Ueber die Worte des Erlösers: Hast Du mich lieb? Joh. 21, 16.: Predigt am Sonntage Cantate 1823 in der Dreifaltigkeitskirche [Reprint 2021 ed.] 9783112430989, 9783112430972

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Ueber die Worte des Erlösers: Hast Du mich lieb? Joh. 21, 16.: Predigt am Sonntage Cantate 1823 in der Dreifaltigkeitskirche [Reprint 2021 ed.]
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Ueber die

Worte des Erlösers: Hast Du mich lieb? Joh. 21, 16.

Predigt am Sonntage Cantate 1823

in der Dreifaltigkeitskirche gehalten

von

Herrn Dr. F. Schleicrmacher.

Hcrausgcgeben von einigen Mitgliedern der Gemeinde. Der Er­ trag ist iu einem Beitrage für die neue Evangelische Gemeinde r» Mühlhausen im Großhcrrogthume Baden bestimmt.

Berlin, 1824. Bei Ferdinand Dümmler.

sJtt Druck dieser Predigt wurde gleich Anfangs von Manchen begehrt, welche wünschten dieselbe vollständig auch solchen mittheilen zu können, die sie nicht selbst gehört hatten. Die Herausgabe, wofür wir glauben aus den Dank vieler rechnen zu dürfen, hat indessen erst jetzt erfolgen können, nachdem wir dazu die Erlaubniß des Herrn Ver­ fassers, nebst einer sorgfältigen, von ihm selbst durchgesehenen Nachschrift erhalten haben. Mö­ gen diese Worte, wie bei den Hörern, so auch bei den Lesern ihr Theil dazu beitragen, daß die Herzen feste werden, und daß sie im Streite der Meinungen sich nicht von dem Einen, was notss ist, abkehren lassen. Den Ertrag dieser Predigt glaubten wir nicht angemessener verwenden zu können, als in­ dem wir ihn zu einem Beitrage für die Bedürf­ nisse der neuen Evangelischen Gemeinde bestimm­ ten, die sich zu Mühlhausen an der Wurm im Großherzogthum Baden gebildet hat, an welchem früher ganz Katholischen Orte, bekanntlich im April des verflossenen Jahres über 40 Familien, nebst

4 ihrem Grundherrn, dem Freyherr« von Gemmin­ gen mit seiner Familie, und ihrem bisherigen Pfar­ rer, Aloysius Henhöfer, durch dessen biblische Vor­ träge in ihnen der Geist der christlichen Freiheit geweckt war, zur Evangelischen Kirche übergetreten find; welchem Beispiele seitdem auch noch einige andere Familien gefolgt sind. *) Diese aber, ob­ wohl sie die Hälfte der ganzen Gemeinde ausma­ chen, haben auf allen Antheil an dem Eigenthum ihrer bisherigen Kirche Verzicht leisten müssen und willig Verzicht geleistet; daher ihnen, bei der Ent­ fernung des Ortes von andern Evangelischen Ge­ meinden, die Sorge nicht nur für die Errichtung einer neuen Kirche und einer Pfarr- und Schul­ wohnung, sondern auch für die Besoldung ihres Evangelischen Pfarrers und Schullehrers obliegt; wobei sie, da die kleine, großentheils aus unbe­ mittelten Landleuten bestehende Gemeinde nicht im Stande ist, es aus eignen Kräften zu bestrei­ ten, wohl mit Recht erwarten dürfen, von ihren Evangelischen Brüdern Beihülfe zu erhalten. — Sollte vielleicht ein oder der andere Leser sich ge­ drungen fühlen, dem festgesetzten Preise dieser Pre­ digt für denselben Zweck noch eine Gabe der Liebe hinzuzufügen, so ist der Herr Verleger sehr gerne erbötig, dieselbe in Empfang zu nehmen und zu be­ sorgen.

*) So eben kommt uns zur Hand: Geschichtlich-treue Rechtfertigung derRückkehr zur evangelischen Kirche, von A. Henhöfer, evangellschen Pfarrer zu Graben im Großherzogthum Baden. Herdelberg 1824. 8. LXX. S. welche Schrift (besonders abgedruckt aus der Vorrede zur zweiten Auflage des Henhvferschen Glaubensbekenntnisses) eine einfache, lebendige Dar­ stellung des ganzen Herganges der Begebenheit enthalt, und deren Lesung dringend Allen zu empfehlen ist, die sich auf zuverlässige Werse belehren wollen, aus welchem Geiste dieselbe hervorgegangen ist.

Predigt am

Sonntage Kantate

1823.

Text. Johannes 21, 16,

Spricht er zum andernmal zu ihm: Simon Johanna, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja -^err, du weißt daß ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: weide meine Gchaafe, Meine andächtigen Freunde!

Einen größer« Auftrag giebt es nicht als welchen der Herr in diesen Worten seinem Apostel gab. Er selbst nennt sich den Hirten seiner Heerde; Sein ei­ genes Geschäft also zu verrichten in Seinem Namen unter Seiner des Oberhirten Aufsicht und höchsten Leitung, das war es was Er in diesen Worten dem Apostel übertrug. Aber eben dieser Auftrag, meine andächtigen Freunde, ist nicht etwa ein ausschließen« der des Apostels Petrus, nicht ein ausschließender für die übrigen Apostel, nicht ein ausschließender

6 für diejenigen, die auch jetzt noch in dem besondern amtlichen Beruf als Lehrer und Vorsteher dem Herrn in Seiner Gemeine dienen; sondern es ist der gemeinsame Beruf aller Christen; Arbeiter in Sei­ nem Weinberge find wir alle. Wae kann aber in diesem, dessen Pstanzen keine andre find als die er­ lösten Seelen, dessen Früchte keine andre als die Früchte des Geistes, was kann in diesem Wein­ berge des Herrn irgend einer thun, das nicht auch zu befassen wäre unter diesem Ausdruck: weide meine Schaafe? Mitarbeit und Hülfe an dem Werke, welches der Herr zu Derrichten hat an den See­ len, die Gott Ihm gegeben, dies und nichts anderes können wir ihm leisten, wie auch Er von nichts anderem Geb rauch - machen kanm Wenn also doch unser, aller Leben ein lebendiges Dankopfer sein soll, welches wir ihm darbringen; wenn wir doch, daß Er wahrhaft unsre Seelen geheiligt hat, dadurch beweisen müssen, daß wir mit den Kräften, die wir ihm verdanken, irgend etwas thun: wohlan so müssen wir ja alle theilnehmen an demselben Werke, welches er in den Worten unseres Textes dem Apo­ stel überträgt. Er knüpft aber diesen Auftrag an die Antwort, welche ihm Petrus giebt auf die Frage: Simon Johanna, hast du mich lieb! Und so erscheint uns eben dies, Christum lieb haben, als das Einzige, was der Herr gleichsam bei einer Prü­ fung, die er mit diesem seinem Jünger anstellt, eben zu diesem Behuf von ihm fordert, damit er seine Schaafe weiden solle. Hierüber, meine geliebten Freunde, finden wir aber unter den Christen aller Zeiten sehr verschiedene Anfichten. Die Einen hal­ ten fich streng an das Wort des Herrn, und sagen, es gebe also auch gar keine andre Ausstattung des Geistes für diesen Beruf, nichte anderes habe der

Mensch nöthig sich vorher zu erwerben, um dem Herrn den Dienst zu leisten, zu welchem alle berufen

7 sind, als daß er immer mehr erstarke in der Liebe zu dem Erlöser, daß er immer freudiger, wie der Apostel antworten könne: Herr du weißt, daß ich dich lieb habe. Andre im Gegentheil behaupten, was übrigens in dem Apostel war, welche Kräfte des Geistes in ihm erweckt, welches Licht der Er­ kenntniß in ihm angezündet, das habe za der Herr gewußt; weil aber Petrus gefallen war und ihn verleugnet hatte, so habe er grade über dies Eine können im Zweifel stehn, oder vielmehr, wenn auch Er, der da wußte was in jedes Herzen war, nicht zweifeln durfte, so hatten doch die übrigen Jünger zweifeln können, -b in diesem auch die Liebe zu dem Herrn noch eben so lebendig sei, als sie vorher ge­ wesen war. Darum», also,sagen sie, habe der Herr diese Frage an ihn gerichtet, nicht als ob sonst nichts erforderlich wäre feine Schaafe zu weiden,

sondern weil von allem andern zwar auch alle an­ dren Jünger wußten, wie und in welchem Maaße es sich in der Seele dieses Jüngers befände, über dieses unentbehrlichste aber er sich erst habe auswei­ sen müssen. In Beziehung auf diese verschiedenen Ansichten nun, ob die Liebe zu Christo hinrei­ che, oder ob noch etwas anderes dazu gehöre, den Beruf des Christen zu erfüllen, in dieserBeziehung laßt uns die Worte unsers Textes näher betrach­ ten, und zwar so, daß wir zuerst, was das Noth­ wendigste ist, die Worte des Erlösers in dieser Be­ ziehung recht zu verstehen suchen; dann auch zwei­ tens, daß wir weiter zurückgchen und mit einander untersuchen, woher denn wol jene verschiedenen Ansichten unter den Christen kommen, um uns auch dadurch in dem, was der Wille und die Meinung des Herrn gewesen ist, noch mehr zu befestigen.



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1 Zuerst also, meine geliebten Freunde, wenn wir wissen wollen, auf welche von beiden Seiten sich wol der Erlöser eigentlich hingeneigt habe in den Worten, die wir hier mit einander zu betrachten haben, so werden wir wol den Anfang damit ma­ chen müssen zu fragen, was doch dazu gehöret, der Natur der Sache nach, den Auftrag, den der Herr hier seinem Jünger giebt, auszurichten: Weide meine Schaafe. Dazu, nun gehört unstreitig, um bei dem bildlichen Ausdruck stehen zu bleiben, dessen sich der Erlöser selbst bedient, vorzüglich zweierlei, einmal die Schaafe der Heerde müssen gehütet werden, dann aber müssen sie auch genährt werden. Auf beides erstreckt sich die Sorgfalt des Hirten; beides also fordert der Herr auch von seinem Jünger und ver­ traut es ihm an. Wohl! so laßt uns nun weiter fragen, wodurch denn und auf welche Weise die Seelen der Menschen behütet werden, daß sie sich von der Heerde des Herrn nicht wieder entfernen oder verlaufen, und daß ihnen in derselben keine Gefahr nahe und kein, Uebel sie treffe? Gewiß antworten wir alle einstimmig, die Liebe zu ihm sei das erste Erforderniß; sie muß in jedem die Lust hervorrufen, seine und andrer Seelen in der lebendi­ gen Gemeinschaft mit ihm zu erhalten; sie muß die Aufmerksamkeit schärfen für alles dasjenige, was eben dieser Gemeinschaft feindselig ist. Aber wenn

wir nun weitergehcn und behaupten sollen, die Liebe zu dem Erlöser allein reiche hin, so scheint cs frei­ lich, wir müßten dies verneinen. Welche Kenntniß von dem menschlichen Herzen in seinem Trotz und in seiner Verzagtheit gehört nicht dazu, um trotz beider die Seelen zu hüten! mit welchen scharfen Blicken des Geistes müssen wir eingedrungcn fein in die geheimen verborgenen Falten desselben, wenn wir

9 das richtig bemerken und ehe cs zu spat ist aufspü­ ren wollen, was in den Seelen der Menschen selbst ihrer Gemeinschaft mit dem Erlöser gefährlich.ist, wenn wir das Verderben noch in feinen ersten Re­ gungen bemerken und es denen selbst in welchem es sich regt bemerklich machen wollen, damit sie um­ kehren, wo möglich noch ehe sie eigentlich angefan­ gen haben sich zu verirren! Wie bekannt müssen wir sein mit den Wegen der Sünde, mit den ver­ schiedenen Nachstellungen, welche diejenigen, die noch versunken sind in das Tichtcn und Trachten des ir­ dischen Lebens und der sinnlichen Lust, denen zu bereiten psscgcn, die eben anfangcn wollen zum hö­ her» geistigen Leben hindurchzudringen! Welche im­ mer nur theuer erworbene Erfahrungen von dem Lauf der Welt gehören nicht dazu, um, was Heu­ chelei und Verstellung hervorzubringen wissen, von der Wahrheit und ihren Früchten zu unterscheiden um die Unerfahrenen warnen zu können, und den bctrüglichen Schein der Anmuth und Güte aufzulöscn, hinter welchen sich nur zu oft diejenigen verber­ gen, welche gern Andere auf die Wege des Ver­ derbens locken möchten! Ja denken wir hieran, so müssen wir wohl gestehen, daß ausser der Liebe zu Christo auch noch die rechte Weisheit dazu gehöre, seine Schaafe zu weiden, Sehen wir nun weiter auf das zweite, daß die Seelen, die zu der Heerde des Herrn gehören, auch sollen genährt werden; was für eine andre Nahrung giebt es für die See­ len als das göttliche Wort? Keine gewiß! denn das Wort welches Fleisch geworden ist und in die Welt gekommen, ist auch das wahre Brot des Le­ bens, das vom Himmel kommen ist, Und Christus selbst sagt, das Fleisch sei kein nütze, seine Worte aber seien Geist und Leben, Wer also die erlösten See­ len nähren will, der muß ihnen zu spenden und auszutheilen wissen M göttliche Wort, Nun ist

10 gewiß, daß sollen wir dieses selbst genießen und dann auch damit haushalten, so muß zuförderst die Liebe zu Christo gegründet sein, welche es erkennt, daß Er allein Worte des Lebens hat. Aber nächst« dem was gehört nicht auch hiezu wieder auf der einen Seite für eine richtige Beurtheilung menschli­ cher Verhältnisse und des Zustandes, in welchem sich die Gemüther befinden, zu bestimmen welches jedes mal die nothwendigste und zweckmäßigste Nahrung für die Seele fei, und aus dem großen Reichthum und der unendlichen Fülle des göttlichen Wortes dasjenige mit rechter Weisheit auözuwählcn, was jedes Gemüth in der Verfassung, worin es fich grade befindet, am meisten zum Guten kräftigen, und am sichersten nähren kann? Aber dann noch weit mehr auf der andern Seite, was gehört dazu, um das göttliche Wort recht austheilen zu können, wenn wir nun auch wissen, wie es jedem ausge­ theilt werden soll? Doch gewiß dies, daß wir es zuerst selbst rein und vollkommen verstehen. Aber es ist von uns entfernt durch den Zwischenraum einer großen Reihe von Jahrhunderten, cs ist ab­ gefaßt in einer fremden und nicht mehr lebendigen Sprache; und doch kann die wahre und vollkommne Erkenntniß des göttlichen Wortes nur die fein, die am genauesten zufammcntrifft mit der Art, wie un­ ter allen, die es lebendig aus dem Munde des Herrn und seiner Apostel hörten, die aufgewecktesten und geneigtesten und die am besten vorbereiteten es aufgefaßt und sich angeeignet haben. Ein Zurück­ versetzen also in ferne Zeiten und uns fremde mensch­ liche Verhältnisse, eine Kenntniß fremder Sprachen und Sitten gehört dazu, um richtig das Wort Gottes auszutheilcn. Darum, sollen wir unsere Brü­ der mit dem göttlichen Worte nähren, und so die Schaafe Christi weiden, so ist auch dazu freilich die Liebe zu ihm die erste Bedingung; denn diese ist ei-

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nerlei mit unserer eigenen Lust und Freude am gött­ lichen Wort, und sie nur kann uns drängen zu diesem ganzen Geschäft, weil wer Christum selbst nicht liebt auch seine Heerde nicht liebt. Allein will man nun behaupten die Liebe allein reiche hin so werden wir das auch hier verneinen, und zwar von uns noch weit mehr als von seinen ersten Jüngern, und werden sagen müssen, daß außer der Liebe auch noch die rechte Erkenntniß dazu gehöre. Wenn wir also die Sache von dieser Seite betrachten, so schei­ nen diejenigen Recht zu haben, welche meinen, als der Erlöser seinem Jünger den Auftrag ertheilen wollte seine Schaafe zu weiden, habe er nach sei­ ner Liebe zu ihm vorzüglich deshalb gefragt, weil es zweifelhaft habe fein können, ob er in dieser noch siehe, alles übrige aber, was ihm dazu nöthig gewesen, die Weisheit und die Erkenntniß habe er bei ihm vorausgesetzt und als bekannt angenommen. Aber meine geliebten Freunde, laßt uns, da­ mit jedem sein Recht widerfahre, die Sache nun auch von einer andern Seite betrachten. Denkt euch die Liebe zu Christo recht lebendig in uns; müssen wir dann nicht auch nothwendig einen innigen An­ theil nehmen an dem ganzen großen Werke des Herrn? Müssen wir dann nicht von Begierde bren­ nen, auf der einen Seite ihn selbst, auf der andern Seite den ganzen Umfang des großen Werkes Got­ tes, welches ihm anvertraut ist, nach dem Maaße unsrer Kräfte kennen zu lernen? Das Gegentheil würde ja offenbar Gleichgültigkeit verrathen! Wenn wir aber den Erlöser kennen wollen, ihn als den allein Reinen und Guten, als den vollkommenen Menschen Gottes: müssen wir dann nicht zugleich auf der andern Seite immerfort in das sündige menschliche Herz hineinschauen, um eben, was in demselben das Werk des Erlösers ist und die Züge seines Bildes trägt, von demjenigen unterscheiden zu

12 können, was aus menschlicher Verdorbenheit her. rührt, ihm aber fremd war, damit der Gegenstand unsrer Liebe immer rein und heilig gehalten werde, und nichts Fremdes sich in denselben mische? Also sehen wir ja, daß die Liebe zu dem Erlöser schon von selbst in uns erzeugt eben jene Kenntniß des menschlichen Herzens und aller seiner Tiefen und Verirrungen, welche nothwendig ist, um die Schaafe des Herrn mit Weisheit zu weiden und unsre Ar­ beit in seinem Reiche zu verrichten! Und eben so, wäre es wol möglich, daß wir den Herrn lieben können, ohne mit Herzlicher Begierde zu lauschen auf jedes Wort seines eigenen Mundes und auf jedes, welches der Geist, der aus der Fülle Christi nahm und ihn verklarte, durch den Mund seiner Jünger geredet hat? Kann es jene lebendige Liebe zu dem Erlöser geben ohne eine steißige Beschäftigung mit dem Wort? Und wenn denn auch von diesem nicht alles jeglichem zugänglich ist, weil manches freilich mehr, manches weniger von jenen Hülfsmitteln be­ darf, die auf allerlei menschlicher Weisheit und ge­ schichtlichen Kenntnissen beruhen: fühlen wir nicht dennoch, daß in der christlichen Gemeinschaft, in welcher niemand sein Pfund vergräbt, jedem Hülfs­ mittel genug zu Gebote stehn, um zu einer solchen Kenntniß des göttlichen Wortes zu gelangen mit welcher er ausreichen kann, um soviel es von ihm zu verlangen ist, auch die Seelen seiner Brüder zu nähren, und ihnen die Speise des Trostes und der Wahrheit zur rechten Zeit aus der Fülle dieses gött­ lichen Schatzes darzureichen? Ja ich will noch mehr sagen. Wir haben auf dieser Welt jeder seinen besonderen Beruf in der bürgerlichen Gesellschaft, nach Maaßgabe des Ortes, auf welchen ihn der Herr gestellt hat, und Jeder bedarf zum Behuf des feinigen, um ihn weislich und mit Erfolg zu üben, ebenfalls mancherlei Kenntnisse

13 der Welt und des Menschen, und muß sich in Hand­ habung mancherlei menschlicher und irdischer Dinge Geschick und Einsicht erwerben. Wollen wir nun sagen, daß diese ganze Berufsthätigkeit der Liebe zu dem Erlöser fremd sei, so daß alle Lust und Freude davon aus einer andern Quelle als dieser Liebe her­

komme? wollen wir sagen, daß, wenn wir hierauf unsere Zeit verwenden und unsere Geisteskräfte da­ bei anstrengen, wir dann von einem andern Triebe müssen beseelt werden, so daß jeder der irgend einen irdischen Beruf übe, nothwendig müsse getheilten Herzens sein zwischen der Liebe zu diesem und der zum Erlöser, und dem einen entziehen müsse, was er dem andern geben wolle? Keinesweges, meine ge­ liebten Freunde! vielmehr steht alles was die Kräfte der Christen mit Recht in Anspruch nimmt, auch in Verbindung mit dem großen Werke des Erlösers auf Erden. Und wenn feine Apostel ihren Gemein­ den anempfehlen, jeder solle arbeiten mit seinen Hän­ den, daß er etwas Gutes schaffe, und solle nach allem trachten, was löblich ist und wohllautet: so sind auch diese Vorschriften eben daher gestossen wie alle an­ deren, weil die Liebe Christi seine Apostel drängte; und von derselben Liebe sollen auch die Christen bei der Ausübung dieser Vorschriften getrieben werden. Denn wer den Herrn wahrhaft liebt, der will ihm auch Ehre machen vor, den Menschen, der will die geistige Gegenwart des Herrn verherrlichen helfen auf das schönste, der will die ganze Seele so gänz­ lich durchdrungen darstellen von der Liebe zu ihm, alle ihre Bewegungen so durch ihn geheiligt, und die Liebe zu ihm als eine solche Kraft, welche den Gläubigen in allem, was zum menschlichen Leben ge­ hört, weiter führt, und alle Hindernisse reiner und kräftiger zu besiegen im Stande ist, als irgend ein anderer Antrieb dem er folgen könnte. Eben so gewiß aber ist auch dieses, daß alle

14 jene menschlichen Erkenntnisse und Einsichten, welche, aus der Liebe zu Christo fließend, uns in allen Thei­ len unseres Berufes fördern, wenn sie aus irgend einer andern Quelle herrühren, nicht anders als verderblich werden können. Eine Kenntniß der Welt und des menschlichen Herzens, die nur gleichsam er­ schlichen ist, um mit größerem Erfolg Entwürfe des Eigennutzes auszuführen oder dem Ehrgeiz zu fröhnen, wird nicht nur nichts ausrichten können im Reiche Gottes und keine menschliche Seele fördern, sondern auch am Ende ihren Besitzer selbst um seine thörichten Zwecke betrügen. Alle Kenntniß vergangener Zeiten, erstorbener Sprachen, und alles, was zu einer gründlichen und tiefen Einsicht in die verschiedenen Theile des göttlichen Wortes gehört, wenn sie nur erworben sind um damit vor der Welt zu glänzen, um den menschlichen Geist deswegen, weil er feine höchste Bestimmung verkennt, auf ei­ nem andern Gebiete zu befriedigen und zu sättigen, und es wollte sich Einer dennoch damit an die Er­ forschung des göttlichen Wortes geben wie an eine andere menschliche Angelegenheit: o gewiß, eine le­ bendige und richtige Erkenntniß desselben wird er so nicht erlangen; und weit entfernt, daß einer, so aus­ gerüstet zur Auetheilung des göttlichen Wortes schrei­ tend, im Stande sein sollte die Schaafe des Herrn zu nähren, wird sein Thun vielmehr ihm selbst zum Fall gereichen. Darum, meine geliebten Freunde, ist eö doch nichts anderes als die Liebe zu Christo allein! Wenn wir sie nur betrachten zusammengenommen mit alle dem, was aus ihr hervorgeht: so reicht sie hin, um den großen Beruf, den in den Worten unsers Textes der Herr allen seinen Jüngern gegeben hat, in dem Maaße zu erfüllen als er es von jedem fodert. Hat einer vorher gedankenlos hingeträumt und wenig Sorge getragen die in jeder Seele verborgenen Schätze

15 Hervorzuholen und zu gebrauchen: so ist sie es, welche ihn zuerst weckt, und ihn treibt nach Maaßgabe des Ortes, auf welchen der Herr ihn gestellt hat, alles um sich zu sammeln und in sich aufzunehmen, was ibn fähig macht den großen Beruf aller Diener des Herrn in der Welt zu erfüllen. Ist hingegen einer schon früher, ehe er in die lebendige Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe mit dem Erlöser trat, auf einem andern Wege eifrig gewandelt, und hat seine Seele mit Kenntnissen bereichert, und ihr Fer­ tigkeiten angcbildet aus irgend einem andern An­ triebe: wie wird ein solcher verwandelt von der Liebe zu dem Erlöser, sobald diese sich seiner Seele be­ mächtigt! Sie durchdringt sein ganzes Wesen, ge­ staltet in ihm alles um, giebt allem eine neue Richtung, daß es aus dem Dienst der Eitel­ keit erlöset nun Kraft und Leben zum Guten wird, so daß er dastcht als eine neue Kreatur, alle Ver­ mögen seiner Seele auf eine lebendige Weise mit dem Triebe, der ihn beseelt, verbunden und keinem andern dienend als diesem. So erscheinen uns nun auch jenen ersterwähnten ähnlich in jeder Beziehung die frühern Apostel des Herrrn. Diese fand Er als schlichte, in wohlmeinender Frömmigkeit das Bessere ahndende und hoffende Seelen; aber schwach aus­ gerüstet, fern von tiefer Erkenntniß des göttlichen Wortes und so auch des menschlichen Herzens und der Welt, in welche sie gestellt waren. Aber alles empfingen sie von Ihm; die Liebe zu Ihm und der freudige Glaube in Ihm den Verheißenen gefunden zu haben, und die innige Dankbarkeit dafür, daß Er sie zu Seinen Werkzeugen erwählt hatte, dies trieb und drängte sie, alle Worte der Weisheit aus Seinem Munde auHunehmen und in dem Innersten ihres Herzens zu befestigen, und so konnten sie her­ nach auftreten und lehren anders und kräftiger als die, welche von Jugend an unterwiesen waren in

16 der Schrift und in den Satzungen der Vater. — Aehnlich hingegen denen- welche früher auf einen andern Weg abgeirrt waren, erscheint uns der Apo­ stel, den der Herr sich erwarb, eben indem er im Verfolgen Seiner Gemeine begriffen war. Dieser hatte zu den Füßen großer Lehrer gesessen, und war ausgerüstet mit aller Weisheit seines Volkes, welche sich vorzüglich bezog auf alles, was zu den früheren göttlichen Offenbarungen gehört; eben so war er ge­ übt in allem was irgend erfodcrlich war, um in dem Berufe des Schriftgelehrtcn und des Lehrers, den er sich gewählt hatte, feines Erfolges gewiß zu sein. Aber wie gestaltete sich alles um von dem Augenblick an, wo er erkannte, daß der Weg den er verwüstete von Gott fei, als die Stimme ihn faßte: „es wird dir schwer werden anzustreben gegen die Gewalt, die auch dich vorwärts treibt!" von dem Augenblick an, wo die Frage einen tiefen Eindruck auf ihn machte: „Saul, Saul, warum ver­ folgst du mich?" wo fein Herz den Herrn erkannte und den großen Beruf annahm, von Ihm gesandt zu werden unter alle Völker, und unter ihnen das Evangelium zu verkündigen! Von dem Augenblick ward alles auf den Einen Zweck gerichtet, alles in feiner Seele der Liebe zu Christo unterge­ ordnet, von ihr regiert und durchdrungen, und konnte so Dienste leisten in dem Werke des Herrn; so daß, soviel Gebrauch Paulus auch machte von dem was er von Jugend auf gelehrt worden war, er doch immer mit Recht sagen konnte, er komme nicht mit menschlicher Weisheit; denn es verwandelte sich ihm alles in eine wahrhaft göttliche Weisheit, Wissenschaft und Kunst. Wollten wir aber deshalb meinen, daß weil aus der Liebe zu Christo alles hervorgehcn muß, was wahrhaft wirksam sein kann in seinem Reiche, auch jeder Einzelne in dem Maaße als die Liebe zu Christo ihn

17 ihn beseelt und dringt alles leisten könne; und wollte deshalb jeder sich zu allem drängen was in dem Reiche Gottes zu thun vorkommt: so wäre dies eine falsche Vorstellung von menschlichen Dingen, und eine Verblcnduug der Eitelkeit. Nein, meine gelieb­ ten Freunde, wenn wir uns betrachten abgesehen von allem, was unsere Wirksamkeit in dieser Welt näher bestimmt und ihr erst eine feste Richtung giebt: so gleichen wir mit aller unsrer Liebe zu Christo erst jenen, von denen der Herr in feinem Gleichnisse sagt, daß sie an dem Markte ständen und warteten, bis jemand sie dinge zur Arbeit; da kommt dann der Herr und führt in seinen Weinberg, fo oft er welche findet, und weiset jedem seine Arbeit an nach seinen Kräften und Umständen. So auch wir, haben wir nur Liebe zu Christo, so wird eö nicht fehlen; der Herr ruft uns, den einen hierhin, den andern dort­ hin; wohin und wann, das bestimmt sich durch die Verhältnisse, in denen jeder lebt, und die mehr Be­ günstigungen für den einen, mehr Hemmungen für den andern mit sich führen; denn jeder wird doch gewiß beide erfahren. Aber wie auch einem jeden sein Loos geworfen sei: Arbeiter in dem Weinberge des Herrn wird er nur, insofern die Liebe zu Christo ihn dringt und ihm zeigt, was ihm an der Stelle, wohin ihn der Herr gestellt hat, zu thun gebühre. Dafür also hat jeder zu sorgen, übrigens aber nichts auf menschliche Kunst oder Willkühr zu bauen. Denn alles übrige ist das geheimnißvolle Werk der gött­ lichen Führungen, und wird gewiß grade deswegen oft so wunderbar geleitet, damit keiner sich einbilde es selbst lenken zu können, sondern erkenne, daß der Herr sich selbst vorbehalten hat nach dem verborge, nen Gang feiner Rathfchlüsse einem jeden die Stelle anzuweisen in seinem Weinberge, wo er die Schaafe der Heerde zu weiden bestimmt ist nach dem Maaße seiner Einsichten und seiner Kräfte. B

18 Darum, meine geliebten Freunde, scheint es,alö ob unter den Christen eigentlich kein Streit darüber sein könnte, inwiefern die Liebe zu Christo zurciche oder nicht, um den Beruf, den uns der Herr er­ theilt hat, zu erfüllen.

II. So laßt uns denn, meine geliebten Freunde, noch mit Wenigem sehen, woher dennoch dieser Streit entstanden und worin er gegründet ist. Natürlich darin, daß zu beiden Seiten der Wahrheit zwei ent­ gegengesetzte Abwege laufen, auf jeder Seite einer, wie denn die Menschen auch im Reiche Gottes auf solche zu gerathen pflegen. Derjenige nun welcher einschärft die Liebe Christi allein reiche hin, und der Mensch bedürfe weiter nichts als sie, der will gegen den einen warnen; der andere aber welcher sagt, die Liebe Christi sei zwar der erste und unentbehrlichste Grund, aber vieles andre bedürfen wir noch, wenn wir wahrhaft Frucht bringen und dem Herrn nütz­ lich sein sollen, der will dem andern entgcgentreten. Der erste Abweg besteht darin, daß viele auch from­ me Menschen nicht genug bedenken, was der Herr meint, wenn er sagt: „mein Reich ist nicht von die­ ser Welt." Die Gemeine des Herrn lebt immer noch im Kampfe gegen das, was die Schrift im Gegensatz gegen sie die Welt nennt; immer noch währt der Streit des Lichtes gegen die Finsterniß. Denn immer noch, wie hell auch das Licht in die Finsterniß scheint, giebt es einen Theil derselben, der cs nicht ausgenommen hat; und so lange währt der Kampf des Guten gegen das Böse, der einfa­ chen himmlischen Wahrheit gegen die Verkehrtheit der Kinder dieser Welt, der Kampf den wir alle kennen. Aber weil dieser Kampf nicht immer leicht ist, sondern die Gemeine des Herrn noch oft hier und dort in Bcdrängniß geräth, so hegen noch im-

19 «ter Viele aus lebendiger freilich und inniger aber falsch geleiteter Liebe zu Christo und seinem Reiche die Meinung, wenn doch die Welt durch Anwen­ dung äußerer Mittel, Macht und Ansehn, die Ge­ meine deö Herrn bedränge, so würde auch diese ih­ rerseits wohl thun, wenn sie suchte sich Kräfte und Hülfsmittel aller Act zu verschaffen, damit sie ihr eben so widerstehen könne, wie sie angegriffen wird; wenn durch menschliche Weisheit und Kunst die Gegner des Evangeliums den einfältigen Bekenner desselben zu hintergehen suchen, so müßten auch wir suchen durch einen zweckmäßigen Gebrauch menschli­ cher Wissenschaft und Kunst die Gegner einzuschüch­ tern und irre zu machen. Und so wird denn gar leicht das große Wort vergessen was der Herr ge­ sagt hat: „wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so würden meine Diener auch mit den Waffen die­ ser Welt dafür kämpfen", und sie kämpfen doch mit den Waffen dieser Welt für das Reich Gottes, und richten dadurch nur noch mehr Verwirrung und Un­ gewißheit in demselben an, trüben das Licht und vermehren die Finsterniß. Wenn nun solches ge­ schieht, dann ist es Zeit daran zu erinnern, daß Christus, als er seinem Jünger auftrug seine Schaafe zu weiden, ihn auf nichte anders geprüft habe als auf die Liebe zu Ihm. Wae also aus dieser hervorgeht, das müsse auch zum Nutzen angewcndet werden für die Heerde des Herrn; alles andre aber, was dieser Liebe fremd ist, könne auch nicht wohl­ thätig wirken in Seinem Reich und könne Seine Heerde weder beschützen noch fördern. Solches ist aber ge­ schehen, und auf diesen Abweg ist die christliche Kirche vielfältig gerathen, seitdem sie aus einer verfolgten und höchstens geduldeten eine herrschende geworden ist, vorzüglich aber seitdem sie in einem ausgezeich­ neten Sinne die Römische hieß. Denn nun ward sie, von der weltlichen Gewalt geehrt und B 2

20 verherrlicht, auch selbst mit solcher Gewalt bekleidet, und alle Waffen der Macht wurden ihr dargereicht, um sie zu ihren Zwecken zu gebrauchen. Und wie auch die weltliche Macht sich auf mancherlei Weise auch der Rede bedient um ihre Absichten zu errei« chen: so ward auch hier eine Kunst der Rede aus­ genommen und geübt, oft schmeichlerisch und bctrüglich genug um Absichten zu erreichen, welche durch soviel weltliche Bestrebungen verunreinigt waren. Und freilich gehörte auch mehr dazu, als nur die Liebe Christi, um die Heerde desselben an das be­ schwerliche Joch zu gewöhnen, unter welchem sie ge­ fangen sollte gehalten werden. So ward denn statt eines wahren Tempels des göttlichen Geistes ein Ge­ bäude aufgeführt- in welchem denen, welche die gei­ stige Verbindung mit dem Erlöser wahrhaft hatten kennen gelernt, und nur in dieser ihre Seligkeit schaffen wollten, je langer je mehr unmöglich sein mußte zu wohnen, bis endlich der Herr die Zeit kommen ließ, für welche wir ihm an unsern Verfammlungötagen so oft danken in unserm Morgen­ gebet, die Zeit wo das hellere Licht des Evangeli­ ums uns wieder scheinen konnte, und wir zurück­ kehrten zu dem lebendigen Grundbcwußtscin des Chri.sten, daß das Reich des Herrn nicht von dieser Welt ist, daß keine weltliche Macht oder Kunst eö. jemals beschützen und vertheidigen kann, daß .allein die geistige Kraft im Stande ist es gegen alle Stürme und Anfechtungen stehen zu machen, und daß in allen, welche zu demselben gehören, keine andre Kraft Herrschend sein darf als die Liebe zu dem Erlöser und alles, was durch sie in den See­ len der Menschen erzeugt wird. Der andre Abweg aber, meine geliebten Freunde, ist der, daß es gar viele Christen giebt, welche die Liebe zu dem Erlöser ganz in eine stille und ein­ same Liebe des Genusses verwandeln möchten. In

21 das Bewußtsein Seiner geistigen Nahe und Gegen­ wart wollen sie sich vertiefen; sie verehren und lie­ ben Ihn als den von welchem alles Gute und Schöne herrührt, was sich in ihrem Herzen regt, und der sich auch dessen wieder liebend erfreut. Das nun ist schön und recht, und gewiß kein Abweg. Aber wenn sie von nichts andrem wissen wollen als von solchem Genuß, und dabei die ganze Welt um sich her so gut als vergessen: was entsteht anders daraus als ein in sich selbst abgeschlossenes und eben deshalb für den großen Zweck des Erlösers eigent­ lich unthätiges Leben? Denn es ist offenbar, daß ein Mensch doch immer selbstsüchtig ist, wenn er sich an seinem eignen Heil genügen läßt; und daß er dann immer gleichgültiger wird gegen den ganzen äußern Beruf des Christen, und gegen das große Werk des Erlösers in der Welt, um deßwillen ihm doch vorzüglich unsre innige Liebe und unsre auöschließende Verehrung gebührt, daß er nicht sich selbst lebte, sondern gekommen war zu dienen, zu suchen und selig zu machen das Verlorne, und die Mühse­ ligen und Beladenen zu sich zu rufen. Wenn dec Mensch nun sich selbst zwar verloren und verirrt fühlt und gern den Erlöser kommen sieht, der ihn selig machen will; wenn er sich selbst mühselig und beladen fühlt, und nicht vergeblich die Svur des Weges findet zu dem, der allein seine Seele crquikken kann; aber cs bleibt seiner Seele fern und fremd, daß der Erquickte nun auch gedeihen soll in allem Guten und Schönen, daß auch er sich aufma­ chen soll in der Kraft der Liebe zu dem Herrn, um selig zu machen und zu erquicken, und daß jeder nicht nur ein Schaaf aus der Heerde sein soll, son­ dern auch selbst berufen ist die Schaafe des Herrn mit zu weiden: so ist das ein Abweg; und je meh­ rere Seelen ihn einschlagen, und wenn auch nicht jede für sich allein sein will, sondern sie sich zu

22 Hunderten mit einander aber immer nur dieser in sich gekehrten genießenden Liebe erfreuen, um desto mehrere zerstreuen sich von dem Reiche Gottes, daß cs nicht bestehen, und von dem Werke Gottes, daß es nicht fortgehcn kann. Dann wird es nun hohe Zeit, daß die entgegengesetzte Stimme sich verneh­ men läßt gegen solche einsame und in unthätiger Liebe zu dem Erlöser versunkene Seelen und ihnen sage: an einer solchen Liebe ist es nicht genug, son­ dern es gehört mehr dazu um dem Ruf den Chri­ stus auch an Euch ergehen läßt zu genügen; wollt ihr wirklich mit ihm leben, so müßt ihr auch für ihn handeln; sind Gaben des Geistes in Euch ge­ wirkt, so müßt Ihr auch damit thätig sein im Reiche Gottes. Insofern kann man freilich sagen, cö gehöre noch etwas anderes dazu als die Liebe zu Christo um seine Schaafe zu weide»; aber die vollkommne Wahrheit ist doch nur die, daß eine solche Liebe nicht die wahre Liebe sei, sondern nur eine unreine und noch selbstsüchtige Liebe. Denn der Herr ist nicht gekommen, um in einzelnen Seelen zu woh­ nen, und in jeder besonders sein Leben auf eine ge­ heimnißvolle Weise zu beginnen, sondern durch die Gemeinschaft sollen die Segungen seines Daseins sich über Alle verbreiten; und nicht eher soll das aufhörcn, als bis alle Schaafe gesammelt sind aus alle» Ge­ genden der Welt, nicht eher als bis alle herange­ reift sind zur männlichen Vollkommenheit Christi, nicht eher als bis feine Kirche in Beziehung auf alles was zu dem Beruf des Menschen ans Erden gehört tadellos vor ihm steht. Wer nun an diesem Werke des Herrn nicht arbeitet, der liebt nicht das Werk des Herrn; und wer dieses nicht liebt, der würde sich vergeblich rühmen, wenn er sich rühmen wollte ihn zu lieben. Haben wir also eine dürftige und armselige Liebe zu dein Erlöser vor uns, die aber gewiß auch immer unrein und falsch sein wird, wenn

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sie sich doch nur auf den eignen Genuß beschränkt: so haben wir Recht zu sagen: um den ganzen Be­ ruf des Christen zu erfüllen, dazu gehört mehr als die Liebe. Haben wir es aber zu thun mit verwah­ ren und kräftigen Liebe zu Christo, wie sie in den Aposteln war, und wie sie immer in allen treuen, lebendig thätigen und auf das gemeine Wohl bedach­ ten Christen gewesen ist: so müssen wir sagen: wir habe« nichts anderes nöthig als sie; aus ihr wird alles hervorgehen, was wir irgend nur gebrauchen können als Arbeiter in dem Weinberge des Herrn. Aus ihr wird sich jegliche Kraft entwickeln, die jeder bedarf um da wirksam zu sein, wohin ihn der Herr gestellt hat; und so werden wir mit unserm gayzen Dasein den Herrn preisen können, wenn alles, was unter Christen lieblich ist und löblich und wohllautct, aus keiner andern Quelle kommt als aus der Liebe zu dem Herrn. Es ist also auch hier nicht anders als mit dem Streit, ob der Glaube genug fei, den Menschen gerecht und selig zu machen, oder ob zu dem Glau­ ben noch die Werke hinzukommen müssen. Wie die­ ses immer nur ein leerer Streit ist um Worte — denn der Glaube ist kein rechter Glaube, sondern ein todter, wenn er nicht thätig ist durch Werke; und die Werke sind keine rechten Werke, sondern nur todte, wenn sie nicht aus dem Glauben kommen; — eben so auch der Streit, ob die Liebe genug sei, um die Schaafe des Herrn zu weiden, oder ob noch ande­ res dazu gehöre, ist ein leerer Wortstreit; denn die Liebe zu dem Erlöser ist nicht die wahre, welche nicht das wirkt, daß wir alle unsre Kräfte ihm wei­ hen und heiligen, und mit denselben wirken für sein Reich. Thut sie das, so bedürfen wir nichts weiter. Alles Eingreifen in menschliche Dinge, wozu auch die Christen als Menschen berufen werden, alle Kenntniß dessen was noth ist, um Christi Sache

24 auf Erden zu fördern, das alles wird sich entwickeln, wenn nur in jedem- Augenblick, in jedem Theil un­ sres Lebens die rechte Liebe zu Christo uns beseelt, wenn wir alles, was uns an unserm Ort zu thun vorkommt, aus keinem andern Gesichtspunkte be­ trachten, als daß auch dies in sein heiliges Reich gehört. Und so bleibe es denn, meine geliebten Freunde, bei dem Einen, als dem allein nothwendigen; nur laßt es uns auch in seiner ganzen Fülle und Herr­ lichkeit empfinden, und klar einsehcn, was zu dem Einen gehört. Laßt uns mit diesem anvertrauten Pfunde wuchern, und alles damit hcrvorbrinqen, wodurch das Reich Gottes verherrlicht werden kann, damit, wenn der Herr auch uns dasselbe fragt in dem Innersten unseres Herzens, wie er in den Wor­ ten unsres Textes den Petrus fragte, auch wir mit gutem Gewissen antworten können: „Herr du weißt, daß ich dich lieb habe." Dann werden wir alle mit Freude und mit froher Hoffnung, daß das Wort nicht vergeblich geredet ist, von ihm den Ruf hören: So gehe denn hin und weide meine Schaafe. Amen.

Gedruckt bei Trvwitzsch und Sohn in Berlin.