch zum Wiehern veranlaßt 9 . Köhnken (a. O. [s. Anm. 7] 129) bezeichnet diese Fassung als „Scheinvariante", mit der Herodot versucht habe, die komische Wirkung seiner Darstellung („die Diskrepanz zwischen dem bedeutungsvollen Ton und der gewichtigen Quellenangabe einerseits und der inhaltlichen Geringfügigkeit des Berichteten andererseits") zu erhöhen. Dieses Bestreben mag mitgespielt haben. Man sollte aber nicht übersehen, daß das, was Oibares in beiden Gestalten des Berichtes tut, offenbar ein Hinweis auf zwei erprobte Mittel sein soll, einen Hengst zum Wiehern zu bringen. Herodot durfte voraussetzen, daß sein Leser die Pferdeliebhaberei der Perser kannte, die auch über jene Besonderheit Bescheid wissen mußten und deshalb die Rolle der Gewährsmänner übernehmen konnten. Weshalb aber, so lautet unsere zentrale Frage bei Betrachtung der Oibaresgeschichte, verbindet Herodot die Bedingung des Wieherns und die List des pfiffigen Stallknechts mit dem feierlichen Augenblick der Königswahl, an der sogar die Götter mitwirken? Köhnken (a. O. 131) ordnet die Erzählung von Oibares nicht zu Unrecht den Schelmengeschichten zu, deren sich manche bei Herodot finden. Dann aber sagt der Interpret: „Solche Erzählungen sind anscheinend weniger charakteristisch für die Personen und Regionen, von denen Herodot erzählt, als für ihn selber." Jedoch damit ist der Sinn herodoteischer Darstellungsweise nicht getroffen. Die genannte Auffassung stimmt ζ. B. (wie an anderer Stelle gezeigt worden ist 10 ) für das Bild nicht, das der Autor von König Amasis zeichnet, und befriedigt auch in unserem Falle — bei der Vereinigung so verschiedener Elemente — kaum. Soll man wirklich glauben, Herodot habe auf historische Gewissenhaftigkeit verzichtet, um einen so feierlichen Akt wie die persische Königswahl mit einem „kuriosen Einfall" (Köhnken a. O. 131) auszustatten? Dann müßte der historische Vorgang nur aus Vorliebe für den literarischen Effekt verändert worden sein; denn daß der Agon der Thronanwärter vor dem Stadttor nur erfunden ist, um die Erzählung von Oibares zu ermöglichen, bedarf keines Beweises. Die Beschränkung auf die formale Wirkung des Textes enthält keinen Weg zum rechten Verständnis. Die Frage des historisch interessierten Lesers lautet nunmehr: Was sagt die Geschichte vom listigen Oibares über die Hauptperson, den zukünftigen König Dareios, aus? Es überrascht 9

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Man sollte wohl in dem Kolon ώς δε ... άττίεσθαι μέλλειν τούξ ΐτπτους, τ ο ν Οίβάρεα τ ο ϋ τ ο ν εξείραντα τ η ν χείρα ... προσενεΐκαι statt τοΟτον mit J. Ε. Powell (CI. Quart. 29, 1935, 154) τ α ύ τ η υ lesen. Auf die Hand, die den Geruch ausstrahlt, kommt es ja an. Vgl. Verf., Fiktion und Wahrheit im Werke Herodots, in: Nachr. Akad. Göttingen 1991,4 (Göttingen 1991), 145 f.

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nicht festzustellen, daß ihr dasselbe Charakterbild zugrundeliegt, das wir oben schon kennengelernt haben: Dareios, der die Lüge nicht scheut, wenn es um Erfolg und Gewinn geht, macht sich auch den primitiven Trick seines Reitknechts zunutze 11 . Und das Schlimmste: Die Götter segnen den glücklichen Ausgang solcher Mogelei! Herodots amüsante Erzählung, ganz meisterhaft mit dem grandiosen Placet des Himmels verbunden, präsentiert ein historisches Urteil und gleichzeitig harte Kritik: Was soll man von einem Herrscher halten, der mit solchen Mitteln zur Macht aufsteigt? Der „kuriose Einfall" ist also doch Ausdruck historischer Gewissenhaftigkeit, d. h. sorgfältiger Beobachtung alles dessen, was Herodot über Dareios erfahren hat. Unsere weitere Betrachtung wird neue Belege für diese unsere Interpretation bringen. Wir können aus den angedeuteten Gründen Nicolais Beurteilung der Oibaresgeschichte nicht voll zustimmen. Nicolai sagt (36): „... die Gerissenheit, mit der Dareios den Stallmeister (sprich: Stallknecht) das Gottesurteil der Königswahl zu seinen Gunsten manipulieren läßt (3,85), mindert seine Qualität in Herodots Augen nicht, sondern erhöht sie eher." Bei dieser Deutung wird vorausgesetzt, daß der Autor das Ganze, so wie er es aufgezeichnet hat, in der Tradition vorfand — was sehr zweifelhaft ist. Jedoch auch dann bleibt die Exegese befremdend; denn der bewundernswerte Teil der Tat gehört ganz dem Stallknecht, Dareios aber macht sich den Erfolg zu eigen, obwohl er weiß, daß er durch unlauteren Wettbewerb zustandegekommen ist. Und darauf, auf den Sieg der Unaufrichtigkeit und Niedertracht, kommt es in Herodots Erzählung ja an. Beim Meisterdieb des Königs Rhampsinit ist derartiges eindrucksvoll, beim zukünftigen Großkönig des Perserreiches auch in Herodots Augen wohl kaum.

Für die Gewinnsucht des Dareios finden sich wenigstens drei bemerkenswerte Beispiele: 1. Das wichtigste steht im fünften Buch (12—14). Nach der Rückkehr aus dem Skythenlande verpflanzt der Großkönig einen Teil der thrakischen Paionen nach Kleinasien. Die echten Gründe dieser Maßnahme sind nicht überliefert (sie mögen machtpolitischer Natur gewesen sein) 12 . Herodot erklärt den Vorgang folgendermaßen (5,12—13): Zwei Brüder, Pigres und Mastyes, möchten Tyrannen ihrer Landsleute, der Paionen, werden. Sie reisen nach Sardes, wo Dareios vor dem Stadttor öffentlich Recht spricht. Um die Aufmerksamkeit des Königs auf sich und ihr Anliegen zu lenken, schmücken sie ihre Schwester, so gut es geht, lassen sie einen Wasserkrug auf dem Kopf tragen, ein Pferd führen und gleichzeitig Flachs spinnen. So ausgerüstet muß sie an Dareios vorüber zum Fluß gehen. Der Großkönig bemerkt sie staunend und schickt ihr Späher nach, die beobachten " Waters (1985) 145 hat den Geist unserer Geschichte richtig empfunden: „... a purely derogatory piece of scandal". 12 Vgl. Hart 118: „Darius' motive here can only be guessed at; perhaps it was a carefully calculated demonstration of Persian power, designed to impress the yet unconquered tribes on the western edges of the empire."

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sollen, was sie weiterhin tut. Diese berichten ihm dann, daß die Frau Wasser schöpfte, das Pferd tränkte und unablässig spann. Nun läßt Dareios sie holen und erfahrt von den Brüdern, die sich auch einstellen, daß bei den Paionen alle Frauen so tüchtig seien. Daraufhin ordnet der König die Unterwerfung und Umsiedlung dieses besonderen Volkes an. Die Geschichte ist in wohl allen Einzelheiten zur Erklärung eines den Griechen unverständlichen historischen Vorgangs erfunden. Gleichzeitig aber bietet sie eine bezeichnende Gesamtaussage über den „Krämerkönig" Dareios, die mit Herodots bekanntem Urteil im Einklang steht. Als sparsamer Verwalter des Staatshaushalts greift Dareios zu, wo er die Möglichkeit von Mehreinnahmen oder, wie hier, von Verbilligungen erspäht. Von einem so fleißigen Volke, wie es die Paionen sind, deren Frauen dreifache Arbeit leisten, verspricht er sich große wirtschaftliche Vorteile. In der Form einer gefälligen Erzählung hält der Autor zwei historische Sachverhalte fest: die Umsiedlung der Paionen und einen wesentlichen Charakterzug des Dareios. Diese Doppelfunktion ist m. E. ein sicheres Zeichen dafür, daß das ganze Textstück in der jetzigen Form von Herodot stammt. Wieder einmal bietet er das Ergebnis seiner Erkundung unter Vermeidung trockener begrifflicher Fixierung als erzählbaren, ja überraschenden Bericht. 2. In Kap. 1,187 sagt Herodot, Dareios habe das Grab der babylonischen Königin Nitokris öffnen lassen. Die Grabanlage befand sich im Obergeschoß eines Stadttors von Babylon. In einer Inschrift forderte die Verstorbene ihren Nachfolger, falls er in Geldnot sei, zur Öffnung des Grabes auf: Er werde viel Geld finden. Dareios läßt die Ruhestätte der Königin erbrechen, findet aber kein Geld vor, sondern nur eine zweite Inschrift, die besagt (§ 5): „Wärest du nicht unersättlich im Geld und widerwärtig aus auf Gewinn, du würdest der Toten Gräber nicht öffnen." Auch hier wird der herodoteische Dareios vortrefflich charakterisiert. Herodot gibt außerdem an (§ 3 — 4), es sei dem Dareios unerträglich gewesen, dieses Stadttor nicht zu benutzen, da er ja bei der Durchfahrt den Leichnam über dem Kopfe gehabt hätte (das vertrug sich nicht mit seinem iranischen Glauben). Es befremdet allerdings zu hören, daß erst Dareios dieses Bedenken gehabt haben sollte. Weshalb nicht schon Kyros nach der ersten Eroberung der Stadt? Die Grabanlage müßte, wenn sie wirklich bestand, eigentlich von diesem König eröffnet und beseitigt, die Anekdote aber über ihn erzählt worden sein. Wurde sie erst später auf Dareios übertragen? Es ist wahrscheinlicher anzunehmen, daß sie erfunden worden ist, um das Temperament des Dareios zu kennzeichnen, und Herodot hat allem Anschein nach mehr Anspruch auf die Urheberschaft als babylonische Priester, die man für ihre Verfasser gehalten hat. Der Geschichtsschreiber nimmt die soeben angedeuteten unwahrscheinlichen Voraussetzungen in Kauf,

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weil das, was er glaubt, ermittelt zu haben, durch die Pointe der Erzählung vortrefflich zum Vorschein kommt 13 . 3. Herodot erwähnt (1,183) nach Beschreibung des eigentlichen BaalHeiligtums von Babylon (1,181,2 — 182: der Turm von Babel) einen tiefer liegenden Tempel, der durch besonderen Goldreichtum ausgezeichnet ist. Zuletzt spricht er von einer Statue, die seit Xerxes' Zeiten nicht mehr vorhanden ist (1,183,3): „Es war da aber in diesem heiligen Bezirk zu Kyros' Zeit auch noch ein Standbild, zwölf Ellen hoch und ganz aus massivem Gold. Ich selbst habe es nicht gesehen und gebe nur wieder, was die Chaldäer erzählen. Auf dieses Standbild hatte es Dareios, Hystaspes' Sohn, abgesehen, doch getraute er sich nicht, es zu nehmen" 14 . Xerxes aber, so etwa heißt es weiter, griff zu und tötete den Priester, der einschreiten wollte. Vermutlich stehen hinter diesen Andeutungen der Chaldaier Nachrichten über Unruhen in Babylon (um 485) 1 5 , in deren Verlauf die genannte Statue auf Befehl des Perserkönigs entfernt worden ist. Es fallt aber auf, daß in dem von Herodot wiedergegebenen Bericht dem Dareios der Wunsch zugeschrieben wird, eben dieses goldene Standbild einschmelzen zu lassen. Die Vorstellung, er habe es nicht gewagt, das zu tun, ist freilich naiv. Sie zeigt lediglich, daß man seine Geldgier kannte und sie auch dort als Motiv erwähnte, wo ganz andere Gründe den Ausschlag gegeben haben. Herodot hält an unserer Stelle sein Urteil zurück, aber er widerspricht der Bemerkung seiner Gewährsmänner auch nicht, sondern überläßt es seinen Lesern, das Gutachten der Chaldaier mit seinem eigenen Urteil über Dareios zu vergleichen. Mit den kriegerischen Leistungen des Dareios ist nach Herodots Vorstellungen nicht viel Staat zu machen. Zunächst muß sich der junge König von seiner Gemahlin Atossa im Schlafgemach (3,134,1: εν ττ) κοίτη) zu entsprechenden Taten aufrufen lassen (§ 2): „Mein König, so groß ist deine Macht, und du sitzt still und erwirbst den Persern kein Volk dazu und keine neue Macht . . . " Ein jugendlicher König, so meint die Sprecherin, der über große Mittel verfügt, müsse etwas Besonderes leisten, damit die Perser erfahren, daß sie von einem Manne beherrscht werden. Ein mit Tatkraft angefaßtes Unternehmen bringe doppelten Vorteil: Die Perser würden die Bedeutung ihres Königs kennenlernen und außerdem in nützlicher Weise beschäftigt sein (§ 2: και ίνα τρίβωυται πολεμώ μηδέ σχολήν 13 14

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Über weitere Einzelheiten vgl. Verf. a. Ο. (ob. Anm. 10), 143 f. 1,183,3: ... τούτω τ φ άνδριάντι Δαρείος μεν ό Ύστάσπεος έτπβουλεύσας ούκ έτόλμησε λαβείν. Vgl. Ed. Meyer, G. d. Α. I V 1, Stuttgart 1944, 122 (wo unsere Stelle behandelt ist), siehe auch How and Wells z. St. (I p. 143).

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άγοντες έτπβουλεύωσί τοι). Dareios macht nun seine Gemahlin darauf aufmerksam, daß er einen Rachezug gegen die Skythen vorbereite, aber Atossa, die im Interesse und Auftrag des Hofarztes Demokedes spricht, wünscht sich griechische Sklavinnen und fordert den König auf, eine Erkundungsfahrt nach Griechenland anzuordnen. Demokedes, der aus Kroton stammt, könne dabei gute Dienste tun. Dareios willigt ein. Die Fahrt der Spione verläuft freilich nicht nach Wunsch. Man gelangt zwar bis nach Unteritalien, wobei man alles Bemerkenswerte aufschreiben kann, aber die Perser werden in Tarent zeitweilig arretiert (vgl. 3,136,2. 137,5), während Demokedes entkommt. Herodot hat diese Erkundungsfahrt nicht ohne überlegenen Spott beschrieben. Man hat den Eindruck eines ironischen Berichtes. Der entsteht nicht zuletzt durch die bürgerlich-triviale Eingangsszene des ehelichen Zwiegesprächs, die sicher von Herodot erfunden worden ist (Vorbild vielleicht die in 7,3,4 erwähnte Tatsache). Ähnliches gilt nun aber auch für die Darstellung des Feldzugs gegen die Skythen. Der Geschichtsschreiber hat gerade ihn durch die breit ausgeführte (übrigens wohlgegliederte) Beschreibung des Riesenlandes sehr sorgfältig vorbereitet. Er läßt den König mit dem Perserheer bis ins Land der Budinen gelangen, dann nach Durchquerung der nördlichen Einöde bis zum Fluß Oaros (im Norden der Maiotis). Die Skythen ziehen immer voran, ohne daß der Feind sie erreichen könnte. Vom Oaros wendet sich der Perser, den Skythen nachfolgend, nach Westen. Die Skythen locken ihn nun ins Gebiet ihrer nördlichen Nachbarn, die ihnen die erbetene Hilfe gegen den anrückenden Feind versagt haben. Erst die Agathyrsen, der vierte dieser Stämme, verbieten den Einmarsch in ihre Wohnsitze, so daß die beiden einander feindlichen Heere nun ins eigentliche Skythenland gelangen (4,125,2 — 6). Man weiß längst, daß die Perser in Wahrheit nie so weit ins Innere Südrußlands vorgedrungen sind. Herodots Darstellung des riesigen Marsches ist nichts anderes als Umsetzung von Landesbeschreibung in Erzählung. Über die wirklichen Feldzüge der Perser an der Nordgrenze des Reiches während Dareios' Regierungszeit besteht seit kurzem größere Klarheit, vgl. die aufschlußreiche Abhandlung von Gardiner-Garden, bes. 330 ff. Von den drei inschriftlich bezeugten Eroberungszügen sind zwei von größerer Bedeutung, der gegen die Agathyrsen in Transsylvanien und der gegen die Budinen in der Gegend nördlich des Kaukasus. Jener Angriff wurde vom Großkönig geleitet und mag der Sicherung der Neuerwerbungen in Thrakien gegolten haben, dieser stand unter Führung eines Satrapen und diente der Abschirmung der persischen Nordgrenze am Kaukasus. Herodot oder seine Gewährsmänner faßten beide historischen Ereignisse zu dem einen erfolglosen Angriff gegen das ganze Skythenland zusammen. Manches spricht dafür, daß dieses ganze Arrangement von unserem Autor geschaffen wurde. Jedoch beweisen läßt sich das nicht,

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und seine Angaben über die Gründe und Ergebnisse dieses mit Phantasie ausgeschmückten Krieges zeigen, daß er von den wahren Ereignissen nur vage Vorstellungen hatte. Viel davon ist ihm durch Tymnes (vgl. 4,76,6) vermittelt worden, der nach Gardiner-Garden (348 f.) sein wichtigster Informant über die Vorgänge in Skythien gewesen ist. Doch zurück in den herodoteischen Zusammenhang! Der Geschichtsschreiber schildert den Abbruch der persischen Unternehmung, auf deren Beschreibung es uns hier besonders ankommt, auf eine eigenartige, aber sehr bezeichnende Weise. Die skythischen Reiter belästigen das Perserheer immer heftiger, so daß Dareios in Verlegenheit gerät (4,131,1). Schließlich senden die Häuptlinge der Skythenstämme einen Herold an den Perserkönig. Dieser Mann überreicht, ohne sich eine Erklärung entlocken zu lassen, folgende Geschenke: einen Vogel, eine Maus, einen Frosch und fünf Pfeile. Dareios selbst meint, die Skythen wollten sich nunmehr der persischen Macht aushändigen, indem sie Erde und Wasser überreichen; denn die Maus lebe in der Erde und der Frosch im Wasser; der Vogel verkörpere das schnelle Pferd und die Pfeile die Wehrkraft der Skythen, die mit solchen Symbolen ihre völlige Kapitulation anzeigten. Der erfahrene Gobryas aber, ehedem ein Mitverschwörer des Dareios im Aufstand gegen den falschen Smerdis, widerspricht. Seine Deutung lautet (4,132,3): „Wenn ihr nicht Vögel werdet und auffliegt zum Himmel oder Mäuse und euch in der Erde verkriecht, ihr Perser, oder Frösche und hineinspringt in die Seen, werdet ihr, von diesen Geschossen getroffen, nicht wieder heimkehren." Kurz danach scheint sich allerdings Gelegenheit zu einer Entscheidungsschlacht zu bieten. Auch die Skythen stellen sich zur Zufriedenheit der Perser in entsprechender Ordnung auf. Jedoch kaum ist das geschehen, da springt ein Hase zwischen ihre Reihen, und sie kümmern sich nun nicht mehr um den nahen Feind, sondern machen in großer Sorglosigkeit J a g d auf das Tier. Als Dareios den Grund dieses Lärmes erfährt, sagt er (4,134,2): „Diese Leute nehmen uns gar nicht ernst, und jetzt ist mir klar, daß Gobryas recht gehabt hat mit den Gaben der Skythen. D a auch ich sie nun verstehe, tut guter Rat not, wie wir, ohne zu straucheln, wieder herauskommen." Auch Gobryas versichert, daß die Skythen ihr Spiel mit den Persern treiben (4,134,2): ... όρων αυτούς εμπαίζοντας ήμΐν. Beide Anekdoten sind höchstwahrscheinlich von Herodot erfunden worden. Aber auch als Fiktionen sind sie bedeutsam und aussagekräftig. Die Geschenke der Skythen sind so ausgewählt, daß sie beides, die falsche und die richtige Lösung des Rätsels, gestatten. Gerade Dareios, der Urheber des ganzen Feldzugs, erkennt den Sinn der Warnung und damit die Erfolglosigkeit des unbedachten Unternehmens nicht. Erst als ihm beim Anblick der Hasenjagd die Selbstsicherheit und der Spott der Feinde deutlich werden, entschließt er sich zur Rückkehr. Vor allem in der zweiten

5. Novellen und Anekdoten über Dareios

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Anekdote wird dem Leser der Einblick in die tatsächliche Lage des persischen Heeres ermöglicht: Als die langersehnte Feldschlacht bevorsteht, beginnt auf skythischer Seite plötzlich die Jagd auf den Hasen. Die Perser aber greifen jetzt nicht etwa an (wie man erwarten möchte), sondern sie entschließen sich zum eiligen Rückzug. Beide Erzählungen sagen etwas sehr Wahres aus: Die erste deutet auf die verhängnisvollen Irrtümer des Dareios, der aus Unkenntnis der geographischen Verhältnisse und leichtsinniger Unterschätzung des Gegners einen gefahrlichen Eroberungskrieg begonnen hat, die zweite symbolisiert in dramatischer Weise die Sinnlosigkeit des Feldzugs, der sich gegen einen unauffindbaren Feind richtet. Fragt man sich nun, wer dem Autor diese Geschichten berichtet haben könnte, dann läßt sich nur antworten: ein Kenner der Vorgänge, soweit sie sich in Erfahrung bringen ließen; denn beide Anekdoten haben einen zuverlässigen historischen Kern, der das Wesen des Geschehens und die Eigenart der Handelnden zu erkennen gibt. Die Vermutung, die wir eben bereits angedeutet haben, drängt sich auf, daß Herodot selbst sein historisches Urteil in ihnen wiedergegeben hat 16 . Dareios bedient sich auch der Kriegslist, die schon Kyros gegenüber den Massageten angewendet hat (vgl. 4,134,3 — 4,135 mit 1,207,6 — 7). Dem Kyros wird sie von Kroisos empfohlen, dem Dareios von Gobryas: Bei Einbruch der Dunkelheit ziehen sich die persischen Kräfte in Eile zurück, wobei der schwächere Teil des Heeres, besonders Kranke und Verwundete, bei Wachtfeuern zurückgelassen werden. Der Gegner glaubt nun, die persischen Truppen lägen ihm noch in voller Stärke gegenüber (in Skythien wird dieser Eindruck durch die unablässig schreienden Esel verstärkt), erkennt den wahren Sachverhalt erst am folgenden Morgen und wird nun der Zurückgebliebenen leicht Herr. Die Ziele jedoch, die in beiden Fällen verfolgt werden, sind verschieden. Das Heer des Kyros kehrt nach geraumer Zeit an den alten Lagerplatz zurück und richtet unter den Massageten, die sich nach dem leichten Sieg über Hilflose an Speisen und Wein gelabt haben und jetzt in tiefem Schlafe liegen, ein großes Blutvergießen an. Sie schaden also dem Feind erheblich (der Sohn der Königin Tomyris wird gefangen genommen), wenn auch auf schmachvolle Weise und nur für kurze Zeit. Dareios aber will nur eine Frist für den ruhmlosen Rückzug gewinnen und die Istrosbrücke vor den verfolgenden Skythen erreichen. Da er freilich die Wege nicht kennt, gelingt ihm nicht einmal das. Das persische Heer wird nur gerettet, weil die Skythen es verfehlen (vgl. 4,136,2). Man hat den Eindruck, daß die unehrenhafte Kriegslist den Persern kaum einen größeren Nutzen gebracht hat. 16

Vgl. unsere verkürzte Wiedergabe dieser Beobachtungen in: Verf. a. O. (ob. Anm. 10) 141 f.; zu den Geschenken der Skythen auch Lateiner 99 f., v o r allem Hartog 74 f.

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Hart (120) nimmt an, daß die Vorgänge des Jahres 480 auf Herodots Darstellung des Skythenfeldzugs eingewirkt haben. Richtiger ist es, mit Bornitz (125 — 135) zu sagen, der Geschichtsschreiber habe beide Feldzüge, den des Dareios und den des Xerxes, aufgrund zahlreicher sachlicher Ähnlichkeiten einander angeglichen (Bornitz 125: „... soweit es die historische Überlieferung gestattete"). Dabei mag Herodots Dareiosbild näher an seine Darstellung des Xerxes herangerückt sein, als es die bisherigen Voraussetzungen (Gewinnsucht, Ehrgeiz) erwarten ließen. Dagegen beruht das Portrait des Großkönigs, das Hart (114 — 124) in Anlehnung an herodoteische Mitteilungen entwirft, auf einer kritischen Analyse der einzelnen Textstellen und gibt das Urteil des modernen Historikers wieder. Hart hält solche Anekdoten, die Nachteiliges über Dareios zu erzählen wissen, für Wiedergabe bösartiger Berichte (Quellen), ohne die Frage aufzuwerfen, in welchem Umfang Herodot selbst an ihrer Aussage beteiligt ist. Indes finden sich Nachrichten, die dem König Dareios nur wenig freundlich gesinnt sind, in allen Teilen des Werkes. Diese Tatsache spricht m. E. für die oben vorgelegte Deutung. Selbst die Eroberung Babylons (3,151 — 160) glückt ja nur durch das einzigartige Verdienst des Zopyros, dessen Leistung der Autor sicher nicht übertrieben hat, da er sie von dem gleichnamigen Enkel des Persers erfuhr (vgl. 3,160,3). Wir nehmen allerdings bei unserer Interpretation in Kauf, daß Herodot die politische Größe des Dareios nicht voll erkannt hat oder nicht würdigen wollte.

In diesem Zusammenhang darf auch das Kapitel 5,105 genannt werden, das die Reaktion des Dareios auf die Nachricht vom Abfall der kleinasiatischen Griechenstädte enthält. Der König läßt sich zunächst erklären, wer die Athener seien, die ein solches Unternehmen unterstützt haben. Wir kennen diesen schriftstellerischen Kunstgriff bereits, mit dem der Autor die Aufmerksamkeit des Handelnden (und gleichzeitig die des Lesers) auf einen wichtigen Faktor des Geschehens lenkt 17 . Dann läßt sich Dareios seinen Bogen reichen, schießt einen Pfeil gen Himmel und bittet Zeus um die Möglichkeit der Rache an Athen (§ 1: ώ Ζεΰ, έκγενέσθαι μοι 'Αθηναίους τείσασθαι). Danach beauftragt er einen Diener, ihn vor jeder Hauptmahlzeit mit folgenden Worten an die Athener zu erinnern (§ 2): Δέσποτα, μέμνεο τ ω ν 'Αθηναίων. Wieder werden wir eine originelle Komposition Herodots vor uns haben. Schon der singuläre Bogenschuß zum Himmel vor der Hinwendung zum höchsten Gott legt das nahe. Der Schuß ist einzigartig, weil ihn der Großkönig mit einem schwerwiegenden Anliegen verbindet. Er ist also dem Verfahren der Geten nicht vergleichbar, die ihren einzigen Gott bei Gewitter mit zum Himmel gesandten Pfeilen bedrohen (4,94,4: άπειλέουσι τ ω θεώ). Herodot könnte natürlich das, was er über die Geten erfahren hat, in neuartiger Funktion auf Dareios übertragen haben. Für herodoteischen Ursprung der kurzen Erzählung vom Verhalten des Dareios spricht ferner ihre doppelte Aufgabe im jetzigen Zusammenhang: Sie illustriert den machtpolitischen Rückschlag, den das Perserreich von nun an hinneh17

Vgl. oben S. 41 f. Daß es sich um einen Kunstgriff des Erzählers handelt, zeigen auch die Bemerkungen in 5,73,2 und 5,96,2 (die Athener verhandeln in offizieller Angelegenheit mit dem Satrapen von Sardes, dem Bruder des Dareios).

5. Novellen und Anekdoten über Dareios

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men muß (man kann fast sagen: Sie beleuchtet erneut die Erfolglosigkeit der vom herodoteischen Dareios geleiteten Politik), und sie zeigt die Richtung an, welche die persische Kriegführung zukünftig einschlagen wird. Dareios wird von jetzt an nicht mehr zu fragen brauchen, wer denn die Athener seien. Die Anekdote ist so vortrefflich, weil sie gewissermaßen das Hauptthema des ganzen Werkes auf einen einzigen Punkt zusammenzieht. Der Leser ahnt, was künftig auf dem Spiele stehen wird 18 . Herodot scheut sich auch nicht, seinem Dareios Heimtücke nachzusagen (vgl. 4,84). Beim Auszug ins Skythenland bittet Oiobazos, ein vornehmer Perser, den Großkönig, einen seiner drei Söhne vom Kriegsdienst freizustellen. Dareios antwortet, er wolle ihm, da Oiobazos als sein Freund eine nur bescheidene Bitte ausspreche, alle drei zurücklassen 19 . Der Vater freut sich, im Glauben, seine Söhne würden am Feldzug nicht teilnehmen müssen. Dareios aber läßt sie alle drei hinrichten. Diese Geschichte wird von jeher mit der Erzählung des siebenten Buches (38 — 40,1) verglichen, die über Pythios, den reichen Enkel des Kroisos, berichtet wird. Fünf Söhne des alten Mannes müssen mit Xerxes gegen Griechenland ausziehen. Der Vater bittet den König, ihm den ältesten als Stütze des Alters freizugeben, Xerxes wird zornig und weist die Bitte als unberechtigt zurück: Pythios sei Sklave des Großkönigs und eigentlich verpflichtet, ihm mit seinem ganzen Anhang selbst zu folgen. Weil er aber das gesamte Heer (d. i. die persische Kerntruppe und den Hofstaat) aufwendig bewirtet habe, solle er geringer bestraft werden, als er eigentlich verdiene. Nun kündigt der Großkönig an, was er tun wird (7,39,2): „... Dich nämlich und die vier deiner Söhne schützt die Gastfreundschaft, doch der eine, an dem dir so viel liegt, soll dir zur Strafe das Leben verlieren." Daraufhin läßt Xerxes den ältesten Sohn aufsuchen und mitten durchschneiden. Zwischen beiden Körperhälften muß das ganze Heer hindurchziehen. Für Herodots Vorstellung von den beiden Perserkönigen besagt es wenig, daß dem Bericht über die Reaktion des Xerxes die Erinnerung an ein vorwiegend orientalisches Ritual zugrundeliegt, die Gepflogenheit, ein ausrückendes Heer zwischen den beiden Hälften eines Opfertieres hindurchmarschieren zu lassen, weil dadurch glückliche Heimkehr gewähr18

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Vgl. auch Hart 91. — De Romilly (325) glaubt, die Anekdote sei historisch und in Athen bekannt gewesen. Als Beleg führt sie zwei Verse aus den ,Persern' des Aischylos an, 285 (der Bote spricht): φευ, τ ώ υ 'Αθηνών ώς στένω μεμνημένος, und 824 f. (Dareios spricht): τοιαΰθ' όρώντε; τώνδε τάτπτίμια / μέμνησθ' "Αθηνών. Es ist jedoch recht unwahrscheinlich, daß sich ein Zuschauer bei diesen Versen an einen Vorgang im Hause des Großkönigs erinnert haben sollte, falls er vorher einmal von ihm gehört hat. Vielleicht darf man mutmaßen, daß Herodot durch die Dichterverse zur Formulierung seiner Anekdote angeregt worden ist. Jedoch das bleibt ungewiß. Ό δέ οί εφη d>5 φ ί λ ω έόυτι και μετρίων δεομένω π ά ν τ α ? τούς τταΐδας καταλείψειν.

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leistet werde 20 . Der Hinweis auf diese Gewohnheit läßt lediglich erkennen, daß die Pythiosgeschichte dem Ausgangspunkt ihrer Entstehung näher ist als das, was Herodot über Oiobazos zu wissen vorgibt 2 1 . In diesem morphologisch sekundären Bericht über Oiobazos und seine bedauernswerten Söhne ist die Absicht des Autors spürbar, die Unaufrichtigkeit des Dareios kenntlich werden zu lassen: Ironisch nennt der König den Bittsteller seinen Freund und das ihm vorgetragene Anliegen bescheiden. E r verspricht, die drei Söhne zurückzulassen. Aber es werden ihre Leichen sein, die beim Vater bleiben. Grausam möchte Dareios auch die ägyptischen Ärzte bestrafen, die nicht imstande waren, seine Fußverrenkung zu heilen. Nur der Fürsprache des Demokedes verdanken die Unglücklichen ihr Leben, vgl. 3,132,2: „Und zum einen rettete er (seil. Demokedes) die ägyptischen Ärzte, die den König zuvor behandelt hatten und nun am Pfahl (!) sterben sollten, weil sie von einem hellenischen Arzt geschlagen waren . . . " — Außerordentlich streng geht der König auch gegen seinen Mitverschwörer Intaphrenes vor (vgl. 3,118 — 119), obwohl er den Verdacht, dessen Familie wolle sich gegen ihn auflehnen, nicht nachgeprüft hat, vgl. 3,119,2: „... ließ er Intaphrenes ergreifen und seine Söhne und männlichen Anverwandten, denn er hatte den starken Verdacht, jener bereite mit Unterstützung seiner Sippe eine Empörung gegen ihn vor. Als er sie also ergriffen hatte, legte er sie ins Gefängnis zur Hinrichtung." Nur weil Dareios sich über die kluge Antwort der Frau des Intaphrenes freut (die, wie bekannt, um das Leben des Bruders, nicht um das des Mannes oder des Sohnes bittet), gibt

20

Vgl. How and Wells zu 7,39,2 (II p. 149) mit Parallelen aus dem Α. T.; siehe auch Liv. 40,13,3 — 4 (über einen ähnlichen Brauch bei den Makedonen; zu den Worten maxime in hostiam ttineri nostro circumdatam vgl. Weißenborn-Müller: „circumdatam\ auf beiden Seiten des Weges hingelegt"); Hampl Graz. Beitr. 4, 1975, 132 f. (mit Lit.) = Nachdruck 248 f. — Ein weiteres interessantes Zeugnis (Tod der christlichen Märtyrerin Tarbo, hingerichtet im Sassanidenreich unter Shapur II.) wurde von J . A. S. Evans beigebracht (Liverpool Class. Monthly 13, 1988, 130). Ε. bezieht sich auf die 7 , 3 7 , 2 - 3 erwähnte, von den Magiern günstig gedeutete Sonnenfinsternis. Pythios ist trotzdem mißtrauisch (vgl. 7,38,1: καταρρωδήσας τ ό έκ τοϋ ούρανοΟ φάσμα) und trägt dem König deshalb seine Bitte vor. Evans nun meint, die Angst des Vaters um das Leben des ältesten Sohnes sei nicht nur ein Zeichen des Zweifels am Erfolg des ganzen Unternehmens gewesen: „It cast a 'hex' on the campaign and a ritual prescription was necessary to clear it away." Auch das könnte natürlich nicht Herodots Deutung des berichteten Vorgangs sein. Mit gutem Grund gibt Macan keine religionsgeschichtlichen Belege zu unserer Herodotstelle, merkt aber u. a. an: „Behind the physical difficulty lies the obviously fabulous moral of the story, as an exhibition of the unbounded cruelty of the caprice of the oriental despot . . . " Siehe auch Hart 80.

21

Ob der Geschichtsschreiber die Oiobazos-Geschichte als Überlieferung vorgefunden oder selbst erdacht hat, ist m. E. nicht feststellbar. Es würde nicht überraschen, wenn die zweite Möglichkeit zuträfe. Die Hinrichtung des Pythiossohnes hat Herodot jedenfalls als Strafe (nicht als Lustraiopfer) verstanden, vgl. Bornitz 127 Anm. 26; siehe auch Späth 77.

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er ihr den Bruder und den ältesten Sohn frei — τους δέ άλλους άιτέκτεινε π ά ν τ α ξ (3,119,7). Man hat den Eindruck, daß Herodot die Geschichte nur um dieser Pointe willen erzählt, vielleicht sogar von sich aus auf Intaphrenes übertragen hat 22 . Die Vorstellung von der Unerbittlichkeit und persönlichen Empfindlichkeit des Dareios stand ihm dabei als Voraussetzung seiner Konzeption offenbar wie selbstverständlich zu Gebote. Immerhin ist Herodot beinahe erstaunt, daß Dareios, der den Eretriern zunächst heftig zürnte, weil sie (ebenso wie die Athener) den Abfall Ioniens anfangs unterstützt haben, nichts Böses antut, sobald sie als Gefangene vor ihm in Susa erscheinen (6,119,1—2). Aber der Autor gibt selbst zu verstehen, daß diese Friedfertigkeit in der Sache begründet ist: Der König hat nun keinen Grund mehr, den neuen Untertanen zu grollen, die von jetzt an, in Arderikka angesiedelt, unschädlich sein werden. Von besonderer Milde des Dareios wird man nicht sprechen dürfen, sondern nur von seinem praktischen Sinn. Ähnliches gilt für die Behandlung der zwei Jahre vorher (494) gefangenen Milesier (meist Frauen und Kinder), die nach der Eroberung und Zerstörung ihrer Stadt ebenfalls nach Susa gebracht worden sind. Auch ihnen tut Dareios nichts zuleide, sondern siedelt sie am sog. Roten Meer (d. h. am Persischen Golf) in der Stadt Ampe an, wo der Tigris vorüberfließt, kurz bevor er ins Meer mündet (6,20). Großzügig behandelt Dareios auch Metiochos, den von den Phoinikern auf der Flucht aus der Chersones aufgegriffenen Sohn des Miltiades (6,41,4). Aber dieses Verhalten ist nicht auffällig: Es entspricht der Politik der persischen Könige gegenüber angesehenen Flüchtlingen (vgl. noch 3,138,1 über Gillos; 6,24,1 über Skythes; 6,70,2 und 7 , 2 , 1 - 2 über Demaratos, von späteren und bekannteren Fällen zu schweigen). Einmal spricht Herodot auch vom Bestreben des Königs, Gerechtigkeit walten zu lassen: Dareios nimmt eine übereilte Entscheidung zurück. Das rettet dem Sandokes, dem Sohne des Thaumasios aus Kyme, das Leben. Der Autor erzählt diese Geschichte beiläufig bei Darstellung der Seegefechte am Artemision (i. J. 480, siehe 7,194,1—2). Sandokes hat als königlicher Richter um Geld ein ungerechtes Urteil gefallt und wird von Dareios zum Tode verurteilt. Als er schon am Kreuze hängt, bemerkt der König, daß Sandokes mehr Gutes als Schlechtes für das königliche Haus getan hat (§ 2: εύρε oi π λ έ ω ά γ α θ ά τ ω ν αμαρτημάτων πεποιημένα ές οίκον τ ό ν βασιλήϊον) und läßt ihn wieder herunterholen. Allerdings ist der Maßstab für diese Revision der Entscheidung des Königs nicht die Gerechtigkeit 22

Als Vorlage der Kapitel 3 , 1 1 8 — 119, wenigstens ihrer sprachlichen Ausführung, sehe ich nach wie v o r die .Antigone* des Sophokles an. Vgl. Verf., Ausgewählte Schriften zur Klassischen Philologie, Berlin 1979, 143 f. Wenn diese Vermutung zutrifft, erinnert die unerhört strenge Maßnahme des Dareios an das Verhalten des sophokleischen K r e o n . Man vergleiche auch die scharfsinnigen Bemerkungen Friedrichs (371 Anm. 67).

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bei Verwaltung des Richteramts, sondern der bloße Vorteil für das Königtum. Es mag sich um eine wahre Geschichte handeln, aber sie wird nicht zur Verherrlichung des Dareios berichtet. Herodot erzählt das Schicksal des Sandokes überhaupt nur deshalb, weil dieser Sandokes, der dem Tode am Kreuz so glimpflich entkommen ist, nun doch im Kampfe mit den Griechen fällt. Das Geltungsbedürfnis des Königs Dareios ist groß. Obwohl es ganz im Einklang steht mit der üblichen stolzen Sprache orientalischer (auch persischer) Herrscher und nicht eigens hervorgehoben zu werden brauchte, versäumt Herodot doch nicht, Belege für die persönliche Eitelkeit des Dareios beizubringen. Die Inschrift, die der König angeblich an den Quellen des Tearos anbringen läßt (4,91), ahmt die schwülstige Diktion persischer offizieller Verlautbarungen nach: „Des Tearosflusses Quellen geben das beste und schönste Wasser von allen Flüssen. Und zu ihnen ist auf seinem Zuge gegen die Skythen gekommen der beste und schönste der Menschen, Dareios, Hystaspes' Sohn, der Perser und des ganzen Festlands König." Die Superlative, die sich Dareios selbst zulegt, brauchen kein Zeichen der Arroganz oder der Eitelkeit zu sein. Aber der Herodotleser weiß schließlich, daß das Wasser des abgelegenen Tearos keineswegs das aller anderen Flüsse übertrifft, und er kann sich seine Gedanken über den vorliegenden Vergleich machen, zumal ihm bekannt ist, wie unrühmlich der Zug gegen die Skythen endete. — Charakteristisch ist ein persönliches Erlebnis des Dareios, das der Geschichtsschreiber als historisch relevant betrachtet (3,139,2): Syloson, der Bruder des Polykrates, während des Feldzugs des Kambyses gegen Ägypten Besucher dieses Landes, ergeht sich in Memphis, angetan mit einem feuerroten Sommermantel. Dareios, damals noch Leibwächter des Großkönigs, erblickt das Kleidungsstück und möchte es voller Verlangen sofort kaufen. Syloson schenkt es ihm, und dieser Mantel wird später Anlaß für den König Dareios, den Syloson bei der gewaltsamen Rückkehr nach Samos zu unterstützen. Nun ist zwar das Verlangen nach einem schönen Mantel nichts Ungewöhnliches, aber wenn es sich in so aufdringlicher Weise äußert, doch ein bemerkenswertes Kennzeichen. Das gilt auch für den Fall, daß die Episode nicht von Herodot erfunden sein sollte. — Dareios, so erfährt der Geschichtsschreiber von den Priestern des Hephaistosheiligtums in Memphis, habe den Wunsch geäußert, sein Standbild vor der Kolossalstatue des Sesostris aufzustellen (2,110,2). Aber das sei ihm verwehrt worden, und zwar mit der Begründung, er habe nicht so viel geleistet wie Sesostris, der ägyptische Erobererkönig, der sogar die Skythen unterwarf. Dareios nun, so schließt der Bericht, habe das eingesehen und sich gefallen lassen 23 . Die Anekdote bezieht sich sicher 23

§ 3: Δαρεϊον μέν νυν λέγουσι ττρό; ταϋτα συγγνώμην ττοιήσασθαι.

5. Novellen und Anekdoten über Dareios

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nicht auf ein historisches Faktum. Aber es ist doch bezeichnend, daß man gerade dem Dareios einen so vermessenen Wunsch zutraut und daß Herodot den Bericht der Priester (wenn sie denn wirklich die Urheber der Geschichte sind) für erwähnenswert hielt. Der Hinweis gerade auf die persischen Mißerfolge im Skythenlande, den Herodot den Priestern in den Mund legt, macht die Diskrepanz zwischen Anspruch und wahrer Leistung des Großkönigs besonders fühlbar. Die meisten der soeben durchmusterten, den König Dareios betreffenden Anekdoten sind von Herodot geschaffen oder wenigstens in seinem Sinne umgestaltet worden. Wenn unsere Auslegung zutrifft, dürfen wir festhalten: Diese Anekdoten enthalten historische Urteile oder sie umspielen wirkliche Vorgänge. Sie deuten auf etwas, was der Autor als wahr ansieht, meist eine Erkenntnis allgemeiner Art, die für das rechte Verständnis des Königs Dareios, so wie Herodot ihn sieht, bedeutsam ist. Der moderne Historiker wird sich allerdings anhand des vorgelegten Materials fragen, ob Herodots jeweilige Stellungnahme zutrifft. Er wird ohne Mühe Mängel und Verirrungen erkennen (aufs Ganze gesehen hat der Geschichtsschreiber ja, wie wir bereits angedeutet haben, die Bedeutung gerade dieses Herrschers unterschätzt), aber er wird nicht leugnen können, daß das herodoteische Bild des Dareios einheitlich ist; denn die einzelnen in den Anekdoten erfaßten Züge sind gut aufeinander abgestimmt. Mithin bringt Herodot keine Kuriosa zur Welt, und er erzählt nicht um des Erzählens willen, sondern er erzählt so, daß die Ergebnisse seiner Erkundungen erhalten und in seinen Geschichten kenntlich bleiben. Daran ändert sich durch die Tatsache nichts, daß seine Novellen und Anekdoten amüsant, ja spannend, aber niemals trocken und langweilig sind. Auf der Vereinigung beider Dinge, dem Erfassen des Substrats historischer Vorgänge und deren Darbietung in gefälliger Form, beruht offenbar die einzigartige Bedeutung seines Werkes.

6. Erzählungen über Xerxes Xerxes ist der Erbe einer großen Tradition 1 . Schon sein Vater Dareios rüstete zum Rachefeldzug gegen Griechenland, aber er starb über den Vorbereitungen. Nun übernimmt Xerxes die Verpflichtung, das Begonnene zu vollenden. Aber Herodot sagt gleich anfangs (7,5,1), daß er das nur ungern tut: „Dieser Xerxes nun war anfangs gar nicht geneigt, gegen Hellas zu ziehen, gegen Ägypten aber betrieb er die Sammlung des Heeres"2. Erst nach der Unterwerfung Ägyptens, das abgefallen war, entschließt er sich unter dem Einfluß des Mardonios, den Westen zu erobern 3 . In der langen Einleitung des 7. Buches (7,5 — 7,19,1) versucht der Geschichtsschreiber zu zeigen, daß sich sein Xerxes dieser Verpflichtung nicht entziehen kann, obwohl er das im Grunde gern möchte. Die Gottheit nötigt den Großkönig unter Drohungen zur Eröffnung des Krieges gegen Griechenland, ähnlich wie Themistokles die widerstrebenden Flottenführer der Hellenen durch seine List (Entsendung des Sikinnos zu den Barbaren: 8,75 ff.) zum Waffengang bei Salamis. Man darf vermuten, daß Herodot bei Konzeption der Kapitel 7,5 — 19 die bekannten Ereignisse der Schlacht von Salamis zum Vorbild genommen hat. In beiden Fällen wird das Widerstreben der Betroffenen dadurch gekennzeichnet, daß sie mehrmals vergebliche Versuche machen, der Notwendigkeit auszuweichen. Über die einzige Funktion des Königstraums, einen Rückfall des Xerxes zu verhüten, urteilt richtig de St. Croix 144.

Bei allem Stolz und allem Selbstbewußtsein wird der junge Herrscher das Gefühl der Unsicherheit nie los, das er durch heftigen Zorn oder durch betonte Großzügigkeit ständig beschwichtigen muß. Diese Zwiespältigkeit gehört zum Wesen des herodoteischen Königs namens Xerxes. Die Kapitel 7,5 — 7,19,1 sind, wie Köhnken 4 überzeugend gezeigt hat, eine rein herodoteische Konzeption, in der unser Autor den eben ange1

2

3

4

Überflüssig zu sagen, daß dieser Satz in vollem Umfang nur für Herodots Xerxesbild gilt. In Wahrheit wirkten noch bedeutende andere Tatsachen auf den jungen König ein, vgl. Heuß, Hellas 223. — Waters' Versuch (1971, 66 ff.), dem herodoteischen Xerxes die Hybris abzusprechen und den Zug gegen Griechenland auch nach Ansicht unseres Autors als aussichtsreich anzusehen, hat mich nicht überzeugt. Ό τοίνυν Ξέρξης έπϊ μεν τ ή ν Ελλάδα ουδαμώς πρόθυμος ήν κατ' άρχάς στρστεύεσθαι, έττί δέ Α ι γ ύ π τ ο υ έττοιέετο στρατιής άγερσιν. Da die Unterwerfung Ägyptens notwendig und vordringlich war, ist Herodots Behauptung, Xerxes habe sich zum Zug gegen Griechenland zunächst nicht verstehen wollen, historisch irrelevant, vielleicht sogar falsch. Vom Einfluß des Mardonios handelt der Autor im Anschluß an den in Anm. zwei ausgeschriebenen Satz. Α. K., Der dritte Traum des Xerxes bei Herodot, in: Hermes 116, 1988, 2 4 - 4 0 .

6. Erzählungen über Xerxes

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deuteten Zweck verfolgt. Es ist irrig, in diesem Abschnitt persische oder griechiche Vorlagen (d. h. ältere Darstellungen derselben Ereignisse) auffinden zu wollen. Herodot schildert zunächst (7,5 — 6) die Faktoren, die auf den König einwirken, um ihn zum Krieg zu veranlassen (Mardonios, die Peisistratiden, die Aleuaden). Nach kurzer Erwähnung der Unterwerfung Ägyptens (7,7) heißt es dann, Xerxes habe eine Versammlung der vornehmsten Perser einberufen und seine politischen Pläne regelrecht zur Diskussion gestellt (7,8,1: σ ύ λ λ ο γ ο ν έττίκλητον Περσέων τ ω ν ά ρ ι σ τ ω ν έποιέετο, ίνα γνώμας τε π ύ θ η τ α ί σφεων και αυτός έν π α σ ι εΐιτη τ ά θέλει). In seiner eigenen Erklärung (7,8,α —δ) knüpft er an die Tradition seiner Väter an und rechtfertigt den Entschluß zum Kriege mit der Verpflichtung, sich an Athen zu rächen. Schon dabei kommen Unkenntnis und Vermessenheit zum Vorschein: Der König glaubt, nach Eroberung Griechenlands werde sein Reich an den Himmel stoßen und die Welt den Persern gehören. Er schließt mit der Aufforderung an die Anwesenden, die Vorbereitungen gewissenhaft zu betreiben. — Mardonios unterstützt den König mit Hinweisen auf die angebliche militärische Schwäche und Unerfahrenheit der Griechen (7,9). — Beiden Sprechern antwortet Artabanos. In seiner bekannten Rede (7,10) geht er aber weniger auf militärische Probleme ein (das spart Herodot für eine spätere Gelegenheit auf, vgl. 7,46 ff.). Artabanos erinnert nur kurz an die peinliche Situation des Skythenfeldzugs (an die Möglichkeit des Abbruchs der Istrosbrücke durch die Ionier) und spricht dann von dem unserem Autor so vertrauten Weltgesetz, das besagt, derjenige werde stürzen, der zu hoch hinaus will (7,10, ε: φιλέει γ ά ρ ό Θεός τ ά υπερέχοντα π ά ν τ α κολούειν). Er bittet den König, nichts zu übereilen, und von Mardonios fordert er in scharfem Tone Zurückhaltung sowie mehr Sachlichkeit. — Xerxes antwortet wutentbrannt (7,11,1: Θυμωθείς), gibt also zu erkennen, daß er Widerspruch nicht verträgt, und versichert, daß er bei seinem Entschluß bleiben werde. In der Nacht aber stellen sich Bedenken ein: Bei ruhigem Nachdenken heißt der König die Einwände des Onkels gut. So kommt es, daß er eine Traumerscheinung, die ihn auffordert, seinem Vorhaben treu zu bleiben, nicht beachtfct (7,12). Am nächsten Tage sagt er den Feldzug zur Freude der Perser öffentlich ab (7,13). Jedoch in der folgenden Nacht mahnt ihn das Traumbild viel energischer und prophezeit ihm den Zusammenbruch seiner Macht, falls er den Feldzug aufgebe (7,14). Xerxes läßt nun den Artabanos rufen. Der muß sich im königlichen Ornat zunächst auf den Thron des Xerxes setzen und danach in sein Bett legen. Das Traumbild erscheint auch ihm, bedroht ihn aber aufs Heftigste, wenn er Xerxes von dem abhalten wolle, was geschehen müsse (7,17,2: άττοτρέττων τό χρεόν γενέσθαι). Nach diesem Erlebnis gibt Artabanos seinen Widerstand auf: Der Feldzug wird endgültig beschlossen.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Der diese Kapitelfolge abschließende dritte Traum des Xerxes (7,19,1) verkündet, weil er von den Magiern falsch gedeutet wird, scheinbar den großen Erfolg des geplanten Unternehmens. In Wahrheit enthält er bereits deutliche Hinweise auf den Niedergang der persischen Macht, wie er mit der Schlacht von Salamis einsetzen wird. Hinter der vordergründig günstigen Bedeutung des Traumes verbirgt sich gefährliche Wahrheit: Auch diese Doppeldeutigkeit der Vision, die sich in der überlieferten Form persischen Vorstellungen nicht fügt, ist ein Zeichen für herodoteischen Ursprung5. Herodot behauptet, den Bericht über die nächtlichen Vorgänge in Anlehnung an Aussagen der Perser zu geben. Anläßlich der ersten Traumerscheinung sagt er (7,12,1): δεδογμένων δέ οΐ cruris τούτων (d. h. den Befehl zum Feldzug gegen Griechenland zu widerrufen) κατύιτνωσε και δή κου εν τ η νυκτί είδε όψιν τοιήνδε, ώς λέγεται υπό ΓΤερσέων κτλ. Herodot scheint zu dieser Behauptung durch folgende Überlegung gekommen zu sein: Da Xerxes letzten Endes trotz allen Warnungen bei dem Entschluß zum Kriege geblieben ist, muß Einwirkung der Gottheit vorliegen (der König wird durch eine höhere Macht gezwungen). Das müssen auch die Perser so empfunden haben; sie konnten sich aber die Wirksamkeit der Gottheit nur in Form eines Traumes vorstellen. Das Zitat wäre in diesem Fall fingiert (vgl. Fehling 114; Köhnken a. O. [ob. Anm. 4] 38), freilich nicht aus „erzähltechnischen" Gründen, sondern weil Herodot die von ihm selbst geschaffene Situation richtig einschätzt. Der Traum vertritt für ihn persische Vorstellungen und Deutungen. Deshalb kann er als Ansicht der Perser zitiert werden. Man sollte sich aber auch die einfachere Möglichkeit offenhalten, daß persische λόγιοι (die offizielle Propaganda) nach der Katastrophe davon sprachen, die Gottheit habe in Gestalt eines Traumes ihren König zum Kriege gezwungen. Herodots Formulierung wäre dann noch verständlicher 6 .

Damit ist der zukünftige Weg des herodoteischen Xerxes vorgezeichnet: Dieser König rückt aus im Glauben, einen verbindlichen göttlichen Auftrag zu erfüllen, er sieht sich schon als zukünftigen Herren der Welt, hat aber unzureichende Kenntnisse von dem Land und der Art des Feindes, bemerkt vor allem nicht, daß dieselbe Gottheit, die ihn vorwärts treibt, seinen Fall bereits beschlossen (und auch angedeutet) hat7. In der Art, in der Xerxes auf die Bedenken des Artabanos reagierte, zeigten sich bereits Unbeherrschtheit und Unausgeglichenheit des jugendlichen Fürsten. Ge5

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Vgl. Köhnken a. O. (s. vor. Anm.) 30 ff.; über die Konzeption der Kapitelfolge 7,5 — 19 und über die Zusammengehörigkeit der einzelnen Darstellungselemente ebend. 40. Der irreführende (da mehrdeutige) Ausdruck „Quellenangabe", ein terminologisches Amalgam, sollte in der Herodotforschung vermieden werden. Grundsätzlich wichtig für unsere Stelle ist Marincola 127 (ol ΤΤέρσαι λέγουσι heißt „what is to be related is a Persian tradition"). Uber die Bedeutungen von λέγεται siehe Benardete 21 Anm. 25 und Shimron 75—78, auch Hartog 281. Man sollte sich auch daran erinnern, daß λέγειν (wie φάναι) in archaischer Zeit nicht nur , Sagen' bedeutet, sondern auch bloßes .Meinen' oder .Deuten' ausdrücken kann. Für diesen Gebrauch bei späteren Prosaikern vgl. K. Reinhardt, Parmenides, Bonn 1916, 164. Die Vorstellung ist beinahe äschyleisch, vgl. Aisch. Fr. 154 a 15 f. (aus der ,Niobe'): θεός μέν αίτίαν φύει βροτοΐξ, / όταν κακώσαι δώμα παμττήδην θέλη.

6. Erzählungen über Xerxes

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rade für diesen Wesenszug werden sich in Herodots Bericht weitere Beispiele finden, in denen dann auch die mangelhaften strategischen Qualitäten des obersten Kriegsherrn sichtbar werden. Herodot — das ist schon jetzt deutlich — formuliert seine Berichte über Xerxes so, daß in ihnen ein dezidiertes Urteil über den Herrscher zum Vorschein kommt — über den Mann, der die größte Gefahr für die Freiheit Griechenlands heraufgeführt hat. Der Geschichtsschreiber hat fast alle Handlungen des Xerxes auf das Schicksal der Hellenen bezogen und in diesem Widerspiel der Kräfte die einzigartige Möglichkeit gefunden, auch griechisches Wesen in origineller Klarheit aufscheinen zu lassen. Die zweite Auseinandersetzung des Königs mit Artabanos möge sich hier sogleich anschließen. Sie steht in der bekannten Kapitelfolge 7,44 bis 104. Diese bildet den Mittelpunkt des ganzen ereignisreichen Buches und ist zugleich ein vorzügliches Beispiel für Herodots hohe Kunst, ein historisches Ereignis von besonderem Rang durch Fiktionen verschiedener Art zu erklären und zu erhöhen. Im Zentrum steht der feierliche Zug des Heeres über die beiden Hellespontbrücken (7,54—56); der Weitermarsch nach Doriskos schließt sich unmittelbar an (7,58) 8 . Dort in Doriskos werden Heer und Flotte gemustert, und Herodot benutzt diese Gelegenheit zur Beschreibung der zahlreichen Völkerscharen und ihrer Ausrüstung (7,61 — 100). Vor der Schilderung aller dieser Ereignisse berichtet der Autor über das Gespräch des Großkönigs mit seinem Onkel Artabanos, den Xerxes als seinen Stellvertreter in Asien zurückläßt (7,44—52), nach der Truppenmusterung über die Unterredung mit dem ehemaligen Spartanerkönig Demaratos (7,101 — 105). Beide Gesprächspartner äußern Bedenken und deuten auf Gefahren, die dem Riesenheer in der Fremde erwachsen könnten. Aber in beiden Fällen weist Xerxes solche Äußerungen des Mißtrauens zurück. Auf die Art, wie er seine Reaktionen begründet, kommt es uns hier vor allem an. Wir betrachten zunächst die Kapitel 7,44 — 52. Angesichts der Menschenmassen des Heeres und der Flotte preist sich Xerxes zunächst glücklich, beginnt aber gleich danach zu weinen. Von Artabanos nach dem Grund seiner Tränen befragt, antwortet er, er habe daran gedacht, daß von allen Angehörigen der stolzen Streitmacht nach 100 Jahren niemand mehr am Leben sein werde. Artabanos beruhigt ihn mit dem herodoteischen Gedanken, im Ungück dieses Lebens könne der Tod auch erwünscht sein; denn die Gottheit, die den Menschen das Glück kosten lasse, sei voller Mißgunst. Xerxes fragt nun, ob Artabanos die Bedenken noch hege, die er vor Beginn des Feldzugs hatte. Artabanos bejaht; denn das Riesen-

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Über den Abschnitt 7 , 5 6 , 2 - 7 , 5 7 vgl. unten S. 87 f.

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heer habe zwei Feinde, die immer gefahrlicher würden, je weiter es erobernd vorrücke: See und Erde. Die Flotte werde viele Häfen benötigen und das Heer bei andauerndem Vormarsch in immer größere Verpflegungsschwierigkeiten geraten. Es ist nun sehr bezeichnend, daß Xerxes auf den Inhalt der befürchteten Möglichkeiten kaum eingeht. Er erinnert den Onkel an den Wagemut seiner Vorgänger. Ihnen wolle er nacheifern: ,Wir fahren in günstiger Jahreszeit ab und kommen in das Land von Ackerbauern, nicht von Nomaden.' Die Bedenken des anderen scheinen also gegenstandslos zu sein. — Artabanos trägt nun seine letzte Warnung vor: Auf keinen Fall sollte der König die kleinasiatischen Griechen (Ionier) gegen Athen führen; wenn sie sich loyal verhielten, brächten sie den Persern wenig Nutzen, wenn sie aber zum Feinde übergehen würden, großen Schaden. Xerxes ist jedoch auch in diesem Punkt arglos: Er weist auf das Verhalten des Histiaios hin, der ehedem, zur Zeit von Dareios' Skythenzug, den Abbruch der Istrosbrücke untersagte und dadurch das zurückflutende Perserheer rettete — als ob sich die Entscheidung eines vom Perserkönig eingesetzten Tyrannen mit dem Freiheitswillen einer ganzen Bevölkerung vergleichen lasse! Herodot hat die Gefahren, vor denen Artabanos warnt, augenscheinlich aus den nachfolgenden Ereignissen abgeleitet: Die persische Flotte erleidet am Strand von Magnesia durch ein schweres Unwetter beträchtliche Verluste, weil aus Platzmangel nur ein Teil der Schiffe auf den Strand gezogen werden kann (vgl. 7,188). Bei den Versorgungsschwierigkeiten, die zu schlimmer Hungersnot werden, ist wohl vor allem an den Rückzug nach der Schlacht von Plataiai gedacht (vgl. Aisch. Pers. 792 ff.; Hdt. 9,89,4). Aber auch der Marsch der nach der Niederlage bei Salamis mit Xerxes zum Hellespont ziehenden Truppen liefert Beispiele (vgl. 8,115,2), und schon vor der Schlacht bei Plataiai scheinen die Lebensmittel im Heere des Mardonios knapp gewesen zu sein (vgl. 9,45,2). — Auch der dritte Gesichtspunkt des Artabanos ist nicht bedeutungslos: Durch die Unzuverlässigkeit der griechischen Kontingente Kleinasiens und der Inseln wird der ganze Feldzug gekennzeichnet und verunsichert, wenn auch nicht mit den katastrophalen Folgen, die Artabanos befürchtet. Seit den Kämpfen bei Artemision versucht die griechische Heeresleitung, jenen Teil der persischen Flotte auf ihre Seite herüberzuziehen (vgl. 8,22), und das nicht ohne Erfolg (siehe 8,46,3; 8,82,1; 9,90,2, bes. 9,98,3; 9,99; 9,103-104 9 ). Die Befürchtungen des Artabanos sind mithin keine Illusionen. Wenn Xerxes sie ohne nähere Prüfung verwirft, zeigt er nur seinen völligen Mangel an strategischer Erfahrung, aber auch an Bereitschaft, sich belehren zu lassen. Eitles Prestigebedürfnis, das keine Aufklärung nötig zu haben

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Doch beachte die Gegenbeispiele 8,85; 8,90,1!

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wähnt, und Unkenntnis in allen Fragen der Kriegsführung bezeichnen den Mann, der überstürzt in sein Verderben rennt und Unzählige mit sich reißt. Das spätere Gespräch mit Demaratos hinterläßt, was die Person des Großkönigs betrifft, keinen günstigeren Eindruck. Xerxes kann es sich nicht vorstellen, daß die Griechen oder sonst ein Volk gegen seine numerisch so stattliche Streitmacht antreten würden. Dagegen Demaratos: ,In Griechenland ist die Armut zu Hause, mannhafte Gesinnung aber ist durch Klugheit und strenge Sitte anerzogen. Die Spartaner vollends werden deine Angebote, die ihnen Knechtschaft bringen, nie annehmen, sondern auch wenn nur 1000 ausziehen, werden sie bis zum bitteren Ende selbst mit einer Übermacht kämpfen' (vgl. 7,102,1—3). Xerxes muß lachen; denn da er nur in Zahlen (d. h. in den sichtbaren Größen der Stammrollen) denkt, hält er Demarats Worte für leere Prahlerei (vgl. 7,103,3: J e d e r von euch müßte gegen mehr als tausend kämpfen'). Er versteht auch nicht, wie ein geschlossener Kampfwille vorhanden sein könnte, wenn der von allen gefürchtete Alleinherrscher fehlt. Gegen diese Überzeugungen setzt Demaratos den entscheidenden Gedanken: ,Die Griechen sind frei, aber nicht in jeder Hinsicht; denn über ihnen steht der Nomos, der ihnen die feige Flucht aus dem Kampfe verbietet' (vgl. 7,104,4 — 5). Xerxes freilich hat dafür nur ein herablassendes Lächeln übrig, vgl. 7,105,1: „Xerxes aber nahm es nicht ernst, sondern lachte und zeigte keinerlei Unwillen, vielmehr entließ er ihn gnädig." Auch hier hat Herodot die Möglichkeiten, an die er seinen Demaratos denken läßt, der Wirklichkeit entnommen: Hinter den Ausführungen des Sprechers, Kampf der Spartaner gegen eine erdrückende Übermacht bis zum Tode, steht, wie jeder Leser bemerkt, die Schlacht von Thermopylai. Wieder ist Xerxes außerstande, diesen doch so anschaulich geschilderten Fall in seine Berechnungen einzubeziehen; denn von der ethischen Grundlage der spartanischen Lebensführung und Kampfweise (Freiheit und Nomos) kann er keine zureichende Vorstellung gewinnen. Ein Heerführer aber, der über den Kampfgeist und die Sitten seiner Gegner nicht Bescheid weiß, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Gespräche des Großkönigs mit Artabanos und Demaratos sind, wie bemerkt, herodoteische Fiktionen. Aber sie bergen in der erdachten Form Grundwahrheiten, durch die (nach Herodots Überzeugung) das folgende Geschehen geprägt, ja geleitet wird. Mit Xerxes' naiven Vorstellungen verglichen, zeigen die Einsichten in griechisches Wesen und Denken, daß der große persische Aufwand die Unterjochung eines freien Volkes keineswegs garantiert, daß er vielleicht sogar nutzlos vertan ist. Der Inhalt des soeben betrachteten Gespräches des Großkönigs mit Demaratos wird durch die kurze Unterhaltung ergänzt, die Xerxes mit dem ehemaligen Spartanerkönig vor Beginn der Kämpfe bei Thermopylai

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

führt (7,209). Ein Späher hat berichtet, daß die Spartaner im Engpaß Sport treiben oder ihr Haar pflegen (7,208,3). Xerxes kann sich diese Vorgänge nicht erklären. Er weiß auch nicht, daß sich die Gegner auf den Kampf um Leben und Tod vorbereiten. Er hält ihr Tun wieder für lächerlich (7,209,1: αύτώ γελοία ... έφαίνοντο ποιέειυ) und läßt Demaratos rufen. Dieser weist auf den spartanischen Brauch hin, der erkennen lasse, daß jene Männer zum Äußersten entschlossen sind. Der Großkönig möge wissen: Wenn er die Spartaner, die hier bei Thermopylai und die daheim zurückgebliebenen, besiege, werde er keinen Widerstand mehr finden. Xerxes aber glaubt den Worten des anderen nicht. Er kann sich nicht vorstellen, daß die wenigen es mit seinem Riesenheer aufnehmen werden. Erst die folgenden Ereignisse belehren ihn eines Besseren. Die Soldaten des königlichen Heeres, die während der nächsten vier Tage vergeblich gegen die Stellung der Griechen anrennen, machen, wie Herodot treffend sagt (7,210,2), aller Welt und nicht zuletzt dem König klar, „daß sie viele Menschen sind, aber wenige Männer" 10 . Gerade deshalb aber ist es seltsam, daß der Rat des Spartaners auch in der letzten Unterredung, die er mit Xerxes führt (7,234 — 237), erfolglos bleibt. Xerxes fragt nach dem Durchbruch bei Thermopylai: ,Auf welche Weise werde ich am mühelosesten der übrigen Spartaner Herr werden?' Demaratos empfiehlt ihm: ,Gib 300 Schiffen Befehl, die Insel Kythera zu besetzen und von da aus Sparta zu belästigen. Wenn du die Kräfte der Spartaner durch Krieg in ihrem eigenen Lande bindest, werden sie sich um die Not des übrigen Griechenlands nicht kümmern. Du kannst dann ganz Hellas mit deinem Heer erobern. Sparta wird allein übrig bleiben.' Dieser von Demaratos empfohlene Plan wird nicht verwirklicht, da sich Achaimenes, der Bruder des Xerxes und höchste Flottenkommandant, gegen eine Aufspaltung der Flotte wehrt und da Xerxes ihm, ungeachtet seines Wohlwollens für Demaratos, unbedenklich zustimmt. Wir wissen nicht, ob die persische Heeresleitung sich jemals mit der Möglichkeit befaßt hat, der eigenen Streitmacht die Eroberung Griechenlands dadurch zu erleichtern, daß man die Spartaner in ihrem Lande festhielt 11 . Ganz offensichtlich aber erhält der herodoteische Xerxes hier eine einzigartige Chance: Da sich alle Prognosen und Empfehlungen seines Schützlings Demaratos bisher bewährt haben (Xerxes selbst gibt das gerade in unserem Abschnitt zu, vgl. 7,234,1: όσα γάρ εΤιτας, άπαντα απέβη 10 11

Δήλον δ' έττοίουυ τταυτί τεω και οΰκ ήκιστα αϋτώ βασιλέϊ ότι πολλοί μέν άνθρω-rrot εΤεν, ολίγοι δέ άνδρες.

Hart (106) rechnet durchaus mit einer solchen Möglichkeit: „ . . . it would be surprising if the Cythera question had not been at least discussed in Xerxes' council." In Achaimenes' Widerstand gegen eine Spaltung der Flotte verkörpere sich die konservative persische Flottenpolitik („the orthodox strategical principle of ,tout le monde ä la bataille'"). Vgl. im übrigen Glover 251 f.

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ούτω), so verdiente doch dieser umfassende strategische Rat, sollte man meinen, eingehende Prüfung. Aber der König fügt sich dem entschiedenen Willen des Achaimenes ohne Gegenrede (vgl. 7,237,1: ... εύ τέ μοι δοκέεις λέγειν). Herodot tadelt sein Verhalten nicht ausdrücklich, aber die ganze Darstellung deutet doch wohl auf die Hilflosigkeit des Herrschers und Kriegsherrn: Offenbar ist er gar nicht in der Lage, unerwartete Gelegenheiten zu nutzen. Xerxes verwirft aber auch einen Rat hinsichtlich der Seekriegführung, den man ihm wohlwollend unterbreitete. Dieses Mal ist sein Fehler noch viel größer, ja er führt zur Vernichtung der königlichen Flotte. Die Sprecherin ist Artemisia, die Herrin von Halikarnaß. Sie bedient sich einer ungewöhnlich freien Sprache. Schon das beweist, daß ihre Rede in der überlieferten Form (8,68 α—y) nicht von ihr gehalten worden sein kann. Außerdem beruhen die vorgebrachten Argumente auf Kenntnis der zukünftigen Entwicklung. Sie bieten Herodots eigenes Urteil über die Situation unmittelbar vor der Schlacht bei Salamis. Der Geschichtsschreiber hat sie der Herrin von Halikarnaß in den Mund gelegt, weil diese als einzige Frau unter den Flottenführern der Perser die Aufmerksamkeit des Großkönigs auf sich gezogen hat. Sie darf bei Herodot offen sprechen, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen. Im Phaleron sendet Xerxes den Mardonios zu den versammelten Befehlshabern der Flotte, um zu erfahren, ob sie eine Schlacht für angemessen halten (8,67,2). Mit Ausnahme Artemisias sind alle dafür. Artemisia aber läßt folgendes bestellen: 8,68 α 1: ,Schone die Schiffe, meide eine Schlacht! Die Griechen sind bessere Kämpfer. Sie verhalten sich zu deinen Leuten wie Männer zu Weibern(!)'. α 2: ,Du bist jetzt der Herr Athens, hast also erreicht, was du erreichen wolltest.' ß: ,Wenn du die Schiffe hier liegen läßt und mit dem Landheer weiterziehst, werden dir die Erfolge künftig in den Schoß fallen. Die griechische Flotte wird sich auflösen; denn sie hat keine Verpflegung, und die einzelnen Kontingente werden um ihre Heimat bangen' 12 , y: ,Wenn du aber ungeduldig bist und sofort die Entscheidung auf dem Wasser suchst, mußt du damit rechnen, daß deine Flotte vernichtet wird und das Landheer mit ins Verderben zieht' (ersteres ist bei Salamis, letzteres bei Plataiai dann tatsächlich geschehen). 12

Artemisia sagt hier nicht ausdrücklich, daß die Befestigung auf dem Isthmos wirkungslos sein wird, wenn Xerxes das Meer beherrscht. Das hat der Autor 7,139,4 bereits im eigenen Namen dargelegt.

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Artemisia schließt mit einem fast verwegenen Epilog (8,68 y ) : ,Treffliche Menschen haben gewöhnlich schlechte Sklaven, minderwertige Menschen hingegen gute. Da du der beste aller Menschen bist, taugen deine Sklaven nichts wie ζ. B. Ägypter, Kyprier, Kilikier und Pamphylier, die in deinem Heere als Bundesgenossen zählen' 13 — womit zugleich die Tauglichkeit des riesigen Heeres gekennzeichnet ist. Wenn die Argumente der Artemisia Herodots Urteil über die militärische Lage vor der Schlacht wiedergeben (und es besteht kein Grund daran zu zweifeln), dann wird deutlich, daß er die Rettung Griechenlands in diesem Augenblick für sehr gefährdet hielt. Es hing alles an einem seidenen Faden. Augenscheinlich soll Artemisias Rede diesen Eindruck hinterlassen. Der herodoteische Xerxes braucht nur zuzufassen und mit gehöriger Geduld den Weg der Sicherheit zum Siege einzuschlagen. Aber dieser Mann ist unbelehrbar, ist offensichtlich unfähig, die Wirkungen von Kraft und Gegenkraft zu berechnen. Er meint (seil. 8,69,2), seine Flotte habe sich bei Euboia lediglich aus dem Grunde nicht bewährt, weil er selbst nicht bei ihr war. Jetzt aber, in der bevorstehenden Seeschlacht, will er als richtender Zuschauer anwesend sein. Griechenland, so etwa lautet Herodots Schlußurteil, wurde gerettet durch die Genialität des Themistokles und durch die Tapferkeit seiner Bewohner. Aber beide Faktoren waren nur deshalb erfolgreich, weil der Herr des feindlichen Heeres nicht imstande gewesen ist, die von seinem Vater übernommene Aufgabe zu lösen; denn ihm fehlte das rechte Augenmaß für die Erfordernisse einer kritischen Situation. Er konnte die Entschlüsse nicht fassen, die seiner Position abverlangt wurden, sondern fügte sich den Meinungen seiner Berater, ohne die Qualität solcher Ratschläge sachgerecht zu beurteilen. Artemisia kommt noch ein letztes Mal in wichtiger Angelegenheit mit beratender Stimme zu Worte 14 . Xerxes hat nach der verlorenen Seeschlacht den dringenden Wunsch, nach Asien zurückzukehren. Nach Herodots Ansicht wäre er selbst dann nicht geblieben, wenn alle ihm zugeredet

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... οϊ έν σ υ μ μ ά χ ω ν λ ό γ ω λέγονται είναι, έόντες Α ί γ ύ π τ ι ο ί τε και Κύπριοι και Κίλικες και Πάμφυλοι, τ ω ν όφελος έστι ουδέν. Man vergleiche die ähnliche Wiederaufnahme dieser Volkernamen durch Mardonios (8,100,4): ει δέ Φοίνικες τε και Α ι γ ύ π τ ι ο ι και Κύπριοι και Κίλικες κακοί έγένοντο, ούδέν προς Πέρσας τ ο ϋ τ ο προσήκει. Zu diesem Gespräch vgl. W. Marg, Herodot über die Folgen von Salamis, in: W. d. F. 618 f. Marg sagt: „Die Königin rechnet im Gegensatz zu Mardonios eher mit einem ungünstigen Ausgang und zeigt sich damit auch hier als der nüchterne und freimütige Ratgeber, der zu der Art der persischen Ratgeber des Xerxes kontrastiert. Sie spricht ohne eigenes Interesse als der tapfere und loyale Untertan, als den sie sich bisher gezeigt hat." Sie spricht mithin, so dürfen wir hinzusetzen, ganz im Sinne der vorliegenden Situation, wie Herodot die Lage gezeichnet hat. Daß er eine entsprechende ArtemisiaTradition vorgefunden habe, halte ich für ausgeschlossen.

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hätten. So fürchtete er sich (8,103: ο ύ τ ω καταρρωδήκεε) 1 5 . Er teilt sein Vorhaben dem Mardonios mit, der sich bereit erklärt, in Griechenland zu bleiben und mit einem ausgewählten Kontingent die Bewohner zu unterwerfen (vgl. 8,100). Xerxes berät sich mit den führenden Persern, möchte aber, ehe er sich entscheidet, die Meinung der Artemisia hören, die ihm vor der Seeschlacht so vortreffliche Empfehlungen habe zukommen lassen. Herodot teilt deren Antwort in Kap. 8,102 mit. Artemisia befürwortet die Rückkehr des Großkönigs, verbindet diesen Ratschlag aber mit einer Begründung, die in der vorangehenden Darstellung nicht erschienen ist: ,Wenn Mardonios siegt, dann ist das dein Erfolg; denn es sind deine Sklaven, die dieses Werk vollbringen. Wenn Mardonios aber unterliegt, dann ist der Schaden nicht groß, solange du selbst mit deinem Hause erhalten bleibst (vgl. auch § 3: Μαρδονίου δέ, ήν τι πάθη, λόγος ουδείς γίνεται). Du aber bist ja ans Ziel gelangt, da du Athen erobert und niedergebrannt hast.' Xerxes freut sich über diese Antwort; denn Artemisia hat ausgesprochen, was er selbst denkt (vgl. 8,103: λ έ γ ο υ σ α γ ά ρ έ π ε τ ύ γ χανε τάπερ αυτός ένόεε). Das bedeutet aber, daß Artemisia auch in ihrem Urteil über Mardonios die Ansicht des Königs getroffen hat. Xerxes hatte allerdings bisher keine Veranlassung, diese herabwürdigende Einschätzung auszusprechen. Herodot aber schafft sich durch die fingierte Antwort der Artemisia die Möglichkeit, die Gedanken des Großkönigs unauffällig zum Vorschein zu bringen und seinen Egoismus zu kennzeichnen: So viel gilt ihm, dem Xerxes, der Mann, dessen Ratschläge er bisher gutgeheißen hat! Die Bitterkeit des Urteils, das der Geschichtsschreiber hier fällt, läßt sich nicht verkennen. Auch an anderen Stellen werden die militärischen Handlungen des Xerxes als fehlerhaft oder wenigstens als ungeschickt bloßgestellt. Wir müssen uns hier mit Andeutungen begnügen. 1. 8 , 2 4 - 2 5 : Nach der Schlacht bei Thermopylai läßt Xerxes von 20 000 Gefallenen seines Heeres nur 1000 unbestattet, denen 4000 tote Hellenen (die Gesamtzahl der gefallenen Griechen) ebenfalls unbestattet gegenüberliegen. Die gesamte Flottenbesatzung wird zur Besichtigung des persischen Erfolges herbeigerufen. Aber man durchschaut den Trug und denkt sich sein Teil (vgl. 8,25,2: ού μεν οΰδ' έλάνθανε τους διαβεβηκότας Ξέρξης τ α ΰ τ α πρήξας περί τους νεκρούς τους έωυτοϋ' και γ ά ρ δή και γελοΐον ήν κτλ.). Das ist ein nüchterner Bericht. Aber er ist so gestaltet, daß in der Reaktion der persischen Matrosen die Kritik an der plumpen Ungeschicklichkeit ihres Königs zum Vorschein kommt. 2. 8,26 (ebenfalls nach Thermopylai): Arkadische Überläufer berichten dem König, daß die Griechen zur Zeit die Olympischen Spiele durchfüh15

Über die historische Relevanz dieser Furcht vgl. die guten Bemerkungen Margs a. Ο. (siehe vor. Anm.) 627 f.

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ren. Xerxes fragt nach dem Kampfpreis. Sie antworten: ,Der Kranz aus Zweigen des Ölbaums'. Da ruft Tritantaichmes, der Sohn des Artabanos, aus: „O Mardonios! Gegen was für Leute hast du uns in den Krieg geführt, Männer, die ihre Wettkampfspiele nicht um Besitz austragen, sondern um Manneswert!" Herodot bezeichnet diesen Ausspruch als „sehr edles Wort" (γνώμη γενναιοτάτη, vgl. § 2), aber der Sprecher muß sich von Xerxes den Vorwurf der Feigheit machen lassen. Augenscheinlich durchschaut der König den wahren Sachverhalt, ungeachtet aller Belehrungen durch Demaratos und trotz dem Ausgang der Kämpfe um den Engpaß von Thermopylai, immer noch nicht. Gerade das soll durch die Anekdote offenkundig werden. Xerxes' Mangel an Einsicht ändert sich auch nach der schweren Niederlage bei Salamis nicht, obwohl er doch, wie Herodot versichert, nun voller Furcht ist (vgl. 8,103 und oben S. 82 f.). Nach den bereits erwähnten Beratungen, vor allem nach dem Gespräch mit Artemisia, ist er wieder zuversichtlich und glaubt nun, vermutlich im Gegensatz zu der Herrin von Halikarnaß, an den zukünftigen Sieg des Mardonios. Während er auf dem Rückweg nach Asien in Thessalien weilt und Mardonios die zurückbleibenden Truppen zusammenstellen läßt, trifft ein spartanischer Herold ein, der auf Anordnung Delphis Vergeltung für den Tod des Leonidas verlangt. Vgl. 8,114,2: „König der Meder, die Lakedaimonier und die Herakliden von Sparta fordern von dir Buße für einen Mord, da du ihren König umgebracht hast, der Hellas schirmte" 16 . Xerxes aber lacht, verhält eine Weile, zeigt dann auf Mardonios und spricht: „Gut. Mardonios hier wird ihnen die Genugtuung geben, die ihnen gebührt" 17 . Die Anekdote hat ohne die Beziehung auf die persische Niederlage bei Plataiai keine rechte Pointe. Sie kann mithin erst nach 479 entstanden sein und wurde dem Geschichtsschreiber vermutlich in Delphi erzählt. Aber noch mehr: Der Herodotleser soll an diese Episode denken, wenn er im 9. Buch vom Untergang der persischen Kerntruppe um Mardonios hört, wo wieder von der Bußzahlung für Leonidas die Rede ist (9,64): „Da wurde, wie das Orakel es verlangt hatte, den Spartanern von Mardonios die Buße für den Tod des Leonidas bezahlt, und den schönsten Sieg von allen, die wir kennen, gewinnt Pausanias" 18 . Später erzählt der Autor, daß der Aiginete Lampon folgende Forderung an Pausanias gestellt habe (9,78,3): „... Denn nachdem Leonidas bei den Ω βασιλεύ Μήδωυ, Λακεδαιμόνιο! τέ σε και Ήρακλεΐδαι οϊ άπό Σ π ά ρ τ η αίτέουσι φόνου δίκας, ότι σφέων τον βασιλέα άττέκτειναζ ρυόμευου την Ελλάδα. Ebend.: TOiyap σφι Μαρδόνιο? όδε δίκας δώσει τοιαύτας οίας έκείνοισι ττρέττει. 9,64,1: ένθαΰτα ή τε δίκη τοϋ φόνου τοϋ Λεωνίδεω κατά τό χρηστήριον τοΐσι Σπαρτιήτησι έκ Μαρδονίου έπετελέετο και νίκην άναιρέεται καλλίστην άττασέων των ήμεϊς ίδμεν Παυσανίης.

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Thermopylen gefallen war, haben Mardonios und Xerxes ihm den Kopf abgeschnitten und auf den Pfahl gesteckt." Pausanias, so fahrt der Sprecher fort, möge nun das Gleiche mit Mardonios tun. Aber der König der Spartaner lehnt die barbarische Leichenschändung ab. Wieder ist die Anekdote des 8. Buches im Blick. Jedoch die Vorhersage, die Xerxes dem Herold gegenüber dort gemacht hat, vollzieht sich nicht nur anders, als er glaubte, sondern zugleich in einer Weise, die griechischer Ritterlichkeit entspricht. Offenbar ist jene Anekdote aus den Berichten über die Vorgänge auf dem Schlachtfeld von Plataiai hervorgegangen und in Delphi erzählt worden. Herodot übernahm sie, weil er auch in ihr ein Beispiel für die innere Unsicherheit und für die mangelhafte strategische Kompetenz des Großkönigs erblickte. Etwas anders ist es um die Partie 7,128—130 bestellt. Hier wird man nicht von Unfähigkeit des Königs sprechen dürfen, sondern man wird seinen unbekümmerten Dilettantismus hervorheben müssen. Xerxes besichtigt von Therme aus zu Schiff den Ausfluß des Peneios im Tempetal und stellt Betrachtungen über die Formation des Landes Thessalien an, das rings von hohen Bergen umgeben ist. Fehling (26 f.) hat bewiesen, daß die in 7,129 mitgeteilte geologische Theorie (Thessalien sei ursprünglich ein großer See gewesen, der sich erst nach Durchbruch des Peneios durch das Tempetal entleeren konnte), Herodots geistiges Eigentum ist. Auch der Gedanke des Königs, man könne das ganze Land durch Abdämmung des Peneios im Tempetal unter Wasser setzen (7,130,1—2), gehört nur dem Geschichtsschreiber. Xerxes erklärt sich mit dieser militärischen Möglichkeit sogar den rechtzeitigen Übertritt der Aleuaden auf seine Seite; denn, so meint er, sie wollten in einem durch seine geologische Beschaffenheit so arg bedrohten Lande nicht länger bleiben. Nichts an diesen Überlegungen des Großkönigs ist historisch. Fehling betont das mit Recht, er stellt jedoch die für uns wichtige Frage nicht: Weshalb werden diese Gedanken ausgerechnet mit der Person des Xerxes verbunden, teilweise sogar als seine Erkenntnisse hingestellt? Die Antwort ist nicht allzu schwierig: Im Hinblick auf praktische Zwecke sind die Vorstellungen des Königs naiv. Nicht ohne selbstgefälliges Mitleid beleuchtet Herodot die ungezügelte Phantasie dieses dilettantischen Strategen, der die Grenzen seiner Möglichkeiten nicht kennt: Der Athosdurchbruch war nach langen, mühevollen Vorbereitungen eben noch durchführbar, aber wie stark müßte eine Staumauer im Tempetal sein, die den Druck eines Sees von der Größe Thessaliens aushalten könnte! Außerdem beurteilt Xerxes das Verhalten der Aleuaden falsch 19 ; denn sie sind nicht aus Furcht vor Überschwemmung ihres Landes zu den Persern übergetre19

Indem er seine Überlegungen für die ihren hält, gibt er zu erkennen, daß er glaubt, sie seien allgemein einleuchtend. Seine Erörterung 7.130,2 ist schwerlich ironisch gemeint.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

ten, sondern (wie jedenfalls jeder Grieche wußte) aus Sorge um den Fortbestand ihrer Tyrannis 20 . Xerxes ist auch unbeherrscht und in seinen Despotenlaunen unberechenbar. Herodot bemüht sich, diese abstoßenden Wesenszüge kräftig hervortreten zu lassen, ζ. T. durch fingierte Angaben. Sobald der König erfahren hat, daß die erste Brücke über den Hellespont von einem Sturm zerstört worden ist, läßt er das Wasser (den Meergott) geißeln und Fesseln versenken (7,35,1). Herodot setzt — nicht ohne Übermut — eine sinnlose Variante hinzu: „Ich habe gehört, er habe außerdem sogar Brandmarker abgeschickt, die dem Hellespont ein Mal aufbrennen sollten" 21 . Wegen der sachlichen Unmöglichkeit mag das nur eine fingierte Variante (Scheinvariante) sein, die lediglich in Herodots Kontext als lächerliche Übertreibung einen Sinn hat. Sie soll die unbedachten Maßnahmen des Königs verächtlich machen. Dagegen ist die in § 3 folgende Nachricht bitter ernst: Xerxes läßt die unglücklichen Architekten der Brücke hinrichten. — Fast ebenso roh und voreilig ist sein Verhalten während der Seeschlacht bei Salamis gegenüber phönikischen Schiffskommandanten: Er läßt sie töten, weil sie sich über die Ionier beklagt haben. Ihre Beschwerde blieb erfolglos; denn just in diesem Augenblick versenkten samothrakische Matrosen zwei feindliche Trieren (8,90,1—3). — Wie bereits oben (S. 69) erwähnt, befiehlt der König, den ältesten Sohn des Pythios mitten durchzuschneiden, damit das Heer zwischen den Körperhälften hindurchziehe (7,39,3). Auch wenn sich in dieser Maßnahme ein alter Ritus widerspiegeln sollte, ist doch fraglich, ob in historisch heller Zeit deshalb ein Mensch sterben mußte, noch dazu zur besonderen Kränkung des alten Vaters, wie Herodot den Vorgang ja aufgefaßt hat. Neben diesen grausamen Handlungen stehen Äußerungen der Großmut, die freilich nie vorhersehbar sind. So beschenkt der Großkönig den soeben genannten Lyder Pythios, der die ganze Kerntruppe des Heeres aus eigenen Mitteln bewirtet hat, mit großer Freigebigkeit, so daß dessen Reichtum noch größer wird (7,27 — 29). — Die Spartaner Sperthias und Bulis, die sich opfern wollen, um das Unrecht zu sühnen, das ihre Landsleute an den persischen Herolden begangen haben, läßt er unversehrt 20

21

7,129,4 (Erklärung der jetzigen Gestalt Thessaliens durch Erdbeben). Herodot sagt, die Thessaler nennen stattdessen als Ursache den Gott Poseidon (§ 4): αυτοί μέν νυν Θεσσαλοί φασι Ποσειδέωνα ττοήσαι τόν αύλώνα, δΓ ού φέει ό Πηνειός, οϊκότα λέγοντες κτλ. Wer glaube, daß Poseidon die Erde erschüttere, müsse auch das Tempetal, Ergebnis eines Erdbebens, für ein Werk jenes Gottes halten. Herodot läßt die betroffenen Thessaler im Sinne ihrer religiösen Einstellung sprechen. Nur in einem eingeschränkten Sinne kann die Angabe Θεσσαλοί φασι fiktiv heißen (vgl. oben Anm. 6). Ebend.: ήδη δέ ήκουσα ώς και στιγέαξ αμα τούτοισι άττέττεμψε στίξοντα; τον Έλλήσττοντον.

6. Erzählungen über X e r x e s

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heimkehren (7,136,2: ύττό μεγαλοφροσύνης), setzt freilich seinen gnädigen Worten hinzu, er wolle jene nicht durch eine Hinrichtung der beiden von ihrer Schuld lösen (ουδέ άνταττοκτείυας εκείνους άττολύσειν Λακεδαιμονίους της αίτίης). — Großzügig verfährt er auch mit den im persischen Heerlager zu Sardes ergriffenen griechischen Spionen: Er läßt sie durch das Lager führen, damit sie alles sehen und über alles berichten können (7,146). Die Geste des Edelmuts ist freilich mit einer konkreten Absicht verbunden, vgl. 7,147,1: Der Tod dreier Männer, so meint der König, schädige die Feinde nicht; wenn die Späher aber nach Griechenland zurückkehren und ihre Landsleute erfahren könnten, wie unermeßlich groß seine Streitmacht ist, dann würden die Griechen wohl rechtzeitig aufgeben. Herodot läßt an dieser Stelle ein zweites Beispiel folgen, das eine ähnlich großzügige Sorglosigkeit wiedergeben soll (§ 2 — 3): „Ähnlich urteilte er bei einer anderen Gelegenheit. Als er nämlich in Abydos weilte, sah Xerxes Schiffe mit Getreideladung aus dem Pontos durch den Hellespont fahren mit Aigina und der Peloponnes als Bestimmungsorten. Seine Beisitzer nun waren, als sie erfuhren, die Schiffe gehörten den Feinden, auf dem Sprung, sie aufbringen zu lassen, und blickten auf den König, um zu sehen, wann er den Befehl dazu erteile. Xerxes aber fragte sie, wohin sie führen. Und sie sagten: ,Zu deinen Feinden, Herr, und haben Getreide geladen!' Und er sagte darauf: ,Fahren wir nicht auch dahin, wohin diese fahren, mit sonst allem versehen und auch mit Getreide? Was tun diese Leute also Schlimmes, daß sie Getreide für uns hinschaffen?'" Die Erzählung ist kaum ein historischer Bericht, eher wohl ein Symbol naiver Zuversicht und eingebildeter Sicherheit des königlichen Sprechers als ein Zeichen echter Großzügigkeit. In dieser ihrer Zwielichtigkeit paßt sie, wie der Autor richtig sagt, zu der vorangehenden Anekdote. Beide Erzählungen hinterlassen beim Leser, der den Ausgang des ganzen Unternehmens ja kennt, ein Gefühl der Unzufriedenheit und des Bedauerns (vgl. auch 7,24,1). Spott und Kritik des Autors sind uns in seinen Äußerungen über Xerxes schon mehrfach begegnet. Derartige ironische Bemerkungen sind freilich meist verhüllt. Die Schilderung von der Überschreitung des Hellespont dagegen ist mit drei Anekdoten ausgestattet, in denen der kritische Zweifel deutlich hervortritt. Die erste (zeitlich zweite) besagt (7,56,2): Ein Bewohner der Hellespontküste, der den Übergang des Heeres über die beiden Brücken mitangesehen hat, soll ausgerufen haben: „O Zeus, warum mußt du denn die Gestalt eines Persers annehmen und dir den Namen Xerxes zulegen statt Zeus, um Hellas zu verheeren, und führst die ganze Menschheit mit? Auch ohne deren Hilfe stünde es doch in deiner Macht, das zu tun" 2 2 . Der Ausruf ist so formuliert, daß er sich selbst aufhebt: 22

·*Ω Ζεΰ, τ ί δ ή άνδρϊ είδόμενοξ Πέρση και οΰνομα άντϊ Διός Ξέρξην θέμενοξ ά ν ά σ τ α τ ο ν τ η ν Ε λ λ ά δ α θέλεις ττοιήσαι, ά γ ω ν π ά ν τ α ; ά ν θ ρ ώ π ο υ ; ; και γ ά ρ άνευ τ ο ύ τ ω ν έξήν τ ο ι ττοΐΕΕίν τ α ϋ τ α . Siehe auch E v a n s 63.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Der Aufwand ist nicht entbehrlich, infolgedessen ist Xerxes nicht Zeus, und am Erfolg des Unternehmens sind ernste Zweifel möglich. Daß sie berechtigt sind, wird gleich danach (7,57) gezeigt. Dem weiterziehenden Heer wird ein besonderes Wunder zuteil, das Xerxes freilich, obwohl es durchsichtig (εϋσύμβλητον) ist, keiner Beachtung würdigt: Ein Pferd bringt einen Hasen zur Welt. Herodot läßt die Deutung unmittelbar folgen (7,57,1: εύσύμβλητον ών τήδε έγένετο, δτι ...): „Xerxes werde ein Heer gegen Hellas führen in aller Pracht und Herrlichkeit, auf dem Rückzug aber werde er, wenn er an der gleichen Stelle vorüberkommt, um sein Leben laufen." Der Geschichtsschreiber erinnert schließlich noch an ein weiteres Zeichen, das der Großkönig bereits in Sardes erlebte und ebenfalls unbeachtet ließ: ήμίονος ετεκε ήμίονον διξά εχουσαν αιδοία, τά μεν ερσενος τα δέ θηλέης - κατύπερθε δέ ήν τά του ερσενος. Hier wird keine Deutung gegeben. Aber wer bedenkt, daß Maultiere in der Regel unfruchtbar sind und daß die Griechen mit Männern, die Perser mit Weibern verglichen werden (so Artemisia in 8,68 α 1, vgl. dazu oben S. 81), weiß, was gemeint sein wird (vgl. auch Flory 45). Auch diese drei Passagen beleuchten die naive Unbekümmertheit und den unbegründeten Stolz dieses Großkönigs. Sie sind jedoch trotz ihrer ironischen Färbung sehr ernst; denn sie wurden von jemandem konzipiert, der die persische Katastrophe im Auge hatte und die Vermessenheit des Übergriffs auf einen fremden Kontinent brandmarken wollte. Ich zweifle nicht daran, daß Herodot selbst die Anekdoten erfunden und in der oben bezeichneten Reihenfolge angeordnet hat. Bei Beschreibung von Xerxes' Rückzug zum Hellespont teilt der Geschichtsschreiber eine Variante mit, die einen geradezu abenteuerlichen Inhalt hat (8,118,1: εστι δέ και άλλος δδε λόγος λεγόμενος). Deshalb versagt ihr der Autor auch den Glauben (vgl. 8,119: ούτος δέ άλλος λέγεται λόγος περί τοΰ Ξέρξεω νόστου, ουδαμώς εμοιγε πιστός). Die Erzählung hat folgenden Inhalt: Xerxes habe mit seiner persischen Begleitung in Eion ein phönikisches Schiff bestiegen, um von der Strymonmündung aus unmittelbar nach Asien überzusetzen, er sei aber in einen schweren Sturm geraten. D a habe er den Kapitän gefragt, ob es eine Rettungsmöglichkeit gebe. Der habe geantwortet: ,Nur wenn das Schiff die allzu vielen Passagiere los wird!' Daraufhin habe der König die Perser aufgefordert zu zeigen, daß sie um ihn, den Monarchen, besorgt sind. Die Perser hätten verstanden: Sie hätten die Proskynese ausgeführt und seien ins Meer gesprungen. Das also erleichterte Schiff habe nun den Sturm überstanden. Nach der Landung in Asien habe Xerxes den Kapitän mit einem goldenen Kranz belohnt, sein bekränztes Haupt aber, da er ja den Tod vieler vornehmer Perser verschuldete, abschlagen lassen. Diese sonderbare Geschichte steckt voller Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten, die von Herodots Kritik keinesfalls vollständig erfaßt

6. Erzählungen über Xerxes

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werden. Der Autor beschränkt sich nämlich nur auf einen einzigen Punkt. Er meint (8,119), Xerxes würde, wenn es sich um eine wahre Begebenheit handelte, nicht die angesehenen Perser geopfert haben. Er hätte sie vielmehr auf die Ruderbänke gesetzt und die phönikischen Matrosen in entsprechender Anzahl über Bord springen lassen. Aber mit dieser Vermutung ist wenig gewonnen; denn wenn auch die Phoiniker zum Selbstmord bereit gewesen wären, wozu hätten Ruderer helfen können, die ihr Handwerk nicht verstehen, noch dazu bei schwerer See? Man darf weiter fragen: Hätten die Perser in Eion ein Schiff überladen, das den Großkönig tragen sollte? Ist es ferner wahrscheinlich, daß die Großen des Reiches vor ihrem Opfertod auf heftig schwankendem Deck die Proskynese vollzogen? Und wie soll die absurde Maßnahme des Königs erklärt oder gar gerechtfertigt werden, der ein Haupt abschlagen läßt, das er soeben bekränzt hat? Man sollte meinen: Es muß wohl einen besonderen Grund haben, daß Herodot die beiden zuletzt genannten Punkte in seiner Kritik nicht berührt hat. Fragt man aber, wer Interesse daran hatte, diese teils tragische, teils lächerliche Geschichte zu erfinden, dann läßt sich m. E. nur antworten: niemand außer Herodot selbst; denn sie paßt, ähnlich wie die verwegene erste Erzählung vom Makedonenkönig Alexander (5,17 ff.; siehe unten S. 101 ff.), nur in seinen eigenen Zusammenhang. Der Autor bestreitet zwar die Glaubwürdigkeit dessen, was er angeblich gehört hat, aber das ändert die Bedeutung der Geschichte nicht; denn auch als Fiktion rückt sie die Furcht des Großkönigs in ein grelles Licht 23 . Darüber hinaus bringt sie zwei Eigenheiten des persischen Königtums in drastischer Weise zum Vorschein, die nach Herodots Urteil am Zusammenbruch des großen gegen Hellas gerichteten Unternehmens mitschuldig sind: die Servilität des persischen Adels und die Unberechenbarkeit des launenhaften Königs. Man hat den Eindruck, daß der Geschichtsschreiber diese Mängel an einem markanten Beispiel aufweisen wollte, auch wenn sie in Wirklichkeit in dieser Zusammenstellung nicht aufgetreten sind. Doch die Phänomene selbst waren ja vorhanden, und das zu verdeutlichen, war Herodot wichtig. Was griechische Freiheit und in Griechenland geübte Gerechtigkeit wert sind, kann nun jeder Leser durch Vergleich mit den Verirrungen orientalischer Despotie leicht feststellen. Erst nach Beschreibung der letzten Schlacht der Perserkriege (bei Mykale i. J. 479) erhält der Herodotleser noch eine weitere Nachricht über Xerxes. Die Kapitel 9,108 — 113 unterrichten ihn über ein blutiges Drama innerhalb der königlichen Familie, das durch Xerxes' Liebesabenteuer ausgelöst worden ist.

23

Vgl. Bornitz 131; siehe auch Benardete 4 f.; ausgezeichnet Flory 58 f.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Während sich die persischen Truppen bei Plataiai und Mykale schlagen müssen, gibt sich Xerxes in Sardes, wohin er nach der Niederlage bei Salamis geflohen ist, sinnlichen Genüssen hin. Er versucht, die Frau seines Bruders Masistes zu verführen. Als das nicht gelingt, gibt er, in der Hoffnung ihr näher zu kommen, ihre Tochter namens Artaynte seinem Sohn Dareios zur Frau. Indessen läßt er bald von der aussichtslosen Werbung um die Schwägerin ab und verliebt sich — nunmehr in Susa — mit Erfolg in seine Schwiegertochter. Das Verhältnis des Königs mit ihr wird jedoch ruchbar, da Xerxes der Geliebten ein kostbares Gewand leichtsinnig überläßt, das ihm seine Gattin Amestris gewebt und geschenkt hat. Amestris hält die Mutter der Artaynte für schuldig an Xerxes' Untreue und Verhalten. Sie erbittet sich am Jahrestag der Thronbesteigung (pers. tacbt, bei Herodot τυκτά: 9,110,2) freie Verfügung über die Gattin des Masistes. Xerxes gewährt diese Bitte, obwohl er genau weiß, was nun der unschuldigen Frau bevorsteht. Vergeblich bedrängt er seinen Bruder, seine jetzige Gemahlin zu verstoßen und eine Tochter des Königs zu heiraten. Bereits während dieser Auseinandersetzung hat Amestris ihre Schwägerin in bestialischer Weise verstümmeln lassen. Masistes versucht nun zusammen mit seinen Söhnen, Baktrien, seine Satrapie, zum Abfall zu bringen. Er wird jedoch auf dem Wege dahin mitsamt seinem Gefolge von Xerxes' Häschern getötet 24 . Man könnte vermuten, diese Geschichte sei überflüssig und Herodot erzähle sie nur, weil er sie im Persien seiner Zeit gehört und dabei bemerkt habe, daß sie sich zu einer dramatischen Darstellung ausschmücken lasse; sie scheint ja auch mit dem historischen Hauptgeschehen nicht unmittelbar zusammenzuhängen. Wenn man sie jedoch fortläßt, entsteht eine spürbare Lücke; denn die Erzählung enthält das abschließende Urteil des Geschichtsschreibers über diesen König, der mit viel Gepränge, mit phantasievollen Vorstellungen und mit hohen Worten ein großes Eroberungswerk begonnen hat, sich nun aber als Weiberheld in Haremsumtriebe verstrickt. Jedoch noch mehr: Die Erzählung bringt (was man bisher nicht für möglich gehalten hätte) seine Feigheit gegenüber der eigenen Gemahlin, seine Gewissenlosigkeit gegenüber der zuvor umworbenen Schwägerin und schließlich die Roheit gegenüber seinem Bruder ans Licht. Der Autor verurteilt ihn nun als minderwertigen Charakter; Xerxes ist der hohen Stellung, die er einnimmt, nicht würdig. Sein Wesen und sein Wirken stehen in schroffem Gegensatz zu dem einfachen Leben, das Kyros den Persern einst empfohlen hat. Man darf sogar sagen: Xerxes repräsentiert die von Kyros befürchtete Verweichlichung (vgl. 9,122,3). Die Beziehung auch unserer aufregenden Erzählung zu dem Schlußkapitel des ganzen 24

Eingehende, verständnisvolle Analyse der entsetzlichen Vorgänge bei Stößl 487 ff., der auch die klägliche Rolle des Xerxes richtig beleuchtet.

6. Erzählungen übet Xerxes

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Werkes scheint mir eindeutig zu sein 25 . Sie bestätigt zugleich die Gültigkeit des von Herodot befürworteten Weltgesetzes, wonach Hybris mit dem Absturz in die Tiefe endet. Xerxes ist ein abschreckendes Beispiel: Am Anfang will er sich dem kühnen Unternehmen entziehen, aber in Herodots Darstellung erlauben das die Götter nicht (das besagt in moderne Vorstellungen übersetzt: Der König ist bereits so degeneriert, daß ihm ein entschlossener Verzicht nicht gelingt). Am Ende aber steht der Herrscher in unverhüllter Minderwertigkeit vor dem Auge des Betrachters. Man gönnt ihm den (bevorstehenden) Untergang und ist ausgesöhnt mit dem Lauf der Welt. Gerade im Hinblick auf die zuletzt genannte Beziehung (d. h. in Ansehung v o n Xerxes' Lebensende) hat W o l f f 2 6 unserer Geschichte vom Untergang des Masistes und seiner Familie einen noch tieferen Sinn abgewinnen wollen. Wolff macht es wahrscheinlich, daß in der uns erhaltenen Erzählung die 14 Jahre später erfolgte Ermordung des Großkönigs vorbereitet, ja vorgezeichnet sei. Die herodoteische Erzählung würde, wenn Wolffs Kombination zutrifft, über sich hinausweisen in die Zukunft. Wolffs Überlegungen sind freilich nicht über jeden Zweifel erhaben. Wer sie aber gutheißt, wird zugeben müssen, daß nun Herodots Urteil noch schwerer wiegt. Es kommt dann einer endgültigen Verdammung des einst so prächtigen und bewunderten Herrschers gleich 27 .

Auf die Zeichnungen zurückblickend, die Herodot von den drei Großkönigen geschaffen hat, dürfen wir folgendes festhalten: Herodot konstruiert keine Typen (wie man falschlich behauptet hat), sondern er arbeitet an jedem einzelnen Herrscher solche Merkmale heraus, die es gestatten, diesen König von seinen Vorgängern und Nachfolgern abzuheben. Allerdings besitzen alle diese Großkönige Eigenschaften und Gepflogenheiten, die für ihr hohes Amt und seine Verwaltung selbstverständlich sind: Sie fühlen sich verpflichtet, die Macht des Reiches zu mehren, sie behandeln alle Bewohner ihres Herrschaftsgebietes als ihre Sklaven (Vasallen) und schließen sich durch strenges Zeremoniell von ihren Mitmenschen ab. Solche Merkmale machen jedoch nicht den Kern des Wesens jedes einzelnen Monarchen aus. Herodot bringt seine Ansicht von dem jeweiligen Perserkönig in mehreren, bisweilen in zahlreichen Novellen und Anekdoten, auch in Reden und Gesprächen zum Ausdruck. Dadurch macht er dessen Eigenart erzählbar. Immer aber ist das treffsichere Urteil des Autors Voraussetzung 25 26

27

Vgl. auch oben S. 43, ferner Evans 66 f. E. W., Das Weib des Masistes, Hermes 92, 1964, 51 - 5 8 = W. d. F. 26 ( 2 Darmstadt 1965), 668 — 678 (überarbeitet); dazu Cobet 173. Vgl. Wolff a. Ο. (siehe vor. Anm.) 676 ff. Uber die Vorgänge am Perserhof bei Ermordung des Xerxes vgl. Immerwahr 180 (ein gewisser Artabanos tötete den Großkönig und überredete dessen Sohn Artaxerxes, seinen eigenen Bruder Dareios umzubringen. Öffentlich beschuldigte Artaxerxes den Dareios des Mordes an Xerxes). So nach Α. T. Olmstead, History of the Persian Empire, Chicago 1948, 289 f.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

für diese gefallige Art der Darstellung geschichtlicher Vorgänge am Mittelpunkt des Perserreichs. Der heutige Leser muß Herodots Ansicht aus den einzelnen Berichten erschließen, wenn er zu deren Grundlage vorstoßen will. E r findet bei dieser Analyse nicht einen in allen Einzelheiten zutreffenden historischen Sachverhalt, sondern nur die wohlbegründete Auffassung des Autors. Wir Heutige haben keine Veranlassung, diese Art der Darstellung zu beanstanden; denn im Ganzen entspricht sie dem Prinzip auch der wissenschaftlichen Historiographie. Der Unterschied besteht nur darin, daß sich Herodot auf einzelne Hauptmerkmale beschränkt (sich meist aus Mangel an zuverlässiger Orientierung beschränken mußte) und sie durch Anekdoten oder ähnliche Geschichten illustriert, die er, auf eigenen Beobachtungen aufbauend, liebevoll mit aufschlußreichen Einzelheiten ausschmückt. Der Verfasser einer wissenschaftlichen historischen Darstellung aber berücksichtigt alle erreichbaren Tatsachen und alle relevanten Gesichtspunkte. E r ist bemüht, diese begrifflich zu fixieren, das besagt: mit dem rechten Oberbegriff zu verbinden. Der Nacherzählung geschichtlicher Abläufe zieht er dadurch engere Grenzen als Herodot; denn er muß jedes Ereignis in ein ganzes Netz von Wirkungen und Gegenwirkungen einordnen. Herodot dagegen hat es, wie gerade seine Behandlung der Perserkönige zeigt, nur mit wenigen Grundmotiven zu tun, die ihm bei Entfaltung seiner Darstellungskunst freie Hand lassen. Die Versuchung liegt nahe, diese Art, geschichtliche Vorgänge zu erzählen und in dieser Erzählung lebendig werden zu lassen, als bloß literarischen Kunstgriff aufzufassen. Aber das würde bedeuten, daß man in ihr eine absichtliche Abweichung von einer ebenso gut möglichen begrifflichen Fixierung geschichtlichen Geschehens sehen müßte. Dieser Weg der Deutung ist schwerlich gangbar. Herodot schreibt wie ein Dichter — wie man gesagt hat, bald für Kinder, bald für Philosophen (Gibbon) —, weil ihm das Handwerkszeug einer streng auf die wesentlichen Fakten und auf die entscheidenden Motive konzentrierten Darstellung noch nicht zur Verfügung steht. Sein Blick ist mehr auf die sichtbare Außenseite dieser Welt gerichtet, nicht auf die Vielfalt der in ihrem Hintergrunde wirkenden Kräfte. E r setzt solche Kräfte unbefangen mit dem Willen der Gottheit gleich, die das irdische Geschehen nach einfachen, aber unverrückbaren Grundsätzen regelt. Man muß sich also hüten, dem Autor die geistige Leistung des Thukydides stillschweigend abzuverlangen. Unsere bisherigen Beobachtungen sollen im folgenden mit einigen Beispielen aus der griechischen Welt verdeutlicht werden.

7. Erzählungen (Novellen oder Anekdoten) über griechische und makedonische Politiker a)

Polykrates

Der Gedanke des Ausgleichs ist, 'wie wir bereits mehrmals beobachten konnten, eine wesentliche Grundlage herodoteischer Geschichtsbetrachtung. In Herodots Welt, einer Welt der Ordnung, ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und die Unglücklichen nicht ohne Aussicht auf Erleichterung ihres Geschickes bleiben. Der Geschichtsschreiber findet im Ablauf der Ereignisse zahlreiche Belege für diese. Tatsache1. Dabei betrifft die Beobachtung, daß Unrecht, mag es auch alt sein, am Ende bestraft wird, nur einen Sonderfall des allgemeinen Phänomens, eben die durch schuldhaftes Handeln herbeigeführte Ungleichheit. Man kann also den sogenannten Schuld-Sühne-Mechanismus nur dann in angemessener Weise verstehen, wenn man ihn in Verbindung mit dem allgemeingültigen Ausgleich unstatthafter Überhöhung von Glück und Unglück würdigt. Hier kann der Mensch ganz schuldlos sein, dort müßte er wissen, daß dem Unrecht, das er verübt, die Strafe folgen wird. Der Glaube an die göttliche Ordnung der Welt und an das sich immer wieder ausgleichende Schicksal der Menschen verträgt sich in Herodots Geist mit einem gesunden Rationalismus, wie das bei tiefer Religiosität oft der Fall ist. Der Geschichtsschreiber schränkt die sichtbaren Eingriffe der Gottheit auf die seltenen, wahrhaft erstaunlichen Begebenheiten ein und ist im übrigen mit alltäglichen Erklärungen (Motivationen) zufrieden. Es geht also nicht an, ihn auf einseitige Anschauungen festzulegen und diesen zuliebe die andere Seite zu vernachlässigen. Waters' Kapitel „Religious and Moral Attitudes" (Waters 1985, 96 — 118) ist m. E. ein vergeblicher Versuch, den Autor zu modernisieren (vgl. bes. 105, 107 und 112 f. über Solon und Kroisos, zu einseitig auch Shimron 35 ff.). Hilfreich für das Verständnis von Herodots Weltansicht ist Broadheads Bemerkung über θεών φθόνος (zu Aisch. Pers. 361—2, Commentary p. 119). Man vergleiche auch den nützlichen Abriß bei de St. Croix 139 — 147, vor allem aber Nicolai 30 — 46, besonders 37 — 42. Die kompositorische Funktion des Ausgleichsgedankens ist von de Romilly durch das ganze Werk hin verfolgt und in vorbildlicher Art analysiert worden. De Romilly sagt richtig, daß er dem Geschichtsschreiber eine willkommene Handhabe bietet, Zusammenhänge herzustellen, vgl. 318: Er sei „plutöt comme une liaison commode que comme une analyse serieuse". Ich würde lieber formulieren: Er ist ein tiefsinniges Mittel, historische Kontinuität herzustellen. Wie sich im übrigen die drei Formen der Motivation, über die Herodot verfügt 1

Sie wird allerdings nur dort als wirksam gedacht, wo sie im bereits vergangenen Geschehen nachweisbar ist, vgl. Waters (1971) 41 f.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

(Eingreifen der Gottheit, Glaube der Menschen an gerechten Ausgleich und politische Berechnung) in der uns vorliegenden Darstellung abwechseln und bisweilen durchdringen, kann hier nicht einmal angedeutet werden. Der interessierte Leser findet bei de Romilly ausreichende Belehrung. Eine besonders geistvolle Behandlung unseres Themas liest man bei Friedrich 355 ff. Friedrich betrachtet allerdings den „Schuld-Sühne-Mechanismus" nicht als Sonderfall des allgemeinen Ausgleichsgedankens. Deshalb sieht er sich veranlaßt, in den Fällen, in denen Herodot nicht Schuld und Sühne gegeneinander aufrechnet, von Überwindung des Mechanismus zu sprechen, vgl. 356: „Andere sind ihm zu schade, sie über den frommen Kamm zu scheren. Dann stellt er den Schuld-Sühne-Mechanismus ab, der von seinen Vorerzählern in Gang gesetzt worden war." Diese Formulierung ist schon deshalb fragwürdig, weil wir über die teleologischen Ansichten der Vorerzähler — soweit solche überhaupt nachweisbar sind — kaum etwas wissen. Wichtiger aber ist folgendes: Aus Friedrichs eigenen Beispielen geht hervor, daß Herodot sich überall dort auf das unberechenbare (irrationale) Wirken der Gottheit beruft und nicht (oder nicht nur) auf den schlichten Schuld-Sühne-Mechanismus, w o es sich um historisch bedeutsame Persönlichkeiten handelt. Ihr Tod hat das Format eines tragischen Untergangs, er soll beim Leser Mitleid erwecken und soll ihn zum Nachdenken über den Grund des göttlichen Eingriffs anregen. Polykrates ist, wie wir sehen werden, ein aufschlußreiches Beispiel: Herodot läßt ihn nicht zugrundegehen, weil seine Skrupellosigkeit bestraft werden soll, sondern weil sein ungewöhnliches Glück die Ordnung dieser Welt stört. Der Grund für die Wahl des Motivs wird also durch die Bedeutsamkeit des geschichtlichen Materials bestimmt. Man kann nicht wohl von einer „Überwindung" jenes Mechanismus sprechen, sondern nur von seiner angemessenen Verwendung. Im übrigen denkt Herodot auch in denjenigen Fällen an Schuld und Sühne, in denen Friedrich das nicht anerkennen möchte: Otanes, der persische Feldherr, der Samos ohne Blutvergießen an Syloson übergeben soll, wird durch eine Krankheit (3,149) daran erinnert, daß er in der Bestrafung der wortbrüchigen Samier zu weit gegangen ist, und ein Traum mahnt ihn, die Insel, die er fast entvölkern ließ, wieder zu besiedeln. Die rein schriftstellerische Tatsache, daß zwischen den Befehl des Dareios (3,147,1) und die Bestrafung des Otanes der kurze Bericht über Maiandrios' Flucht und sein vergebliches Verhandeln in Sparta tritt, vermindert die Bedeutung der Beziehung nicht. — Der Satrap Oroites stürzt nach Herodots Angabe (3,126,1 und 3,128,5), weil er Buße für die Ermordung des Polykrates zahlen muß (vgl. Friedrich 369). Dareios mit seiner „ganz anderen" Rache (der Großkönig bestraft den Satrapen wegen unerträglicher Insubordination) erfüllt in diesem Strafgericht nur die Funktion eines von den Göttern bestellten Helfers. Daß wir auch im Schicksal des Kambyses von Sühne sprechen müssen, wurde oben (S. 54 f.) dargelegt. So zeigt sich: Herodot überwindet den Mechanismus nicht, sondern er stellt ihn in einen umfassenderen Zusammenhang (in dem göttliche Motive wichtiger sind als menschliche) und handhabt ihn als Schriftsteller mit so großer Meisterschaft, daß kein Nachahmer ihm je gleichkommen konnte.

Der Geschichtsschreiber ist von beiden Erscheinungen desselben Vorgangs, vom ausgleichenden Wirken der Gottheit im Schicksal der Schuldlosen und in der Bestrafung der Schuldigen, tief beeindruckt. Das bekennt er besonders nachdrücklich bei Erwähnung des Eunuchen Hermotimos, der die natürlichen Kinder des Xerxes auf dem Wege von Griechenland nach Ephesos als Leibwächter begleitet. Dieser Hermotimos hätte gar nicht namentlich genannt zu werden brauchen, wenn nicht sein Lebenslauf so lehrreich wäre. So verweilt der Autor denn bei seinem unerhörten Schicksal (8,104—106), vgl. 8,105,1: τ ω μεγίστη τίσις ήδη άδικηθέντι

7. Erzählungen über griechische und makedonische Politiker

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εγένετο π ά ν τ ω ν τ ω ν ήμεΐς Τδμεν. Der Bericht über die zur Zeit der Haupterzählung längst vergangenen Ereignisse ist an der Stelle eingefügt worden, an der allein Hermotimos genannt und mit dem großen politischen Geschehen verbunden werden konnte. Gerade in seiner paradigmatischen Gestaltung dürfte das Schicksal dieses Mannes nicht ohne Beziehung zu den exemplarischen Vorgängen des Gesamtwerks sein. Hermotimos aus Pedasos bei Halikarnaß geriet als junger Mensch in Kriegsgefangenschaft und wurde von Panionios aus Chios aufgekauft. Der kastrierte ihn und verhandelte ihn nach Persien. Hermotimos mußte sich in seinem Unglück damit trösten, daß er als Eunuch eine hohe Vertrauensstellung am königlichen Hofe erhalten konnte. Im Jahre 480, auf dem Zug des Xerxes gegen Griechenland, besuchte er von Sardes aus die den Chiern gehörende Stadt Atarneus in Mysien und traf dort zufällig den Panionios. Er lud ihn mit seinen vier Söhnen in sein Quartier ein. Dort aber, im Hause, ließ er die Maske fallen und führte dem Panionios die Schändlichkeit seines Verhaltens vor Augen. Dann zwang er ihn, seine Söhne eigenhändig zu entmannen, und diese mußten anschließend dem Vater das Gleiche antun. Das ist zweifellos eine wahre Geschichte. Herodot erzählt sie mit Genugtuung, weil sie ein musterhafter Beleg für seine Teleologie ist. Im folgenden wollen wir jedoch nicht vom Schuld-Sühne-Verhältnis sprechen, sondern an einem bekannten Beispiel zeigen, daß Herodot anekdotenhafte, auch unverbürgte oder frei erfundene Einzelheiten benutzt, um ein historisch gesichertes Herrscherschicksal seinem religiösen Grundgedanken unterzuordnen. Wir denken an Polykrates. Herodot schildert das Schicksal dieses Tyrannen von Samos in den Kapiteln 3,39 — 60 und 3,120 — 125. Die Zeit des Glückes des Herrschers gehört zur Regierung des Kambyses, der Fall des Tyrannen bereits zu der des Dareios. Zwischen beiden Lebensperioden liegen der Aufstand der Magier, das Ende des Kambyses, die Verschwörung der sieben vornehmen Perser gegen den falschen Smerdis und die Thronbesteigung des Dareios. Wieder einmal bewährt sich Herodots meisterhafte Kompositionskunst: Er hat die beiden Ausblicke auf das, was am Hofe des Polykrates vorgeht, geschickt mit der Geschichte des Perserreichs verbunden. Durch die genannte Stoffverteilung erscheint das Glück des Tyrannen als besonders groß, und die Erwartung seines Sturzes wächst mit der Verzögerung des Berichtes 2 . Die Darstellung des pausenlosen Erfolges in den Handlungen des Tyrannen wird kurz abgemacht. Man erfahrt nur nebenbei, daß die lesbi2

Von den Kapiteln 3,44 — 59 (Zug der Spartaner gegen Samos) sehen wir im jetzigen Zusammenhang ab: Sie verbinden zwar die samische Geschichte mit der des Mutterlandes, tragen aber zum vorliegenden Thema nur wenig bei. Vgl. im übrigen unten S. 146 f.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

sehe Flotte in einer Seeschlacht besiegt worden ist (3,39,4), daß seine Macht schnell wuchs und sein Ruhm sich in ganz Griechenland verbreitete (3,39,3). Um das zu belegen, benutzt der Geschichtsschreiber eine zynische Wendung, die man dem Polykrates zugeschrieben zu haben scheint (3,39,4): „In aller Welt plünderte er und führte die Leute davon und verschonte niemand. Denn er gewinne eher Freunde und ihren Dank, war sein Wort, wenn er ihnen etwas nehme und dann wiedergebe, als wenn er's gar nicht erst nehme" 3 . Dann schon meldet sich Amasis, der König von Ägypten, zu Wort und erinnert seinen Freund Polykrates (3,40,2: άνδρα φίλον και ξεΐνον) an die Mißgunst der Götter, die eine ununterbrochene Kette von Glücksumständen nicht dulden werden. Amasis empfiehlt dem Tyrannen deshalb, seinem bisherigen Schicksal selbst entgegenzuwirken und sich vom liebsten Besitz zu trennen; das bedeutet: sich selbst Kummer zu bereiten. Polykrates gehorcht, aber sein Versuch mißlingt. Der auf hoher See ins Meer geschleuderte Siegelring kehrt auf beinahe wunderbare Weise zu seinem Besitzer zurück. Amasis aber trennt sich von seinem Freund (3,43,2: διαλύεσθαι εφη την ξεινίην), weil er den Umschlag ins Unglück für unvermeidlich hält und am Sturz des Tyrannen innerlich nicht so beteiligt sein möchte wie am Unglück eines Freundes 4 . Der erste Brief, den Amasis an Polykrates richtet (3,40), enthält nur herodoteische Gedanken (vgl. besonders § 2: έμοι δέ αί σαι μεγάλαι εύτυχίαι ουκ άρέσκουσι έτπσταμένω τό θείον ώς έστι φθονερόν), und der praktische Rat, sich vom liebsten Besitz zu trennen, ist so ersonnen, daß sein Mißlingen die Hilflosigkeit der Menschen zum Vorschein bringen muß. So heißt es über Amasis, der von der Rückkehr des Ringes zu seinem Besitzer gehört hat (3,43,1): „Als aber Amasis diesen Brief des Polykrates las, sah er ein, daß es nicht in der Macht eines Menschen steht, einen anderen zu bewahren vor dem, was da kommen soll . . . " In der Tat ist ja das, was bei Durchführung des Experiments geschieht, so verblüffend, ja unwahrscheinlich, daß es sich nicht um ein wahres Ereignis handeln kann. Auch wird niemand die Geschichte erfunden haben außer Herodot selbst; denn er berichtet sie ja, weil sie gerade wegen ihres ungewöhnlichen

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Τώ γαρ φίλω εφη χαριεΐσθαι μάλλον άττοδιδοΰς τά ελαβε ή αρχήν μηδέ λαβών. Die moderne historische Forschung (vgl. ζ. Β. unten S. 98 f.: Mitchell) hat versucht, es wahrscheinlich zu machen, daß nicht Amasis mit Polykrates gebrochen hat, sondern umgekehrt der Tyrann von Samos mit dem ägyptischen König: Polykrates habe es für ratsam gehalten, auf die Seite des Perserkönigs zu treten, der sich anschickte, Ägypten zu erobern (vgl. 3,44,1 —2). Jedoch Labarbe (30 — 34) hat in seiner sorgfältigen Nachzeichnung der Ereignisse gezeigt, daß jene moderne Ansicht aus chronologischen Gründen vermutlich falsch ist: Polykrates verhandelte erst nach dem Tode des Amasis mit Kambyses über Mitwirkung am Feldzug gegen Ägypten. Diese Lösung hat den Vorteil, daß sie uns die Annahme erspart, Herodot habe die Tatsachen auf den Kopf gestellt.

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Inhalts ein Beleg für die Gültigkeit seines teleologischen Glaubens sein soll 5 . Nur unter diesen herodoteischen Voraussetzungen wirkt die Novelle wie die Wiedergabe eines tatsächlichen Geschehens, und nur so weckt sie beim Leser die Überraschung und das Staunen, wie sie vom Autor beabsichtigt worden sind. Als gezeichnetes Glückskind bleibt Polykrates im Gedächtnis des erstaunten Beobachters. Der erwartet nun, da er Herodots Überzeugungen ja kennt, das Ende des mächtigen Mannes, wenn wieder von ihm die Rede ist (3,120—125). Er weiß auch, daß die Gottheit selbst das Geschick des Tyrannen in der Hand hat. Wenn mithin am Anfang dieses letzten Abschnitts (seil. 3,120 — 121) von zwei αΐτίαι für die Erbitterung des Oroites, des Satrapen von Sardes, gesprochen wird 6 , dann kann damit nur der Beginn des Verhängnisses gemeint sein (,wie es anfing ...'), nicht dessen eigentliche Ursache. Herodot urteilt hier ja auch sehr zurückhaltend (er stellt es dem Leser anheim, zwischen den αΐτίαι zu wählen, 3,122,1). Man wird ihm derartiges auf Samos erzählt haben. Schon die Fortsetzung zeigt, was wirklich stattgefunden hat (vgl. 3,122,1 — 3): Oroites kannte die Flottenbaupläne des Tyrannen und lockte ihn mit erlogenen Geldangeboten nach Magnesia, um ihn zu verderben. Bevor Herodot den Tyrannen dahin aufbrechen läßt, erzählt er die Reise des Maiandrios, des Sekretärs des Polykrates, der nicht durchschaut, daß ihm mit Steinen gefüllte Töpfe als Gold vorgezeigt werden (3,123). Auch das ist unhistorisch: Die Anekdote paßt genau in Herodots Deutung der Vorgänge. Sie zeigt die Unvorsichtigkeit, ja Verblendung des zum Untergang bestimmten Herrschers. Jene List des Oroites, Töpfe mit Steinen zu füllen und diese mit einer dünnen Goldschicht zu bedecken 7 , könnte ein Wandermotiv sein. Aber noch näher liegt die Vermutung, Herodot selbst habe die Unaufrichtigkeit des Persers in diesen anekdotenhaften Bericht umgesetzt (und die in Anm. 7 genannten Nachahmungen angeregt). Mit Gewißheit gilt die Annahme herodoteischer Herkunft für den Traum der Tochter (3,124,1); denn die Träumende sieht ja genau das, was dann tatsächlich geschieht (έδόκεέ oi τόν πατέρα έν τω ήέρι μετέωρον έόυτα λοΰσθαι μεν Οπό τοϋ Διός, χρίεσθαι δε υιτό του Ηλίου) 8 . Polykrates aber verschließt

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Doch vgl. den Anhang zu diesem Abschnitt (unten S. 98 f.). 3,120,1: έπεθύμεε λαβών αυτόν άπολέσαι ... διά τοιήνδε τινά αΐτίην und 3,122,1 (nach Hinweis auf die Meinung anderer, die wissen wollen, daß Polykrates einen Sendboten des Oroites nicht zuvorkommend aufgenommen habe): αΐτίαι μεν δή αΰται διφάσιαι λέγονται τοϋ θανάτου τοϋ Πολυκράτεος γενέσθαι. Herodot bezeichnet hier mit αΐτίαι das, was Polybios προφάσεις nennen würde. Vgl. Thuk. 6,44,3; Nep. Hann. 9,3; Aly 110. Vgl. 3,125,3: άποκτείνας δέ μιν οΰκ άξίως άιτηγήσιοξ Όροίτης άνεσταύρωσε und 4: άνακρεμάμενοξ έττετέλεσε ττδσαν την όψιν της θυγατρός (seil. Polykrates)" έλοΰτο μεν yäp ΰπό τοΰ Διός, δκω; ΰοι, έχρίετο δέ ύπό τοϋ ηλίου άνιεί$ αύτός έκ τοϋ σώματος

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sich auch dieser Warnung. So darf es denn mit Recht am Ende heißen (3,125,4): „ E i n solches Ende nahm es mit Polykrates' großem Glück, wie es Amasis, der König Ägyptens, ihm vorausgesagt" 9 . Die Meisterschaft, mit der die Gewichte im ganzen Bericht über das Schicksal des Polykrates verteilt sind, sollte vom Leser dieser fesselnden Kapitel nicht verkannt werden: Wir erfahren nur wenige historische Tatsachen (diese sind allerdings bedeutungsvoll, vgl. 3,39. 54. 56 und 122,1—2), alle anderen Einzelheiten sind vom Autor erfunden oder aus unkontrollierbaren Gerüchten zurechtgemacht worden. Aber sie sind so dargestellt, daß das Bild des Tyrannen nun erst vollkommen ist. Sie repräsentieren nicht nur sein verblüffendes Glück, sondern auch dessen Kehrseite. Sie zeigen die Vergänglichkeit, ja Hohlheit seiner Erfolge. Sie machen ihn zu einem tragischen Sinnbild menschlicher Hinfälligkeit, und das umso mehr, als Herodot dem Tyrannen (im Gegensatz zu dem zuvor genannten Panionios) nicht etwa schuldhaftes Verhalten vorwirft 1 0 . Auch diese Feststellung des Autors, der Hinweis auf das unvermeidliche Ende des (nach Herodots Ansicht) schuldlosen, aber allzu erfolgreichen Tyrannen Polykrates ist im Sinne des Autors ein historisches Urteil. In Form eines Nachtrags nehmen wir zu den Ergebnissen Stellung, zu denen zwei neuere Behandlungen der Geschichte vom Ring des Polykrates gekommen sind. Sie stammen von dem Historiker R. M. Mitchell (J. Hell. Stud. 95, 1975, 7 5 - 9 1 ) und von dem Philologen Labarbe ( 1 5 - 3 0 ) . 1. Mitchell meint, Herodot habe die Novelle in Samos gehört, wo sie in aristokratischen Kreisen weitergegeben wurde. Die Erzähler hätten mit ihr den Zweck verfolgt, den Bruch des Polykrates mit Amasis zu verhüllen und seine (etwa seit dem Jahre 525 offenkundige) perserfreundliche Politik zu rechtfertigen. — Aber es fällt schwer zu glauben, die einzigartige Novelle könne das Produkt eines Kollektivs sein, noch dazu einer politisch gebundenen Gruppe. Gibt es überhaupt Beispiele für derartige Schöpfungen höchster Qualität? Mitchell muß außerdem, um seine Interpretation zu empfehlen, die tragische Abfolge (höchstes Glück — tiefer Sturz), die sich dem Weltbild Herodots so vorzüglich einfügt, als allgemein verbindliche Auffassung unbekannter Gewährsmänner verstehen — was als reine Hypothese einen Zirkelschluß zur Folge hat. — Wenn schließlich die Novelle wirklich eine politische

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Ικμάδα. Ich habe diese Sätze ausgeschrieben, damit deutlich werde, daß nicht Polykrates die Erfüllung des Traumes erkennt (er ist schon vor der Kreuzigung zu Tode gemartert worden), sondern daß sie dem Leser kenntlich wird (anders Friedrich 367). Πολυκράτεος μεν δή σί πολλαϊ Εύτυχίαι ε? τ ο ϋ τ ο ετελεύτησαν, τ η ο! "Αμασις ό Α ι γ ύ π τ ο υ βασιλεύξ προεμαντεύσατο. Das Kolon τ ή — προεμαντεύσατο fehlt in der Handschriftenklasse d, es wurde athetiert von Stein (Abicht?), und die Athetese wurde von Hude übernommen. Aber sie zeigt lediglich, daß der Urheber der Tilgung den von Herodot geschaffenen Zusammenhang nicht verstanden hat. Der Brief des Amasis erfüllt ja tatsächlich die Aufgabe eines Orakels. In der neuen Ausgabe von Rosen (BT: 1987) findet man das Kolon überhaupt nur noch im kritischen Apparat. E s liegt also keine Vergeltung für das Unrecht eines Tyrannen vor (Nemesis). Vgl. Waters (1971) 29: „Herodotus does not use him (seil, den Polykrates) as an example of unjustified violence on the part of Polycrates; his own judgement is the purely factual one — success cannot last forever."

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Tendenz enthielte, dann hätte sie auch Herodots Werk sein können. Jedoch die Verbindung des Polykrates mit dem ägyptischen König ist nicht als politische Allianz dargestellt, sondern als rein persönliches Verhältnis (beide sind einander ξεΐνοι), und Amasis löst das Verhältnis aus religiösen Gründen. Das könnte man, wenn man unbedingt nach einer Beziehung zur historischen Realität suchen will, als Vorbereitung oder Veranlassung von Polykrates' späterem Verhalten auslegen. Jedoch Herodot sagt nichts dergleichen, wollte also diesen Schluß (der vermutlich falsch ist) auch nicht gezogen wissen. — Mitchells Aufsatz ist von hohem Wert für unsere Kenntnis des Einflusses, den samische Gewährsmänner auf Herodots .Historiai' genommen haben könnten. Leider unterschätzt der gelehrte Interpret die Selbständigkeit des Geschichtsschreibers. 2. Labarbe lehnt in seiner klaren, gelehrten Abhandlung die Deutungen der Religionshistoriker S. Reinach und P. Saintyves sowie die Auffassung Alys mit Recht ab: Die Geschichte vom Ring des Polykrates bedeutet weder die Vermählung des Tyrannen mit dem Meere, noch ist sie ein „rite de consultation", sie gehört auch nicht zum Motiv des Zauberrings. Dagegen glaubt Labarbe selbst, eine volkstümliche Erzählung erschließen zu müssen, in welcher der Ring (ein Siegelring) Symbol der monarchischen Gewalt war: Der Tyrann wirft ihn, das Zeichen seines liebsten Besitzes, ins Meer, verzichtet also auf seine Macht, die Götter aber lehnen das Opfer ab und deuten dadurch an, daß das Verderben des Tyrannen bevorsteht. Man kann nicht bestreiten, daß es eine so symbolträchtige Geschichte gegeben haben könnte. Wenn jedoch Herodot von ihr ausgegangen sein sollte, müßte er Einzelheiten und Gesamtsinn völlig verändert haben. Sein Polykrates hat ja nicht die Absicht, auf seine Herrschaft zu verzichten; Amasis hat ihm auch nichts Derartiges empfohlen. Bei Herodot hat die Novelle, wie wir gesehen haben, die einzige Funktion, die ungewöhnliche Größe von Polykrates' Glück anschaulich zu machen. Diesem Zweck dient die Kette der Zufalle, durch die der Ring zum Besitzer zurückgelangt. Labarbe (18) hat sie eindrucksvoll beschrieben. Darf man dann aber die von ihm erschlossene Erzählung als notwendige Bedingung für das Verständnis des Herodottextes bezeichnen? Wer methodisch korrekt vorgeht, kann lediglich vermuten, daß der Autor M o t i v e solcher Art gekannt hat. Er muß sie aber, wenn er sich wirklich von ihnen beeinflussen ließ, in origineller Weise zu einer neuen Einheit umgebildet haben. Labarbes Hypothese erübrigt sich.

b) Alexander I. von Makedonien Die moderne Forschung 1 hat nachgewiesen, daß Alexander I. bis zum Jahre 479 eine durchaus perserfreundliche Politik getrieben hat. Das ist nicht erstaunlich; denn Makedonien wurde zwar nicht schon nach dem Skythenfeldzug des Dareios ums Jahr 512 von den Persern aufgefordert, Erde und Wasser zu geben, wie man nach Herodots Bericht im fünften Buche glauben könnte, wohl aber beim Zuge des Mardonios im Jahre 492 (so Errington 142). Alexander, der seit 498 regierte, war von da an Vasall (ύπαρχος) des Großkönigs. Er mußte diese Tatsache berücksichtigen, als Xerxes durch sein Land gegen Griechenland zog. Da sich aber seine Dynastie aus griechischem (argivischem) Adel ableitete (vgl. 8,137 — 139) 1

Vgl. K. Rosen, Herodot und die makedonische Basileia, in: Festschrift G. Wirth I, Amsterdam 1988, 27 — 51; P. Scaiff, Alexander in the ,Histories' of Herodotus, Hermes 117, 1989, 129 — 137; auch Hart 103 (der den Alexander eine „Histiaeus-like figure" nennt).

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und Alexander selbst angeblich (nach dem Spruch der Hellanodikai) an den Olympischen Spielen teilnehmen durfte (vgl. 5,22,2), geriet er während der großen Auseinandersetzung der Jahre 480/479 notwendig in eine Art Zwischenstellung zwischen den kämpfenden Parteien. Dadurch wird das Urteil über seine jeweiligen Absichten erschwert. Seine Vermittlerrolle kommt besonders deutlich in den Verhandlungen während des Winters 480/479 (8,140 ff.) zum Ausdruck: Herodot erzählt, daß er im Auftrag des Mardonios, also in persischen Diensten, gewissermaßen als Warner und Ratgeber, nach Athen kam und die Athener auf die persische Seite zu ziehen versuchte (8,140 α — β). „Damit allerdings verrät er sich", sagt Rosen (a. O. 32) im Hinblick auf seinen angeblichen Philhellenismus. Und wirklich war ja das Angebot des Großkönigs (ein Bündnis Persiens mit Athen) für Makedonien sehr vorteilhaft (vgl. Rosen a. O. 39). So scheint denn diese Herodotstelle den Blick auf den historischen Alexander einen Augenblick freizugeben und Scaiffs hartes Urteil über ihn zu bestätigen (a. O. 135): „Thus Herodotus presents Alexander as a marginal man, a person with interests and commitments in two directions" — also die gleiche Ansicht, die Rosens Erörterung zufolge für den gesamten historischen Alexander zu gelten hat. Jedoch, was Herodots Urteil über Alexanders Verhalten in seiner Mission des Winters 480/479 betrifft, so beachten beide Forscher die vom Geschichtsschreiber konstruierte Situation zu wenig. Es ist unwahrscheinlich, daß Herodot seinen Alexander als doppeldeutigen Unterhändler auftreten lassen wollte, nicht aber als ehrlichen Makler. Nach dem Wunsche des Autors muß Alexander die Athen bedrohenden Gefahren hervorheben und die Vorteile des persischen Angebots übertreiben; denn hier sollen ja nun, im Gegensatz zur Vorsicht des Unterhändlers, die eindeutigen Entscheidungen der Spartaner und besonders die der Athener folgen, in denen die Verführungen zum Medismos energisch abgewiesen werden: Alexander muß im Sinne der Perser argumentieren, weil der Protest der Griechen hervorgelockt werden soll. Wir sind schwerlich berechtigt, von dieser Stelle ausgehend das Wesen des ganzen historischen Alexander zu bestimmen. Die herodoteische Darstellung vom Auftritt des Makedonenkönigs in Athen steht ganz im Einklang mit dem sonstigen Alexanderbild unseres Autors. Herodot hat es deutlich genug gemacht, daß sein Alexander als Nachfahre eines argivischen Geschlechtes von Anfang an ein Freund Griechenlands (φιλέλλην) gewesen ist, auch wenn die politischen Verhältnisse ihm nicht gestatten, das so zu zeigen, wie er möchte. Da die griechenfreundliche Politik des historischen Alexander erst nach den Perserkriegen sichtbar wurde (vorher aber vermutlich nicht bestand), wird man annehmen müssen, daß Herodot unter dem Einfluß der späteren makedonischen Propaganda — wenn ein solches Wort in diesem Zusammenhang angemessen ist — geschrieben hat.

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Die Griechenfreundlichkeit des herodoteischen Makedonenkönigs tut sich am klarsten in seinem letzten Auftritt kund, in dem gefahrvollen nächtlichen Ritt zur griechischen Stellung unmittelbar vor der Schlacht bei Plataiai (9,44 f.). Hier versichert er die Athener, er würde die Botschaft (Verrat des persischen Vorhabens) nicht überbringen, wenn er sich nicht um das Wohl ganz Griechenlands Sorgen machte 2 . Und dann später (§ 3): „Und wenn euch dieser Krieg ausgeht, wie ihr wünscht, dann soll man auch an mich denken, was die Befreiung anlangt, der ich um der Hellenen willen eine so außerordentliche Tat gewagt habe aus freien Stücken, da ich euch Nachricht geben wollte von Mardonios' Absicht, damit die Barbaren euch nicht plötzlich überfallen, ohne daß ihr etwas davon ahntet" 3 . Diesen Worten zufolge kann an der politischen Einstellung des herodoteischen Alexander kein Zweifel sein. Da sein Ritt gefährlich ist, besteht auch kein Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Der Dienst, den er den Griechen durch diese Aufklärung erweist, ist übrigens (pace Scaiff a. O. 131) nicht gering, wie die nachfolgenden Truppenverschiebungen beweisen, mögen sie auch den anfangs beabsichtigten Erfolg nicht haben (vgl. übrigens auch 7,173,3 — 4 und 8,34). Das Gegenbild zu diesem letzten Auftritt Alexanders ist sein erster im fünften Buch (17 — 22). Auch hier geht es dem Autor darum, die perserfeindliche Gesinnung Alexanders sichtbar zu machen. Alexander ist zur Zeit der berichteten Vorgänge (um das Jahr 512) noch Kronprinz. Über ihn erzählt Herodot folgendes: Megabazos, dem Dareios nach der Rückkehr aus dem Lande der Skythen die Unterwerfung Thrakiens (vgl. 4,143,1; 5,14,1) und Makedoniens (?) aufgetragen hat, sendet sieben angesehene Perser zu Amyntas, dem Vater Alexanders, die als Zeichen der Hörigkeit Erde und Wasser verlangen. Amyntas kommt der Aufforderung nach und bewirtet die Abgesandten festlich (5,17 — 18,1). In vorgerückter Stunde weisen die Gäste darauf hin, daß es in Persien Sitte sei, auch die Frauen (τάς παλλακάς και τάς κουριδίας γυναίκας) an solchen Zusammenkünften teilnehmen zu lassen. Die Makedonen sollten, da sie sich dem Großkönig unterworfen haben, ebenso verfahren. Amyntas gehorcht schweren Herzens (5,18,2 — 3). Die herbeigeführten Frauen sitzen den Fremden zunächst gegenüber, aber die Perser lassen sie alsbald zwischen sich bringen und beginnen sofort mit Handgreiflichkeiten (5,18,3 — 5). Amyntas erträgt das mühsam, jedoch der Sohn beruhigt ihn: Der Vater möge sich zurückziehen, 2 3

9,45,1: ού y ä p άν ελεγον, εί μή με/άλως έκηδόμην συυαπάσης της 'Ελλάδος. "Ην δέ ύμΐν ό πόλεμος δδε κατά νόον τελευτήση, μνησθήναί τίνα χ ρ ή και έμεϋ έλευθερώaios ττέρι, δς Ε λ λ ή ν ω ν εΐνεκα έργον ούτω παράβολου εργασμαι ύπό προθυμίης, έθέλων ύμΐν δηλώσαι την διάνοιαν τήν Μαρδονίου, ίνα μή έπιπέσωσι ΰμΐν εξαίφνης οί βάρβαροι μή προσδεκομένοισί κω.

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er selbst werde die Fremden mit allem versorgen (5,19,1: π ά ν τ α τ ά έπιτήδεα π α ρ έ ξ ω τοΐσι ξείνοισι). Daraufhin tritt Amyntas ab, obwohl er weiß, daß der Jüngling etwas Unüberlegtes (τι νεώτερον) vorhat. Alexander schlägt nun den Gesandten vor, die Frauen sich waschen zu lassen; anschließend würden sie ihnen zur Verfügung stehen. Die Perser sind einverstanden. Alexander aber schickt die Frauen in ihre Gemächer, steckt junge Männer mit Milchgesichtern in Weiberkleider und führt sie in dieser Maskierung den persischen Gästen zu. Sobald nun die Perser versuchen, sich an den vermeintlichen Weibern zu vergreifen, werden sie von den jungen Makedonen umgebracht (5,20). Aber nicht genug! Alexander läßt auch die Dienerschaft und die gesamte Bagage der Gesandten verschwinden. Als eine persische Untersuchungskommission erscheint, um den Verbleib ihrer Landsleute aufzuklären, besticht er den Kommandanten und gibt ihm seine Schwester Gygaia zur Frau. „Das Ende dieser Perser aber", heißt es 5,21,2, „wurde auf solche Weise vertuscht und totgeschwiegen" 4 . Man ist sich einig darüber, daß sich das blutige Ereignis, so wie es berichtet wird, nicht zugetragen haben kann. Jedoch, was wollte Herodot mit der Erzählung, und auf welchem Wege gelangte sie in sein Werk? Da es sich um eine tendenziöse Schilderung handelt, steht die Frage nach der Herkunft zunächst im Mittelpunkt der Spezialforschung. Rosen (a. O. [ob. Anm. 1] 29) sagt, die Heldentaten des jungen Alexander seien aus einer anderen Quelle geflossen als Herodots sonstige Mitteilungen über den Makedonen. Aber diese Annahme ist schwerlich statthaft, solange nicht bewiesen ist, daß Herodot Nachrichten verschiedenen Ursprungs exzerpiert und kompiliert hat, ohne nach ihrem ursprünglichen Zusammenhang und ihrem Sinn zu fragen. Errington 5 , gefolgt von Scaiff (a. O. [ob. Anm. 1] 132 f.), behauptet, die herodoteische Erzählung sei eine von Alexander nach dem Jahre 479 in Umlauf gesetzte Anekdote, in der er zeigen wollte, daß er von jeher Griechenfreund war. Gegenüber dieser Vermutung gilt derselbe Einwand wie gegenüber Rosens Auffassung. Außerdem konnte die mit Unwahrscheinlichkeiten belastete Erzählung als selbständige Geschichte kaum auf Zustimmung rechnen. Scaiff, der offenbar die Schwäche der Deutung Erringtons empfunden hat, meint, Herodot habe sich für die Erzählung interessiert, weil in ihr von verschiedenartigen Tischsitten die Rede ist! Vermutlich ist auch diese Annahme unbegründet. Wie bereits angedeutet, enthält die Erzählung mehrere Seltsamkeiten. Man hat nicht den Eindruck, daß Herodot sich bemüht habe, sie zu 4 5

Ο μεν νυν τ ώ ν Περσέων τ ο ύ τ ω ν θάνατος ο ύ τ ω καταλαμφθείς έσιγήθη. 143. Errington hat übrigens die historische Fragwürdigkeit der Erzählung treffend beurteilt. Man wundert sich, daß er den Schluß auf Urheberschaft Herodots nicht gezogen hat.

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verhüllen. Vielleicht hat er mit der Großzügigkeit des Lesers gerechnet, der es hinnimmt, daß im Norden der zivilisierten Welt befremdende Dinge geschehen. Trotzdem müssen wir nach dem Grund solcher Eigentümlichkeiten fragen. Es ist ungewöhnlich, wenn auch denkbar, daß Amyntas von sieben hohen persischen Offizieren um Erde und Wasser gebeten wird, nicht (wie sonst wenigstens bei Herodot üblich) von einem königlichen Herold. Ganz unerträglich aber ist das Ansinnen dieser angeblich hochgeachteten Perser, Amyntas möge ihrem Brauche folgen und die Frauen des königlichen Haushalts zum Umtrunk herbeirufen. Von einem solchen persischen Nomos ist m. W. nichts bekannt. Die Vorstellung widerspricht auch Herodots eigenem ethnologischen Bericht (1,135), wonach jeder Perser viele Hauptund Nebenfrauen besitzt 6 . Wie hätten diese alle an einem Symposion teilnehmen können? Im übrigen pflegt es Herodot in seinen völkerkundlichen Beschreibungen zu vermerken, wenn irgendwo Frauen zu den Männergesellschaften zugelassen werden (so ζ. B. 1,172,1 von den Kauniern). Über die Perser berichtet er nichts dergleichen. Das Verlangen der Gesandten bei Amyntas ist mithin nichts anderes als eine plumpe Schwindelei, mit der sie die Makedonen einschüchtern, um selbst rasch zu ihrem Vergnügen zu kommen. Umso erstaunlicher ist die Nachgiebigkeit des Amyntas und fast unverständlich seine Resignation angesichts des anstößigen Betragens seiner hohen Gäste. Statt sich auf die Verbindlichkeiten des Gastrechts zu berufen, läßt er sich von seinem Sohn ins Bette schicken, obwohl er weiß, daß der etwas Unerhörtes tun wird. Die Schwäche des Vaters ist offensichtlich als Folie zu dem Heldengeist des Kronprinzen konzipiert. Aber schwerlich hätte Alexander selbst seinen Vater in dieser kläglichen Rolle auftreten lassen, wenn er wirklich (wie Errington meint) Urheber des Berichtes wäre. — Über das Verhalten der Perser gegenüber den verkleideten Jünglingen ist kaum eine Aussage möglich, da sie nach Angabe des Textes betrunken sind. Aber es läßt sich nicht verkennen, daß dem Leser ein hohes Maß an Gutgläubigkeit zugemutet wird: Die Perser lassen sich totstechen, ohne daß (wie man erwarten sollte) auch nur das geringste Handgemenge entsteht. Die Geschichte steht und fällt mit der Vorstellung, daß man ein so ungeheuerliches Geschehen wie einen siebenfachen Mord an hochangesehenen Gesandten (vgl. 5,17,1: δοκιμώτατοι έν τ ω σ τ ρ α τ ο π έ δ ω ) mit Geld abgelten könne. Herodot setzt voraus, daß das im Perserlande zur Zeit des Dareios denkbar war — vermutlich ohne jede historische Berechtigung. Außerdem versichert er (5,21,2), daß Alexander, schlau wie er war, nicht nur tief in die Tasche griff, sondern auch seine Schwester drangab, die er, wie wir bereits gehört haben, mit Bubares, dem 6

Γσμέουσι δέ έκαστος α ϋ τ ώ ν π ο λ λ ά ? μεν κουριδίας γ υ ν α ί κ α ς , π ο λ λ ώ δ' ί τ ι ττλεΟνας τταλλακάς κ τ ώ ν τ α ι .

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Leiter der Untersuchungskommission, vermählte. In Wahrheit gehört diese Eheschließung in spätere Zeit: Um das Jahr 492 trat Alexander in das Abhängigkeitsverhältnis von Persien und gab bei dieser Gelegenheit seine Schwester dem Bubares 7 . Die erreichebaren Indizien deuten darauf hin, daß die abenteuerliche Geschichte vom Heldenmut des jungen Alexander eine Erfindung Herodots ist. Mit ihr verschafft sich der Autor den Vorteil, den König der Makedonen während seiner gesamten Regierungszeit als politisch konsequent handelnde Persönlichkeit beschreiben zu können. In seinem Herzen steht der herodoteische Alexander auf griechischer Seite. Er stellt sich den Persern nur notgedrungen zur Verfügung. Die erste kühne Tat ist nun demselben Geist entsprungen wie die letzte, und Alexanders sonstige Tätigkeit kann, soweit sie nicht seinem Philhellenentum entspricht, unbeachtet bleiben. Vor allem braucht die Verbindung der Prinzessin Gygaia mit dem angesehenen Perser Bubares, in Wahrheit (wie wir gesehen haben) eine rein politische Eheschließung, nicht mehr als Zeichen der Perserfreundlichkeit angesehen zu werden. In dem von Herodot geschaffenen Zusammenhang ist sie nichts anderes als eine Notmaßnahme des klugen Kronprinzen, der mit diesem Opfer die aufgebrachten Perser besänftigt und von sich und seinem Volke drohendes Unheil fernhält. Es braucht nicht eigens gesagt zu werden, daß wir bei dieser Deutung des Textes die leidige Verpflichtung loswerden, Herodot mit der kritiklosen Übernahme inhaltlich divergierender Berichte zu belasten 8 .

c) Der Tyrann Hippias In Kap. 6,107 erzählt Herodot, Hippias, der älteste Sohn des Peisistratos, habe das persische Heer des Datis und Artaphrenes nach der Eroberung Eretrias als Ortskundiger nach Marathon geführt, wo das Gelände für die persische Reiterei besonders günstig war. In der Nacht vor der Landung, so fügt der Autor gleich § 1 hinzu, habe der ehemalige Tyrann einen bedeutungsvollen Traum gehabt: Er glaubte, sich mit seiner Mutter zu vereinigen. Nach dem Erwachen Schloß er aus diesem Traumerlebnis, 7

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Vgl. Errington passim. Rosen (ob. Anm. 1) 30 f. rechnet mit Erneuerung des angeblich bereits unter Amyntas geschaffenen Vasallenverhältnisses. Herodots Darstellungsweise läßt sich mit seiner Beschreibung des Verhältnisses vergleichen, in dem er Kambyses zu seinem Bruder Smerdis stehen läßt: Hier wie dort ist ihm das Bild, das er sich von den Handelnden gemacht hat, wichtiger als die Angaben seiner Gewährsmänner, mögen sie seiner Konzeption auch widersprechen. Im Falle Alexanders kennen wir Herodots Quellen freilich nicht, und unser Vergleich entfiele, wenn der Geschichtsschreiber, wie falschlich behauptet worden ist, ausschließlich von philhellenischer Propaganda Makedoniens abhinge.

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ihm sei bestimmt, die Herrschaft über Athen zurückzugewinnen und in seiner Heimat zu sterben. (§ 2). Nach der Landung am Strand von Marathon ordnete er die Perser so, wie sie in der bevorstehenden Schlacht antreten sollten 1 . Dabei mußte er heftiger niesen und husten als sonst. Da er schon ein alter Mann war, gerieten mehrere seiner Zähne ins Wanken. Einer sprang aus dem Mund und verschwand im Sand. Als Hippias ihn nicht wiederfinden konnte, sagte er zu seiner Umgebung (§ 4): „Diese Erde ist nicht die unsere, und wir werden nicht imstande sein, sie in unsere Hand zu bekommen. Den Teil, den ich an ihr hatte, den hat nun der Zahn" 2 . Dann schließt der Autor die Erzählung mit der Bemerkung ab (6,108,1): Ίτπτίης μεν δή τ α ύ τ η τ ή ν όψιν συνεβάλετο έξεληλυθέναι. Der Sinn dieser Geschichte, die Herodot ohne jede Quellenangabe wie ein historisches Faktum berichtet, ist ohne Mühe erkennbar: Hippias muß einsehen, daß seine Hoffnungen auf Zurückgewinnung der Herrschaft über Athen eitel sind. Was er aber in Wirklichkeit erst nach dem überraschenden Sieg der Athener erkannt haben wird, das ist hier in der Art eines unheilvollen Omens ausgedrückt. Als wirkliches Erlebnis wäre es geeignet, nicht nur dem Betroffenen selbst, sondern auch den in seiner Nähe befindlichen Persern den Mut zu nehmen. Schon aus diesem Grunde ist es unwahrscheinlich, daß Hippias seine Deutung des Traumes in der Eindeutigkeit des herodoteischen Berichtes verkündet hat. Und wie hätte der Autor wissen können, daß der alte Hippias tatsächlich einen so bedeutsamen sexuellen Traum gehabt haben sollte? Die Erzählung ist aber nicht nur unglaubhaft, sondern in ihrer überdeutlichen Aussagekraft lächerlich und zugleich gehässig. Der Traum des Greises, Bestätigung seiner höchsten Hoffnungen, ist fast ebenso absurd wie sein heftiger Husten, der mit dem Verlust des Zahnes endet. Ein kleiner, fast nutzloser Knochen verliert sich im Sande und symbolisiert den einzigen Anteil, den sich Hippias nun noch vom attischen Lande versprechen darf. Wie könnte es deutlicher gesagt werden, daß die Erwartungen des ehemaligen Tyrannen abwegig sind, daß sein gesamtes Unternehmen von vornherein nutzlos war? Die Gehässigkeit des Berichtes besteht in der Verbindung des ungewöhnlichen Traumes mit dem noch ungewöhnlicheren Herausspringen des Zahnes, der sich nicht einmal wieder auffinden läßt. Die Schlußfolgerung kann nur heißen; Hippias hat seinen Anteil erhalten, nämlich einen Platz in Attika für einen unbrauch-

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6,107,2: ... έκβάνταξ τε es γ ή ν τούξ βαρβάρους διέτασσε. Es fallt immerhin auf, daß Herodot dem Hippias allein diese Feldherrenaufgaben zuschreibt. In Wahrheit wird der Athener aufgrund seiner Kenntnis des Geländes nur mitgeholfen haben. 6,107,4: ή γ ή ήδε οΟκ ήμετέρη έστί ούδέ μιυ δυυησόμεθα ύττοχειρίην ττοιήσασθαΐ' όκόσον δέ τί μοι μέρο; μετήν, ό οδών μετέχει.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

baren Zahn; der einstige Tyrann ist abgefunden und zählt künftig nicht mehr mit. Es läßt sich nicht leugnen, daß etwas dem Bericht Herodots Vergleichbares über Hippias erzählt worden sein könnte. Immerhin ist die Gedankenführung der Anekdote anspruchsvoll, vor allem deshalb, weil der Traum durch ein Omen vor der Schlacht gedeutet wird, in der zu siegen die Perser Aussicht haben. Aber gerade die ungewöhnliche Kombination der Einzelheiten liefert uns den Schlüssel zum Verständnis; denn in ihr birgt sich das historische Urteil des Verfassers: Herodot ist hier, ähnlich wie im Falle des Dareios beim Zuge gegen die Skythen, der Überzeugung, daß das persische Unternehmen zugunsten des vertriebenen Tyrannen von Anfang an sinnlos ist. Da dieses Urteil in so drastischer Deutlichkeit durch die Anekdote zum Vorschein gebracht wird, darf man mit gutem Grunde vermuten, daß man in unserem Text eine Erfindung Herodots vor sich hat 3 . Gleichzeitig wird deutlich: Eine Interpretation, die meint, der Zahn symbolisiere einen Phallos 4 , verkennt die Pointe; denn diese besagt: Nur für einen ganz unbrauchbaren Teil des Mannes namens Hippias, für einen ausgefallenen Zahn, hat die mütterliche Erde Platz, nicht für den ganzen Körper, der in Attika bestattet worden wäre, wenn Hippias die Herrschaft zurückgewonnen hätte.

d)

Themistokles

Es ist gewiß nicht leicht, Herodots Vorstellung von der historischen Bedeutung des Themistokles nachzuzeichnen; denn in manchem der Berichte, die er uns weitergibt, scheinen böswillige Entstellungen zu stecken. Das Wesentliche freilich ist klar. Herodot hat den hohen politischen Rang des Atheners und seine Wichtigkeit für die Befreiung Griechenlands erkannt, vgl. 7,143 — 144: Hier erzählt der Geschichtsschreiber, daß Themistokles die Athener veranlaßte, von den Einnahmen ihrer Silberbergwerke, d. h. von Geldern, die bislang unter die Bürger verteilt zu werden pflegten, 3

4

Waters (1985) 109 f. übergeht in seinem knappen Bericht die Pointe: „Hippias' Oedipal dream before Marathon is first interpreted optimistically, but after the portent of his lost tooth reinterpreted less hopefully (6. 107)." J. Glenn, The Dream of Hippias, in: Rivista di Studi Classici 20 (Suppl.), Torino 1972, 5 — 7. W i r bestreiten nicht, daß im Volksmund ,Zahn' Bezeichnung für Phallos sein kann. Glenn zitiert Literatur für diesen Sachverhalt, allerdings keine Belege aus der Antike. Aber wir leugnen, daß jene Gleichung zum Verständnis der herodoteischen Anekdote etwas beitrage. Glenn bemüht sich auch nicht, den Sinn des Textes zurückzugewinnen, sondern bedauert am Ende seiner Miszelle nur„.daß Klassische Philologen und Psychoanalytiker einander so wenig beachten. Die Klage ist m. E. im vorliegenden Falle nicht berechtigt.

7. Erzählungen über griechische und makedonische Politiker

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200 Schiffe zu bauen. Offiziell waren diese Fahrzeuge für den Krieg gegen die Insel Aigina bestimmt. In Wahrheit aber dienten sie, eben rechtzeitig fertiggestellt, dem Kampf gegen die Perser. Herodot weiß also, daß Themistokles die Griechenland bedrohende Gefahr erkannt und auch ihre Art richtig eingeschätzt hat, da er eine wirkungsvolle Verteidigung zur See forderte und schuf. Ohne Nennung seines Namens hat Herodot das bereits in dem bekannten Kapitel 7,139 ausgesprochen. Die einzigartige Ehrung, die dem athenischen Staatsmann nach dem Siege von Salamis in Sparta zuteil geworden ist (8,125), entspricht dieser herodoteischen Hochschätzung des Mannes. Dem gegenüber sind die Mitteilungen, die der Leser zu Ungunsten des Themistokles auslegen könnte, von nur geringer Bedeutung. Sehr geschickt geht der Athener mit Geld um: Er erhält von den Bewohnern Euboias 30 Talente. Man bittet ihn, mit der Flotte vor der Insel zu bleiben, bis sie geräumt ist (480: Rückzug der griechischen Schiffe von Artemision; der spartanische Flottenchef, an den sich die Euboier zunächst gewandt haben, ohne Entschädigung anzubieten, lehnte das Ansinnen ab). Themistokles gibt nun dem Kommandanten der spartanischen Schiffe fünf Talente und dem Korinther Adeimantos drei. So veranlaßt er sie zum Bleiben (8,4,2—8,5). — Nach dem Sieg erhält er angeblich hohe Summen von Inselgriechen, die auf persischer Seite kämpften (genannt werden Paros und die Stadt Karystos auf Euboia, während die Insel Andros sich sträubt, vgl. 8,112). Herodot erwähnt zwar, Themistokles habe diese Summen ohne Wissen der übrigen Feldherren erhalten 1 . Aber es wird nirgends gesagt, daß er Bestechungsgelder annahm, und der Ausschluß der anderen Strategen braucht nicht mehr zu bedeuten, als daß der Athener die Finanzierung des Krieges fest in seiner Hand behielt. Seine strategischen Anordnungen sind von Einfallsreichtum (σοφίη) gekennzeichnet 2 . Selbst aus dem Rückzug von Artemision weiß er noch Vorteile für die Griechen zu ziehen. Er läßt beim nächtlichen Abzug Wachtfeuer brennen, um den Feind zu täuschen, und gestattet den Schiffsbesatzungen, das Vieh der Euboier abzuschlachten und für sich zu verwenden, vgl. 8,19,2: „... denn es sei besser, daß es ihrem Heer zugute komme als den Feinden". Mit Anerkennung erzählt Herodot, Themistokles habe an den Wasserstellen der euböischen Küste Aufrufe hinterlassen, durch welche die griechischen Bundesgenossen des Großkönigs, die Bewohner der Inseln und die Kleinasiens, zum Übertritt auf griechische Seite veranlaßt werden sollten, vgl. 8,22,3: „Themistokles hatte, wie ich meine, mit dieser Inschrift zwei Möglichkeiten im Sinn: Entweder erfuhr der 1 2

8,112,3: θεμιστοκλέηξ μέν νυν έξ "Ανδρου ορμώμενος χρήματα παρά νησιωτέων έκτατο λάθρη τ ω ν άλλων στρατηγών. Zu Herodots Darstellungsprinzip vgl. Fomara 69, auch Evans 75 — 80.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Großkönig nichts davon, dann sollte die Botschaft die Ionier zum Wanken und auf ihre Seite bringen, oder aber sie wurde vor Xerxes gebracht und angeprangert, dann sollte sie die Ionier in Verdacht bringen und so aus den Seegefechten heraushalten." In allen diesen Bemerkungen spürt man die Bewunderung des Autors für die Gedankenfülle des bedeutenden Politikers. Hinzu kommt, daß Herodot die überlegene Standfestigkeit und Beharrlichkeit des Themistokles für das Zustandekommen der Entscheidungsschlacht im Sund von Salamis (und nicht in den offenen Gewässern am Isthmos von Korinth) verantwortlich macht (man vergleiche die Worte, die er dem Themistokles in den Mund legt: 8,60 α—y!). Es sollte also deutlich sein, daß der Geschichtsschreiber ein angemessenes Bild des einzigartigen Mannes entworfen hat. Dieser Eindruck wird allerdings gestört durch das, was Herodot über den Athener Mnesiphilos zu wissen vorgibt, über einen Mann, den er zuvor nie erwähnt hat 3 . Der Autor erzählt folgendes (8,56 — 57): Die Nachricht von der Einnahme Athens löst unter den griechischen Flottenkommandanten eine solche Panik aus, daß einige zu den Schiffen eilen und Segel setzen lassen. Die übrigen beschließen, eine Seeschlacht nicht hier bei Salamis, sondern am Isthmos zu liefern. Themistokles kehrt bei Einbruch der Nacht auf sein Schiff zurück. Als dort Mnesiphilos von ihm erfahrt, was beschlossen worden ist, sagt er ihm: ,Wenn die Schiffe die jetzige Stellung verlassen, dann wirst du am Isthmos nicht mehr für ein einziges Heimatland kämpfen (8,57,2: ουδέ περί μιής ετι πατρίδος ναυμαχήσεις); denn sie werden alle in ihre Städte enteilen. Niemand wird sie halten können. Aber wenn es eine Möglichkeit gibt, dann versuche, Eurybiades, den Oberbefehlshaber, zur Aufhebung des Beschlusses zu bewegen.' Themistokles ist beeindruckt und begibt sich selbst zum spartanischen Oberbefehlshaber. Dann heißt es wörtlich (8,58,2): „ D a setzt sich Themistokles neben ihn und zählt ihm all das her, was er von Mnesiphilos gehört, indem er's zu seiner Sache macht (έωυτοϋ ποιεύμενος) 4 und setzt sonst noch vieles hinzu, bis er ihn mit seinem Zureden dazu brachte, von Bord zu gehen und die Kommandanten wieder zum Versammlungsplatz zu rufen."

3

4

Die nachherodoteischen Erwähnungen des Mannes sind zusammengestellt und sorgfaltig beurteilt von F. J . Frost, Themistocles and Mnesiphilus, Historia 29, 1971, 20 f. Μ. E. wußte man im späteren 5. Jahrhundert nicht mehr als die Tatsache, daß Mnesiphilos Erzieher des Themistokles war. Feix übersetzt: „ . . . und zählte ihm alles auf, was er von Mnesiphilos gehört hatte; dabei tat er so, als stammten die Gedanken von ihm selbst". Eine solche Irreführung des Oberbefehlshabers ist im griechischen Text nicht enthalten: τταριζόμενόξ ol καταλέγει εκείνα τε πάντα τά ήκουσε Μνησιφίλου έωυτοϋ ττοιεύμενοξ και ... Wir werden den Irrtum des Ubersetzers im folgenden zu berichtigen versuchen.

7. Erzählungen über griechische und makedonische Politiker

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Die Geschichte von der Entsendung des Sikinnos zu Xerxes (8,75), die man sich nach der ersten (entmutigenden) Beschlußfassung denken müßte, lassen wir in der folgenden Betrachtung unbeachtet. Die Historizität dieses Vorgangs ist (wohl mit Recht) umstritten; sie wird durch das Zeugnis des Aischylos (Pers. 353 — 360) keineswegs erwiesen; denn die Legende konnte schon bald nach der Schlacht entstehen 5 . Das ist umso wahrscheinlicher, als Themistokles dem Sklaven später (aus unbekannten Gründen) das Bürgerrecht von Thespiai verschafft hat (8,75,1) — gewiß ein erwünschter Anlaß zu verwegenen Spekulationen. Die spätere Botschaft, die ebenfalls von Sikinnos überbracht worden sein soll (vgl. 8,110,2), macht den deutlichen Eindruck einer Fiktion; denn ihre Schilderung enthält ein Argument, das die letzten Schicksale des Themistokles voraussetzt 6 . Dem Gewicht dieser Beobachtung kann man nur entgehen, wenn man annimmt, jeder angesehene Politiker jener Zeit habe die Befürchtungen hegen können, die hier dem Weitblick des Themistokles zugeschrieben werden 7 . Für Herodot jedenfalls sind beide Geschichten echte Zeugnisse der Klugheit des Themistokles, der mit kühlem Verstand die jeweilige Situation scharfsinning zum Vorteil der Griechen oder zu seinen eigenen Gunsten zu wenden versteht. D e r A u f t r i t t des M n e s i p h i l o s n u n hat seit jeher A n s t o ß erregt. D e r „entscheidende Rat", so m e i n t m a n 8 , w i r d v o n H e r o d o t e i n e m w e n i g bekannten M a n n e zugewiesen, und Themistokles m u ß dann dem Eurybiades g e g e n ü b e r so tun, als sei das sein e i g e n e r G e d a n k e . G e y e r f o l g e r t d e n n auch m i t B e s t i m m t h e i t : „ M i t Recht ist diese D a r s t e l l u n g als ein E r z e u g n i s der d e m g r o ß e n S t a a t s m a n n f e i n d l i c h e n ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g abgelehnt w o r d e n . " Es f r a g t sich aber d o c h , o b mit dieser Exegese d e r A u s s a g e des G e s c h i c h t s s c h r e i b e r s G e r e c h t i g k e i t w i d e r f a h r e n ist, zumal die so gedeutete E r z ä h l u n g mit d e n sonstigen U r t e i l e n H e r o d o t s über T h e mistokles nicht ü b e r e i n s t i m m t . W i e d e r einmal m ü ß t e der A u t o r w i e ein 5

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Vgl. Heuß, Hellas 232; anders ζ. B. Ed. Meyer, F.A.G. II 204; ders. G.d.A. IV 1, 1944, 368 Anm. 1; H. Bengtson, Griechische Geschichte, 'München 1965, 167 mit Anm. 5. 8,109,5: τ α ύ τ α Ελεγε άποθήκην μέλλων ττοιήσΕσθαι es τόν Πέρσην, ίνα ήν άρα τ ί μιν καταλαμβάνη πρός 'Αθηναίων ττάθο;, εχη άττοστροφήν τάιτερ και Ιγένετο. Ein einleuchtende Erklärung für das Zustandekommen des Berichtes 8,109,5 — 110 übrigens bei Fornara 69. Vgl. F. Geyer, R.E. 15,2 (1932), 2280,24 s.v. Mnesiphilos Nr. 2; so übrigens schon Plut. mor. 869 e ( = De mal. Herod. c. 37 a.E.). — Ganz abwegig auch Späth (150—156). Er spricht von geistigem Diebstahl und macht Herodot zum „Sprachrohr der Alkmeoniden", die es erreicht hätten, daß ihre Themistoklesfeindschaft in das Geschichtswerk aufgenommen worden ist. Diese Interpretation belastet weder Herodot noch den Themistokles, sondern den Verfasser selbst; bedauerlich ist nur, daß Späth das gar nicht bemerkt hat. Ansätze zu einem besseren Verständnis der Gestalt des Mnesiphilos bei Schulte (96 — 107, vgl. ebend. 33 f.): Der Verf. sieht in Herodots Darstellung ein Beispiel für sein Verfahren, große Entschlüsse durch den Einfluß von Nebenpersonen entstehen zu lassen (vgl. Atossa im Gespräch mit Dareios: 3,134,1 —4). Das ist — formal gesehen — sicherlich richtig, erklärt aber weder die Wahl des Mnesiphilos noch den entscheidenden Anteil des Themistokles am Zustandekommen der Seeschlacht. Im übrigen hat auch Schulte die Worte 8,58,2 (έωυτοΟ ττοιεύμενος) falsch verstanden. — Über die Einführung von Entscheidungen in die Erzählung mit Hilfe von Nebenpersonen vgl. neuerdings die systematische Darstellung Langs (zu Mnesiphilos dort 102).

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

gedankenloser Kompilator gearbeitet haben — ein Ergebnis, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Fehlerhaftigkeit der modernen Interpretation hindeutet. Eine Beobachtung Fehlings (149) kann uns weiterhelfen: „Schließlich ist auch die Einführung des Atheners Mnesiphilos 8,57 sq. dieser Trennung von Rat und Entscheidung zu verdanken und nicht einer gegen Themistokles gerichteten Tendenz des Informanten." Das genügt freilich nicht, zumal Fehlings Deutung wieder einmal ganz im Formalen verharrt und die Besonderheit der Situation außer Acht läßt. Herodot erwähnt ja auch Entscheidungen ohne vorhergehende Beratung. Man sollte also fragen: ,Weshalb die Trennung von Rat und Entscheidung gerade hier?' Ed. Meyer hat richtig gesehen, daß die Überlegung sehr verbreitet gewesen sein muß, in der Bucht von Salamis liege die letzte Chance eines erfolgreichen Widerstands, nicht in den offenen Gewässern des Isthmos von Korinth, wo das verbündete Heer auseinanderfallen werde 9 . Meyer hätte nur nicht von „Hunderten von Leuten" sprechen sollen, sondern von „Hunderten von Athenern". Offenbar läßt sich ja Themistokles nach Herodots Vorstellung von seinen athenischen Freunden bestätigen, was er hören möchte: die Notwendigkeit, sich sofort bei Salamis zu schlagen. Das geschieht mit dem Argument, das am nächsten liegt, aber vor den versammelten Bundesgenossen nicht ausgesprochen werden darf, in der ersten Versammlung (8,56) nicht ausgesprochen worden ist und bei der nächsten Zusammenkunft der Feldherren von Themistokles klug umgangen wird (8,60,1) 10 . Mnesiphilos ist also der Sprecher der Athener, der Sprecher der zuvor überstimmten Strategen, der Sprecher der Mannschaften, deren Angehörige auf Salamis Schutz gesucht haben, der Sprecher vielleicht auch der Aigineten und Megarer, die ebenfalls wünschen, den Kampf bei Salamis auszutragen. Mnesiphilos ist der Mann, der des Freundseins gedenkt und als Freund waltet, ist Vertreter all derer, die jetzt in der äußersten Not dem Vorschlag des Themistokles wohlwollen und den Feldherrn bitten, in ihrem Sinne zu handeln. Wenn das richtig gedacht und beobachtet ist, dann darf man sagen: Es war ein guter Gedanke Herodots, den Mann zum Sprecher der Athener zu machen, der als Lehrer und Erzieher des Themistokles galt. Das unlösbare Problem, ob es eine Tradition über den Auftritt des Mnesiphilos 9

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E.M., G.d.A. IV 1, 366 Anm. 1: „Im übrigen wird es Hunderte von Leuten gegeben haben, die denselben Gedanken geäußert und sich nachher dessen gerühmt haben: charakteristisch ist nur die naive Meinung, daß darauf irgendetwas ankomme." Τότε μεν ήττίως irpös τ ό ν Κορίνθιον άμείψατο, προς δέ τόν Εύρυβιάδην ελεγεν εκείνων μεν οΰκέτι ούδέν τ ω ν ττρότερον λεχθέντων, ώς έττεάν άττάρωσι άττό Σαλαμίνος διαδρήσονταΓ τ τ α ρ ε ό ν τ ω ν γ ά ρ τ ω ν σ υ μ μ ά χ ω ν οΰκ εφερέ οί κόσμον οΰδένα κατηγορέειν ό δέ ά λ λ ο υ λ ό γ ο υ εϊχετο, λέγων τάδε ... Man muß dem Autor für diese klare Feststellung dankbar sein.

7. Erzählungen über griechische und makedonische Politiker

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im Lager der Griechen vor der Schlacht bei Salamis gegeben hat, kann dabei ganz unberücksichtigt bleiben. Vermutlich wußte Herodot auch ohne eine derartige Überlieferung, daß Mnesiphilos den jungen Themistokles gefördert hatte und auch selbst politisch tätig war, wie sein Name auf den Stimmsteinen anläßlich des Ostrakismos des Jahres 487/486 beweist 11 . Man ist mithin nicht gehalten anzunehmen, Herodots Erzählung stehe unter dem Einfluß einer dem Themistokles feindlichen Überlieferung; denn die Funktion des uns vorliegenden Berichtes geht aus der vom Autor geschilderten Situation ganz zwanglos hervor 12 : Der herodoteische Themistokles, der jetzt den spartanischen Oberbefehlshaber mit harten Drohungen zur Rücknahme des vorigen Beschlusses bewegen will, braucht festen Rückhalt bei den eigenen Bürgern. Er muß dessen gewiß sein, daß der größere Teil der Flotte das will, was er selbst so lebhaft befürwortet. Wenn es also 8,58,2 heißt, er habe sich die Worte des Mnesiphilos zu eigen gemacht (εκεΐνά τε π ά ν τ α τ ά ήκουσε Μνησιφίλου, έωυτοΰ ποιεύμενος), dann besagt das nicht, daß er dem Ratgeber in niederträchtiger Weise sein geistiges Eigentum entwendet habe — welch absurde Verirrung der Interpreten! Es heißt vielmehr, daß Themistokles die Verantwortung für das heikle Unternehmen, die verängstigten Flottenführer zu einer neuen Beschlußfassung zu bestimmen, allein übernehmen wird, wie es in seiner Rede vor den Versammelten (8,60 α — y ) ja dann auch geschieht. Nur Themistokles hat das Recht, seine Ansprache mit den deutlichen Worten zu beschließen (8,60 y ) : οίκότα μεν νυν βουλευομένοισι άνθρώποισι ώς τό έττίτταν έθέλει γίνεσθαΐ' μή δέ οίκότα βουλευομένοισι ουκ έθέλει ουδέ ό θεός ττροσχωρέειν προς τάς άνθρωπηίας γνώμας. Danach freilich heißt ihn der Korinther Adeimantos schweigen; er dürfe nicht politische Ratschläge geben, weil er keine Polis mehr habe (8,61,1). Aber diese Bemerkung besagt gewiß nicht, daß in Herodots Text eine korintherfeindliche Tendenz mitklingt, sondern daß Themistokles zu seinem bekannten Dictum provoziert werden soll (8,61,2): „... und setzte in der Rede auseinander, daß sie über eine größere Stadt und mehr Land

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12

Vgl. Frost a. O. (ob. Anm. 3) 23. - Nach R. Thomsen, The Origin of Ostracism, Kopenhagen 1972, 104, Anm. 352 tragen 14 der im Kerameikos aufgefundenen Ostraka den Namen des Mnesiphilos (vgl. F. D. Harvey, K l i o 66, 1984, 71), nach F. Willemsen und S. Brenne, Dt. Archäol. Instit., Athen. Mitt. 106, 1991, 154 sind es nur 12. Ich verdanke diese Hinweise der freundlichen Auskunft meines Kollegen N. HimmelmannWildschütz. Mit einer gegen Themistokles gerichteten Tradition rechnet leider auch Frost 25: „After the War, with the general's name on all lips some jealous people were unkind enough to say that at the crucial moment, with allies ready to desert, it was Mnesiphilus w h o had most clearly seen the danger and pointed it out to his former pupil." Siehe aber zum Grundsätzlichen Schmidt 151.

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

verfügen als jene (seil, die Korinther), solange sie über 200 Schiffe mit voller Bemannung verfügten". Nach dieser bestimmt und klar vorgetragenen Richtigstellung kann sich Themistokles an Eurybiades wenden und unwiderruflich erklären, daß die Athener nach Siris in Unteritalien auswandern werden, wenn die Schlacht nicht bei Salamis stattfinden wird (vgl. 8,62,2). Eurybiades gibt nach, und Herodot versäumt nicht zu erklären, daß es die Furcht vor den Folgen dieser letzten Drohung des Atheners gewesen sei, die ihn zum Umdenken zwang; denn ohne die Athener wäre die Verteidigung zur See zusammengebrochen (8,63: άττολιπόντων γ ά ρ Αθηναίων οΰκέτι έγίνοντο αξιόμαχοι oi λοιποί). Es gibt nur wenige Abschnitte im Werke Herodots, die sich an Geschlossenheit und Wirksamkeit mit der besprochenen Kapitelfolge 8,56 — 62 messen können. Die Griechen, so läßt uns der Geschichtsschreiber hier wissen und miterleben, finden aus tiefster Mutlosigkeit zum befreienden Entschluß. Herodot hat verstanden, daß die fast unglaubliche Wende das Werk eines einzigen genialen Politikers war. Der Autor bringt seinem Leser die Dichte sich drängender Ereignisse ganz nahe und läßt ihn mitansehen, wie Themistokles, der alle überragende Geist, Schritt um Schritt dem gewünschten Ziele näherrückt, ja schließlich den letzten Widerstand beseitigt. Gerade das aber ist nur möglich, weil sein Vorhaben auf sicherer Grundlage ruht, auf dem Bewußtsein, die Athener hinter sich zu haben. Herodot hat diese wichtige Tatsache im Wirken des Mnesiphilos Gestalt werden lassen. Mnesiphilos ist nicht Residuum einer armseligen Anekdote, die Herodot aufgelesen und, ohne viel nachzudenken, seiner Erzählung einverleibt hat, sondern er ist ein schriftstellerisches Symbol für einen schwer faßbaren geschichtlichen Vorgang. Auch er verdankt seinen Auftritt dem historischen Tiefblick Herodots 13 .

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Vermutlich meint Hart bei Deutung der Mnesiphilosgestalt etwas unserer Interpretation Ähnliches (147): „... in any case Herodotus' interposition of Mnesiphilus is historically motivated, like the curtain-lecture of Queen Atossa (d.h. 3,134,1 — 3): each character serves as a vehicle for the expression of important narrative truths".

8. Ironie als Kriterium beim Nachweis einer Fiktion (Das Experiment des Psammetichos) 1 Der Geschichtsschreiber erzählt zu Beginn des zweiten Buches (2,2), daß die Priester des Ptah-Tempels zu Memphis ihm berichtet hätten, seit einem Experiment des Psammetichos hielten die Ägypter nicht mehr sich selbst für die ältesten Menschen; sie räumten jetzt diesen Vorrang den Phrygern ein 2 . Das Verständnis der nun folgenden Anekdote wird erleichtert, wenn man sich zuvor Herodots eigene Meinung über dieses Problem vor Augen hält. Er sagt in Kap. 2,15, daß die Ägypter existierten, seit es Menschen gibt. Er versichert das im Zusammenhang mit der geographischen Frage nach den Grenzen ihres Landes. Würde man nämlich den Ioniern (d. h. dem Hekataios) folgen und nur das Delta für Ägypten halten, dann hätten die Ägypter vor Anschwemmung dieses Gebietes gar kein Land gehabt. Unter solchen Umständen aber seien ihre Bemühungen um den Nachweis, die ältesten aller Menschen zu sein, sinnlos, und auch das Experiment des Psammetichos habe keine Berechtigung. Der Autor sagt wörtlich (2,15,2): „Wenn sie nun gar kein Land zur Verfügung hatten, warum haben sie sich dann bloß so angestrengt mit ihrer Annahme, sie seien die Erstentstandenen unter den Menschen? Und an den Versuch mit den Knäblein hätten sie auch nicht zu gehen brauchen, was für eine Sprache die zuerst von sich geben würden. Aber das glaube ich nicht, daß die Ägypter erst mit dem Delta, wie die Ionier es nennen, entstanden sind, sondern daß sie schon immer da waren, seit das Menschengeschlecht entstanden ist ..." 3 . Mit dem Experiment des Psammetichos, das hier als Tatsache zitiert wird, greift der Autor auf den Eingang des zweiten Buches zurück. Dort 1

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Über Novellen und Anekdoten, in denen Herodot die Mitteilungen seiner Gewährsmänner ironisch behandelt, vgl. Verf., Nachr. Akad. Göttingen, phil.-hist. Kl. 1991, 4 (Göttingen 1991), 134 ff. Hier soll nur eine kurze Analyse des bekannten Kapitels 2,2 nachgetragen werden, in dem sich jenes Darstellungsmittel m. E. gut verfolgen läßt. Oi δε Αιγύπτιοι πριν μέν ή Ψαμμήτιχον σφέων βασιλεΰσαι, ένόμιζον έωυτούξ π ρ ώ τ ο ι ς γενέσθαι πάντων άνθρώπων. επειδή δέ Ψαμμήτιχοζ βασιλεύσας ήθέλησε εΐδέναι οΐτινες γενοίατο πρώτοι, άπό τούτου νομίζουσι Φρύγας προτέρους γενέσθαι έωυτών, των δέ άλλων έωυτοΰς. ... άλλ' ούτε Αιγυπτίους δοκέω άμα τ ω Δέλτα τ ω ύπό Ιώνων καλεομένω γενέσθαι αϊεί τε είναι έξ ου ανθρώπων γένος έγένετο ...

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

erfahren wir folgendes (2,2,2): Als der König die Frage nach den ältesten Menschen nicht beantworten konnte, ließ er zwei neugeborene Kinder abgesondert von allen menschlichen Lebewesen bei einem Hirten aufwachsen. Der durfte nicht mit ihnen sprechen, sondern er mußte ihnen nur von Zeit zu Zeit Ziegen zuführen und sie mit Milch tränken. Psammetichos wollte erfahren, welches Wort die in völliger Einsamkeit Heranwachsenden als erstes von sich geben werden. Nach zwei Jahren vernahm der Hirt das Wort βεκός, und der König stellte fest, daß das eine phrygische Vokabel mit der Bedeutung ,Brot' sei. Er schloß daraus, daß die Phryger älter seien als die Ägypter, vgl. § 5: ούτω συνεχώρησαν

Αιγύπτιοι 4 και τοιούτω σταθμησάμενοι πρήγματι τους Φρύγας πρεσ-

βυτέρους είναι έωυτών. Herodot behauptet, die Geschichte in dieser Form von den Priestern in Memphis vernommen zu haben, während die Griechen eine törichte und unglaubhafte Variante dazu beigesteuert hätten (ebend.). In einer der letzten Behandlungen unseres Kapitels hat Knobloch 5 mit Recht zwei Punkte hervorgehoben: 1. Die Pointe der Geschichte besteht darin, daß an den Ziegenlaut βεκ βεκ (vgl. dt. mek mek) die griechische Endung -ος angehängt wird, wodurch das phrygische Wort βεκόξ ( = Brot) entsteht. Das besagt: Der Erfinder der Geschichte muß ein Grieche gewesen sein, der die phrygische Vokabel kannte und sie mit dem Ziegenlaut in Verbindung brachte. 2. Der Verfasser der Anekdote wollte sich über den Anspruch der Ägypter lustig machen, das älteste Volk zu sein. So weit wird man Knobloch gern zustimmen. Doch dann setzen die Bedenken ein: Knobloch folgert nämlich aus seinen Beobachtungen, „die Griechen in ihrer Handelsfaktorei Naukratis" dürften „als die Urheber dieser Anekdote gelten". Wenn man das jedoch gutheißt, ergeben sich mehrere Schwierigkeiten: 1. Von den Griechen gelangte die Geschichte, wenn man Knobloch folgt, zu den Priestern, von diesen zu Herodot. Beide müßten die Pointe (βεκ + ος = βεκός) verkannt, ignoriert oder nicht erfahren haben 6 . 2. Es ist unwahrscheinlich, daß die Ptah-Priester ausgerechnet die Phryger für älter gehalten haben sollten als ihr eigenes Volk 7 . Aber gerade darin 4 5

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D. h. der König und alle Ägypter. J. K., Die Glaubwürdigkeit von Herodots Bericht über das Sprachursprungsexperiment des Pharao Psammetich, in: Glossologia 4, Athen 1985, 19 — 20. Vgl. Knobloch a. O. (s. vor. Anm.) 20: „Die Anekdote, die Herodot als einen wahrheitsgetreuen Bericht aufgefaßt und erzählt hat, hat eine Pointe, die der ,Vater der Geschichtsschreibung' nicht wiedergibt, offenbar weil sie ihm verschwiegen wurde." Lloyd zu 2,2 (p. 1 1 ) hat die Schwierigkeit gesehen. Er meint, sie durch die Annahme lösen zu können, die ägyptische (von den Priestern weitergegebene) Fassung der Geschichte sei erfunden worden, um den (griechenfreundlichen) König Psammetichos zu verspotten; Erfindung und Weitergabe der Erzählung bedeute ja nicht Beteuerung ihrer historischen Gültigkeit. — Dagegen sei eingewendet, daß derartige Voraussetzungen im Text Herodots nicht einmal angedeutet sind.

8. Ironie als Kriterium beim Nachweis einer Fiktion

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besteht ja der Spott, daß die Priester bei allem Stolz auf das hohe Alter Ägyptens durch das angebliche Experiment des Psammetichos gezwungen werden, das höhere Alter der Phryger anzuerkennen, obwohl die Phryger, wie wir gleich sehen werden, in Wahrheit nicht sonderlich alt sind. 3. Wenn Herodot die Geschichte als wahrheitsgetreuen Bericht wiedergegeben oder auch nur gewünscht hätte, daß man an ihre Historizität glaube, dann müßte er eine Schwierigkeit übersehen haben. Sie besteht darin, daß die Kinder nach Brot rufen, obwohl sie doch bisher nur durch Milch ernährt worden sind. Wie könnten sie wissen, was Brot überhaupt ist? Aus diesen Beobachtungen dürfte sich ergeben: Der Spötter ist niemand anderes als Herodot selbst. Er wird von den Priestern oft genug gehört haben, daß die Ägypter, was ihre lange Geschichte ja andeute, das älteste Volk der Erde seien. Herodot ist zwar überzeugt vom besonderen Alter der ägyptischen Kultur, aber die naive Prahlerei ist ihm nun doch zuwider. So läßt er denn die Priester gleich zu Beginn des Ägyptischen Logos sich selbst widerlegen. Durch die Aktivität des Psammetichos, der in Herodots Vorstellung offenbar Interesse an wissenschaftlichen Versuchen hatte (vgl. 2,28,4), gezwungen, müssen sie sich berichtigen und den Phrygern den Vorrang einräumen. Das aber ist schlimm, um nicht zu sagen: lächerlich. Herodot könnte an die bei Homer erwähnten Phryger gedacht haben (vgl. Β 862; Γ 184 f.; Ω 545), er wußte aber, daß sie noch in vorhomerischer Zeit Bewohner Europas gewesen waren (vgl. 7,73). Doch wahrscheinlicher als das ist die naheliegende Vermutung, daß er die Blütezeit des Phrygischen Reiches unter Midas im Auge hatte (Midas regierte von 738—695 und war Zeitgenosse Sargons II. [721 — 705]). Herodot scheint ja die Descendenz des Midas gekannt zu haben (vgl. 1,35,3 über Adrastos) 8 . Auf jeden Fall schreibt er das Wort βεκός, das er richtig als phrygisch bezeichnet 9 , einem im Vergleich zu den Ägyptern jungen Volke zu. Man darf sich die Entstehung der Geschichte so zurechtlegen: Herodot kannte das phrygische Wort βεκός in der Bedeutung ,Brot', fand in ihm den Ziegenlaut wieder und nutzte diesen Sachverhalt zu ironischer Zurechtweisung ägyptischer Anmaßung aus. Er gab seiner Erzählung eine Variante (2,2,5) bei, wonach die Griechen törichte Ubertreibungen mit dem Versuch des Psammetichos verbunden hätten: „Die Hellenen aber", sagt er, „erzählen noch sonst manch unnützes

8 9

Vgl. die Zeugnisse bei Lloyd zu 2,2 (p. 6). Βεκός ist auf den neuphrygischen Inschriften 33. 78,5 und 86,4 belegt, vgl. J. Friedrich, R. E. 20,1 (1941), 870,59 Nr. 11 s. v. Phrygia; Lloyd zu Hdt. 2,2 (p. 7 mit neuerer Lit.). Wichtiger Überblick über die Entwicklung der phrygischen Sprache bei G . Neumann, Phrygisch und Griechisch, Sitz. Ber. Österr. Akad. d. Wissenschaf., phil.-hist. K l . 499, Wien 1988, 1—27 (über βεκός spricht Neumann nicht).

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I. Hauptstück: Novellen und Anekdoten

Zeug darüber und so auch, daß Psammetichos einigen Weibern die Zungen ausgeschnitten und bei diesen Weibern habe er dann die Kinder leben lassen" 10 . Dieser Satz hat den Interpreten nicht geringe Schwierigkeiten bereitet. Groten 11 nimmt (wohl unter Einfluß Heideis) an, Herodot meine mit Έλληνες seinen Vorgänger Hekataios. Lloyd (z. St. p. 8 f.) folgt ihm zögernd. Jedoch das vornehmste Argument für diese Ansicht, das besagt, im zweiten Buch polemisiere der Autor nur gegen Hekataios und er müsse das deshalb auch hier tun, ist ein Analogieschluß ohne Verbindlichkeit. Träfe er das Richtige, dann müßte ja alles, was die bisherige Analyse dem Herodot selbst zugewiesen hat, auf den Vorgänger übertragen werden. Das Ergebnis wäre unwahrscheinlich, auch unbefriedigend. Soweit wir wissen, hatte Hekataios keine Veranlassung, ironisch über die Priester Ägyptens zu sprechen. Es ist ja nicht einmal bekannt, wie sehr er mit ihnen in Berührung gekommen ist 12 . Außerdem müßten bei jener Übertragung auch echt herodoteische Züge (vgl. Lloyd p. 9 f.) an Hekataios überwiesen werden. Das aber ist nicht statthaft. Kennzeichnend für die Variante in 2,2,5 ist die Klage über die Roheit der Griechen gegenüber der ägyptischen Milde, Sanftmut und Menschlichkeit. Diesen vermeintlichen Unterschied sichtbar zu machen, ist ein ausgesprochen herodoteisches Anliegen (vgl. 2,45. 112 ff.). Der Schluß bietet sich nun an, daß Herodot selbst die Variante des § 5 zu diesem Zweck geschaffen hat. Das Zitat darf als fingiert bezeichnet werden, selbst wenn sich der Autor seine Ansicht durch Griechisch sprechende Ägypter bestätigen ließ. — Wenn wir den Text richtig verstanden haben, dann wirft die Erzählung vom Experiment des Psammetichos ein helles Licht auf Herodots Verhältnis zu Ägypten. Der Autor bewundert dieses Land und seine ehrwürdige Kultur. Er bemüht sich, deren Wunder und Besonderheiten seinen Lesern in sinnvoller Anordnung vor Augen zu führen. Er scheut keine Mühe, die notwendigen Auskünfte darüber einzuholen. Aber Staunen und Bewunderung verdüstern seinen gesunden Sinn nicht: Er widerspricht, wo er erkennt, daß ihm wirklichkeitsfremde Ubertreibungen als Wahrheit geboten werden. Seine Kritik freilich ist zurückhaltend, ja vornehm und geistvoll. Sie steht oft nur zwischen den Zeilen, bleibt aber dem nicht verborgen, der den feinen Spott des Geschichtsschreibers zu würdigen weiß. 10

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Έλληνες δε λέγουσι ά λ λ α τε μάταια π ο λ λ ά και ώς γ υ ν α ι κ ώ ν τάς γ λ ώ σ σ α ς ό Ταμμήτιχος έκταμών τ η ν δίαιταν ούτως έποιήσατο τ ώ ν π α ί δ ω ν π α ρ ά τ α ύ τ η σι τ ή σ ι γυναιξί. Bei Beachtung der Formel άλλα τε (μάταια π ο λ λ ά ) καί wird den Griechen nur eine einzige Torheit zugeschrieben, eben die Behauptung vom Ausschneiden der Zungen (ähnlich ungenau wie Marg übersetzt auch Feix). E. J. G., Herodotus' Use of Variant Versions, Phoenix 87, 1963, 80 f. Über 2,143 siehe weiter unten S. 1 6 7 - 1 7 1 .

Zweites Hauptstück: Exkurse

1. Exkurse und Exkurstechnik Den bisher behandelten Abschnitten des herodoteischen Werkes liegen klare Urteile des Autors über Motive und Fähigkeiten der jeweils handelnden Personen zugrunde. Der Geschichtsschreiber hat sein Augenmerk auf deren Eigenart gerichtet, wie sich diese im Gang der historischen Ereignisse ihm zu eröffnen schien. Er ist, wie wir zu zeigen versuchten, bemüht, seine Einschätzung einer herausragenden geschichtlichen Persönlichkeit durchzuhalten und mit Hilfe auch erfundener Einzelheiten zu verdeutlichen. Dieser Eindruck eines folgerichtig voranschreitenden Gestaltungswillens wird durchkreuzt durch die scheinbar willkürliche Aufnahme und Anordnung von Nebendingen, von Landes- und Sittenbeschreibungen, Perihegesen und andersartigen, der Geschichtsbetrachtung fernerstehenden Berichten. Man nennt sie Exkurse und ist sich einig in der Beobachtung, daß sie den geradlinigen Fortgang der beabsichtigten Darstellung unterbrechen, ja unübersichtlich machen. Es läßt sich freilich nicht leugnen, daß Herodot den gewundenen Verlauf seiner Erzählung mit erstaunlicher Sicherheit vollführt 1 . Man spricht deshalb von seiner Exkurstechnik und meint damit jenes elastische Schachtelsystem, das es gestattet, auch vermeintliche Seitensprünge des Gedankens als fortlaufenden Text zu präsentieren 2 . Angeblich ist es dem Autor nur durch dieses Verfahren möglich geworden, alles das aufzunehmen, was er neben den Auskünften über die geschichtlichen Hauptereignisse erfahren konnte, aber nicht verschweigen wollte. Diese Betrachtungsweise ist rein formal. Sie stützt sich in allen ihren Varianten auf die Vermutung, daß Herodot noch nicht imstande gewesen sei, eine straff und übersichtlich gegliederte Darstellung zu komponieren. Die Exkurstechnik kommt für diese Auffassung in vielen Fällen einer Verlegenheitslösung nahe. Herodot jedoch weiß sehr genau, daß seine Darstellung nach Abschweifungen „sucht" — er spricht von ττροσθήκαι

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2

Man denke an die zahlreichen Vor- und Rückverweise, die regelmäßig zeigen, daß Herodot weiß, was er geschrieben hat und noch schreiben wird. Grundsätzlich wichtig Dewald 147 ff. Grundlegend Jacoby 281 ff. (§17).

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II. Hauptstück: Exkurse

und τταρενθήκαι 3 — und diese Tatsache setzt voraus, daß er ein lebhaftes Bewußtsein v o m geraden Weg seiner Erzählung gehabt hat. Sollte er ihn aus bloßer Willkür oder aus Verlegenheit wieder und wieder verlassen und mit Abschweifungen ausgestattet haben, ohne den Versuch zu machen, deren Inhalt mit dem eigentlichen Bericht fest zu verbinden? Seit einiger Zeit spricht man sogar vom „Exkurskaktus" 4 und gibt mit dieser despektierlichen Etikette zu verstehen, daß das Werk etwas Fremdartiges, ja Stacheliges an sich habe. Die erwünschte kompositorische Glättung scheint zu fehlen. Zählt man nun die oben behandelten Novellen und Anekdoten, was ihre literarische Form in den meisten Fällen fordert, zu den Exkursen, dann scheinen sich zwei Gruppen derartiger Abschweifungen vom Grundtext zu ergeben: solche, die dem Hauptanliegen des Autors dienen, und andere, die ihre eigenen Ziele verfolgen und in vermeintlicher Selbständigkeit dem historischen Thema fernstehen. Dieses unbefriedigende Ergebnis zwingt uns, die Bedeutung des t. t. Exkurs so zu bestimmen, daß er dem Darstellungsstil Herodots gerecht wird. Cobet, der letzte Interpret, der sich mit diesem Problem befaßt hat, definiert folgendermaßen (4): „Der Begriff Exkurs bezeichnet dabei (d. h. bei dem Versuch, eine harmonische Lösung des Kompositionsproblems zu finden) sehr allgemein die Teile, die nach unserem Verständnis die Haupterzählung unterbrechen, in diese zu einem gewissen Grad eingeschoben zu sein scheinen." Cobet hat sich, unter Berücksichtigung der umfangreichen Spezialforschung, erfolgreich bemüht, jene äußerliche Vorstellung der Störung oder der Einfügung aus bloßer Verlegenheit nach Kräften zu verringern: Er entdeckte in vielen guten Einzelinterpretationen ein volles, d. h. dem Gesamtzusammenhang angepaßtes Eigenleben der Exkurse. Die angeblich überflüssigen Einzelheiten stehen in nachprüfbarer Beziehung zueinander und zu den Berichten, die wir als Haupterzählung zu bezeichnen pflegen. Jedoch, so ergebnisreich diese Exegesen auch sein mögen: Die Rechnung geht immer noch nicht auf; denn immer wieder steht neben dem „realen Geschehen" das phantasieentsprossene Detail. Diese grundsätzlichen Schwierigkeiten mögen an Cobets Beurteilung von Herodots Mitteilungen über Polykrates (160 — 166) verdeutlicht werden. Cobet geht von seiner These aus, die besagt, daß viele herodoteische Exkurse ein nachprüfbares Eigenleben führen. Dieser (im Grunde richtigen) Überzeugung entnimmt er nun aber das Recht, die Bedeutung der Novelle vom Ring für die

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4

Cobet (45 ff.) hat meinen Versuch, beiden Nomina verschiedene Bedeutungen zuzuweisen (Gymnasium 68, 1961, 243 ff.), mit Recht zurückgewiesen und durch angemessenere Deutung der Belegstellen ersetzt. Breitenbach 475 ff.; dort auch die Termini „Exkursnest" und „Exkursgeäste"; Zeichnung eines Exkurskaktus" S. 500.

1. Exkurse und Exkurstechnik

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Beurteilung der eigentich historischen Vorgänge zu leugnen. Wir sahen aber oben (vgl. S. 96 f.) bereits, daß das nicht angeht, sofern man Herodots Standpunkt zurückgewinnen will. So ergibt sich denn: Als moderner kritischer Geschichtsdeuter rekonstruiert Cobet aus Herodots Angaben wichtige Beziehungen der realen, d. h. nachweisbaren Tatsachen zueinander, aber er bietet, weil er die Erzählung vom Ring beiseite läßt, nicht das, was Herodot zum Ausdruck bringen wollte. Ähnlich ergeht es uns in allen Fällen, in denen wir versuchen, die oben (im I. Hauptteil) behandelten Novellen und Anekdoten dem Begriff ,Exkurs' oder irgendeiner seiner Abarten zuzuordnen; denn wir können die unverbürgten Einzelheiten jener Schilderungen nicht von ihrem wahren Kerne trennen, da das historische Urteil Herodots ja nur mit Hilfe des scheinbar überflüssigen Details zustandekommt. Unsere Vermutung bestätigt sich: Der übliche Begriff des Exkurses als eines Sammelbeckens beiläufiger, nicht selten unglaubhafter Notizen ist für die Herodotinterpretation nicht recht brauchbar, vielleicht sogar irreführend. Auch Waters Einteilung der Exkurse in „freiwillige" und „unfreiwillige" — die neueste, die mir bekannt geworden ist — hilft nicht weiter 5 ; denn von der erstgenannten Gruppe könnte man nur dort sprechen, w o der Autor die Freiwilligkeit selbst zugesteht. Das sind aber nur die wenigen Fälle, in denen er Digressionen als ττροσθήκαι oder π α ρ ε ν θ ή κ α ι bezeichnet. A n keiner anderen Stelle läßt sich mit Gewißheit sagen, daß der Autor eine Abschweifung ganz aus freien Stücken eingerückt habe. Das hat Cobet (45 ff.) überzeugend bewiesen.

Es gilt also, einen neuen Ansatzpunkt zu finden. Cobets gründliche Erörterungen werden uns dabei sehr behilflich sein.

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Vgl. Waters (1985) 70: „One could classify the digressions (using the term in its broadest sense) into ,voluntary' and ,involuntary' types."

2. Das homerische Vorbild Cobet hat sich die Lösung seiner Aufgabe nicht leicht gemacht, wenn er bekennt (184): „Auch diese Arbeit geht nicht mehr von der Vorstellung aus, die Exkurse als störend für ein Ganzes gesondert behandeln zu müssen, sondern will sie voll und ganz, ohne nach Entschuldigungen für sie suchen zu müssen, mit in das Bild einbeziehen und mit ihrer Hilfe die Gestalt des Werkes zu verstehen trachten." Unter Berufung auf Cicero (Lgg. 1,1,5) sagt der Gelehrte dann wenig später (185): „Herodot scheint eine eigentümliche Zwischenstellung einzunehmen zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung" 1. Diese Bestimmung läßt sich präzisieren. Sie führt bei Cobet selbst zu der Feststellung, daß Herodots Werk „etwas vollkommen Eigenes" (186) sei. Das ist sicher richtig, wie es sich ja für die Schrift eines Genies auch gebührt. Cobets Aussage gibt aber keine Aufklärung darüber, wie wir die erwähnte Zwischenstellung verstehen sollen. Doch gewiß nicht in dem Sinne, daß die Präzision einer wissenschaftlichen Prosa, wie sie etwa bei Thukydides vorliegt, der gedanklichen Ungebundenheit der Dichter gegenübergestellt werden sollte; denn mit einer derartigen Vermutung würde man der kompositorischen Reife, der sprachlichen Treffsicherheit und der inhaltlichen Klarheit archaischer Poesie unrecht tun. Wir können indessen von einer einfachen, immer anerkannten und für das Herodotverständnis grundlegenden Tatsache ausgehen: Der für Herodot vorbildliche Dichter ist Homer 2 . Das zeigt sich schon darin, daß die Zielsetzung von Herodots Darstellung der des Epos entspricht. Der homerische Held erwartet, daß seine ritterlichen Taten im Liede des Sängers weiterleben werden (vgl. ζ. Β. Ζ 357 f. und X 304 f.). Herodot übernimmt diese Aufgabe des Epikers, wenn er bereits im Einleitungssatz erklärt, Ziel seiner Erkundung sei es gewesen, die Erinnerung an menschliche Leistungen nicht verblassen und den Ruhm großer, eindrucksvoller Taten nicht untergehen zu lassen. Das neue Prosabuch erhebt schon mit den ersten Worten den Anspruch, die heiligste Aufgabe des Epos zu übernehmen und ebenso gut zu lösen. Gerade weil sich die Geschichtsbetrachtung Herodots in so auffalliger

1 2

Ähnlich auch Waters (1985) 8 f. Vgl. ζ. B. Dion. Hal. Ep. ad Pomp. (II 236,14 U.-R.): "Ομήρου ζ η λ ω τ ή ? γενόμενο?, Ps.Long. De subl. 13,3; Glover 74.

2. Das homerische Vorbild

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Weise auf die Entschlüsse und Verrichtungen bedeutender Individuen konzentriert 3 , ist (wie sich später zeigen wird) die Erzählweise des Epos in mancherlei Hinsicht die ihr angemessene Darstellungsform. Es ist unvermeidlich, auf den ersten Satz des Werkes kurz einzugehen. Er lautet: Ηροδότου Άλικαρνασσέοξ Ιστορίηξ άττόδεξίξ ήδε, ώ$ μήτε τ ά γενόμενα εξ άνθώττων τ φ χρόνω έξίτηλα γένηται, μήτε έργα μεγάλα τε και θωμαστά, τ ά μέν Έλλησι, τ ά δέ βαρβάροισι άττοδεχθέντα, άκλεα γένηται, τ ά τε ά λ λ α και δι' ή ν α!τίην έττολέμησαν άλλήλοισι. Herodot bestimmt seine Aufgabe in dem Finalsatz ώς μήτε — γένηται μήτε — γένηται als Zweck seiner Ausführungen. Um den Autor richtig zu verstehen, muß man sich verdeutlichen, welchen Standpunkt er bei Formulierung des Einleitungssatzes eingenommen hat. Er spricht nicht von den Mühen seiner Forschertätigkeit, sondern er bestimmt deren Ergebnis und die diesem Ergebnis zugedachte Aufgabe. Sinngemäß sagt er: ,Das ist das Resultat meiner Bemühungen (Ιστορίης άττόδεξις) um Erhellung des Grundes der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Zweck der vorliegenden Ausführung ist die Erhaltung des Ruhmes der großen menschlichen Leistungen.' Diese Leistungen sind alle in irgendeiner Weise mit der genannten Auseinandersetzung verbunden oder wenigstens vom Autor zu ihr in Beziehung gesetzt worden. Ihre Erkundung ist in der Formulierung des Finalsatzes als abgeschlossen gedacht; der Autor verfügt frei über sein Wissen. Würde er indessen die eigene Person in den Mittelpunkt stellen, dann müßte er vermutlich sagen: ,Weil die großen Leistungen ihres Ruhmes nicht verlustig gehen sollten, habe ich die Kriegsgründe und die aus ihnen resultierenden Handlungen erforscht.' Dort, im überlieferten Text, geht es also um das Resultat des Forschens und um die ihm zugeteilte Aufgabe. Hier, in der bloß gedachten Aussage, wäre die Aufklärung über die kriegerischen Ereignisse nur als Mittel zum Zweck der Erhaltung des Ruhmes vorgestellt. Es ist nicht schwierig einzusehen, weshalb der Autor diejenige Formulierung gewählt hat, die eine klare Bestimmung der Zielsetzung seines Werkes möglich gemacht hat. Bei Analyse dieses großartigen Satzes entstehen Unklarheiten nur dann, wenn man sich ihm in der vorgefaßten Meinung nähert, er müsse, da er das Werk einleitet, die Aufzählung des Inhalts bringen. Schon die Verteilung der einzelnen Aussagen auf verschiedene Satzarten spricht gegen diese Möglichkeit: Die vornehmsten Themenkreise des Werkes werden in eine Beziehung zueinander gesetzt, die in der Wahl der sprachlichen Form ihren Ausdruck findet. Der Sinn dieser Zuordnung ist, wie wir soeben gesehen haben, die Formulierung der von Homer übernommenen Verpflichtung. Aus den genannten Gründen können mich Einwände gegen meine eigene Analyse des Satzes 4 nur wenig beeindrucken. Cobet wirft mir vor, den Inhalt der .Historiai' einseitig zu bestimmen. Er sagt: „Wenn der Finalsatz den Zweck der Darstellung nennt, so sind wir doch berechtigt, daraus mit Schadewaldt zunächst die allgemeine Umschreibung des Inhalts zu entnehmen und damit die drei Glieder, die sich an ίστορίης άττόδεξις anschließen, als zunehmend engere Bezeichnung der Gegenstände des Werkes aufzufassen, ohne daß die engere Umschreibung das weiter Gefaßte ausschließt." Mit derartigen Schlüssen werden jedoch alle sprachlichen Besonderheiten eingeebnet und alle Nuancen verwischt, ohne daß der Sinn der herodoteischen Aussage zum Vorschein kommt. Traut man dem Geschichtsschreiber wirklich so banale Versicherungen zu, er habe die menschlichen Leistungen, deren Ruhm erhalten werden soll, tatsächlich auch erkundet? Von einer Verengerung der inhaltlichen Bereiche kann aufgrund der gewählten Steigerungsform (τά τε άλλα καί) schon gar nicht die Rede sein.

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Vgl. Waters (1985) 136 ff. Verf., Der erste Satz im Werke Herodots, in: Festschrift B. Snell, München 1956, 209 bis 222.

124

II. Hauptstück: Exkurse

Sowohl Cobet als auch die Interpreten, auf die er sich beruft, ziehen das Kolon τ ά te άλλα και 8Γ ήν αΐτίην έπολέμησαν άλλήλοισι in den Finalsatz hinein (dem sie dann die „Inhaltsangabe" entnehmen). Aber das macht nicht nur grammatische 5 , sondern auch sachliche Schwierigkeiten; denn die αΐτίη ist kein ipyov μέγιστον και θωμαστόν 6 , und Herodot weist sie nur den Barbaren zu, nicht den Hellenen. Und bei dieser fehlerhaften Deutung vergißt man nur zu leicht, daß Herodot gerade das nicht zum Thema erhebt, was man gern hören möchte. Aus den genannten Gründen kann ich auch Grants Paraphrase nicht gutheißen (297): „He is, as he says he is, offering his readers a two-fold subject, what men have done, and great and wonderous deeds, primary the Persian Wars and their cause." Grant beachtet weder den Bau des Satzes noch die grammatischen Schwierigkeiten, die von seiner Auffassung ungeprüft hingenommen werden müssen. Auch er hat Steins bescheiden formulierte, aber wichtige Feststellung, der „Bezug von ά λ λ α auf έργα" sei „irrig", nicht entkräftet. Das Wichtigste aber ist: Cobet hat es versäumt, die meisterhafte Interpretation des Satzes durch Krischer 7 zu berücksichtigen. Krischer hat Art und Zweck der Homerimitation zutreffend bestimmt. Er ermittelte das dem Einleitungssatz (den er als Prooimion erkannt hat) zugrundeliegende Schema und bezeichnete es „als einfache Grundform einer prosaischen Imitation des homerischen Prooimions" (a. O. 163). Vor allem aber hat er (m. W. als erster) den Finalsatz richtig analysiert und die Gleichartigkeit seiner beiden Glieder bewiesen. In ihnen geht es nicht um eine Angabe des Inhalts, sondern es kommt hier bereits der doppelte Anspruch des Autors zum Ausdruck, die Wahrheit zu berichten und gleichzeitig als vollendeter Künstler zu sprechen, vgl. a. O. 166: „Herodot stellt sich nicht mehr einseitig als Nachfolger (Imitator) Homers dar, sondern ebenso sehr als Forscher; nur im Bewußtsein dieser neuen Errungenschaft eines Wissens um die Macht der Zeit und einer methodischen Forschung kann er es überhaupt wagen, mit Homer in Wettbewerb zu treten." Der Schriftsteller aber, den er als Forscher zu überwinden trachtet, ist (wie Krischer a. O. 166 ff. mit Recht betont) Hekataios. Auch an sein Vorbild ist im Einleitungssatz bereits gedacht. Im übrigen sei auf die musterhaft klare Übersetzung und auf die vorzügliche Analyse des Satzes bei Regenbogen (W. d. F. 105 ff., geschrieben 1930!) ausdrücklich hingewiesen. Man sollte sich hüten, ohne Not von den Einsichten dieses Forschers abzuweichen. Der neuere Versuch Hommels 8 , der Konstruktion des einzigartigen Satzes mit entstehungsgeschichtlichen Überlegungen Herr zu werden, sei nur der Vollständigkeit halber

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Es sollte bekannt sein, daß zwei durch τε ... καί verbundene Nomina nicht als Apposition zum Subjekt eines negierten Satzes treten können, ohne daß die positive Reihung (TE ... καί) ebenfalls in die negative verwandelt wird, vgl. Verf. a. O. (siehe vor. Anm.) 217 f. Es ist erstaunlich, mit welcher Sorglosigkeit manche Interpreten über derartige elementare Regeln hinwegsehen. Diesem Vorwurf setzt sich auch H. Drexler (Herodotstudien, Hildesheim o. J., 3 ff.) aus, obwohl er die Formel τ ά τε ά λ λ α καί richtig bestimmt (10): Aber seine Behauptung: „Der Finalsatz ist keineswegs negativ; seine beiden Teile haben die Form der Litotes" überzeugt nicht (D. kann auch keinen analogen Fall nennen). Wie der Satz formuliert sein müßte, wenn Drexler recht hätte, zeigt ζ. B. die Fassung in 8,52,2. Drexlers Polemik gegen Regenbogen dürfte ebenso abwegig sein wie die gegen Pohlenz. — Richtig konstruiert übrigens G. Nagy (Arethusa 20, 1987, 176): „In particular [this apodeixis of his historia concerns] on account of which cause [aitia] they got into conflict with each other". Ähnlich schon Benardete 7.

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Vgl. die Belege für δωμαστόνθώμα und θωμαστόν bei Barth (passim) und Schmidt 143 ff. Τ. K., Herodots Prooimion, in: Hermes 93, 1965, 159 — 167. Grant kennt und zitiert diesen Aufsatz, ohne seine Ergebnisse auszuwerten. Η. H., Herodots Einleitungssatz ein Schlüssel zur Analyse des Gesamtwerks?, in: Gnomosyne, Festschrift für W. Marg, München 1981, 271-287.

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2. Das homerische Vorbild

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erwähnt. Hommel meint, der Einleitungssatz habe die Erwähnung des Gegensatzes Griechen — Barbaren ursprünglich gar nicht enthalten. Der Autor habe diese Worte erst in einem späteren Stadium seines Schaffens hinzugefügt. „Damit hat Herodot," sagt Hommel (a. O. 284), „jene beiden Anhängsel (d. h. die Worte τά μέν "Ελλησι, τά δέ βαρβάροισι άττοδεχθέντα und τά ΤΕ άλλα και δι' ήν αίτίην έττολέμησαυ άλλήλοισι) der von uns hergestellten ,Urform' des Prooimions erst bei der Endredaktion des abgeschlossenen Werkes in aller Eile zugefügt." Später (a. O. 285) ist nicht nur von „Eile", sondern auch von „Hast" die Rede. Herodot, dem das historische Licht erst recht spät (nach Hommel: in Athen) aufgegangen sein müßte, hätte also einen ursprünglichen, stilistisch tadellosen Entwurf in beflissener Aufregung durch holperige Zusätze verdorben. — Μ. E. scheitert dieser Erklärungsversuch an den unkontrollierbaren biographischen Voraussetzungen (die späte Wandlung des Autors zum Geschichtsschreiber, die in aller Eile durchgeführte Endredaktion). Hommel hat ja — nicht anders als seine Analyse treibenden Vorgänger — solche Bedingungen konstruiert, damit er ihnen das gewünschte Ergebnis entnehmen kann. Methodisch gesehen, handelt es sich hier um einen Zirkelschluß, nicht um eine angemessene Beschreibung und Deutung des Befundes. Es ist m. E. wenig sinnvoll, eine Interpretationsweise wiederzubeleben, die sich der eigenen logischen Fehler nicht bewußt ist (vgl. auch Immerwahr 8).

Weitere Übereinstimmungen, vor allem solche kompositorischer und sprachlicher Art, bestätigen die Richtigkeit der Annahme, daß sich Herodot bei Konzeption und Ausarbeitung seines Geschichtswerks wieder und wieder an den homerischen Gedichten orientiert hat. Solche Entsprechungen sollen hier, da längst bekannt, nur kurz und nur in Auswahl genannt werden. Die homerische Kunst der Exposition, die Handhabung der Gespräche und Reden, die Konzentration der Erzählung auf wirkungsvolle Situationen, nicht zuletzt die Abhängigkeit menschlicher Entschlüsse von göttlichen Plänen — alles das findet bei Herodot eine sachgemäße Fortsetzung. Bisweilen erzählt der Geschichtsschreiber so, daß man das homerische Vorbild erkennen und die Gediegenheit der neuen Fassung würdigen soll. An ein besonders sinnfälliges Beispiel sei im Vorbeigehen erinnert! Die Tafel der Völker, die auf persischer Seite am Kriege beteiligt sind (7,61—99), fraglos das Ergebnis gründlicher Erkundung, entspricht dem achäischen Teil des homerischen Schiffskatalogs (B 494 — 779). In beiden Werken werden die mitwirkenden Völkerschaften sinngemäß vor Beginn der Kämpfe (d. h. bevor Verluste eintreten) aufgezählt. Auch in Einzelheiten ist der Einfluß Homers auf Herodots Prosa spürbar. Der Iliasdichter versichert, daß er die Menge der ins Feld gezogenen Streiter nicht nennen könnte (B 488: πληθύν δ' ούκ άν έγώ μυθήσομαι ούδ' όνομήνω). Er beschränkt sich deshalb darauf, seinem Hörer die Führer und die Anzahl der Schiffe mitzuteilen, vgl. Β 493: άρχους αυ νηών έρέω νήάς τε ττροττάσας9. — Herodot dagegen kennt die Stärke des persischen Riesenheeres und die Namen der persischen oder medischen Feldherren, welche die 9

Zur Gedankenführung in den Versen Β 483—493 vgl. T. Krischer, Die Entschuldigung des Sängers (Ilias Β 4 8 4 - 4 9 3 ) in: Rhein. Mus. 108, 1965, 1 - 1 1 .

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II. Hauptstück: Exkurse

einzelnen Kontingente befehligen. Er verzichtet jedoch ausdrücklich darauf, die Namen der lokalen (nationalen) Stammesfürsten aufzuzählen, die es im Landheer und bei der Flotte gab (7,96,1): τοΐσι ... έττήσαν έκάστοισι έπιχώριοι ηγεμόνες, των εγώ (οΰ γαρ άναγκαίη έξέργομαι ες ίστορίης λόγον) οΰ τταραμέμνημαι. Das heißt: „... die will ich aber — das ist nämlich nicht durchaus notwendig für die Erzählung meiner Erkundung — nicht weiter erwähnen" 1 0 . Hier wie bei Homer also die Beschränkung auf das für die Erzählung (bzw. das historisch) Wesentliche! Der Vergleich mit der Iliasstelle (B 488) legt den Verdacht nahe, daß Herodot die Namen der Stammesfürsten nicht kannte, ja gar nicht kennen konnte. Er begründet sein Schweigen nicht mit der eigenen Unfähigkeit, auch nicht mit unüberwindlichen Schwierigkkeiten bei der Nachfrage, sondern mit der Notwendigkeit einer angemessenen Darstellung des historischen Materials. Diese Orientierung bei der Stoffauswahl an der vorliegenden historiographischen Aufgabe ist bezeichnend für das wissenschaftliche Denken des Autors. Diese angedeutete Weise, das Nichtwissen zu verhüllen, gleicht den Wendungen, in denen Herodot versichert, er könne etwas nicht genau angeben. Fast stets läßt sich vermuten, daß er über den betreffenden Gegenstand nichts wußte oder wissen konnte. Man vergleiche etwa 7,54,3: Xerxes betet vor dem Übergang von Asien nach E u r o p a und wirft dann eine goldene Schale, einen goldenen Krater und ein Schwert in den Hellespont. Dazu Herodot: ταύτα οΰκ εχω άτρεκέωξ διακρΐναι, ούτε et τ ω ή λ ί ω άνατιθείς κατήκε ές τό π έ λ α γ ο ; ούτε εΐ μετεμέλησέ ot τόν Έλλήσττοντον μαστιγώσαυτι και άντΐ τούτων τ η ν θάλασσαν έδωρέετο (ähnlich 8,54). Diese Worte können nicht besagen, daß sich die Frage bei näherem Zusehen doch noch beantworten lasse, sondern sie zwingen zu dem Schluß, daß die Motive, aus denen Xerxes handelte, verborgen und deshalb nicht feststellbar sind. — Vgl. noch 7,133,2 (ούκ εχω εΤτται); 7,152,1 (ob Xerxes vor Beginn des Krieges einen Boten an die Argeier gesandt hat oder ob diese später in Susa bei Artaxerxes nachfragen, das kann ich nicht genau angeben: ούκ εχω άτρεκεω$ ειπείν ούδέ τίνα γνώμην περί αύτών άττοφαίνομαι); 7,187,1; 8,87,1 und 3; 9,18,2 und andere Stellen. Schließlich noch eine Mutmaßung über Herodots Behauptung 8,85,2, um die es ähnlich zu stehen scheint: Der Autor versichert, er kenne die Namen zahlreicher ionischer Trierarchen, die in der Schlacht bei Salamis hellenische Schiffe versenkt hätten, er nennt aber nur die Samier Theomestor und Phylakos. Beide sind von den Persern belohnt worden: Jener wurde für kurze Zeit (d. h. bis zum Abfall der Insel im Jahre 479) Tyrann von Samos, dieser hieß von nun an .Wohltäter des Großkönigs'. Herodots Ausdrucksweise, die Beschränkung auf die Namen zweier herausragender Ionier, entspricht der Steigerungsform τά τε άλλα καί ... Wahrscheinlich kannte Herodot nur die Namen der beiden Perserfreunde und ihr Verdienst um die Sache des Xerxes bei Salamis. Aus ihren Leistungen Schloß er, daß es auch andere ionische Trierarchen dieser Art gegeben haben müsse.

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So richtig Marg, richtig auch Feix. Anders Pohlenz (56): „ . . . denn ich werde nicht durch eine Notwendigkeit dazu gezwungen, meine Erkundung darzulegen" — als ob Herodot die zahllosen Namen hätte feststellen können. Pohlenz (157) muß dann auch vorsichtig einschränkend hinzusetzen: „ O b Herodot sich die Mühe genommen hat, jeden einzelnen Namen zu erkunden, wie er es ζ. B. bei den 300 an den Thermopylen gefallenen Spartiaten getan hat, geht aus seinen Worten nicht sicher hervor."

2. Das homerische Vorbild

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Vermutlich würde es sich lohnen, alle Stellen zu sammeln, an denen Herodot ein angebliches Wissen verbirgt. Sie sind bedeutsam für seine Auswahl des Stoffes, für das, was er als historisch wesentlich ansah. Das vermeintliche (verschwiegene) Wissen betrifft in solchen Fällen in der Regel Inhalte, die zu wissen nicht lohnte.

Herodot mußte übrigens — um nochmals auf die homerische Katalogform zurückzukommen — das in den Kapiteln 7,61—99 sichtbare Darstellungsprinzip wenigstens teilweise nochmals anwenden: Erst in 7,184—187 kann er die endgültige Stärke des persischen Heeres angeben. Die Zahlen werden vor den ersten Verlusten bei Thermopylai und am Vorgebirge Artemision mitgeteilt, aber erst nach Aufnahme der Hilfsvölker, die der Großkönig seit dem Übergang über den Hellespont zur Heeresfolge gezwungen hat. Aus sachlichen Gründen hat der Geschichtsschreiber seinen Katalog auf zwei Abschnitte verteilt (Völkertafel bei der Zählung in Doriskos — Berechnung der Heeresstärke vor Beginn der Kämpfe). Die Namen der zur Heeresfolge gezwungenen europäischen Völkerschaften können nun freilich nur beiläufig aufgezählt werden (7,185,2). Wichtiger als das bisher Besprochene ist die Übereinstimmung zwischen Homer und Herodot bei Darstellung gleichzeitig an verschiedenen Schauplätzen ablaufender Handlungen. Es ist ein bekannter, schon von den Vertretern der Oral Poetry geübter Kunstgriff, das bisher berichtete Geschehen an einem Ruhepunkt zu verlassen und nachholend zunächst das zu erzählen, was sich in der Zwischenzeit an einem anderen Orte zugetragen hat 11 . Homer erzählt dabei so, daß die gleiche Zeitstrecke nicht zweimal durchlaufen wird (Gesetz Zielinskis). Der Hörer der Ilias erlebt diese Art des Berichtens zum ersten Male im A (428 — 492: Chryses-Episode), dann aber immer wieder bei jedem Übergang vom irdischen zum himmlischen oder vom himmlischen zum irdischen Gesehenen und unzählige Male bei Wechsel des Schauplatzes von einer Seite der Kämpfenden zur anderen. Der Odysseedichter nutzt die Möglichkeiten desselben Prinzips im großen Stile aus: Der Bericht über Odysseus' Ergehen wird gleich anfangs abgebrochen, weil zunächst von Telemachos gesprochen werden soll (α—δ). Dann verlassen wir Telemachos in Sparta. Die Darstellung konzentriert sich nun bis zum Ende des Buches ξ ganz auf Odysseus. Wir wissen außerdem seit dem α, daß die Freier in seinem Hause auf Ithaka ihr Unwesen treiben, und erfahren am Ende des δ, daß eine Schar von ihnen dem heimkehrenden Telemachos im Sunde bei Ithaka auflauert. Das tun diese jungen Männer bis zu dessen 11

Vgl. T. Krischer, Formale Konventionen in der homerischen Epik ( = Zetemata 56), München 1971, 91 ff., bes. 118. Es handelt sich übrigens um einen Grundsatz jedes geordneten Erzählens, der bis heute dem guten Romanschriftsteller vertraut ist. Herodot konnte ihn nur bei Lektüre der homerischen Epen kennenlernen.

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II. Hauptstück: Exkurse

Rückkehr im Buch ο (vgl. auch π 470 ff.), freilich vergeblich. Damit Telemachs Abschied von Sparta und seine Fahrt nach Ithaka beschrieben werden können, muß der Bericht über Odysseus ruhen, bis Vater und Sohn im Buch π zusammentreffen. Die eigentliche Freierhandlung wird wieder aufgenommen, sobald Odysseus und Eumaios den königlichen Palast betreten (Buch p). Noch einmal werden dann die Vorgänge auf Ithaka unterbrochen, weil die Unterweltsszene der zweiten Nekyia ihren Platz finden muß. Bei diesem groben Überblick haben wir weniger umfangreiche Beispiele für parallel zueinander verlaufende Handlungen gar nicht erst berücksichtigt. Trotzdem ist deutlich geworden, daß Herodot in der anspruchsvollen homerischen Kompositionsweise brauchbare Muster für seine Zwecke finden konnte. Er mußte hier zugreifen; denn die Darstellung geschichtlicher Ereignisse kann nun einmal ohne die Berücksichtigung der Gleichzeitigkeit (Parallelität) mancher Vorgänge nicht bestehen. In der Tat beherrscht Herodot die Kunst, mehrere Ereignisse auch in der Erzählung nebeneinander herlaufen zu lassen, mit Meisterschaft. Er wendet sie, wo nötig, bereits in den ersten Büchern an. Man vergleiche beispielshalber 3,39,1 (der spartanische Feldzug gegen Samos während der persischen Eroberung Ägyptens) oder 4,145,1 (der persische Zug gegen Barke, während Megabazos Thrakien unterwirft) — um aus einer großen Zahl nur zwei jedem Herodotleser vertraute Beispiele zu nennen! Das Darstellungsprinzip gewinnt vor allem im siebenten und achten Buch an Tragweite und wird hier geradezu mit Virtuosität gehandhabt. Herodots Aufgabe bestand darin, das allmähliche Anrücken des persischen Riesenheeres so zu schildern, daß der Leser rechtzeitig erfährt, was jeweils auf der Griechenseite in die Wege geleitet wurde, um dem lebensgefahrlichen Angriff der Asiaten begegnen zu können. Der Geschichtsschreiber löste das Problem so, daß er dem vorrückenden Perserheer von Zeit zu Zeit Ruhepausen gönnte. Diese Einschnitte boten dem Erzähler Gelegenheit, die griechischen Gegenmaßnahmen zu beschreiben und dabei zu zeigen, daß sie unter stetig wachsendem Zeitdruck zustandekamen, teilweise sogar improvisiert werden mußten. Bisweilen hat der Autor auch voneinander verschiedene Vorgänge nur auf persischer oder nur auf griechischer Seite in ähnlicher Weise einander zugeordnet. Zur Veranschaulichung stelle ich hier die wichtigsten Belege aus dem siebenten Buche zusammen, allerdings nur solche, an denen der Autor selbst auf die Gleichzeitigkeit mehrerer Handlungen aufmerksam macht: 7,25,1: 7,33,1:

Während der Errichtung von Verpflegungslagern an der ägäischen Küste marschiert das Perserheer von Kristalla nach Sardes; Danach rüstet sich Xerxes zum Zuge nach Abydos. In der Zwischenzeit (έν τούτω) überbrückt man den Hellespont;

2. Das homerische Vorbild

7,59,3:

7,131,1:

7,178,1:

7,179,1: 7,196,1: 7,219,1:

129

Während die persischen Schiffe zum Trocknen an den Strand von Doriskos gezogen werden, läßt Xerxes die genaue Stärke des Heeres feststellen; Ruhetage der Perser bei Therme (ό μεν δή περί Πιερίην διέτριβε ημέρας συχνάς). Im folgenden werden die Ereignisse auf der griechischen Seite nachgeholt. Danach kehrt der Autor zum vorigen Thema zurück (7,138,1: έπάννειμι δέ έπϊ τον ττρότερον λόγον); Die Griechen eilen zu den Thermopylen, nach dem Vorgebirge Artemision und zum Isthmos. Δελφοί δ' έν τ ο ύ τ ω τ ω χρόνω έχρηστηριάζοντο τ ω θεω υπέρ έωυτών. Währenddessen bricht die persische Flotte zur Fahrt nach Süden auf (ohne Zeitangabe); Die persische Flotte kommt in Aphetai an. Zur gleichen Zeit zieht das Landheer durch Thessalien; Maßnahmen der Griechen in den Thermopylen während der Umgehung des Passes durch die Perser 12 .

Als ergänzender Beleg für Hinweise auf die Gleichzeitigkeit mehrerer örtlich getrennter Vorgänge sei die instruktive Stelle 5,108,1 genannt: έν ω δέ ή άγγελίη τε ττερΐ τ ω ν Σαρδίων π α ρ ά βασιλέα άνήϊε και Δαρείος τ ά περί τό τόξον ποιήσας Ίστιαίω ές λόγους ήλθε και Ιστιαίος μεμετιμένος ΰ π ό Δαρείου έκομίζετο επί θάλασσαν, έν τ ο ύ τ ω π α ν τ ι τ ω χρόνω εγίνετο τάδε ... Damit vergleiche man die homerischen Uberleitungsverse Λ 596 f.: ώς οί μεν μάρναντο δέμας πυρός αϊθομένοιο Νέστορα δ' έκ πολέμοιο φέρον Νηλήϊαι ί π π ο ι ..., ähnlich Σ 1—2, vgl. auch Θ 53 — 56; ξ 1 ff. und andere Stellen. Diesselbe Methode der Darbietung gleichzeitiger historischer Vorgänge läßt sich im achten Buche verfolgen. Da hier die Gegner einander nahe sind, findet Wechsel des Schauplatzes entsprechend häufiger statt. Nur drei Stellen verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit: In Kap. 8,15 erfahren wir bei Beschreibung des letzten und größten Seegefechts am Artemision, daß die Kampfhandlungen an den Thermopylen und die an der Nordseite Euboias zur gleichen Zeit stattgefunden haben (§ 1): συνέπιπτε δέ ώστε τάς αΰτάς ταύτας ήμέρας τάς τε ναυμαχίας γίνεσθαι ταύτας και τάς πεζομαχίας τάς έν Θερμοπύλησι. — An der zweiten Stelle (8,70 f.) wird durch doppelten Schauplatzwechsel die Verdichtung des Geschehens sichtbar: Die Ereignisse drängen sich, und die 12

Der Bericht enthält einen zeitlichen Rückgriff: Überläufer überbrachten die Nachricht von der Umgehung schon während der Nacht (ούτοι μέν ετι νυκτός έσήμηναν), die Beratungen aber finden erst bei Tagesanbruch statt.

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II. Hauptstück: Exkurse

Gefahren wachsen. Die Perser ordnen sich zur Seeschlacht für den kommenden Tag, die Griechen aber geraten in große Furcht, da sie ein Treffen bei Salamis für nachteilig halten, und die persische Landmacht bricht in der gleichen Nacht zur Peleponnes auf. Gleichwohl haben die Griechen dort nach Kräften Verteidigungsmaßnahmen getroffen (8,71,1: καίτοι τ ά δυνατά π ά ν τ α έμεμηχάνητο). Der dritte Hinweis betrifft die Schauplatzwechsel in der Seeschlacht von Salamis (8,84—95). Wie man weiß, schildert Herodot die militärischen Vorgänge so, daß er allgemein gehaltene Erwähnungen vom Ablauf des Kampfes mit mehr oder weniger gut verbürgten Berichten über Einzelheiten abwechseln läßt: Kampfbeginn (8,84) und Aufstellung beider Flotten (8,85,1). - Verhalten der Ionier Theomestor und Phylakos (8,85,2-3). — Allgemeine Vernichtung der feindlichen Schiffe durch die Hellenen, die in guter Ordnung kämpfen (8,86). — Tüchtigkeit und Glück der Artemisia (8,87 — 88). — Unterschiedliche Verhältnisse auf beiden Seiten (8,89). — Phoiniker und Ionier im Urteil des Xerxes (8,90). — Athener und Aigineten vernichten die fliehenden Perser (8,91). — Themistokles und der Aiginete Polykritos (8,92). — Nennung der tapfersten Griechen (8,93). — Nachrichten über das Verhalten der Korinther während der Schlacht (8,94). — Aristeides vernichtet die Perser auf Psyttaleia (8,95)13. Die Aufmerksamkeit des Geschichtsschreibers wendet sich, ähnlich wie die des Epikers bald der einen, bald der anderen Seite der Kämpfenden zu. In 8,84 gilt sie vor allem den Griechen, in 8,85,1 beiden Parteien, in 8,85,2—3 nur der persischen Seite. In 8,86 werden wieder beide Fronten betrachtet, in 8,87 — 88 in erster Linie die Perser. In 8,89 spricht der Autor von Persern und Hellenen, in 8,90 vorzugsweise von Ereignissen bei den Feinden. Das Kapitel 8,91 enthält Schilderungen vom Kampf beider Gegner, die Kapitel 8,92 — 94 betreffen nur die Griechen, 8,95 dagegen wieder beide Parteien. Durch die mehrmaligen Übergänge von einer Seite zur anderen wird die enge Verflechtung der Vorgänge verdeutlicht. Zwei Ereignisreihen, die bisher getrennt nebeneinander herliefen oder sich nur seltener berührten, verschlingen sich nun ineinander, bis durch den Sieg der einen Seite die erlösende Entscheidung herbeigeführt wird. In gewisser Weise bezeichnet bereits die Art der Handlungsführung einen Abschluß.

13

Zur Analyse der militärischen Vorgänge vgl. die zutreffenden Beobachtungen von Hart 99 f. — Die Schilderung der Seeschlacht ist übrigens bezeichnend für Herodots historisches Material. Außer den ,Persern* des Aischylos, die einen poetisch verklärten, aber auch in den Einzelheiten meist zuverlässigen Bericht des griechischen Sieges bieten, hat Herodot offenbar nur beiläufige Ereignisse in Erfahrung bringen können. Was er über Artemisias Tüchtigkeit erzählt, mag er schon in seiner Heimatstadt Halikarnaß gehört haben.

2. Das homerische Vorbild

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Doch genug der Beispiele! Es dürfte erwiesen sein, daß der in den vorgeführten Mustern verwirklichte Grundsatz der Stoffanordnung homerisch ist oder besser gesagt: bei Homer seine älteste (und für Herodot wichtigste) Ausprägung gefunden hat. Auch die an den beiden zuletzt genannten Stellen sichtbaren raschen Übergänge von Freund zu Feind und umgekehrt ähneln, wie wir schon angedeutet haben, homerischen Kampfschilderungen, wie sich besonders an den Monomachien des Epos beobachten läßt 14 . Man kann also auf Schritt und Tritt feststellen, wie sehr der Geschichtsschreiber dem Epos Homers verpflichtet ist 15 . Zu den Eigenheiten der homerischen Gedichte gehört neben den bisher genannten Phänomenen auch die epische E k p h r a s i s . Ähnlich wie Herodot ist schon Homer bestrebt, seine Erzählung mit Beschreibungen wunderbarer Besonderheiten auszustatten. Bei ihm handelt es sich meist um Zustandsschilderungen. Diese können aber auch, wie die Angaben über den Schild Achills im Σ zeigen, Gegenstände in ihrem jeweiligen Zustandekommen dem Hörer vor Augen führen. — Wir brauchen auf diese bekannten Dinge hier nicht einzugehen. Erinnert sei nur an Homers Ausführungen über denkwürdige Waffen, an Athenas Aigis (E 738 ff.), an Agamemnons Panzer ( A 1 9 f f . ) und an den berühmten Schild des Aias (H 219 — 223) oder an den noch berühmteren Achills (Σ 478 ff.), aber auch an die Abschilderungen lieblicher Örtlichkeiten, wie die der Höhle Kalypsos (ε 55 ff.) oder die von Alkinoos' Garten und Palast (η 82 ff.). Wir dürfen in diesem Zusammenhang auch der langen Reden Nestors gedenken ( H l 29 ff.; Λ 670 ff.; Y 306 ff.), die, an Einzelheiten der Haupterzählung anknüpfend, Ruhmestaten der Vergangenheit berichten, Beispiele setzen und Ratschläge erteilen. Herodot scheint derartige kompositorische Eigenheiten des Epos — Unterbrechungen der laufenden Erzählung durch Digressionen („dynamische" oder „statische" Berichte) — übernommen zu haben, um mit ihrer Hilfe die Entfaltung seines eigentlichen geschichtlichen Themas zu fördern und zu vervollständigen 16 . Aus den Gepflogenheiten Homers leitete er 14

15

16

Vermutlich würden sich für alle Schilderungen paralleler Handlungen bei Herodot homerische Vorbilder finden lassen. W i r müssen uns hier versagen, das näher zu untersuchen. Das schließt übrigens nicht aus, daß Herodot die Konzeption des Dichters kritisiert, wenn die poetische Gedankenführung seinem nüchternen Rationalismus nicht gerecht zu werden scheint, vgl. bes. 2,120. Überflüssig zu sagen, daß kompositorische Eigenheiten Homers auch auf die Gestaltung der Haupterzählung eingewirkt haben, ζ. B. in den ringförmig gebauten inhaltlichen Rückgriffen. Man vergleiche das interessante Material, das E.-K. Pearce (Eranos 79, 1981, 87 — 90) zusammengetragen hat. Diese Art der Stoffanordnung entstammt letzten Endes der Oral Poetry, vgl. Krischer a. O. (ob. Anm. 11) 136 — 140, jedoch nichts hindert uns, den Homertext als unmittelbare Vorlage Herodots anzusehen. Die Annahme einer A b hängigkeit Herodots von erschlossenen mündlichen Mustern (so Pearce) wäre nur dann statthaft, wenn sich die Beziehungen zu Homer zwingend ausschließen lassen würden.

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II. Hauptstück: Exkurse

das Recht ab, überall dort neue Einzelheiten einzurücken, wo er das Interesse des Lesers zu erwecken hoffte und eine weitere Aufklärung für angebracht hielt. Wenn diese Diagnose richtig ist, dann sind die sogenannten herodoteischen Exkurse unmittelbare Abkömmlinge einer epischen Form des Erzählens. Herodot kann nicht angenommen haben, daß sie etwas Störendes oder Befremdendes an sich haben; denn seine Darstellungsform war ja durch homerische Vorbilder voll gerechtfertigt. Wie hätte ein griechischer Autor etwas verschmähen sollen, was er bei Homer vorfand? Herodot hat allerdings die homerische Darstellungsweise weitergebildet und die epischen Digressionen oftmals mit Beziehungen zum zentralen historischen Geschehen ausgestattet, ja (wie wir an unseren im ersten Teil betrachteten Beispielen beobachten konnten) er hat den scheinbar beiläufigen Einzelheiten so viel Gewicht verliehen, daß sie das geschichtliche Urteil des Autors in sich fassen konnten. Der Vorteil dieses Verfahrens bestand in der Vielfalt der Möglichkeiten: Der Autor konnte nun Wissenswertes und Erstaunliches auch dann noch mitteilen, wenn die Beziehungen zum Hauptthema nur dünn waren oder gebrochen wirkten. Gleichzeitig war es möglich, das scheinbar Nebensächliche oder Überflüssige sinnvoll miteinander zu verbinden. So geschah es, daß das „Eigenleben der Exkurse" (Cobet) wieder relativiert wurde 17 .

17

Solchen Beziehungen zwischen Haupterzählung und Digression ist Cobet im Hauptteil seines Buches (vgl. 83 ff.) nachgegangen, oft mit Erfolg, bisweilen jedoch, ohne zu überzeugen.

3. Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse Es gibt mehrere, verschiedene Möglichkeiten, exkursartige Erzählungen Herodots aus der Darstellungsform des Epos herzuleiten. Besonders eindrucksvoll sind die Geschichten, in denen handelnde Personen mit Beispielen aus ihrer Vergangenheit argumentieren und ihnen Verhaltensmaßregeln für die gegenwärtige Situation entnehmen. Die Wirkung solcher Exempla ist groß und eindeutig. Der homerische Nestor weiß das ebenso gut wie seine herodoteischen Nachahmer. Bekanntlich sind derartige Exempla seit Herodot zu einer beliebten Anwendung historischen Wissens geworden. Unser erstes Beispiel sei die Warnung des Korinthers Sosikles (Sokles) vor den Schrecken der Tyrannis 1 . Sosikles hält seine Rede in folgendem historischen Zusammenhang: Gegen Ende des 6. Jahrhunderts bereuen es die Spartaner, die Vertreibung der Peisistratiden, ihrer Gastfreunde, unterstützt zu haben. Sie sehen mit Besorgnis, daß Athen in seiner neuen Freiheit an Stärke gewinnt und ihrer eigenen Macht gleichzukommen droht (5,90 — 5,91,1). Deshalb erwägen sie den Plan, die Peisistratiden wieder als Herren Athens einzusetzen. Sie lassen den vertriebenen Hippias aus Sigeion kommen und eröffnen ihre Absicht den peloponnesischen Bundesgenossen auf einer nach Sparta einberufenen Tagung (5,91,2—3). Der Korinther widerspricht im Namen der Bündner. Seiner Verwunderung über das Vorhaben der Spartaner verleiht er in feierlicher Form Ausdruck (5,92 α 1). Sparta freilich, so fährt er fort, habe nie eine Zeit der Tyrannis im eigenen Lande erlebt, jedoch ein Stück der korinthischen Vergangenheit könne über das wahre Wesen jener Staatsform aufklären (α 2). Der Sprecher erzählt nun (5,92 β ff.) die Geschichte vom Aufstieg der Kypseliden, die so viel Unglück über Korinth gebracht haben. Amphion, ein Bakchiade, hatte eine hinkende Tochter Labda, die er, da niemand sie heiraten wollte, einem Manne aus dem Demos Petra namens Eetion vermählte. Eetions Ehe blieb lange Zeit kinderlos. Als er das 1

Zu den Kapiteln 5,92 und 6,86 (unseren nächsten Beispielen) vgl. Regenbogen W. d. F. 77 f. Regenbogen hat m. W. als erster die Bedeutung dieser Axempla und ihre Abhängigkeit von Homer erkannt. — Über die politische Funktion der Sosiklesrede und über den historischen Weitblick Herodots aufschlußreiche, wenn auch schwer beweisbare Beobachtungen bei Strasburger (1983) 442 f., verwegener Κ . A. Raaflaub, Arethusa 20, 1987, 223 ff.

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II. Hauptstück: Exkurse

delphische Orakel deswegen befragte, erhielt er die Auskunft, Labda werde einen Sohn gebären, der ebenso wie der Enkel über Korinth herrschen werde. Diese Eröffnung wurde bekannt und machte den Bakchiaden einen anderen Orakelspruch verständlich, der ihnen vorher erteilt worden war (5,92 β 3): αϊετός έν πέτρησι κύει, τέξει δέ λέοντα καρτερόν ώ μ η σ τ ή ν π ο λ λ ώ ν δ' ύ π ό γούνατα λύσει, τ α ύ τ ά νυν ευ φράζεσθε, Κορίνθιοι, οϊ περί καλήν Πειρήνην οικείτε και όφρυόεντα Κόρινθον. Man beschloß nun, Labdas Kind zu töten und sandte, sobald es zur Welt gekommen war, zu eben diesem Zwecke zehn zuverlässige Männer aus. Jedoch teils durch deren Versagen, teils durch die Entschlossenheit und Klugheit der Mutter wurde der kleine Kypselos („der in der Mehllade Verborgene") gerettet, wuchs zum Manne heran und erwarb die Herrschaft über Korinth. Dabei konnte er sich auf ein delphisches Orakel stützen, das ihn und seinen Sohn als „Könige Korinths" pries (5,92 ε 2)2. Die 30jährige Regierung des Kypselos wird in einem einzigen kurzen Satz so charakterisiert (5,92 ε 2): πολλούς μεν Κορινθίων έδιωξε, πολλούς δέ χρημάτων άπεστέρησε, π ο λ λ ω δέ τι πλείστους (πλείους oder πλεΰνας Bekker) της ψυχής. Sein Sohn Periandros ließ zunächst Milde walten, geriet dann aber, von Thrasybulos, dem Tyrannen Milets, belehrt, ganz ins Fahrwasser seines Vaters. Tyrannen sind eben Freunde und tauschen ihre Erfahrungen zum Vorteil ihres Standes aus3. Die Lehre, die Thrasybulos erteilt, wird dem Hörer der Sosiklesrede durch ein drastisches Beispiel vor Augen geführt (5,92 ζ 2 —3). Thrasybulos sucht mit dem Boten Perianders ein Getreidefeld vor der Stadt Milet auf. Dort kappt und entwurzelt er alle hochgewachsenen Ähren, bis das Feld ganz verdorben ist. Er gibt dem Boten keine Weisung mit auf den Weg, aber Periandros weiß den Bericht des Abgesandten richtig zu deuten und überschüttet die Bürger Korinths nun mit jeder Art von Unglück (5,92 η 1: ένθαΰτα δή π α σ α ν κακότητα έξέφαινε ές τους πολιήτας). Und nun fällt der Sprecher über den Sohn ein ähnliches Urteil wie über den Vater: όσα γ ά ρ Κύψελος άπέλιπε κτείνων τε και διώκων, Περίανδρος σφεα άπετέλεσε. 2

Der Erzähler bezeichnet das Orakel als άμφιδέξιον χ ρ η σ τ ή ρ ι ο ν . Da der Spruch nicht zweideutig ist, scheidet die übertragene Bedeutung des Adjektivs aus. Man wird (mit Stein) an ein doppeltes, in den Versen der Pythia angedeutetes Glück denken müssen, an das des Kypselos und das seines Sohnes. Άμφιδέξιος bezeichnet den, der links ebenso geschickt ist wie rechts (vgl. Aristot. Ε. N. 5,10 p. 1 1 3 4 b 4 0 ) . Siehe auch How and Wells II p. 53 f.

3

Vgl. 8,142,5 (die Spartaner in Athen): τ ύ ρ α ν ν ο ς γ ά ρ έών (seil. Alexandres von Makedonien) τ υ ρ ά ν ν ω σ υ γ κ α τ ε ρ γ ά ζ ε τ α ι .

3. Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse

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Aber damit nicht genug! Zum Abschluß seiner Mahnrede berichtet Sosikles ein Skandalon, das (jedenfalls für griechisches Empfinden) alle bisherigen Untaten des Tyrannen an Schamlosigkeit übertraf. Nach den soeben zitierten Worten fährt der Sprecher fort: „Ja, einen Tag gab es, da zog er allen korinthischen Frauen ihre Kleider aus wegen seiner Frau Melissa" (μιή δέ ήμερη άττέδυσε ττάσας τ ω ν Κορινθίων γυναίκας δια τ ή ν έωυτοΟ γ υ ν α ί κ α Μέλισσαν). Der Hörer merkt auf und fragt sich: ,Wieso das?' Sosikles erläutert: Melissas Geist, im Totenorakel nach dem Verbleib eines Pfandes gefragt, weigerte sich, Auskunft zu geben. Sie sei nackt und friere; denn man habe die ihr zugedachten Totenkleider nicht mit verbrannt. Periandros, setzte sie mit Bitterkeit hinzu, habe sie sogar nach dem Tode mißbraucht 4 . Wie aber reagiert Periandros, um das Versäumnis zu sühnen? Er läßt alle Frauen Korinths mitsamt ihren Dienerinnen zum Heraheiligtum kommen. Die stellen sich, da es sich doch wohl um ein religiöses Fest zu handeln scheint, in ihrem besten Staate ein. Aber entgegen ihren Erwartungen läßt der Tyrann sie von seinen Söldnern umstellen und zwingt sie, sich zu entkleiden. Die Kleider werden alle, unter Gebeten zu Melissas Geist, in einer Grube verbrannt. Die Tote ist nun versöhnt und gibt dem Tyrannen den Ort bekannt, an dem das Pfand zu finden ist (η 3 — 4). Die bloße Vorstellung von den betrogenen Frauen beim Herafest ist ungeheuerlich. Herodot hat den Vorgang auch ohne weitere Ausmalung so skizziert, daß sich die Zuhörer des Sosikles empören müssen: Junge Mädchen, wohlbeleibte Matronen, runzelige Greisinnen und zahllose Sklavinnen, sie alle müssen, dichtgedrängt vor dem Heraion, splitterfasennackt, von Söldnern umringt, mit ansehen, daß ihre kostbarsten Gewänder in Flammen aufgehen, damit die sexuellen Perversitäten des Tyrannen gesühnt werden können. Der Sprecher sagt nichts vom Mienenspiel der Soldaten und nichts von der Peinlichkeit der Heimkehr aus dem Heiligtum. Aber der mitempfindende Hörer ergänzt sich das alles leicht, vor allem kann er, von seinem Taktgefühl ausgehend, ermessen, welche Schande hier über ehrbare Bürgerinnen gebracht worden ist. Wie Herodot selbst diese Szene aufgefaßt hat, lehren die Worte, die er seinem Gyges in den Mund gelegt hat (1,8,3): άμα δέ κιθώνι έκδυομένω συνεκδύεται και τ ή ν αιδώ γ υ ν ή 5 . Periandros hat also die Frauen Korinths nicht nur bloßgestellt, sondern jedem Spott, ja jedem Zugriff preisgegeben.

4

5

Sosikles läßt sie sehr deutlich reden und Perianders verwerflichen Akt in einer derben Metapher nachvollziehen (η 2): μαρτύριον δέ oi eTvcti ώς άληθέα τ α ύ τ α λέγει, ότι Ιτπ ψνχρόν τ ό ν ίττνόν Περίανδρος τους άρτους επέβαλε. Und zu allem Überfluß folgt Perianders Bestätigung wenig später nach (η 3): π ι σ τ ό ν γ ά ρ οί ήν τ ό σύμβολου, δς υεκρώ έούση Μελίσση έμίγη. Zur Bedeutung des Satzes vgl. oben S. 4, Anm. 3.

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II. Hauptstück: Exkurse

Der Sprecher Sosikles kann nun ausrufen (η 4): „So sieht die Tyrannenherrschaft aus, Spartaner! Das sind ihre Werke!" (τοιτοϋτο μεν ΰμΐν εστι ή τυραννάς, ώ Λακεδαιμόνοι, και τοιούτων έργων). Und doch hatte alles so lieblich begonnen! Die mit Mordabsichten ins Haus Eetions ziehenden Bakchiaden konnten sich zu ihrer scheußlichen Tat nicht aufraffen. Als das Kind den ersten anlächelte, gab er es, von Mitleid erfaßt, dem zweiten weiter und dieser dann dem dritten, bis es die Runde gemacht hatte und wieder am Herzen der Mutter angelangt war. Als sich die Männer dann vor dem Hause gegenseitig Vorwürfe machten und der Unentschlossenheit beschuldigten, erkannte Labda, hinter der Türe lauschend, ihre wahre Absicht und verbarg das Kind in der Mehllade (κυψέλη). Man hat aber auch, wenn man Herodots Worten folgt, den Eindruck, daß die Abgesandten nicht allzu eifrig suchten, als sie das Haus zum zweiten Mal betraten, um sich ihres mörderischen Auftrags zu entledigen (δ 2: έσελθοΰσι δε και διζημένοισι αύτοΐσι ώς οΰκ έφαίνετο, έδόκεε άπαλλάσσεσθαι και λέγειν ττρός τους άποπέμψαντας ώς πάντα ποιήσειαν τά εκείνοι ένετείλαντο). Das darf uns freilich nicht in Erstaunen setzen; denn Herodot hat ja seinen Bericht so eindeutig aus den drei zitierten Orakeln (ß 2. 3 und ε 2) hervorwachsen lassen, daß die Erfolglosigkeit der Suche geradezu unvermeidlich ist. Wichtiger als die Hervorhebung so geringfügiger Inkonsequenzen ist die Beachtung der Orakel selbst. Wie wir gehört haben, wird das zeitlich frühere (das in Herodots Darstellung zweite: β 3) durch das spätere (zuerst mitgeteilte: β 2) verständlich gemacht. Beide künden nun die schwere Zeit der Kypselidenherrschaft als unumgänglich an. Das dritte Orakel aber (ε 2) schränkt diese Herrschaft auf zwei Generationen ein, ohne sich über die Art ihrer Regierung (Königtum oder Tyrannis) unmißverständlich zu äußern. Für den paradigmatischen Charakter unserer Rede besagen diese Prophezeiungen der Gottheit folgendes: Die Tyrannis der Kypseliden war vom Schicksal vorgeschrieben. Alle Versuche, sie zu vermeiden, mußten scheitern. Deshalb kann man ihre Entstehung den Bürgern Korinths nicht zum Vorwurf machen, man kann lediglich ihre Scheußlichkeiten als Charakteristikum dieser Form politischer Unfreiheit beschreiben. Um wieviel törichter aber würde es sein, aus freien Stücken, ohne eine entsprechende Willensäußerung der Gottheit, eine Tyrannis zu errichten, wie die Spartaner das in Athen vorhaben! So wird durch diese Voraussetzung die abschließende Beschwörung des Sprechers noch verstärkt (5,92 η 5): „... wir beschwören euch, indem wir die hellenischen Götter zu Zeugen anrufen, nicht Tyrannenherrschaften einzurichten in den Städten" 6 .

6

... έτπμαρτυρόμεθά τε Ιττικαλεόμευοι ϋμΐν θεούς TOUS Έλληνίους μή κατιστάναι τυραννίδας es τάς ττόλις.

3. Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse

137

Es ist die einzige Aufgabe der Sosiklesrede, die Zustimmung des Hörers zur Berechtigung dieser beschwörenden Bitte zu verlangen. Die Auswahl der berichteten Tatsachen und die Anordnung der Einzelheiten sind im Hinblick darauf gewählt. Unter diesem Gesichtspunkt erreicht die Rede eine erstaunliche Geschlossenheit. Sie übertrifft hierin auch die Mahnreden (Paränesen) Nestors. Herodot läßt sich nicht etwa aus Lust am Fabulieren gehen. Er hat sich genau überlegt, welche Einzelzüge dem gewählten Hauptthema gerecht werden. Das gilt auch für die Kindheitsgeschichte des Kypselos. Sie soll nicht nur den Namen des späteren Herrschers deuten und die Unvermeidlichkeit seines Aufstiegs zur Leitung des Staates vorbereiten: Die Zartheit der Novelle steht in gewolltem Kontrast zur späteren Entwicklung der Tyrannis, besonders zum abschließenden Skandal, der verächtlichen Preisgabe weiblicher Würde durch Periandros. Aus diesen Gründen befriedigt die Beurteilung der Komposition durch How and Wells (II p. 51) nicht, ebensowenig die Interpretation Harts, der sich darüber wundert, daß zunächst Sympathien für die Kypseliden geweckt werden 7 , während der A u t o r die Namen der Opfer und die Einzelheiten der Gewaltherrschaft verschweigt. Aber es geht Herodot eben nicht darum, sondern nur um das eine Ziel, das Wesen der Tyrannis festzustellen. Deshalb ist auch die zuletzt berichtete Machtäußerung, die Entkleidung der Frauen Korinths, keine „Antiklimax", wie Hart (52) bedauernd sagt, sondern eine zweckgebundene Erzählung, durch die Entsetzen geweckt werden soll. Noch weniger Recht haben wir auf den Anspruch, im Rahmen der Sosiklesrede von den politischen und kulturellen Erfolgen Perianders zu hören. Harts Schlußurteil über die Sosiklesrede zeigt, daß er Herodots Auswahlprinzip verkannt hat (52): „The fact that he does not make Sosicles' speech into a burning indictment of tyranny, but rather a vehicle for the transmission of some excellent tales that he has not previously had an opportunity of including (!), suggests no doctrinaire attitude of mind on the author's part." Ähnlich wie Hart auch Waters (1971) 14 f. Auch er spricht v o n einer Antiklimax und meint, Herodot biete hier Logoi, die er an anderer Stelle nicht unterbringen konnte. Das sind bedauerliche Vorstellungen, keineswegs aber angemessene Urteile über ein so sorgfältig komponiertes Meisterwerk.

Unser zweites Beispiel sei das Verhalten des Spartaners Glaukos, der zu Fall kam, weil er ernsthaft erwog, die Rückgabe eines Pfandes zu verweigern. Seine Geschichte wird als abschreckendes Beispiel vom spartanischen König Leotychidas bei folgender Gelegenheit vorgetragen (6,86): Nach dem Tode des Königs Kleomenes beschweren sich die Aigineten in Sparta über den zweiten König Leotychidas, der zusammen mit seinem Kollegen Kleomenes äginetische Geiseln den Athenern als Pfand anvertraut hat. Sie erreichen, daß Leotychidas persönlich die Freigabe der Gefangenen in Athen durchsetzen soll. Als die Athener das Verlangen des Spartaners ablehnen und sich darauf berufen, daß ein von beiden Königen hinterlegtes Pfand nicht von nur einem beansprucht werden könne, erzählt 7

Hart 51: „... for over two pages the story continues, almost everything in it contriving to win our sympathy for Cypselos".

138

II. Hauptstück: Exkurse

ihnen Leotychidas eine exemplarische Geschichte aus der spartanischen Vergangenheit (6,86 α - 5). Vor einigen Generationen übernahm der Spartaner Glaukos das Pfand eines milesischen Gastfreundes. Als später dessen Erben um Rückgabe des Geldes baten, stritt er den Empfang ab und fragte in Delphi an, ob er die hinterlegte Summe mit Hilfe eines Meineids an sich bringen dürfe. Die Pythia wies mit Nachdruck auf die Verwerflichkeit eines solchen Vorhabens hin und fügte nach Glaukos' Entschuldigung erläuternd hinzu, Vorsatz und Ausführung seien vor Gott gleich (6,86 y 2): τό πειρηθήναι τοϋ θεοϋ και τ ό ποιήσαι ίσον δυνασθαι. Glaukos gab nun das Pfand an die Erben zurück, aber die Gottheit sorgte dafür, daß sein Haus völlig ausstarb. Leotychidas hat mit seiner Warnung kein Glück: Die Athener bleiben bei ihrer Weigerung, und ihr Krieg mit den Aigineten geht weiter. Man sieht leicht, daß auch hier die in der Erzählung erwähnten Ereignisse mit der geschichtlichen Wirklichkeit nicht völlig übereinstimmen: Die Athener streiten ja den Empfang des Pfandes nicht ab, und sie haben nicht vor, einen Meineid zu schwören, sondern sie berufen sich darauf, daß die formalen Bedingungen der Rückgabe nicht erfüllt seien. Man hat auch darauf hingewiesen, daß Leotychidas kraft seiner Charakterschwächen nicht der geeignete Interpret einer so hochmoralischen Erzählung sei8. In Wahrheit kommt es eben nur auf die Weigerung an, das hinterlegte Gut zurückzugeben. Da es sich um fremdes Eigentum handelt, ist sie in jedem Falle unberechtigt, im privaten wie im öffentlichen Leben. Glaukos ist bereit, das Geld durch Meineid in seinen Besitz gelangen zu lassen, und die Athener berufen sich aus politischen Gründen auf Formalitäten. Nicht umsonst betont der Sprecher, daß (im Einklang mit den Grundsätzen attischer Rechtsprechung) schon der Versuch strafbar sei. Die Athener aber sollten, ganz im Sinne der herodoteischen Weltanschauung, nach Anhören von Glaukos' Schicksal befürchten, daß die Gottheit die Sühne herbeiführt. Auch hier, so dürfen wir zusammenfassend feststellen, funktioniert das Beispiel als Argument. Leotychidas spricht wie Nestor, hat freilich nicht dessen Erfolg, weil die überlieferten Tatsachen das nicht zulassen. Das homerische Modell hat nun einen neuen Sinn erhalten: Der Interpret des der Vergangenheit entnommenen Beispiels weist dem, an den er sich wendet, den Weg; da ihm aber der Angeredete nicht folgt, stellt er ihn durch seine Erzählung wenigstens bloß. Wichtiger sind im jetzigen Zusammenhang die Erwähnungen besonderer Leistungen, kluger Worte, auch bemerkenswerter Verhältnisse, mit 8

H o w and Wells II p, 98. Die Erklärung der beiden Kommentatoren befriedigt freilich nicht: „Neither this (d. h. die Fragwürdigkeit des Charakters des Erzählers) nor the inexactitude of the parallel between Glaucus and the Athenians induces Herodotus to sacrifice so good a story."

3. Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse

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denen Herodot Personen e i n f ü h r t , die in der folgenden Darstellung eine Rolle spielen werden. Auch diese Art, neue Gestalten vorzustellen, ist homerisch. Homer selbst hat sie zu großer Vollkommenheit, ja zu bemerkenswerter Feinheit ausgebildet. Man denke an die Einführung Nestors (A 247 ff.), an die Beschreibung führender Persönlichkeiten in der Teichoskopie (Γ 166 ff.) oder an die zahlreichen sogenannten Kleinen Kämpfer. Meist treten sie nur auf, um zu sterben, und doch erhalten sie in der Regel einen Nachruf, aus dem der Hörer Wesentliches über ein so unglückliches Schicksal erfahrt. Der Geschichtsschreiber hatte mithin eine Vielfalt vorbildlicher Möglichkeiten zur Verfügung, wenn er neue Personen in epischer Manier auftreten lassen wollte und das hierfür erforderliche Material bereit hielt. Wir überblicken die wichtigsten Belege: 1. 4,143. Nach Rückkehr aus dem Lande der Skythen ernennt Dareios den Megabazos zum Befehlshaber der in Europa verbleibenden persischen Truppen. Herodot erweitert diese Feststellung sofort durch die Erinnerung an ein Ereignis, das erkennen läßt, wie hoch der König diesen Mann einschätzt (§ 1: τ ω Δαρείος κοτε εδωκε γέρας, τοιόνδε επτας εν Πέρσησι εττος). Als der Großkönig einen Granatapfel verzehrte, wurde er von Artabanos gefragt, was er sich so oft wünsche, wie der Apfel Kerne enthält. Dareios entwortete, er wünsche sich so viele Feldherren von der Qualität des Megabazos und das lieber als die Unterwerfung Griechenlands9. Das ist ein vortreffliches Omen für die rechte Wahl des rechten Mannes, und die spätere Schilderung der Unterwerfung Thrakiens bestätigt die Fähigkeit des neu ernannten Strategen. Auch hier könnte man fragen, wer dem Geschichtsschreiber diese Begebenheit erzählt haben sollte. Sie müßte sich immerhin ein halbes Jahrhundert vor Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit abgespielt haben, und sie erfüllt ihren Zweck im jetzigen Zusammenhang ganz vortrefflich. Der Verdacht liegt nahe, daß Herodot sie aus der erfolgreichen Tätigkeit des Megabazos erschlossen, d. h. erfunden hat, zumal sich diese Tätigkeit von den militärischen Mißerfolgen des Dareios in Skythien so vorteilhaft abhob. Ich neige dieser Annahme zu, kann sie aber nicht beweisen (doch vgl. Β 371—374!). Anders in der Fortsetzung (4,144), in der sich der Autor auf ein wahres Ereignis zu stützen scheint. Er teilt jetzt ein besonders kluges Wort des Megabazos mit, der dadurch als urteilsfähiger Beobachter ausgewiesen wird. Am Bosporos erfahrt Megabazos, daß Chalkedon 16 Jahre vor Byzanz gegründet worden sei, und meint, jene megarischen Kolonisten müßten damals blind gewesen sein, da sie den häßlichen Platz dem schönen

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§ 2: Δαρείος δέ εΤττε Μεγαβάζουξ αν οί τοσούτους άριθμόν γενέσθαι βούλεσθαι μάλλον ή την Ελλάδα ύττήκοου.

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II. Hauptstück: Exkurse

vorgezogen hätten 10 . — Cobet (141 — 144) behandelt diese und die nachfolgenden Stellen und spricht in solchen Fällen von „novellenartiger Ausprägung einer Situation". Zu den beiden Megabazoskapiteln sagt er (143): „Doch wir spüren sicher zu Recht die unmittelbare Wirkung der Pointe, die neben ihrer Funktion für sich bestehen bleibt, gegen die die Frage zurücktritt, wie weit sie für Megabazos zeugt oder für Dareios." Diese Deutung ist ein Zeichen für die Suggestivkraft herodoteischer Darstellungskunst. Da Cobets Interpretation jedoch ohne Berücksichtigung des homerischen Vorbilds zustandegekommen ist, kann sie kaum befriedigen. Hält sich Herodot doch recht genau an das Grundmuster, das Homer bei Erwähnung seiner Kleinen Kämpfer befolgt 11 . In unserem Falle werden Herkunft und Tüchtigkeit (άρετή) der neuen Person genannt (4,143), die Tüchtigkeit (genauer: Urteilsfähigkeit) wird sogar durch ein Beispiel verdeutlicht und in Form eines historischen Beleges dokumentiert. Die Pointen, deren Wirkung der moderne Interpret verspürt hat, sind zugleich die typisch herodoteischen Weisen, einen bisher unbekannten Mann in einprägsamer Form vorzustellen. Der Herodotleser wird den Namen Megabazos zukünftig immer mit den beiden Anekdoten verbinden, mit deren Hilfe sein geschichtlicher Ort (d. h. seine Stellung als Oberbefehlshaber der persischen Truppen in Europa) festgestellt worden ist 12 . 2. In Kap. 5,25 erwähnt Herodot Otanes, Sisamnes Sohn, den Nachfolger des Megabazos, zum ersten Male. Auch sein Name wird, da er eine neue Figur auf der geschichtlichen Bühne ist, mit einem bemerkenswerten Ereignis verbunden. Otanes' Vater Sisamnes, königlicher Richter unter Kambyses, hatte sich durch Bestechung zu einem ungerechten Spruch verleiten lassen. Kambyses ließ ihn hinrichten, den Richterstuhl des Sohnes mit der Haut des Vaters bespannen und Otanes, dem neu ernannten Richter, sagen, er solle daran denken, auf welchem Stuhl sitzend er Recht spreche. Auch hier genügt zum Verständnis der Hinweis auf die Darstellungsweise des Epos: Aus der typischen Grundform der Vorstellung werden Namen und Schicksal des Vaters herausgehoben, womit der Name des Sohnes nun für alle Zukunft verbunden sein wird. Daher spielt es kaum eine Rolle, welche historische Bedeutung Otanes dem herodoteischen Bericht zufolge hat.

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4,144,2: ττυθόμενος δε εφη Καλχηδονίους τοϋτον τον χρόνον τυγχάνειυ έόνταξ τυφλούς' οϋ y a p άν τοϋ καλλίονος τταρεόντος κτίζειν χώρου τόν αίσχίονα έλέσθαι, εϊ μή ήσαν τυφλοί. Vgl. Gisela Strasburger, Die Kleinen Kämpfer der Ilias, Frankfurt/M. 1954, 15 ff. Es ist übrigens nicht ratsam, unsere beiden Kapitel aus der homerischen Katalogform herzuleiten. Man kann nur darlegen, mit welchen Mitteln der Geschichtsschreiber die epische Art, neue Personen in den poetischen Zusammenhang aufzunehmen, abgewandelt hat.

3. Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse

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Gerade das hält Cobet (141) für auffallig: „Aber die tatsächliche historische Bedeutung des Otanes, soweit wir sie durch Herodot kennenlernen, tritt ganz zurück gegenüber dem Interesse, das er durch die merkwürdige Verbindung zum Schicksal seines Vaters erweckt. Der knappe Bericht über seine Eroberungen ist fast kürzer als seine Einführung." Das ist jedoch ganz in Ordnung; denn nach homerischem Muster gehört die Anekdote zur Eigenart dieses Mannes. Sie tritt mit seinem Namen in den Gesichtskreis des Lesers, hat aber nicht notwendig mit der Frage zu tun, ob Otanes als Feldherr viel oder wenig erobern wird. Cobet sagt zwar richtig (142), die denkwürdige Geschichte sei „gewissermaßen die Pointe, die Otanes der Welt zu bieten hat". Das kann indes nicht besagen, daß diese Geschichte nicht zugleich seine Einführung in den Kreis der Handelnden sei, ähnlich etwa, wie Simoeisios erst durch die Angabe der Herkunft seines Namens näher bestimmt wird (Δ 474—477).

Daß unsere Erklärung der herodoteischen Weise, eine neue Person vorzustellen, richtig ist, zeigt folgendes Beispiel (1,162,1): Nach dem Tode des Mazares beauftragt Kyros den Harpagos mit der Unterwerfung Ioniens. Natürlich weiß der Leser, wer Harpagos ist. Trotzdem stellt Herodot ihn, der jetzt im Dienste des Kyros auf persischer Seite wirken wird, erneut vor. Er tut das dadurch, daß er seinen eigenen novellenhaften Bericht über die Vergangenheit des Meders zitiert: „Nach seinem (d. h. des Mazares) Tod kam Harpagos, den Befehl zu übernehmen, auch er ein Meder von Geburt, jener, den der Mederkönig Astyages bewirtet hatte mit dem gräßlichen Mahl und der mitgewirkt hatte, daß Kyros König wurde" (τόν ό Μήδων βασιλεύς Αστυάγης άνόμω τραπέζι] εδαισε, ό τω Κύρω τήν βασιληΐην σνγκατεργασάμενος)13. 3. In diesem Zusammenhang sollen auch die Berichte über Pheretimes Exil nicht fehlen. Pheretime weilt als Flüchtling beim König Eualthon von Salamis auf Kypros und bittet ihn vergeblich um ein Heer. Mit dem möchte sie nach Kyrene zurückkehren und ihren Sohn Arkesilaos (der nach Samos geflohen ist) wieder als König einsetzen (4,162,3). Sie lehnt alle freundlichen Gaben Eualthons ab und versichert immer wieder, besser als alles sei ein Heer. Da schickt ihr Eualthon schließlich eine goldene Spindel sowie Rocken und Wolle. Als Pheretime auch jetzt die gleiche ablehnende Bemerkung macht, läßt der König sagen, etwas Derartiges schenke man Frauen, nicht aber ein Heer 14 . Der kyprische Lokalkönig ist im Rahmen der herodoteischen Darstellung unbedeutend genug. Aber er gewinnt Profil durch seine schlagfertige Antwort und damit das Anrecht, mitsamt seinem klugen Diktum unter die historisch beachtenswerten Persönlichkeiten aufgenommen zu werden. Von besonderem Interesse ist die andere Stelle (4,166,2), an der ebenfalls vom Exil der Pheretime die Rede ist. Pheretime, so erzählt Herodot hier, erhält vom Satrapen Ägyptens, dem Perser Aryandes, endlich das gewünschte Heer. Wer Aryandes ist, erfahren wir, noch ehe er die Bitte 13 14

Man vergleiche auch 1,202,3 über den Fluß Gyndes. 4,162,5: Εύέλθων εφη τοιούτοισι γυναίκας δωρέεσθαι, άλλ' ού στρατιϊ).

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II. Hauptstück: Exkurse

Pheretimes gewährt (§ 1): „Dieser Aryandes war Unterkönig (ύπαρχος = Satrap) in Ägypten, von Kambyses eingesetzt. Später aber kam er um, da er es Dareios gleichtun wollte. Er hörte und sah nämlich ..." Dann wird erzählt, daß er eigenes Silbergeld (τό Άρυανδινόυ άργύριον) geschlagen, mithin in die Münzhoheit des Reiches eingegriffen habe. Deshalb habe ihn Dareios hinrichten lassen. Herodot bezieht sich mit diesen Nachrichten nicht auf ein vergangenes Ereignis, auch nicht auf eine anekdotenhafte oder gar schlecht verbürgte Begebenheit, sondern auf ein hartes Faktum, das, vom Standpunkt der Erzählung aus gesehen, erst der Zukunft angehört. Das zeigt doch wohl deutlich, daß bei solchen Vorstellungen neu auftretender Personen nicht eine Pointe im Vordergrund zu stehen braucht. Den Ausschlag gibt das Bestreben des Autors, Belege für die Besonderheit des neuen Mitspielers beizubringen. Mit der Vorstellung des Aryandes läßt sich die erste Erwähnung des Persers Megabates vergleichen (5,32). Herodot berichtet, daß dieser Mann zum Feldherrn der Streitmacht ernannt wird, die Naxos erobern soll. Um ihn, den noch Unbekannten, zu definieren, fügt er hinzu, daß sich später der Spartaner Pausanias um seine Tochter beworben habe. Herodot sagt: „Zum Feldherrn ernannte er (seil., der Satrap Artaphrenes) den Megabates, einen Perser aus dem Geschlecht der Achaimeniden. Er war sein und des Dareios Vetter. Der Spartanerkönig Pausanias, der Sohn des Kleombrotos, hat sich später, wenn an der Geschichte überhaupt etwas Wahres ist, um eine seiner Töchter beworben, als ihn das Verlangen überkam, Alleinherrscher über ganz Griechenland zu werden." Wie im vorigen Beispiel auch hier Orientierung an einem in der Zukunft liegenden Ereignis! Der Unterschied besteht nur darin, daß dieses Ereignis nicht fest verbürgt ist (vgl. Thuk. 1,128,7—129,1). Herodot dürfte angenommen haben, daß sein Leser, der diese Gerüchte kannte, nun wußte, um wen es sich bei Megabates handelt 15 . Nicht unähnlich ist auch die Art, in der Herodot seinen Leser mit Sophanes aus Dekeleia, dem besten athenischen Hopliten in der Schlacht von Plataiai, bekannt macht (9,73 — 75). Der Autor erzählt zunächst (9,74), daß der Athener mit einem eisernen Anker in die Schlacht gezogen sei, den er auswarf, um festen Stand zu haben. Herodot kennt freilich eine harmlosere Variante, wonach es sich um ein Schildzeichen handelte. Dann (9,75) holt er, auf den Krieg Athens mit Aigina zurückgreifend, den Sieg des Atheners nach, den dieser im Zweikampf mit Eurybates errungen hat,

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Herodots kritische Zweifel an der Zuverlässigkeit der Nachricht über die Bewerbung des Pausanias sind nicht unberechtigt. Auch der von Thukydides mitgeteilte Brief, in dem sich der Spartaner um eine der Töchter des Großkönigs bewirbt, scheint gefälscht zu sein, vgl. de St. Croix 137.

3. Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse

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und spricht zuletzt von seinem ehrenvollen Tode bei Kämpfen in Thrakien in der Zeit nach den Perser kriegen. 4. Das Schicksal des Sandokes (7,194) kennen wir bereits (vgl. oben 5. 71 f.). Cobet (143 f.) vergleicht die Art seiner Einführung ansprechend mit der des oben (als Nr. 2) genannten Otanes. In 7,194 erzählt Herodot, daß 15 persische Schiffe von den Griechen gekapert wurden. Dann hören wir über Sandokes: „Befehlshaber war der Statthalter von Kyme in der Aiolis, Sandokes ... Ihn hatte in früherer Zeit König Dareios an den Pfahl binden lassen, obwohl er einer der Königsrichter war. Sandokes hatte nämlich Geld angenommen und ungerecht Recht gesprochen." Das ist ganz die epische Weise, die Aufmerksamkeit auf das den Mann kennzeichnende Ereignis zu lenken. Nochmals sei an Simoeisios erinnert (Δ 474—477). Dann erzählt Herodot weiter, was wir schon wissen, daß Dareios sich rechtzeitig besann und den Verurteilten begnadigte. Danach fährt der Autor in ganz homerischer Art fort (§ 3): βασιλέα μεν δή Δαρεΐον οϋτω

διαφυγών μή άπολέσθαι περιήν, τότε δέ ές τους "Ελληνας καταττλώσας

εμελλε οΰ τό δεύτερον διαφυγών εσεσθαι. Das ist seine Tragik, und ihre Darstellung folgt wieder homerischem Vorbild, dieses Mal dem Muster: ,Damals bist du davongekommen, jetzt soll dir das nicht gelingen', vgl. Υ 187 ff. oder 449 und 452, auch X 270. Uber den soeben ausgeschriebenen Schlußsatz der Erzählung, in dem die frühere Errettung mit dem jetzigen Tod konfrontiert wird, sagt Cobet, auch hier bestrebt, weitere Bezüge des Exkurses zu sonstigen Teilen des Geschichtswerkes aufzufinden (144): „Das heißt, das, was Herodot über Sandokes wußte, und seine Rolle im historischen Zusammenhang ergänzen sich zu einer sinnvollen Einheit. Zwar deutet uns Herodot diesen Sinn hier nicht genauer, doch läßt er erkennen, daß er den Zusammenhang nicht für zufällig hält." Das zu glauben, fallt schwer; denn Herodot macht keine Andeutungen darüber, daß gerade hier eine höhere Macht im Spiele sein könnte. Μ. E. liegt es näher, vor dem Hintergrund des homerischen Darstellungsschemas von einem leichten Bedauern zu sprechen, das der Darstellende in Ansehung des so erstaunlichen Bios empfunden haben mag. Das frühere ganz unerwartete Glück verließ den Sandokes gerade dort, wo die Möglichkeiten, mit dem Leben davonzukommen, viel größer und zahlreicher waren. 5. Unsere bisherige Deutung des Phänomens ,Einführung neuer Personen' wird bestätigt durch die ausführlichen Angaben über die bei Plataiai als Opferschauer wirkenden Priester Teisamenos aus Elis, dem Geschlecht der Iamiden angehörend, auf griechischer Seite (9,33 — 35) und Hegesistratos, ebenfalls aus Elis, den Telliaden entstammend, bei den Persern (9,37 — 38,1). Für beide Seher führt Herodot nicht nur ein beachtenswertes in der Vergangenheit liegendes Ereignis an, sondern er betrachtet auch ihr zukünftiges (d. h. sich nach d. J. 479 abspielendes) Wirken und Erleben. Der

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II. Hauptstück: Exkurse

Autor zeichnet beide Männer durch einen gerafften Überblick über ihren ganzen Lebenslauf aus. Teisamenos hat es durchgesetzt, mitsamt seinem Bruder das spartanische Bürgerrecht zu erlangen. Herodot macht darauf aufmerksam, daß er die Spartaner ebenso erpreßte wie einst Melampus die Argeier, als ihre Frauen vom Wahnsinn befallen waren. Teisamenos ist dann als Seher an fünf spartanischen Siegen beteiligt, die von Plataiai bis Tanagra (i. J. 457) reichen. Hegesistratos aber, von den Spartanern zum Tode verurteilt, entkam aus dem Gefängnis durch ungewöhnliche Kühnheit und wirkte seitdem auf Seiten der Feinde Spartas, so jetzt (i. J. 479) im Heere des Mardonios. Später freilich (vgl. 9,37,4) erhaschten ihn die Spartaner doch und richteten ihn hin 16 . Bei beiden Sehern handelt es sich um Ereignisse, teils vergangene, teils zukünftige, die Herodot aus gutem Grunde für historisch halten mußte. Die eigentliche Funktion dieser Berichte dürfte es sein, die Besonderheit der beiden Seher sichtbar zu machen, die hier zum ersten Male auftreten. Ihre unverwechselbaren Schicksale entsprechen der Bedeutung der Schlacht, deren Verlauf der Autor schildert. 6. Deiphonos, Sohn des Apolloniaten Euenios, Seher auf griechischer Seite vor der Schlacht bei Mykale (vgl. 9,92,2), kann überhaupt nur durch Hinweis auf das sonderbare, bedauerliche Schicksal seines Vaters näher bestimmt und gebührend hervorgehoben werden. Euenios, der ein Jahr lang die heiligen Kühe der Apolloniaten bewachen sollte, hat eine Nachtwache verschlafen: Wölfe vernichteten einen Teil der Herde. Daraufhin verurteilte und blendete man ihn. Aber die Götter zürnten nun den Bürgern von Apollonia und verlangten von ihnen, den Euenios zu versöhnen, zumal sie selbst die Wölfe geschickt hätten. Euenios wurde tatsächlich entschädigt, aber nur mittels eines Betruges. Als Entgelt erhielt er nun von den Göttern die Sehergabe (9,94,3): και μετά τ α ΰ τ α εμφυτον αΟτίκα μαντικήν είχε ώστε και ονομαστός γενέσθαι. Es sieht fast so aus, als ob die Götter das ganze Geschehen gelenkt hätten, um dem Apolloniaten Euenios die Sehergabe verleihen zu können. Dieses Mannes Sohn ist Deiphonos. Von ihm gibt es nichts aus der Vergangenheit zu berichten als die Herkunft von einem gottgeliebten, sachkundigen Vater. Wieder wäre es verfehlt, Beziehungen zwischen der Geschichte des Euenios und der Schilderung der Schlacht von Mykale aufspüren zu wollen; denn das Verfahren, den unbekannten Sohn durch Nennung des berühmten (oder berüchtigten) Vaters gewissermaßen zu preisen, ist uns aus Herodot nun schon wohlbekannt. Es ist, wie wir feststellen durften, gut homerisch. Aus den Mahnreden Nestors ersieht man am besten, daß der Vatersname für den Helden Ehre und Verpflich16

Vgl. auch Cobet 69, der in diesen Fällen wieder dazu neigt, mehr Sinnbezüge aufzuspüren, als der Text enthält.

3. Novellenartige und anekdotenhafte Exkurse

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tung ist (vgl. bes. A 783 ff.). Selbst der bessere Sohn wird nach dem Vater benannt. Wie sollte er auch sonst in die Heldenwelt eingeordnet werden? Freilich fehlt in diesem Fall die entsprechende Einschränkung des Dichters nicht ( 0 641: τ ο ϋ [seil, des Kopreus] γένετ' έκ πατρός π ο λ ύ χείρονος υιός άμείνωυ). Und Sthenelos glaubt, mit einiger Berechtigung gegen den Grundsatz protestieren zu dürfen, daß die Generation der Väter immer die bessere sei (Δ 405): ημείς τοι π α τ έ ρ ω ν μέγ' άμείνονες εύχόμεθ' είναι. Auch im soeben besprochenen Herodotbeispiel ist das homerische Modell unverkennbar: Der Geschichtsschreiber führt zu Beginn der Schlachtschilderung den Seher Deiphonos ein wie Homer seine Helden. Da der Vater Euenios nach unsagbarem Leid die Sehergabe unmittelbar von den Göttern erhalten hat, darf der Leser dessen gewiß sein, daß der bisher nicht erwähnte Sohn nun hinreichend legitimiert ist. Wir dürfen diese unsere Beobachtungen über Herodots Verfahren bei Vorstellung neuer Personen nunmehr verallgemeinern: Grundsätzlich müßte es möglich sein, für jeden herodoteischen Abschnitt, in dem vergangene Ereignisse nachgetragen werden, damit dadurch das bisher Geschilderte vollkommener und verständlicher wird, ein homerisches Vorbild zu finden. Wir begnügen uns hier mit zwei Beispielen: 1. In 6,52 — 60 belehrt Herodot den Leser, um die Feindschaft zwischen Kleomenes und Demaratos zu verdeutlichen, über die Herkunft der spartanischen Könige und über den alten Zwist zwischen Agiaden und Eurypontiden. Damit vergleiche man die ausführliche Partie ο 223 — 256: Beim Auftreten des Theoklymenos wird sein ganzer Stammbaum bis hinauf zu Melampus vorgeführt. Das hat seinen guten Sinn; denn Theoklymenos soll von vornherein als zuverlässiger Seher eingeführt werden, was ja durch die Abkunft aus einer berühmten Wahrsagerfamilie gewährleistet wird. In ähnlicher Weise ist Kleomenes durch den Jahrhunderte alten Zwist zum Haß gegenüber dem Angehörigen des anderen Königshauses geradezu prädestiniert. 2. In den Kapiteln 6,71—83 erfahrt man nachträglich von Kleomenes' Zug gegen Argos. Die religiöse Verfehlung, die er sich dabei zuschulden kommen ließ (Verbrennung des heiligen Haines) wird von den Argeiern als Ursache seiner späteren Geistesverwirrung und seines Selbstmords bezeichnet. Ähnlich kann auch das Epos eine Verfehlung als Ursache (oder wenigstens als Ausgangspunkt) des gegenwärtigen Unheils nachträglich berichten. Vgl. I 5 3 3 - 5 3 6 ; Λ 1 3 8 - 1 4 2 , auch Β 5 9 6 - 6 0 0 (über Thamyris) und Ω 6 0 7 - 6 0 8 (über Niobe). Homer braucht freilich nur Andeutungen zu machen; denn er bezieht sich auf bekannte sagengeschichtliche Ereignisse. Herodot aber berichtet in solchen Fällen über Vorkommnisse, die seinem Leser in der Regel nicht vertraut sind. Er ist mithin gezwungen, als Kommentar zur Haupterzählung einen ausführlichen Bericht einzurücken.

4. Bauwerke, Denkmäler und Weihgeschenke Eine ganz andere Art, Unterbrechungen des geschichtlichen Hauptzusammenhangs zu erklären und zu rechtfertigen, sind Herodots Hinweise auf besondere Sehenswürdigkeiten, meist Bauwerke oder Denkmäler einer Stadt oder eines Landes 1 . Das bekannteste Beispiel ist das Kapitel 3,60. Der Autor schließt seine Ermittlungen über Polykrates und über den spartanisch-samischen Krieg mit einem Ausblick auf den Eupalinos-Tunnel, auf die samische Hafenmole und auf den Heratempel ab. Der dieses Kapitel einleitende Satz lautet (3,60,1): εμήκυνα δέ περί Σαμίων μάλλον, ότι σφι τρία εστί μέγιστα α π ά ν τ ω ν Ε λ λ ή ν ω ν έξεργασμένα κτλ., „ich habe mich bei den Samiern etwas verweilt, weil sie drei Werke, die größten unter allen Hellenen, haben". Diesem ersten Satz des Kapitels entspricht der letzte (§ 4), mit dem der Autor die Aufzählung der Bauwerke beendet: τ ο ύ τ ω ν εΐνεκεν μαλλόν τι ττερΐ Σαμίων εμήκυνα. Auf den ersten Blick wirkt die hier ausgesprochene Vorstellung befremdend. Herodot behauptet, er sei in der Darlegung der geschichtlichen Ereignisse ausführlicher gewesen, weil Samos über drei große Bauwerke verfügt. Und doch haben diese eindrucksvollen Sehenswürdigkeiten im Zusammenhang des vorangehenden Berichtes keine Rolle gespielt! Um dieser Schwierigkeit des Verständnisses zu entgehen, hat man zeitweilig die Annahme vertreten, der Geschichtsschreiber wende hier den „Aorist des Briefstils" an: In der Form εμήκυνα komme der Standpunkt des (auf das fertige Werk blickenden) Lesers zum Ausdruck, so als ob der Schriftsteller sagen wolle: ,Ich habe für meinen Leser noch einen Anhang hinzugefügt.' Der zitierte Einleitungssatz würde sich dann nur auf das eine Kapitel 3,60 beziehen, das gewissermaßen eine archäologische Ergänzung der historischen Schilderung bilde 2 . Diese Deutung hat sich jedoch nicht bewährt, und sie ist heute aufgegeben. Herodot verwendet jenen Aorist des Briefstils überhaupt nicht, und der sonstige spezielle Gebrauch des Aorists, wie er vor allem bei Homer und bei den Tragikern nachweisbar ist 3 , paßt für unsere Stelle nicht. Hinzu kommt, daß der Geschichtsschreiber in der Parallelpartie 1 2

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Zur Klassifizierung solcher Mitteilungen vgl. Lateiner, 96. J. E. Powell, Notes on Herodotus, Cl. Quart. 29, 1935, 152 (über den ersten Satz): „... and refers therefore not to what precedes, but solely to the following chapter (60)". Vgl. Kühner-Gerth I 363 ff., Ziffer 9.

4. Bauwerke, Denkmäler und Weihgeschenke

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2.35.1 unbefangen das Futur des Verbs μηκύνειν anwendet, weil die Verlängerung der Ausführungen erst folgt 4 : έρχομαι δε περί Α ι γ ύ π τ ο υ μηκυνέων τόν λόγον, ότι πλέω θωμάσια εχει ή ή άλλη πάσα χώρη, και εργα λόγου μέζω παρέχεται προς πάσαν χώρην 5 . Auch hier dieselbe Begründung: Über den jeweiligen Gegenstand (über historische Vorgänge oder über die Eigenheiten eines Landes) darf man ausführlicher sprechen, wenn bewundernswerte Dinge (Bauwerke, Denkmäler u. dgl.) vorhanden sind. Das bedeutet: Herodot beschreibt solche Bauten und seltsamen Gepflogenheiten nicht nur (wie ein Reiseführer) um ihrer selbst willen, sondern er erwähnt sie nicht zuletzt deshalb, weil sie Zeugen der Vergangenheit oder auch Kennzeichen eines fremden Lebensstils sind. An jedem bemerkenswerten Ding oder aufsehenerregenden Vorgang (etwa einer Sitte) hängt die Geschichte seiner Entstehung und das Wesen seines Schöpfers. Herodot erwähnt solche Phänomene mit besonderer Vorliebe, weil er mit ihnen seine geschichtlichen Mitteilungen bestätigen oder ihre Bedeutung rechtfertigen kann. Sicher ist es unrichtig, die zitierten Sätze des Kapitels 3,60 als „Entschuldigung" für die vorangehende Darstellung der Politik des Polykrates und deren Folgen anzusehen, so als ob jene Darstellung eigentlich hätte unterbleiben müssen; denn es ergäbe sich dann nur eine schlechte Ausrede, vgl. D. M. Mitchell, J . Hell. Stud. 95, 1977, 77: „The account of Polycrates' medism and its consequences is particularly out of scale and Herodotus unconvincingly justifies its length (III 60) giving as his excuse the three famous .great works', the tunnel, the habour-mole and the Samian Heraion, all of which occupy him for but one chapter."

Der Autor befolgt jenes in den beiden Sätzen sichtbare Prinzip von Anfang an und hält es im ganzen Werke durch. Im ersten Buche werden die zahlreichen Weihgeschenke des Midas und des Gyges an den Gott von Delphi (1,14,1 — 3) 6 , die des Alyattes (1,25,2), vor allem aber die des Kroisos an die Gottheiten in Delphi, Theben und Didyma erwähnt (vgl. 1.50.2 — 52 und als Ergänzung 1,92) 7 , freilich nicht aus kunstgeschichtli-

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Powell (s. Anm. 2) hätte deshalb gerade diesen Satz nicht zur Unterstützung seiner Deutung des Aorists έμήκυνα anführen dürfen. Über Steins unberechtigte Athetese der Worte ή ή ά λ λ η πασα χ ώ ρ η vgl. Verf., Hermes 120, 1992, 41. Midas weihte den Stuhl, auf dem er Recht zu sprechen pflegte. Bemerkenswert hierzu (in Auseinandersetzung mit den historisch-positivistischen Deutungen Steins) Barth 101: „Unserer Ansicht nach symbolisierte dieser θρόνος den Griechen Macht und Reichtum dieses phrygischen Herrschers." Für Herodot jedenfalls dürfte das zutreffen. Vollständige Liste der Geschenke des Kroisos bei Parke 209 — 212. Parke hat den überzeugenden Nachweis geführt, daß sich die Weihungen auf die Zeit seit K r o i s o s ' Regierungsantritt verteilen. Die Statue der Backfrau (1,51,5: είδωλον χρύσεον τ ρ ί π η χ υ , τ ό Δελφοί i f j s άρτοκόττου τήξ Κροίσου εικόνα λέγουσι είναι) war vermutlich ein Bild der Artemis von Ephesos, der ersten griechischen Gottheit, an die Kroisos sich wandte (Parke 212).

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II. Hauptstück: Exkurse

chen Gründen. Solche auf reine Anschauung bezogenen Bemerkungen sind ganz beiläufig und dienen dem Betrachter in erster Linie zur Orientierung in dem jeweiligen heiligen Bezirk. Für Herodot sind jene Gaben Zeichen der Frömmigkeit und Großmut des Spenders, besonders des lydischen Königs Kroisos. Im Falle dieses Herrschers sieht man deutlich, daß sie fest mit den Situationen verbunden sind, durch die er zur Aufstellung (Weihung) veranlaßt worden ist. Dasselbe gilt wohl von allen derartigen Weihgaben, auch von den eisernen Bratspießen der Hetäre Rhodopis. Rhodopis sandte diese Eisenstücke nach Delphi, weil sie ein originelles Erinnerungsstück zurücklassen wollte (2,135,3: μνημήϊον έωυτής). Und Herodot setzt wenig später hinzu: οϊ και νυν ετι συννενέαται όπισθε μεν του βωμού, τον Χΐοι άνέθεσαν, άντίον δέ αΰτοΰ του νηοΰ. Auch diese genaue Bezeichnung des Standorts hat keinen Eigenwert. Sie soll lediglich die Möglichkeit bieten, die Richtigkeit der herodoteischen Angabe zu kontrollieren. Ähnlich steht es um die Weihgabe des Samiers Kolaios, die im Heratempel an seine erfolgreiche Fahrt nach Tartessos erinnert. Herodot beschreibt diesen ehernen Krater so genau (seil. 4,152,4), daß man annehmen darf, er habe ihn während seines Aufenthalts auf der Insel gesehen 8 . Gegen Ende des Kroisoslogos tritt die Hilfsfunktion der Berichte über Weihungen an die Götter noch deutlicher hervor. In Kap. 1,92,2 — 3 erfahren wir folgendes: Die Geschenke, die nach Didyma gebracht worden sind, stammen nicht aus Kroisos' eigenen Mitteln, sondern aus dem Vermögen eines politischen Feindes, der noch vor Kroisos' Regierungsantritt dessen Halbbruder Pantaleon auf den Thron bringen wollte. Kroisos hat sich später an dem ungenannten Gegner grausam gerächt (§ 4). Das alles wird uns gesagt, weil die Geschenke in Didyma dem eingezogenen Vermögen jenes Mannes entnommen sind und für den innenpolitischen Erfolg des Kroisos Zeugnis ablegen. Weihgeschenke aller Art sind also Beweisstücke. Sie sind der noch heute (d. h. zu Herodots Zeiten) sichtbare Rest vergangener Ereignisse, der zu deren Rekonstruktion auffordert. So die 8,27,5 erwähnten großen Standbilder (oi μεγάλοι ανδριάντες), die um den Dreifuß des Tempels in Delphi aufgestellt sind: Weihgaben der Phoker nach einem ungewöhnlichen Sieg über ihre Nachbarn, die Thessaler, wenige Jahre vor 480. Die Größe des Erfolgs wird durch die Größe der Weihgabe dokumentiert 9 . — In Delphi zeugen kostbare Weihgeschenke (der Beuteanteil des Gottes) für die Siege der Hellenen bei Salamis (vgl. 8,121,2—122) und Plataiai (vgl. 9,81,1). Aus der Beute des Sieges von 479 wurden auch dem Zeus von Olympia und dem Poseidon am Isthmos Geschenke zuteil (ebend.). 8 9

Vgl. Glover 105 f. Kunstgeschichtliche Bemerkungen zu den Weihgaben der Phoker bei Paus. 10,13,7.

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Die Athena Alea in Tegea aber erhielt die eherne Pferdekrippe des Mardonios (9,70,3). Auch diese einzigartige Stiftung ist ein historisches Dokument, das den Reichtum, ja Luxus des gefährlichen Landesfeindes erahnen läßt. Man denke auch an die eisernen Ketten, welche die Tegeaten nach Besiegung der Spartaner in demselben Tempel aufhingen (Herodot hat sie noch gesehen, vgl. 1,66,4). Ähnlich steht es um die Weihgaben der Athener nach ihrem Sieg über die Bewohner von Chalkis und über die Boioter: Die Ketten, mit denen die Feinde gefesselt waren, wurden auf der Akropolis aufgehängt und ein Teil des Lösegelds zur Anfertigung eines ehernen Viergespanns verwendet. Auch über diese Weihgeschenke berichtet der Autor aus eigener Anschauung (5,77,3 — 4) und läßt erkennen, daß sie für die Zuverlässigkeit seiner historischen Kenntnisse bürgen. Herodot weilte voller Staunen in Babylon. Er schildert uns die gewaltige Stadt so anschaulich, wie das einem intelligenten Besucher nur möglich war. Bei seinen Erkundungen über die Vergangenheit des Landes beschränkt er sich aber absichtlich auf die Herrscher, die jene gewaltigen Bauten geschaffen haben (vgl. 1,184), und das bedeutet: Wieder rufen jene Monumente nach der Beschreibung ihrer Entstehung. Auf der Suche nach solchen königlichen Bauherren konnte der Geschichtsschreiber dann freilich lediglich die Namen zweier Frauen ermitteln. Mehr war wohl nicht zu erfahren, und der Name Nitokris beruht möglicherweise auf einem MißVerständnis. Uns kommt es jetzt darauf an festzustellen, daß der Autor beide Königinnen aus einer (erschlossenen) Reihe mauerbauender Herrscher herauszugreifen vorgibt. Es ist für ihn selbstverständlich, daß alle Bauwerke, nicht nur die von Semiramis und Nitokris errichteten, ihren Urheber haben 10 . Man erkennt leicht, daß das Muster für diese Anschauungsweise der ägyptischen Landeskunde entnommen ist, wie der Autor sie von den Priestern des Nildeltas und von seinen sonstigen Gewährsmännern erfahren hat. Hier, in Ägypten, war fast jeder bedeutende König mit der Errichtung eines großen Bauwerks verbunden. Er war sein Schöpfer: Das Monument erinnert nun zu allen Zeiten an ihn und bezeugt seine ungewöhnliche Leistung. Am handgreiflichsten ist das natürlich bei den Erbauern der Pyramiden (Cheops, Chephren und Mykerinos: 2,125 — 134,1). Selbst die unglückliche Tochter des Cheops, die sich prostituieren mußte, um des Vaters Kasse zu füllen, hatte (wie später die bereits erwähnte Rhodopis) den Ehrgeiz, etwas Denkwürdiges zu hinterlassen (2,126,1: μνημήϊον καταλιττέσθαι), und sie baute von ihren Mehreinnahmen eine kleine Pyramide, „die in der Mitte steht von den dreien, vor der großen

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Zur Konstruktion des schwierigen Satzes 1,184 vgl. Verf., Ausgewählte Schriften zur Klass. Philologie, Berlin 1979, 1 6 2 - 1 6 9 .

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Pyramide" 11 . Leider steht sie dort nicht, stand auch mit Sicherheit niemals da, woraus folgt, daß Herodot vom Leser erwartete, er werde die Ironie des unglaubwürdigen Berichtes über die geschäftstüchtige Prinzessin durchschauen 12 . Außerdem haben sich folgende Könige durch schöne und auffallende Bauwerke ein langes Angedenken gesichert: Min, der älteste, erbaute den Nildamm, der die Gründung von Memphis ermöglichte (2,99); der Damm wurde noch zu Herodots Zeiten in Stand gehalten. — Sesostris (2,108,1) ließ die gewaltigen Steine, die im Hephaistosheiligtum zu Memphis verbaut sind, herbeischaffen und im ganzen Lande Wassergräben ziehen. — Pheron (2,111,4) stellte zwei riesige Obelisken im Heliosheiligtum auf. — Proteus (2,112,1) besitzt zur Zeit des Autors einen besonders schönen heiligen Bezirk (τέμενος) südlich vom Hephaistostempel in Memphis. Vermutlich war der König selbst Schöpfer dieses Heiligtums. — Rhampsinit errichtete die westlichen Propyläen des Hephaistostempels und stellte dort große Statuen auf (2,121,1). — Die östlichen Propyläen desselben Tempels wurden von Asychis gebaut (2,136,1). — Die Aithiopendynastie (nach Herodot ein einziger König mit Namen Sabakos) hat sich durch Erhöhung der Schutzwälle um die Sicherheit der Städte vor Überschwemmungen große Verdienste erworben (2,137,3), und während der 50jährigen Fremdherrschaft ließ der blinde Anysis im Delta eine Insel aus Asche aufschütten (2,140,1). Gewaltig sind schließlich die Bauleistungen der Saiten und ihrer unmittelbaren Vorgänger, der zwölf Teilkönige. Diese ließen das von Herodot besonders bewunderte Labyrinth und die zu ihm gehörenden Anlagen erbauen (2,148 — 150). Psammetichos errichtete die nach Süden liegende Vorhalle des Hephaistaions in Memphis und einen heiligen Hof für den Apis (2,153). Neko versuchte sich unter großen Anstrengungen am Bau eines Kanals, der vom Nil zum Roten Meer führen sollte (2,158). Amasis aber schuf unvergleichliche Propyläen für Athena (Neith) in Sais (2,175,1), außerdem stellte er einen Tempel auf, der aus einem einzigen Stein bestand (οίκημα μουνόλιθον: 2,175,3). In Memphis und in Sais zeigte man liegende Kolossalstatuen, die seinem Wunsche ihre Entstehung verdankten, in Memphis außerdem zwei überlebensgroße Figuren aus äthiopischem Granit (2,176). Erwähnungen ähnlicher Art sind im übrigen Werk seltener, aber sie fehlen nicht. Hier sei nur die Inschrift genannt, die Dareios am Tearos, 11

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2,126,2: έκ τ ο ύ τ ω ν δε τ ω ν λίθων εφασαν τ η ν πυραμίδα οίκοδομηθήναι τ ή ν έν μέσω τ ω ν τ ρ ι ώ ν έστηκυΐαν, εμπροσθεν της μεγάλη; ττυραμίδος. Herodot konnte nicht ahnen, daß man diesen Teil seiner Erzählung (die Wiedergabe eines On ditX) ernst nehmen und aus seinem Text schließen würde, er sei gar nicht „da gewesen" (Fehling 170, vgl. 169).

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dem thrakischen Fluß mit dem angeblich besten und schönsten Wasser, anbringen ließ, weil er, der beste und schönste Mann, auf dem Z u g gegen die Skythen zu ihm gekommen sei (4,91,2). Die Inschrift lautet nach Herodots Bericht: Τεάρου ττοταμοΟ κεφαλα'ι ΰδωρ άριστον τε και κάλλιστον παρέχονται πάντων π ο τ α μ ώ ν και επ' αύτάς άπίκετο έλαύυων επί Σκύθας στρατόν άνήρ άριστος τε και κάλλιστο; πάντων ανθρώπων Δαρείος ό Ύστάσπεος, Περσέων τε και π ά σ η ; τ η ; ηπείρου βασιλεύς. Weihung und Inschrift sind vermutlich fingiert (vgl. Fehling 102), aber ausgezeichnete Erfindungen des Geschichtsschreibers: Die zitierten Worte künden von der typisch persischen Freude an den Gaben der Natur, aber auch von der stolzen Selbstsicherheit des Großkönigs — und das auf einem Feldzug, der so kläglich enden sollte 13 !

Kennzeichnender noch ist die vorangehende Stelle (4,88,1 — 2), die eine fraglos echte Inschrift bietet: Der Samier Mandrokles, Erbauer der Bosporosbrücke, stellt den Ubergang des persischen Heeres nach Europa im Bilde dar, weiht das Gemälde der Hera von Samos und stattet es mit folgendem Epigramm aus: Βόσπορον ίχθυόεντα γεφυρώσας άνέθηκε Μανδροκλέης Ή ρ η μνημόσυνον σχεδίης, αύτώ μεν στέφανον περιθείς, Σαμίοισι δέ κΰδος, Δαρείου βασιλέος έκτελέσας κατά νουν. Die Verse illustrieren die Verpflichtung des Historikers, die Erinnerung an große Taten zu erhalten, vorzüglich, zumal es sich in diesem Falle um eine technische Leistung handelt, die sich abbilden ließ. So wie das Epigramm auf einem begrenztem Gebiete, möchte die herodoteische Darstellung im Großen wirken. Das Epigramm des Mandrokles steht, aus Herodot übernommen, auch in der Anthologia Palatina (6,341) — Der Tatsache, daß hier V. 4 im Cod. Palat. (P) fehlt, vermag ich keine Bedeutung zuzumessen. Vermutlich handelt es sich um ein mechanisches Versehen. Anders offenbar G. Dunst, Archaische Inschriften aus Samos, in: Abh. des Dt. Archäologischen Instituts, Athen. Abt. 87, 1972, 124. Dunst hält es für möglich, daß der Vers auf der Inschrift in den Perserkriegen von den Athenern getilgt wurde, und fragt: „ . . . konnte Herodot damals den Vers wirklich lesen? Ist der Vers nicht nachträglich in die Herodotüberlieferung gekommen, während der Codex Palatinus noch den ursprünglichen Text zeigt?" Man darf die Gegenfrage stellen: Woher ist der Vers dann wohl gekommen? — Ich verdanke den Hinweis auf die Abhandlung Dunsts Herrn P. Herrmann.

Wir erörtern am Schluß dieses Kapitels zwei schwierige, umstrittene Stellen, an denen Herodot ebenfalls Hinweise auf Monumente gibt. An 13

Auch für den Bau des Athoskanals soll nach Herodots Bericht eine ähnliche Absicht maßgebend gewesen sein. Wie Dareios am Tearos, wollte Xerxes hier ein denkwürdiges Bauwerk hinterlassen (7,24): ... μεγαλοφροσύνης εΐνεκεν αύτό Ξέρξης όρύσσειν έκέλευε, Ιθέλων τε δύναμιν άποδείκνυσθαι και μνημόσυνα λιπέσθαι. Das ungewöhnliche Werk soll Zeuge des ungewöhnlichen Unternehmens sein.

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der zweiten ist das Denkmal vermutlich fingiert, an der ersten könnte sich der Autor durchaus auf einen wirklichen Gegenstand beziehen. 1. 4,81: Zwischen Borysthenes und Hypanis, so erzählt der Geschichtsschreiber, an einem Orte namens Hexampaios, steht ein riesiges Gefäß aus Eisen. Wie dem Autor gesagt worden ist, sei es so zustandegekommen: Anläßlich einer Volkszählung mußte jeder Skythe dem König Ariantan eine Pfeilspitze abliefern. Ariantan aber habe ein Gedenkstück (§ 6: μνημόσυνου) hinterlassen wollen und aus den eisernen Spitzen den Riesenkrater gießen lassen. Hierzu bemerkt Fehling (134), diese ganze Geschichte sei fingiert, gibt allerdings keine näheren Gründe für eine solche Erfindung an. Um die Funktion der seltsamen Erzählung zu ermitteln, muß man auf den Einleitungssatz des Kapitels zurückblicken. Herodot sagt (§ 1), über die Bevölkerungszahl der Skythen habe er nichts Genaues erfahren können; denn es seien sehr viele und zugleich wenige, soweit es sich um echte Skythen handele (και y a p κάρτα πολλούς είναί σφεας και ολίγους ώς Σκύθας είναι). Dann folgt der Satz, der zu unserer Geschichte überleitet: τοσόνδε μέντοι άπέφαινόν μοι ές όψιν ... Fehling sagt hierzu: „Diese Einleitung muß den Leser verwundern, denn abgesehen von den Angaben, daß die Inder das größte, die Thrazier das zweitgrößte Volk seien (3,94,2; 5,3,1), ist es nicht Herodots Art, über Bevölkerungszahlen zu reden." Immerhin wäre eine Mengenangabe an dieser Stelle nicht abwegig, da der Autor über den Gegner spricht, gegen den sich der bevorstehende persische Angriff richten wird. Aber sehen wir davon ab! Fehlings Beobachtung ist richtig, indes hätte sie ihn doch zur Frage veranlassen müssen, weshalb sich Herodot ausgerechnet bei den Skythen Gedanken über ihre Anzahl gemacht hat. Der Interpret faßt jedoch gerade dieses Problem gar nicht ins Auge, sondern kommentiert den Überblick über die Geschichte von der Entstehung des großen Kraters kategorisch mit folgenden Worten: „Soll man annehmen, Herodot habe eigens bei den Skythen wegen ihrer Zahl nachgefragt, um sein Gewissen über diesen Einleitungssatz zu beruhigen?" Mit diesen Worten aber werden die Dinge auf den Kopf gestellt; denn wir brauchen nur anzunehmen, daß man dem Autor zunächst den großen Krater bei Hexampaios (offenbar eine Sehenswürdigkeit) zeigte und ihm sein Zustandekommen erläuterte: Sofort verstehen wir, weshalb er nach der Zahl der Skythen gefragt hat. Das Monument enttäuschte ja die Erwartungen des Betrachters: Wie sollte man feststellen, welche Anzahl von Pfeilspitzen eingeschmolzen worden sind, wenn nicht entsprechende zusätzliche Angaben gemacht wurden? Die skythischen Gastgeber konnten jedoch solche Auskünfte offenbar nicht geben. Herodot erfuhr lediglich, daß es viele Skythen gebe (was durch die Größe des Gefäßes bestätigt

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wurde), aber nur wenig echte. Der Einleitungssatz ist also die Folgerung aus dem Erlebnis in Hexampaios 14 . Der Einleitungssatz selbst gibt keine Veranlassung, die Wahrheit der Erzählung vom großen Krater und von dessen Existenz anzuzweifeln. Im Gegenteil: Es ist methodisch gesehen interessant, daß Herodot sich auf ein archäologisches Beweisstück (τεκμήριου) beruft, um seine Verlegenheit zu rechtfertigen, d. h. die als ungenügend empfundene Beschreibung und Deutung des Gefäßes zu entschuldigen. Man vergleiche B. Baldwin 15 : „... it is pleasant to find him cautious about conflicting estimates of the Scythian population, and trying here to utilize archaeology as an aid to knowledge." Die Funktion des Monuments im Zusammenhang des ganzen Berichtes scheint freilich auch hier nicht richtig bestimmt zu sein. Auch liegen dem Autor nicht mehrere, einander widersprechende Schätzungsergebnisse vor, sondern eben (leider!) gar keines. Sehr richtig hat dagegen C. Dewald den Sinn der herodoteischen Erzählung erfaßt (159): „... the bowl at Hexampaeus exists as a pointer to reality. The aspect of reality to which it points, however, cannot be reduced to meaningful logoi. Like the god at Delphi, the histor can point: he can describe the bowl, and he can give a rough estimate of size, but he cannot translate this knowledge into a concrete, communicable reality in words and numbers." Das hat freilich, wie wir angedeutet haben, sehr nüchterne sachliche Gründe. Übrigens ist die Größe des Gefäßes nicht ungewöhnlich: Es faßte 600 Amphoren (etwa 15,72 hl), ebenso viele wie der vom Erzgießer Theodoros von Samos hergestellte Silberkrater, den Kroisos nach Delphi stiftete (1,51,2 — 3). Ungewöhnlich am Gefäß von Hexampaios war nur die Dicke der Wände. Dieses Phänomen wird wohl die Entstehungsgeschichte ins Leben gerufen haben. Zu Herodots Besuch in Hexampaios vgl. im übrigen auch Gardiner-Garden 349.

2. 1,23 — 24: Herodot beschließt die bekannte Geschichte von der Seefahrt Arions, von seiner Bedrohung durch die räuberischen Schiffer, von seinem Ritt auf dem Rücken des Delphin bis zum Vorgebirge Tainaron und von der Bloßstellung der Räuber durch Periandros mit folgendem Satz (1,24,8): „Das aber erzählen die Korinther wie auch die Lesbier, und von Arion gibt es ein ehernes Weihbild, nicht eben groß, auf dem Tainaron, ein Mensch, der auf einem Delphin reitet" 16 . Fehling (19) hat wohl mit Recht betont, daß das Weihgeschenk erfunden (von Herodot fingiert) sein muß. Er schreibt: „Das ist zwar ein bekannter Bildtypus, aber dennoch muß es verwundern, daß ein solches Bild passend zu der gehörten Geschichte an der richtigen Stelle vorhanden war."

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Oder anders ausgedrückt: Herodot spricht von der Bevölkerungszahl des Skythenlandes, weil ihm bei der Besichtigung in Hexampaios gesagt worden ist, der Krater sei Ergebnis einer Volkszählung. Er wurde zu der im Eingangssatz ausgesprochenen Betrachtung allein durch das seltsame Monument angeregt, ähnlich wie er aus Weihgabe und Epigramm im Heraion zu Samos Mandrokles als den Erbauer der Bosporosbrücke erschlossen hat (4,88, vgl. oben S. 151). In dem wichtigen Beitrag ,How Credulous is Herodotus', in: Greece and Rome 11, 1964, 1 6 7 - 1 7 7 , dort 170. ... και 'Apiovos εστί άνάθημσ χάλκεον oü μέγα επί Ταινάρω, επί δελφΐυοζ έπεών άνθρωπος.

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Die Verwunderung des Interpreten wäre freilich nur dann berechtigt, wenn Herodot die Erzählung, wie Fehling (18) den Text verstehen möchte, auf Lesbos und Korinth, jeweils in der gleichen Gestalt, gehört hätte und wenn sie — auch das ganz zufallig — durch die Figur auf dem Tainaron bestätigt worden wäre. Aber Herodots Quellenangaben können viel subtiler sein, als Fehling sie an unserer Stelle deutet. Der Autor sagt (1,23,1): τ ω (seil, dem Periandros) δή λέγουσι Κορίνθιοι (όμολογέουσι δέ σφι Λεσβίοι) εν τ ω βίω θώμα μέγιστον παραστήναι, und gegen Ende (unmittelbar vor dem eben in Übersetzung zitierten Satz) heißt es (1,24,8): τ α ΰ τ α μεν νυν Κορίνθιοι τε και Λεσβίοι λέγουσι. Mit diesen beiden Hinweisen braucht nicht gesagt zu sein, daß Herodot sich dieselbe Geschichte in Korinth und auf Lesbos erzählen ließ. Welch seltsames Zusammentreffen wäre das, im Text ganz beiläufig wie etwas Selbstverständliches erwähnt! Obendrein wissen wir nicht, ob der Autor jemals auf Lesbos gewesen ist 17 . Nach bekanntem, auch von Herodot geübtem Verfahren kann in der Kollektivangabe ein Individuum stecken, so wie der Geschichtsschreiber mehrmals die Ίωνες nennt, wenn er den Hekataios meint. Alles spricht dafür, daß mit den Lesbiern Arion selbst bezeichnet wird (Herodot verfallt auf den Decknamen oi Λεσβίοι, weil Arion aus Lesbos stammte). Die Korinther aber reden auch mit, teils als Seeleute, teils in der Person Perianders. Diese Beobachtung erlaubt die (allerdings unbeweisbare) Vermutung, daß der Grundriß der Geschichte von Arion selbst stammt. Im zentralen Teil eines Chorlieds, d. h. des von Arion reformierten Dithyrambos 18 , könnte die wunderbare Errettung des Sängers zur Verherrlichung Apolls berichtet worden sein. Wahrscheinlich darf man aber eher an eine „Urtragödie" denken, der Art, wie sie Arion nach Patzers glaubhafter Rekonstruktion erstmals zustandegebracht hat 19 . In der Tat enthält ja Herodots Erzählung wenigstens zwei hochdramatische Szenen 20 : Arion vor den bösartigen Seeleuten, zum Preise Apolls den Nomos orthios vortragend, und Perianders Aufdeckung der Wahrheit im Beisein der heimgekehrten

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Wer alle Angaben wörtlich versteht, wie Strasburger (1983) 415, muß die angedeuteten UnWahrscheinlichkeiten in Kauf nehmen. Vgl. H.Patzer, Die Anfange der griechischen Tragödie, Wiesbaden 1962, 1 6 f . und besonders 112: „Arion schuf also, offenkundig nach dem Willen des Tyrannen Periandros, das neue Dionysoslied, indem er seine alte einfache Form der längst ausgebildeten Kunstform anglich, die die Chorlieder der älteren Staatsgötter längst erhalten hatten." Patzer a. O. (s. vor. Anm.) 121: „Danach dürfte sie (seil, die Tragödie) dadurch entstanden sein, daß der Heroenmythos als Kernteil des Dithyrambos in die mimetische Form umgesetzt wurde, und eben dies muß die schöpferische Leistung des Arion gewesen sein." Zur Zweiteilung der Novelle vgl. Long 56 ff. Longs Gesamtdeutung weist m. E. in die richtige Richtung (54): „The climactic moment at the end is not Arion's salvation but the sailor's embarrassment." Das aber ist ein Erfolg Perianders.

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Schiffer. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich die Auseinandersetzungen zwischen dem Chor der Seeleute und dem Vorsänger (Arion, Periandros) als Spiel vorzustellen. Herodot könnte zwar manches geändert und ausgeschmückt haben, wie er ja die Motive seiner Vorlagen gern seinen Zwecken angepaßt hat. Wesentlich ist, daß er die Grundzüge des poetischen Berichtes beibehielt. Wenn er aber die Herkunft der Geschichte verhüllen wollte (der gebildete Leser mag das Versteckspiel sofort durchschaut haben), dann hätte er sich kaum anders ausdrücken können, als er es getan hat. Was aber soll dann die Erwähnung der Figur am Tainaron? Könnte man Herodot beim Wort nehmen, dann müßte das Denkmal eine Ehrung des Arion sein: Es würde ein Ereignis darstellen, das der Kitharöde tatsächlich' erlebt hat. Pausanias (3,25,7) drückt sich ja so aus, als sei die Statue zu seiner Zeit noch immer vorhanden gewesen: ά λ λ α τε εστί έτη Ταινάρω και 'Αρίων κιθαρωδός χαλκούς έτη δελφίνος 21 . Aber es ist nicht sicher, ob Herodot ein wirkliches Standbild im Auge hat, und die Bemerkungen des Pausanias, des Dion und des Ailianos sind allem Anschein nach aus dem Text Herodots herausgesponnen — es sei denn, man nimmt an, die Darstellung Herodots habe zu einer späteren Weihung angeregt. Fehling ist, wie wir sahen, überzeugt, daß Herodot die Mitteilung über das Denkmal am Tainaron erfunden hat, und es wäre nicht leicht, ihn zu widerlegen. Träte aber diese imaginäre Figur als weitere Fiktion zu einer bereits vorhandenen, von Herodot frei erfundenen Geschichte über Arion hinzu — so ja Fehlings Deutung —, dann wäre sie kaum mehr als eine plumpe Schwindelei. Hat man jedoch die Möglichkeit, sie auf Arions eigene Darstellung zu beziehen, dann gibt sie nachträglich (nicht ohne Ironie) zu verstehen, daß das Ganze ein frommes Märchen ist. Wer reitet auch in Wirklichkeit auf einem Delphin über die hohe See, mag man gerade diesem Tier noch so viel Menschenfreundlichkeit und Anhänglichkeit zutrauen! Der Einfachheit halber haben wir die Deutung vorausgenommen, die uns wahrscheinlich zu sein scheint. Mit ihr läßt sich Fehlings simplifizierende Folgerung vermeiden: Fehling nimmt ja an, daß Herodot alles erfunden habe, weil sich nun ein gefalliger „Erzählzusammenhang" ergibt,

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Vgl. noch Dion Chrys. 37,2 — 4 (bloße Nacherzählung nach Herodot mit wörtlichen Anklängen; im letzten Satz wird hervorgehoben, daß Arion selbst, nicht Periandros die Statue geweiht habe) und Ael. n. h. 12,45, w o sogar ein zweizeiliges Epigramm zitiert wird, das auf der Statue gestanden haben soll (die beiden anderen Stellen, an denen Ailianos den Arion erwähnt [2,6 und 6,15], stammen eindeutig aus Herodot). — A n die Existenz der Statue scheint (mit anderen Interpreten) auch Long (58 ff.) zu glauben, meint jedoch, daß sie von den Korinthern irrtümlich zur Rettung des Arion in Beziehung gesetzt worden sei.

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II. Hauptstück: Exkurse

mag der Inhalt auch seltsam sein 22 . Wir wollen aber noch einen kleinen Schritt weitergehen. Wenn unsere Exegese der Kapitel 1,23 — 24 etwas Richtiges trifft, müßte Periandros als handelnde Person (als Mitspieler) in Arions Dichtung eingegangen sein. Der gebildete Herodotleser, der Arions Lieder kannte, konnte mithin aus der Verbindung des Dichters mit dem Tyrannen erfahren, in welchen Abschnitt der Vergangenheit er den Herrscher von Korinth einzuordnen hat. Der Geschichtsschreiber sagt ja über Periandros folgendes (1,23): „ D e m soll nun ... in seinem Leben etwas höchst Erstaunliches begegnet sein: Es ward beim Vorgebirge Tainaron auf dem Rücken eines Delphins an Land getragen Arion von Methymna ...