Scham und Schuld: Geschlechter(sub)texte der Shoah [1. Aufl.] 9783839412459

»Scham« und »Schuld« - zentrale Narrationen, in denen die Verbrechen der Shoah verhandelt werden. Ihre geschlechtliche C

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German Pages 328 Year 2015

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Scham und Schuld: Geschlechter(sub)texte der Shoah [1. Aufl.]
 9783839412459

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
INTERGENERATIONELLE WEITERGABE VON SCHAM UND SCHULD
Gefühlserbschaft und Geschlecht Überlegungen zur Struktur der generationenübergreifenden Folgewirkungen des Nationalsozialismus
Generation der Scham? Eine Reanalyse sozialwissenschaftlicher Forschung zu Schuldund Schamgefühlen in der dritten Generation der Täter/-innen
Vaterbilder und Mutterbilder Geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Täterschaft und Schuld in der NS-Nachfolgegeneration
Liebe Geschichte Nationalsozialismus im Leben der Nachkommen von Täter/-innen. Eine Vorschau auf den Film von Klub Zwei
DAS ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES IN PRIVATHEIT UND ÖFFENTLICHKEIT
»Davon haben wir nichts gewusst«? Artikulationen von Scham und Schuld in Tagebuchaufzeichnungen ›deutscher‹ Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges
Deutsche Denkmalpolitiken nach 1945 Kathrin Hoff mann-Curtius
WEIBLICHKEIT UND NATIONALSOZIALISTISCHE TÄTERINNENSCHAFT
Verhandelte Schuld Täterinnenschaft im ersten britischen Ravensbrück-Prozess 1946/47
»Der Krieg war verloren, die Unschuld verraten …« Die Feminisierung von NS-Täterschaft im Fernsehfilm »Gegen Ende der Nacht«
SCHULD UND SÜHNE: GESCHLECHTERCODES DER RELIGIONEN
Männlichkeit und Selbstmitleid Religiöse Rhetorik in Selbstzeugnissen von NS-Tätern
Poetik der Verantwortung Eine Analyse von Paul Celans Gedicht »Nah, im Aortenbogen«
»Mister Holocaust 1989« und die göttliche Gaia Religiöse und soziale Scham in Alessandro Pipernos Roman »Con le peggiori intenzioni«
Geschlecht und Heilsgeschichte Ulla Berkéwicz’ Roman »Engel sind schwarz und weiß«
SEXUALITÄT UND NATIONALSOZIALISMUS
»Die Nazis, die war’n ja schlimmer wie die Juden!« Sexualitätsentwürfe als Medium von Kontinuität und Bruch zwischen Volksgemeinschaft und postnazistischer Gesellschaft
Nuda Veritas? Zum Effekt des Pornographischen in Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten«
Zu den Autorinnen und Autoren

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Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Nadine Teuber (Hg.) Scham und Schuld

| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 11

Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Nadine Teuber (Hg.)

Scham und Schuld Geschlechter(sub)texte der Shoah

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Die Herausgeberinnen, Anja Michaelsen Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1245-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Maja Figge, Konstanze Hanitzsch & Nadine Teuber | 9

I NTERGENERATIONELLE W EITERGABE VON S CHAM UND S CHULD Gefühlserbschaft und Geschlecht Überlegungen zur Struktur der generationenübergreifenden Folgewirkungen des Nationalsozialismus Jan Lohl | 21

Generation der Scham? Eine Reanalyse sozialwissenschaftlicher Forschung zu Schuldund Schamgefühlen in der dritten Generation der Täter/-innen Katharina Obens | 39

Vaterbilder und Mutterbilder Geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Täterschaft und Schuld in der NS-Nachfolgegeneration Margit Reiter | 61

Liebe Geschichte Nationalsozialismus im Leben der Nachkommen von Täter/-innen. Eine Vorschau auf den Film von Klub Zwei Jo Schmeiser und Simone Bader | 81

D AS E NDE DES Z WEITEN W ELTKRIEGES IN P RIVATHEIT UND Ö FFENTLICHKEIT »Davon haben wir nichts gewusst«? Artikulationen von Scham und Schuld in Tagebuchaufzeichnungen ›deutscher‹ Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges Sabine Grenz | 99

Deutsche Denkmalpolitiken nach 1945 Kathrin Hoffmann-Curtius | 121

W EIBLICHKEIT UND NATIONALSOZIALISTISCHE T ÄTERINNENSCHAFT Verhandelte Schuld Täterinnenschaft im ersten britischen Ravensbrück-Prozess 1946/47 Ljiljana Heise | 149

»Der Krieg war verloren, die Unschuld verraten …« Die Feminisierung von NS-Täterschaft im Fernsehfilm »Gegen Ende der Nacht« Simone Erpel | 171

S CHULD UND S ÜHNE : G ESCHLECHTERCODES DER R ELIGIONEN Männlichkeit und Selbstmitleid Religiöse Rhetorik in Selbstzeugnissen von NS-Tätern Björn Krondorfer | 195

Poetik der Verantwortung Eine Analyse von Paul Celans Gedicht »Nah, im Aortenbogen« Naomi Shulman | 223

»Mister Holocaust 1989« und die göttliche Gaia Religiöse und soziale Scham in Alessandro Pipernos Roman »Con le peggiori intenzioni« Mirjam Bitter | 237

Geschlecht und Heilsgeschichte Ulla Berkéwicz’ Roman »Engel sind schwarz und weiß« Tim Lörke | 257

S EXUALITÄT UND N ATIONALSOZIALISMUS »Die Nazis, die war’n ja schlimmer wie die Juden!« Sexualitätsentwürfe als Medium von Kontinuität und Bruch zwischen Volksgemeinschaft und postnazistischer Gesellschaft Sebastian Winter | 273

Nuda Veritas? Zum Effekt des Pornographischen in Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten« Birgit Dahlke | 301

Zu den Autorinnen und Autoren | 319

Einleitung Maja Figge, Konstanze Hanitzsch & Nadine Teuber

Die Auswirkungen und das Fortwirken der Verbrechen des Nationalsozialismus sind bis heute – 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – in Familie und Gesellschaft spürbar. In den deutschen erinnerungspolitischen Diskursen spielen diesbezüglich Scham- und Schuldbekundungen eine zentrale Rolle. Sie beziehen sich zum einen auf einen verantwortungsvollen Umgang mit der Schuld des Nationalsozialismus, zum anderen verhandeln sie eine auf Scham gründende Verletzung des eigenen Selbstbildes, eine Versehrtheit, die aufgehoben werden will. Eingeständnisse von Scham und Schuld – zumal öffentliche – sind nur vermeintlich eindeutig und transportieren sehr viel mehr Bedeutungsinhalt als gemeinhin angenommen.1 Scham und Schuld beschreiben ein vielfältiges Deutungsreservoir deutscher Schuld, das es gilt, in seinem jeweiligen Kontext aufzudecken. Der vorliegende Band fokussiert zum einen die Frage nach einer intergenerationellen Weitergabe von Scham und Schuld im Land der Täter/-innen und zum anderen die Bedeutung dieser Emotionen in der erinnerungskulturellen und -politischen Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus – immer im Hinblick auf den Subtext, der in und 1 | Gerade in den öffentlichen Äußerungen der offiziellen Politik lässt sich seit Bestehen der Bundesrepublik ein distanzierendes Moment beobachten, das in den öffentlichen Schambekundungen besteht, in denen sich bundesrepublikanische Politiker/-innen (von Theodor Heuss bis Angela Merkel) für die Schuld der Nationalsozialist/-innen schämen und damit ein deutsches Kollektiv imaginieren, das auf einer gemeinsam empfundenen Scham beruhe.

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mit diesen Emotionen bzw. Begriffen transportiert wird. Dieser Subtext stützt sich zumeist auf die unhinterfragte Setzung des komplementären heteronormativen Geschlechterverhältnisses, in dem sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht) miteinander in Einklang stehen. Abweichungen von dieser heterosexuellen Matrix (Butler 1991) können sinnstiftende Funktionen erfüllen; gekoppelt an Emotionen wie Scham und Schuld führen sie zu Entlastungen, Tabuisierungen oder auch Mystifizierungen der Shoah. Auch im innerfamiliären Feld sind sie mit geschlechtsspezifischen Tradierungsweisen verbunden, die in der Regel unhinterfragt bleiben. Die hier versammelten Beiträge stellen den Versuch dar, eine interdisziplinäre Brücke zu schlagen, indem psychoanalytische Konzeptualisierungen zur Weitergabe von Scham und Schuld in der Familiendynamik mit kulturund literaturwissenschaftlichen Analysen und soziologisch/historischen sowie theologischen Untersuchungen zusammengebracht werden. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven wird in den Artikeln den Zusammenhängen von Scham, Schuld und Geschlecht auf der Seite der Täter/-innen und ihrer Nachkommen nachgegangen. Ob Scham und Schuld oder ein komplexes Geflecht aus beiden in der Erinnerung der NS-Verbrechen verhandelt werden, erweist sich erst in der spezifischen Analyse. Dabei ist auch das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit von Relevanz, so u.a. wenn in innerfamiliären Konstellationen verhandelt wird, was im öffentlichen Raum z.B. als Denkmal manifestiert ist. Das bedeutet, dass zwischen der u.a. durch Schamgefühle geschützten Privatsphäre und der von sozialer Verantwortung getragenen Öffentlichkeit Aushandlungen über bestehende Scham- und Schuldgefühle stattfinden. Die Debatten um die Errichtung des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas ist ein Beispiel für diese Scham- und Schuldüberschneidungen. In der Erinnerung an die Toten, die in diesem Mahnmal manifestiert ist, bekennt sich die deutsche Nation in diesem Fall zur Scham über ein kollektiv begangenes Verbrechen (von Braun 2001: 264). Es ist also zugleich ein Denkmal deutscher Schuld und deutscher Scham und kann, da „Mahnmale die Funktion haben, die Kontinuität der Gemeinschaft zu sichern“, von späteren Generationen so umgedeutet werden, dass es zu einem »Bild der nationalen Opfergeschichte« wird (Ebd.).

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Während die Anerkennung der Schuld die Wiedergutmachung einer Verletzung des Anderen betont, ist die Scham Ausdruck der eigenen Verletzlichkeit (s. Landweer 1999: insb. 46ff.), hier: der Versehrtheit der nationalen Identität. Auch auf medialer Ebene finden Aushandlungen zwischen privater und offizieller Geschichtsschreibung statt. So verhandelt der Roman »Der Vorleser« von Bernhard Schlink (1995) und seine erfolgreiche Verfilmung aus dem Jahre 2008 von Stephen Daldry anhand einer Liebesgeschichte deutsche Schuld und Scham. Ein minderjähriger Junge verliebt sich in eine wesentlich ältere Frau und findet nach Jahren heraus, dass sie Aufseherin in verschiedenen Konzentrationslagern war. Es stellt sich heraus, dass sie aufgrund ihres Analphabetismus, für den sie eine tiefe Scham empfindet, die Schuld, Verbrechen begangen zu haben, auf sich nimmt. Das Liebesverhältnis beider wird explizit mit einem ›deutschen Schicksal‹ verglichen, indem die nachfolgende Generation der alten zur ›Mündigkeit‹ verhilft (vgl. u.a. Hanitzsch 2006). Nicht nur in diesem Roman und seiner Verfilmung findet das ›private Geschlechterverhältnis‹ als Träger der Erinnerung und ideologischer Deutungen deutscher Geschichte Verwendung. Auch in familiären Tradierungsmustern werden imaginäre Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu Vermittlungsinstanzen nationalsozialistischer Täter/-innenschaft, beispielsweise wenn die Rolle der Mutter traditionell als passiv und unpolitisch angesehen wird und somit Täterinnenschaft oder Mittäterinnenschaft von Ehefrauen und Müttern im Nationalsozialismus ausgeblendet wird. Schuld wird im Gegenzug mit Männlichkeit assoziiert, da sie mit Handlungsfähigkeit verbunden wird (vgl. hierzu Reiter 2006 und Wachsmuth 2008). Der vorliegende Band präsentiert Beiträge, die aus den Vorträgen der gleichnamigen Konferenz, die im November 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand, hervorgegangen sind. Den Auftakt bilden Artikel, die sich der intergenerationellen Weitergabe von Scham und Schuld widmen. In seinem Artikel Gefühlserbschaft und Geschlecht. Überlegungen zur Struktur der generationenübergreifenden Folgewirkungen des Nationalsozialismus setzt sich Jan Lohl mit der Bedeutung von Emotion und Gedächtnis und Verantwortung innerhalb der Familie auseinander. Mit Hilfe eines psychoanalytischen Ansatzes geht der Autor den Verbindungen von

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Geschlecht, Scham und Schuld in der familiären Tradierung von Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus nach. Katharina Obens untersucht unter dem Titel ›Generation der Scham‹? – Eine Reanalyse sozialwissenschaftlicher Forschung zu Scham- und Schuldgefühlen in der dritten Generation der Täter/-innen vorhandene Forschungsergebnisse und zeigt blinde Flecke auf, die unter anderem durch die undifferenzierten Bezugnahmen auf Scham- und Schuldgefühle entstehen und Mystifizierungen Vorschub leisten können. Margit Reiter präsentiert in ihrem Artikel Vaterbilder und Mutterbilder. Geschlechterspezifische Zuschreibungen von Täterschaft und Schuld in der NS-Nachfolgegeneration Forschungsergebnisse, die sie anhand von Interviews mit Nachkommen von Täter/-innen gewonnen hat. Die Autorin gibt Einblicke in die geschlechtsspezifische Funktion des Familiengedächtnisses und beleuchtet den Zusammenhang zwischen wahrgenommener Täterschaft und Männlichkeit sowie einer entpolitisierten Mutterschaft und Weiblichkeit. In ihrem Beitrag Liebe Geschichte. Nationalsozialismus im Leben der Nachkommen von Täter/-innen präsentieren die Filmemacherinnen Jo Schmeiser und Simone Bader Ergebnisse aus ihrem Dokumentarfilm Liebe Geschichte. Dieser versammelt Interviews mit deutschen und österreichischen Frauen, die sich öffentlich und/oder wissenschaftlich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Familie auseinandergesetzt haben. Sie fragen nach dem individuellen Umgang der Frauen mit ihren Familiengeschichten und den Auswirkungen dieser auf ihre Biografien und ihre persönlichen Beziehungen. Ihr Beitrag zeigt ausgehend von den geführten Interviews individuelle Umgangsweisen mit tradierten Schamund Schuldgefühlen. Aus unterschiedlichen Perspektiven widmen sich die zwei folgenden Artikel der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sabine Grenz beschäftigt sich mit den Selbstzeugnissen von Frauen während und unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ihr Artikel »Davon haben wir nichts gewusst«? Artikulationen von Scham und Schuld in Tagebuchaufzeichnungen ›deutscher Frauen‹ am Ende des zweiten Weltkrieges wendet sich bislang noch wenig wissenschaftlich erschlossenen Tagebüchern als Quellen für die Auseinandersetzungen mit dem Wissen um die Verbrechen der Shoah zu. Aus biografiehistorischer Perspektive liefern diese einen intimen Einblick in die weibliche Lebenswelt der frühen deutschen Nachkriegsgesellschaft. Kathrin Hoffmann-Curtius untersucht in Deutsche Denkmalpolitiken nach 1945 Bildmuster für die Darstellung von Scham und Schuld und zeigt,

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dass der Diskurs über Helden und Opfer selbst die Bildwahl für den Aufstand im Warschauer Ghetto bestimmte. Unrecht, Verfolgung und Mord waren in Ost- und Westdeutschland zwar Teil der Reden, sind jedoch außerhalb der Konzentrationslager nur an dem Hamburger Denkmal auch abzulesen. Dargestellt werden niedergeschlagene oder aufstrebende Männerfiguren sowie Trauer und Trost in weiblicher Gestalt. Fokussierten diese beiden Artikel insbesondere Aushandlungen und Darstellungen der Scham, so steht in der folgenden Sektion mit dem Titel Weiblichkeit und nationalsozialistische Täterinnenschaft die Schuld im Mittelpunkt. Ljiljana Heise wendet sich in ihrem Artikel Verhandelte Schuld. Täterinnenschaft im ersten britischen Ravensbrück-Prozess 1946/47 den an Weiblichkeit gebundenen Vorstellungen von Verantwortung und Handlungsfähigkeit zu. Sie untersucht exemplarisch den ›Fall Greta Bösel‹ und zeichnet anhand von Gerichtsprotokollen und -akten deren Anklage und Verurteilung nach. Den medialen Verarbeitungen von Täterinnenschaft folgt Simone Erpel in ihrem Artikel »Der Krieg war verloren, die Unschuld verraten …« Die Feminisierung von NS-Täterschaft in dem Spielfilm »Gegen Ende der Nacht«. Anhand der Analyse dieser Fernsehproduktion weist sie, ausgehend von dem Befund, dass Scham und Schuld sowie Täter- und Opferpositionen geschlechtlich codiert und durch eine Liebesgeschichte in Szene gesetzt sind, die Bedeutung medialer Verarbeitungen von Geschichte für das kollektive Gedächtnis nach. Unter dem Titel Schuld und Sühne: Geschlechtercodes der Religionen sind Beiträge versammelt, die sich den theologisch situierten Metaphern und Bedeutungszuschreibungen von Scham und Schuld zuwenden. Die literarischen Manifestationen einer Neugewinnung von Männlichkeit durch die Annahme des christlichen Glaubens untersucht Björn Krondorfer in seinem Beitrag Männlichkeit und Selbstmitleid: Religiöse Rhetorik in Selbstzeugnissen von NS-Tätern, den wir nachträglich für unseren Band gewinnen konnten. Anhand der NS-Kriegsverbrecher Oswald Pohl, Robert Ley und Hans Frank und ihren Selbstzeugnissen legt Krondorfer dar, wie Männlichkeit durch die Übernahme christlicher Sühne wiederhergestellt wird, verantwortungsbewusste Anerkennung der Schuld für die begangenen Verbrechen hingegen nicht stattfindet. Naomi Shulman geht in ihrem Artikel Poetik der Verantwortung: Eine Analyse von Paul Celans Gedicht »Nah, im Aortenbogen« der Tradition der weiblichen Klage nach. Sie verhandelt insbesondere die Möglichkeit genealogischer Verantwortung in jüdischer Poesie und bringt so Aspekte jüdischer Theologie in den Band ein. Unter

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dem Titel »Mister Holocaust 1989« und die göttliche Gaia. Religiöse und soziale Scham in Alessandro Pipernos Roman »Con le peggiori intenzioni« (2005, 2006 auf deutsch unter dem Titel »Mit bösen Absichten« erschienen) geht Mirjam Bitter den religiösen Begriffen, die mit der Shoah und dem Liebesleben des Protagonisten verbunden werden, auf den Grund. Sie dienen hier der Beschreibung eines von Scham und Beschämung geprägten Verhältnisses zwischen einem jüdischen Nachkommen und einer Nichtjüdin. Tim Lörke fokussiert in seinem Artikel Geschlecht und Heilsgeschichte: Ulla Berkéwicz’ Roman »Engel sind schwarz und weiß« die darin vorgeführten Geschlechtszuschreibungen und stellt heraus, dass hier die Verbindung zwischen Opferstatus und Weiblichkeit die Grundbedingungen für das Erzählen der Shoah darstellen. Den Abschluss bilden zwei Beiträge, die sich mit imaginären Sexualitätsentwürfen und deren Wirkmächtigkeiten beschäftigen. Sebastian Winters Beitrag »Die Nazis, die war’n ja schlimmer wie die Juden!« Sexualitätsentwürfe als Medium von Kontinuität und Bruch zwischen Volksgemeinschaft und Nachkriegsgesellschaft verdeutlicht, wie sexuelle Scham in Feind- und Selbstbildern der NS-Zeit dargestellt und in der Nachkriegsgesellschaft transformiert wurde. Mit Fokus auf dem literarischen Blick, der den Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littell strukturiert, analysiert Birgit Dahlke in ihrem Aufsatz Nuda Veritas? Zum Effekt des Pornografischen in Jonathan Littells Roman »Les Bienveillantes« die pornografische Narration des Romans und zeigt dessen Beschämungspraktiken, die die Lesenden und den Protagonisten in ein Kollektiv zwingen. Nicht in unserem Band enthalten sind die Beiträge der Podiumsdiskussion, die den Abschluss der Tagung bildete und die interdisziplinären Zugänge zusammenführen sollte. Dies erwies sich als problematisch. Die Auseinandersetzung entfachte sich an der Ablehnung bzw. Beibehaltung der Begriffe ›Opfer‹ und ›Täter‹. Die Kritik stützte sich auf Ergebnisse feministischer Forschung zum Nationalsozialismus, aus denen hervorgeht, dass mit den Begrifflichkeiten ›Opfer‹ und ›Täter‹ an Geschlecht gebundene Setzungen verbunden sind, die eine kritische Erforschung des Nationalsozialismus erschweren, wenn nicht gar verhindern können (vgl. hierzu Eschebach/Jacobeit/Wenk 2002; Lanwerd/Stoehr 2007). Aus der Perspektive psychoanalytischer Forschung zu den Auswirkungen der Shoah bei Überlebenden und ihren Nachkommen wurde hingegen argumentiert, dass diese Begriffe unverzichtbar sind, um die Erfahrungen

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der Überlebenden von denen der Täter- und Mitläufer/-innen und ihrer Nachkommen abzugrenzen. Das Verdienst der feministischen Forschung ist es, eindrücklich darauf hinzuweisen, dass den Begriffen ›Opfer‹ und ›Täter‹ eine geschlechtliche Codierung eigen ist, die wirkmächtige Einschreibungen produziert, die die Auseinandersetzungen mit der Shoah prägen. Gleichwohl kann vor dem Hintergrund der Erfahrung der Shoah nicht auf diese Begriffe verzichtet werden. Im gesellschaftlichen Diskurs ist, verstärkt nach 1989, eine politisch motivierte Verwässerung dieser Begriffe zu beobachten, in der Täterund Opferkategorien verschwimmen. In der dominanten Erinnerungspolitik drohen gleichsam alle zu Opfern zu werden und der Zweite Weltkrieg erscheint als vom Nationalsozialismus bereinigt (Grünberg 2009).2 Auch wenn die Begrifflichkeiten von Opfer- und Täterschaft kritisch hinterfragt werden müssen, bleibt unanfechtbar, dass sich ›Auschwitz‹ nicht dekonstruieren lässt (vgl. Adamczak 2005). Den Ausführungen dieses Bandes folgend, wäre zu überlegen, inwiefern gerade bewusste und unbewusste Scham- und Schuldgefühle ein Bedürfnis nach dem Verschwinden der Opferkategorie hervorbringen. An den aufgeführten Auseinandersetzungen wird die Schwierigkeit des Anliegens unseres Bandes deutlich, beiden Ebenen der Betrachtung gerecht zu werden und diese miteinander zu verknüpfen. In diesem Sinne versteht sich dieser Band als Anstoß einer weiter zu führenden Diskussion zwischen den verschiedenen Forschungsbereichen. Dieses Buch ist im Kontext des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden. 2 | Nicht nur in der rechtsextremen Rede vom »Bombenholocaust«, sondern auch in renommierten wissenschaftlichen Werken findet sich eine zunehmende Begriffsaufweichung und -aneignung. So trägt etwa die mit dem Preis des deutschen Historikerverbandes ausgezeichnete Habilitationsschrift der Historikerin Svenja Goltermann den Titel »Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg« (2009). Die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges sind hier nicht die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, sondern die deutschen Soldaten und »Kriegsheimkehrer«. Allerdings ist diese Verdrehung kein neues Phänomen, wie u.a. Robert G. Moeller (2001) anhand der Auseinandersetzungen über den »Opferausgleich« in der frühen Bundesrepublik aufgezeigt hat.

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Unser besonderer Dank gilt Sven Glawion, auf dessen Idee die Konzeption der Tagung und ihr Titel zurückgehen. Außerdem danken wir Florian Kappeler, der gemeinsam mit Sven Glawion und uns die Konferenz im Weiteren konzipierte und organisierte. Darüber hinaus möchten wir uns ganz herzlich bei den Herausgeber/-innen der Reihe Gender Codes Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan sowie Viola Beckmann, der Koordinatorin des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie«, bedanken. Ohne ihre Unterstützung hätte dieses Projekt nicht umgesetzt werden können. Des Weiteren richtet sich unser Dank für das gründliche Endlektorat an Anja Michaelsen wie auch an die Kommission für Frauenförderung der Humboldt-Universität, deren finanzielle Unterstützung die Entlohnung dieser verantwortungsvollen Arbeit ermöglichte.

L ITER ATUR Adamczak, Bini (2005): »Antisemitismus dekonstruieren? Essentialismus und Antiessentialismus in queerer und antinationaler Politik«. In: A.G. Gender-Killer (Hg.), Antisemitismus und Geschlecht. Von »effeminierten Juden«, »maskulinisierten Jüdinnen« und anderen Geschlechterbildern, Münster: Unrast, S. 223-238. Braun, Christina von (2001): Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich, München: Pendo. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Eschebach, Insa/Jacobeit, Sigrid/Wenk, Silke (2002): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt a.M., New York: Campus. Goltermann, Svenja (2009): Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München: Deutsche Verlags-Anstalt. Grünberg, Kurt (2010): »Szenische Erinnerung der Shoah. Tradierung des Traumas an die nachfolgenden Generationen«. In: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (Hg.), Rezeptionen der Shoah und ihre Auswirkungen auf die Praxis, Konferenz vom 2.-5. November 2008, Frankfurt a.M.: ZWSt, S. 39-49. Hanitzsch, Konstanze (2006): »Schuld und Geschlecht. Strategien der Feminisierung der Shoah in der Literatur nach 1945«. In: Bulletin des

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Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterforschung der HU Berlin 17, S. 180-205. Landweer, Hilge (1999): Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen: Mohr Siebeck. Lanwerd, Susanne/Stöhr, Irene (2007): »Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren«. In: Johanna Gehmacher/Gabriela Hauch (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag, S. 22-68. Moeller, Robert G. (2001): »Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen. Kriegsgefangene, Vertriebene, NS-Verfolgte: Opferausgleich als Identitätspolitik«. In: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition, S. 29-58. Reiter, Margit (2006): Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck, Wien, Bozen: Studien Verlag. Schlink, Bernhard (1995): Der Vorleser, Zürich: Diogenes Verlag. Wachsmuth, Iris (2008): NS-Vergangenheit in Ost und West. Tradierung und Sozialisation, Berlin: Metropol.

F ILMVERZEICHNIS Der Vorleser (USA/Deutschland 2008), Regie: Stephen Daldry.

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Intergenerationelle Weitergabe von Scham und Schuld

Gefühlserbschaft und Geschlecht Überlegungen zur Struktur der generationenübergreifenden Folgewirkungen des Nationalsozialismus Jan Lohl

»Die unbewusste Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern ist letztlich nur sehr wenig erforscht.« Jean Laplanche, 2008

Vor etwa 100 Jahren spricht Sigmund Freud in seiner Schrift »Totem und Tabu« davon, dass es zwischen den Generationen »Gefühlserbschaften« gebe (1912/1913). Es war vor allem die psychoanalytische Arbeit mit Nachkommen von jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Massenmordes, die gezeigt hat, wie zutreffend diese Annahme ist: Die Kinder der Opfer leben »im Modus der Nachträglichkeit des Grauens, das ihre Eltern erlitten haben« (Schneider/Stillke/Leineweber 2000: 30). In psychoanalytischen Behandlungen zeigen sie Symptome, die von Menschen zu erwarten wären, die die Grausamkeit der Nazi–Verfolgung am eigenen Leib erfahren mussten. Seit Beginn der 1980er Jahre finden sich zunehmend auch Nachweise für spezifische Gefühlserbschaften bei Kindern von Tätern und Mitläufern.1 Wenn man sich näher mit diesen intergene1 | Hinsichtlich der intergenerationellen NS–Folgewirkungen in den Familien von Opfern und denen von Tätern oder Mitläufern nimmt Bohleber eine strukturelle Ähnlichkeit an (1997: 972). Diese geht aus dem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Älteren und Jüngeren hervor, das hinsichtlich seiner psychischen Struktur immer durch unbewusste Identifizierungsprozesse der Jüngeren charakterisiert ist. Nur vor diesem allgemeinen Hintergrund lässt sich von einer (eigentlich banalen) Ähnlichkeit der psychosozialen Struktur des intergenerationellen

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rationellen Auswirkungen des Nationalsozialismus beschäftigt, fallen zwei Punkte auf: Erstens wird in die Untersuchung dieser Auswirkungen eine Geschlechterperspektive bislang kaum und wenig systematisch einbezogen. Zweitens sind diese intergenerationellen Folgen aus einer solchen Perspektive genauer zu erkennen. Im Folgenden möchte ich zunächst die Entwicklung von Gefühlserbschaften im Generationenverhältnis darlegen, um deutlich zu machen, welches Phänomen aus einer Geschlechterperspektive zu differenzieren ist. Anschließend werde ich thematisieren, welche Bedeutung die Kategorie Geschlecht in verschiedenen Arbeiten zu den generationenübergreifenden Auswirkungen des Nationalsozialismus hat. Aus der Perspektive einer psychoanalytisch orientierten Generationenforschung interessieren mich hierbei folgende Fragen: Gibt es Gefühlserbschaften in männlicher und weiblicher Linie? Geben Nationalsozialistinnen ihr psychisches Erbe v.a. an ihre Töchter weiter, Nationalsozialisten an ihre Söhne? Identifizieren sich Frauen in ihren Gefühlserbschaften mit ihren Müttern, Männer mit ihren Vätern?

G ENER ATIONENÜBERGREIFENDE F OLGEN DES N ATIONALSOZIALISMUS AUF DER T ÄTERSEITE Unter der Frage Friede mit den Tätern? notiert der Historiker Brochhagen den von örtlichen Politikern unterstützten Protest im bayrischen Städtchen Landsberg am 7. Januar 1951. Der Protest richtet sich gegen die Todesstrafe für NS-Täter, die im örtlichen Kriegsverbrechergefängnis der Alliierten einsitzen. Diese einträchtige Demonstration wird durch etwa 300 Displaced Persons gestört, die der Opfer nationalsozialistischer Politik gedenken wollen. Es kommt zu Zwischenrufen: ›Nieder mit den Mördern!‹ rufen die Überlebenden – ›Juden raus!‹ die Landsberger. »Täter und Opfer des Nationalsozialismus […] stehen sich hier in Landsberg gegenüber. Die Täter sitzen hinter den Mauern des Landsberger Kriegsverbrechergefängnisses. Die Opfer […] fordern Trauer ein, Gedenken an die Opfer, während sich Politiker und Bevölkerung mit den Tätern solidarisieren.« (Brochhagen 1992: 145) Verhältnisses in Familien von Nationalsozialist/-innen und denen von Verfolgten sprechen.

G EFÜHLSERBSCHAFT UND G ESCHLECHT

Brochhagen zeigt, dass die Kriterien der Schuld, die von den alliierten Gerichten festgelegt wurden, der Mehrheit der Deutschen in den Nachkriegsjahrzehnten nicht zu vermitteln waren. Tatsächlich hat die Abwehr von Schuld2 eine Schlüsselstellung für das politisch-psychologische Potential in der postnationalsozialistischen Gesellschaft. Zu diesem Ergebnis kommen jedenfalls Theodor W. Adorno und Alexander und Margarete Mitscherlich in ihren Arbeiten »Schuld und Abwehr« (1955) bzw. »Die Unfähigkeit zu trauern« (1967). Beide Studien verweisen allerdings darauf, dass die Schuldabwehr nicht für sich allein betrachtet werden kann. Sie stehe in einem inneren Verhältnis zu dem Fortwirken jener psychischen Dynamik, die die Idealisierung Hitlers und die kollektiven Identifizierungen im Nationalsozialismus hervor getrieben hat: »Nach der subjektiven Seite, in der Psyche der Menschen, steigerte der Nationalsozialismus den kollektiven Narzissmus, schlicht gesagt: die nationale Eitelkeit ins Ungemessene. […] Dieser kollektive Narzissmus ist durch den Zusammenbruch des Hitlerregimes aufs schwerste geschädigt worden.«

Diese Schädigung haben sich die Einzelnen nicht bewusst gemacht. Für Adorno lässt dies »nur eine Folgerung offen: dass insgeheim unbewusst schwelend und darum besonders mächtig, jene [nationalsozialistischen, J.L.] Identifikationen und der kollektive Narzissmus gar nicht zerstört wurden, sondern fortbestehen« (Adorno 1959: 563).

2 | Diese Abwehr von Schuld richtet sich keineswegs auf neurotogene Schulderlebnisse, sondern auf reale »Schuld größten Stils« (Mitscherlich/Mitscherlich 1967: 31). Dementsprechend zeigt Adorno (1955), dass ein moralisches Missfallen am eigenen Ich ganz im Gegensatz zu einer psychogen motivierten Schuldabwehr die Voraussetzung für einen realitätsgerechten Umgang mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen ist. Aus dieser Perspektive ist eine verantwortungszentrierte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als sachlich angemessene Reaktion einzuschätzen und gerade nicht dessen Gegenteil: die oftmals geforderte Überwindung oder Bewältigung von Schuld. Es gilt daher nicht danach zu fragen, »ob, sondern wie mit dieser Schuld zu leben sei« (Schneider 1998: 40).

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Nach den Mitscherlichs ist das Fortwirken dieser Objektbindungen das Resultat der Vermeidung einer Melancholie, für die der Tod Hitlers die Voraussetzungen schafft. Der psychische Mechanismus, der diese Unfähigkeit zu einer melancholischen Reaktion hervortreibt, ist die Derealisierung der Vergangenheit: Hierbei werden jene Erinnerungsspuren, »die mit der Begeisterung am Dritten Reich, mit der Idealisierung des Führers und seiner Lehre und natürlich mit direkt kriminellen Akten zu tun haben« aus dem Bewusstsein der eigenen Geschichte entfernt (Mitscherlich/Mitscherlich 1967: 33). Die Mitscherlichs gehen davon aus, dass die Fähigkeit zu melancholischer Arbeit einer besonderen Form der Erinnerung bedarf, die die Wiederbelebung vergangener Affektdynamiken und Wünsche einschließt. Da die Derealisierung der Vergangenheit eine Sperrung gegen die Erinnerung der »Gefühlsbeteiligung an den jetzt verleugneten Vorgängen« des Nationalsozialismus erzeugt (Ebd.: 14), wird mit ihr bereits den »Anlässe[n] für Schuld, Trauer und Scham« ausgewichen (Ebd.: 39). Weil also viele Einzelne ihre affektive Integration in die imagined community der nationalsozialistischen ›Volksgemeinschaft‹ derealisieren, sind sie unfähig, ihre narzisstische Bindung an Hitler durch melancholische Arbeit aufzulösen. Die zentrale Konsequenz dieser Unfähigkeit zur Melancholie notieren die Mitscherlichs explizit allerdings nur in einer Fußnote: »Der Mangel an Trauerarbeit lässt ihn [Hitler, J.L.] als eingekapseltes psychisches Introjekt« im Ich weiterexistieren (Ebd.: 60). Was ist ein eingekapseltes Introjekt und welche psychische Dynamik ist mit ihm verbunden? Diese Fragen werden von den Mitscherlichs nicht metapsychologisch diskutiert. Aus der Perspektive der französischen Psychoanalytikerin Maria Torok lassen sie sich jedoch folgendermaßen in den Blick nehmen: Es sei geradezu die Bestimmung einer vermiedenen Melancholie, das verlorene Objekt »in all seiner Kostbarkeit zu bewahren – wenngleich im Unbewussten«. Dies vermag sich »dem Ich nur darzustellen […] im Bild des ›cadavre exquise‹, der irgendwo in ihm begraben liegt und dessen Fährte das Ich unablässig aufsucht in der Hoffnung, ihn eines Tages wieder zum Leben zu erwecken«, um die mit ihm verbundene alte narzisstische Lust neu zu genießen (Torok 1968: 510).3 3 | Anstelle eines »cadavre exquise« wird Torok in späteren Publikationen gemeinsam mit Abraham von einer »Krypta« sprechen; zur theoretischen Weiterentwicklung der Theorie von A. und M. Mitscherlich mittels des Ansatzes von Torok: vgl. Lohl 2008: 135 – 189.

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In diesem Sinn formuliert Adorno ein Ergebnis seiner Studie »Schuld und Abwehr« (1955): An das unbewusste Fortbestehen nationalsozialistischer Identifizierungen »wäre die Erwartung anzuschließen, dass der beschädigte kollektive Narzissmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greift, was […] im Bewusstsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzisstischen Wünschen bringt« (Adorno 1959: 564).

Die im Nationalsozialismus gebildeten narzisstischen Größenfantasien, die in der antisemitischen Feindbildung, der Judenverfolgung und -ermordung destruktiv realisiert wurden, bestehen als psychisches Potential, als Hoffnung fort. Die Abwehr einer verantwortungszentrierten Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist so gesehen ein psychischer Mechanismus derjenigen, die ihr narzisstisches Erleben von kollektiver Macht und Gewalt auch in der postnationalsozialistischen Gesellschaft unbewusst fortführen und schützen wollen und deshalb ihre Vergangenheit derealisieren, Schuld abwehren und Trauer vermeiden. Diese narzisstische Abwehr entfaltet sich auch in den Familien vieler Nationalsozialisten: »Viele Nazi-Eltern erwarteten ein gesteigertes Maß an Loyalität von ihren Kindern und missbrauchten sie zur Bestätigung ihrer alten Ideale […]. Unerträglicher Zweifel an den eigenen Idealen hätte zum Zusammenbruch, zur depressiven Entleerung und Selbstanklage geführt, wenn sie zugelassen worden wären. Eigene Schwäche und Versagen, nagender Zweifel und Schuldgefühle wurden projektiv in das Kind transportiert, dort deponiert und verachtet.« (Bohleber 1998: 261)

Als Eltern projizieren viele Nationalsozialisten jene negativen psychischen Anteile, wie z.B. Schuldgefühle auf ihre Kinder, die die Vermeidung einer Melancholie aufbrechen und die Hoffnung auf erneute narzisstische Gratifikation nach nationalsozialistischem Vorbild gefährden könnten. Auf diese Weise entwickelt sich eine solche emotionale Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, die sich aus jener unbewussten Repräsentanz von dem Kind speist, die die Eltern mit der Projektion ausbilden: Unbewusst repräsentieren die Kinder genau die negativen Eigenanteile der Eltern, die diese im Umgang mit ihrer Geschichte nicht wahrnehmen wollen, um

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ihren unbewussten kollektiven Narzissmus zu schützen. Das unbewusste Fortwirken des kollektiven Narzissmus mündet so in eine narzisstische Funktionalisierung der eigenen Kinder. Gerade weil die Kinder jene negativen Eigenanteile der Eltern repräsentieren, die diese bei ihrer narzisstischen Abwehr als potentiell verunreinigend, schuldvoll und kränkend empfinden, werden sie zu einem Objekt äußersten Misstrauens: Sie können die Eltern in deren Erleben, d.h. ohne es zu wissen, mit den projizierten negativen Anteilen konfrontieren und deren alte NS-Ideale in Frage stellen. Geschieht dies, entfalten sich den Kindern gegenüber Schuldabwehraggressionen: Nachgeborene erleben nach Rosenthal (1997) oftmals, dass sich die Vorfahren durch Fragen nach der Vergangenheit leicht provoziert fühlen und dabei auch mit Hass, körperlicher Gewalt oder ihrer Androhung reagieren. Elterliche Liebe hingegen ist gebunden an ein Verhalten der Kinder, das seitens der Eltern durch die narzisstischen Funktionalisierung mehr oder weniger vorherbestimmt wird. Wie geht nun das Kind mit der projizierten elterlichen Negativität um? Nach Bohleber (1997; 1998) steht die narzisstische Funktionalisierung der Kinder in einem Wechselverhältnis mit einer so genannten transgenerationellen Identifizierung, welche die Kinder als Reaktion auf die Projektion negativer elterlicher Anteile ausbilden. Eingebunden in die durch narzisstischen Hass und narzisstische Liebe regulierte Objektbeziehung der Eltern, verinnerlichen die Nachgeborenen jene psychische Dynamik, die den elterlichen Umgang mit ihrer Geschichte strukturiert. Mit einer transgenerationellen Identifizierung positionieren sie sich psychisch so in den elterlichen Abwehrformationen, dass ihr Ich gerade nicht zum Inbegriff der negativen Eigenanteile wird, die die Eltern während ihrer narzisstischen Abwehr projizieren und hassen. Die Identifizierung der Kinder richtet sich also weder auf die projizierten Anteile der Eltern noch auf die Elternpersonen. Viele Kinder von Tätern und Mitläufern sind mit der psychischen Logik der narzisstischen Abwehr der Eltern identifiziert. Sie entwickeln »einen ›inneren Sinn‹ für die elterlichen Abwehrformationen« und deren »unbewusste Idealbildungen« (Buchholz 1998: 330). Dieses emotionale Gespür markiert den Kern einer familiären Loyalitätsverpflichtung, die letztlich vom Über-Ich und dem Ich-Ideal der Nachgeborenen aus wirkt. Die Kinder erleben erst auf diesem Wege die fremde Schuld der Eltern nach, weil sie Schwierigkeiten haben, zwischen ihren eigenen

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moralischen Konflikten und denen der Eltern zu unterscheiden.4 Die mit diesem Phänomen verbundene Psychodynamik strukturiert die Wahrnehmung der Eltern und ihrer Geschichte: Kinder und Jugendliche haben in »der unmittelbaren Nachkriegszeit ihren Eltern die Frage ›Was habt ihr in der Nazizeit getan? Habt ihr Euch persönlich schuldig gemacht?‹ nicht oder kaum gestellt: Sie waren […] so mit ihnen identifiziert, dass die Frage nach einer möglichen Schuld unterblieb. […] Die Eltern wurden nicht als Täter wahrgenommen, sondern als unschuldige Opfer von Vertreibung, Gefangenschaft und Bombenkrieg.« (Schneider 1998: 31)

Ü BERLEGUNGEN ZUR STRUK TURIERENDEN B EDEUTUNG VON G ESCHLECHT IM INTERGENER ATIONELLEN P ROZESS Was für eine Bedeutung kommt nun der sozialen Kategorie Geschlecht sowohl für die Projektion negativer Eigenanteile der Eltern auf die Kinder, als auch für die transgenerationelle Identifizierung der Kinder mit den Abwehrformation der Eltern zu? Diese Frage ist in der psychoanalytisch orientierten Generationenforschung bislang nicht explizit thematisiert worden. Um ihr nachzugehen, werde ich im Folgenden die Studien von Koch-Wagner (2001) und von Schneider, Stillke, Leineweber (1996) betrachten, anhand derer sich eine geschlechtsspezifische Brechung des intergenerationellen Prozesses aufzeigen lässt. Zuvor allerdings möchte ich kurz auf das psychoanalytische Konzept des »Telescoping« eingehen (Faimberg 1987, 1993; Faimberg/Corel 1991). Mit diesem Konzept hat die Psychoanalytikerin Haydée Faimberg einen der wichtigsten Ansätze vorgelegt, mit dem sich Generationenverhältnisse metapsychologisch verstehen lassen. Ich möchte allerdings nicht das gesamte Konzept Faimbergs, sondern lediglich folgenden Aspekt thematisieren: Faimberg diskutiert die intergenerationelle Dynamik im Kontext der psychosexuellen Entwicklung des Kindes und weist hierbei der Kategorie Geschlecht eine wichtige Be-

4 | Auf die narzisstischen Dynamik der transgenerationellen Identifizierung kann ich hier leider nicht eingehen; vgl. dazu Lohl 2008: 294-307.

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deutung zu.5 Dieser Punkt wird in nahezu allen Arbeiten zu den generationenübergreifenden Folgewirkungen des Nationalsozialismus unterschlagen, die sich auf Faimberg beziehen.

Telescoping und narzisstische Zeit des Ödipus (Faimberg) Nach Faimberg kommt der transgenerationellen Identifizierung eine zentrale Bedeutung für den Umgang des Kindes mit seinen ödipalen Konflikten zu. Kinder bilden, so lässt sich die Hauptthese Faimbergs zusammenfassen, diese Identifizierung aus, um der ödipalen Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu entgehen. Wie ist dies zu verstehen? Das klassische psychoanalytische Modell des Ödipuskomplexes thematisiert die von Todes- und Inzestwünschen bestimmten Beziehungen des Kindes zu seinen Eltern. Faimberg belegt demgegenüber die Relevanz der Geschichten von Vater und Mutter für die ödipale Dynamik des Kindes, wobei sie unter diesen Geschichten primär die Geschichte der elterlichen Objektbeziehungen und des Begehrens der Eltern versteht. Die mit diesem Begehren und diesen Objektbeziehungen verbundene Dynamik tragen die Eltern nach Faimberg im Rahmen einer narzisstischen Funktionalisierung projektiv an ihr Kind heran. »What is transmitted is not always a content but essentially a narcissistic way of solving the conflicts. This means the parents transmit to their child the narcissistic functioning they used to solve their intrapsychic conflicts, including the oedipal ones.« (Faimberg 1993: 50)

Faimbergs Erweiterung der Theorie des Ödipuskomplexes bezieht sich auf den zuletzt genannten Punkt: Die Eltern projizieren auch solche unbewussten Aspekte auf ihr Kind, die der unbearbeiteten Dynamik ihrer infantilen Beziehung zu den eigenen Eltern entstammen. Anhand mehrerer klinischer Fallvignetten von Männern und Frauen weist Faimberg Folgendes nach: Kinder bilden mit einer transgenerationellen Identifizierung unbewusst eine psychische Repräsentanz vom Vater als Sohn des Großvaters 5 | Faimberg ist freilich nicht die Einzige, die eine intergenerationelle Dynamik mit den Themen Psychosexualität und Geschlecht in Verbindung bringt. Erwähnt werden müssen die Arbeiten von Dinora Pines (1986; 1993) und von Judith Kestenberg (1989).

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bzw. von der Mutter als Tochter der Großmutter aus. Eine Tochter z.B. erlebt dann ihre Mutter und sich selbst unbewusst »as if they were sisters before the only possible mother, […] the grandmother. The difference between generations has been blurred. There is a ›telescoping of generations‹.« (Ebd.: 60; Herv. i.O.)

Die Tochter positioniert sich mit einer transgenerationellen Identifizierung psychisch anstelle der Mutter in deren töchterlicher Beziehung zur Großmutter, um nicht mit ihr als potenterer Angehörigen einer älteren Generation um die sexuelle Beziehung zum Vater rivalisieren zu müssen. »Anstelle einer wirklichen ödipalen Rivalität haben wir es mit einem narzisstischen Kampf zwischen Zwillingen zu tun« (Faimberg/Corel 1991: 62). In der Beziehung von Sohn und Vater gibt es, wie Faimberg in mehreren Einzelfallstudien belegt, eine ähnliche Dynamik. Hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung von Geschlecht für den intergenerationellen Prozess ist am Ansatz von Faimberg festzuhalten, dass das Kind aufgrund seiner ödipalen Dynamik eine auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil gerichtete transgenerationelle Identifizierung ausbildet. Diese Identifizierung lässt im Unbewussten des Kindes also retrograd eine gleichgeschlechtliche weibliche oder männliche Linie entstehen, die bis zu Großvater oder Großmutter zurückreicht. Die außerordentlich dringliche Frage nach einer gegengeschlechtlichen Linie, die aus der negativen ödipalen Situation heraus entstehen könnte, stellt Faimberg leider nicht.

Gefühlserbschaften in weiblicher Linie (Koch-Wagner) Mit ihrer empirischen Studie »Gefühlserbschaften aus Kriegs- und Nazizeit« hat Gesa Koch-Wagner (2001) die wohl systematischste Arbeit zu Mutter-Tochter-Beziehungen aus einer transgenerationellen Perspektive vorgelegt.6 Koch-Wagner geht von folgender Annahme Gravenhorsts aus: Mütter und Töchter sprechen in ihren Familien eher über die Integration von Männern in den Nationalsozialismus und sparen dabei Frauengeschichten aus (Ebd.: 238). Vor diesem Hintergrund werden anhand von

6 | Ein Vorbild findet die Arbeit Koch-Wagners allerdings bei Reinke (1993) und bei Roberts (1994).

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15 qualitativen Interviews mit Frauen aus der Töchtergeneration »Gefühlserbschaften in weiblicher Linie« untersucht (Koch-Wagner 2003: 264). Koch-Wagner kommt zu dem Ergebnis, dass Mütter an ihre Töchter »Negativbotschaften« weitergeben (2001: 227). Unter dem Begriff der Negativbotschaft fasst Koch-Wagner ein metapsychologisch undifferenziertes sehr breites Spektrum an psychischen Phänomenen unterschiedlichster Provenienz. Dieses reicht von Kriegstraumatisierungen und den Folgen »chronischer Belastungen« von Frauen in den Nachkriegsjahrzehnten, über den Verlust der NS-Ideale bis hin zu Schuld- und Schamgefühlen (Ebd.: 262, vgl. ebd.: 261-263). Diese Negativbotschaften werden von der Mutter auf die Tochter projiziert und von dieser verinnerlicht. Die Struktur des von Koch-Wagner untersuchten intergenerationellen Weitergabeprozesses entspricht jenem Verhältnis, dass ich oben mit den Begriffen narzisstische Funktionalisierung und transgenerationelle Identifizierung beschrieben habe. Zu fragen ist allerdings danach, wie Koch-Wagner eigentlich zu der Annahme kommt, dass Mütter »Negativbotschaften« gerade an ihre Töchter weitergeben? Diese Einzigartigkeit der Mutter-Tochter-Beziehung kann Koch-Wagner empirisch nicht belegen, da sie ausschließlich Mutter-Tochter-Beziehungen untersucht hat. Hinsichtlich einer Differenzierung des intergenerationellen Weitergabeprozesses aus einer Geschlechterperspektive orientiert sie sich theoretisch an dem Ansatz von Nancy Chodorow (1978). Chodorow untersucht auf der Basis der Objektbeziehungstheorie geschlechtsspezifische Entwicklungsverläufe und unternimmt eine seinerzeit neuartige Konzeptualisierung der Mutter-Tochter-Beziehung. Hierbei geht sie davon aus, dass Frauen die primären Bezugspersonen von Kindern sind, was bei Söhnen und Töchtern zu völlig unterschiedlichen Konsequenzen führt. Rhode-Dachser fasst diese folgendermaßen zusammen: »Die Mutter-Sohn-Beziehung ist von Anfang an durch die geschlechtliche Verschiedenheit der Beteiligten geprägt. Das bedeutet, dass der Sohn von der Mutter v.a. als anderes Objekt bestätigt wird. […] Die Mutter-Tochter-Beziehung ist demgegenüber durch Ähnlichkeit bestimmt. Die Tochter wird von der Mutter eher als Erweiterung ihres Selbst erlebt und geliebt und weniger in ihrer Andersartigkeit bestimmt.« (Rohde-Dachser 1991: 259; Herv. i.O.)

Von dieser Struktur der Mutter-Tochter-Beziehung geht Koch-Wagner aus, wenn sie von einer Verstärkung intergenerationeller Weitergabemechanis-

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men »durch geschlechtsspezifische Besonderheiten« spricht (Koch-Wagner 2003: 250). Weil Mütter ihre Töchter angesichts ihrer geschlechtlichen Gleichheit eher als Erweiterung ihres Selbst wahrnehmen, seien sie – und nicht die Söhne – Objekt der projizierten negativen Anteile der Mutter.7 Drei der vier Frauen, die in der Studie ausführlich vorgestellt werden, haben einen Bruder, dessen Bedeutung als Sohn im intergenerationellen Prozess Koch-Wagner nicht gesondert thematisiert. Dafür hat sie gute – wissenschaftliche und politische – Gründe. Eine Untersuchung der Mutter-Sohn-Beziehung hätte schlicht einer ganz anderen Studie bedurft. Nachdenken lässt sich anhand der Arbeit von Koch-Wagner aber durchaus über Gefühlserbschaften in einer gegengeschlechtlichen Linie, die von der Mutter zum Sohn reicht. So diagnostiziert Koch-Wagner beispielsweise in einem Porträt den »mütterlichen Wunsch […] nach einem starken Jungen und einem angepassten Mädchen« (Koch-Wagner 2001: 136). Der Sohn lebte entsprechend dem mütterlichen Wunsch »die nationalsozialistischen Werte von körperliche Stärke […] in der Familie« vor (Ebd.: 157). In einem anderen Porträt wird deutlich, dass der Sohn deshalb das »Vorzeigekind« der Mutter war, weil er ihrem Bruder, einem »großen blonden, blauäugigen SS-Offizier«, am ähnlichsten sah. Die Tochter gilt der Mutter demgegenüber als »die Zarte, Kränkliche, Empfindliche, am Essen Mäkelnde« (Ebd.: 165f.). Auch wenn sich anhand dieser Beispiele keine generellen Aussagen treffen lassen, kann doch Folgendes vermutet werden: Die Mutter scheint aufgrund ihres Umgangs mit der NS-Vergangenheit Tochter und Sohn unterschiedlich zu erleben. Töchter werden mit Negativbotschaften überfrachtet und bekommen als Erweiterung des mütterlichen Selbst eine negative narzisstische Funktion für die Mütter. Die beiden von mir erwähnten Söhne werden vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Idealvorstellungen weitaus positiver erlebt, evtl. als Selbstobjekt der Mutter.8 Sollte 7 | Chodorow begreift Mutter-Tochter-Beziehungen – bei all ihrer Ambivalenz – als ein vorwiegend positives Verhältnis, während Koch-Wagner dieses durch mütterliche »Negativbotschaften« charakterisiert sieht. Dies widerspricht jedoch nicht der von Chodorow entlehnten Grundannahme der Strukturierung des intergenerationellen Prozesses durch die Gleichgeschlechtlichkeit von Mutter und Tochter. 8 | Wenn übrigens tatsächlich die Söhne von ihren Müttern aufgrund ihrer Gegengeschlechtlichkeit als anderes – positiv erlebtes – Objekt und die Töchter

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diese Annahme zutreffen, entsprächen die von Koch-Wagner untersuchten Gefühlserbschaften in weiblicher Linie nur einer – geschlechtsspezifischen – Hälfte jener intergenerationellen Auswirkungen des Nationalsozialismus, die von den Müttern ausgehen.

Projizierte Negativität der Väter (Schneider/Stillke/Leineweber) Dass Söhne und Töchter eine je spezifische Position im intergenerationellen Prozess haben, weisen Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leineweber (1996) in ihrer Arbeit »Das Erbe der Napola« nach. In dieser Studie wurden der Sozialisationsprozess an nationalsozialistischen Eliteinternaten und dessen intergenerationelle Folgen untersucht. Die Autor/-innen haben mehr als 40 Interviews mit Männern, die ein solches Internat besuchten, und mit deren Nachkommen geführt. Erkannt wurde unter anderem, dass die intergenerationellen Folgewirkungen einer Napola-Sozialisation geschlechtsspezifisch strukturiert sind. An den nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola) sollten männliche Kinder und Jugendliche zu überzeugten Nationalsozialisten erzogen und auf eine spätere Eliteposition in der nationalsozialistischen Gesellschaft vorbereitet werden. Ein entscheidender Aspekt der NapolaSozialisation und ihrer intergenerationellen Folgen ist das negative psychische Verhältnis der Schüler zu dem Idealbild des ›Napolaners‹, das in der Institution systematisch gefördert wurde. Dieses Ideal machte den Zöglingen ihr »eigenes Ungenügen, ihre Abweichung, ihre Negativität qualvoll deutlich« (Schneider/Stillke/Leineweber 1996: 325). Jeder Schüler erlebte in sich und an sich Aspekte, die dem aufgezwungenen Eliteideal geradezu widersprachen – sei es auf einer körperlichen, einer moralisch-ethischen, einer ideologischen oder einer narzisstischen Ebene.

aufgrund ihrer Gleichgeschlechtlichkeit als Objekt von Negativbotschaften erscheint, wäre es durchaus interessant, sich den intergenerationellen Prozess nicht aus der Perspektive Chodorows anzunähern, sondern aus der Perspektive Christiane Oliviers, nach der der Sohn für die Mutter zum hochgeschätzten Objekt wird, während die Tochter aufgrund ihrer Gleichgeschlechtlichkeit keine entsprechende Wertschätzung erfährt (Olivier 1980).

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»Die Napola-Schüler verspürten […] dies als Stigma der Unwürdigkeit, als drohenden Grund des Ausschlusses aus der Elitegemeinschaft […] mit dem sie im Anstaltsalltag immer wieder konfrontiert wurden. Jeder von ihnen hütete sein Geheimnis der Abweichung wie eine versteckte Schuld.« (Ebd.)

Überall dort, wo die Schüler in sich Eigenanteile von Schwäche, Kleinheit, Weichheit, … entdeckten, die dem Eliteideal widersprachen, waren sie bemüht, diese vor anderen und vor sich selbst zu verbergen. Was auf diese Weise systematisch erzeugt wurde, war eine »Hermeneutik des Selbstverdachts«, die den Blick der Anstalt in die Selbstbeobachtung und damit in das Über-Ich der Schüler überführte (Ebd.: 326). Für die Frage nach einer Strukturierung intergenerationeller Prozesse durch Geschlecht ist nun bedeutsam, dass alles Negative des Elite-Ideals assoziativ »mit dem Weiblichen in Verbindung« stand: der »Gefahr der Verweichlichung der Muttersöhne, Passivität und Krankheit, aber auch Homosexualität. […] Unvorstellbar blieb in diesem Napola-geprägten symbolischen Mikrokosmos nur eins: eine normal sich entwickelnde Weiblichkeit, ein Gegenüber, das ›anders‹ ist, ohne abnorm zu sein.« (Schneider/Stillke/Leineweber 1996: 330)

Vor diesem Hintergrund und der in der Napola beeinträchtigten adoleszenten Entwicklung des Sexualtriebes, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, entwickelte sich eine instabile Geschlechtsidentität: Nahezu jeder Napola-Zögling quälte sich mit der Frage, »ob er denn ein rechter Junge sei« (Schneider/Stillke/Leineweber 1996: 76). Noch für die Töchter und Söhne von Napola-Väter hatte hat dies Konsequenzen: »Most of our interviewees […] suffered from a problematical gender identity and traces of this education had an impact on their children an grandchildren.« In many cases there is a »distorted gender identity« transmitted through the generations (Kogan/Schneider 2002: 61). Das psychische Verhältnis von Elite–Ideal und seinem weiblich assoziierten Negativ hat also die Beziehung der Schüler zu ihren Kindern beeinflusst. Auch ehemalige ›Napolaner‹ projizieren als Väter negative Eigenanteile in ihre Kinder und versuchen diese als Potential des Kindes zu bekämpfen: Kinder geraten hierbei unter den nach außen gerichteten ›väterlichen Selbstverdacht‹, introjizieren diesen und befolgen seine Impera-

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tive wie einen Ich-fremden Zwang. Nur die Söhne aber wurden von ihren Vätern als reines – männliches – Abbild gesehen und sind deshalb seinem Selbstverdacht stärker ausgesetzt: »Die Söhne scheinen in ihrer Selbstreflexion geradezu fixiert auf die Väter. Sie wägen immer wieder Ähnlichkeit und Differenzen ab, als könnten sie damit niemals zu Ende kommen« (Ebd.: 332). Ihre Töchter machten die Väter zunächst ratlos, weil zu ihnen »das Napola-Erziehungsprogramm nicht [passte], dass in den Vätern bereitlag« (Ebd.: 330). Gerade dies allerdings gab der späteren Entwicklung der Vater-Tochter-Beziehung entscheidende Impulse. War die projizierte Negativität des Vaters für die Tochter mit einer bedrohlichen Entwertung ihrer Weiblichkeit verbunden, so wurde ihre Weiblichkeit in der weiteren Entwicklung für den Vater zum Medium einer »Beziehung, innerhalb derer sich das bedrohliche Negative der Napola als integrierbar erweisen könnte« (Ebd.: 327). Aufgrund ihrer Weiblichkeit wird die Beziehung zur Tochter dem Vater zum Vehikel einer möglichen Befreiung von seiner Negativität, die freilich gerade die Tochter – und nicht der Sohn – stellvertretend für ihn leisten soll.

F A ZIT UND A USBLICK Intergenerationelle Auswirkungen des Nationalsozialismus sind grundsätzlich bei Männern und Frauen zu finden, lassen sich jedoch durch die Einführung einer Geschlechterperspektive genauer erkennen. Hinsichtlich der eingangs gestellten Fragen ist festzuhalten, dass nicht einfach von Gefühlserbschaften in männlicher und weiblicher Linie gesprochen werden sollte. Die Bedeutungen von Geschlecht für intergenerationelle Prozesse lassen sich überhaupt nicht eindimensional abbilden: Einerseits geben Mutter und Vater ihr psychisches Erbe in vermutlich geschlechtsspezifischen Brechungen jeweils an männliche und weibliche Nachkommen weiter. Die intergenerationelle Weitergabe ist aber andererseits keineswegs ausschließlich eine einseitige Beeinflussung der Jüngeren durch die Älteren. Durch eine transgenerationelle Identifizierung verinnerlichen die Jüngeren das, was sie selbst angesichts ihrer Beziehung zu den Eltern und ihrer eigenen Bedürfnisse als nützlich erleben. Wiederholt sei daher, dass sich nach Faimberg eine transgenerationelle Identifizierung angesichts der ödipalen Situation des Kindes auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil richtet. Zu fragen wäre jedoch weiterführend dringlich nach einer gegen-

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geschlechtlichen transgenerationellen Identifizierung im Kontext der negativen ödipalen Konfiguration, die Faimberg unerwähnt lässt. Wie ist das Verhältnis des intergenerationellen Prozesses zum Geschlecht des Kindes abschließend einzuschätzen? Nach Koch-Wagner wird die Tochter aufgrund ihrer Gleichgeschlechtlichkeit Objekt der projizierten Negativität der Mutter. Die Wahrnehmung der sozusagen vorgefundenen Weiblichkeit der Tochter geht hierbei der Projektion von »Negativbotschaften« voraus. Schneider, Stillke, Leineweber hingegen zeigen, dass die Wahrnehmung des Geschlechts eines Kindes durch die Projektion des Vaters mitorganisiert wird, d.h. durch seine im Nationalsozialismus entwickelten Geschlechtsentwürfe. Die von ihm erlebte Weiblich- oder Männlichkeit seines Kindes existiert in ihrer ›endgültigen‹ Gestalt nicht vor, sondern aufgrund seiner projizierten Negativität: Seine besondere Kontur bekommt die Wahrnehmung des Kindes als männlich oder weiblich erst durch die Projektion der weiblich assoziierten Negativität des Vaters und seinem Umgang mit deren Folgen. Das Modell von Koch-Wagner reicht nicht aus, um dieses Phänomen zu fassen. Denn wenn in die auf das Kind gerichteten Geschlechtsentwürfe des Vaters seine projizierte Negativität unbewusst eingelagert ist, wäre es schlicht falsch, die Entwicklung dieser Entwürfe und die transgenerationelle Weitergabe getrennt zu betrachten. Für die weitere Untersuchung der Verwobenheit dieser Weitergabe mit der Zuschreibung von Geschlecht scheint mir v.a. der theoretische Ansatz des französischen Psychoanalytikers Jean Laplanche außerordentlich hilfreich: Denn nach Laplanche drängen in die »Zueignung von Gender« zum Kind rätselhafte Botschaften, die hinsichtlich der intergenerationellen Folgen z.B. der Napola-Sozialisation dem unbewussten nationalsozialistischen Erbe des Vaters entstammen und die aus Laplanches Perspektive vom Kind während seiner Triebentwicklung und der Bildung einer Geschlechtsidentität (durch Übersetzungen) bearbeitet werden (Laplanche 2008: 121). Die Zueignung von Gender und die Bildung von Gefühlserbschaften sind so gesehen zwei Aspekte ein- und desselben Prozesses, die überhaupt nicht getrennt betrachtet werden können.

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Generation der Scham? Eine Reanalyse sozialwissenschaftlicher Forschung zu Schuld- und Schamgefühlen in der dritten Generation der Täter/-innen Katharina Obens

Die Frage nach den Auswirkungen der NS-Vergangenheit auf die innerpsychischen Vorgänge der Enkelgeneration der Täter/- und Mitläufer/-innen1 in Deutschland beschäftigte in den 1990er Jahren deutsche Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler. Birgit Rommelspacher (1995), Konrad Brendler (1997) und Gabriele Rosenthal (1997/1999)2 arbeiteten in ihren Analysen mit Elementen psychoanalytischer Konzepte reflexiver Emotionen. Sie diagnostizierten übereinstimmend ein diffuses, teilweise unbewusstes Schuldgefühl, »das aber von einer Schuld nichts weiß« (Rommelspacher 1995: 12). Trotz der Verwendung von Versatzstücken aus dem Wissensarchiv Psychoanalyse fehlen jedoch Differenzierungen die1 | Die Begriffe Enkelgeneration oder dritten Generation (der Täter/-innen und Mitläufer/-innen) werden hier synonym gebraucht, eingedenk der Tatsache, dass der Begriff ›dritte Generation‹ ein Bestimmungsbegriff ist, der in der Arbeit mit den Überlebenden der Shoah entwickelt wurde und dort den durch die Shoah entstandenen »Bruch der Generationen« darstellt (vgl. Grünberg 2001), während er bei den Täter/-innen keine transgenerationelle Traumatisierung indiziert. In dieser Metaanalyse werden die Jahrgänge ab etwa 1960 bis 1989 zur »dritten Generation« − den Enkeln und Enkelinnen der Nazitäter/-innen, -mitläufer/-innen oder -zuschauer/-innen gerechnet. Eine Ausnahme bildet die Untersuchung von Birgit Rommelspacher, die die Jahrgänge ab 1957 in ihre Untersuchung mit einbezog. 2 | Hier 3. korrigierte Auflage 1999.

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ser Emotionen und der Hinweis auf Probleme bei der Verwendung dieser Konzepte in der sozialwissenschaftlichen Forschung.3 Gerade hinsichtlich der Folgen von Schuld in Familien sind diese Begriffskonfusionen ein Problem, denn sie leisten Mystifikationen im Forschungsgegenstand Vorschub. Dabei ist die komplexe Annahme, die nachgeborenen Deutschen litten unter unbewussten Schuldgefühlen, zu problematisieren. Sind die Schuldgefühle unbewusst, weil sie verdrängt wurden? Dieser These widersprechen die Psychoanalytikerinnen Gertrud Hardtmann (1992) und Judith Kestenberg (1995). Von ihnen wird das Schweigen über die Schuld nicht als Verdrängung, sondern als Abspaltung und Verleugnung verstanden, und die Weigerung zu sprechen muss nicht zwangsläufig aus Schuldgefühlen resultieren. Der vorliegende Artikel4 widmet sich der Reanalyse von 75 narrativen Interviews mit Mitgliedern der dritten Generation der Täter/- und Mitläufer/-innen in Deutschland (68 mit weiblichen, sieben mit männlichen Studierenden verschiedener Fachrichtungen). Dabei wird besonderer Wert auf die Differenzierung von Schuld- und Schamgefühlen gelegt. Mithilfe des Entwurfs der Philosophin Hilge Landweer (2001) werden speziell die von den untersuchten Autor/-innen vernachlässigten Schamgefühle präzisiert sowie Hinweise für die These, dass das Schamgefühl bei den Enkel/-innen der Täter/-innen die tragende Säule der generationsspezifischen Verleugnung darstellt, verfolgt. Erörtert werden sollen auch als ›weiblich‹ codierte Tradierungslinien der Selbsteinopferung5 in 3 | So differenzierte Sigmund Freud beispielsweise »irrationales« und nach einer realen Tat eintretendes Schuldgefühl und erklärte die Psychoanalyse für Letzteres nicht für zuständig: »Wenn man eine Schuldgefühl hat, nachdem man und weil man etwas verbrochen hat, so sollte man dieses Gefühl eher Reue nennen. Es bezieht sich nur auf eine Tat und setzt natürlich voraus, daß ein Gewissen, die Bereitschaft sich schuldig zu fühlen, bereits vor der Tat bestand. Die Psychoanalyse tut also recht daran, den Fall des Schuldgefühls aus Reue von diesen Erörterungen auszuschließen, so häufig er auch vorkommt und so groß seine praktische Bedeutung auch ist.« (Freud 1930a: 491, Hervorh. i.O.) 4 | Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine aktualisierte Kurzfassung meiner Diplomarbeit mit dem Titel »Trauma, Schuld oder Scham bei den Enkeln von NS-Tätern? − Eine Analyse der Forschung zu den psychischen Folgen von NSTäterschaft in den folgenden Generationen«, vorgelegt am 19.12.2005 an der Freien Universität Berlin. 5 | Zum Begriff der Selbsteinopferung vgl. Hanitzsch 2006.

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deutschen Familien, in der die Frau als ›Hüterin der Scham‹ aktiv an der Verschleierung der Familienvergangenheit teil hat. In der sozialwissenschaftlichen Forschung stand diese Betrachtungsweise hinter der ›männlich‹ konnotierten Auseinandersetzung mit der Schuld der Großväter lange Zeit zurück. Die Bedeutung von Geschlechterverhältnissen in der politischen Kultur, die Inszenierung von Männlichkeit als Täterschaft und Weiblichkeit als Mutterschaft/Opferschaft macht sich aber nicht nur in Gedenkstätten oder im öffentlichen Diskurs über das Gedenken und Erinnern bemerkbar (vgl. u.a. Messerschmidt 2002; Eschebach/Jacobeit/Wenk 2002), sondern wirkt nach wie vor in der Subjektkonstitution der Nachgeborenen und spiegelt sich heute beispielsweise in den Repräsentationen von KZ-Wächterinnen bei Jugendlichen wider (vgl. Obens/Geißler-Jagodzinski 2009). Ziel dieser sozialpsychologischen Metaanalyse ist es, emotionale Prozesse zu klären im Sinne einer Hoffnung auf Selbstreflexion und Aufdeckung möglicherweise noch bestehender unsichtbarer Loyalitäten.

S CHULD IST HISTORISCH − S CHAM GEGENWÄRTIG »Soziale Gefühle dienen als Basis von Sozialität und Normativität, als Sanktions- und Machttechnik«, schreibt Günter Burkart (Burkart 2007: 159). Aktuelle Ergebnisse zur emotionalen Codierung des autobiografischen Gedächtnisses (Markowitsch/Welzer 2005) oder zur historisch vermittelten Identitätsbildung (Kölbl 2004) machen deutlich, dass Emotionen uns maßgeblich zur Bewertung historischer Ereignisse dienen. Wenn den Nachgeborenen aber nur unaufgeklärte Schuld und Beschweigen zur emotionalen Deutung vorgegeben wird, kann dann folglich die Qualität dieser Emotionen auch nur diffus sein? Welche Konsequenzen für den Weltaufschluss hat die fälschlicherweise vorgenommene Deutung von Schamgefühlen als Schuldgefühle? Der Psychoanalytiker Léon Wurmser kritisiert, dass Konflikte unbefriedigend bearbeitet werden können, wenn »ein Schamproblem angegangen wird, als ob es ein Schuldproblem wäre [...]« (Wurmser 1987: 169). Die Qualität des Gefühls scheint demnach einen Unterschied für den Umgang mit der Erinnerung darzustellen. Der Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries (2007) und der Erziehungswissenschaftler Stephan Marks (2004) gehen davon aus, dass Scham bzw. deren Vermeidung bei Jugendlichen heute eine zentrale Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

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einnimmt: Dabei wird das Erinnern an die Shoah als narzisstische Kränkung der Täternachfahren interpretiert und davon ausgegangen, dass Jugendliche auf die pädagogischen Bemühungen der Holocaust-Education mit Schamabwehr reagieren. Die bei bereits antizipierter (angeblicher) Beschämung einsetzende Schamabwehr bietet dem Subjekt nicht die Möglichkeit sich mit der Schuld der Vorfahren auseinanderzusetzen; sie ist auch keine »psychogenetische Vorstufe und Voraussetzung« (Rensmann 1998: 238) für eine kritische Auseinandersetzung. Vielmehr deutet die Massivität der einsetzenden (Scham-)Abwehr zumindest bei einem nicht geringen Teil deutscher Jugendlicher – entgegen Theweleits Einschätzung von 1995 (vgl. Theweleit 1995: 33), deutsche Jugendliche würden einfach nicht wissen, wie das geht, sich schämen – auf die Existenz vom Schamgefühlen hin. Aber wofür schämen sich junge Deutsche? Ausgangspunkt dieser Betrachtung von Forschungsarbeiten aus den 1990er Jahren ist, dass in weiten Teilen der Literatur Schuld- und Schamgefühle nicht systematisch differenziert wurden und es dadurch zu einer Überbetonung von Schuldgefühlen bei den Nachgeborenen kam. Dies hat zur Folge, dass die subjektiven und gesellschaftlichen Funktionen dieser unterscheidbaren reflexiven Emotionen verkannt werden. In dem vorliegenden Artikel wird der These nachgegangen, dass es sich bei einer großen Anzahl der als Schuldgefühle der dritten Generation diagnostizierten Phänomene vielmehr um Schamgefühle handelt. Diese Emotion tritt nur situativ auf, hat eine kurze Verlaufsform, Solidarität oder Mitgefühl zum Ziel und verhindert durch die einsetzende Schamabwehr eine tiefer gehende Auseinandersetzung. Dass die Autoren die Scham nur am Rande thematisieren, hat nicht nur wissenschaftshistorische Gründe: Die Umdeklaration von Scham in Schuldgefühle kann das Ziel haben, die als passiv erlebte Scham abzuwehren. Indizien dafür sind auch in den Selbstreflexionen eines Pioniers auf diesem Forschungsgebiet zu finden: In einem Rückblick auf alte Forschungsarbeiten entdeckte der Psychologe Dan Bar-On, dass »eigentlich sehr viel über Scham gesprochen wird« (Bar-On 2007: 3).

Z UR U NTERSCHEIDUNG VON S CHULDGEFÜHL UND S CHAM Die Genese von Emotionen macht deutlich, dass sie sowohl in der Menschheitsgeschichte als auch in der individuellen Entwicklung eine Geschichte

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besitzen. Schuld- und Schamgefühle waren bei den Täter/-innen direkt nach 1945 offenbar noch sehr wenig verbreitet,6 durch eine veränderte Perspektive auf das Geschehene nahmen sie aber in den folgenden Jahren zu.7 Eine erschöpfende Untersuchung dieser sozialen Gefühle in historischer Perspektive steht allerdings noch aus. Seit zwanzig Jahren kann nun ein Erstarken der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den selbstbewertenden Emotionen beobachtet werden (vgl. Schuhrke 2001; Landweer 2007). Allerdings bringen nur wenige Autoren diese Wiederentdeckung mit der parallel verlaufenden Auseinandersetzung über die gesellschaftlichen Funktionen dieser Gefühle und ihre Bedeutung für das Nachdenken über die Shoah in Verbindung. Erst in jüngster Zeit rückte die Scham in den Blick.8 Während aber dem Schuldgefühl ein verhältnismäßig großer Stellenwert eingeräumt wird, ist die Scham oft nur zu einer Folge der Schuld deklassiert. Damit werden wichtige Differenzen dieser sozialen Gefühle negiert. So bezieht sich Scham auf ein »Bild des idealen Selbst«, Schuld hingegen auf einen »Kodex idealer Handlungen« (Wurmser 1990: 15). Schuldgefühle fokussieren die Verletzung des Anderen, während Schamgefühle auf Verletzung des Selbst hinweisen. Scham wird empfunden bei der Verletzung einer Norm, die man zumindest theoretisch anerkennt. Sie ist demzufolge in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Machtaspekten zu betrachten. Die Hauptwirkung der im Subjekt verankerten Macht existiert dabei weniger in akuter Scham als in Schamvermeidung. Phänomenologisch ist Schuldgefühl durch eine intensive Spannung und eine Oszillation zwischen Aktivierung (Wiedergutmachung, Sühne) und Passivierung (Erschrecken über eigenes Verhalten) gekennzeichnet. Scham aber lähmt vollständig. Zusammenfassend wird Schuld als ›nagend‹ beschrieben, bis Sühne sie abträgt, Scham hingegen überschwemmt das Individuum, ist aber schnell vorbei. Sie ist durch eine Unterwerfungsneigung charakterisiert. In beschämenden Situationen nimmt sich das Subjekt zurück, die

6 | Vgl. Pollock 1955; Mitscherlich und Mitscherlich 1967; Padover 1999; Dreitzel 2001: 300; König 2001: 135. 7 | Als These für diese Behauptung führt Dreitzel den zunehmenden »Blick von außen« durch die Auswirkungen der Reeducation durch die Besatzungsmächte ein, vgl. Dreitzel 2001. 8 | Vgl. u.a. Wurmser 1986; Neckel 1991; Seidler [2001] 1995, Hilgers [1997] 1996; Landweer 1999; Marks 2004, 2007; Bar-On 2004.

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Anderen sind in solch einer Situation dafür verantwortlich, die Ordnung wiederherzustellen (vgl. Landweer 2001)9 .

D ARSTELLUNG UND K RITIK DER UNTERSUCHTEN S TUDIEN Das Forschungsprojekt von Birgit Rommelspacher et al.: »Schuldlos − Schuldig?« Die Befragung des Teams von Birgit Rommelspacher fand 1989 bis 1992 im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin statt. Rommelspacher diagnostizierte, dass aufgrund der nachhaltigen Verdrängung der Verbrechen eine Komplizenschaft mit den Ahnen entsteht, die ein »diffuses Schuldgefühl hinterläßt, das aber von einer Schuld nichts weiß« (Rommelspacher 1995: 12). Interessanterweise fragte sie dezidiert nicht nur, ob die Betreffenden ihre Verwandten als schuldig an den NS-Verbrechen wahrnehmen, sondern auch danach, ob sie sich selbst für schuldig halten. Demzufolge halten sie ihre Eltern für unschuldig, belasten aber sich selbst (Ebd.: 94). Rommelspacher legt dies als willentliche Dekontextualisierung der Schuld aus. Viele Befragte fühlen sich demnach überfordert, aufgrund des zeitlichen Abstandes die Schuld ihrer Vorfahren einzuschätzen und schreiben sie sich selbst zu. Dort wird sie inhaltsleer und sie selbst zu »unschuldigen Schuldigen« (Ebd.: 96). Birgit Rommelspacher schreibt: »Die Zeit der Scham ist wohl vorbei« (Ebd.: 35) und meint damit das in ihrer Untersuchung durchscheinende, prägende ›Generationsereignis‹ – die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. In dieser Zeit macht sie interessante Beobachtungen zum Schamgefühl der befragten 50 jungen 9 | Dabei ist das Gefühl der Peinlichkeit, nach Hilge Landweer durch leibliche Anwesenheit von Publikum charakterisiert und vergeht schnell (vgl. Landweer 2001: 290). Die moralische Scham hingegen tritt paradigmatisch mit Schuldgefühlen auf. Bei der Mit-Scham müssen drei Bedingungen erfüllt sein: man muss sich mit den anderen Subjekten »besonders verbunden fühlen«, »objektiv mit ihnen identifizierbar« sein durch Gruppe oder Verwandtschaft oder sich selbst eine besondere Situationsverantwortung zuschreiben (vgl. Landweer 2001: 287f.). Schließlich ist die stellvertretende Scham dadurch gekennzeichnet, dass man sich für jemanden schämt, der sich nicht schämt (vgl. ebd.: 287).

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Frauen: Den Begriff Scham verwendet sie dabei selten, spricht vielmehr von Peinlichkeit. Sie beschreibt, dass die Übermacht der stereotypen Bilder über Jüdinnen und Juden und die vergleichsweise wenigen Realerfahrungen Begegnungen zu einer peinlichen und verkrampften Situation machen (vgl. ebd.: 61). Sie stellt die lähmende Qualität von Scham anhand eines Falles dar: Die Befragte, deren Mutter zuvor mit einem SS-Mann verheiratet war, hat dies der Mutter gegenüber nie angesprochen. Rommelspacher deutet: »Die Tochter nimmt also die Scham der Mutter vorweg und schützt sie letztlich auch damit.« (Ebd.: 85) Die subjektiven Funktionen der hier wirkenden stellvertretenden Scham der Tochter für die Mutter ist dementsprechend ein wirksamer Schutz vor der Vergangenheit. Rommelspachers These ist, dass es zu einer unbewussten Schuldübernahme (vgl. ebd.: 95) durch die Übernahme der elterlichen Abwehrstrategie kommt. Eine Befragte erzählt, sie habe vielleicht auch die Schuld ihres Vaters empfunden, sie könne diese aber nicht benennen. Rommelspacher ist sich unsicher, ob sie dieses Gefühl als Schuld- oder Schamgefühl klassifizieren soll und schreibt: »Wofür fühlt sie sich schuldig? Daß ihr Vater schuldig wurde? Das wäre ein Konzept der Erbschuld oder Sippenhaftung. Oder fühlt sie sich schuldig dafür, daß der Vater die Schuld nicht auf sich nimmt? Dies ginge mehr in Richtung Scham, sie schämt sich für so einen Vater. Oder aber fühlt sie sich schuldig, daß sie ihn nicht beschuldigt? Das würde allerdings auf eine eigene Schuld verweisen. Möglicherweise alles zusammen.« (Ebd.: 94)

Neben dem verbreiteten Erbschuldgedanken wird hier also noch etwas anderes deutlich: Es ist diffizil, Schuld- und Schamgefühl zu unterscheiden, für die Bewertung der Schuld durch die Nachgeborenen scheint das aber einen Unterschied darzustellen. Letztlich thematisiert Rommelspacher den Zusammenhang von Schuld und Scham in der Delegation der Moral auf die Opfer und ihre Nachkommen und beschreibt die Folgen dieser Fixierung als verheerend: »Respekt, Scheu und Angst vor ihnen auf der einen Seite, unterdrückte Wut auf der anderen, da eine solche kindliche Abhängigkeit beschämt. Diese Kränkung soll wiederum abgewehrt werden, indem mit allen Mitteln versucht wird, diese Instanz zu demontieren.« (Ebd.: 45)

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Neben einer Idealisierung findet auch eine Entwertung statt, die versucht, das Gegenüber als unmoralisch zu kategorisieren. Für dieses Verhalten gibt es in allen Untersuchungen zahlreiche Beispiele. Eine Befragte der Rommelspacher-Studie schildert Israelis im Konflikt mit den Palästinensern als »eben so schlimm wie Nazis« (Ebd.: 47). Jüdinnen und Juden seien nach dieser Denkformation ständig damit beschäftigt, die Schuld der Deutschen aufzudecken, seien nachtragend und rachsüchtig. Sie stellt fest, dass allein die Erinnerung an den Nationalsozialismus als eine Art von Racheakt empfunden wird, gegen den man sich wehren muss (vgl. ebd.: 46); ein Phänomen, das in der Literatur vielfach beschrieben wird (vgl. Rosenthal 1998; Hardtmann 1992). Deutlich wird, dass Scham ein Machtfeld konstituiert und es Jüdinnen und Juden übelgenommen wird, wenn sie sich der Schamvermeidung der Täter/-innennachfahren widersetzen. Wird nicht entschuldet, wird dem Scham-Zeugen seine moralische Kompetenz zur Beurteilung des eigenen Verhaltens abgesprochen. Gerade in dieser Entwertung des Scham-Zeugen ist demnach die Dialektik von Scham und Verachtung beobachtbar (vgl. Wurmser 2007: 24). Meine Vermutung ist daher, dass Rommelspachers Aussage »Die Zeit der Scham ist wohl vorbei« vielmehr eine Beobachtung der aggressiver werdenden Beschämungsstrategien aufgrund narzisstischer Größenphantasien nach der deutschen Wiedervereinigung darstellt denn eine reale Abnahme von Schamgefühlen.

Die Studie von Dan Bar-On, Konrad Brendler und A. Paul Hare (Hg.): »Da ist etwas kaputtgegangen an den Wurzeln« Die hier reanalysierten Auswertungen von 22 narrativen Interviews, die Konrad Brendler und sein Team 1990 durchführten, fokussieren neben dem familiären Dialog einen anderen Aspekt der Konfrontation mit den NS-Verbrechen: Er analysierte den schockierenden Moment der NS-Vermittlung im Schulunterricht und attestierte den Interviewten ein Trauma als Folge der »schockhaften Überstimulierung«.10 Der Sozialwissenschaft10 | Er schreibt, dass: »[...] die Konfrontation mit den Verbrechen ihrer Vorfahren und den Zeugnissen der Menschenvernichtung in der NS-Zeit im Sozialisationsprozeß von Heranwachsenden eine krisenhafte Situation ist, die auf die Psyche junger Menschen traumatisierend wirken kann« (Brendler 1997: 53, Hervorh. K.O.).

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ler Stephan Marks merkt dazu an, dass es zur Tradierung der »deutschen Scham« vielmehr über den Schulunterricht als über die Familien gekommen sei (vgl. Marks 2007: 116). Aus diesem Grund sind die Studienergebnisse von besonderem Interesse. Bei genauerem Hinsehen attestiert Brendler aber nur sieben der 22 Befragten ein narzisstisches und existentielles Trauma (vgl. Brendler 1997: 69). Dieses ›Trauma‹ definiert sich nach Brendler als eine »Traumatisierung des Identitätsgefühls«, bei dem die als schuldhaft empfundene Identität als Deutscher wie ein »Identitätsschatten« (Ebd.) wahrgenommen wird und die Betreffenden entwertet. Was aber ist ein Identitätsschatten anderes als Scham? Wird hier eine als schuldhaft wahrgenommene kollektive Identität bereits als Traumaanzeichen gedeutet? Hinweise für meine These, dass die Schamangst bei den Enkel/-innen der Täter/-innen die tragende Säule der generationsspezifischen Verleugnung darstellt, lassen sich bei Brendler zahlreich finden. Im quantitativen Teil der Studie ist der Prozentsatz der jungen Deutschen, die sich ihrer Herkunft schämen, wenn der Massenmord zur Sprache kommt, mit 65 Prozent erheblich höher, als die derjenigen, die Schuldgefühle empfinden (41 Prozent). Zusätzlich fühlen 50 Prozent der Befragten sich »irgendwie gelähmt« (Ebd.: 54), wobei Scham lähmende Qualität11 zugesprochen wird. Nicht zuletzt definiert Brendler selbst die bei den Interviewten anzutreffenden Mystifikationen des Nationalsozialismus als raffinierte Abwehr der Schamangst (vgl. ebd.: 72). Selbsterklärungen der Befragten für Schamaffekte gestalten sich nach Brendler derart: »Da kommt mir jetzt so der Gedanke, daß unser Schämen für unser Deutschsein vielleicht daher resultiert, daß wir vielleicht so Strukturen in uns tragen, unbewußte und uns für die schämen. Das ist es vielleicht: Diese Angst, auf Strukturen angesprochen zu werden, die ich nicht entdecken kann, die ich nicht will.« (Ebd.: 73, Hervorh. K.O.)

Leider widmet sich Brendler nicht weiter diesem aufschlussreichen Zitat und deutet wiederum lediglich auf Scham hinweisende Identitätsirritationen. Was er übersieht, ist die vorgenommene Akzentuierung der unbewussten Tradierung durch die Befragte, ihre Anspielung auf tiefenpsychologische Konzeptualisierungen und ihre Angst vor Konfrontation. An 11 | Im Sinne von Passivierung, eigener Einopferung statt Reparationswillen.

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dieser Stelle wird deutlich, dass ein verkürztes Verständnis psychoanalytischer Konzeptionen weiteren Mystifikationen Vorschub leisten könnte. Brendler attestiert nur wenigen der Studierenden ein gelungenes Durcharbeiten ihrer Abwehr, das »Beschämungsangst und Bloßstellungsphantasien« verschwinden lassen soll (Ebd.: 78). Bemerkenswert ist, dass die von Brendler vorgefundenen Schuldgefühle von ihm auf eine unzureichende Abgrenzung von der Tätergeneration zurückgeführt, aber als ›irrational‹ bezeichnet werden, weil sie nicht durch eigenes Verhalten begründet werden können. Jedoch gehen diese ›irrationalen Schuldgefühle‹ »[...] oft mit larmoyantem Selbstmitleid, potenzierter Beschämbarkeit, moralischer Erpreßbarkeit und ohnmächtiger Wut einher, die in zerstörerische Aggression gegen faktische oder potentielle Beschämer umschlagen kann.« (Ebd.: 55, Hervorh. K.O.)

Die hier festgestellten Schuldgefühle sind demnach eng an Beschämbarkeit gekoppelt und der Analyse Brendlers ist es zu verdanken, dass auch die narzisstische Verletzbarkeit thematisiert wird. Jedoch sind Schamkonflikte als narzisstische Konflikte anzusehen – sie kreisen um Macht und Ohnmacht. Die Überbetonung einer möglichen ›Traumatisierung‹12 bewirkt, dass die intensiv wirkende Schamabwehr – die sich gleichfalls als Verletzung des Selbst darstellt – nicht den Stellenwert bekommt, den sie (dem wiedergegebenen empirischen Material nach zu urteilen) verdient. Trotzdem ist Brendler eine Analyse des gesamten Spektrums der auf den Nationalsozialismus und die Shoah bezogenen Emotionen der dritten Generation gelungen und seine Frage »Warum ist die moralische Aufarbeitung bei den meisten Jugendlichen nicht über die Verinnerlichung fragiler Verhaltenstabus hinausgekommen?« (Ebd.: 94), lässt sich vielleicht aus heutiger Perspektive mit der Vehemenz der Schamabwehr beantworten, zu der er beobachtet: »Einige kämpfen vehement gegen die Erinnerung und die Konsequenzen der Vergangenheit. Statt aus dem Versagen der Vorfahren moralische Impulse für ihre

12 | Hier drängt sich die Frage auf, warum Brendler nicht zumindest den Begriff der ›Schockierung‹ benutzt, um diese Erlebnisse von den Traumata der Opferseite abzugrenzen.

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persönliche Lebensgestaltung zu gewinnen, investieren sie Lebensenergie für die Abwehr der Schatten ihrer kollektiven Identität.« (Ebd.: 93f.)

Das Forschungsprojekt von Gabriele Rosenthal et al.: »Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern« Die Untersuchung des Teams von Gabriele Rosenthal wurde als komparative Studie zwischen jüdischen und nichtjüdischen deutschen Familien in der BRD und Israel konzipiert und beinhaltete Fallstudien von DreiGenerationen-Familien. In der Reanalyse werden die Ergebnisse zu drei Täterenkel/-innen untersucht, die bezeichnenderweise alle psychisch beeinträchtigt waren. Uli Sonntag ist als schizophren diagnostiziert (vgl. auch Rosenthal 1998: 72), hat Ängste vor Feuer und Neonazis sowie allgemeine Verfolgungsängste (vgl. Rosenthal [1997] 1999: 372). Silke Sonntag, die ein Jahr nach dem Interview, nach Abschluss ihres Geschichtsstudiums Suizid verübte, wirkt auf Rosenthal verwirrt und vergesslich. Petra Seewald wird ebenfalls als fragil beschrieben. Rosenthal sagt aus, sie wirke sehr unsicher, stottere und leide unter Ängsten (vgl. Rosenthal [1997] 1999: 396ff.). Zusammenfassend schreibt sie, dass die Enkel mit »Schuldgefühlen kämpfen müssen, denen die Großelterngeneration ausgewichen ist« (Ebd.: 354). Rosenthal vermutet, die Nachgeborenen, d.h. der Täter und Opfer »leiden an der diffus vermittelten Vergangenheit« (Ebd.: 421). Oberflächlich betrachtet beschäftigt sich ihre Analyse nicht mit den Schamgefühlen der Nachgeborenen. Rosenthal identifiziert aber die Leerstelle weiblicher Täterschaft, die Rolle der Großmütter beim Verschleiern der Familienvergangenheit und übersieht auch nicht, dass die Enkelinnen beider Familien sich stark mit ihren Großmüttern identifizieren und versuchen »die Familiengeschichte als Opfergeschichte zu reinterpretieren« (Ebd.: 355). Die geschlechtsstereotypische Identifizierung der Enkelinnen mit ihren Großmüttern wirkt sich aber in der dritten Generation als anhaltende Selbstviktimisierung aus. Die Rolle der Scham, die das Verhüllen der Familienvergangenheit bewirkt, wird jedoch aus der Analyse der dritten Generation ausgeblendet. Sie verschwindet hinter der Psychopathologie des Enkels Uli. Das auffällige Satzabbrechen, Schweigen und die Datenkonfusion von Silke Sonntag wird nicht als Schamanzeichen gedeutet. Durch diesen blinden Fleck wird aber die Funktion der Scham insbesonde-

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re bei den Enkel/-innen der Täter und Täterinnen als weiterhin wirksamer Schutz vor der schuldigen Vergangenheit weiter verschwiegen. Dementsprechend wirken die interviewten Enkel/-innen fragil und zerbrechlich und dadurch unschuldig und harmlos. Ausführlich widmet sich Rosenthal nur dem männlichen Interviewten Uli Sonntag, der als ›Wiedergutmachung‹ für die Taten seines Großvaters zum Zivildienst bei Aktion Sühnezeichen nach Frankreich ging. In seiner Phantasie nimmt das Verbrennen von Leichen – sein Großvater war vermutlich an der Konstruktion von Verbrennungsöfen beteiligt – einen großen Platz ein. Rosenthal schreibt: »Unter anderem meint er zum Scheiterhaufen in Stutthof: ›Wo ich mir auch nicht ganz sicher bin, ob sie da nicht auch Leute drauf geschmissen haben, die noch ein bißchen gelebt haben.‹ Dabei erschrickt er, wie an so vielen anderen Stellen im Gespräch über seine Formulierung ›ein bißchen gelebt‹ und meint, daß er manchmal bei diesem Thema schon gelacht habe. Sein Verhalten erklärt er sich mit der ›Groteskheit› dieser Situationen, in denen nichts mehr normal gelaufen sei, und reflektierte seine Gefühle, die ihn ängstigten: ›Wenn ich darüber nachdenke, ja das ist jetzt das Schlimmste dabei (4), also dann spüre ich ein Interesse daran, wie es zu so einer Situation − wie − (2) ein Interesse an dieser GROTESKHEIT (2) es ist SCHLIMM‹. [...] An dieser Stelle [weil er sich bei der Aussage beinahe mit seinem Feuerzeug verbrannte, mit dem er herumspielte, K.O.] meint die Interviewerin zu ihm: ›Willst dich aber nicht selbst bestrafen‹. Er antwortete: Nein, manchmal ja.‹ Ohne weitere Pause − die er sonst häufig und vor allem auffallend lange macht − erzählt er daraufhin über eine Begegnung mit jungen Israelis und sagt: ›ganz komisches − also − (1) anders gegenübergetreten bin, weil ich wußte, sie sind Juden.‹« (Rosenthal 1999: 372f., Hervorh. i.O.)

Rosenthal greift den engen zeitlichen Zusammenhang der Verbrennungsthematik und der Begegnung mit den jungen Israelis in ihrer Interpretation durchaus auf. Sie übersieht aber den Schamgehalt der Äußerungen. Dieser wird besonders in der als »komisch« wahrgenommen Begegnung mit den Israelis, bei der er ihnen »anders« gegenübertrat, aber auch in den als unpassend eingeschätzten Äußerungen und dem verlegenen Lachen aufgrund seines ›groteskes Interesses‹ an den Details der Vernichtung deutlich.

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A DRESSATEN DER S CHAM Wenn nun die Adressaten und Momente, in denen Schuld- oder Schamaffekte auftreten, zur Beurteilung der Qualität von reflexiven Emotionen von Bedeutung sind, ist es dann nicht bedeutsam aufzuklären, in welchen Situationen sich Enkel/-innen von NS-Täter/-innen überhaupt schämen? Besonders bei Scham ist demnach ein plötzlicher Perspektivenwechsel notwendig. Zumindest implizit muss angenommen werden, dass es andere relevante Personen gibt, die bewerten, was passiert. Dieser plötzliche Perspektivenwechsel kann beispielsweise im Ausland eintreten. Und dies, obwohl man dort vielleicht gar nicht ›schief‹ angesehen wird, sondern nur, weil man sich nicht in einer deutschen Wir-Gruppe aufhält und sichtbar wird unter den Blicken der Anderen. Über dieses Phänomen berichtet Rommelspacher insbesondere im Zusammenhang mit Reisen nach Israel, wo sich einige Interviewpartnerinnen nicht trauten, in der Öffentlichkeit deutsch zu reden (Rommelspacher 1995: 54). Auch Brendler beschreibt Schamgefühle im Ausland, erkennt aber, dass die Reaktionen auf ihr Deutsch-Sein im Ausland von den Betreffenden unrealistisch überspitzt wurden, und eher als Resultate eigener Beschämungsphantasien anzusehen sind (vgl. Brendler 1997: 74). Ein ausgeprägtes Schamverhalten ist nach Brendler bei der größten Teilgruppe seiner Befragten anzutreffen, die sich besonders im Ausland aufgrund ihrer Nationalität schämen. Eine Befragte sagt: »Ich hab‘ mich als Deutsche immer unwohl gefühlt – diese Momente, wo ich mich schäme, Deutscher zu sein. [...] Ich schäme mich eigentlich permanent dafür, was passiert ist.« (Ebd.: 73) Brendler selbst verwendet gehäuft das Wort Makel und Stigma. So schämt sich ein Befragter für den Makel deutsch zu sein und sagt: »Ich möchte den Makel vom Deutsch-Sein weghaben, weil das auch eine Diskriminierung ist.« (Ebd.: 74) Grundsätzlich lässt sich also feststellen, dass in den meisten Untersuchungen Unsicherheit oder Verkrampftheit im Umgang mit Jüdinnen und Juden, Überlebenden der Shoah oder Migrant/-innen als Indiz für unbewusste Schuldgefühle gedeutet werden (vgl. Rommelspacher 1995: 61; Brendler 1997: 67; Rosenthal 1999: 373). Rosenthal berichtet, dass bei den Enkel/-innen eine völlige Meidung des Begriffs »Juden« vorherrscht (vgl. Rosenthal 1999: 349). Brendler deutet eine starke Tendenz zu unbewussten Schuldgefühlen aus der Tatsache, dass Empfindlichkeiten der Opfer des NS nicht akzeptiert oder gar wahrgenommen werden (vgl. Brendler 1997: 67). Während das Schuldgefühl aber permanent bedrängend wirkt,

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entsteht das Gefühl der Scham erst in der Interaktion mit dem Scham-Zeugen. Zudem kommen andere Möglichkeiten für die fehlende Empathie wie Schamabwehr, latenter Antisemitismus oder Interesselosigkeit in diesen Untersuchungen nicht zum Tragen. Was dadurch vernachlässigt wird, sind die Folgen von Scham, die als Lernhindernis oder als Hindernis für Kontakte mit Jüdinnen und Juden wirken können, weil aus Selbstbezogenheit die Verletzung des Selbst anstatt die Verletzung des Anderen thematisiert wird. Und an dieser Stelle wird wieder der Einfluss des familiären und gesellschaftlichen Diskurses wahrnehmbar: Wenn die Täter/-innengeneration von vornherein jegliche Schuld von sich weist, so gilt in der Enkel/- und Urenkel/-innengeneration dasselbe für die antizipierte Beschämung.13 Anstatt sich dieses interessanten Sachverhalts anzunehmen, tendieren zumindest die komparatistischen Studien (vgl. Rosenthal 1997, Brendler 1997) zu einer Pathologisierung der Täter/-innenenkel. Diese Analogisierung ist meiner Ansicht nach auf dem Hintergrund der vergleichend angelegten Untersuchung mit den Enkel/-innen von Überlebenden zustande gekommen und auch aus diesem Grund kritisch zu betrachten. Brainin, Ligeti und Teicher (2001) beanstanden diese Herangehensweise: »In der Täter-Opfer-Analogie verfahren manche Analytiker, als ob es sich bei den wirklich stattgefundenen Ereignissen um intrapsychische sadomasochistische Phänomene handle und nicht um historische Realität [...].« (Brainin/Ligeti/Teicher 2001: 156)

F A ZIT Die Schwierigkeiten in der Erfassung von Schamgefühlen liegen in der Materie begründet, denn Scham ist schwer zu explorieren.14 Dies ist nicht 13 | Vgl. von Borries 2007: 17, sowie aktuelle Ergebnisse aus meinem Dissertationsprojekt zur Rezeption von Zeitzeugengesprächen mit NS-Überlebenden von Schüler/-innen (vgl. Obens 2009). 14 | So sprechen einige Psycholog/-innen von der Schwierigkeit, Scham überhaupt zu erkennen. Dabei werden verschiedene mimische, gestische und verbale Ausdrücke zur Bewertung herangezogen (vgl. Landweer 2001: 287). Dementsprechend ist nach Landweer das seit der Antike wiederholt beschriebene Senken des Blickes eine notwenige Bedingung für das Vorliegen von Scham. Aber auch

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nur den Wissenschaftler/-innen anzulasten: Das Eingestehen von Schamgefühlen ist auch für die Befragten ein gewagtes emotionales Unterfangen. Der Motivation, das Schamgefühl zu verschweigen oder es als Schuldgefühl zu deuten, liegt eine Abwehr des Gefühls des ›ohnmächtigen Ausgeliefertseins‹ zugrunde. Aber die Scham vor der Schamthematisierung gilt es im Interesse eines Durcharbeitens der NS-Verbrechen auch zu kritisieren, denn, wie Konstanze Hanitzsch schreibt: »Das Verstecken der deutschen Schuld hinter der Scham oder der Schande – für die sich geschämt wird – ist eine Abwehr von Verantwortung. [Und] das Schweigen über die Scham setzt das Wissen über die begangene Schuld voraus.« (Hanitzsch 2006: 194)

Die Wissenschaftler/-innen haben Anzeichen für die herausragende Rolle der Scham in der NS-Rezeption schlicht übersehen. Schuldgefühle galten als wertvoller, weil sie tief gehender sind.15 Die mangelnden Differenzierungen von Scham und Schuldeffekten in den Studien bringen dementsprechend keinen neuen Erkenntnisgewinn zur Bedeutung von reflexiven Emotionen in der dritten Generation. Leider wurden hilfreiche Unterscheidungsmerkmale, wie beispielsweise die Zielgerichtetheit der Emotionen, die zeitliche Verlaufsform oder ein eventuelles Vorhandensein von Reparationswillen nicht in die Überlegungen einbezogen. Eine Hypothese, warum Schamkonflikte hier auch von den Forscherinnen und Forschern als Schuldkonflikte gedeutet wurden, könnten die zahllosen Mechanismen zur Erlösung von Schuld sein, die in der christlichen Kultur angeboten andere Merkmale werden genannt: Hand-vor-den-Mund-Halten, Gespräch Beenden, Weglaufen, Stocken, Stottern, Satz-Abbrechen, Erröten und Verstummen. Wenn diese Anzeichen nun aber in der Auswertung der Interviews verwendet worden wären, dann hätten sich zahlreichere Hinweise auf diese Emotion ergeben können. Stattdessen deutete Rosenthal beispielsweise die stotternde Antwort eines Befragten als Anhaltspunkt für »Bedrückt-Sein«, und zitiert die Textstelle zum Beweis mit ihren »parasprachlichen Bekundungen« (vgl. Rosenthal [1997] 1999: 375). 15 | Die Deklassierung der Scham zu einer Folge der Schuld findet sich aber schon bei Sigmund Freud. Danach hat Scham als Ausdruck des Gewissens einen anderen Status als die Schuld. Sie hat den Charakter eines Affekts, der im Falle eines Schuldgefühls mobilisiert wird (vgl. Neckel 1991: 46).

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werden. Zur Überwindung von Scham gibt es aber nur zwei Mechanismen – die wohlwollende Akzeptanz der Gruppe und Rückkehr zur Normalität oder die vielfach praktizierte Beschämung der als dominant eingeschätzten Partei. Des Weiteren muss festgestellt werden, dass in der untersuchten Literatur dargestellte Schuldgefühle bei genauerer Betrachtung in den meisten Fällen nur aufgrund einer gefühlten Belastung durch eine Erbschuld, d.h. tradierte Kollektivschuld16, darstellbar wurden. Damit sind sie von realen Schuldverhältnissen entkontextualisiert. Bar-On nannte sie deshalb treffender floating guilt (vgl. Bar-On 2007: 3). Gründe für die auch noch in der vierten Generation reproduzierbaren Ergebnisse in ihrer kollektiven Identität gestörter Deutscher sind vielmehr als Folge eines anhaltenden Diskurses um Kollektivschuld anzusehen. Welche Rolle die in einem binär konstituierten Geschlechterverhältnis erlernte Scham im Zusammenhang mit dieser gefühlten Erbschuld hat, bedarf dabei weiterer Untersuchungen. Denn diese erlernte Abwehrstrategie hört sich bei einem männlichen Befragten aus der Studie von Brendler vor 15 Jahren folgendermaßen an:

16 | Diese Kollektivschuld oder Generationenhaftung ist Gegenstand vieler Diskurse über den Nationalsozialismus und die Shoah, aber auch häufiges Thema in den Interviews, deren Auswertungen hier untersucht wird. Die Deutschen − so der Kern der These seien in ihrer Gesamtheit mitschuldig gewesen an den Verbrechen. Hintergrund der Kollektivschuldthese ist keine undifferenzierte Beschuldigung von außen, sondern zunächst eine Identifizierung der Mitglieder der Gruppe untereinander. Diese Art von »Verantwortungsgefühl« kann auch eine aggressive Abwehr des als von außen auferlegt empfundenen Kollektivschuldgedankens bewirken. Die Genese dieses Topos macht dies deutlich. Zuerst tauchte der Begriff der Kollektivschuld in Hirtenbriefen und Eingaben der Kirchen gegen die Entnazifizierung auf. In der Stuttgarter Erklärung vom 19. Oktober 1945 sprachen die evangelischen Bischöfe erstmals von einer »Solidarität der Schuld«, in der sich der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands mit dem ganzen Volk wisse (vgl. Später 2005). Das Postulat der Kollektivschuldthese ist aber vielmehr darauf zurückzuführen, dass diejenigen, die sie aussprachen, sie im gleichen Atemzug widerlegen konnten (vgl. Frei 1997: 621-634).

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»Ja, ich fühle mich da teilweise persönlich angegriffen, weil nicht mehr die Täter für ihre Taten bezahlen müssen, sondern, wie bei der Erbsünde, die Nachkommenschaft. Ich sehe es nicht ein, daß ich für etwas bestraft werde, was ich nicht getan habe. Das ist zurzeit meiner Meinung nach so, daß jeder Deutsche indirekt bestraft wird für Dinge, die er gar nicht getan hat.« (Brendler 1997: 64, Hervorh. K.O.)

Und ein 18-jähriger Gymnasiast heute formuliert es dergestalt: »Vielleicht das Schlimmste an diesem ganzen Nationalsozialismus ist eigentlich das Klischee was wir als Deutsche damit aufgebaut haben. Weil, es gibt ja, jedes Land, jeder Mensch, also Männer, Frauen haben alle ihre Klischees, aber es gibt immer noch große Teile in der Welt, besonders natürlich jetzt in den USA, in Polen oder in Großbritannien, wo die Deutschen noch immer mit diesem Klischee Nationalsozialisten, Ausländerhasser identifiziert werden. Und das ist ja ein ganz schwieriges Thema, weil die Leute immer nur mit dieser Einstellung auf einen zugehen. Und schwer zu überzeugen, wir tragen es immer mit und tragen eigentlich so eine Weltschuld auf uns.« (Obens/Geissler-Jagodzinski 2009)

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Vaterbilder und Mutterbilder Geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Täterschaft und Schuld in der NS-Nachfolgegeneration Margit Reiter

Die NS-Tätergesellschaft umfasst ein breites und differenziertes Spektrum von (Mit-)Täterschaft und Schuld. Die Palette reicht von prominenten NS(Straf-)Täter/-innen und ideologisch überzeugten Nationalsozialist/-innen mit unterschiedlichen Handlungsspielräumen, über die große Zahl der Wehrmachtssoldaten und Frauen an der ›Heimatfront‹, bis hin zu den opportunistischen ›Mitläufer/-innen‹, Mitwissenden, Zuschauenden und Wegschauenden. Aufgrund des hohen Involvierungsgrades der deutschen und österreichischen Bevölkerung in das NS-Unrechtssystem wirkt die ›Schuldfrage‹ bis in die Mitte der Gesellschaft hinein und über Generationen hinweg fort. Der Nationalsozialismus ist somit fast zwangsläufig Teil jeder Familiengeschichte. Wie tief die jeweilige NS-Verstrickung im Einzelfall gewesen sein mochte, zwei Dinge sind den Männern und Frauen dieser Generation gemein: Sie waren von den NS-Werten und ihren Erfahrungen in der NS-Zeit maßgeblich geprägt und sie waren die (Groß-)Väter und (Groß-)Mütter der nachfolgenden Generation. Die Auseinandersetzung vieler Nachkommen mit der NS-Familiengeschichte kreist um die Vorstellung bzw. Befürchtung, dass die eigenen Eltern möglicherweise ›schuldig‹ geworden sein könnten. Damit erscheint die Schuldfrage nicht als ausschließlich wissenschaftliches oder metaphysisches Abstraktum, sondern es kommt zu einer »Familiarisierung des Schuldproblems« (Schneider 1998).

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Vor diesem Hintergrund und auf der Basis meiner Studie über die Tradierung und Verarbeitung des Nationalsozialismus bei den ›Kindern der Täter‹ (Reiter 2006) stellen sich folgende Fragen: Wie werden die in den Nationalsozialismus verstrickten Väter und Mütter von ihren Kindern wahrgenommen, welche Vater- und Mutterbilder entstehen daraus? Welchen Stellenwert nimmt dabei deren potentielle oder tatsächliche Täterschaft ein? Und gibt es geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Täterschaft und Schuld in der NS-Nachfolgegeneration?

V ATERBILDER Die Väter nehmen bei vielen Nachgeborenen die zentrale Rolle in ihrer Auseinandersetzung mit der NS-Familiengeschichte ein. Die Fixierung auf den Vater, sowohl in positiver als auch negativer Hinsicht, zeigt sich beispielsweise in der Fülle von ›Väterliteratur‹ (Gehrke 1992; Mauelshagen 1995; Reiter 2005) und hat sich auch in meinen Interviews mit ›Kindern von Tätern‹ bestätigt (Reiter 2006). Auch die Eigendefinition als ›Täterkind‹ erfolgt fast ausschließlich über den Vater. Diese Fokussierung hängt zum einen damit zusammen, dass bei Männern tatsächlich eine höhere Wahrscheinlichkeit einer aktiven NS-Verstrickung bestand, da sie größere berufliche und politische Einsatz- und Aufstiegsmöglichkeiten hatten und somit stärker in das NS-Regime eingebunden waren als Frauen. Zum anderen ist die Fixierung auf die Väter aber auch eine Frage der kollektiven und individuellen Wahrnehmung, die eines zeigt: NS-Täterschaft ist nach wie vor überwiegend männlich konnotiert.

Täterbilder im Wandel Unmittelbar nach Kriegsende mit Bekanntwerden der ungeheuren NSVerbrechen stellte sich die Frage nach den Schuldigen, der spezifischen Beschaffenheit der Täter, die diese Verbrechen begangen bzw. zu verantworten hatten (vgl. Paul 2002). Die Schuld wurde vor allem auf den ›Führer‹ Adolf Hitler und einige prominente Vertreter aus der NS-Führungselite abgeschoben, von denen sich einige bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zu verantworten hatten (Weckel/Wolfrum 2003: 2591). Darüber hinaus gerieten in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem Institutionen wie die SS und die Gestapo zu den Verbrecherorganisationen

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schlechthin, wohingegen große Teile der NS-Gesellschaft und die Wehrmacht von Schuldzuschreibungen über Jahrzehnte hinweg verschont blieben. Diese Verengung auf einen begrenzten Täterkreis ging meist mit Dämonisierungen einher, vor allem was die Täter in den Konzentrationslagern betrifft, die meist als sadistische, moralisch pervertierte Exzesstäter wahrgenommen wurden, selbst wenn sie diesem Klischeebild in der Realität nicht entsprachen (Broszat 1985; Orth 2000). Die Dämonisierungen der NS-Täter in den ersten Nachkriegsjahrzehnten waren zweifellos ein Mittel zur Distanzgewinnung und ermöglichten es der breiten Masse, sich von diesen exponierten Tätern abzusetzen und ihre eigene, meist weniger spektakuläre (Mit-)Schuld zu relativieren. Tatsächlich präsentierten sich die meisten ehemaligen Nationalsozialist/-innen als Opfer der ›Verführung‹ Hitlers, der NS-Propaganda und des Krieges sowie als ›kleine Nazis‹ und ›Mitläufer‹, die nur aus Pflichtbewusstsein, ökonomischen Nöten und unter Druck von oben ›dabei‹ gewesen seien. Erst der Eichmann-Prozess von 1961 in Jerusalem entzauberte das lange wirksame und oft auf negative Faszination aufgebaute dämonische Täterbild nachhaltig. Mit Adolf Eichmann, einem der Hauptorganisatoren der Judenvernichtung, trat ein neuer Tätertypus in den Vordergrund: der unscheinbare und devote Bürokrat und ›Befehlsempfänger‹, für den Hannah Arendt den Begriff von der ›Banalität des Bösen‹ geprägt hat (Arendt 1987). Während auf der populären Ebene (Film, Literatur und Medien) eine begrenzte Zahl von klischeehaften Täterbildern überdauerte, begann in der NS-Forschung ein Prozess der zunehmenden Ausdifferenzierung (vgl. Forschungsüberblick Paul 2002: 13-90). Raul Hilbergs bahnbrechende Studie über die Judenvernichtung grenzte sich bewusst von personalisierenden Darstellungen ab und analysierte die Judenvernichtung als bürokratischen Prozess mit unendlich vielen, auf den unterschiedlichsten Ebenen Beteiligten, die als Rädchen im Getriebe des Vernichtungsprozesses tätig waren (Hilberg 1990). Dieses aus der strukturalistischen Perspektive entstandene Bild des lediglich an Sachproblemen orientierten, leidenschaftslosen ›Technokraten des Todes‹ wurde in letzter Zeit durch (kollektiv-)biografische Studien über die ideologisch geschulten NS-›Weltanschauungseliten‹ ergänzt und teilweise etwas relativiert (vgl. exemplarisch Herbert 1996; Wildt 2003). Seit Beginn der 1990er Jahre gerieten verstärkt die durchschnittlichen deutschen Männer in das Blickfeld der Täterforschung (Browning 1993; Goldhagen 1996). Während Christopher Browning aufzeigte, wie »ganz

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normale Männer« durch Gruppendruck und soziale Anpassung, zunehmende Gewaltbereitschaft und emotionale Abstumpfung zu Massenmördern wurden (Browning 1993), sah Daniel Goldhagen in ihnen antisemitisch motivierte »willige Vollstrecker« der NS-Vernichtungspolitik (Goldhagen 1996). Zu einer weiteren Ausdehnung des Täterspektrums kam es durch die viel diskutierte Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht (Naumann/Heer 1995), durch die die Legende von der ›sauberen Wehrmacht‹ auch in einer breiteren Öffentlichkeit infrage gestellt wurde und die bisher gültige Trennung von der ›bösen‹ SS einerseits und der ›guten‹ Wehrmacht andererseits nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Damit war die ›Schuldfrage‹ in das Epizentrum der ehemaligen Tätergesellschaften gerückt (Schneider 1998).

Die Väter als Täter? Die Frage ist nun, welche der allgemein kursierenden ›Täterbilder‹ mit dem eigenen Vater in Verbindung gebracht werden und von welchen er abgegrenzt wird. Wenig überraschend ist, dass sich die Vorstellungen auf einige wenige populäre und stereotype Tätertypen beschränken, wohingegen die differenzierten Ergebnisse der NS-Täterforschung noch kaum Eingang in das Bewusstsein der Nachfolgegeneration gefunden haben. Die meisten Nachkommen beziehen sich auf die prominenten NSFührer einerseits und auf den Tätertypus des brutalen und skrupellosen Mörders ›vor Ort‹ (z.B. im KZ, bei der SS usw.) andererseits und schließen die eigenen Väter aus dieser exponierten Tätergruppe – in den meisten Fällen wohl zu Recht – aus. Das Bild des pflichtbewussten und unterwürfigen ›Schreibtischtäters‹, personifiziert durch Adolf Eichmann, ist in den Köpfen der nachfolgenden Generationen ebenfalls überaus präsent, wobei der eigene Vater von diesem unliebsamen Täterbild meist abgegrenzt wird. Andererseits kommen aber auch ideologisch überzeugte Weltanschauungstäter und fanatische Antisemiten in der Vorstellungswelt der Nachkommen in Bezug auf ihre eigenen Väter so gut wie nie vor. Ebenso eng wie das Täterspektrum ist das Verständnis von Täterschaft und Schuld. Wie sich in meinen Interviews (und nicht nur dort) zeigt, beziehen sich die Vorstellungen über eine NS-Täterschaft fast ausschließlich auf die Judenvernichtung und die Konzentrationslager, andere Formen und Nuancen von NS-Verbrechen bleiben meist ausgeklammert. Die Vorstufen der Judenvernichtung und viele andere Formen des Unrechts an der ›Heimat-

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front‹ und gegenüber anderen Opfergruppen (politische Gegner/-innen, Zwangsarbeiter/-innen, Sinti und Roma usw.) werden von den Söhnen und Töchtern kaum thematisiert. Das Bedürfnis nach Entlastung des Vaters von jeder ›Schuld‹ ist weit verbreitet und psychologisch durchaus nachvollziehbar. Das Entlastungsbedürfnis funktioniert unabhängig vom tatsächlichen Grad der NS-Involvierung des Vaters und es existiert bei Kindern von ›kleinen Nazis‹ ebenso wie bei Kindern von nachweisbar tief in die NS-Verbrechen verstrickten Vätern. So finden selbst Nachkommen von prominenten NS-Tätern Mittel und Wege, ihre Väter mit teils abstrusen Argumenten aus dem Täterkreis auszuschließen (vgl. Posner 1994; Bar-On 1996). Es gibt verschiedene Strategien, den eigenen Vater – oft entgegen der historischen Faktenlage – von jeder Schuld zu entlasten. Besonders jene Nachkommen, die einen sehr affirmativen Zugang zu ihren Vater haben, weisen jeden Tatverdacht meist schon a priori von sich, noch bevor er überhaupt erhoben wird. Die Schuldfrage scheint somit oft in Form der Verneinung auf, z.B. indem ungefragt beteuert wird, dass der Vater »sicher keinen Juden umgebracht« habe (vgl. Fallbeispiel in Reiter 2006: 169-176). Paradoxerweise wird solcherart eine Schuldverstrickung direkter ausgesprochen, als bei denjenigen, die zwar vage von einer ›Schuld‹ ihres Vaters sprechen, unter der sie leiden, diese aber nicht näher benennen (wollen oder können). Bemerkenswert ist, dass selbst an sich kritische Söhne und Töchter oft dazu neigen, ihren eigenen Vater aus einem möglichen Schuldzusammenhang herauszunehmen. Zwar benennen sie ihren Vater meist klar als ›Nazi‹ und grenzen sich politisch von ihm ab, selten aber wird er als ›Täter‹ imaginiert, d.h. als jemand, der persönlich in Verbrechen verwickelt gewesen und somit ›schuldig‹ geworden ist. Die Begründungen, warum gerade der eigene Vater kein Täter sein kann, sind vielfältig und beruhen meist eher auf Mutmaßungen und weniger auf konkretem Wissen. Als Ausschließungsgrund einer möglichen Schuldverstrickung werden etwa die untergeordnete Funktion des Vaters, sein als harmlos eingeschätzter Einsatzort (z.B. er war ›nur in Frankreich‹) oder sein Alter (›zu jung‹ oder ›zu alt‹) angeführt. Dabei fällt auf, dass bei vielen Nachkommen eine sehr statische Vorstellung von Schuld herrscht, d.h. sie beziehen sich meist nur auf eine bestimmte Funktion, einen Zeitpunkt und Einsatzort des NS-Vaters und klammern mögliche anderweitige Aktivitäten aus Unkenntnis oder auch Unwillen einfach aus.

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Auch die strikte Trennung zwischen ›böser SS‹ und ›guter Wehrmacht‹ existiert in den Köpfen der NS-Nachfolgegeneration scheinbar ungebrochen fort. Nach wie vor gilt eine Mitgliedschaft in der SS als das ultimativ ›Böse‹, wohingegen der Kriegsdienst der Väter vielen Nachkommen lange Zeit als unverdächtig erschien. Dies zeigte sich in der oft mit Erleichterung vorgebrachten Formel: »Mein Vater war ja nur bei der Wehrmacht«, die von vielen Söhnen und Töchtern als generelle Exkulpierung verstanden wurde. Seit den öffentlichen Debatten über die Involvierung der Wehrmacht in NS-Verbrechen (Naumann/Heer 1995) lässt sich diese pauschale Unschuldsvermutung gegenüber der Wehrmachtsgeneration allerdings nicht mehr aufrechterhalten. Auch eine meiner Interviewpartnerinnen, Frau Schubert, musste die Fragilität dieser Konstruktion vor wenigen Jahren schmerzhaft erfahren. Sie hatte jahrzehntelang im Glauben gelebt, dass ihr 1945 getöteter Vater ›nur bei der Wehrmacht‹ gewesen sei. Erst vor wenigen Jahren erfuhr sie durch einen Zufall, dass ihr idealisierter Vater der Leiter einer SS-Einsatzgruppe und als solcher für Massenmorde im Rahmen des Vernichtungskrieges an der Ostfront verantwortlich war. Für Frau Schubert kam diese unerwartete Enthüllung völlig überraschend – und dies, obwohl es bereits vorher etliche Hinweise auf die tiefe Schuldverstrickung des Vaters gegeben hat, die meine Interviewpartnerin – so wie viele andere ›Kinder der Täter‹ auch – sowohl aus historischer Unkenntnis als auch aus psychischer Abwehr offenbar nicht entschlüsseln konnte oder wollte (vgl. dazu ausführlich Reiter 2007). Die wohl am weitesten verbreitete, auf Entlastung abzielende Vorstellung ist die des ›Mitläufers‹, die bereits seit Jahrzehnten Hochkonjunktur hat. Dabei wird zugestanden, dass der eigene Vater aus diversen sozialen, politischen oder persönlichen Gründen zwar ›mitgemacht‹ habe, dieses ›Mitmachen‹ bleibt aber meist sehr unspezifisch. Meistens läuft diese Konstruktion auf eine Verkleinerung der Rolle des Vaters im Nationalsozialismus und auf eine Verringerung seiner persönlichen ›Schuld‹ hinaus. Ein literarisches Beispiel dafür ist Peter Henisch’s Vaterbuch Die kleine Figur meines Vaters, in dem die Verkleinerung bereits im Titel angelegt ist (Henisch 2003). Darin heftet sich der Sohn an die Fersen des kleinen opportunistischen Mitläufers, als der sich der Vater Zeit seines Lebens präsentiert hat, auch wenn die Fakten dieser verharmlosenden Interpretation teilweise zuwiderlaufen (Reiter 2005). Andere Nachkommen wiederum führen die fehlende Parteimitgliedschaft oder einen niedrigen Dienstrang als Unschuldsbeleg an, ohne zu bedenken, dass NS-Funktion und Status

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in der Parteihierarchie oft wenig über die wahre Täterschaft aussagt: So musste man kein Parteimitglied sein, um schuldig geworden zu sein und umgekehrt lässt eine hohe NS-Funktion noch nicht zwangsläufig auf eine reale Schuldverstrickung schließen. Ist die NS-Involvierung des Vaters nicht zu leugnen, so greifen viele Nachkommen zur Entlastungsfigur des ›guten‹ bzw. ›geläuterten Nazis‹. Die Resistenz bzw. Abkehr des Vaters vom Nationalsozialismus wird unter anderem mit Anekdoten über NS-kritische Aussprüche, Verweigerung des Hitlergrußes, Erzählen von Hitlerwitzen oder gar Hilfeleistungen für Juden, untermauert, die Bestandteil fast jedes Familiengedächtnisses sind. Oft genügen für derartige Entlastungskonstruktionen bereits vage Andeutungen oder einige kryptische Satzfetzen (z.B. dass es dem Vater am Einsatzort »zu heiß« geworden sei), die von den Söhnen und Töchtern unkritisch übernommen und bereitwillig als Distanzierung vom Nationalsozialismus oder Skrupel angesichts der NS-Verbrechen gedeutet werden (Welzer/Möller/Tschnuggnall 2002; Reiter 2006). Als Wahrnehmungsfolie für den ›guten Nazi‹ fungiert in letzter Zeit vor allem der geläuterte Nationalsozialist und spätere ›Judenretter‹ Oskar Schindler, der durch Steven Spielbergs Film Schindlers Liste weltweit bekannt wurde. Häufig wird die Exkulpierung des eigenen Vaters mit dem Hinweis untermauert, dass der Vater ein ›anständiger Mensch‹ und/oder ein ›Idealist‹ gewesen sei und schon allein deshalb – so die implizite Botschaft – kein schlechter Mensch und schon gar kein Täter gewesen sein könne. Diese Zuschreibung entspricht sehr stark den Selbstpräsentationen der ›Kriegsgeneration‹, für die der Begriff der ›Anständigkeit‹ einen hohen Stellenwert hatte. Angesichts der teilweise pervertierten Moral- und Wertvorstellungen der Nationalsozialisten sagt der Anspruch bzw. die Zuschreibung, ›anständig geblieben‹ zu sein, allerdings wenig über die wahre Schuldverstrickung aus. Ein weiteres beliebtes Vaterbild ist jenes des zwar überzeugten Nationalsozialisten, der aber gleichzeitig ein liebevoller, vorbildlicher und treu sorgender Familienvater war. Diese Konstruktion, die eine klare Trennung zwischen dem politischen und dem privaten Vater vornimmt und sich oft auf die historische Person des KZ-Kommandanten Rudolf Höß bezieht, erweist sich insofern als sehr brauchbar, weil dadurch selbst jene Väter, die nachweislich als Täter gelten müssen, zumindest auf der persönlichen Ebene entlastet werden können und das positive Vaterbild somit weitgehend unbeschädigt bleibt. Einem Einwand des Psychoanalytikers Lutz

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Rosenkötter zufolge ist ein derartiger Vater- bzw. Tätertypus zwar im Einzelfall möglich, aber keineswegs charakteristisch (Rosenkötter 1995). Vielmehr bestätigen sich die »Studien zum autoritären Charakter« (Adorno 2008), die einen Zusammenhang zwischen einem autoritär-faschistoiden Weltbild und einem autoritären, auf Unterwerfung des Kindes zielenden Erziehungsstils sichtbar werden lassen (Rosenkötter 1995: 213). Das heißt: Eine strikte Trennung zwischen dem ›bösen‹ Täter einerseits und dem ›guten‹ Vater ist daher meist eine Fiktion. Das belegen nicht zuletzt auch die negativen Kindheitserinnerungen vieler ›Kinder der Täter‹, die unter ihren autoritären und gewalttätigen Nachkriegsvätern gelitten haben. Am besten lässt sich diese künstliche Trennung bei jenen Nachkommen aufrechterhalten, die vaterlos aufgewachsen sind und bei denen die Allgegenwärtigkeit des väterlichen ›Phantoms‹ zu einem idealistisch überhöhten Vaterbild geführt hat (Eckstaedt 1996: 125; Reiter 2006: 159-178). Der tote Vater dient als Projektionsfläche für die eigenen Vorstellungen, Wünsche und Phantasien, die nicht an der Realität ›überprüft‹ werden können/müssen. Dies unterscheidet sie grundsätzlich von jenen Söhnen und Töchtern, die ihr Vaterbild mit dem aus dem Krieg zurückgekehrten und real erlebten Nachkriegsvater in Einklang bringen müssen, wobei es oft zu großen Enttäuschungen und Entidealisierungen kommen kann (Roberts 1994). Vielfach erwies sich der Nachkriegsvater als ein aus dem Krieg heimgekehrter ›Verlierer‹ (Mitscherlich 1967; Schneider 1981), den die Söhne und Töchter als schwach und passiv erlebten und den sie sich nur schwer als aktiven und selbstbewussten Täter vorstellen können, vor allem dann, wenn sie sich, wie so oft, an dem dämonisierten Bild des brutalen NS-Exzesstäters orientieren. Es gibt in der NS-Nachfolgegeneration aber nicht nur das Bedürfnis nach Entlastung, sondern durchaus auch die Tendenz zur Belastung des Vaters und in der Folge davon sehr negative Vaterbilder. Allerdings sind belastende Zuschreibungen eher die Ausnahme als die Regel. Der von den Kindern formulierte Verdacht auf eine väterliche Täterschaft wird oft von seinen politischen Ansichten (z.B. ›rabiater‹ Antisemitismus) und seiner Charakterstruktur (z.B. autoritäres und gewalttätiges Verhalten in der Familie) abgeleitet. Vor diesem Erfahrungshintergrund trauen manche Söhne und Töchter ihrem Vater durchaus auch die Teilhabe an Verbrechen zu. So meint beispielsweise einer meiner Interviewpartner, dass sein Vater zwar seines Wissens »keine direkte Blutschuld auf sich geladen« habe, was er aber lediglich auf den Mangel an Möglichkeiten an der ›Heimatfront‹

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zurückführt. Eine Täterschaft des Vaters an einem anderen Einsatzort schließt der Sohn explizit nicht aus: »Der hätte da skrupellos Verbrechen im Sinn dieses Systems begangen, also davon bin ich überzeugt« (Reiter 2006: 184). Meist genügen einige wenige Andeutungen in der familiären Kommunikation, die den latenten Verdacht zusätzlich nähren und oft zu einer umfassenden Belastungsphantasie heranreifen lassen. Exemplarisch dafür ist der Fall einer meiner Interviewpartner/-innen, Frau Moser, die als Kind mit angehört hatte, wie ihre Mutter ihrer Tante anvertraute, dass der Vater wiederholt von Vergewaltigungen an russischen Frauen gesprochen habe, an denen er vermutlich auch selbst beteiligt war. Es handelt sich hierbei um eine – wie so oft in der Familienkommunikation – klassische Geschichte vom Hören-Sagen, die auf keiner gesicherten Quelle basiert und sich gerade wegen ihrer Vagheit bei Frau Moser als zutiefst beunruhigendes ›Familiengeheimnis‹ festgesetzt hat. Sie ist Ursache und Ausgangspunkt von Phantasien, die durch die Allgegenwärtigkeit sexueller Gewalt in der Familie zusätzliche Nahrung findet. Gerade weil der Vater in dieser Hinsicht ›vorbelastet‹ ist, erscheint ihr die als Kind mit angehörte Geschichte aus der Erwachsenenperspektive umso glaubwürdiger, andererseits könnte es auch sein, dass diese überhaupt erst durch die (miterlebte) sexuelle Gewalt des Nachkriegsvaters zu dieser immensen Bedeutung ›aufgeladen‹ wurde: »Das war so heavy, eigentlich ein Leben lang, diese Geschichte, diese zwanzig Sätze da, das war für mich ein irrsinniger Brocken. Selbst mir vorzustellen, was mein Vater da getan haben könnte und ich bin seine Tochter. Ja, da hat es oft Szenen gegeben in mir drinnen, wo ich mich dann duschen gegangen bin, ja, weil ich gedacht hab, ich bin aus diesem Blut oder was auch immer, ja, ich muss mich irgendwie duschen, ja so was hab ich oft gemacht ja. Und [ich] wollte das aber für mich nicht einmal genau, überlegen was da passiert sein hätte können, was der da aufgeführt haben könnte, mit den Frauen, wenn das wahr ist. Ja, da hab ich immer gemerkt, da ist bei mir eine Grenze, da kann ich nimmer weiter denken, ja.« (Zitiert nach Reiter 2006: 150)

Für meine Interviewpartnerin ist diese Geschichte ein unaufgearbeiteter »Brocken«, an den sie bisher nie zu rühren wagte. Die Abwehrreaktionen des Vaters hatte sie immer als ultimatives (Hinter-)Frageverbot interpretiert, dem sie sich auch unterworfen hat. Doch gleichzeitig bestärkte die

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väterliche Schuldabwehr ihren Verdacht, dass er »etwas zu verbergen« habe, nur noch mehr. Gerade weil sie nie Antworten auf ihre (unausgesprochenen) Fragen bekam, blühen ihre Phantasien über die potentielle Schuld des Vaters, von der sie sich geradezu ›beschmutzt‹ fühlt und stellvertretend ›reinwaschen‹ will. Meine Interviewpartnerin steht mit dieser Ungewissheit keineswegs allein. Anstatt nachzufragen und sich somit Gewissheit über die tatsächliche Verantwortung des Vaters zu verschaffen, quälen sich viele NS-Nachkommen oft jahrelang mit der Frage nach einer möglichen väterlichen Schuld, die sie erahnen, aber nicht faktisch absichern können. Eine Schuld, die sie selbst oft stellvertretend auf sich nehmen und auf unterschiedliche Weise (z.B. in Form eines unreflektierten Philosemitismus) abtragen wollen (Reiter 2009).

M UT TERBILDER Allein dieser kurze Abriss zeigt, dass die potentielle Schuld der Väter bei vielen Nachkommen als ungeklärte Frage überaus präsent ist. Nicht zuletzt deshalb werden die Auseinandersetzungen mit der NS-Familiengeschichte hauptsächlich über die Väter ausgetragen, wohingegen die Mütter dabei oft ausgeklammert und marginalisiert bleiben.

Frauen als Opfer und (Mit-)Täterinnen Frauen werden nach wie vor häufig als passive Objekte und nicht als aktiv handelnde Subjekte der Geschichte wahrgenommen. Dies gilt auch im besonderen Maße für die Bewertung der Rolle der Frauen im Nationalsozialismus. Die Nicht-Präsenz von Frauen im NS-Machtapparat (abgesehen von wenigen Ausnahme-Frauen) hatte zur Folge, dass Frauen nach 1945 mehr oder weniger pauschal aus dem Kreis der Schuldigen ausgeschlossen wurden. Die direkte Beteiligung von Frauen an NS-Verbrechen geriet nur selten, z.B. bei Prozessen, bei denen KZ-Aufseherinnen und KZ-Ärztinnen vor Gericht standen, ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Diese Täterinnen wurden als unmenschliche ›Bestien‹ wahrgenommen und galten somit als Ausnahmefälle, die weit außerhalb des Kreises der ›normalen‹ deutschen/ österreichischen Frauen gestellt wurden (Weckel/Wolfrum 2003). Das Gros der Frauen war in der NS-Zeit nicht derart exponiert tätig, sondern hat das NS-System an der ›Heimatfront‹ erlebt und mitgetragen.

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Sie waren mit der Bewältigung des Kriegalltags beschäftigt und wurden oft anstelle der eingezogenen Männer zur Erwerbsarbeit herangezogen. Auch mit ihrer Reproduktionsarbeit, die im Nationalsozialismus stark ideologisiert wurde, haben Frauen am Funktionieren des NS-System erheblich mitgewirkt (Koonz 1991). Ungeachtet dessen haben sie sich nach 1945 gerne als unpolitische, lediglich in der Liebe für ihre Familie aufgehende Opfer der Verhältnisse präsentiert und sie blieben nach Kriegsende vom Schuldvorwurf weitgehend verschont. Erst in den letzten Jahrzehnten rückte zunehmend auch die Mitverantwortung von Frauen am Nationalsozialismus in den Fokus der NS-Forschung (Forschungsüberblick vgl. Kundrus 2000; Lanwerd/Stöhr 2007). Man musste erkennen: Der pauschal beanspruchte Opferstatus hielt einer Überprüfung der historischen Fakten nicht stand und die ›Gnade der weiblichen Geburt‹ erwies sich als Fiktion (Windhaus-Walser 1988; Gravenhorst/Tatschmurat 1990). Frauen haben das NS-System auf ihre Weise unterstützt und mitgetragen, auch sie hatten Handlungsspielräume und haben durchaus ihre eigenen Vorteile und Ziele verfolgt (Heinsohn/Vogel/ Weckel 1997; Krauss 2008). Sie konnten in unterschiedlichen Bereichen auch als Akteurinnen tätig sein, so waren Frauen beispielsweise als Sozialpolitikerinnen, Krankenschwestern, Fürsorgerinnen an der ausgrenzenden, rassistischen Sozial- und Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus und an der Euthanasie beteiligt (Ebbinghaus 1996). Selbst die SS und die Wehrmacht waren keineswegs ausschließlich männliche Bereiche – auch dort haben Frauen aktiv (z.B. als KZ-Aufseherinnen) oder ›bürokratisch‹ im SS-Verwaltungsapparat oder im Gefolge der Wehrmacht (als Bürokräfte, Dolmetscherinnen usw.) am Vernichtungsprozess mitgewirkt oder haben zumindest davon gewusst (Erpel 2007; Wobbe 1992; Zipfel 1995). Ein weites Feld einer möglichen weiblichen Mittäterschaft eröffnet sich, wenn die ›Frauen an seiner Seite‹, das heißt die Ehefrauen, Geliebten und Freundinnen von SS-Führern, KZ-Kommandanten und SS-Männern in die Betrachtung miteinbezogen werden (Schwarz 1997). Diese Frauen gaben ihren Männern durch ihre Liebe und sexuelle Verfügbarkeit sowie durch die von ihnen geschaffene ›häusliche Idylle‹ einen emotionalen Rückhalt und hielten dadurch die ›Normalität im Grauen‹ aufrecht, wie sich etwa am Beispiel der Ehefrau des KZ-Kommandanten Franz Stangl gut aufzeigen lässt (Sereny 1995). Viele von ihnen haben die politischen Überzeugungen ihrer Männer geteilt und sich aktiv an der Diffamierung

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und der Ausbeutung z.B. von Juden oder Zwangsarbeiter/-innen beteiligt (Frank 2005). Der Nationalsozialismus war für viele junge Mädchen und Frauen, die in dieser Zeit sozialisiert wurden, aufgrund seines ›Erlebnischarakters‹ durchaus positiv besetzt. Die Aktivitäten im BDM oder der NS-Frauenschaft, die Massenveranstaltungen und ›Kraft durch Freude‹-Unternehmungen boten Abwechslung, Gemeinschaftserlebnisse, Mobilität und Aufstiegschancen im vorgegebenen Rahmen (Reese 2000; Paul-Horn 1993). Auch mit den ideologischen Inhalten (Antisemitismus, Mutterkult, NS-Werten usw.) konnten sich viele Frauen zumindest partiell identifizieren, dies umso mehr, als sie als Bestandteil der ›Volksgemeinschaft‹ von bestimmten politischen Maßnahmen wie z.B. den ›Arisierungen‹, oftmals profitierten. Angesichts dieser breiten Palette von weiblicher Teilhabe und Mitverantwortung am NS-Unrechtssystem greift der Verweis auf das »Frausein als Entlastungsargument« (Grote/Rosenthal 1992) zweifellos zu kurz.

Verschonte Mütter? All diese in jüngster Zeit gut erforschten Formen und Möglichkeiten weiblicher (Mit-)Täterschaft haben die Wahrnehmung der Nachkommen offenbar (noch) nicht erreicht – zumindest haben sie so gut wie keinen Einfluss auf die Mutterbilder in der nachfolgenden Generation. Vielmehr überwiegt bei den Nachkommen nach wie vor die Vorstellung von den Frauen als unschuldiges Opfer und als apolitische Frau. So beschreiben vor allem viele Söhne ihre Mutter als »typische Hausfrau«, die »vollkommen unpolitisch« gewesen sei und keinen nachhaltigen Einfluss auf sie ausgeübt hätte (Reiter 2006: 190-193). Die Präsentation der unpolitischen Mutter widerspiegelt bis zu einem gewissen Grad das reale Rollenverständnis und Verhalten von Frauen in der Nachkriegszeit, wobei viele NS-Nachkommen die politische Passivität und Enthaltsamkeit der Nachkriegsmütter gleichsam automatisch auf die NS-Zeit zurückprojizieren. Das heißt, die Mütter werden als Frauen an der ›Heimatfront‹ und somit vorwiegend als Opfer des Krieges und der Bombardierungen, nicht aber als politische Akteurinnen imaginiert. Diese Tendenz zur Entpolitisierung der Mütter ist zum einen Ausdruck eines sehr engen und traditionellen Politikverständnisses, zum anderen fungiert das Konstrukt der unpolitischen Mutter aber auch

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als ultimatives Entlastungsargument, um den Gedanken einer möglichen Schuld der Mutter erst gar nicht aufkommen zu lassen. Ihre Entsprechung und Fortsetzung findet diese Konstruktion in dem vorwiegend positiv besetzten Bild der ›Trümmerfrauen‹, die nach Kriegsende tatkräftig und scheinbar unbelastet von der Vergangenheit den ›Wiederaufbau‹ in Angriff genommen haben. Dieser ›Trümmerfrauen‹-Mythos hat sich auch in den Köpfen der Nachgeborenen fest eingeschrieben (Reiter 2006: 194-204). So präsentieren viele Söhne und Töchter ihre Mütter gleichermaßen als Opfer und als Heldinnen der Nachkriegszeit, die den schwierigen Nachkriegsalltag bravourös bewältigt haben und die sie dafür bewundern (Roberts 1994). Auf diese Weise werden selbst überzeugte Nationalsozialistinnen problemlos in ein entpolitisiertes Unschuldskollektiv mit eingeschlossen, unabhängig davon, was sie in der NS-Zeit getan und gedacht haben und ob sie sich nach 1945 von ihren NS-Überzeugungen gelöst haben oder nicht. Das heißt aber nicht, dass die Vorstellung von Frauen als Opfer in der NS-Nachfolgegeneration bruchlos fortgeschrieben wird und die Mütter somit von ihren Kindern generell verschont bleiben. Verschont werden sie nur insofern, als ihre Rolle im Nationalsozialismus kaum thematisiert wird und sie kaum als politische Akteurinnen wahrgenommen werden. Nur wenige Söhne und Töchter können oder wollen sich offenbar ihre Mutter als konkrete (Mit-)Täterin vorstellen. Kritische Auseinandersetzungen oder gar Abrechnungen mit der nationalsozialistischen Mutter, wie sie beispielsweise Niklas Frank mit seinem Buch Meine deutsche Mutter vorgelegt hat (Frank 2005), sind nach wie vor die Ausnahme (vgl. Reiter 2005). Dieses Manko hängt auch damit zusammen, dass viele Nachkommen über ihre Mütter in der NS-Zeit noch weniger wissen als über ihre Väter und sie bis heute wenig Interesse daran zeigen, diese Wissenslücke durch beharrliches Nachforschen aufzufüllen. Manche von ihnen äußern zwar den Verdacht, dass die Mutter wahrscheinlich ›Hitler zugejubelt‹ habe oder begeistertes BDM-Mädchen gewesen sei und somit allenfalls als ›Mitläuferin‹ einzustufen sei. Andere Formen von weiblicher Teilhabe am NSSystem und weiblicher (Mit-)Täterschaft haben in der Vorstellungswelt der nachfolgenden Generation aber noch kaum Eingang gefunden. Schärft man jedoch den Blick, so zeigt sich, dass es auch in Bezug auf die Mütter viele belastende Zuschreibungen gibt, die ganz offensichtlich dem vordergründigen Konstrukt der ›apolitischen‹ und ›unschuldigen‹ Frau widersprechen. So beschreiben viele Söhne und Töchter ihre Mut-

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ter als unbelehrbare Nationalsozialistinnen, die auch nach Kriegsende von Hitler und den angeblich positiven Seiten des Nationalsozialismus geschwärmt und ihrem ehemaligen Machtstatus als ›Frau an seiner Seite‹ nachgetrauert hätten. Viele Nachkriegsmütter sind auch nach Kriegsende ihrer NS-Gesinnung treu geblieben, sie waren nach wie vor antisemitisch eingestellt, befürworteten die ›Euthanasie‹ und machten auch aus ihren antiamerikanischen oder antirussischen Ressentiments keinen Hehl (Fallbeispiel in Reiter 2006: 206-215). Manche Nachkommen bezeichnen ihre Mutter sogar als den ›noch größeren Nazi‹ und als ›noch fanatischer als der Vater‹, unabhängig vom Grad ihrer realen NS-Involvierung. Nicht selten steckt hinter solchen belastenden Zuschreibungen das Bemühen, die ›böse Mutter‹ gegen den idealisierten ›guten Vater‹ auszuspielen, den es wegen seiner offensichtlicheren NS-Verstrickung stärker zu entlasten gilt. Auffallend ist, dass sich die negativen Mutterbilder fast immer auf die Nachkriegszeit beziehen und meist mit negativen Kindheitserfahrungen begründet und durch den Verweis auf die nationalsozialistische Gesinnung der Mutter zusätzlich politisch aufgeladen werden. Die Vorwürfe richten sich vorrangig gegen das ›Versagen‹ der Nachkriegsmutter im privaten Bereich. So haben viele Nachkommen ihre Mütter als lieblose, strenge Erzieherinnen erlebt, von denen sie oft auch körperlich gezüchtigt oder psychisch vernachlässigt wurden und zu denen sie keine emotionale Beziehung aufbauen konnten (Fallbeispiel in Reiter 2006: 227-233). Die harten Erziehungsmethoden der Mütter können zum einen mit ihrer Überforderung erklärt werden (sie mussten meist allein die Erziehungsarbeit leisten), zum anderen spielten dabei sicher auch NS-Prägungen und Affinitäten zur NS-Ideologie eine Rolle. Tatsächlich verwendeten etliche Mütter auch nach 1945 NS-Erziehungsbücher wie z.B. Johanna Haarers »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«, in denen ›deutsche Tugenden‹ wie Sauberkeit, Disziplin, Unterdrückung der emotionalen Bedürfnisse des Kindes, körperliche Züchtigung usw. propagiert wurden (Chamberlain 1997; Brockhaus 2008). Brachiale, oft sadistisch anmutende Bestrafungspraktiken, wie z.B. langes strafendes Schweigen oder das vom Kind eingeforderte Bitten um und Bedanken nach Vollzug der Prügelstrafe, gehören zum bitteren Erfahrungsfundus vieler Kinder aus postnationalsozialistischen Familien, wie sie etwa Hans-Georg Behr in seinem Buch »Fast eine Kindheit« beeindruckend beschrieben hat (Behr 2002). Zweifellos wurden harte Erziehungsmethoden auch bereits vor der NS-Zeit und nicht nur in NS-Familien praktiziert. Was aber als spezifisch nationalsozialistisch

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benannt werden könnte, sind die »lakonische Selbstverständlichkeit, der zynische und triumphierende Gestus, mit dem der Sieg über das Kind gefeiert wird, die Freude an der Wirksamkeit von Beschämung« […] und der »tendenziell sadistische Genuss der Kontrolle über das Kind« (Brockhaus 2008: 35). Auch die zentrale Rolle der Mütter im Familiengedächtnis rückt – zu Recht wie ich meine – allmählich stärker ins Blickfeld der Nachkommen. So werden die Mütter häufig beschuldigt, durch ihr Schweigen und ihre Beschwichtigungen – sei es aus schlechtem Gewissen oder aus familiärer Harmoniesucht heraus – die innerfamiliäre Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit verhindert zu haben. Gleichzeitig waren aber oft die (Groß-)Mütter diejenigen, die in der Familie über die NS-Zeit erzählt und durch ihre ›privaten‹ (und teilweise verharmlosenden) Erinnerungen die Vorstellungswelt der Nachgeborenen erheblich geprägt haben. Auch ihre Rolle als familiäre Tradierungsinstanz von NS-Werten und als Beschützerinnen des Vaters wird von vielen Söhnen und Töchtern zunehmend kritisch beurteilt. Tatsächlich haben manche Mütter den NS-verstrickten Vater – oft über seinen Tod hinaus – sowohl in politischer als auch persönlicher Hinsicht glorifiziert und damit entscheidend zu den idealisierten und unkritischen Vaterbildern in der nachfolgenden Generation beigetragen (vgl. Fallbeispiel in Reiter 2006: 206-215).

R ESÜMEE Es hat sich gezeigt, dass die ›Kinder der Täter‹ im allgemeinen sehr wenig über ihre eigenen Eltern und deren Rolle im Nationalsozialismus wissen und ihre Vorstellungen eher auf Mutmaßungen, denn auf abgesicherten Fakten beruhen. Somit sind die Vaterbilder und Mutterbilder in der Zweiten Generation weniger als Abbild der Realität, sondern vor allem als Konstruktionen und Imaginationen zu verstehen. Sie sind das Produkt der öffentlich präsenten Täter/-innenbilder, die den Nachkommen oft als Wahrnehmungsfolie dienen und die sich mit den väterlichen/mütterlichen Selbststilisierungen und den konkreten persönlichen Erfahrungen der Kinder mit dem Vater/der Mutter vermengen. Wie sich gezeigt hat, wird NS-Täterschaft vor allem als männliches Phänomen wahrgenommen, d.h. als Täter gelten hauptsächlich Männer. Tatsächlich haben sich in den letzten Jahrzehnten verschiedene, an kon-

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kreten historischen ›Vorbildern‹ orientierte Täterbilder herausgebildet, auf die sich die NS-Nachkommen bei ihren Vaterbildern – entweder in Form von Zuordnung oder Abgrenzung – häufig beziehen. Aufgrund der umfassenden Involvierung großer Teile der (männlichen) Bevölkerung in das NS-System, stellt sich für viele Söhne und Töchter die Frage, was der eigene Vater zur NS-Zeit getan hat und ob er womöglich an NS-Verbrechen (besonders der Judenvernichtung) beteiligt war und somit ›schuldig‹ geworden ist. Die Abwehr dieser bedrohlichen Vorstellung und das Bedürfnis nach Entlastung bei den Nachkommen sind enorm und es gibt vielfältige Strategien, die Rolle des Vaters im Nationalsozialismus und somit seine ›Schuld‹ zu verringern oder zumindest zu relativieren. Während bei den Vätern die Schuldfrage fast immer – wenn auch oft unausgesprochen oder in Form der Verneinung – mit im Raum steht, ist dies bei den Müttern nicht der Fall. Die Mütter werden, zumindest was ihre Schuldverstrickung in nationalsozialistische Verbrechen gilt, weitgehend verschont. Die Kinder interessieren sich nicht so sehr für ihre konkreten politischen Aktivitäten und Taten in der NS-Zeit, sondern ihre Auseinandersetzung mit den Müttern kreist vor allem um ihre Gesinnung und um ihr Wissen. Das heißt: Anders als bei den Vätern wird beinahe nie gefragt: Was hat meine Mutter damals getan, sondern bestenfalls: Was hat sie gewusst. Der Vorwurf richtet sich somit nicht primär gegen die Mutter als ›Täterin‹, sondern bestenfalls gegen die Mutter als Mitläuferin, Zuschauerin, Mitwissende. Vor allem aber richtet sich der Vorwurf der Söhne und Töchter gegen die Nachkriegsmutter, gegen ihr Versagen als Mutter und Erzieherin, das durch den Verweis auf ihre nationalsozialistische Gesinnung politisch aufgeladen wird. Darin scheint in den Augen der Nachkommen offenbar die wahre Schuld der Mütter zu liegen.

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Liebe Geschichte Nationalsozialismus im Leben der Nachkommen von Täter/-innen. Eine Vorschau auf den Dokumentarfilm von Klub Zwei Jo Schmeiser und Simone Bader

S YNOPSIS Der Film erzählt von Frauen, die ihrer nationalsozialistischen Familiengeschichte nachgehen. Sie erforschen nicht nur die historischen Fakten, sondern auch die Spuren, die diese im eigenen Leben hinterlassen: Wie wirkt die Vergangenheit in ihren persönlichen Beziehungen, in der Liebe und Sexualität, in ihrem politischen Engagement? Liebe Geschichte ist ein Film über Frauen, die sich öffentlich mit der Rolle von Familienangehörigen im Nationalsozialismus auseinandersetzen. Sie betrachten die NS-Vergangenheit nicht als abgeschlossenes Kapitel, sondern als (Familien-)Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht und deren Auswirkungen sie im eigenen Leben erforschen wollen. Welche Prägungen haben unsere Protagonistinnen durch die Weitergabe von Erzählungen, Bildern und Haltungen in ihren Familien erfahren? Uns interessiert, wie sie als intellektuelle und engagierte Frauen mit dem Wissen um die Beteiligung ihrer Vorfahren an den NS-Verbrechen umgehen, wie sie familiäre und gesellschaftliche Prägungen bearbeiten. Wir wollen aber auch untersuchen, wie unsere Protagonistinnen auf die ›andere Seite‹, die Nachkommen jüdischer Opfer und Überlebender der Shoah Bezug nehmen: Knüpfen sie an deren Arbeiten zum Thema der Nachwirkungen des Nationalsozialismus an, diskutieren sie mit ihnen im

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Freund/-innenkreis, im Beruf oder in einer der Dialoggruppen, in denen Nachkommen von Überlebenden auf Nachkommen von Täter/-innen treffen? Ein besonderer Fokus des Films ist der Bereich der Beziehungen, der Liebe und der Sexualität. Neben den Feldern des Wissens und der Recherche interessieren uns auch die emotional assoziierten Lebens- und Arbeitsbereiche unserer Protagonistinnen. Wie wirkt das ›negative Erbe‹ des Nationalsozialismus und der Shoah auf Beziehungskonstellationen, Geschlechterrollen und Sexualitätsentwürfe der Töchter, Enkeltöchter oder Großnichten von NS-Täter/-innen? Sehen sie diese Bereiche auch als Forschungsfelder? Welche Prägungen bemerken die Protagonistinnen an sich selbst, welche Bearbeitungs- und Kommunikationsformen entwickeln sie? Verstehen sie Liebe, Beziehungen und Sexualität als politische Bereiche?

P ROTAGONISTINNEN DES F ILMS Unsere Protagonistinnen sind Frauen aus Österreich und Deutschland, die zur Involvierung ihrer Vorfahren in die Verbrechen des Nationalsozialismus schon etwas veröffentlicht haben bzw. sich schon seit einiger Zeit mit dem NS und der Shoah beschäftigen. Einige haben Bücher oder Artikel geschrieben. Andere beschäftigen sich in Filmen oder künstlerischen Arbeiten mit der Frage, was ihnen ihre Vorfahren weitergegeben haben, was diese Last bedeutet und welchen Umgang sie heute damit finden können. Sie haben schon Reaktionen auf ihre Veröffentlichungen erhalten und denken kritisch darüber nach. Diese Reflexionen möchten wir einem breiteren Publikum zugänglich machen. Manche Frauen tauschen sich in Gesprächskreisen mit den Nachkommen der ›anderen Seite‹ aus: mit den Kindern und Enkeln von jüdischen Emigrant/-innen, Opfern und Überlebenden; manche Frauen haben auch enge Beziehungen oder Freund/-innenschaften mit den Nachkommen der ›anderen Seite‹. In den Gesprächskreisen haben unsere Protagonistinnen gelernt, dass der Gruppenkontext auch dazu missbraucht werden kann, bei den Nachkommen von Opfern um »Vergebung« oder »Absolution« zu bitten. Eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen der eigenen Vorfahren soll abgewehrt und eigentlich

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die Aussöhnung mit ihnen erreicht werden.1 Solche Entlastungswünsche und Funktionalisierungen jüdischer Teilnehmer/-innen sind Nachkommen von Täter/-innen nicht immer bewusst oder von ihnen beabsichtigt. Mittlerweile gibt es eine beachtliche Menge an feministischer Forschung zur Rolle von Frauen im Nationalsozialismus und den unterschiedlichen Formen weiblicher Täter/-innenschaft.2 Im Denken der Mehrheit und in der dominanten Darstellung der NS-Zeit sind Täterinnen aber immer noch kaum vorhanden. Uns ist wichtig zu zeigen, dass auch Frauen aktive Nationalsozialistinnen und Täterinnen waren. Wir wollen untersuchen, was sie ihren weiblichen Nachkommen weitergegeben haben.

A MBIVALENTE G EFÜHLE Helga Hofbauer ist 1966 geboren. Sie ist Künstlerin. Ihr Vater ist schon sehr alt, als er ihre Mutter heiratet. Der Altersunterschied zwischen den Eltern beträgt 19 Jahre. Die Kindheit ist für Helga und ihre Schwester eine Zeit der Übergriffe und des Machtmissbrauchs durch den Vater, der »Grenzen einfach nicht akzeptiert.«3 Er behandelt seine Kinder schlecht und wenn sie sich von ihm abwenden, kauft er ihnen Geschenke. Die Mutter begreifen die Schwestern als Gegenpol. Sie verkörpert all das, was der Vater ablehnt. Sie ist unordentlich und chaotisch, lässt ihre gebrauchten Binden am Klo liegen und geht gern nächtelang aus. Als Lehrerin vertritt die Mutter eine liberale Pädagogik und lässt die Kinder vieles ausprobieren. Sie ist meist gegen autoritäre Regeln und lebt den Schwestern vor, dass sie sich nicht auf den Haushalt beschränken lässt. Trotz der Übergriffe des Vaters sind Helgas Gedanken und Gefühle ihm gegenüber oft zwiespältig:

1 | Siehe die Arbeiten von Hannah Fröhlich (2004), Kurt Grünberg (1996, 2001) und Hanno Loewy (1996). Siehe auch das Buch von Katrin Himmler (2005). 2 | Siehe die Arbeiten von Insa Eschebach (2002), Julia Duesterberg (2002), Jessica Jacoby (1990), Gotlinde Magiriba Lwanga (1990). Siehe auch die Publikationen Jeanette Toussaints (2007). Für eine Analyse der österreichischen Situation siehe die Arbeiten von Margit Reiter (2006). 3 | Alle Zitate ohne Anmerkungen sind den Interviews für unseren Film Liebe Geschichte entnommen.

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»Mein Vater war so eine ambivalente Figur für mich, weil er einerseits sehr cholerisch und psychisch gewalttätig war und andererseits so stark Empathie und Mitgefühl in mir ausgelöst hat. Das war das Drama meiner Kindheit und Adoleszenz – dass diese Gefühle so stark waren. Ich denke, das sind typische Gefühle Tätern gegenüber: dass man sie auch liebt. Dass man interpretiert, dass sie nicht anders können. Jetzt ist mein Gefühl ihm gegenüber viel klarer. Aber damals war mein Hauptproblem, dass ich immer total geschwankt bin zwischen Ablehnung und Liebe, oder Empathie, Mitgefühl.«

Helga Hofbauer macht uns auf die (Doppel-)Rolle von Emotionen bei der Bearbeitung der belasteten Familienvergangenheit aufmerksam. Gefühle fordern auf hinzuschauen, begleiten die Recherche und schärfen den Blick. Umgekehrt können sie aber auch Abwehrfunktion haben und eine Auseinandersetzung behindern. Helga beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Rolle ihres Vaters im Nationalsozialismus. Außer der Mitgliedschaft bei der Waffen-SS hat sie noch wenig Konkretes erfahren können. In den Archiven in Wien und Berlin versucht sie, mehr über ihn herauszufinden. Von ihrer Mutter weiß Helga Hofbauer, dass ihr Vater nach seiner Verwundung im ersten Weltkrieg eine Trafik4 hatte. Er wollte ursprünglich Koch werden und war sehr sportlich. Seine Begeisterung für den Sport führte ihn schließlich zu den Nazis und zur Waffen-SS, vermutet Helga. Sie sagt uns auch, dass sie nicht »freiwillig« forscht: »Wenn ich könnte, würde ich vielleicht nicht forschen. Ich spüre einen Druck. Dieses Nicht-Wissen hat so eine Macht. Also meine Geschichte hat auf mich so eine Macht. Und dass ich mich mit dem Thema beschäftige, das macht mich weise und glücklich. Aber es hat eine große Macht und es setzt mich auch unter Druck.«

D ER NS IN L IEBE , S E XUALITÄT UND K ÖRPERBILD Helga Hofbauers Vater reduziert Sexualität und Körperlichkeit sehr stark auf Hygiene. Die Körpernormen, die er innerhalb der Familie vertritt, sind die aus den Filmen von Leni Riefenstahl:

4 | Österreichische Bezeichnung für Kiosk.

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»Das ist 1:1 das, was in diesen Filmen vorkommt. Nämlich, dass es ideale Körper gibt und dass die idealen Körper weiß, im Zweifel blond und blauäugig sind. Er hat auch immer gesagt, ich soll mir meine Haare nicht färben, weil es so selten richtig blonde Menschen gibt. Also ganz klassisch. Ideale Körper, die nicht zu dünn und nicht zu dick sind. Dann sollen sie sportlich sein, aber nicht athletisch, zumindest Frauen nicht. Also er hat auch immer ein ›gesundes Mittelmaß‹ vertreten. Und Hygiene hat eine sehr große Rolle gespielt, der saubere Körper.«

Wir fragen Helga Hofbauer, ob ihre Familienvergangenheit in ihrer Liebesbeziehung eine Rolle spielt. Spontan erwidert sie uns, dass es wohl kein Zufall ist, dass sie eine Beziehung zu einer Person hat, die ebenfalls aus einer Täter/-innen-Familie kommt. Helga erläutert dies an einem Beispiel. Einmal im Monat nimmt sie an einer Dialoggruppe teil, wo sich jüdische Nachkommen mit Nachkommen von NS-Täter/-innen treffen. Ein jüdischer Teilnehmer erzählt von einem Geschäft, in dem er immer einkauft. Eines Tages spricht ihn der Besitzer auf Hebräisch an. Der Teilnehmer fragt sich: Wie kommt das bloß, dass jüdische Leute sich erkennen? Andere in der Gruppe finden ebenfalls: Man erkennt sich, auch wenn man nichts zueinander sagt. Helga Hofbauer überlegt, ob das auch für die Nachkommen der Täter/-innen gilt und meint: »Man erkennt auch die Täter-Nachkommen. Also wir Täter-Nachkommen, wir erkennen uns auch. Weil Liebesgeschichten sind nun mal sehr intensive Beziehungen. Wenn man dann jemanden erkennt, oder erkennt, dass die Auseinandersetzung eine ähnliche ist, dann bringt einen das schon sehr nahe. Und ich glaube, dass das in meiner Liebesgeschichte eine große Rolle spielt.«

Helga ist queer. Andere der Protagonistinnen sind heterosexuell. Einige von ihnen haben Partner/-innen, die wie sie aus Täter/-innen-Familien kommen. Andere leben dagegen mit jüdischen Partner/-innen zusammen, deren Familien im NS verfolgt wurden. Sehen unsere Protagonistinnen ihre Beziehungen als Ort der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah?

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D IE (E NTL ASTUNGS -)F UNK TION PROMINENTER T ÄTER /- INNEN Katrin Himmler ist 1967 geboren und hat einen neun-jährigen Sohn aus einer Partnerschaft mit einem jüdischen Israeli. Sie ist Politologin und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Nationalsozialismus und der Shoah. In ihrer Arbeit hat Katrin auch die eigene Familiengeschichte erforscht. 2005 erschien ihr Buch »Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte«, in dem sie ihre ausführlichen Recherchen zu Heinrich Himmlers Brüdern Gebhard und Ernst, ihrem Großvater, sowie zu deren Umfeld dokumentiert hat. Das Buch beleuchtet auch die Rolle der Frauen der Brüder Himmler im NS. Katrin erzählt uns, welche Rolle Heinrich Himmler in ihrer Familie spielt(e): »Wir hatten ja immer praktischerweise dieses personifizierte Böse in der Familie, Heinrich Himmler, der wirklich alles Böse auf sich vereinigt hat, so dass alle anderen in seinem Schatten verschwinden konnten und ganz automatisch als kleine Fische erscheinen mussten. Das war eine ganz starke Entlastungsfunktion, die Heinrich da für den Rest der Familie übernommen hat.«

Katrins Untersuchungen widerlegen die dominante Familienlegende sehr deutlich. Über ihren Großvater Ernst, den jüngeren Bruder Heinrich Himmlers, fand sie heraus, dass er einen Mann denunziert und der Verfolgung preisgegeben hat, weil dieser so genannter »Halbjude« war: »Er hat ihn direkt an seinen Bruder Heinrich ausgeliefert. Ich konnte nicht herausfinden, was aus diesem Mann geworden ist, ob er deportiert worden ist und ob er überlebt hat. Aber die Tatsache besteht einfach und es gibt ein Dokument, welches nachweist, dass mein Großvater sich aktiv darum bemüht hat, dass dieser Mensch von seinem sicheren Posten entfernt wurde, an dem er noch 1944 geschützt war. Das hätte er nicht tun müssen und das hätte er sicher auch nicht getan, wenn er nicht von dieser Ideologie überzeugt gewesen wäre und es wichtig gefunden hätte, dieses rassistische und antisemitische Programm der Nationalsozialisten umzusetzen.«

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D AS K LISCHEE DER UNPOLITISCHEN F R AU IM NS Über Katrins Großmutter wurde in der Familie immer erzählt, dass sie »unpolitisch« gewesen sei – ganz der allgemeinen Entlastungslegende gemäß, die über die Rolle von Frauen im NS noch bis vor kurzem gesellschaftlich etabliert war. Katrin tat sich zwar schwer, dieser Legende Glauben zu schenken, hat sie wie die meisten Nachkommen von Täter/-innen und Mitläufer/-innen aber lange Zeit auch nicht nachgeprüft: »Und so war es für mich auch ein schwieriger Moment, als ich ziemlich spät herausgefunden habe, dass meine Großmutter am 5. März 1933 auch die NSDAP gewählt hat. Das hat sie in der Entnazifizierungsakte selbst angegeben. Und noch viel schwieriger fand ich festzustellen, dass sie noch 1950/51 Kontakt zu Kriegsverbrechern hatte, die zum Tode verurteilt in Landsberg in der Haft saßen. Mit denen hatte sie regen Briefkontakt und hat ihnen auch Päckchen geschickt. Und das war für mich sehr hart, das zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren, dass das meine Großmutter gewesen ist, weil ich sie im Gegensatz zu meinem Großvater noch gekannt habe und sie auch sehr gemocht habe.«

N AME UND I DENTITÄT IN DER P OST-NS-G ESELLSCHAF T Wir sprechen mit Katrin Himmler auch über ihren Namen. Als Kinder waren Katrin und ihre Schwester immer froh, Mädchen zu sein. Denn sie hofften, dass mit der Heirat der Name Himmler »irgendwann ausstirbt, dass der quasi gelöscht wird«. Heute trägt Katrin diesen Namen ganz bewusst. Ihrem Sohn hat sie ihn jedoch erspart, wie sie in ihrem Buch schreibt. Er trägt den Namen seines Vaters, eines jüdischen Israeli, von dem Katrin mittlerweile wieder getrennt ist. Die Entscheidung für den Namen seines Vaters begründet Katrin folgendermaßen: »Ich kann mit diesem Namen [Himmler] inzwischen leben. Aber meinem Sohn möchte ich die Chance geben, einen Neuanfang zu machen. Ich werde oft von Leuten gefragt: ›Wieso haben Sie eigentlich Ihren Namen behalten?‹ Menschen, die nicht in dieser Situation stecken, können das sehr schwer nachvollziehen. Der Name hat ja etwas mit der Identität zu tun, man wird damit geboren, man wächst damit auf. Die Familienmitglieder drum herum tragen den selben Namen und es ist einfach eine schwierige Entscheidung, sich von diesem Namen zu tren-

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nen und einen ganz anderen Namen anzunehmen. Das ist ja auch eine Aussage nach außen hin: ›Ich will da nicht mehr dazu gehören, oder ich versuche mich da herauszulösen.‹ Und das funktioniert ja letztlich auch nicht, das ist ja nur eine Äußerlichkeit.«

I NTERGENER ATIONELLE TR ADIERUNG UND A USEINANDERSE T ZUNG Ein zentrales Thema im Gespräch mit Katrin Himmler ist die Erziehung ihres Sohnes. Katrin hat sich intensiv damit beschäftigt, welche Spuren die nationalsozialistischen Erziehungsideale und Prägungen im Leben ihrer Eltern – und damit auch in ihrem eigenen Leben – hinterlassen haben. Die drei Brüder Himmler wurden von ihren Eltern sehr streng erzogen, vor allem Katrins Urgroßvater war sehr autoritär. Beim jüngsten Bruder Ernst, Katrins Großvater, stellt Katrin eine Kontinuität fest, die bis zu ihrem Vater reicht und letzten Endes auch Katrin selbst mit einschließt. Wie der Urgroßvater beschäftigte sich Ernst Himmler sehr viel mit seinen Kindern, er konnte diese aber auch mit voller Härte strafen, wenn er dies für nötig hielt. Katrins Vater förderte seine Kinder sehr und unternahm viel mit ihnen. Zugleich war er für Katrin und ihre Schwester aber auch unberechenbar: »Also wir hatten teilweise einfach Angst vor den Wutausbrüchen meines Vaters, weil die für uns sehr heftig und unberechenbar waren. Es gibt da eine Kontinuität – ich habe leider manchmal auch solche Wutausbrüche, oder reagiere zu heftig gegenüber meinem Sohn. Aber ich merke, er kann damit anders umgehen. Er darf anders darauf reagieren, als ich das konnte als Kind. Da sehe ich also einerseits eine Kontinuität, andererseits aber auch eine allmähliche Veränderung.«

Schließlich sprechen wir mit Katrin Himmler über die Reaktionen der Familie auf ihre Nachforschungen und ihr Buch. Sie erzählt, dass weder der Vater noch die Mutter ausführlich mit ihr darüber gesprochen haben. Katrins Vater war zwar begeistert, dass sie ihr Buch geschrieben hat, die Ergebnisse waren für ihn dann aber sehr schwer zu verdauen. Die Beziehung zu Katrins Mutter ist seit der Veröffentlichung des Buches deutlich besser geworden, auch wenn sie dazu nie wirklich Stellung bezogen hat. Katrin überlegt ihre Antwort auf unsere Frage sehr genau. Sie möchte

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nicht darüber spekulieren, wie es den Familienangehörigen mit ihrem Buch geht. Denn es gab auch Missverständnisse und Reaktionen, die Katrin schockiert haben. Wir fragen, ob sie so darüber sprechen kann, dass sie bei der eigenen Person bleibt. Katrin erwidert uns: »Selbst wenn ich mich darauf beschränke, wie es mir damit geht, hat es für die anderen [Familienmitglieder] oft einen sehr anklagenden Ton. Auch wenn es gar nicht so gemeint ist. Aber sie empfinden das immer wieder als Vorwurf, weil sie den Eindruck haben, sie müssten sich selber vielleicht mehr damit beschäftigen. Und dann muss ich mich immer wieder gegen den Eindruck wehren, dass ich da so selbstgerecht damit umgehe: ›Ich bin die Gute, die es gemacht hat.‹ Da merke ich, ich muss oder ich will auch vermeiden, dass dieser Eindruck immer wieder entsteht und ich möchte auch nicht im Nachhinein vor ihnen rechtfertigen oder erklären: ›So hab ich das aber nicht gemeint.‹«

Auch in anderen Familien von Täter/-innen recherchiert meist nur eine Person zur belasteten Familienvergangenheit. Oft erteilen die Eltern dazu den Auftrag und eines der Kinder übernimmt diesen, während sich die anderen das ›unangenehme Thema‹ eher vom Leibe halten. Katrin warnt jedoch davor, die Auseinandersetzung stellvertretend für die anderen führen zu wollen: »Man muss da auch aufpassen. Weil man ganz schnell in dieses Heroische hinein kommt, nicht, was ich weit von mir weisen würde. Ich hab das nie so gesehen, dass ich das jetzt stellvertretend für die anderen gemacht habe, ›die das nicht geschafft haben‹, so nach dem Motto. Es ist eine Art, damit umzugehen und jeder in der Familie findet seine eigene Art, das zu verarbeiten. Ja, also, die sind alle damit beschäftigt, ihr Leben lang, und jeder macht das auf seine ganz spezielle Art, wie er sich damit auseinandersetzt.«

G RUNDL AGEN DES F ILMS Die Erforschung der Nachwirkungen des Nationalsozialismus im Leben der Nachkommen – sowohl der Opfer, Überlebenden und Vertriebenen, als auch der Täter/-innen – wurde von jüdischen Wissenschaftler/-innen, Künstler/-innen und Filmemacher/-innen begonnen und vorangetrieben. Ohne deren frühe und bahnbrechende Arbeiten wie jene von Dan Bar-On

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(1989, 1993) oder Ruth Beckermann (1989, 1996) wären aktuelle Diskussionen und Bearbeitungen des Themas der Nachwirkungen auf Täter/-innen-Nachkommen nicht denkbar. Auch wir selbst sind über Gespräche mit Katherine Klinger und Hannah Fröhlich, Interviewpartnerinnen früherer Klub-Zwei-Projekte (Things. Places. Years, A/GB 2004, Response Ability, A 2006) zur Fragestellung für diesen Film gekommen (Klub Zwei – Bader/ Schmeiser 2010). Für unseren Fokus auf Beziehungen, Liebe und Sexualität sind die Arbeiten von Gabriele Rosenthal (1996, 1997) und Dagmar Herzog (2005) interessante Anknüpfungspunkte. Rosenthal hat die Rolle und Funktion der Familienvergangenheit in Beziehungen zwischen Nachkommen von Täter/-innen und Nachkommen von Überlebenden erforscht. Herzog hat in ihrer Studie zur 1968er Bewegung den Zusammenhang von sexueller Politik und Nationalsozialismus in Deutschland untersucht. In einem weiteren Buch, das Dagmar Herzog gemeinsam mit Günter Bischof und Anton Pelinka (2007) herausgegeben hat, wird speziell auf Sexualität in Österreich eingegangen. Als wir Katherine Klinger, Tochter jüdischer Exilant/-innen aus Wien, für unseren Film Things. Places. Years (Klub Zwei – Bader/Schmeiser 2004) kontaktierten, sprach sie über ihre unmittelbare Aggression uns gegenüber. Auch andere Londoner Jüdinnen der zweiten Generation waren skeptisch und fragten nach der Rolle unserer Familien während des Nationalsozialismus. »Ich habe über meine Reaktion nachgedacht, als Sie mit mir Kontakt aufnahmen: eine unmittelbare Skepsis und Aggression, verbunden mit der Notwendigkeit, Ihnen auf den Zahn zu fühlen. Es geht nicht so sehr um Ihre Haltung. Es geht darum, wer Sie genau sind. Warum ich das wissen muss? Weil mir in Österreich noch kaum Leute begegnet sind, die ein tieferes Bewusstsein für die Verbrechen des eigenen Landes – Ihres Landes – entwickelt haben; ein Bewusstsein, was diese Verbrechen als historisches und bis heute andauerndes Kontinuum bedeuten.« (Klinger 2004)

Hannah Fröhlich, Wiener Jüdin und Protagonistin von Response Ability, einer kürzeren Videoarbeit (Klub Zwei – Bader/Schmeiser 2006), wies uns darauf hin, dass ein Wissen und Forschen über den Nationalsozialis-

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mus in Österreich oft mit dem Nicht-Wissen über die eigene Familienvergangenheit einhergeht. Dieser kritische Blick der Frauen auf Klub Zwei hat uns zum Thema des neuen Films geführt: Wie gehen die Nachkommen der Täter/-innen mit ihrer Geschichte um? »Auf jeden Fall gibt es viele Leute, die sich auf ehrenwerte Weise mit den Themen rund um Nationalsozialismus und Exil auseinandersetzen. Aber sehr oft bleibt die Beschäftigung in einem Bereich stecken, wo der Verdacht nahe liegt, dass eine persönliche Auseinandersetzung verhindert werden soll. Sie wird zu einer Art Ausweichmanöver, wodurch man auch die Legitimation hat, sich nicht wirklich mit der eigenen Familie, mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen. Und ich würde sagen, das ist eigentlich der übliche Umgang.« (Fröhlich 2006)

Die eigene Geschichte, der familiäre und der gesellschaftliche Kontext, bestimmt unser Denken und Handeln, unseren Blick auf die Dinge wesentlich mit. Es geht also darum, den eigenen Hintergrund im Film mit zu denken und mit zu erzählen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu rücken.

G ESCHICHTE /N DER R EGISSEURINNEN Simone Bader: Die Familie meines Vaters lebte seit Generationen unter so genannten Donauschwaben in Zsámbék in Ungarn. Das deutschsprachige Dorf wurde nach der Befreiung 1945 nach Deutschland umgesiedelt. Mein Onkel wurde als ältester Bruder in den letzten Kriegsjahren in Zsámbék zur Waffen-SS rekrutiert. In der Ungarn-deutschen Geschichte steht die Vertreibung im Vordergrund. Die Rekrutierung von Ungarn-Deutschen zur Waffen-SS durch die Volksgruppenführung wird nicht erzählt. Meine Mutter hatte sieben Geschwister. Nachdem der Vater in Regensburg an seinem Arbeitsplatz in den Messerschmidt-Werken bei einem Bombenangriff getötet und wenig später das Haus der Familie von einer Bombe getroffen wurde, blieb meine Großmutter als Alleinerzieherin ohne Obdach zurück. Die älteren Kinder arbeiteten bei Bauernfamilien, um sich selbst zu ernähren. Meine Mutter und ihre Schwestern waren beim »Jungmädelbund«. Der älteste Bruder fiel im Krieg als Soldat der Deutschen Wehrmacht.

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Jo Schmeiser: Der Vater meiner ersten Mutter, sie starb als ich ein Baby war, war bei der SS. Ich lebte vier Jahre lang bei meiner Großmutter, die ihre Begeisterung für die Nazis bedauerte. Mit Katrin Himmlers Hilfe fand ich 2008 im Bundesarchiv Berlin heraus, dass sie sich um die NSDAP-Parteimitgliedschaft beworben hatte. Ihr Ansuchen wurde abgelehnt, weil sie niederländische Staatsbürgerin war. Mein Großvater starb als ich 14 war. Mit ihm stritten meine Schwester und ich über die Nazi-Zeit. Über seine Taten sprach er nie. Im Bundesarchiv Berlin erfuhr ich, dass er zuletzt »SS-Untersturmführer der Reserve der Waffen-SS« war. Meine Recherche bei der deutschen Dienststelle zu seiner Einheit, der »SS-Division Totenkopf«, hat leider keine weiteren Ergebnisse gebracht. Die Großmutter meiner zweiten Mutter, mit der ich aufwuchs, wurde als Kommunistin in das KZ Ravensbrück deportiert und überlebte das Lager. Diese Großmutter verstand sich sehr gut mit meiner Mutter, sie war oft bei uns zu Besuch und ihre Geschichte war in der Familie ein wichtiges Thema. Die Eltern meines Vaters waren Mitläufer/-innen. Mein Onkel, der älteste von sieben Geschwistern, war bei der »Hitlerjugend« und sollte die Eltern, die als »unzuverlässig« galten, bespitzeln. Ein Bauer bewahrte ihn und andere Jungen zu Kriegsende davor, einen abgestürzten alliierten Piloten zu suchen und zu töten. Er sperrte die Jungen in einen Schuppen.

F A ZIT In Liebe Geschichte untersuchen wir, wie Nachkommen von Täter/-innen in Österreich und Deutschland mit ihrer belasteten Familienvergangenheit umgehen. Wir wollen zeigen, dass es Frauen gibt, die sich öffentlich mit den Verbrechen ihrer Familie im NS auseinandersetzen, ohne sich selbst als Opfer darzustellen. Die Protagonistinnen des Films reflektieren auch, wie sie sich auseinandersetzen. Sie hinterfragen ihre Emotionen und Haltungen bei der Recherche. Und sie wissen, dass zwischen ihnen und den Nachkommen der Opfer, Überlebenden und Vertriebenen eine irreduzible Differenz besteht, mit der sie sich konfrontieren müssen.

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Jacoby, Jessica/Magiriba Lwanga, Gotlinde (1990): »Was ›sie‹ schon immer über Antisemitismus wissen wollte, aber nie zu denken wagte«. In: Rassismus. Antisemitismus. Fremdenhaß. Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 27, S. 95-105. Klinger, Katherine/Staffa, Christian (Hg.) (1996): Die Gegenwart der Geschichte des Holocaust, Berlin: Institut für vergleichende Geschichtswissenschaft. Klub Zwei (Hg.) (2005): Things. Places. Years. Das Wissen Jüdischer Frauen, Innsbruck: Studien Verlag. Loewy, Hanno (1996): »Begegnung als Bearbeitungsform der nachträglichen Wirksamkeit des Holocaust. Podiumsdiskussion«. In: Katherine Klinger/Christian Staffa (Hg.), Die Gegenwart der Geschichte des Holocaust, Berlin: Institut für vergleichende Geschichtswissenschaft, S. 117123. Reiter, Margit (2006): Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck: Studien Verlag. Rosenthal, Gabriele/Völter, Bettina (1996): »Trennende und verbindende Vergangenheiten. Zur familienbiographischen Arbeit und Dynamik in Ehen zwischen Nachkommen von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern«. In: Katherine Klinger/Christian Staffa (Hg.), Die Gegenwart der Geschichte des Holocaust, Berlin: Institut für vergleichende Geschichtswissenschaft, S. 17-46. Rosenthal, Gabriele (1997): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, Gießen: Psychosozial Verlag. Strobl, Ingrid (1995): Anna und das Anderle. Eine Recherche, Frankfurt a.M.: Fischer. Toussaint, Jeanette (2007): »Nach Dienstschluss«, in: Simone Erpel (Hg.), Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück: Begleitband zur Ausstellung, Berlin, S. 89-103. — (2007): »Österreichische Volksgerichtsverfahren gegen ehemalige SSAufseherinnen (1945-1950)«. In: Simone Erpel (Hg.), Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück: Begleitband zur Ausstellung, Berlin, S. 171-187.

L IEBE G ESCHICHTE

F ILMVERZEICHNIS Beckermann, Ruth: Jenseits des Krieges, Hi8/35 mm, 117 Min., Farbe, A 1996. Kamera: Peter Roehsler, Schnitt: Gertraud Luschützky, Manfred Neuwirth, Produktion und Vertrieb: Aichholzer Filmproduktion. Klub Zwei – Simone Bader und Jo Schmeiser, Things. Places. Years, Beta SP, 70 Min., Farbe, A/GB 2004. Kamera: Anita Makris, Rainer Egger, Daniel Pöhacker, Schnitt: Maria Arlamovsky, Klub Zwei, Produktion: Amour Fou, Vertrieb: sixpackfilm. Klub Zwei – Simone Bader und Jo Schmeiser, Response Ability. Wie gehen die Nachkommen der TäterInnen mit der Geschichte um?, Beta SP, 33 Min., Farbe, A 2006. Kamera, Schnitt, Produktion und Vertrieb: Klub Zwei. Klub Zwei – Simone Bader und Jo Schmeiser, Liebe Geschichte, HDCAM/ 35mm, 98 Min., Farbe, A 2010. Kamera: Sophie Maintigneux, Schnitt: Karin Hammer, Produktion: Klub Zwei, Vertrieb: Austrian Film Commission, Verleih: sixpackfilm.

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Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Privatheit und Öffentlichkeit

»Davon haben wir nichts gewusst«? Artikulationen von Scham und Schuld in Tagebuchaufzeichnungen ›deutscher‹ Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges Sabine Grenz

F R AGESTELLUNG Die »umstrittene Frage nach der Mitwisserschaft der Deutschen« an der Shoah ist laut dem Historiker Hans Mommsen »bis heute nicht hinreichend analysiert« (Mommsen 2006). Seit seiner Einschätzung sind drei einschlägige Untersuchungen zum »Wissen« über die Shoah und den Vernichtungskrieg veröffentlicht worden: von Peter Longerich (2006), von Bernward Dörner (2007) und von Peter Fritzsche (2008). Longerich kommt am Ende seiner Studie, die sich hauptsächlich aus der Analyse offizieller Quellen speist, zu der Schlussfolgerung, dass die Ermordung der Juden ab Mitte 1942 »ein offenes Geheimnis« gewesen sei und es ab 1943 im Grunde jede/r hätte wissen können (Longerich 2006: 225). Dörner und Fritzsche argumentieren ähnlich. Hinzu kommen frühere Arbeiten, die teilweise zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, jedoch alle von weitreichenden Kenntnissen der Bevölkerung ausgehen, auch wenn diese nur auf Gerüchten basierten, nicht geglaubt wurden, »flüchtig blieben und sich nicht zu einem Gesamtbild, zum Wissen, verdichteten« (Longerich 2006: 7; vgl. Steinert 1970; Bankier 1996). Auch Arbeiten, wie die von Michael Wildt (2007) zur Entwicklung der Volksgemeinschaft und damit zusammenhängend der Pogrome von 1919-1939, legen nahe, dass die alltägliche Verfolgung für viele sichtbar war.

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In Rahmen der Forschung zum Wissen um den Genozid oder der »Stimmung« der Bevölkerung während des Nationalsozialismus (Aly 2006: 13) sind häufig Tagebücher aus der Bevölkerung mit einbezogen worden. Doch, obwohl das Tagebuchschreiben während des Zweiten Weltkriegs einen Höhepunkt erreichte (zur Nieden 1993: 59), liegt nur eine einzige Monographie von Susanne zur Nieden über Tagebücher der letzten zwei Kriegsjahre von Berliner Frauen vor (zur Nieden 1993). Susanne zur Nieden fand nur wenige Hinweise auf die – zu dem Zeitpunkt bereits geschehene – Ausgrenzung und – bereits begonnene – Vernichtung der jüdischen Bevölkerung (Ebd.: 199). Margarethe Dörr hat zudem Kriegsende-Tagebücher von und Interviews mit am Kriegsende eher jungen Frauen sorgfältig kategorisiert und paraphrasiert (Dörr 1998a, 1998b, 1998c). Auch sie fand keine Hinweise in den Tagebüchern, doch in den Interviews erzählten ihr die Frauen von einzelnen Geschehnissen der Judenverfolgung, die sie entweder selbst bezeugen konnten oder erzählt bekamen. Diese Lücke in den Tagebüchern kann durch die Arbeiten Peter Longerichs und Bernward Dörners erklärt werden. Denn beide gehen von der Verdrängung des Wissens gerade in den letzten beiden Kriegsjahren aus (vgl. Longerich 2006: 328; Dörner 2007: 483f.). Auch Dörr bemerkt die gedankenlose Reaktion der damals noch jungen Frauen auf die beobachtete Ausgrenzung von und Gewalt gegenüber jüdischen Deutschen, »die teils auf jugendliche Unwissenheit, teils auf die verinnerlichte Rassenideologie, teils auf die Gewöhnung an Gewalt vor und während des Krieges zurückzuführen ist« (Dörr 1998: 267). Dies alles deutet darauf hin, dass die »annihilation policy […] a sort of taboo topic« (Bankier 1996: 106) während des Krieges war. Longerich zufolge wurde diese Verdrängung dadurch unterstützt, dass»das Thema in den letzten beiden Kriegsjahren eine wesentlich geringere Rolle in der Propaganda des Regimes wie in der Deutschlandpropaganda der Alliierten spielte, als in dem Zeitraum 1942-Mitte 1943« (Longerich 2006: 328). Dörner führt zudem Quellen an, in denen die Vernichtung der Juden bereits als geschehen dargestellt wurde (Dörner 2007: 483f.). In Bezug auf das Wissen um den Holocaust muss trotz der Verdrängung auch die Überlegung mit einbezogen werden, dass aus der Kenntnis einzelner Geschehnisse und Ansprachen nicht zwangsläufig auf einen systematischen Genozid geschlossen werden musste (Wildt 2008a, 2008b), da dies u.U. die Vorstellungskraft der Einzelnen überstieg.

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Tagebücher wurden in die Forschung zwar einbezogen aber bisher nur geringfügig systematisch ausgewertet. Sie wurden zumeist als empirische Quellen genutzt, die etwas darüber aussagen sollen, ob jemand etwas über den Genozid gewusst hat, hätte wissen können oder sogar damit einverstanden war (Bankier 1996; Longerich 2006; Dörner 2007; Fritzsche 2008). Das heißt, das investigative Interesse, die Mitwisser- und Komplizenschaft an der Shoah zu ergründen, herrscht bei der Lektüre der Tagebücher vor. In diesem Zusammenhang tritt die Unmittelbarkeit der Eindrücke aus den Selbstnarrativen in den Vordergrund, während der mediale Charakter von Tagebüchern, die ganz unterschiedliche Ziele verfolgen können und nicht selten für andere geschrieben wurden, vernachlässigt wird. In diesem Artikel möchte ich der Frage nach dem Kenntnisstand erneut nachgehen. Denn das Wissen um den Genozid ist eng mit Schamund Schuldgefühlen verbunden, legt es doch Mitwisserschaft und Unterstützung nahe. Dazu werde ich Tagebücher untersuchen, die von Frauen verfasst wurden, denen ihr ›Deutschsein‹ während des Nationalsozialismus nicht aberkannt wurde – die also als »arisch« galten – und die am Kriegsende über den Genozid, den verlorenen Krieg und ihr Deutschsein schrieben. Neben dem Verhältnis zwischen nicht-jüdischen und jüdischen sowie deutschen Sinti und Roma rückt die Kategorie des Geschlechts in den Blickpunkt. »Bei beiden Geschlechtern gibt es Täter, Opfer, Zuschauer, Mitläufer und … Menschen, die Widerstand leisteten.« (Bock 1997: 245) Dementsprechend intensiv wurde die Position und damit zusammenhängend die Frage der Verantwortung von Frauen während des NS diskutiert (vgl. Lanwerd/Stoehr 2007: 22ff.). Sie lässt sich bereits aufgrund der Breite der Bevölkerung nicht generell beantworten, sondern kann nur in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen untersucht werden. Die hier ausgewählten Tagebücher weisen ebenfalls auf große Unterschiede in der jeweiligen Position in und zur Diktatur hin. Es soll aber nicht um die Frage gehen, wie viel oder was genau die einzelnen Diaristinnen gewusst haben oder hätten wissen können. Vielmehr wurden die hier zu analysierenden Passagen geschrieben, nachdem die Shoah und der Vernichtungskrieg nicht mehr verdrängt werden konnten, da die Alliierten die Zustände in den Konzentrationslagern und Geschehnisse aus dem Vernichtungskrieg bekannt machten. Es steht daher im Vordergrund, wie sie darüber geschrieben (oder geschwiegen) haben und wie die Äußerungen dieses »Wissens« zu artikulierten Scham- und Schuldgefühlen in Bezie-

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hung stehen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass vorhandene Schamgefühle vielleicht nicht direkt in den Text einflossen oder sich hinter stereotypen Formulierungen verbergen können. Denn es ist gerade die Scham, die die Fähigkeit zur Intimität begrenzt (vgl. Tiedemann 2008: 246). Zunächst werde ich auf Tagebücher eingehen, die keinerlei Gefühle wie Scham oder Reue Ausdruck verleihen. Anschließend werde ich exemplarisch einige Reaktionen auf die Bekanntmachungen aufzeigen, die auch das vorhergehende Wissen thematisieren. Abschließend werden die damit verbundenen Scham- und Schuldgefühle beleuchtet. Als besonderes Charakteristikum zeigt sich in allen drei Bereichen das Denken in Kollektiven. Weiterhin können teilweise potentielle Adressaten erahnt werden, die den Stil des Tagebuchs beeinflussen.

M E THODIK Dass nicht-literarische Tagebücher zwar für die NS-Forschung als Quelle genutzt, aber bisher nur geringfügig quellenkritisch reflektiert worden sind, hat vermutlich damit zu tun, dass sie den Eindruck von Authentizität und Unmittelbarkeit vermitteln (Seifert 2008: 50). Hier muss jedoch berücksichtigt werden, dass der faktische Wahrheitsgehalt bei autobiographischen Dokumenten problematisch ist, vgl. Jancke/Ulbrich 2005: 12; (das bedeutet jedoch nicht, dass sie überhaupt keine Wahrheiten enthielten; einzelne Aussagen können objektiv durchaus wahr sein, Kanterian 2008). Zudem beschreiben sie nie vollständig, was eine Person über einen bestimmten Sachverhalt gedacht hat. Im Gegenteil: Tagebücher sind fragmentarisch. Sie sind eine »Niederschrift von […] Punkt zu Punkt […] im Angesicht des Erlebten« (Wuthenow 1990: 2), mit dem typischen Merkmal der Diskontinuität (Lejeune 2001: 105). Es kann also auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Diaristinnen alles aufschrieben, was sie über den Genozid an den europäischen Juden wussten, dachten oder was Hinweise darauf geben konnte. Sie schrieben auf, was sie für wichtig, für erwähnenswert hielten und nicht verheimlichen wollten oder wovon sie nicht abgelenkt wurden, es aufzuschreiben. Im Gegensatz zu später geführten Interviews oder Autobiographien, in denen das Erlebte zusammengefasst werden kann, bestehen Tagebücher zudem nur teilweise aus nachträglichen Übersichten oder Zusammenfassungen. Diaristinnen verfügen nicht über den Wissensvorsprung, die Er-

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leichterung oder Belastung die Interviews auszeichnet, die erst Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurden (z.B. Niethammer 1983; Rosenthal 1997; Dörr 1998; Welzer 2002; Toussaint 2007; Wachsmuth 2009). Doch, obwohl sie auf eine offene Zukunft gerichtet sind (Lejeune 2001: 103), ist in vielen Kriegsende-Tagebüchern das Wissen über die Shoah bereits präsent. Dieses impliziert einen Blick zurück auf die vergangenen Jahre. Dusini betont die rückwärtsgewandte Erzählperspektive und bezeichnet diese als »erinnernde Naheinstellung« (Dusini 2005: 73, 76). In dieser Weise sind die Reflexionen des Wissens, der Schuld- und Schamgefühle auch hier am besten zu fassen. Das Genre »Tagebuch« ist hochgradig diversifiziert. Es kann sich nur um kurze Notizen oder ausführliche Selbstreflexionen handeln, die dazu dienen, Rechenschaft abzulegen, Geschehnisse zu verschleiern oder sich abzulenken (Lejeune 2001: 106f.). Einige Verfasserinnen nutzen das Tagebuchschreiben, um sich selbst zu bestätigen, in anderen Fällen üben sie Selbstzensur. Für diesen Artikel sind keine Tagebücher ausgewählt worden, die nur aus kurzen Notizen bestehen. Dennoch sind die Reflexionen von unterschiedlicher Länge. Einige bestehen aus Passagen mit fünf bis zehn Sätzen, andere aus Erzählungen und Reflexionen über mehrere Seiten. Auslassungen sind nur schwer zu erfassen. Zudem kann nicht bestimmt werden, ob eine Auslassung eine Selbstzensur bedeutet, das Nachdenken über etwas anderes oder einfach etwas zu Selbstverständliches für die Autorin darstellt. Trotz dieser methodischen Problematik sind Aspekte der Zeit und des Denkens in Tagebüchern archiviert (Lejeune 2001: 106f.). Tagebücher entstehen letztlich immer in einem kommunikativen Akt und sind häufig sogar explizit für Freunde, Verwandte oder sogar die Öffentlichkeit geschrieben (Dusini 2005: 70f.). Dies trifft insbesondere bei den Tagebüchern zu, die während des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurden. Nicht wenige der hier untersuchten Kriegsende-Tagebücher wurden als Ersatz für Briefkommunikation geschrieben. Andere wurden für die eigenen (potentiellen) Kinder und Enkel verfasst. Aber selbst bei Tagebüchern, die nicht für Adressaten geschrieben wurden, war die Gesellschaft nie ganz ausgeschlossen. Gab es doch wenigstens eine/n potentielle/n imaginäre/n Leser/in. Tagebücher sind nicht repräsentativ (Ulbrich/Jancke 2005: 12). Die Analyse in diesem Artikel ist daher darauf ausgerichtet, unterschiedliche potentielle Positionen zu explorieren, ohne den Anspruch auf Vollständig-

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keit oder Ausgewogenheit zu erheben. Aufgrund der Kürze können viele Aspekte auch nur berührt, aber nicht entwickelt werden. Der Artikel basiert auf einer Auswahl von 26 Tagebüchern, die in zwei Archiven recherchiert wurden: im Bio-Archiv von Walter Kempowski in der Akademie der Künste in Berlin und im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Es liegen mir nicht alle Tagebücher im Original vor. Das Tagebucharchiv verschickt bereits abgetippte Tagebücher und einige der Tagebücher im Kempowski Bio-Archiv liegen auch nur übertragen vor. Die Diaristinnen oder ihre Angehörigen beteuern in diesen Fällen, nichts verändert zu haben. Manchen Tagebüchern sind in Form von Begleitbriefen nachträgliche, oftmals kritische Reflexionen beigefügt. Sieben dieser Tagebücher werden zitiert, die anderen dienen als Hintergrund. Die Diaristinnen befanden sich zur Zeit der Niederschrift in den verschiedenen Besatzungszonen. Sie waren unterschiedlichen Alters, hatten unterschiedliche soziale Hintergründe, Berufe und Familienstände. Alle Zitate wurden anonymisiert und die Diaristinnen haben neue Namen erhalten.

V ERHANDLUNGEN DES »W ISSENS «: S CHAM - UND S CHULDGEFÜHLE Tagebücher, in denen Wissen und Scham nicht er wähnt werden Nicht in allen Tagebüchern wird über wichtige politische Ereignisse berichtet und nicht in allen wird über die Bekanntmachungen der Zustände in den Konzentrationslagern geschrieben. Einige Tagebücher hören auf, bevor der Krieg zu Ende war, bevor die Alliierten die Zuständen in den Konzentrationslagern bekannt machten. Bei anderen ist die Leerstelle vermutlich durch die äußeren Umstände erklärbar: Manche Diaristinnen waren auf der Flucht oder auf Wanderschaft. Andere hatten längere Zeit keine Elektrizität und damit kein Radio. Auf das gesamte Material bezogen, lässt sich feststellen, dass Frauen aus der sowjetisch und französisch besetzten Zone weniger über Konzentrationslager und mehr über Kriegsverbrechen an der Front und während der Besatzung durch die Wehrmacht schrieben, von denen ihnen die alliierten Soldaten erzählten, als die Frauen, die in US-amerikanisch und britisch besetzten Gebieten lebten. Dies kann mit

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der unterschiedlichen Praxis der Alliierten zusammenhängen, kann jedoch auch der Zufälligkeit des archivierten Materials geschuldet sein. Es gibt allerdings auch Tagebücher, in denen sich für das Verschweigen der Konzentrationslager andere Gründe vermuten lassen, nämlich in Tagebüchern von Frauen, die vom Nationalsozialismus überzeugt blieben und/ oder Karrieremöglichkeiten in der Zeit des NS ergriffen. Dies ist bei den folgenden zwei Beispielen aus meinem Sample der Fall. Das erste Beispiel ist das Tagebuch von Hannelore. Hannelore war 33 Jahre alt, Bäuerin und Mutter von zwei Kindern. Ihr Mann ist bereits 1943 in Kriegsgefangenschaft gekommen. Wegen seiner Mitgliedschaft in der SS wurde er während der Besatzung zudem polizeilich gesucht. Sie selbst war seit 1932 NSDAP-Mitglied und Kreisbäuerin, weshalb sie im August 1945 von der Roten Armee zum Verhör einberufen worden und ihrer Erzählung zufolge knapp einer Verhaftung entgangen war. Dass sie nach wie vor überzeugte Nationalsozialistin war, wird u.a. an der folgenden Äußerung deutlich, die während der ersten Besatzung durch die US-amerikanische Armee geschrieben wurde: Hannelore: »Das 3. Reich, der Garant des Friedens, das 1000jährige, ist im 13. Jahr seines Bestehens zusammen gebrochen, es ist gescheitert an den Menschen, deren Erbärmlichkeit Hitler nicht ins Gewicht zog. Die Idee war gut und vieles an ihr wird weiterleben.« (10.05.1945)

Sie äußert ihre Enttäuschung über das Volk, dass zu der »Idee […] nicht bereit« (24.04.1945) sei. Was in ihren Augen das Gute am Nationalsozialismus war, erläutert sie nicht weiter. Ihr Schweigen über die Konzentrationslager kann so unterschiedliche Gründe haben, wie übergroße Scham oder komplettes Einverständnis mit der Shoah. Das kann und soll hier nicht ergründet werden. Hervorgehoben werden soll lediglich der Zusammenhang zwischen ihrem Schweigen und ihrer langjährigen NSDAP-Mitgliedschaft und dem Schweigen über die Konzentrationslager. Denn im Gegensatz zu Tagebüchern, in denen so gut wie keine Berichte über äußere politische Ereignisse zu finden sind (in denen noch nicht einmal die Kapitulation Deutschlands erwähnt wird), zeigt u.a. das obige Zitat, dass sie sehr wohl politische Inhalte in ihr Tagebuch aufgenommen hat.

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Das zweite Beispiel ist das Tagebuch von Irmtraud. Sie war 1945 22 Jahre alt, war fünf Jahre beim Reichsarbeitsdienst (RAD) und zum Schluss Maidenführerin. Ihre Gruppe unterstützte die Luftwaffe, war also aktiv in den Krieg involviert. Irmtraud: »Durch das Radio kommen nun die tollsten Geschichten! Man weiß nie, was davon glaubhaft ist! […] Deutsche Filme würden schon wieder gedreht, aber bis dahin US-amerikanische gezeigt! Vor allen Dingen erstmal der KZ-Film, den sich jeder ansehen müsste!«. (27.05.1945, Herv. i.O.)

Außer dieser einen Äußerung gibt es in dem Tagebuch keine weitere Erwähnung von NS-Verbrechen. Stattdessen träumt sie noch im August anlässlich der Kapitulation Japans davon, dass Deutschland den Krieg hätte gewinnen können. Denn sie ist überzeugt, die Atombombe sei eine deutsche Erfindung, und, so schreibt sie in ihrem Tagebuch: »[W]äre nicht alles organisatorisch schief gegangen [»die Bombe wurde bei der Invasion von den Engländern erobert«], wir hättens noch geschafft.« (13.08.1945)

In diesen beiden Tagebüchern gibt es keinerlei Äußerungen von Reue oder Scham über den Nationalsozialismus bzw. darüber, aktiv daran beteiligt gewesen zu sein. Hingegen ist die zehn Jahre ältere Hannelore nach wie vor von »der Idee« des Nationalsozialismus überzeugt. Irmtraud äußert sich nicht dahingehend, hebt aber immer wieder hervor, wie glücklich sie über ihre Karriere und ihre Arbeit beim RAD war. Außer dem Altersunterschied und dem unterschiedlichen ausdrücklichen Festhalten am NS gibt es noch einen weiteren Unterschied zwischen den beiden Tagebüchern und den möglichen Gründen für das Schweigen: Hannelore schreibt das Tagebuch an ihren Mann, zu dem sie postalisch keinen Kontakt hat. Im Zusammenhang mit dem NS und den Verhaftungen seitens der Alliierten ist ihr Tagebuch Ausdruck der Komplizenschaft mit ihrem Mann. So schreibt sie beispielsweise bei ihrer Verhaftung, dass sie sich sicher gewesen sei, man könne ihr nichts nachweisen (15.09.1945). Zudem betont sie immer wieder, dass es gut sei, dass er nicht da sei, da aufgrund seiner SS-Mitgliedschaft so häufig nach ihm gefragt würde (z.B. 18.06.1945). Irmtraud hingegen lebt in keiner Liebesbeziehung. Noch 1942 schreibt sie, dass sie ihre Tagebücher einer Freundin zu lesen gegeben hat.

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Eventuell sind also auch die folgenden Jahre so geschrieben, dass Freundinnen es lesen können und ebenso eventuell weiß sie ihren Freundinnen gegenüber – von denen einige sicher auch beim RAD waren – ihre späteren Gedanken zum NS nicht auszudrücken.

Bekundungen des (Nicht-)Wissens Der Umstand, nichts oder doch etwas gewusst zu haben, wird in einigen der Kriegsende-Tagebücher beschrieben, in anderen kann dies nur indirekt erahnt werden. Ich möchte im Folgenden zunächst den unterschiedlichen Arten des Eingeständnisses oder der Verneinung des Wissens nachgehen und erst in weiteren Schritten zeigen, wie diese Bekundungen mit Scham- und Schuldgefühlen verbunden sind. Die folgenden Zitate zeigen unterschiedliche Abstufungen von Ahnungslosigkeit über Ahnung und Unglauben zu Wissen. Anita: »Verbrechen sind begangen worden, von denen niemand etwas geahnt hat, für die wir heute alle büßen müssen und mit Recht.« (20.04.1945)

Anita war 1945 21 Jahre alt. Sie ist überwiegend während des Nationalsozialismus sozialisiert worden und war bis in die ersten Besatzungstage (ab dem 14. April 1945 war ihr Ort US-amerikanisch besetzt), an denen sie von den Zuständen in den Konzentrationslagern erfahren hatte, eine begeisterte Anhängerin. Sie schreibt nicht, dass sie selbst nichts gewusst habe, sondern gebraucht die allgemeine Formel »niemand« (an anderer Stelle spricht sie davon, dass »wir« nichts gewusst haben). Diese kollektive Formulierung findet sich auch im Tagebuch von Elisabeth: Elisabeth: »Was man über die Konzentrationslager in den letzten Tagen hört, haben wir nicht geahnt. Es ist so furchtbar, daß man nicht glauben kann und will, daß Deutsche so sadistisch sein können. Man muß ja Verbrecher für diese Posten genommen haben.« (03.05.1945)

Beide sprechen nicht über sich individuell, sondern über ein imaginäres Kollektiv, das nicht näher umgrenzt wird. Es gibt jedoch einen signifikanten Unterschied zwischen den beiden. Elisabeth, die 1878 geboren wurde, den NS also bereits als drittes politisches System kennen lernte, bezieht »Verbrecher«, die vermutlich auch deutsch wären, mit ein. Allerdings

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passen diese nicht zu dem Deutschsein, von dem sie sich nicht vorstellen kann, dass ›Sadismus‹ daraus entstünde. Dies ist für sie – das wird aus anderen Passagen deutlich – das Deutschsein, dass mit der sogenannten großen deutschen Kultur verbunden ist. So werden sie aus dem Kollektiv ausgegrenzt. Das »man« bei Anita kann sich hingegen auf die gesamte Volksgemeinschaft der Deutschen beziehen oder auch nur auf ihr näheres Umfeld. Sie zieht keine individuellen Täter in Betracht, will also nicht Einzelne zur Verantwortung ziehen, sondern setzt die Gemeinschaft zumindest zu diesem Zeitpunkt an die erste Stelle. Für diese nimmt sie dann auch das »Büßen-Müssen« auf sich. Andererseits kann es auch so gesehen werden, dass sie nicht andere für ihren Glauben an den Nationalsozialismus verantwortlich machen will. Möglicherweise erkennt sie ihre eigene Schuld als Teil einer Volksgemeinschaft an, die sich nicht distanziert hat. Neben diesen absoluten Verneinungen, »etwas« gewusst zu haben, gibt es andere, die ihre Ahnungen reflektieren: Helga: »Ich hatte ja schon viel gehört, oft aber nicht geglaubt und auch von diesen Greueltaten nicht entfernt etwas gewusst.« (13.05.1945)

Helga, die das Tagebuch an ihren Mann schrieb, der als Wehrmachtspfarrer in Kriegsgefangenschaft war und zu dem der Kontakt abgebrochen war, knüpft inhaltlich ein wenig an Elisabeth an. Der Unglaube an die Gerüchte hat sicher auch damit zu tun, dass sie dies von Deutschen nicht erwartet hatte, dass diese Verbrechen eben auch ihren Kenntnissen, ihrem Vertrauen in das Land, in dem sie lebt, widersprachen. Allerdings argumentiert sie nicht kollektiv, sondern reflektiert individuell. Das trifft auch auf Hildegard zu: Hildegard: »Frau Behrendts erzählte von den Greueln der SS im Konzentrationslager Belsen bei Bremen. Alle Welt ist voll davon. Es klingt, dass man es nicht glauben kann. Bestätigt nur meine Meinung, dass der Hitler die Lasten und Verbrechen aller Zeitalter im Nationalsozialismus zusammengetragen hat.« (02.05.1945)

Hildegard scheint ihre Ahnungen nicht verdrängt zu haben. Das mir vorliegende Tagebuch beginnt bereits im Januar 1945. Sie ist Englischlehrerin in Hamburg und bringt ihre Hoffnung auf die Niederlage Deutschlands

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und den Einmarsch der Briten immer wieder zum Ausdruck. Dennoch war sie anscheinend nicht in der Lage, sich ein umfassendes Bild zu machen. Ähnliches lässt sich auch bei Stephanie vermuten: Stephanie: »Wir wussten von vielen Dingen und Handlungen, die wir verdammten, wie man Unmenschlichkeit verdammt.« (27.03.1945)

Stephanie, die in Süddeutschland lebt und gerade ihr Studium abgeschlossen hat spezifiziert ihr Wissen nicht. Sie war selbst kurzzeitig von der Gestapo in Schutzhaft genommen worden (man erfährt nicht, warum), hat die Gewalt des Systems also selbst erlebt und verfügt dadurch über mehr Wissen als andere. Allerdings wird nicht deutlich, wie umfangreich es war. Zudem benutzt auch sie das Pronomen, das ein Kollektiv anzeigt: »wir«.

Artikulationen von Schuld- und Schamgefühlen Die Artikulationen des (Nicht-)Wissens und Erzählungen über die Bekanntmachungen der Zustände in den Konzentrationslagern durch die Alliierten sind alle mit Äußerungen von Scham- und Schuldgefühlen verbunden. Worauf sich diese Gefühle weiter beziehen, bzw. wodurch sie sich differenzieren lassen, soll nun untersucht werden. Dazu komme ich zunächst auf das obige Zitat von Anita zurück und erweitere es ein wenig: Anita: »Ein denkwürdiger Tag ist dies für uns, der 20. April, Hitlers Geburtstag. Verfluchen werden viele, ja fast alle Deutsche heute diesen Tag und wie waren wir einmal so froh darüber. […] Die Zerstörung und Vernichtung unseres herrlichen stolzen und geliebten Vaterlandes ist das einzige, was restlos gelungen ist. Verbrechen sind begangen worden, von denen niemand etwas geahnt hat, für die wir heute alle büßen müssen und mit Recht. Und daß sie in Deutschland geschehen konnten, belastet uns alle und wenn ein deutscher Offizier bei dem Anblick der Konzentrationsläger [sic!] sagt, daß er nun auch seine Ehre verloren habe, dann hat er ein wahres Wort gesprochen. Was müssen die Feinde von uns denken! Sie sind ja jetzt die Herren … und das alles haben wir dem zu verdanken, der heute Geburtstag hat!! Vielleicht ist nie ein Mensch mehr geliebt und verehrt worden, aber vielleicht auch nie von den gleichen Menschen gehasst, nachdem sich alles als Lug und Trug erwiesen hat.« (20.04.1945)

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Dieses Zitat könnte als eine Abkehr vom Nationalsozialismus gelesen werden. Denn sie spricht davon, dass sie – und mit ihr das gesamte Kollektiv der Deutschen – den Glauben an Hitler verloren hat. Die Zustände in den Konzentrationslagern entehren in ihren Augen zudem die deutschen Offiziere, die im Krieg leitende Positionen für das verbrecherische System eingenommen hatten. Dass in ihren Augen zudem alle zu Recht für die Verbrechen »büßen« müssen, erklärt sich vermutlich aus ihrer eigenen Geschichte. Im Sommer 1944 schreibt sie über ihre Tätigkeit im Rahmen des RAD. Sie hat – trotz des Bewusstseins, dass sie dadurch zum Tod anderer Menschen beiträgt – in einer Munitionsfabrik gern für den Sieg Deutschlands gearbeitet. In ihrem Anruf der kollektiven Verantwortung klingt daher auch mit, dass sich »alle« (Anita) in dieser Weise – und wenn auch nicht in vollem Umfange wissend – für ein verbrecherisches Deutschland eingesetzt haben. In Anitas Tagebuch – das als Seelenspiegel konzipiert war – kann man im Laufe der US-amerikanischen Besatzung durchaus Abkehrbewegungen feststellen. Allerdings sind diese noch sehr ambivalent. Denn am 28.04.1945 schreibt sie ihre Hoffnungen für die Zukunft Deutschlands auf. Dazu berichtet sie zunächst von einer Unterhaltung mit einem antisemitischen Amerikaner, der es für »Hitlers beste Idee« hielt, »die Juden zu beseitigen«. Sie beurteilt diese Äußerung nicht, bringt aber ihre Freude zum Ausdruck, dass die Amerikaner Deutschland (die Landschaft) zu mögen scheinen und kommt auf ihre Furcht vor dem Kommunismus als möglicher neuer Regierungsform zu sprechen. Dann schreibt sie: Anita: »Die Ideen des Nationalsozialismus waren zum größten Teil gut und wenn sie richtig verwertet würden, wäre es ein herrliches Ergebnis und man könnte sagen, dass doch nicht alles umsonst gewesen ist, was das Volk erduldet hat.« (28.04.1945)

Ihre Scham bezieht sich also nur auf die Zustände in den Konzentrationslagern, keinesfalls auf die Ideen, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Stephanie hingegen, die die Gewalt selbst zu spüren bekommen hat, sieht die Verantwortung nicht allein in den begangenen Verbrechen: Stephanie: »Ich denke über mein Land nach. In einem gewissen Sinne sind wir schuldig, wenn auch wohl nicht in der Weise, wie die feindliche Propaganda uns nennen wird. Aber wir sind schuldig um unserer Passivität willen. Wir wussten von

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vielen Dingen und Handlungen, die wir verdammten, wie man Unmenschlichkeit verdammt. Doch wir protestierten und rebellierten schweigend. Unsere Schuld liegt im Schweigen. Jemand wagte, seine Meinung zu sagen. Dann wurde er bestraft, gequält vielleicht, oder getötet. Aber warum haben wir nicht alle gesagt, was wir dachten?« (27.03.1945)

Für Stephanie liegt die Verantwortung im Schweigen. In ihren Augen besteht die Schuld darin, dass nicht alle gemeinsam das Schweigen gebrochen haben. Das heißt sie übernimmt Verantwortung für ihre Passivität, nicht aber für die Verbrechen. Doch auch sie spricht nicht von den Tätern. Diese sind ebenso wie bei Anita aus der Gemeinschaft des »wir« ausgegrenzt, werden aber auch nicht näher als andere Gruppe benannt. Mangelnder Widerstand wird auch in anderen Tagebüchern angesprochen, so auch von Helga: Helga: »Wenn nicht vieles so traurig wäre, dann müsste man oft lachen, wenn man feststellt, wie viele ihre antinationalistische Ader jetzt entdecken. Einige sind bereits abtransportiert worden: […] Ganz furchtbar sind ja die Berichte aus den Konzentrationslagern. So etwas ist ja bald nicht möglich. Man müsste alle Nazileute in solche Lager sperren, das wäre richtig. Ich hatte ja schon viel gehört, oft aber nicht geglaubt und auch von diesen Greueltaten nicht entfernt etwas gewusst […] Irgendwie sind wir alle daran schuldig, dass wir nicht laut protestiert haben, selbst wenn es unser Leben gekostet hätte. Auch wir beide haben oft aus Furcht unsere Meinung nicht gesagt, das muss zugegeben werden. Ich schäme mich jetzt oft darüber.« (13.05.1945)

Im Unterschied zu Anita und Stephanie reflektiert sie ihr eigenes Schweigen und das Verhalten ihres Mannes als individuelles Paarverhalten. Auch für sie sind »Nazileute« die anderen. Das verwundert etwas, da sie wenig später darüber schreibt, dass ihr Mann NSDAP-Mitglied war, ihrer Erzählung zufolge, um versetzt zu werden. Im Nachhinein hält sie diesen Schritt für falsch. Eine weitere Facette dieses Themas zeigt sich in Hildegards Tagebuch, für die der Nationalsozialismus ebenfalls bereits das dritte politische System war. Wie bereits erwähnt, äußert sie sich dem NS gegenüber durchweg sehr kritisch:

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Hildegard: »Du geschändetes und getretenes Deutschland, verraten von deinen Kindern, die deinem Verderber Hitler nachliefen, ihn zu immer üblerem Tun anspornten, weil sie kein Rückgrat hatten. Es gab keine Feme, keine ›Partisanen‹, keinen passiven Widerstand, keine eisige innere Abwehr, wie es unsere Mutter Deutschland hätte verlangen müssen. Jedes kleine Land, das auf sich hielt, hatte das alles. Und doch, auch Deutschland hat seine Märtyrer gehabt. Abertausende, namenlose – in den übervollen KZ’s. Die Wehrmacht, sagte ich immer, hat mehr Angst vor ihrem Henker Hitler als vor den Russen gehabt.« (04.05.1945)

Bei Hildegards Tagebuch fällt die Tendenz auf, sich als außerhalb des Kollektivs, als Beobachterin darzustellen. Sie steht dem NS kritisch gegenüber, ist ihm anscheinend nicht gefolgt. Sie beklagt den fehlenden Widerstand, beschreibt sich selbst aber nicht als dafür verantwortlich. In einigen Tagebüchern weitet sich die Scham über den mangelnden Widerstand zu der Scham darüber aus, andere gebraucht zu haben, um den Nationalsozialismus zu überwinden, so auch bei Elisabeth: Elisabeth: »Ein eigenartiges und beschämendes Gefühl, daß wir uns nicht allein der Nazis entledigen konnten, sondern daß unsere Gegner es müssen. Kein Ausländer kann ermessen, wie geknebelt wir waren. Keiner konnte sich öffentlich auflehnen, da das Schreckgespenst der Gestapo auf uns lauerte. Was man über die Konzentrationslager in den letzten Tagen hört, haben wir nicht geahnt. Es ist so furchtbar, daß man nicht glauben kann und will, daß Deutsche so sadistisch sein können. Man muß ja Verbrecher für diese Posten genommen haben. – Wenn meine Enkel einst mein Aufzeichnungen lesen, …« (03.05.1945)

Ähnlich wie Hildegard (und zuvor Helga) thematisiert Elisabeth nicht nur den mangelnden Widerstand, sondern versucht die Ursache dafür zu klären: die Angst. Denn, so Stephanie, »wir lieben das Leben. Wir lieben es noch mehr, seit es so schwierig und mühsam geworden ist.« (27.03.1945) Elisabeth verstärkt dies noch einmal: Elisabeth: »Das Kapitel Konzentrationslager ist aufgerollt. Wenn nur 1/3 davon wahr ist, ist es grausig. Nun wird das ganze Volk dafür verantwortlich gemacht. Punkt? ›Alle Schuld rächt sich auf Erden‹. Was haben wir dagegen machen können? Schwebte jedem der Strick doch immer über dem Haupt.« (23.04.1945)

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Für Stephanie bestehen die Erinnerung an die Angst davor, Widerstand zu leisten und die Scham darüber, keinen Widerstand geleistet zu haben gleichzeitig. Das führt sie zu folgenden Gedanken: »Niemand sonst [außer den Deutschen] wird begreifen, was es heißt, gegen einen äußeren und einen inneren Feind zu kämpfen. Aber der innere erschien am Anfang ja nicht einmal wie ein Feind, denn wir glaubten, und einige Ideen waren ja auch so gut – oder erschienen sie uns nur so? Wir glaubten so tief daran, dass wir nur allmählich erkannten, wie wenig die Theorie der Praxis entsprach, dass unwissende und gemeine Charaktere aus dem Gegenstand unseres Glaubens ein Instrument für ihre eigenen Zwecke gemacht hatten. Erst die Not, die Gefahr und das Elend dieses Krieges haben völlig enthüllt, wie sehr wir betrogen wurden.« (27.03.1945)

Beide, Elisabeth und Stephanie beziehen die Sicht von außen ein. Elisabeth schreibt: »Kein Ausländer kann ermessen, wie geknebelt wir waren.« Und Stephanie führt das Dilemma an, gegen einen inneren und äußeren Feind kämpfen zu müssen, das nur von Deutschen verstanden werden könne. Gerade in der Unterscheidung zwischen dem ›eigenen‹ und dem ›anderen‹ Kollektiv kann sich die Scham ausdrücken, keinen Widerstand geleistet zu haben. Denn Scham ist eine intersubjektive Empfindung. Das heißt, um sie zu empfinden, braucht es einen Zeugen, eine/n Außenstehende/n, der/die beschämt (vgl. Tiedemann 2008: 246). Diese/r Außenstehende muss nicht unbedingt real existieren, sondern kann imaginär sein (ebd.: 248). Diese Formulierungen stehen daher vermutlich zu imaginären Leser/-innen des Tagebuchs in Beziehung. Bei Stephanie sind diese leider nicht bekannt. Doch Elisabeth schrieb das Tagebuch mit dem Gedanken, es könne einmal von ihren Enkel/-innen gelesen werden. Ein Umstand, der sich vermutlich auf den Stil auswirkt. Die späteren Enkel/-innen werden eine – ähnlich wie die »Ausländer« (Elisabeth) – Außenperspektive auf das Geschehen haben. Zudem erklärt dies auch die fehlende Reflexion der eigenen Fehler. Im Gegensatz zu Helga, die an ihren Mann schrieb und im imaginären Gespräch mit ihm die gemeinsame Vergangenheit reflektierte, hat Elisabeth versucht, sich späteren Generationen zu erklären. Stephanie, die während des NS erwachsen wurde, bringt in dem obigen Zitat weiterhin zum Ausdruck, dass sie sich verraten fühlt. Ihr Glaube – und der anderer – wurde instrumentalisiert. Anita, die nur wenig jünger ist, fühlt sich ebenfalls betrogen. Bei ihr kommt hinzu, dass sie während

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des NS glücklich war und keiner Behörde je negativ aufgefallen zu sein schien. Bei beiden klingt noch die Überzeugung an, Deutschland hätte Krieg führen müssen. Dies führt in einer Passage in Anita’s Tagebuch zu einer Gleichstellung von Konzentrationslagern und Luftkrieg und damit doch wieder zu einer Ablehnung der – in ihrem Falle nur abstrakt zum Ausdruck gebrachten – Schuldgefühle: Anita: »Unser Deutschland. Aber wir tragen ja alle Schuld, direct oder indirect [sic!] und das ist doch das Furchtbare. Gewiss ist es nicht so, wie die Feinde es heute hinstellen, aber was geschehen ist, belastet das ganze Volk dennoch … Das sagen die Feinde wohl, welche Greuel in den Konzentrationslägern geschehen sind, von denen wir nichts geahnt haben, aber von dem tausendfachen Mord durch ihre Bomben, die auch der Teufel ersonnen hat, davon spricht keiner …« (08.05.1945)

Die Bomben der Alliierten sind das, was Anita in dem Zitat weiter oben meinte, wenn sie schrieb: »was das Volk erduldet hat«. Auch hier zeigt sich, dass sie zwar Verantwortung dafür übernimmt, selbst gern in der Waffenfabrik gearbeitet zu haben, sie sich jedoch keinesfalls für die Verbrechen oder den Kriegsbeginn verantwortlich fühlt. Zudem hat sie von den Zuständen in den Konzentrationslagern durch Bilder und Berichte erfahren, während sie die Bomben selbst erlebt hat. Die Bomben sind für sie konkret, die Konzentrationslager weit weg. Die Zusammenhänge werden von ihr zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt. Allerdings findet die eigene Verteidigung nicht nur dadurch statt, dass die Schuld in die anderen, die Alliierten, die Deutschland bombardierten, externalisiert wird. Auch die von Elisabeth geäußerte Drohung des »Strick[s] über dem Haupt« und die distanzierten Beobachtungen von Hildegard enthalten Abwehr von Verantwortung. Nur Helga äußert Scham über ihre Angst, das Schweigen und das Mitmachen. Doch auch hier müssen die obigen Ausführungen zur imaginären Leserschaft bedacht werden, um die Unterschiede im Stil wenigstens ansatzweise verstehen zu können. Denn Helga schreibt an ihren Mann, mit dem sie diese Zeit durchlebt und gemeinsame Entscheidungen getroffen hat. Sie braucht sich daher vor ihm nicht zu schämen. Im Gegenteil schämt sie sich vor anderen für die gemeinsam gewählten Strategien der Passivität und des Opportunismus.

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Die Scham, dem Kollektiv anzugehören Eine etwas andere Auseinandersetzung mit dem NS als bei Anita und Stephanie zeigt das Tagebuch einer weiteren jungen Frau: Anna ist die Tochter einer Bauernfamilie aus Schleswig-Holstein, die mit der nationalsozialistischen Regierung einverstanden war, da diese viel für die Bauern getan habe, so schreibt sie im einleitenden Text zu ihrem Tagebuch. Sie ist 17 Jahre alt, als sie von der britischen Armee in ein Nebenlager von Neuengamme zur Pflege ehemaliger KZ-Häftlinge abkommandiert wurde. Dort spricht sie zunächst mit deutschen Sanitätern, die ihr erzählen, dass die Gefangenen von der SS aus einem anderen Lager dorthin gebracht, abgeladen und einfach liegen gelassen wurden. Anschließend wurden sie von der britischen Armee gefunden. Diese Geschichte verbindet sich mit den Bildern aus Bergen Belsen, die sie wenige Tage zuvor gesehen hat und sie verliert den Glauben – nicht nur, aber auch – an den Nationalsozialismus: Anna: »Was ist das denn gewesen, der Nationalsozialismus? Wir dachten doch immer, das sei etwas Schönes und Edles. Wieso war alles so grausam? Warum bringen die denn unschuldige Menschen um, die so hilflos sind? Man kann doch mit seinen Feinden nicht so umgehen! Das ist ja unfassbar. In dieser Nacht bin ich endgültig fertig geworden mit all dem, was ich für gut gehalten habe. Menschen sind widerliche Schweine alle, alle – ich eingeschlossen. Und dann soll es einen Gott geben? Und der lässt das alles zu?« (02.05.1945)

Diese Krise mündet zwei Tage später in folgendem Ausspruch: »Wie schäme ich mich in diesem Augenblick, Deutsche zu sein! Was haben wir angerichtet! Und meine Mutter glaubt nicht, dass Deutsche so etwas täten.« (04.05.1945)

Diese Scham, dem Kollektiv der Deutschen und nicht einem anderen anzugehören, bildet den Kernpunkt aller gezeigten Scham- und Schuldgefühle: der Scham der Verbrechen, des Glaubens an den NS, des mangelnden Widerstands, der eigenen Angst vor der Gestapo und der Scham, den NS ohne Hilfe von außen nicht überwunden zu haben. Sie wird in mehreren Tagebüchern mehr oder weniger direkt zum Ausdruck gebracht, wie hier, um ein letztes Beispiel zu geben, bei Elisabeth.

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Elisabeth: »Der Deutsche ist zum Paria […] unter den Völkern geworden. Deutschlands Ehre genommen durch die Grausamkeiten, die eine wahnwitzige Idee unschuldigen Menschen zugefügt hat. Das [sic!] so etwas von Deutschen verübt ist, hat man nie für möglich gehalten, Deutschland, das einen Goethe, Schiller, Humboldt und Kant stolz zu seinem ureigensten Eigentum gezählt hat, so tief sinken konnte.« (02.05.1945)

Zugleich aber wird die Verantwortung in einigen Tagebüchern auch gleich wieder abgewehrt. Diese Abwehr war die häufigste Reaktion (Assmann 2006). In den Tagebüchern kann diese teilweise mit den imaginären Leser/-innen erklärt werden, vor denen sich geschämt wird. Doch reicht diese Vorstellung sicher nicht aus. Die Abwehr zeigt sich gerade in den kollektiven Beschreibungen des Wissens und der Angst. Peter Longerich interpretiert die stereotype Aussage »Davon haben wir nichts gewusst«, die eben nicht sagt, »ich« habe nichts gewusst, mit der eingangs erwähnten Verdrängung in den letzten zwei Kriegsjahren (Longerich 2006: 328). Es ist jedoch noch eine weitere Interpretation möglich. Denn während des Nationalsozialismus wurde die Volksgemeinschaft vor das individuelle Gewissen gestellt (Klemperer 1975: 33). Das heißt, das Kollektiv war bedeutender als das Individuum. Dies wird hier in den Tagebüchern der jüngeren Frauen besonders deutlich. Irmtraud, Anita, Stephanie und Anna sind alle überwiegend während des NS sozialisiert worden. Irmtraud äußert sich nicht über ihre Enttäuschung. Sie sieht sich nach wie vor in der Gemeinschaft der ehemaligen RAD-lerinnen und ist glücklich, schnell einen neuen Ausbildungsplatz gefunden zu haben. Anita ist am Kriegsende noch ambivalent. Einerseits ist sie entsetzt über die Verbrechen, andererseits hat sie sich noch nicht von den Idealen gelöst. Ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus erinnert an Viktor Klemperers Schilderungen von Gesprächen mit jungen Erwachsenen, in denen er eben diese Verwirrung feststellen musste (Klemperer 1975: 8). Stephanies Enttäuschung ist konkreter und ausgereifter und Annas nimmt absoluten Charakter an. Alle drei schreiben vom Kollektiv ausgehend. Für Anita und Stephanie liegt das »wir« außerhalb des Verbrechens. Anna hingegen schämt sich dafür, dem Kollektiv anzugehören, das die Verbrechen begangen hat. Doch auch die Älteren sind nicht frei von kollektivistischen Gedanken, haben jedoch trotz Angst und Opportunismus eine größere Distanz dazu. Hannelore distanziert sich als NSDAP-Mitglied von der Volksgemein-

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schaft, da eben »die Leute« nicht für die nationalsozialistische Idee bereit gewesen wären. Sie gehört einem anderen Kollektiv an. Elisabeth, die immer wieder die kritische Einstellung ihres verstorbenen Mannes dem NS gegenüber hervorhebt, identifiziert sich mit einem Deutschland vor dem NS, dem Deutschland der Kultur und der großen Denker. Doch sie vermag nicht, sich außerhalb der Volksgemeinschaft zu verorten und kann sich nicht vorstellen, dass diese Verbrechen trotz der Kultur möglich waren. Ähnlich wie bei Anita und Stephanie werden Täter aus dem »wir« ausgegrenzt, mit dem Unterschied, dass ihre Täter auch deutsche Verbrecher sein können. Den Gedanken, dass »normale« Deutsche zu Täter/-innen wurden, kann sie zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfassen. Helga scheint mit dem Schlimmsten gerechnet zu haben. Auch sie ist von dem Kollektiv-Gedanken geprägt. Ganz Deutschland ist für sie ein Kollektiv, von dem sie sich selbst allerdings distanziert. Sie will nicht dazu gehören. Einzig Hildegard reflektiert das Verhalten von sich selbst und ihrem Mann. Ihre Erzählung ist von sich als Individuum oder der ehelichen Gemeinschaft geprägt. Hier mag der starke protestantische Hintergrund ein Gegengewicht zur Volksgemeinschaft gewesen sein, so dass das individuelle Gewissen nicht gänzlich durch die Volksgemeinschaft ersetzt wurde. Auch distanzierte sie sich im Gegensatz zu Helga nicht komplett von der Gemeinschaft. Hannah Arendt schrieb, dass Hitler die deutsche, nicht aktiv am Nationalsozialismus und der Shoah beteiligte Bevölkerung zwar einerseits unwissend hielt, andererseits aber gezielt zu Mitwissern machte (Arendt 1993). Dadurch, dass die Volksgemeinschaft von offizieller Seite so stark betont wurde, kann dieser Gedanke noch dahingehend erweitert werden, dass die gesamte Bevölkerung auch zu Mittäter/-innen wurde. Doch diese Verantwortung wird von den Diaristinnen abgelehnt. Zwar fühlen sie sich schuldig, weil sie passiv geblieben sind oder das System unterstützt haben. Sie fühlen sich jedoch nicht für die Shoah selbst verantwortlich. Diese Spannung zwischen der Scham für die eigene Passivität – oder die passive Zugehörigkeit zu einem Täterkollektiv – und der Verteidigung der eigenen Passivität findet gerade in den stereotypen Formulierungen seinen Ausdruck. Die Scham führt dazu, dass sie sich in einem Kollektiv der Passivität und der Unwissenheit verbergen, aus dem jedoch die Täter, die ›eigentlich‹ Verantwortlichen, ausgegrenzt werden.

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Deutsche Denkmalpolitiken nach 1945 Kathrin Hoffmann-Curtius

In Reden über die Ermordung der Juden und Jüdinnen Europas durch die Deutschen wird neuerdings von Scham unschwer gesprochen; so sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18.3.2008 vor der Knesset in Jerusalem: »Die Shoah erfüllt uns Deutsche mit Scham.« Die Bundeskanzlerin redete öffentlich über einen Affekt des Subjekts, den sie allen Deutschen attestiert. Was aber ist Scham? Auch die Kulturwissenschaften haben das Forschungsfeld für Gefühle entdeckt, allerdings führt die Prämisse, dass jeder, jede weiß, was Scham ist, unhinterfragt zu weiterer Verwirrung. Für die historische Betrachtung von Bildwerken in diesem Beitrag stütze ich mich auf die Analysen der Scham der amerikanischen Philosophin Joan Copjec, die sich eingehend mit Jaques Lacans Schriften auseinandersetzt.1 Scham wird hier verstanden als Affekt (jouissance), als marginale Differenz, die in der Wahrnehmung und der Wahrnehmung des eigenen Seins auftaucht, so verhüllt dieses auch dem Subjekt bleibt (Copjec 2006: 94f). In dieser inneren Spaltung, die die Scham signalisiert, erfährt das Subjekt jedoch das soziale Sein. Die Scham definiert nicht die Kultur, sondern die Beziehung der Subjekte zu ihrer Kultur, die nicht wählbar, sondern mit der Geburt erworben wird. Wie wir uns dieses Erbe aneignen und verstehen, bestimmt, wann Scham erfahren wird (Copjec 2007: 61). Scham ist deshalb keine Flucht vom Sein, sondern eine Flucht in das Sein:

1 | Für den Hinweis auf Joan Copjecs aktuelle Auseinandersetzung mit dem Thema Scham danke ich Susanne Lummerding, Wien.

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»Shame is not a failed flight from being, but a flight into being, where being – the being of surfaces, of social existence – is viewed as that which protects us from the ravages of anxiety, which risk drowning us in its borderless enigma. Unlike the flight or transformation of guilt, however, shame does not sacrifice jouissance’s opacity, which is finally what ›keeps it real‹. True jouissance never reveals itself to us, it remains ever veiled. But instead of inhibiting us, this opacity now gives us that distance from ourselves and our world that allows us creatively to alter both; it gives us, in other words, a privacy, an interiority unbreachable even by ourselves.« (Copjec 2006: 111)

In diesem Aufsatz wird zunächst skizziert, welches Bildrepertoire zur Darstellung von Scham 1945 zur Verfügung stand, um auf dieser Basis zu fragen, welche Texte und Subtexte der Shoah in den ersten Denkmälern der Kommunen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu erkennen sind und wie sich die jüdische Erinnerungspolitik davon absetzt.

B ILDER VON S CHAM UND S CHULD Bei dem Versuch von Auftraggebern und Künstlern, sich ab 1945 in der Denkmalgestaltung von den dominierenden Kunstvorstellungen des NS abzusetzen, wurde wieder auf die christliche Ikonographie zurückgegriffen, die der Moderne der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus als überholt erschienen war. Als eine von wenigen ist Richard Horns Skulptur »Christus und die Sünderin« (Abb. 1) 1946 im Katalog der Kunstausstellung der Provinz Sachsen in Halle (Nr. 130) abgebildet. Sie kann als Zeichen der Schuld gelesen werden, wobei die Schuld der weiblichen Figur zugesprochen wird. Vorbilder für die verschiedenen Gemütszustände in der Sprache der Körper lieferte das in den 1880er Jahren vom französische Bildhauer Auguste Rodin als Tor des Musée des Arts Décoratifs in Paris gedachte Höllentor, das Dantes »Göttliche Komödie« illustrieren sollte (Fath et al. 1992). Die beiden Seiten des Tores flankierten laut ursprünglichem Plan die zwischen 1881 und 1899 entstandenen Einzelfiguren von Adam und Eva.

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Abb. 1: Richard Horn, Christus und die Sünderin, undatiert (1946). Keramik Eva wird als Hauptschuldige in ihrer, in der Bibel berichteten, Scham nach dem Sündenfall ausgestellt. Sie ist dem Typ der Venus pudica (dt.: ehrbar, schamhaft) angenähert, so wie sie die antike »Kapitolinische Venus« (Andreae 2001: Nr. 17.30) zeigt (Abb. 2). Neu für die Akzentuierung der Scham beziehungsweise die der Eva (Abb. 3) zugewiesene Schuld der Verführung erfanden Rodin und seine Helferinnen die Haltung ihres linken Armes, der ihren Hals und ihre untere Gesichtshälfte verhüllt, nicht aber ihren Schoß bedeckt. Vor allem die ungewöhnliche Haltung des gesenkten Kopfes charakterisiert sie nach dem Sündenfall. Mit Copjecs Definition von Scham gelesen fixiert Rodins Bild der Eva die Flucht aus der verlorenen Vergangenheit in das Sein, ein Sein der Oberflächen – »und sie sahen, dass sie nackt waren« – und der sozialen Existenz. In sich selbst eingehüllt verharrt sie in der Erfahrung ihres Seins. Rodin stellte Eva in ihrer intimen Situation öffentlich aus, stimulierte das Begehren des/der Blickenden und zivilisierte es zugleich durch das Bedürfnis, sie schützen zu wollen. Auch Tizian hatte bereits in seiner berühmten »Maria Magdalena« (Titian 1990:

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Nr. 62/63) die Gestik an die der antiken Venus angelehnt und den Betrachtern einen Blick durch die herabsinkende Gewänder auf ihren nackten Körper versprochen. Im tränenreichen Emporschauen dieser Sünderin werden die Reue und das damit verbundene sakramentale Versprechen auf Vergebung repräsentiert. Rodins moderne Eva hingegen ist auf sich selbst zurückgeworfen.

Abb. 2: Auguste Rodin, Eva, 1881 – 1899. Terrakotta. München, Bayrische Staatsgemäldesammlungen

Abb. 3: Kapitolinische Venus, römische Marmorkopie nach hellenistischen Vorbild um 300 v. C. Rom, Museo Capitolino

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Die Körpergestik einer sich schämenden männlichen Figur ist ikonographisch sehr viel weniger festgelegt. Am nächsten kommt ihr das Thema des verlorenen Sohnes, das auf der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung 1946 in Dresden in drei Ausführungen zu sehen war2 . Auch Käthe Kollwitz‘ Selbstporträt »Die Klage« (Nr.14) und Georg Kolbes Klein-Bronze »Der Befreite« (Nr.77) (Abb. 4) kommentierten in dieser Ausstellung das Ende des Krieges. Kolbes Plastik war ferner im Berliner Zeughaus zu sehen, wurde gleich in vier Exemplaren in Bronze gegossen und gilt laut Berliner Bestandskatalog als eines der bekanntesten seiner Werke (Berger 1990: Nr. 190; Berger 1997: Nr. 70). Die Körperhaltung der Skulptur der kleinen, nur 34 cm hohen Plastik lehnte er, wie vor ihm bereits Franz von Stuck, an die berühmte Sitzfigur des Denkers von Rodin3 (Abb. 5) aus dem Giebel des Höllentors nach Dantes »Inferno« an. Stuck wendete seine Bearbeitung des Danteschen Themas zu einem sich perpetuierenden Konflikt der Geschlechter im Sinne Schopenhauers (Eschenburg 1995: Nr. 45) und verstärkte bereits die kontemplativ-melancholische Haltung zur Verzweiflung. Die tragisch gefesselten Männerfiguren sind vornüber gebeugt ohne Gesicht und nur mit der Rückansicht ihrer Köpfe dargestellt. Die Diskrepanz zwischen dem von Kolbe für die Figur gewählten Titel »Der Befreite« und der gebeugten Haltung der Skulptur ist auffällig, denn er wählte keine zuversichtlich nach vorn blickende und aufrechte Haltung, wie sie der von seinen Ketten »Befreite« von Fritz Cremer auf dem Wiener Zentralfriedhof zeigt (Hoffmann-Curtius 2002: Abb. 11). Sechzig Jahre nach Kriegsende wird die Figur mit den Händen vor dem Gesicht als ein sich schämender und sich nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes schuldig fühlender Mann klassifiziert. Doch war dies 1945 auch so eindeutig? In den Besprechungen der Ausstellungen4 wird Kolbes Arbeit nicht erwähnt, wohl aber kamen seine Vergangenheit im Nationalsozialismus und sein Zurückfinden zum »wirklichen« Künstler zur Sprache (Neues Deutschland, Nr. 23, 19. 5. 1946).

2 | Ein Zinkguss von Hermann Blumenthal, und zwei Holzschnitte von Hans Orlowski (Allgemeine Deutsche Kunstausstellung 1946). 3 | Fath et al. 1992: Nr. 27; ebd. Abb. 44 zeigt die vergrößerte Figur auf Rodins Grab in Meudon. 4 | Für diesen Aufsatz wurden die damals in Berlin, Halle, Hamburg, Köln und Dresden zugelassenen Zeitungen ausgewertet.

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Abb. 4: Georg Kolbe, Der Befreite, 1945. Bronze. Berlin, Kolbemuseum

Abb. 5: Auguste Rodin, Der Denker, Bronze. Berlin, Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin

Die nach 1945 gewünschte Trennung zwischen NS-Kunst und der Kunst der Moderne der Weimarer Zeit ist für Kolbes Arbeit, und nicht nur für diese, kaum möglich, denn die Künstler im Nationalsozialismus hatten das idealistische ganzheitliche Menschenbild, das Kolbe auch schon vor 1933 verfolgte, aufgenommen und spezifisch weiterentwickelt. Kolbes »Befreiter« zitiert nicht nur Rodins »Denker«, sondern auch einen sitzenden Männerakt von Wilhelm Lehmbruck (Abb. 6) von 1917 (Curtis 2002: 118f.) und er erinnert an die Skulptur mit dem Titel »Der Verwundete« des Bildhauers des nationalsozialistischen Staates Arno Breker (Abb. 7) von 1942 (Ebd.: 92-95). Kolbe veränderte das den genannten Plastiken zugeschriebene Bild des melancholischen Künstlers aber durch die vor das Gesicht gehaltenen Hände und verlagerte so die Deutungsmöglichkeit der psychischen Verfasstheit der Sitzfigur. Die Geste ist nahezu identisch mit der des Todes in dem Ölbild Wilhelm Lachnits »Der Tod von Dresden« von 1945 (Abb. 8). Kolbe kennzeichnete sowohl durch die impressionistische Oberfläche der gesamten Figur als auch durch die im Unterschied zu den anderen Sitzstatuen differierende Beinhaltung, das sogenannte Knielaufschema, den Befreiten in momentaner Bewegung. Die Hände vor den Augen signalisieren weniger einen melancholisch kontemplativen Dauerzustand, denn ein plötzliches Erschrecken, das Gewahr werden einer wie auch

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immer gearteten Einsicht – einen möglichen Gestus der Scham. Unklar bleibt, vor was »Der Befreite« seine Augen bedeckt. Vielleicht war Kolbe der Plakatierung der Besatzungsmächte begegnet, wie etwa dem Anschlag von 1945 »Diese Schandtaten: Eure Schuld!«, worauf sieben Fotos der geschundenen Körper der KZ-Insassen abgebildet sind (Brink 1998: 47-82). Könnte »Der Befreite« als Antwort auf diese Anblicke der kranken und toten Körper der KZ-Häftlinge gemeint gewesen sein? Da die Deutschen aber den Vorwurf der Kollektivschuld (Brink 1998: 44ff.), den sie in den ersten Umerziehungsmaßnahmen der Alliierten und in den sogenannten Atrocities-Filmen (Weckel 2007) sehen konnten, mehrheitlich empört ablehnten, entspricht diese Interpretation wohl eher dem gegenwärtigen Bewusstsein über die Morde als der damaligen Intention des Künstlers.

Abb. 6: Wilhelm Lehmbruck, Sitzender Jüngling, 1917. Bronze. Duisburg, WilhelmLehmbruck-Museum

Abb. 7: Arno Breker, Der Verwundete, 1942. Bronze. Düsseldorf, Sammlung A. Breker

Abb. 8: Wilhelm Lachnit, Der Tod von Dresden, 1945, Öl auf Leinwand. Dresden, Gemäldegalerie

Die weitere Entwicklung dieser männlichen Sitzfigur spricht dafür, dass nicht die Darstellung der Scham, sondern der Trauer und der Verzweiflung als signifikant aufgegriffen wurden. 1948 kann es die Trauer über die eigene geknebelte Situation des Helden sein, so wie sie der gebeugte »Prometheus« (Abb. 9) des Gerhard Marcks zu erkennen gibt (Curtis 2002: 122f). Der Bildhauer menschlicher Figuren arbeitete an dem mythi-

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schen Künstlervorbild des Menschen formenden Prometheus5, der aber als gefesselter und, ähnlich wie die Figuren in Stucks »Inferno«, jetzt als verzweifelt Leidender gegeben ist. Max Pechstein bemühte 1949 mit dem »Schmerzensmann« (Abb. 10) das Neue Testament für die Darstellung des den Leiden Ausgelieferten wieder und Gerhard Marcks (Abb. 11) schließlich das Alte. Seine Figur des gebeugten Hiob wurde 1957 auf dem Frankfurter Friedhof zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus aufgestellt (Puvogel et al. 1995: 299).6

Abb. 9: Gerhard Marcks, Gefesselter Prometheus, 1948. Bronze. Bremen, Gerhard Marcks-Stiftun

Abb. 10: Max Pech- Abb. 11: Gerhard Marcks, stein, SchmerHiob, 1957. Bronze. zensmann, 1949. Frankfurt Tempera

Benannt ist sie nach dem unschuldigen, von Gott im Unglück geprüften Hiob, mit dem sich so viele Juden in der nationalsozialistischen Verfolgung und danach literarisch über Schuld und Gerechtigkeit auseinandersetzten (Hahn 1997). Es ist nicht auszuschließen, dass auch Marcks in den Neuen Deutschen Heften von 1955 von dem Flaschenfund mit der Übersetzung des 5 | Als Studienmaterial für die Entwicklung der Sitzfiguren lag Marcks der Zeitungsschnitt mit dem Foto eines erschöpften Soldaten aus dem Jahr 1944 vor. (Salzmann 1989: 254f.) 6 | Mit der Inschrift: »HIOB/Gerhard Marcks/1957« wurde in Jahr 1982 eine weitere Fassung vor der St. Klara Kirche in Nürnberg aufgestellt (http://nuernberg. bayern-online.de/die-stadt/sehenswertes/kirchen/st-klara/; 27.7.2009).

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Buches Hiob aus dem Hebräischen ins Jiddische am 10. Tag des Ghettoaufstands durch den dann ermordeten Jossel Rakover gelesen hatte. Der Text war in einer Ruine des Warschauer Ghettos »zwischen Haufen verkohlter Steine und menschlichem Gebein« entdeckt worden (Ebd.: 148). Bei dem Hiob-Denkmal auf dem Frankfurter Friedhof kann nur von einem Subtext der Shoah gesprochen werden, da hier nicht ausdrücklich jüdische Opfer benannt wurden. Der unschuldig von Gott gestrafte Hiob passte sowohl zu dem Künstler Gerhard Marcks selbst, der im Krieg einen Sohn verlor und unter Ausstellungsverbot stand, (Marcks 1988), als auch zu der immer wieder vorgebrachten (christlichen) Erklärung der Deutschen, das Unheil sei – wie das des Hiob – über sie hereingebrochen. Die bislang genannten Sitzstatuen Gebeugter stehen in deutlichem Gegensatz zu dem im NS proklamierten aufrechten Männlichkeitsbild, das im Vernichtungskrieg bedingungslose Härte gegenüber dem Feind gefordert hatte. (Werner 2008) Den individuell erfahrenen Zusammenbruch des NSStaates und die Schwierigkeiten des Wiederaufbaus kommentierte die dritte Ausgabe der neu gegründeten Wochenzeitung Die Zeit im März 1946 (Abb. 12). Die Zeichnung auf dem Titelblatt zeigt eine Trümmerfrau, die mit einem Backstein in der Hand den Mann zur Mitarbeit auffordert. Der begleitende Artikel erhellt, wie der Bildtyp des Zusammengesunkenen damals gelesen werden konnte. Der Krieg, die Niederlage und die Probleme des zerstörten Deutschland fließen darin so ineinander, dass die Schuld ausgesprochen und zugleich zurückgenommen wird. An den Satz »Früher hätten wir nach einem Schuldigen gesucht« (Die Zeit, 7.3.1946) schließt nicht etwa das Bekenntnis zur Kriegsschuld an, sondern ein Lamento über fehlende Rohstoffe und Werkzeuge. Und in der Klage über die mangelnde Energie im Umgang mit den aktuellen Problemen wird die Klage über die Niederlage verhandelt: »Wir suchten Beistand und stießen auf Ablehnung. Da ließen wir uns besiegen.« (Ebd.) Als »Born«, der aus dem Volke kommt, so der Text, wird dem Gebeugten »ein Urbild der ewigen Kräfte der Natur« zugesellt. Der Mann hingegen bleibt in sich gekehrt. Seine »seelischen Kräfte sind aufgezehrt« (Ebd.). Der Text lässt die Haltung des Mannes als eine der Scham verstehen, jedoch über die militärische Niederlage und nicht über die mit keinem Wort erwähnte Shoah. Gemeinsam zeigt das Paar die ausschließliche Beschäftigung mit der eigenen gegenwärtigen Lage. Die Auffassung, dass die Shoah das bestimmende Charakteristikum des NS-Regimes ist, begann sich erst allmählich durchzusetzen, in der Historikerzunft wurde sie zum ersten Mal 1967 ausgesprochen. (Walser Smith

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2008: 24) In den Debatten um die Gestaltung und bei den Einweihungen der in den 1940er Jahren entstandenen Denkmäler wurde zwar der Juden und Jüdinnen als Opfergruppe gedacht, in den auf Dauer fixierten Botschaften auf den errichteten Monumenten sind sie hingegen nicht zu finden. Auch die bislang diskutierten Bildmuster, in denen über die Scham auch die Frage nach der Schuld verhandelt wurde, sind nicht in der Gestaltung von kommunalen Denkmälern aufgenommen worden. Vielmehr wurde an die Heldenmuster angeknüpft, mit denen die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs gewürdigt wurden. In diesem Zusammenhang sei mit der sogenannten »Fischer-Kontroverse« (Ebd.: 19ff.) daran erinnert, dass bis weit in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts die Schuldfrage des Ersten Weltkriegs in der Bundesrepublik noch heiß diskutiert wurde (Geiss 2003).

Abb. 12: DIE ZEIT, 1. Jahrgang 1946, 7. März

F ÜR EINE BESSERE Z UKUNF T Schon 1946, für die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Dresden, auf der Kolbes »Befreiter« zu sehen war und die als gesamtdeutsche Ausstellung die »Entartete Kunst« rehabilitieren sollte, (Steinkamp 2008: 105-113) hatte der

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Initiator Herbert Volwahsen eines seiner Gipsmodelle wie ein Denkmal platziert (Abb. 13). »In der Vorhalle der Ausstellung begrüßt die Besucher eine große Statue, eine Jünglingsgestalt von gewinnender Schönheit, ein eindrucksvolles Werk des Dresdner Bildhauers Herbert Volwahsen, das »Den Opfern« gewidmet ist.« (Berliner Zeitung, 30.8.1946) Die Sächsische Zeitung vom 5.9.1946 kommentierte: »Eine große Sinnplastik von Volwahsen, rein in der Prägung, schwer von Gehalt.« Hiermit war die Kunstausstellung in den Zusammenhang von Memoria, Kriegsschuld und Trauer gestellt und darüber hinaus konnte die Pose des Aufstrebenden den sozialistischen Fortschrittsgedanken andeuten.7 In Bronze gegossen stand die Arbeit dann seit Sommer 1948 auf dem Sockel des Denkmals in der Stadt Halle (Abb. 14), des ersten figürlichen in Deutschland außerhalb der Konzentrationslager.

Abb. 13: Herbert Volwahsen, Der Aufsteigende, 1946. Gips. Privatbesitz

Abb. 14: Herbert Volwahsen, Den Opfern, 1948. Bronze. Halle

7 | Dieses, die Lesart der Ausstellung bestimmende Entree findet bei Steinkamp keine Erwähnung.

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Die zeitgenössische Deutung des Stadtbaurates Heilmann in der Freiheit vom 11.9.1948 liest sich wie eine Antwort auf die noch in Gesamtdeutschland erfolgte Ausschreibung von 1946, die von den Künstlern »etwas ganz Neuartiges« zu schaffen verlangte und ihnen ganz im Sinne sozialistischer Widerspiegelungstheorie empfohlen hatte, »sich in die Erlebnisberichte von Häftlingen oder in die Veröffentlichungen über die Konzentrationslager zu vertiefen«: »Sie [die Skulptur] stellt in würdiger und ergreifender Form eine männliche Figur dar, die das Erlebte in den leidenden Gesichtszügen widerspiegelt, den Blick jedoch gläubig und vertrauend in eine bessere Zukunft richtet. Die Arme und Hände greifen zur Höhe und verstärken den Eindruck der Überwindung des Leides durch inbrünstige Hoffnung und ungebrochenen Willen. Vorbei das Leid und vor uns die Freiheit!« (Freiheit 212, 11.9.1948)

Bei der feierlichen Grundsteinlegung 1946 hatten zwei »Konzentrationäre« in Sträflingskleidung eine Kassette in das Fundament der abgerissenen, monumentalen Denkmalanlage für Kaiser Wilhelm eingemauert (Freiheit 23.9.1946). Der Bürgermeister gedachte in der schon deutlich kommunistisch geprägten Feier der ermordeten 677 Hallenser als »Opfer des Faschismus«: »[…] besonders litt die jüdische Gemeinde, die 6028 der Ihrigen verlor, darunter 384 Frauen und Kinder.« (Liberal-Demokratische Zeitung 25.9.1946) Das Denkmal trug hingegen nur die Inschrift: »Den Opfern des Faschismus« und die von Johannes R. Becher verfassten Worte »Immer fester werden wir uns fassen, bis des Volkes Wille wird gescheh’n!« Die Bildersprache, auf die Volwahsen zurückgriff, zeigt sich bei dem emporschwebenden Jüngling auf dem Prenzlauer Kriegerdenkmal aus dem Jahr 1925 von Fritz Klimsch. (Hoffmann-Curtius 2002: 368) Dessen Emporsteigen rekurriert wie das des Aktes in Halle auf ein Versprechen von Freiheit, ein Weiterleben im Aufstieg. Und hier wie dort verstellte die Visualisierung des Emporstrebens zu einer besseren Zukunft das Bekenntnis zu der Schuld an begangenen Verbrechen, die in der ersten Ausschreibung noch implizit enthalten war. Ob bereits damals eine Hierarchisierung der KZ-Häftlinge nach ihrer politischen Ausrichtung griff, lässt sich den Ausschreibungsakten nicht entnehmen. 8 | Mehr als 90 Prozent.

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B EZEUGTES U NRECHT Für die Westzonen außergewöhnlich früh setzten bereits während der Prozesse gegen das Personal der in der britischen Zone liegenden Konzentrationslager9 in Hamburg10 die Debatten um ein Denkmal »für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und des Widerstandskampfes«11 ein (Abb. 15). Anders als das Hallenser Denkmal deutet dieses für seine Zeit ästhetisch und konzeptionell außergewöhnliche Monument keine Ausrichtung auf eine bessere und gemeinsame Zukunft an und schafft vermutlich gerade dadurch Raum, um auf Unrecht und Schuld hinzuweisen. Es ist ausschließlich den Verfolgten und Ermordeten gewidmet. Für das Gedenken an die Hamburger Bombenopfer wurde zwar auch schon 1947 ein Wettbewerb ausgeschrieben, das Denkmal von Gerhards Marcks aber erst 1952 auf demselben Friedhof eingeweiht. (Manske 1989: 285ff.) Die Inschrift auf der Vorderseite des am 3. Mai und am 8. Mai 1949 eingeweihten Denkmal nennt die Jahre »1933 – 1945« und appelliert an Ethik und Moral: »Unrecht brachte uns den Tod Lebende erkennt Eure Pflicht«

Und auf der Rückseite wird in den Worten des damaligen Chefdramaturgen der Hamburger Jungen Bühne Max Sidow (Marcuse 1985: 14ff, 68) ebenfalls gefordert, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen: »Gedenkt unsrer Not bedenkt unsern Tod Den Menschen sei Bruder der Mensch« 9 | Die Prozesse fanden im Hamburger Curio-Haus, das als britisches Militärgericht genutzt wurde, statt (Garbe 2007: 339). 10 | Für Hinweise zur Bearbeitung des Hamburger Denkmals danke ich Hermann Hipp. 11 | So die Benennung zur Zeit der Grundsteinlegung im September 1948 (Marcuse 1985: 22; 65); im Widerspruch hierzu zitiert Marcuse den ›heutigen‹ Titel »Mahnmal für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung«. Vgl. seine Zusammenfassung 65-69. Schoenfeld (2006: 114) nennt es: »KZ-Opfer-Mahnmal«. Die erste Bezeichnung vom August 1948 lautete: »Denkmal der Widerstandskämpfer und im 3. Reich Verfolgten« (Marcuse 1985: 21).

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Abb. 15 Heinz-Jürgen Ruscheweyh, Mahnmal der Stadt Hamburg, Friedhof Ohlsdorf Der Autor der vorderen Inschrift, der Jurist und damalige Präsident des Oberlandes-Gerichts Ruscheweyh, Onkel des Denkmalarchitekten HeinzJürgen Ruscheweyh (Marcuse 1985: 16), hatte in knapper Diktion die Verbrechen der NS-Zeit und das Leid der Opfer benannt und die Achtung des menschlichen Bruders eingefordert. In den Texten ist die allgemeine Schuld durch das System artikuliert und die Schuld jedes einzelnen – allerdings nur der Männer – an der Katastrophe angedeutet, die von der Verachtung des menschlichen Gegenübers ihren Ausgang genommen hatte. 25 Orte der NS-Verfolgung wie Majdanek, Auschwitz, Neuengamme und auch Plötzensee sind auf einer Marmorplatte vor dem 16 Meter ho-

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hen Denkmal zu lesen, das 105 Urnen aus rotem Granit mit Erde und Ascheresten aus verschiedenen Konzentrationslagern, Gefängnissen und NS-Folterstätten zeigt. Das Mahnmal erinnert in seiner steilen Form an die Stele am Rathausplatz für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, in deren unmittelbarer Nähe es eine Mehrheit des Komitees gern gesehen hätte (Marcuse 1985: 10-13).12 Max Brauer, der Bürgermeister von Hamburg und SPD-Mitglied, entschied jedoch den Standort Ohlsdorf. Der Architekt Ruscheweyh beschränkte sich bei dem neuen Mahnmal auf eine, wie er sie selbst nannte, »Urnenstellage«, die sich an historischen Vorbildern, wie den antiken Columbarien orientiert, aber bewusst in einen spröden Betonrahmen eingefasst ist. Anders als bei der von Barlach gestalteten Stele von 1930 zeigt das Denkmal keine Trostfigur. Als steile, leicht gekurvte Gesamtform bezieht das Denkmal sich auf das vorgelagerte Rondell und das Neue Krematorium gegenüber, in dem auch die Leichname vieler Häftlinge aus den umliegenden KZs verbrannt worden waren. Die Gesamtkonzeption ist mit der Präsentation von Asche und blutgetränkter Erde darauf ausgerichtet, Zeugnis vom »Unrecht« der NS-Vergangenheit abzulegen – der Redner der FDP nannte bei der Einweihung 1949 »1460 Männer und Frauen, 64 Jugendliche und 7000 Juden« (Marcuse 1985: 37) – und die Relikte selbst als Beweis vorzuzeigen. »Dieses Denkmal«, schrieb die Hamburger Freie Presse am 5. Mai 1949, »groß in seinem Ernst, unabsehbar in seiner Kraft und Eindringlichkeit, in dessen hohe graue Wand die 105 Aschenurnen wie in die Zellen eines Zuchthauses eingefügt sind, ist eine steingewordene Anklage gegen die satanischen Foltermethoden eines verfluchten Terrorsystems«. Der Ansatz, auf die im Nationalsozialismus in Konzentrationslagern und Gefängnissen Getöteten hinzuweisen, ist vergleichbar mit der Absicht der ersten Aufklärungskampagne der vier Besatzungsmächte und des nicht realisierten ersten Entwurfs von Fritz Koelle für Dachau (Abb. 16) aus dem Jahr 1946. Die makabre Demonstration eines Häftlings, der das Totengerippe eines Mithäftlings vorzeigt, wurde für die endgültige Ausführung jedoch aufgegeben zugunsten einer anderen Arbeit von Koelle, 12 | Marcuse deutet die Verlegung vom Stadtzentrum gegenüber dem Rathaus auf den weit davon entfernt gelegenen Friedhof »als Versuch, einen kontroversen Denkmalsinhalt durch die Versetzung aus dem politischen Raum zu entschärfen«. In der Auseinandersetzung mit den Kommunisten erfolgte in Wien bei der Errichtung des Mahnmals dieselbe Entpolitisierung (Hoffmann-Curtius 2002: 376).

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einem abgezehrten, aber aufrecht stehenden KZ-Häftling. Für das Lagerdenkmal in Weißwasser (Abb. 17) in der sowjetischen Zone milderte 1946 Gustav Seitz (Hoffmann-Curtius 1999: 61f.) das symbolische Bezeugen und gab in Anspielung auf die christliche Pieta, die den Schmerz zeigt und mit dem Opfertod des Sohnes Trost und Erlösung von der Schuld verspricht, dem Leichnam eine ihn haltende und zeigende Mutterfigur bei. Vor allem in den westlichen Zonen überlagert ein tröstliches Umfangen die im Zeigen enthaltenen Hinweise auf nationalsozialistische Verbrechen – und dies noch im Jahr 1993 in der Neuen Wache der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland.

Abb. 16: Fritz Koelle, Inferno, Entwurf für das Mahnmal des Konzentrationslagers Dachau, 1946. Bronze. Berlin, Deutsches Historisches Museum

Abb. 17: Gustav Seitz, Den Toten vom KZ 1933-45, 1946. Kunststein. Weißwasser, ehemaliges KZ

Obwohl beide Parteien Mord und Unrecht bezeugen wollten, wurden die Auseinandersetzungen zwischen SPD und Kommunisten in Hamburg durch den Kalten Krieg immer härter und verursachten heftige Zerwürfnisse über die Füllung der Urnen. Gestritten wurde seitens der Vereini-

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gung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) für die Asche eines Konzentrationärs aus Buchenwald, doch Bürgermeister Max Brauer, Mitglied der SPD, entschied sich für die eines Häftlings von Neuengamme. An der Einweihung am 3. Mai 1949 nahmen Abordnungen der jüdischen Gemeinde, der Angehörigen der Opfer, der Notgemeinschaft der Theresienstädter, Bürgerschaftsmitglieder und Parteien teil, jedoch weder die KPD noch die VVN. Brauer füllte, wie angekündigt, während der Eröffnung die letzte Urne mit der Asche eines unbekannten Häftlings aus Neuengamme (Hamburger Echo, Beilage, 5.5.1949). In seiner Rede gedachte er all derer »die unverschuldet verfolgt, gepeinigt und gemordet« (Ebd.) wurden, sprach von dem Bestreben »eine ganze Rasse [sic!]« auszurotten, wehrte sich gegen die »sogenannte Kollektivschuld« und hob das Heldentum »der Kämpfer« hervor. Verbrechen sollten geahndet werden, wer sich aber geirrt habe, »der möge vor dieses Denkmal und vor seine Urnen treten und sich für immer von seinem eigenen Wahn lösen« (Ebd.). Die jüdische Kammerschauspielerin Ida Ehre rezitierte das im Konzentrationslager geschriebene Gedicht »Die Unvergessenen« aus dem Fragment »Die Toten von Theresienstadt« von Henri Sternberg (Sternberg 1946, ebenda wieder abgedruckt). In scharfer Abgrenzung gegenüber der von der SPD dominierten Stadtverwaltung unternahm die VVN am 8. Mai mit vielen internationalen Abordnungen von Organisationen, die den Kommunisten nahestanden, eine zweite Einweihung mit einer fünfmal größeren Menschenansammlung als bei der ersten. Durch die Zusammenstellung der Urnen, die Benennung der unterschiedlichen Lager, die Inschriften und das Einweihungsritual erwähnt das Denkmal Verfolgte aller Bevölkerungsgruppen und demonstriert so die Menschenrechte im Sinne des Nürnberger Prozesses (Koenig 2005: 53). Anders als in Halle wurden neue gesellschaftspolitische Ziele und Handlungsanweisungen an die Bürger in Brauers Rede weitgehend vermieden, jedoch wurde jedem Einzelnen das Nachdenken über das mörderische Regime anheim gestellt (Hamburger Echo, Beilage, 5.5.1949), das sowohl zu einem individuellen Schuldbekenntnis als auch zu »brennender Scham« (Die Zeit, 2.5.1946) führen konnte.

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U MFASSENDER TROST Im katholisch geprägten Köln wurde kurz nach der Wahl des dortigen Bürgermeisters Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler 1949 ein anders geartetes Denkmal eingeweiht (vgl. Hoffmann-Curtius 2002: 383-89); es zeigt ein für die Zeit sehr viel typischeres Umgehen mit der NS-Vergangenheit, die bis zur Schilderung der Morde in den Konzentrationslagern allen erwachsenen Deutschen damals vertraut gewesen sein dürfte. Der »Todesengel« von Gerhard Marcks (Abb. 18), wurde nicht durch demokratische Ausschreibung, sondern durch Absprachen unter den Oberen der Stadt von dem Museumsdirektor direkt vom Bildhauer akquiriert und mit der Widmung »Den Toten« versehen. Umfangen von den Ruinen der katholischen Kirche Maria im Kapitol wurde das Denkmal am 1. November 1949 eingeweiht, am Feiertag Allerheiligen. Zwar waren auch hier die Reden vom Konzept der Einheit des Menschengeschlechts geprägt, aber gedacht wurde nun aller Toten, der Ermordeten wie der Gefallenen und der zivilen Toten, und alle wurden als Opfer bezeichnet. »Die Toten«, so Oberbürgermeister Robert Görlinger, Mitglied der SPD und bis 1945 im KZ Sachsenhausen inhaftiert, »sie alle waren Glieder der menschlichen Gesellschaft, sie litten und starben durch sie und mit ihr.« (Kölner Stadtanzeiger 2.11.1949) Dem Kunstwerk wurden die himmlischen Kräfte des Trostes für die gesamte Kölner Bevölkerung zugesprochen. Beschworen wurde die Gemeinschaft der Toten, an die Stelle der zurückgewiesenen Kollektivschuld trat die kollektive Trauer. Der zur Feier geladene Rabbiner M. Goldschmidt sprach von den Opfern der Stadt, zu denen auch 11000 Juden zählten. Er wollte jedoch nicht anklagen, da in der Trauer und im Tod alle gleich seien; er warnte aber vor weiteren Friedhofs- und Mahnmalschändungen (Kölnische Rundschau 2.11.1949). Der »Todesengel«, dessen Gestik als die »einer Trauer nicht der Verzweiflung, sondern des Glaubens« (Kölnische Rundschau 2.11.1949) gedeutet wurde, erschien als Angebot christlich-kirchlicher Versöhnung im Totenkult, unter ihm sollten die Verfolgten und die Nationalsozialisten zusammenfinden, ohne dass letztere – sprich die überwiegende Mehrheit der Deutschen – mit Unrecht oder Schuld geschweige denn Scham konfrontiert wurden. In dem 1958 erschienenen Kunstführer »Rheinische Kunststätten« wird die Skulptur als Teil der Kirche gezeigt und der die Grenze zwischen Leben und Tod markierende »Todesengel« wird als »Trauernde« seiner Macht beraubt und zu einem Identifikationsangebot an die Lebenden – für welche Trauer auch immer.

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Von den anfangs gezeigten männlichen Gebeugten wurde Ende der 1950er Jahre in der Erinnerung an die jüdische Geschichte nur der auch für die Christen vorbildliche Hiob in einem öffentlichen Denkmal in Deutschland dargestellt. Scham, die Erkenntnis der ethischen Verbindung des Subjekts mit dem Sein, dem eigenen Sein und dem der anderen, wurde nicht den Denkmälern eingeschrieben; lediglich in der Inschrift des Hamburger Denkmals ist von Unrecht zu lesen. In den öffentlichen Raum wurde vielmehr weiblich konnotierte Trauer gestellt oder mit einem aufstrebenden männlichen Akt eine bessere Zukunft durch die Überwindung des Leidens verheißen.

Abb. 18: Gerhard Marcks, Den Toten, 1949. Stein. Köln

J ÜDISCHES G EDENKEN IN W ARSCHAU In seiner Diskussion der weiteren Viktimisierung der Deportierten und Ermordeten im Prozess des Gedenkens geht Jean-Michel Chaumont (2001) auf die konfliktreiche Wahrnehmung des Selbst, der Anderen und des Selbst als Anderer ein. In dieser Weise differenziert er die Situationen der Scham für die Häftlinge in jene, die der Blick auf den eigenen gepeinigten Körper auslöste, und in jene, die durch »Im-Stich-Lassen« des Kameraden

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aus eigener Not oder durch die eigene privilegierte Position innerhalb des Lagers entstanden (Ebd.: 218). Dabei wendet er sich gegen die herkömmliche Norm des Heldischen, und erkennt den Prozess des Überlebens im KZ als Widerstand, der auch in den »scheinbar unwürdigsten Verhaltensweisen« eine »verborgene Größe« enthält (Ebd.: 236f.). Für uns heute noch erkennbar ist dieses heldische Sich-Widersetzen z.B. in einem der ersten Fotos der Alliierten bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau13 (Abb. 19). Die schonungslose, aber auch monumentalisierende Untersicht der Aufnahme auf den entschlossen blickenden Häftling in herabgezogenen Hosen vermittelt seine Würde noch im dreckigsten Elend. Die langsame Veränderung der ›schmutzigen‹ Erinnerung gibt die Graphik des Dachauer KZ-Häftlings Jerzy (George) Zielezinski (Abb. 20) zu sehen, die in der Ausstellung von Arbeiten von Displaced Persons 1946 in München (Prisma 1. Jg. 6. April 1947: VIII) gezeigt und bei Bruckmann in München veröffentlicht wurde (Zielezinski 1946). Das Blatt »Wann komme ich dran« greift wieder das Thema des hockenden Mannes auf, der nun neben einem Toten sitzt und in seiner Todesangst den Blick seitlich zum Licht wendet. Durch das an Rembrandt und Redon angelehnte Pathos der Hell-Dunkel-Zeichnung und den von oben auf die Szene geworfenen Blick setzt Zielezinski sich jedoch von der Realistik des publizierten Fotos aus seinem Lager ab. In ehrender Erinnerung nimmt er Abstand vom Unreinen und erhöht in traditioneller Manier den Anblick des Leidens zu angesehener Kunst. Die Nichtachtung des alltäglichen Überlebens als Widerstand machte es im öffentlichen Gedenken möglich, weiter mit den traditionellen Normen von Widerstand, Kampf, Kämpfer und Heldentum zu argumentieren. Daher lässt sich mit Chaumont (2001) und Simone Weil (2009: 87-94) davon sprechen, dass den zurückkehrenden Juden und Jüdinnen und im Besonderen den Frauen, die nicht zu den Politischen zählten und folglich nicht zu Helden oder gar Heldinnen erklärt wurden, Erinnerungen weggenommen, entwendet wurden. Chaumont nennt diese ersten Jahre nach Kriegsende, in denen jüdische Überlebende kein Gehör fanden, »Die Zeit der Scham« (Chaumont 2001: 33). Scham empfanden die Deportierten, so lässt sich fol-

13 | Erschien in einer Serie »Dachau-Konzentrationslager, Inferno bringt NaziGrausamkeiten ans Tageslicht« in einer der ersten, von den Alliierten weit verbreiteten Zeitung »Mitteilungen« mit der Unterschrift: »Bild 1 zeigt einen dem Hungertod nahen Insassen.« (Brink 1998: 47f.).

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gern, weil sie in der wiedergewonnenen Freiheit andere Maßstäbe des Widerstandes wahrnahmen als jene, die für sie im Lager hatten gelten können.

Abb. 19: Dem Hungertod naher KZ-Insasse, Ausschnitt aus »Mitteilungen« der 12. Amerikanischen Heeresgruppe, Fotografie, 5.5.1945

Abb. 20: Jerzy (George) Zielezinski, »Wann komme ich dran«, 1947. Rotogravure

Der Anspruch, einen Kampf mit der Waffe gegen die Deutschen geführt zu haben, war so prägend, dass auch die polnischen Juden und Jüdinnen ihren bewaffneten Kampf in einem Denkmal würdigten. Trotz schon wieder beginnender antisemitischer Politik in dem nun zum sowjetischen Einflussbereich gehörenden Polen konnte noch im April 1948 das von dem jüdischen Bildhauer Nathan Rapoport (Young 1993: 78-83; Chaumont 2001: 247ff.) geschaffene Denkmal (Abb. 21) für den Ghettoaufstand in Warschau von 1943 eingeweiht werden. Es zeigt im ehernen Material Bronze auf der Vorderseite heroische Gestalten im militärischen Angriff. Die Hauptfigur des Mordechaj Anielewicz ist in Pose und Stil dem Befreier (Abb. 22) auf dem zur gleichen Zeit errichteten Ehrenmal für die im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland gefallenen Sowjetsoldaten in Berlin-Treptow verwandt (Braunert 1986: 2).

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Abb. 21: Nathan Rapoport, Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 (Hauptansicht), 1948. Bronze, Warschau

Abb. 22: Jewgeni W. Wutschetitsch, Ehrenmal für die gefallenen sowjetischen Helden, 1947-1949. Bronze. Berlin-Treptow

Gegen die idealisierte Darstellung des Kampfes auf der Hauptansicht wurde auf der Rückseite ein Relief (Abb. 23) der verschleppten Greise, Frauen und Kinder in den Stein gesetzt. Platzierung, Größe und Material machen die Differenz sichtbar, die zwischen dem hoch geehrten männlich konnotierten Kampf und dem weiblich konnotierten, als Opfer etikettierten Erdulden liegt. In dieser unterschiedlichen Wertung vom Kampf mit der Waffe – und nur von diesem Relief besitzt der israelische Staat eine Kopie – und erzwungenem Leiden erkennt Chaumont eine »Verschiebung der Gegensätze, die die wirklichen Frontlinien verschleiert« (Chaumont 2001: 249). Bei dem Anblick der Helden und Heldinnen lässt sich weder unser konkretes Wissen von der Vergeblichkeit ihres Kampfes ausblenden noch die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Juden und Jüdinnen keinen kämpferisch, schönen und nach herkömmlichen Kategorien »ehrwürdigen Tod« starb; auch nicht während des Aufstandes. Im rückwärtigen Relief wird nur der Weg zu, doch nicht die äußerst erniedrigende Qual in den Konzentrationslagern gezeigt. Vermutlich ist es die Scham in der Erinnerung an die erfahrene eigene »Entwürdigung« bei Hunger und Schmerz, die die Überlebenden weiterhin verstummen ließ. Auch wenn

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wir die Scham der deportierten Juden gerade in dem am Denkmal sichtbaren Kontrast von Wissen und Wunschvorstellung zu erkennen meinen.

Abb. 23: Nathan Rapoport, Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto (Rückseite), 1948. Stein. Warschau Ein öffentliches Bekenntnis der Deutschen zur Scham forderte der 1932 geborene Historiker Jürgen Kocka in der Debatte um das »Denkmal für die Ermordeten Juden Europas«. »Ein Holocaust-Denkmal in Deutschland muss nicht nur Entsetzen und Trauer ausdrücken, sondern auch Scham. Ohne Scham kann man als Deutscher an diese Untaten nicht denken.« (Der Spiegel 9.2.1998: 20) Nicht an dem 2003-2005 realisierten Denkmal, aber in den Reden der gegenwärtigen Politikergeneration wird die Scham bekannt, versuchen die Nachkommen auszusprechen, was sie in der Erzählung der Täter und Täterinnen vermissen. Ein Versuch, der Lippenbekenntnis bleibt, weil Scham nur als individuelle Wahrnehmung, als Affiziertsein des Subjekts erfahren werden kann.

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N ACHWEIS DER B ILDRECHTE Abb. 1: nicht zu ermitteln Abb. 2: © 2009 Bildagentur bpk, Berlin Abb. 3: © Musei Capitolini, Rom 2010 Abb. 4: ©VG-Bildkunst, Bonn 2010 Abb. 5: © 2009 Bildagentur bpk, Berlin Abb. 6: frei Abb. 7: © VG-Bildkunst, Bonn 2010 Abb. 8: nicht zu ermitteln Abb. 9: © Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2010 Abb. 10: © 2010 Pechstein Hamburg / Tökendorf Abb. 11: © Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2010 Abb. 12: nicht zu ermitteln Abb. 13: © Volwahsen, Murnau 2010 Abb. 14: © Volwahsen, Murnau 2010 Abb. 15: © Hoffmann-Curtius, Berlin 2009 Abb. 16: © 2010 Koelle, München Abb. 17: © Gustav Seitz Stiftung, Hamburg 2010 Abb. 18: © 2010 Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen Abb. 19: nicht zu ermitteln Abb. 20: nicht zu ermitteln Abb. 21: nicht zu ermitteln Abb. 22: © Hoffmann-Curtius, Berlin 2009 Abb. 23: nicht zu ermitteln

Weiblichkeit und nationalsozialistische Täterinnenschaft

Verhandelte Schuld Täterinnenschaft im ersten britischen Ravensbrück-Prozess 1946/47 Ljiljana Heise

Um die Frage der Schuld ging es, als der erste Ravensbrück-Prozess am 5. Dezember 1946 im Hamburger Curio-Haus vor einem britischen Militärgericht eröffnet wurde. Es mussten sich sieben Frauen und neun Männer als Hauptkriegsverbrecher und -verbrecherinnen für Misshandlungen und Morde verantworten, die im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und dem angegliederten »Jugendschutzlager« Uckermark verübt wurden (vgl. Kretzer 2002: 123-124).1 In diesem Main Trial, dem noch fünf sogenannte Minor Trials folgten, sollten zunächst die zur Rechenschaft gezogen werden, die laut des Ermittlungsbefundes die größte Schuld auf sich geladen hatten – die Major War Criminals. Sie wurden zur Führungselite des Frauenkonzentrationslagers gezählt und repräsentierten fast alle Positionen des KZ-Personals (vgl. ebd.: 80). In den fünf Folgeprozessen mussten sich bis Juli 1948 22 weitere Personen – acht Männer und 14 Frauen – als Kriegsverbrecher/-innen verantworten (vgl. ebd.: 39). Der Begriff der Major War Criminals wurde für die Angeklagten des Nürnberger Prozesses vor dem Internationalen Militärtribunal eingeführt und bezog sich in dieser Verhandlung ausschließlich auf männliche Delinquenten (Ebd.). Als dritter großer Prozess in der britischen Besatzungs1 | WO 235/305: 2. Es wurden die britischen Ermittlungs- und Prozessakten als Kopien in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück eingesehen. Die Zitierweise der Seitenzahlen basiert auf den Seitenzahlangaben, die in der MGR nachträglich hinzugefügt wurden und die oberen Zahlen in der rechten Ecke betreffen.

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zone – nach dem ersten Bergen-Belsen- und dem Neuengamme-Prozess – begann der erste Ravensbrück-Prozess nur zwei Monate nach dem wegbereitenden Nürnberger Prozess. Dieser stärkte nicht nur das öffentliche Bewusstsein für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dafür, dass individuelle Verantwortung für die Verbrechen der Shoah übernommen werden musste, sondern setzte mit den »Nürnberger Prinzipen« auch neues Völkerrecht (vgl. zu den Prozessen Bartlitz 2003; Bessmann/Buggeln 2005; Cramer 2003; ders. 2007; Heigl 2001; Kaienburg 1997; Kastner 2005; Bloxham 2006). Spätestens im Oktober 1946 war klar, dass Verbrechen vorlagen, die Bisheriges übertrafen (vgl. Cramer 2003: 124). Im ersten Ravensbrück-Prozess war das Gericht mit einem weiteren Novum konfrontiert: den Hauptkriegsverbrecherinnen. Sie schienen nicht nur die vermeintliche ›Normalität‹ des Krieges in Frage zu stellen, sondern auch die Geschlechterrollen. Eine derartige Wahrnehmung ist auf die damals wie heute vorherrschende Auffassung zurückzuführen, Krieg sei eine männliche Domäne, mit der Frauen nur gemäß der ihnen zugeschriebenen Geschlechterrolle in Verbindung zu bringen seien, und so kam es zu Irritationen und Deutungsschwierigkeiten innerhalb des Prozesses und der Öffentlichkeit (vgl. Eschebach 2003: 110; Kretzer 2002: 133ff.; ebd. 2005: 141; Duesterberg 2002: 236; Heike 2005: 92). Eine der angeklagten Hauptkriegsverbrecherinnen im ersten Ravensbrück-Prozess war die Aufseherin Greta Bösel. Sie erfuhr am 3. Februar ihr Urteil: »Boesel, the finding of the court, is that you, Grete Boesel are guilty of the charge.«2 Die Strafe, »death by being hanged«3, wurde am 2. Mai 1947 im Gefängnis von Hameln vollzogen.4 Anhand ihres Falls werde ich im Folgenden untersuchen, wie ihre Schuld verhandelt wurde und ob bei der Herleitung dieser eine geschlechtsstereotype Vorstellung von Täterinnenschaft zum Tragen kam. Auf der Grundlage der Prozessakten und vor allem der Prozessmitschriften, des Plädoyers, der Stellungnahmen sowie der eidesstattlichen Erklärungen Greta Bösels, werde ich prüfen, wie die 2 | WO 235/308: 160. Im Folgenden wird die Schreibweise Greta Bösel verwendet, da in den vorliegenden Quellen an fünf Stellen die Unterschrift Greta Bösels zu finden ist und sie selbst immer die Schreibweise Greta Bösel verwendete. Vgl. WO 235/312: 109; WO 235/310: 18, 19, 22, 23. 3 | WO 235/308: 172. 4 | WO 235/308: 160.

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Rekonstruktionen ihrer Schuld und ›Unschuld‹ ausfielen. Doch zunächst folgt eine Einführung in die juristische Grundlage des Strafverfahrens und damit die Skizzierung des Aushandlungsprozesses der zu ahndenden Verbrechen.

D IE JURISTISCHE G RUNDL AGE DES S TR AF VERFAHRENS Die Kriegsgegner Deutschlands beschlossen bereits während des Zweiten Weltkrieges, das begangene Unrecht zu ahnden (vgl. Ueberschär 1999: 9; Cramer 2003: 202). So inaugurierten 17 Staaten am 20. Oktober 1943 in London die »United Nations War Crimes Commission« (UNWCC). Hauptaufgabe der UNWCC war es vorerst, Beweismaterialien über Kriegsverbrechen zu sammeln und zu sichten (Bessmann/Buggeln 2005: 534; Paech 1997: 15). Am 30. Oktober 1943 folgte die Unterzeichnung der »Moskauer Deklaration« »über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa« durch Großbritannien, die Sowjetunion und die USA. Die Deklaration zielte im Wesentlichen auf die Verfolgung von Massakern in den besetzten Gebieten ab, die auch im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit standen. Die in den Konzentrationslagern begangenen Verbrechen standen 1943 noch nicht im Vordergrund (vgl. Bessmann/Buggeln 2005: 524; Kettenacker 1999: 22). Am 8. August 1945 unterschrieben die vier Siegermächte USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich das Londoner Abkommen, mit dem die Moskauer Erklärung bestätigt und erweitert wurde. Somit wurde die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrechen festgeschrieben und die Tatbestände »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »Verbrechen gegen den Frieden« in das Völkerrecht eingeführt (vgl. Heigl 2001: 10-11). Diesem Abkommen wurde als Anlage das Statut über die Zuständigkeit, die Verfahrensgrundsätze und die Zusammensetzung eines zu bildenden internationalen Gerichtshofs, des Internationalen Militär-Tribunals (IMT), beigefügt, mit dem völkerrechtliches Neuland betreten wurde, da erstmals in der Geschichte vier Staaten unterschiedlicher Verfassung und Struktur einen internationalen Gerichtshof einberiefen, der über Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit zu verhandeln hatte. Vier Tatbestände wurden am 20. Dezember 1945 im erlassenen Kontrollratsgesetz Nr. 10 festgelegt und zur Grundlage der Anklageerhebung gemacht: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen

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gegen die Menschlichkeit und Zugehörigkeit zu gewissen Kategorien von Verbrechensvereinigungen oder Organisationen, deren verbrecherischer Charakter vom Internationalen Militärgerichtshof festgestellt wurde (vgl. Heigl 2001: 11; Wember 1991: 26-27). Nachdem der Nürnberger Prozess, in dem vom 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946 24 Hauptkriegsverbrecher angeklagte waren, abgehalten worden war, folgten keine gemeinsamen Prozesse mehr, da die Verhärtung der Fronten im beginnenden »Kalten Krieg« eine Fortsetzung der gemeinsamen Strafverfolgung von NS-Verbrechen verhinderte (vgl. Kaienburg 1997: 56; Bessmann/Buggeln 2005: 525; Steinbach 1999: 32). Die Rechtsgrundlage des Militärgerichts des ersten Ravensbrück-Prozesses stellte jedoch nicht das Kontrollratsgesetz Nr. 10 dar, sondern der Royal Warrant vom Juni 1945. Dieses Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen beschränkte einerseits die Zuständigkeit der britischen Militärgerichte auf die Ahndung von Verbrechen gegen Staatsangehörige alliierter Nationen und andererseits den Tatzeitraum auf den Zweiten Weltkrieg (vgl. Kretzer 2009: 76; Kaienburg 1997: 56; Bessmann/Buggeln 2005: S. 525; Cramer 2003: 203). Die Beschuldigten im ersten Ravensbrück-Prozess waren somit wegen des Verübens von Kriegsverbrechen angeklagt, was bedeutete, dass die zu ahndenden Delikte wesentlich enger gefasst waren als in der Definition des Londoner Abkommens, da »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« keinen Anklagepunkt darstellten (vgl. Kretzer 2009: 77). Ein wesentlicher Kritikpunkt am internationalen Militärtribunal in Nürnberg fand in dem Verweis auf den Grundsatz »nulla poena sine lege« Ausdruck (vgl. Ueberschär 1999: 11; Reichel 2001: 45). Die britischen Militärgerichte hielten mit dem Royal Warrant am Rückwirkungsverbot fest (vgl. Cramer 2003: 203; Bessmann/Buggeln 2005: 525).

D IE R EKONSTRUK TION DER S CHULD IN DER A NKL AGESCHRIF T DES ERSTEN R AVENSBRÜCK-P ROZESSES UND DER P ROZESSVERL AUF Doch wie wurde nun auf dieser juristischen Grundlage die Hauptschuld der Angeklagten rekonstruiert? Gibt es Hinweise auf eine unterschiedliche Herleitung der NS-Schuld von Männern und Frauen? Betrachtet man die Urteile, so lässt sich zunächst keine nach Geschlecht differenzierte Zuschreibung der Verantwortung erkennen. Nach 44 Verhandlungstagen en-

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dete der erste Ravensbrück-Prozess mit 15 Schuldsprüchen – ein Angeklagter starb vor dem Urteil, niemand wurde freigesprochen. Elf Todesurteile wurden verhängt, davon ergingen fünf an Frauen und sechs an Männer, außerdem vier Haftstrafen – zwei an Frauen und zwei an Männer. Dies entspricht dem ersten Eindruck einer egalisierend wirkenden Vorstellung von Täter/-innenschaft und Schuld, wie sie zunächst in der Anklageschrift zum Ausdruck kommt, was bei näherer Prüfung jedoch keinen Bestand hat (vgl. Kretzer 2009: 40; ebd. 2005: 138). Das Militärgericht, vor dem der erste Ravensbrück-Prozess verhandelt wurde, setzte sich aus dem Vorsitzenden Major General Victor John Eric Westropp, CBE, vier britischen Offizieren sowie einem polnischen und einem französischen Offizier zusammen. Den Posten des Juristischen Beirates (Deputy Judge Advocate) hatte Mr. C. L. Stirling CBE KC inne, er sollte die Richter in allen Rechts- und Verfahrensfragen beraten und bei der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung helfen (Ebd. 2009: 168-169).5 Chefankläger in diesem Prozess war Major S. M. Stewart, Gen.List, JAGs Branch HQ BAOR, ihm standen ein britischer Ankläger und eine französische Anklägerin zur Seite (Ebd.: 68-69). Der Prozess wurde nach britischer Rechtstradition durchgeführt, d.h. sowohl Angeklagte als auch Zeuginnen mussten sich einem Kreuzverhör unterziehen, was für die Belastungszeuginnen eine besondere Anstrengung darstellte. Bevor die Zeuginnen befragt wurden, die im Vordergrund des Prozesses standen, hielt der Chefankläger die opening address, in der die vorgeworfenen Verbrechen dargelegt und erläutert wurden. Anschließend plädierten die Angeklagten auf schuldig oder nicht schuldig. Wie auch in den folgenden Prozessen, plädierten alle im ersten Ravensbrück-Prozess auf nicht schuldig (vgl. Erpel 2009: 341). Nach der Vernehmung der Belastungszeuginnen, fand die Befragung der Entlastungszeuginnen und der Angeklagten statt. Greta Bösel benannte keine Entlastungszeugin und wurde am 7. Januar 1947 verhört.6 Die Urteile britischer Militärgerichte besaßen eine zweiteilige Gliederung. Nach den Verhören hatten der Hauptankläger die Möglichkeit das Abschlussplädoyer und der Judge Advocate das Summing Up zu verlesen.

5 | Vgl. WO 235/305: 3. 6 | WO 235/306: 86-87; WO 235/306: 196-206.

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Es folgte die Verkündung der Urteile, woraufhin die Verteidiger ihre Stellungnahmen verlasen. Die Verlesung der Strafmaße schloss sich an.7 Auf der Grundlage des Royal Warrant ging das Gericht im ersten Ravensbrück-Prozess von einem gemeinschaftlichen Tatbestand der Angeklagten aus. So erklärte der Chefankläger Major Steward am ersten Verhandlungstag, dass die Angeklagten beschuldigt seien, gemeinschaftlich als »staff« des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück Teil einer Verschwörung gewesen zu sein, die darauf ausgerichtet war, im Lager unmenschliche Bedingungen herzustellen und damit das Leiden und die Vernichtung der Gefangenen verursacht zu haben (vgl. Kretzer 2005: 138). Durch die Annahme, dass die Angeklagten als »staff members« im Kollektiv für die begangenen Verbrechen im Konzentrationslager Ravensbrück verantwortlich seien, wurde auch die Homogenität der Angeklagten und die Gleichwertigkeit ihrer Schuld konstruiert (Ebd. 2002: 123, 131).8 Die von den Einzelnen begangenen Misshandlungen und Morde wurden als Teil des gemeinschaftlichen Verbrechens gewertet (Ebd. 129). Einzelne Verbrechen seien daher nur »examples of the behavior of the accused generally«, denn es liege der Anscheinsbeweis vor (vgl. ebd. 129-130; Duesterberg 2002: 231; Müller 1998: 24ff.).9 Es wurde also davon ausgegangen, dass ein Zusammenhang zwischen SS-Zugehörigkeit und der Diensttätigkeit im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gegeben war und dies wiederum im Zusammenhang mit den in Ravensbrück begangenen Verbrechen stand. Problematisch war dabei, dass zum Lagerpersonal, neben den offiziellen SS-Mitgliedern, auch das Personal gezählt wurden, das nicht der SS angehörte. Dies betraf neben den angeklagten ehemaligen Gefangenen auch das sogenannte »weibliche SS-Gefolge«. Dieser Definition eines Täter/-innenkollektivs war die Annahme inhärent, dass alle beschuldigten Frauen als »staff«-Mitglied regulärer Teil der SS waren und »S.S. women« auch innerhalb der SS einen militärischen Rang bekleiden konnten (vgl. Kretzer 2002: 129-133). Zwar konnten Aufseherinnen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück tatsächlich Positionen mit erheblichen Weisungs7 | WO 235/308: 162-164. 8 | WO 235/305: 1-2. 9 | WO 235/305: 42. Die Anklage nutzte somit auf konsequente Weise die Verfahrensweise des prima facies – des Anscheinsbeweises, der eine Methode der mittelbaren Beweisführung darstellt. Hierbei ist es erlaubt, gestützt auf Erfahrungssätze, Schlüsse von bewiesenen auf zu beweisende Taten zu beziehen.

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befugnissen einnehmen, leitende Funktionen in der Lagerkommandantur wurden jedoch sowohl in Männer- als auch in Frauenlagern mit Männern besetzt (vgl. Heike 1994: 221). Dass der Terminus »weibliches SS-Gefolge« eine Hilfskonstruktion darstellt, da Aufseherinnen der patriarchal strukturierten Elitetruppe Adolf Hitlers offiziell nicht angehören durften, wurde demzufolge nicht reflektiert (vgl. zum weiblichen SS-Gefolge Strebel 2003: 66; Heike 1994: 224; Leo 2006: 496; Mailänder Koslov 2003: 96116). Dies spielt aber eine erhebliche Rolle, wenn es um die Frage der Bewertung und Darstellung der Täter/-innenschaft von Frauen und Männern geht. Da Frauen offiziell eben keine leitenden Funktionen innerhalb der Lagerkommandantur einnehmen konnten, gestaltete sich die Herleitung ihrer Schuld oftmals anders als die der männlichen Angeklagten. Welche Beschuldigungsstrategien die Anklage bei der Herleitung Greta Bösels Schuld anwandte und wie demzufolge das vermittelte Täterinnenprofil ausfiel, gilt es im Folgenden zu untersuchen.

D IE R EKONSTRUK TION VON G RE TA B ÖSELS S CHULD – DIE B ESCHULDUNGSSTR ATEGIEN Während die Schuld der Männer eher anhand ihrer Position im Vernichtungsapparat rekonstruiert wurde10, wurde die Schuld der Frauen vorwiegend aus ihrer unmittelbaren und ausführenden Beteiligung im Verfolgungsapparat oder bei Massenmorden geschlossen. Aus dieser Differenz ergaben sich unterschiedliche Profile. Da eben nicht mit dem Verweis auf ihren Rang argumentiert werden konnte, stellte die unmittelbare, exzessive Gewaltanwendung einen wesentlichen Punkt der Rekonstruktion der Schuld von Frauen dar (vgl. Kretzer 2002: 132; ebd. 2009: 107ff.). Wie üblich in herrschenden Kriminalitätsdiskursen, entsprach auch im ersten Ravensbrück-Prozess der strafrechtlich angenommene Normalfall einer hauptschuldigen Delinquenz »männlichen« Geschlechtsstereotypen, an denen sich die verbrecherischen Frauen zu messen hatten. Was bei männlichen Kriegsverbrechern als Normalität oder zumindest als erwartenswert 10 | Die angeklagten Männer in NS-Prozessen kamen in der Regel aus den legislativen, administrativen, ökonomischen, kulturellen oder ideologischen Handlungsfeldern mit genauen Rang- und Berufsbezeichnungen, was bei den Frauen nicht der Fall war.

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verstanden wurde, erschien bei Kriegsverbrecherinnen als Abweichung und damit als besonders grausam. Ähnlich gestaltet es sich auch bei der Rekonstruktion von Greta Bösels Schuld. Im Wesentlichen konzentrierte sich die Anklage auf drei Punkte. Um ihre Schuld belegen zu können, verfolgte der Chefankläger Major Steward zum einen den Nachweis der unmittelbaren Tatbeteiligung Bösels bei Selektionen für das »Jugendschutzlager« Uckermark und für Gaskammerselektionen, zum zweiten den Nachweis der besonders brutalen und unangemessenen Behandlung der Häftlinge und zum dritten die Bestätigung ihrer hochrangigen Stellung innerhalb der Lagerhierarchie. Um ihr diese Stellung und einen hohen Dienstgrad nachzuweisen, befragte Steward ausführlich die Zeuginnen zu Bösels Position. Helena Dziedziecka11 gab im Verhör an: »She was together with Pflaum. Pflaum was the main SS man at the labour department and they were standing together with Winkelmann and helped him.«12 In dem Verhör durch Beyer, dem Pflichtverteidiger Bösels, konkretisiert Dziedziecka ihre Aussage: »She was the Arbeitsfuhrer [sic!], the Leader of the Labour Office.«13 Mit diesen Aussagen wird Bösel in die Reihe hochrangiger SS-Männer im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingeordnet. Greta Bösel und Hans Pflaum14 , der Oberschar- und Arbeitsführer war, werden sehr oft gemeinsam erwähnt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass beide in der Abteilung Arbeitsdienst arbeiteten. Gleichfalls enthebt es Bösel aber auch aus der Stellung der einfachen Aufseherin, die sie nachdrücklich vorgab

11 | Helena Dziedziecka wurde im August 1940 in Warschau festgenommen. Sie verbrachte 13 Monate in einem Gefängnis und kam am 23. September 1941 nach Ravensbrück. Am 23. April 1945 konnte sie mit Hilfe des schwedischen Roten Kreuzes das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verlassen. Vgl. WO 235/305: 123. 12 | WO 235/305: 138. 13 | WO 235/305: 153. 14 | Er konnte sich mit dem letzten Kommandanten, Fritz Suhren, dem ersten Ravensbrück-Prozess durch eine geglückte Flucht entziehen. Beide wurden 1949 gefasst und der französischen Besatzungsbehörde übergeben. Sie wurden von einem französischen Militärgericht in Rastatt zum Tode verurteilt und am 12. Juni 1950 erschossen. Vgl. Kretzer 2005: 138.

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zu sein. Die Zeugin Anna Hand15 wurde ebenso von Steward zu Bösels Dienstgrad befragt: »Bosel was the woman leader of the labour service, that is to say, her position was immediately below that of Pflaum.«16 Steward fasste diese Aussage zusammen, indem er feststellte, Pflaum habe die Verantwortung für die Arbeitsabteilung getragen und »Bosel was his secondin-command.«17 Er wollte diese Aussage von Hand bestätigt wissen, was sie auch tat, es jedoch umgehend korrigierte: »She was not the secondin-command. She only had one part of it under her immediately inferior Pflaum.«18 Diese Befragungsszenen zeigen auf, dass die männliche NSTäterschaft als übergeordnetes Vergleichspotential fungierte. Denn offenkundig konnte Bösels Machtposition nur durch den unmittelbaren Bezug zu den SS-Männern hinreichend aufgezeigt werden. Gleichzeitig verweisen diese Szenen auf die Problematik der fehlenden Rangbezeichnungen für Frauen im Dienste der SS, womit auch eine fehlende Vorstellung darüber verbunden ist, wie Machtbefugnisse organisiert und inwiefern Frauen beteiligt waren. Beide Seiten versuchten dieses Definitionsdefizit für sich zu nutzen. Greta Bösel betonte zur Entschuldung ihre geringe Position innerhalb der Lagerhierarchie, während Steward ihr die Position der stellvertretenden Arbeitsdienstführerin nachzuweisen versuchte. Beim Vorwurf der unmittelbaren Tatbeteilung Greta Bösels bei Selektionen für das »Jugendschutzlager« Uckermark, die sie nicht grundlegend bestritt, konzentrierte sich die Anklage darauf, ihr in ihrem Handeln Kontinuität nachzuweisen und es als Ergebnis ihrer Veranlagung darzustellen. Greta Bösel gab im Verhör an, in Folge einer Dienstverpflichtung nach Ravensbrück gekommen zu sein (vgl. Heise 2009: 35, 46ff.). Während sie betonte, zu dieser Arbeit gezwungen worden zu sein, bestand eine Strategie 15 | Anna Hand wurde am 17. März 1942 verhaftet. Es wurden ihr illegale, politische Aktivitäten gegen das nationalsozialistische Regime vorgeworfen. Am 2. Januar 1943 wurde sie in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt und blieb dort bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee. Sie arbeitete von Beginn an im Büro der Abteilung Arbeitsdienst, erst unter Dittmann, dann unter Pflaum. Durch diese Tätigkeit hatte sie einen umfangreichen Einblick in die Geschehnisse und die Organisation in Ravensbrück, was die meisten Häftlinge nicht hatten. WO 235/306: 17-30. 16 | WO 235/306: 22. 17 | Ebd. 18 | Ebd.

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der Beschuldung darin, ihr vorzuwerfen aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben und nach Ravensbrück gegangen zu sein, da sie sich als Aufseherin nicht nur gut geeignet habe, sondern in diesem Bereich auch erfahren gewesen sei. Zuvor war im Verhör geklärt worden, dass Greta Bösel vor ihrer Zeit als Aufseherin in Ravensbrück seit 1940 bei der Firma Continental in Hannover beschäftigt gewesen sei.19 Diese Firma habe auch »Ostarbeiter« und sogenannte »Fremdarbeiter«, die u.a. aus Konzentrationslagern rekrutiert wurden, beschäftigt.20 Auf diese Aussage hob Steward ab, als er Greta Bösel fragte: »Did not you go to Ravensbruck [sic!] because you had done well at the Hanover [sic!] factory?«21 In seinem Abschlussplädoyer wurde dieser Vorwurf deutlicher. Er erklärte, sie sei nicht »without having had any training in the handling of slave labour before«22 als Aufseherin nach Ravensbrück gekommen. Somit setzte er ihrer geschlechtsstereotypen Darstellung die Annahme entgegen, sie sei ausgebildet und befähigt gewesen, Menschen zu selektieren – denn sie habe es ja gut in Hannover gemacht. Dies zielte darauf ab, die Aufnahme ihrer Arbeit in Ravensbrück als bewusste, freiwillige und karriereorientierte Entscheidung zu entlarven. Gleichzeitig sollte so auch verhindert werden, Bösel mit entlastenden geschlechtsstereotypen Eigenschaften in Verbindung zu bringen. Dies trug dazu bei, ihr den Status einer ›normalen‹ Frau zu nehmen, um ihr dadurch ein deviantes Verhalten nachzuweisen, was eine wesentliche Strategie der Beschuldung darstellte. Ebenso versuchte Steward mit seinen Annahmen, Bösels Aussagen bezüglich der Selektionen zu konterkarieren. Sie gab in ihrer ersten schriftlichen Aussage an, gewusst zu haben, dass es sich bei dem »Jugendschutzlager« Uckermark um ein ›Vernichtungslager‹ gehandelt habe. Dies dementierte sie in ihrer zweiten schriftlichen Aussage. Darüber hinaus sei sie bei den Selektionen nur anwesend gewesen und habe lediglich für Ordnung gesorgt (vgl. Heise 2009: 52-53). Helena Dziedziecka sagte indessen aus: »When all prisoners were ordered to leave their huts and parade, Bosel used to go into the huts and used to check up that all the prisoners had left and that none of them had hidden somewhere under the beds«23 und 19 | WO 235/310: 18; WO 235/306: 206, 207, 197; WO 235/310: 23. 20 | Vgl. WO 235/310: 108; WO 235/306: 196. 21 | WO 235/306: 203. 22 | WO 235/308: 81. 23 | WO 235/305: 138.

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bemerkte weiter, dass dies gar nicht Bösels Aufgabe gewesen sei, sondern die der Blockältesten.24 Und Anna Hand gab zu Protokoll: »We drew her attention again and again to the fact that it was an extermination camp.«25 Auch an dieser Stelle zeichnet sich ein ganz anderes Bild ab, als das, was Bösel von sich und ihrer Tätigkeit entwarf. Laut Dziedziecka handelte Bösel eigenverantwortlich und keinesfalls auf Befehl, was eher vorauseilenden Gehorsam als Befehlsnotstand erkennen lässt. Bösels Vorgehen bei den Selektionen und den Appellen wurde von den Zeuginnen als äußerst brutal beschrieben. Während Greta Bösel betonte, keine kranken Frauen geschlagen zu haben und ansonsten ›nur der Ordnung halber‹, beschrieb Hand ihr Verhalten anders: »[…] she made terrible scenes in the camp street. Without taking any cognizance of the fact whether the women were ill or old or weak she beat them to their work. There were often terrible scenes when after the working parade she brought one or two women into the office of the Labour Department, either so that Pflaum could beat them or else to make them stand as punishment outside. […] Very often whe[n] she brought those one or two women into the Labour Department office we drew her attention to the fact that there was no point forcing women in that condition to go to work. She either did not react at all or said: ›This does not matter at all. Let them perish if they cannot work‹.« 26

Dieses brutale Verhalten Bösels verlangte nach einer rationalen Erklärung. Wie deutlich wurde, waren ihre Taten weder auf ihre Machtposition noch auf einen vermeintlich männlichen Lebenslauf, beispielsweise mit einer militärischen Karriere, zurückzuführen. Ebenso wenig konnte auf ihre ideologische Überzeugung verwiesen werden, da sie angab kein NSDAP-Mitglied zu sein.27 Diese Taten forderten aber Erklärungen, umso mehr, waren sie nicht mit dem traditionellen Frauenbild, das den ›normalen‹ Charakter einer Frau mit Sanftmut, Reinheit, gutmütigen und liebevollen Gefühlen bzw. Muttergefühlen gleichsetzt, in Verbindung zu bringen (vgl. Eschebach 2003: 98; Cramer 2003: 211; Becker-Schmidt/Knapp 2000). Dieses geschlechtsdeviante Verhalten Bösels vergrößerte die Erklärungsnot. Um 24 | Vgl. WO 235/305: 153. 25 | WO 235/306: 23. 26 | WO 235/306: 22-23. 27 | WO 235/306: 197.

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diese Taten erklären zu können, stilisierte der Judge Advocate in seiner Zusammenfassung (Summing Up) Greta Bösel zu einer Exzesstäterin, indem er ihr vorwarf, unnötige Gewalt angewandt zu haben. Er trug dem Gericht auf, darüber zu entscheiden, »whether the force that was used was necessary or whether it was too much.«28 Er halte diesen Fall für offenkundig. Major Steward habe ihnen ja bereits erklärt, »he is not complaining that force had to be used in this camp, because force had to be used; the complaint is that it was unnecessary force, or force going beyond what was required to meet the situation«.29 Deutlicher wurde dieser Vorwurf in seinem letzten Satz, in dem er die Richter fragte: »Are you accepting that she was another of those brutal types of women who were beating and maltreating these Allied nationals in that camp?«30 Somit verwies Stirling auf Bösels vermeintliche Persönlichkeit, indem er sie »those types of women« zuordnete, für die das Täterinnenprofil der »sadistischen Bestien« entworfen wurde.31 In dieser Darstellung durchbrach Greta Bösel nicht nur die ihr zugeschriebene Geschlechterrolle sondern auch die ›vermeintliche‹ Normalität des Krieges. Bei der Rekonstruktion von Greta Bösels Schuld und Verantwortung für das kollektive Verbrechen wurde explizit auf ihre Wesenhaftigkeit und damit auf ihr deviantes Verhalten verwiesen. Ein Ansatz, der auch in anderen Fällen ›weiblicher‹ NS-Schuld zur Erklärung herangezogen wurde.

28 | WO 235/308: 25. 29 | WO 235/308: 125. 30 | Ebd. 31 | Paradigmatisch dafür standen Dorothea Binz und Carmen Maria Mory, aber auch Irma Grese, die im Bergen-Belsen-Prozess verurteilt wurde. Mory (»Blockälteste«) war im ersten Ravensbrück-Prozess angeklagt und erhielt die Todesstrafe, sowie Binz (stellvertretende Oberaufseherin). Ihre Fälle sorgten für eine besondere Aufmerksamkeit. Binz wurde im Laufe des Prozesses immer wieder als besonders grausam und sadistisch dargestellt und avancierte auch in den folgenden Ravensbrück-Prozessen, namentlich im letzten, zur ›NS-Bestie‹, von der es sich abzugrenzen galt bzw. die herangezogen wurde, um eine Aufseherin durch einen Vergleich besonders schwer zu belasten. Ihr Fall wurde bereits Gegenstand unterschiedlicher Studien. Vgl. Duesterberg 2002: 234-236; Schwartz 2007; Taake 1998: 49ff.

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D IE R EKONSTRUK TION VON G RE TA B ÖSELS »U NSCHULD « – DIE E NTSCHULDUNGSSTR ATEGIEN Da gemäß der britischen Verfahrensordnung den Urteilen keine Urteilsbegründungen beigefügt wurden, ist es nicht möglich, anhand der Begründung zu prüfen, welche Vorwürfe und Argumentationen als recht- bzw. unrechtmäßig bewertet und wie die strafrechtliche Zurechnungs- und Verantwortungsfähigkeit eingeschätzt wurden. Dem Urteil zufolge hielt das Gericht die Schuld Greta Bösels für bewiesen. Sie selbst hingegen hatte zu Beginn des Prozesses, wie alle anderen Angeklagten, auf unschuldig plädiert. Gewiss müssen diese Aussagen im Kontext eines juristischen Strafverfahrens als notwendige Verteidigungsstrategien verstanden werden, umso dringlicher, betrachtet man die Schwere der ihnen zur Last gelegten Vorwürfe. Dass hinter diesen Aussagen jedoch mehr als strategische Notwendigkeit steckte, kann am Fall Greta Bösels aufgezeigt werden. Die Verteidigungsstrategie des Unschuldig-Seins ging bei ihr einher mit einem nicht kommunizierten Schuldbewusstsein. Ein Schuldeingeständnis, Reue oder Bedauern räumte sie während des Prozesses an keiner Stelle ein. Vielmehr arbeiteten sie und ihr Anwalt während des Prozesses beharrlich an der Konstruktion ihrer »Unschuld«. Dabei stand nicht die Leugnung ihrer Tätigkeit als Aufseherin im Mittelpunkt, auch stritt sie nicht generell die ihr vorgeworfenen Taten ab. Vielmehr stand die Konstruktion ihres Opferstatus im Vordergrund, der es erlaubte, sie als Objekt ohne individuelle Verantwortung zu inszenieren. Um ihre Täterinnenschaft in diesem Licht erscheinen zu lassen, wandten Greta Bösel und ihr Anwalt unterschiedliche Strategien an. Wie bereits deutlich wurde, spielte die Darstellung von Greta Bösels Aufgaben- und Entscheidungsbefugnissen eine entscheidende Rolle für die Be- und für die Entschuldung. Im Gegensatz zur Anklage betonte Greta Bösel ihre Bedeutungslosigkeit als Aufseherin: »I did not really have anything to do in the labour department but I had to take the morning and the midday work parade and I had to be present at transports.«32 Mit dieser Aussage konstruierte sie das Bild der passiven, macht- und aufgabenlosen Aufseherin. Indem sie im vorangehenden Ausspruch explizit die Verantwortlichkeit Pflaums betonte, grenzte sie sich deutlich von ihrem Chef und damit auch vom männlichen SS-Handlungskollektiv ab. 32 | WO 235/306: 197.

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So entwarf sie das Bild der einfachen Aufseherin, die der handlungs- und weisungsbemächtigten männlichen Lagerleitung unterstand. Ihr Anwalt schlussfolgerte aus dieser Aussage, dass dies keine richtige Arbeit gewesen sei, sondern eine Situation, in der sie sich befand (vgl. Heise 2009: 52). Damit rekurrierte er auf die maßgebliche Strategie der Entschuldung: Greta Bösel sei ein Opfer der Umstände. So sei sie ohne ihr Verschulden in eine Situation geraten, die ihr nun vorgeworfen werde. Aus der geringen Position, die sie im Lager innehatte, sei zudem ein Mangel an Handlungsmöglichkeiten und demzufolge auch -alternativen hervorgegangen. Diese Entschuldungsstrategie wird in Beyers Begnadigungsschreiben noch deutlicher: Greta Bösel habe »an den Auswahlen der verschiedensten Art lediglich für eine Zeitspanne von drei Monaten«33 teilgenommen. »Dass sich unter diesen Auswahlen auch solche befanden, die im Jugendlager und in der Gaskammer endeten, ist ihr besonderes persönliches Verhängnis.«34 Da sie erst so spät, im Jahr 1944, ins Lager gekommen sei, könne man ihr die Vorgänge der vorausgegangenen Jahre ebenso wenig vorwerfen wie die Umstände, die in Ravensbrück herrschten. »Sie versah lediglich Ordnungsdienste und brachte die Häftlinge in Reih und Glied.«35 Sie sei somit an der Entwicklung der Bedingungen im Lager unbeteiligt gewesen und demzufolge könne der Kollektivtatvorwurf auf sie nicht angewandt werden. Ihre Position hätte einen derartigen Einfluss auch gar nicht zugelassen: »Sie war nur eine kleine Aufseherin mit sehr beschränktem Aufgabenkreis«36, heißt es weiter in seinem Schreiben. Deutlich wird an dieser Stelle die Strategie der Umdeutung der Umstände. Demzufolge seien die Selektionen Bösels Verhängnis und nicht das der vielen Opfer gewesen. Eine perfide Umdeutung, die erahnen lässt, wie belastend der Prozess für die Zeuginnen gewesen sein muss. Als Steward Bösel mit den Aussagen der Zeuginnen konfrontierte, dass sie eben nicht nur »präsent« bei den Selektionen für die Transporte gewesen sei, sondern aktiv gehandelt habe, stritt sie dies nicht gänzlich ab, vielmehr stellte sie ihr Handeln in den Kontext eines Befehls, dem sie nachgekommen sei. Somit rekurrierte sie auf die Argumente des Befehlsnotstandes und der Pflichterfüllung, die sie gleichfalls als pflichtbewussten 33 34 35 36

| | | |

WO 235/312: 112. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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und tugendhaften Menschen ausweisen sollten. Diese Argumente wurden ebenso von den Angeklagten des Nürnberger Prozesses vor dem IMT angewandt. Dass sie durchaus Handlungsspielräume besaß und nicht jedem Befehl nachkam, verdeutlicht folgende Szene, in der sie non-intentional ihre Entschuldungsstrategien durchbrach. In der Befragungssequenz zu ihrer Behandlung der Häftlinge gab sie an, gewusst zu haben, dass man Häftlinge nicht schlagen dürfe, sondern Meldung zu erstatten habe. Nachdrücklich erklärte Bösel, niemals Meldung erstattet, dafür die Häftlinge, wenn es nötig war, geohrfeigt zu haben. Sie gab weiter an, zu Gunsten der Häftlinge die Vorschriften missachtet zu haben, denn hätte sie die Häftlinge der Vorschrift entsprechend gemeldet, wäre ihnen Schlimmeres widerfahren. Indem sie die Umstände verkehrte, versuchte sie ihren Helferinnenmythos zu konstruieren und ihre gute Art und ihren guten Willen hervorzuheben. Diese Stelle zeigt auf, dass sie durchaus Handlungs- und Machtspielräume besaß und diese sogar einräumte, um Schuld abzuwehren. Sie setzte sich über einen Befehl hinweg und handelte eigenständig, ohne irgendwelche Repressionen zu befürchten, auf die sie ansonsten vielfach verwies. Wie auch bei der Rekonstruktion ihrer Schuld, spielte der Bezug auf die Kategorie Geschlecht bei der Entschuldung eine wesentliche Rolle. Wenn Greta Bösel sich als passive, unwissende, karriereunbewusste, helfende, wehrlose, machtlose und in ihrer Situation überforderte Aufseherin beschrieb, rekurrierte sie auf die der Frau geschlechtsstereotyp zugedachte Rolle, insbesondere wenn sie sich selbst als Objekt in der männerdominierten Lagerhierarchie darstellte. Als Beyer feststellte, »And so you saw after a fortnight that with your kind hearted methods you just did not get anywhere?«37, betonte er die Überforderung Bösels, an diesem für eine ›normale‹, »kind hearted« Frau unpassenden Arbeitsplatz. Gänzlich stritt Beyer demnach Bösels deviantes Verhalten nicht ab, sie sei von einer anständigen Frau in eine Aufseherin verwandelt worden, »which used the methods employed by the others«38 . Auch hier steht ihr Opferstatus im Vordergrund. Nicht sie sei schuld, sondern die Umstände, denen sie sich entsprechend vermeintlich geschlechtsspezifischer Charaktereigenschaften untergeordnet habe.

37 | WO 235/306, S. 201. 38 | Ebd.

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F A ZIT Wie aufgezeigt werden konnte, nahm der Verweis auf die Kategorie Geschlecht und damit auf Greta Bösels vermeintliche, geschlechtsstereotype Rollendevianz bzw. ursprüngliche Rollenkonformität eine wichtige Funktion zur Be- bzw. Entschuldung ein. Ebenso konnte festgestellt werden, dass Bösel und Beyer auf Entschuldungsstrategien zurückgriffen, die massiv durch den Nürnberger Prozess vor dem Internationalen Militär-Tribunal mitgeprägt wurden. In der direkten Nachkriegsphase etablierten sich nicht nur Täter/-innenschaftsbilder zur Beschuldung von NS-Täter/-innenschaft, sondern setzten sich auch Täter/-innenschaftsbilder zur Entschuldung durch (vgl. Heise 2009: 21-22). Während die angeklagten Hauptkriegsverbrecher im Nürnberger Prozess, ähnlich wie im aufgezeigten Fall, auf ihre bloße Befehlsausführung, ihre geringen Befugnisse und unbedeutende Verantwortung verwiesen, sich oftmals zu Opfern stilisierten, stellten gerade sie für die Öffentlichkeit die Hauptverantwortlichen dar. Gleichzeitig wurden aber viele dieser Argumente von einer breiten Bevölkerungsschicht genutzt, um mit ihrer Schuld umzugehen. So avancierte beispielsweise das Argument des Befehlsnotstandes, das sowohl von Männern als auch von Frauen angeführt wurde, nicht nur innerhalb der Gerichtssäle zu einer populären Rechtfertigung. Verbunden war damit die Vorstellung, dass mit dem Terror nach außen auch ein äquivalenter Terror nach innen verbunden gewesen sei, ein Zwang zum Mitmachen existiert habe und Verweigerung eine Bedrohung für Leib und Leben bedeutete (vgl. Paul 2002: 18). Diese Deutung innerhalb der Gerichtsprozesse verkehrte oftmals die Lage und machte aus den Täter/-innen Opfer. Sie ermöglichte ihnen, wie auch im Fall Greta Bösels, eine Selbstinszenierung, in der sie als machtlose Personen ohne eigenen Ehrgeiz und eigenes Interesse auftreten konnten. Derartige Argumentationen konnten eine Wahrnehmung und Erinnerung befördern, in der die Täter und Täterinnen zu Gefangenen der Zeit und der Strukturen wurden, da sie zum absoluten Gehorsam verdammt gewesen seien.39 Der Leserinnenbrief in der siebten Ausgabe des Spiegels aus dem Jahre 1947 gibt davon Zeugnis. Die Leserin hält den Richterspruch des zu Tode verurteilten Lagerarztes Pery Treite für Unrecht, da er »viel Gutes getan hat und mit allen Mitteln versuchte, gegen den Strom der Schlechtig39 | Ebd.

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keit zu schwimmen.«40 Dass seine verhandelte Schuld und auch die der anderen Angeklagten Angst auslösten, offenbart sich in ihrer Feststellung, wenn man ihn verurteile, so müssten auch »ungezählte Deutsche zum Tode verurteilt werden«.41 Der Umgang mit den Hauptkriegsverbrecher/-innen stellte die Alliierten und die deutsche Bevölkerung vor eine rechtlich wie moralisch schwierige Situation. Wie sollte mit ihrer und, wie die Leserin es ausdrückte, der Schuld »ungezählte[r] Deutsche[r]« umgegangen werden? Zumindest im vorliegenden Fall einigte man sich zunächst darauf und in diesem Punkt schienen sich sogar Anklage und Verteidigung einig zu sein, dass ›normale‹ Frauen keine Hauptkriegsverbrecherinnen sein konnten.

Q UELLEN JAGs Office: War Crimes Case Files, Second World War, Ravensbruck Case, Case No. 225, Vol. I, Public Record Office Kew/London [PRO], WO 235/305 – Sammlung MGR/StBG, RA KL/43-10 – PRO WO 235/305. JAGs Office: War Crimes Case Files, Second World War, Ravensbruck Case, Case No. 225, Vol. I, Public Record Office Kew/London [PRO], WO 235/306 – Sammlung MGR/StBG, RA KL/43-10 – PRO WO 235/306. JAGs Office: War Crimes Case Files, Second World War, Ravensbruck Case, Case No. 225, Vol. I, Public Record Office Kew/London [PRO], WO 235/308 – Sammlung MGR/StBG, RA KL/43-10 – PRO WO 235/308. JAGs Office: War Crimes Case Files, Second World War, Ravensbruck Case, Case No. 225, Vol. I, Public Record Office Kew/London [PRO], WO 235/310 – Sammlung MGR/StBG, RA KL/43-10 – PRO WO 235/310. JAGs Office: War Crimes Case Files, Second World War, Ravensbruck Case, Case No. 225, Vol. I, Public Record Office Kew/London [PRO], WO 235/312 – Sammlung MGR/StBG, RA KL/43-10 – PRO WO 235/312.

40 | DER SPIEGEL 7/1947: 22. 41 | Ebd.

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»Der Krieg war verloren, die Unschuld verraten …« Die Feminisierung von NS-Täterschaft im Fernsehfilm »Gegen Ende der Nacht« Simone Erpel

Immer mehr Menschen beziehen ihr historisches Wissen über den Nationalsozialismus und den Holocaust aus Film und Fernsehen. Eine rasant steigende Zahl von Dokumentar- und Spielfilmproduktionen (vgl. Eckel/ Moisel 2008: 348f.) belegt, dass das Medium Film zu einer wichtigen und öffentlichkeitswirksamen Form der kollektiven Erinnerung geworden ist. Die Filme beeinflussen nicht nur den öffentlichen Diskurs über die Zeit des Nationalsozialismus, sondern sind selbst geprägt von den jeweilig aktuellen Auseinandersetzungen über die nationalsozialistische Vergangenheit, da »jedes Bild der NS-Vergangenheit zugleich eine Signatur jener Gegenwart mit sich führt, in der es angefertigt wurde« (Kramer 2009: 299). Der Spielfilm Gegen Ende der Nacht, erstmals 1998 im Fernsehen ausgestrahlt, bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Oliver Storz (*1929), Regisseur und Drehbuchautor, setzt in seinem Fernsehdrama auf eine bewährte Erzählstrategie, die sich seit Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie Holocaust Ende der 1970er Jahre etabliert hat. Um die Dimension der NS-Verbrechen dem Publikum begreiflich zu machen, werden individuelle Opferschicksale bzw. Familienbiografien dargestellt, die Empathie wecken. Ergebnis dieser personalisierten Erzählperspektive ist, wie Peter Reichel kritisch anmerkt, »eine nachhaltige Emotionalisierung im Umgang mit dem Holocaust« (Reichel 2004: 25). Ganz im Trend dieser Emotionalisierung liegt Gegen Ende der Nacht, der

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auf einer deutsch-jüdischen Liebesgeschichte basiert. Doch handelt es sich nicht wie in den Kinofilmen Comedian Harmonists (1997), Aimée und Jaguar (1999) oder Rosenstraße (2003) um ein verklärendes »Liebesopfer deutscher Frauen für ihre jüdischen Partner« bzw. Partnerinnen (Hake 2008: 200). Vielmehr begegnen sich in Gegen Ende der Nacht eine mutmaßliche KZ-Aufseherin und ein jüdischer US-amerikanischer Soldat. Nicht allein die Paarkonstellation der deutsch-jüdischen Liebesaffäre ist ungewöhnlich, auch die Filmhandlung, die zeitlich an drei Tagen im ersten Nachkriegsommer spielt, entspricht nicht unbedingt der gängigen Narration. Von vornherein ist nämlich die Nachgeschichte des Nationalsozialismus in Gegen Ende der Nacht die zentrale Erzählperspektive, d.h. nicht die NS-Vergangenheit, sondern der Umgang mit dem Dritten Reich steht im Zentrum des Films. Ausgehend von diesen Beobachtungen möchte ich untersuchen, inwiefern sich in Oliver Storz‘ Fernsehdrama, die Diskurse der 1990er Jahre über Schuld, politische Verantwortung und deutsche Identität widerspiegeln. Symbolisiert das Liebesverhältnis zwischen einer nicht-jüdischen Deutschen und einem 1933 ins Exil getriebenen deutschen Juden – gewissermaßen also eine Opfer-Täterin-Beziehung – den deutsch-jüdischen Dialog der 90er Jahre? Welche Funktion hat die Liebesgeschichte, die im Film erzählt wird? Lässt sie sich als Strategie zur Feminisierung von NS-Täterschaft deuten, die dazu dient, Scham- und Schuldgefühle abzuwehren? Wird durch ein individualisierendes Narrativ die Verantwortung für den Holocaust ›still gestellt‹, und leistet der Film damit einen Beitrag zur Verkitschung und Entpolitisierung der NS-Vergangenheit? Scham und Schuld sind zentrale Begriffe, die mit Sicherheit auftauchen, wenn es um den Umgang mit den NS-Verbrechen geht. Ich verwende die Begrifflichkeiten im Folgenden als normative Kategorien, die sich im Wesentlichen auf ein humanistisches Wertesystem beziehen, deren Ethik aus dem christlichen Abendland stammt und die gesellschaftliches Zusammenleben regeln sollen. Schuld entsteht durch das Verhalten des Einzelnen, der mit seiner Haltung oder seiner Tat die Rechte bzw. Interessen anderer verletzt oder auch den gesellschaftlich definierten individuellen Freiraum anderer in der Gesellschaft einschränkt. Voraussetzung für Schuld(-fähigkeit) ist die freie Willensentscheidung, d.h. das Wissen darum, dass der Einzelne in einer bestimmten Situation auch anders hätte entscheiden und handeln können. Gerade im Zusam-

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menhang mit den NS-Verbrechen wird eine Willensfreiheit resp. Schuldfähigkeit vehement bestritten. Die aus dem juristischen Kontext stammende und auch noch heute verbreitete Entschuldungsfigur ist der angebliche Befehlsnotstand im Krieg. Das Argument, es habe ein Zwang zum Mitmachen bestanden, im Falle einer Verweigerung wäre Leib und Leben bedroht gewesen, gehört jedoch in das Reich der Legenden. Scham bzw. Schamgefühl ist eine machtvolle Emotion. Beschämung kann von der Einsicht in das eigene Fehlverhalten zeugen und kann Signal für Bedauern und Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Werte und Normen sein. Zugleich kann sie auf einen Verdrängungsvorgang verweisen, wenn nämlich ein Schamgefühl von einem noch mächtigeren Schämen überlagert wird; indem etwa die Beschämung und Bestürzung der deutschen Bevölkerung über die nationalsozialistischen Massenverbrechen in ein sexuelles Schamgefühl transformiert wird. Der Film Gegen Ende der Nacht ist ein gutes Beispiel für einen solchen Tabubruch, denn Oliver Storz bringt in seinem TV-Drama zwei höchst scham- und schuldbelastete Bereiche filmisch zusammen, die sich moralisch im Grunde genommen gegenseitig ausschließen: das sexuelle Begehren und das KZ-Verbrechen. Eine derartige Kombination war allenfalls in so genannten »Nazi-Lager-Pornos« zu finden, einem Subgenre der Sexploitation-Filme der siebziger Jahre (vgl. Seeßlen 2009: 127). Gegen Ende der Nacht ist jedoch kein pornografisches Werk, sondern ein Film, der mit Mitteln des Dramas moralische Fragen von Schuld und Verantwortung des Einzelnen verhandelt. Ich werde Gegen Ende der Nacht auf zwei Ebenen betrachten: zum einen möchte ich seine filmischen Mittel und seine Ästhetik analysieren und zum anderen die öffentliche Diskurse herausarbeiten, auf die er im Subtext verweist. Im ersten Teil befasse ich mich mit der Filmhandlung und den Hauptakteuren. Dem folgt eine Analyse des Aufbaus des Films und der Filmsequenzen. Insbesondere werde ich auf bestimmte Kameraeinstellungen und Erzählstrategien eingehen, die Oliver Storz in Gegen Ende der Nacht einsetzt. Im zweiten Teil untersuche ich, inwiefern der Film mit dokumentarischen Bezügen arbeitet. Weiterhin werde ich nach den Diskursen fragen, die hier verhandelt werden, um abschließend den Fernsehfilm innerhalb der Kino- und Fernsehlandschaft zum Nationalsozialismus der 1990er Jahre zu verorten.

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D IE H ANDLUNG – G EGEN E NDE DER N ACHT Ausgangspunkt des Films ist der brutale Mord an der fünfköpfigen Müllerfamilie Danner. Im Sommer 1945 wird sie in ihrer einsam gelegenen Mühle im amerikanisch besetzten Württemberg ermordet aufgefunden. Die Leiche der Tochter Irma hängt nackt und kopfüber an den Beinen in der Mühle, die Kehle durchgeschnitten und ihr Rücken mit SS-Runen beschmiert. Zwei weitere Bewohner der Mühle sind dem mutmaßlichen Racheakt nur entgangen, weil sie sich nicht in der Mühle aufhielten: der Wehrmachtsdeserteur Rudi und die aus dem Osten geflüchtete Karin Katte. Die Morduntersuchung leitet der gerade eingetroffene CIC-Geheimdienstoffizier Dave Gladbaker, ein Amerikaner deutsch-jüdischer Herkunft. Erst im Laufe der Handlung wird klar, dass seine Eltern dem Völkermord im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek zum Opfer fielen. Unterstützt wird Dave Gladbaker bei seinen Ermittlungen vom ortsansässigen Kriminalinspektor mit Nazi-Vergangenheit, Walter Fehleisen. Beide Ermittler vermuten, dass die ermordete Irma, die Karin Katte sehr ähnlich sieht, mit ihr verwechselt wurde. Da Irmas Leiche mit SS-Runen entstellt ist, nehmen die Ermittler an, dass es sich um einen gezielten Racheakt gegen eine SS-Angehörige handelte, und dass dieser eigentlich Karin Katte galt. Hinzu kommt, dass Gladbaker eine unscharfe Fotografie besitzt, die eine junge weibliche Angehörige des Majdaneker Wachpersonals namens Gerda Korte zeigt. Aufgrund der Namensähnlichkeit (Katte=Korte) und desselben Alters vermutet er, Karin sei die gesuchte Majdaneker Aufseherin. Während die Fahndung im Sande verläuft und die Morde nicht aufgeklärt werden können, konzentriert sich der amerikanische CIC-Offizier zunehmend darauf, die wirkliche Identität Karins in Erfahrung zu bringen. Dabei gerät er in den Bannkreis seiner Gefühle für die Verdächtige und damit in einen großen Zwiespalt: Dave möchte an Karins Unschuld glauben, doch zugleich ist er sicher, dass sie schuldig ist. Karin, die zunächst mit Daves Zuneigung spielt, fühlt sich zwar widerwillig, aber letztlich doch zu ihm hingezogen. In der ersten und einzigen Liebesnacht gesteht sie ihm, dass sie Krankenschwester in Lublin war und aus einem Transport mit eintausend jüdischen Häftlingen 700 Menschen als »arbeitsunfähig« selektiert hat. Das Geständnis stürzt Dave in ein unlösbares Dilemma: er trauert um seine in Lublin-Majdanek ermordeten Eltern und glaubt gleichzeitig seiner Geliebten, dass sie sich nicht mehr

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erinnern kann (!), ob sie wusste, dass die von ihr selektierten Menschen ermordet wurden. Um den Geliebten von seinen Qualen zu erlösen, verlässt Karin ihn heimlich und nimmt seine Dienstpistole mit. Eine der letzten Einstellungen zeigt eine zerstörte Brücke über einen Bach, der sich durch Felder und Wiesen schlängelt. Der Schrei des Bussards ist zu hören, dann ertönt ein Schuss, der Karins Selbstmord nahe legt. Die Kamera entfernt sich langsam vom Geschehen und geht in die Totale. Die Filmhandlung und der Titel Gegen Ende der Nacht beziehen sich auf Erich Frieds Roman »Ein Soldat und ein Mädchen« (1960), in dessen Zentrum ebenfalls eine Liebesnacht steht: die zum Tode verurteilte KZ-Aufseherin Helga äußert als letzten Wunsch, dass sie die Nacht vor ihrer Hinrichtung mit einem Mann verbringen möchte. Ihre Wahl fällt auf einen diensthabenden amerikanischen Soldaten. Der im Roman namenlos bleibende GI ist wie Dave ein deutsch-jüdischer Emigrant, dessen Familie von den Nazis ermordet wurde. Vorlage für die Figur der Helga ist Irma Grese, jene junge, blonde KZ-Aufseherin, die im Bergen-Belsen-Prozess im Herbst 1945 von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. Die Figur des Soldaten wiederum dürfte autobiografische Züge von Erich Fried tragen, der dem Belsen-Prozess als Berichterstatter beiwohnte. Beide Werke – Frieds Roman wie Storz‘ Film – behandeln das Verhältnis von Schuld und Verständnis am Beispiel einer deutsch-jüdischen Liebesbeziehung.

D IE A K TEURE UND DIE A K TEURIN Drei Männer und eine Frau, die Protagonisten in Gegen Ende der Nacht, werden in der Reihenfolge ihres Auftretens vorgestellt. Als erste Person ist der Blumen pflückende Rudi zu sehen, ein junger Mann, der seinen Sommerstrauß schüchtern mit sehnsuchtsvollem Blick der attraktiven, blonden Karin Katte durch das offene Küchenfenster reicht. Die zwei anderen Akteure werden ebenfalls durch eine Begegnung eingeführt: der in Haft sitzende deutsche Kriminalinspektor Walter Fehleisen, ein Mann im Pensionsalter, wird geweckt, aus der Zelle geholt und dem Vertreter der US-amerikanischen Besatzungsmacht, Dave Gladbaker, vorgeführt.

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Rudi – der Traumatisierte Die Figur des Wehrmachtsdeserteurs Rudi (Felix Eitner) bleibt wage: ein naiver Kerl, Anfang zwanzig, der wenige Wochen vor Kriegsende in der abgelegenen Sennbach-Mühle auftaucht. Er ist derjenige, der die ermordete Müllerfamilie entdeckt und daraufhin verstört in den Kuhstall flüchtet. Der offensichtlich vom Krieg traumatisierte Rudi hält sich oft in einer halb zerstörten Bunkeranlage in der Umgebung auf. Der Rückzug in die dunkle, nasse, unterirdische Welt gleicht der Flucht vor der realen, oberirdischen Welt mit seiner neuen Ordnung. Rudi hat in seiner ›Unterwelt‹ ein kleines Waffendepot angelegt und sucht in der Bunkeranlage fieberhaft nach einem von der deutschen Wehrmacht zurückgelassenen ›Koffer mit Gold‹. Er träumt davon, zusammen mit Karin, die er anhimmelt, ein neues Leben in Kanada anzufangen. Die gemeinsame Zukunft sieht er durch das Interesse bedroht, dass »der Ami« an Karin zeigt. In seiner Eifersucht schießt er auf Dave, verfehlt ihn aber. Rudi ist in seiner hermetischen ›Unterwelt‹ isoliert, ein Getriebener und Entwurzelter, ein typischer Vertreter der deutschen Trümmergesellschaft, die sich der politischen Verantwortung für die begangenen Verbrechen völlig verweigert.

Karin Katte – die Sirene Im Mittelpunkt der Handlung steht die etwa 30-jährige Karin Katte (Karoline Eichhorn), eine im Frontlazarett eingesetzte Frau, die in Breslau einige Semester Medizin studiert hat und im Mai 1945 bei den Danners einquartiert wird. In der württembergischen Kleinstadt ist sie eine »Reingeschmeckte«, wie die Schwaben Zugezogene bzw. Fremde abfällig bezeichnen, eine soziale Außenseiterin also (Abb. 1). Karin ist eine herbe Schönheit, die ihre blonden, langen Haare streng aus dem Gesicht gekämmt trägt. Ihre Bekleidung ist der Uniform einer SS-Aufseherin nicht unähnlich: ein schmaler, dunkler Rock, dazu eine Bluse und Lederstiefel. Sie wirkt unerschrocken und lebenstüchtig, ist direkt, selbstbewusst und sexuell attraktiv. Ihre Souveränität wird bereits durch die Szene deutlich, in der sie sich nackt vor einem Spiegel wäscht und Rudi, der sie beobachtet, abkanzelt: »Hör doch wenigstens mit der blöden Spiekerei auf, Rudi. Kannst du dich nicht langsam daran gewöhnen, dass eine Frau mit nix an kein Weltwunder ist?« Karins Name fällt

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das erste Mal bei der Tatortbesichtigung. Als die beiden Ermittler Gladbaker und Fehleisen in der Mühle die aufgehängte, nackte Frauenleiche in Augenschein nehmen, erwähnt Fehleisen Karins Namen. Hellhörig hakt Gladbaker nach, ob sie vielleicht Korte mit Nachnamen hieße, wie eine gesuchte Aufseherin des KZs Majdanek, aber Fehleisen verneint diese Vermutung. Durch diesen Dialog wird die weibliche Hauptfigur mit dem fünffachen Mord in der Mühle und dem tausendfachen Mord in Majdanek in Verbindung gebracht. Karin ist sowohl ein potentielles Opfer, denn nur durch Zufall entkam sie dem Anschlag, als auch eine potentielle Täterin, die mutmaßlich an den Verbrechen in Majdanek beteiligt war. Bildlich wird Karins Verstrickung in die NS-Verbrechen durch einen Bussard angekündigt, der bisweilen am Himmel über ihr kreist und unheildrohende Schreie ausstößt.

Abb. 1: Karin Katte, eine Fremde im Dorf, wird misstrauisch betrachtet Einerseits steht der Raubvogel für die dunkle Vergangenheit Karins, die sie nicht loswerden kann und wie ein Schatten über ihr liegt. Andererseits erinnert der Vogel an den mythischen Boten aus der Unterwelt, eine Sirene, deren lockende Stimme eine tödliche Gefahr darstellt (vgl. Bessler 1995: 158).

Walter Fehleisen – der alte Weise Der alternde Kriminalinspektor Fehleisen (Bruno Ganz) befindet sich in amerikanischer Untersuchungshaft und wartet auf seine Entnazifizierung. Der 1933 aus Ulm in die Provinz versetzte Polizist trat 1938 in die NSDAP

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ein. Während des Zweiten Weltkrieges schützte Fehleisen die Müllertochter Irma Danner, gegen die eine Denunziation wegen »Polenbegünstigung« vorlag, indem er die Meldung nicht bearbeitete. Ihn stört zwar, dass Gladbaker ihn für einen Nazi hält, ist aber zu resigniert und zu stolz, um sich zu verteidigen. Fehleisens eigenwillige, stoische Haltung kommt etwa in seiner Verweigerung zum Ausdruck, sich den Bart, der ihm in der sechswöchigen Untersuchungshaft gewachsen ist, zu rasieren. Erst als die telefonische Mitteilung vom Mordfall eintrifft, gewinnt schließlich das professionelle Interesse Oberhand und Fehleisen lässt sich von Gladbaker widerwillig dazu bewegen, die Ermittlungen zu unterstützen. Bruno Ganz, der durch seine Hitler-Darstellung in Der Untergang (2004) international Anerkennung fand, verkörpert hier in der Nebenrolle Inspektor Fehleisen. Zugleich ist er der Erzähler des Liebesdramas und führt zu Beginn des Films das Publikum zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit: »Ein böser Anfang für eine Liebesgeschichte, wenn es denn eine war, vielleicht war es nur eine Affäre, ich weiß es nicht mehr oder ich weiß es immer noch nicht, obwohl ich ganz in der Nähe war, damals. Drei Tage nur, die heißesten jenes Sommers, in einem Land, das dennoch fror bis auf den Grund seines unerlösten Herzens. Der Krieg war verloren, die Unschuld verraten, die Liebe ohne Hoffnung und doch, und doch …«

Indem Fehleisen aus seiner abgeklärten, heutigen Perspektive in die Geschichte einführt, ist er das Verbindungsglied zur Gegenwart und positioniert sich zugleich als zurückgenommener, aber vertrauenswürdiger Beobachter des damaligen Geschehens und als weiser Erzähler. Durch Pro- und Epilog, den er spricht, ist die Handlung in sich abgeschlossen.

Dave Gladbaker – der tragische Held Der C.I.C. Geheimdienstoffizier Dave Gladbaker (Stefan Kurt), etwa dreißig Jahre alt, sensibel, schlank, sexuell attraktiv, ist der männliche Hauptprotagonist. Die ersten Einstellungen zeigen ihn rauchend in seinem neuen Dienstzimmer. Der Anwalt aus New York deutsch-jüdischer Herkunft hat die Personalakte Fehleisens aufgeschlagen vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Er ist gerade eingetroffen, die örtliche Militärverwaltung steht nun unter seinem Kommando und er hat das Sagen in der württembergi-

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schen Kleinstadt. Die von ihm ausgehende Macht, Männlichkeit und Mobilität werden vor allem durch das Symbol schlechthin der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland materialisiert: den Jeep. Da Dave fast immer mit dem Jeep unterwegs ist, verleiht das Fahrzeug auch seiner Ruhelosigkeit und Suche sowie seiner inneren Anspannung Ausdruck. Während Rudi, Karin und Fehleisen bemüht sind, ihre NS-Vergangenheit zu verdrängen bzw. zu vertuschen, ist Dave der einzige, der nach Antworten, Erklärungen und Verantwortlichen für die begangenen Verbrechen sucht. Zu der komplexen Figur des deutsch-jüdischen Emigranten Daves gehört auch, dass er als Anwalt der Ermordeten fungiert, der gewissermaßen in den eigenen Reihen, nämlich unter den Deutschen, nach Verantwortlichen und Schuldigen sucht.

Abb. 2: Dave Gladbaker verhört Karin Katte Dass Dave Gladbaker jüdisch ist, erfährt das Publikum erst nach über dreißig Minuten, als ihm Karin Katte während des ersten Verhörs (Abb. 2) provozierend als »arroganten amerikanischen Klugscheißer« bezeichnet. Er entgegnet ihr: »Sie haben etwas vergessen. Bei Goebbels hieß es jüdisch-amerikanischer Klugscheißer!« Betroffen und beschämt senkt Karin daraufhin den Kopf, weil ihr offensichtlich bis zu diesem Augenblick nicht klar war, dass Dave Gladbaker Jude ist. In einem spannungsgeladenen Moment also gibt der Ermittler preis, dass er nicht nur die Sieger repräsentiert, sondern außerdem zur Seite der jüdischen Opfer gehört. Diese Dialog-Szene gibt eine Ahnung davon, in welchen emotional konfliktträchtigen Bahnen sich die deutsch-jüdische Partnerschaft entwickeln wird.

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E IN M ELODR AMA IN DREI A K TEN Gegen Ende der Nacht hat mit einer Stunde und siebenunddreißig Minuten Spielfilmlänge. Wie bereits erwähnt, ist der Ort der Handlung ein kleines Dorf in dem von den US-Amerikanern besetzten Württemberg. Die erzählte Zeit umfasst einen relativ kurzen, präzise datierten Zeitraum vom 22. bis 24. August 1945. Der Film zeigt diese drei Sommertage in chronologischer Reihenfolge und nur einmal gibt es eine kurze visuelle Rückblende von Karins Ankunft im Dorf, in der erstmals der Raubvogel auftaucht. Gegen Ende der Nacht ist ein Drama mit drei Akten sowie Prolog und Epilog. Jeder der drei Akte besteht aus der Darstellung eines Tages. Der erste Akt dauert mit sechsundvierzig Minuten und sechzehn Szenen fast genau so lang wie der zweite und dritte Akt zusammen mit sechsundzwanzig bzw. fünfundzwanzig Minuten und jeweils sieben Szenen. Im Folgenden werde ich Topoi, Bildmotive und Kameraeinstellungen des Films beschreiben, die charakteristisch für das Liebesdrama sind.

Eros und Tod Im Verlauf der Handlung verlagert sich die erzählte Zeit immer mehr in die Abend- und Nachtstunden, d.h. im ersten Akt ist die Tageszeit länger als die Nachtzeit, im zweiten Akt ist die Tageszeit in etwa so lang wie die Nachtzeit. Im dritten Akt ist die Tageszeit wesentlich kürzer als die Nachtzeit. Je mehr sich die Protagonistin Karin und der Protagonist Dave einander annähern, desto mehr weitet sich die Dunkelheit aus und erzeugt eine klaustrophobische Atmosphäre von Bedrängnis, Enge, Verzweiflung und Tod. Sowohl am Anfang wie am Ende des Films steht der Tod: der Racheakt und der Selbstmord. Doch mit dem Ende der Nacht keimt auch Hoffnung auf das Ende der Finsternis bzw. der NS-Vergangenheit auf. Zugleich liegt über dem gesamten Film eine fiebrige Anspannung heißer Sommertage und -nächte. Schon in den frühen Morgenstunden sticht die Sonne erbarmungslos und es ist so drückend heiß, trocken und staubig, dass alle ins Schwitzen kommen: Karin erreicht schweißgetränkt den Tatort (Abb. 1) und während des Verhörs steht Karin und Dave der Schweiß auf der Stirn (Abb. 2), obgleich sie sich in einen Zimmer mit heruntergelassenen Jalousien und Ventilator befinden. Hitze, vergleichbar mit einem Zustand von Leidenschaft und Erregung, symbolisiert hier die Triebkraft

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Eros, der die Handlung voranbringt. Eros und Tod stellen keinen Gegensatz dar, sondern sind miteinander verbunden, sorgen sie doch für die Dynamik und die Gefühlsregungen der Akteure.

Rache Obwohl der Krimiplot relativ schnell verlassen wird, ist der fünffache Mord als Ausgangspunkt des Filmes sehr wichtig: vier offensichtlich im Schlaf überraschte Opfer, das fünfte, nackt aufgehängt mit SS-Runen auf dem Rücken (Abb. 3). Die Frau, die da hängt, so lautet die Botschaft, soll nie ein Mensch gewesen sein, denn im Aufhängen kopfüber wird die Leiche zum Kadaver degradiert, wie ein Viehleib, der zum Ausbluten am Fleischerhaken hängt. Der Racheakt verweist auf ein von der SS begangenes Verbrechen, doch welches, das lässt der Film ebenso unbeantwortet wie die Frage nach den Tätern. Die tote Frau, die in einer pornografischen Art zur Schau gestellt wird, ist lediglich ein mittelbarer Reflex auf den nationalsozialistischen Völkermord. Hier wird vor allem der Angst vor Vergeltung viel Raum gegeben, denn die damaligen Befürchtungen vieler Deutschen traten nicht ein. Statt der Opfer des Holocaust sind nur die vermeintlichen Opfer der Rache zu sehen. Mit dieser Verkehrung von Ursache und Wirkung macht der Film die eigentlichen Opfer, aber auch die unmittelbaren Täter und Täterinnen unsichtbar.

Abb. 3: Dave, Karin und Fehleisen am Tatort

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Blicke Der erste Blickkontakt zwischen Dave und Karin findet vor der alten Mühle statt. Fehleisen und Dave stehen auf der Türschwelle während Karin die Szenerie betritt und zunächst den erschossenen Wachhund entdeckt, dem sie liebevoll übers Fell streichelt. Es ist Fehleisen, der Dave auf die neu Angekommene aufmerksam macht. Fassungslos und zugleich wie elektrisiert betrachtet Dave die vor dem Hund Kniende. Karin erwidert seinen Blick, erhebt sich und geht mit erhobenem Haupt langsam auf die beiden Männer zu. Musikuntermalung signalisiert die Schicksalhaftigkeit und Spannung dieser Begegnung. Blickwechsel, auch verweigerte Blickkontakte, Anstarren, Beobachten und Beobachtet werden (Abb. 1-4) sind sich oft wiederholende Bildmotive in Gegen Ende der Nacht. Es ist vor allem Dave, der den Blickkontakt sucht und Karin geradezu manisch beobachtet, um Rückschlüsse auf ihre Schuld bzw. Unschuld zu erlangen (Abb. 2). Der Regisseur Oliver Storz weiß, wie naiv und vergeblich ein solches Unterfangen ist: »Als würde sich in einem Blick auch nur das Geringste spiegeln von Unschuld oder Abgrund. Am Ende des Krieges kann jeder alles gewesen sein. Mensch oder Unmensch oder beides« (Storz 2009: V2/1). Eine fast identische Formulierung legt er seiner Hauptfigur Dave in den Mund: »Sie [Karin, S.E.] kann schuldig sein, sie kann genauso gut unschuldig sein, in diesem Land kann jeder alles sein«. Storz selbst erlebte als 16-jähriger das Kriegsende und die Kapitulation Deutschlands. Im Film kommt die tiefe Verunsicherung dieses Angehörigen der HJ-Generation zum Ausdruck: eine fundamentale Erschütterung der Werteordnung – die verratene Unschuld der Jugend – prägt Storz‘ Generation (Jahrgang 1929), die angesichts der Verbrechen und des verlorenen Krieges an nichts und niemanden mehr glauben will und kann, weder an den Nationalsozialismus noch an Hitler. Wenn Bruno Ganz im Filmprolog von »verratener Unschuld« spricht, dann wird genau das Klischee von den unschuldig verstrickten jungen Deutschen bedient, die von Hitler und Goebbels verführt wurden.

Begrenzungen Ein Grundmotiv des Films ist der Wunsch, das Gegenüber und sich selbst zu erkennen und zu verstehen. Das letztlich vergebliche Bemühen, in an-

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dere Menschen hineinzublicken, setzt der Regisseur gekonnt in Szene, wie das folgende Beispiel einer halbnahen Kameraeinstellung (Abb. 3) zeigt. Fehleisen lehnt mit verschränkten Armen am äußeren Türrahmen. Gerade hat er seinen Blick von Dave und Karin abgewandt und schaut nachdenklich zu Boden. Dave, auf der inneren Türseite stehend, versucht, eine Reaktion von Karins Gesicht abzulesen. Sie blickt jedoch starr auf die kopfüber hängenden Leiche Irma Danners. Das Publikum resp. die Kamera schaut sozusagen über Fehleisens Schulter auf die Szenerie und ist Teil der Beobachtungskette. Die subjektive Kamera verstärkt dadurch die Perspektive Fehleisens, denn als Erzähler ist er die Figur, mit dem sich das Publikum am besten identifizieren kann. In dieser wie in vielen weiteren Kameraeinstellungen ist der Blick gerahmt, sei es durch Haus- und Zimmertüren, Gefängnis- oder Jeeptüren. Sie erlauben dem Publikum nur einen begrenzten Einblick. Ähnlich verhält es sich mit den Fenstern als Verbindungsstück zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Der Blick nach draußen als Sinnbild für Freiheit und Zukunft ist – trotz geöffneter Fenster – vielfach versperrt durch Fensterläden und Gardinen, aber auch durch dichten Regen oder gleißendes Sonnenlicht. Wie die Dunkelheit, so erzeugen auch die Tür- und Fensterrahmen eine bedrückende Enge und das Gefühl des Gefangenseins. Und obwohl die Ein- und Ausgänge offen stehen, wirken die Örtlichkeiten wenig einladend, sondern eher unbewohnt und verlassen. Versteht man Türen als durchlässigen Teil zwischen Innen- und Außenwelt, so sind die auf der Schwelle stehende ›Torwächter‹ – allesamt männliche Figuren – diejenigen, die die Grenze kontrollieren. Die männliche Kontrollmacht entscheidet also über den Zugang bzw. darüber wer was sehen darf.

Die Schöne und das Biest Im Film ist die Naturkraft Wasser ein wichtiges Medium, das als Gewitterschauer eine zeitweise Erlösung von der drückenden Hitze beschert, verhärtete Gefühle ins Fließen bringt und die hartnäckig schweigende Karin zum Reden bewegt.

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Abb. 4: Karin und Dave am »Unterleibersee« Außerdem ist da der »Unterleibersee«, an dem Dave und Karin am ersten Abend versehentlich landen, weil sich der Ortsunkundige verfahren hat. (Abb. 4) Karin bringt ihn mit der Bemerkung in Verlegenheit, dass sich die GIs mit ihren deutschen Freundinnen nach Sonnenuntergang dort treffen und der See im Volksmund seitdem »Unterleibersee« heißt. Sie steigert die für den prüden Amerikaner peinliche Situation, indem sie ihm direkt Sex anbietet: »Alle Sieger wollen das. Sie brauchen sich nicht zu schämen. Also, was ist?« Brüskiert wehrt Dave ab: »Warum benehmen Sie sich wie eine Hure? Sie sind keine.« Während er noch mit seinem Schamgefühl und seinem Begehren kämpft, steigt Karin aus dem Jeep, zieht sich ungeniert aus und geht Schwimmen. Dave folgt ihr schließlich, setzt sich ans Wasser und ist vom Anblick der Wassernixe Karin gefesselt. In der Gestalt des weiblichen Wassergeistes »vereinen und scheiden sich Todesdämon und Lebensspenderin, elementare Urgewalt und schützende Geborgenheit, animalische Kraft und menschliches Maß. […] [Die Nixe, S.E.] ist Verführerin oder ›Entführte‹, die Schöne und das Biest, Handlangerin willkürlicher Magie, dennoch immer wieder schicksalhaft verstrickt und erlösungsbedürftig.« (Bessler 1995: 160)

Die Widersprüchlichkeit der mythischen Wasserfrau findet seine Entsprechung in der Ambivalenz des Wassers, das fruchtbar ist und zugleich Verderben bringen kann (vgl. ebd.: 158). Die paradoxe Gestalt der Nixe ähnelt dem Stereotyp der blonden SS-Aufseherin, einer »schönen Bestie«, die

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als Schreckens- und Lustfigur in Literatur und Film bis in die Gegenwart hineinreicht (vgl. Jaiser 2007: 339). Aktuelles Beispiel dafür ist der Hollywood-Film Der Vorleser, in dem das gemeinsame Baden und gegenseitige Waschen eine zentrale Rolle spielen. Es ist also kein Zufall, dass die Filmfigur Karin in Gegen Ende der Nacht Wesenszüge der Wassernixe trägt. Erinnert sei auch daran, dass das Publikum Karin erstmals sieht, als das voyeuristische Kameraauge bzw. Rudis Blick über ihren schön geformten nackten Körper gleitet, während er sie beim morgendlichen Waschritual beobachtet. Bereits die Einführungsszene charakterisiert die Hauptfigur als eine Frau, die souverän und ohne Scham mit ihrem Körper und ihrer Sexualität umgeht. Denn Karin wäscht sich unbeeindruckt weiter und demonstriert damit ihre Überlegenheit gegenüber Rudi. Keinesfalls sieht sie in ihm einen gleichrangigen sexuellen Partner. Anders verläuft die Begegnung am »Unterleibersee«, in der der männliche Protagonist Dave sogar in Lebensgefahr gerät, weil der Nebenbuhler Rudi auf ihn schießt. Dave bringt sich unverletzt hinter einem Baumstamm liegend in Deckung und zieht seine Pistole. Er blickt über die Schulter unverhohlen auf die aus dem Wasser kommende nackte Karin, die ihn schließlich auffordert, weg zu schauen. Als sie ihm zu verstehen gibt, er könne sich wieder umdrehen, steht sie nur mit einem Unterhemdchen bekleidet vor ihm, ihr Unterleib und ihre Scham sind unbedeckt und sie lacht ihn aus. Er steckt seine Pistole wieder ins Jackett und fährt sie wütend an: »Dafür, dass Sie heute fünf Menschen verloren haben, sind Sie recht fröhlich.« Sie: »Nicht jeder, der lacht, ist fröhlich. Was wissen Sie schon vom Verlieren?« Er: »Eine Menge mehr als Sie ahnen, Fräulein Katte! Ober glauben Sie, es ist so neu, dass Menschen umgebracht werden, die keinem was getan haben? Euch Deutsche trifft es nur zuletzt. Für andere Leute hat es zwölf Jahre früher angefangen!«

Karin besitzt ein starkes Mittel – ihren Körper –, um ihrem jüdischen Gegenüber die Schamesröte ins Gesicht zu treiben und ihn vom Eigentlichen abzulenken, denn sie will Rudi schützen, den sie in Verdacht hat, der Pistolenschütze zu sein. Und in der Tat: Dave interessiert sich nicht mehr dafür, wer auf ihn geschossen hat, sondern fühlt sich von Karins unverschämter Aktion provoziert. Er hält ihr vor, dass sich die besiegten Deut-

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schen angesichts der Massenverbrechen, die sie zu verantworten haben, nicht über eigene Verluste beklagen dürften. Dave macht unmissverständlich klar, dass er als Angehöriger des Opferkollektivs in einer moralisch überlegenen Position ist und bringt Karin damit zum Schweigen. Der erste Teil meiner Untersuchung kreiste eng um den Film selbst, um die Beschreibung seiner Handlung, seiner Akteure und seines Genres als Liebesdrama. Hinsichtlich der vier Hauptfiguren bleibt festzuhalten, dass Dave als tragischer Held mit einem unaufhebbaren inneren Dilemma zu kämpfen hat. Fehleisen, der Ratgeber an seiner Seite, verkörpert den alten Weisen während Rudi einen vom Krieg Traumatisierten darstellt. Im Mittelpunkt der Handlung steht jedoch Karin, um die alle Begehrlichkeiten und Gefühlsnöte regelrecht rotieren. Trotz ihrer suggestiven Präsenz verharrt sie im Objektstatus und bleibt letztlich Projektionsfläche. Dieser Befund spiegelt sich in der Typologie ihrer Figur wider, die exakt dem oben untersuchten Klischee der »schönen Bestie« entspricht. Außerdem verkörpert Karin die Fremde, die soziale Außenseiterin, wiederum ein typisches Klischee von NS-Tätern und -Täterinnen. Doch auch die männlichen Akteure Dave, Rudi und Fehleisen sind Fremde, die ebenso wenig zu den Einheimischen des württembergischen Provinzstädtchens gehören wie die unbekannten Mörder der fünfköpfigen Müllerfamilie Danner. Ganz nach dem Motto ›Schuld haben immer die anderen‹ werden im Film Täter und Täterinnen regelrecht exterritorialisiert. Dabei verkörpert der Deserteur die traumatisierte Generation der einfachen Wehrmachtssoldaten. Fehleisen hingegen steht für die kompromittierte deutsche Gesellschaft, doch ist er auch eine positive Identifikationsfigur. Die visuellen Erzählstrategien des Films Gegen Ende der Nacht basieren im Kern auf mythologischen Bildern von Eros und Tod, Rache und der Macht der Blicke, Torwächtern und Wassernixen. Insbesondere der Grenzkontrolleur in männlicher Gestalt verkörpert Geist und Kultur während die Wasserfrau als weibliche Gestalt die Körperlichkeit und die Natur repräsentiert. In dieser männlich-weiblich-Dichotomie bildet sich eine hierarchische Geschlechterordnung ab, die kennzeichnend für die abendländische Denkweise ist, die zwischen Geist und Körper unterscheidet (vgl. von Braun 2003: 256). Auch in Hinblick auf Schamgefühle (Körper) und Schuldgefühle (Intellekt) spiegelt sich dieser binäre Geschlechtercode wider.

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Im folgenden zweiten Teil möchte ich nun den gesellschaftlichen Kontext der neunziger Jahre untersuchen, in dem der Fernsehfilm zu betrachten ist. Welche Funktion hat die deutsch-jüdische Liebesgeschichte und welche Diskurse werden in Gegen Ende der Nacht verhandelt?

F EMINISIERUNG VON NS-T ÄTERSCHAF T In den neunziger Jahren standen vor allem ›gewöhnliche Deutsche‹ im Mittelpunkt der Spielfilme über die NS-Zeit. Dafür gab Steven Spielberg mit Schindlers Liste (1993) ein neues Narrativ für die deutsche Identität vor, wie Sven Kramer treffend feststellt: »Ein Deutscher wurde bei ihm zum Retter der Juden. In diversen deutschen Produktionen traten nun Figuren auf, die gegen die Judenverfolgung Stellung bezogen. So wurde eine positive Anknüpfung an die Nazizeit möglich.« (Kramer 2009: 297)

In dieser Reihe bildet Oliver Storz‘ ambitionierter Streifen, mit einer NS-Täterin als Hauptfigur, eine wirkliche Ausnahme. Das macht es dem Publikum schwer, sich positiv auf die Nazi-Vergangenheit zu beziehen. Vermutlich deshalb blieb Gegen Ende der Nacht im Vergleich mit anderen Arbeiten von Storz fürs Fernsehen, wie Drei Tage im April (1994/95) und Drei Schwestern made in Germany (2006), die ebenfalls am Kriegsende bzw. in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielen, eher unbekannt. Trotz Grimme-Preis, den der Film 1999 erhielt, und trotz mehrfacher Ausstrahlung im Fernsehen war Gegen Ende der Nacht letztlich ein Flop. Eine KZ-Aufseherin als Hauptfigur wurde erst zehn Jahre später in dem Hollywoodfilm Der Vorleser (2008) erfolgreich in Szene gesetzt. Der Spielfilm, der auf dem gleichnamigen Roman von Bernhard Schlink (1995) basiert, erzählt von dem minderjährigen Michael und der 35-jährigen Hanna, die ihrem jungen Geliebten verheimlicht, dass sie KZ-Wärterin war. Die Verfilmung popularisierte bislang wohl am nachhaltigsten das Klischee einer schönen, blonden KZ-Täterin. Auch in Gegen Ende der Nacht steht ein Liebespaar im Mittelpunkt der Handlung, allerdings ein deutsch-jüdisches. Das Liebesverhältnis lässt sich schnell als Wunschvorstellung einer Aussöhnung mit den jüdischen Opfern entziffern. Während Kinofilme wie Comedian Harmonists, Aimée und

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Jaguar oder Rosenstraße die Versöhnung als gelungen darstellen, scheint der deutsch-jüdische Dialog in Gegen Ende der Nacht zum Scheitern verurteilt, da die romantische Begegnung nicht in, sondern unmittelbar nach dem Holocaust stattfindet und deswegen von Beginn an mit der Schuldfrage belastet ist. Wenn Karin zu Dave sagt: »Zwischen uns liegen die Toten, die Ermordeten, glaubst Du, wir können sie weglieben?«, wird darin zum wiederholten Mal auf den Tabubruch angespielt. Außerdem annektiert die Täterin das eigentlich dem Opfer gebührende Anrecht auf Versöhnung bzw. deren Verweigerung. Diese Selbstermächtigung entfaltet sich vollends durch Karins (mutmaßliche) Selbsttötung. Dadurch wird nämlich die Täterin in eine Märtyrerin umgedeutet, da seit der Goldhagen-Debatte und der Wehrmachtsausstellung in den neunziger Jahren der behauptete Befehlsnotstand und die Verführungsthese nicht mehr tragbar sind (vgl. Kramer 2009: 297). Auffällig an der Art von Schuldabwehr ist auch, dass Täterschaft durch die Figur der Aufseherin/Krankenschwester, die die deutsche Tätergesellschaft repräsentiert, feminisiert wird. Ausgerechnet die Frau stand durch ihren Kriegseinsatz – »drei Jahre[...] Frontlazarett« – dem Zentrum der Massenverbrechen nahe während die deutschen Männer Rudi und Fehleisen fern ab der Front und der Verbrechen erscheinen. Empirisch betrachtet waren jedoch mehrheitlich Männer Direkttäter und kämpften als Wehrmachtssoldaten im Krieg. Die Verkehrung der Geschlechter hat die Funktion, Täterschaft und Verantwortung als abnorm, fremdartig darzustellen, um die deutsche Gesellschaft von Verantwortung zu entlasten. Dies gelingt durch die Schuldübertragung auf eine weibliche Symbolgestalt.

Erinnern und Vergessen Ein weiterer Aspekt der Schuldabwehr ist die Delegation von Verantwortung an das Opfer. Dave ist der Fragende, der sich für die kollektive Erinnerung verantwortlich fühlt. Ausgerechnet ein deutscher Jude, dessen Angehörige ermordet wurden, soll an die Unschuld glauben bzw. im Fortgang der Geschichte, Verständnis für die seelischen Nöte der Täterin aufbringen, die sich nicht erinnern kann, ob sie wusste, dass die von ihr Selektierten ermordet wurden. Daves Verständnis kann nur einigermaßen glaubhaft sein, weil er sich von der sexuell attraktiven und selbstbewussten Frau angezogen fühlt. Doch bei allem Verständnis schämt sich der Sohn der Opfer, dass er überhaupt solche Gefühle für eine Täterin hegt. Offensichtlich

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plagen nur ihn das Dilemma von Schuld und Verstehen und das daraus resultierende Schuldgefühl. Rudi hingegen, der ebenfalls Karin nahe steht, quälen derlei Empfindungen nicht. Er ahnt zwar etwas von ihrer dunklen Vergangenheit, fragt aber in unausgesprochener Übereinkunft mit Karin nicht, weil er nicht wissen will. Rudis Bemühen zu verdrängen scheitert letztlich, da er im besonderen Maße von seiner Vergangenheit und seinen ins Unterbewusstsein verbannten Erinnerungen gefangen ist. Saul Friedländer hat das Paradox von Erinnern und Vergessen als einen grundsätzlichen Konflikt der westdeutschen Gesellschaft bereits für die achtziger Jahre diagnostiziert: »Die Nazi-Vergangenheit ist zu massiv, um zu vergessen, und zu abstoßend, um auf ›normale‹ Weise in die kollektive Erinnerung einbezogen zu werden. Während der letzten vierzig Jahre sahen sich mindestens zwei Generationen von Deutschen zwischen der Unmöglichkeit des Sich-Erinnerns und der Unmöglichkeit des Vergessens gefangen.« (Friedländer 2007: 138)

Auf der Handlungs- und Dialogebene von Gegen Ende der Nacht, der in den neunziger Jahren produziert wurde, kommt eben diese Unmöglichkeit einer Normalisierung zum Ausdruck, wie auch die Szene am »Unterleibersee« gezeigt hat. Auf filmästhetischer Ebene vollzieht sich allerdings eine Historisierung. Das Fernsehdrama ist wie viele fiktionale Repräsentationen des Holocaust dem »Gestus des Dokumentarischen« (Loewy 2007: 288) verpflichtet, d.h. der Film arbeitet mit authentischen Dokumenten, Memoiren, Lokalitäten und Personen. Für die Figur der Karin dürfte die im Bergen-Belsen-Prozess 1945 zum Tode verurteilte SS-Aufseherin Irma Grese die historische Vorlage gewesen sein. Weitere Hinweise auf den dokumentarischen Duktus des Spielfilms sind etwa zwei Fotografien, die die Filmfigur Karin im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek zeigen. Außerdem sind erschütternde Filmaufnahmen der Alliierten von 1945 zu sehen, die zeigen, in welch katastrophal schlechtem Zustand sich die Häftlinge bei Befreiung der Konzentrationslager befanden. Die gesamte Ausstattung des Films ist bis ins Detail originalgetreu und auch Informationen über historische Geschehnisse und Orte, wie das KZ Majdanek, zeugen von genauer historischer Sach- und Detailkenntnis. Dass Oliver Storz nicht Auschwitz, sondern Majdanek als Ort der nationalsozialistischen Verbrechen wählte, zeigt, dass sich der Regisseur gegen den zur Metapher gewordenen Ort Auschwitz entschieden hat. Stattdessen scheint

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das weniger bekannte Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek besser in das Konzept präziser historischer Rekonstruktion zu passen. Sabine Hake charakterisiert solche historisch peniblen und naturalistisch gestalteten Filme über die NS-Zeit als dem Historismus verpflichtete Spielfilme, so genannte »heritage films«, zu denen auch spätere Produktionen, wie Der Untergang (2004) zu zählen sind (vgl. Hake 2007: 189). Häufig setzen solche Historien-Filme auf das Starprinzip. Der renommierte Schauspieler Bruno Ganz, der Fehleisen spielt, verkörperte später Hitler und war schließlich in Der Vorleser als Jura-Professor Mentor des Hauptakteurs Michael Berg. Die Präsenz von Bruno Ganz in diesen drei Filmproduktionen vereinigt die Figur des kleinen Mannes, die Figur des Diktators und die Figur des Mentors. Das Starprinzip sorgt also dafür, dass das Publikum, wenn es Der Vorleser sieht, in Professor Rohl auch etwas von Hitler und vom Kriminalkommissar Fehleisen wieder erkennen wird. Gleiches gilt im Falle der Schauspielerin Karoline Eichhorn, die in Storz‘ Trilogie jeweils die weibliche Hauptrolle mimt. In Drei Tage im April spielt sie eine BDM-Führerin, die KZ-Gefangenen hilft, in Gegen Ende der Nacht ist sie eine KZ-Täterin und in Drei Schwestern made in Germany stellt sie eine Braut mit kompromittierender NS-Vergangenheit dar. Die verschiedenen Charaktere verschmelzen zu einer Figur und ermöglichen so zumindest teilweise positive Bezugspunkte zur Vergangenheit. Gerade nach 1990 und der Vereinigung der zwei deutschen Staaten hat die Anzahl an Filmen, die eine positive Bezugnahme auf die deutsche NS-Vergangenheit ermöglichen, stark zugenommen. Diese Kino- und Fernsehproduktionen vermitteln vielfach genau die Abgeschlossenheit und Historisierung, die Saul Friedländer für die Gesellschaft der achtziger Jahre noch als undenkbar ansah.

Z USAMMENFASSUNG Abschließend bleibt festzuhalten, dass durch die Feminisierung der NSTäterschaft der Schulddiskurs verlagert wird. Ich habe herausgearbeitet, dass Oliver Storz an archetypische und mythische Bilder anknüpft, die wiederum klar dem männlichen bzw. dem weiblichen Geschlecht zugeordnet sind. Die ambivalente Gestalt der blonden, schönen SS-Aufseherin ist die personifizierte Schuld, die die deutsche Gesellschaft von ihrer politischen Verantwortung entlastet.

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Mindestens zwei durchaus typische Wunschvorstellungen der neunziger Jahre sind mit der Geschichte des deutsch-jüdischen Liebespaars Karin und Dave verwoben: zum einen die Versöhnung mit den jüdischen Opfern und zum anderen eine regelrechte Besessenheit von der Memorialpflicht und der positiven Identifikation mit der NS-Vergangenheit. Zugleich ist Gegen Ende der Nacht das Statement eines Vertreters der HJ-Generation, der den Nationalsozialismus aus eigenem Erleben kennt und von ihm geprägt wurde. Trotz des ehrenwerten Versuchs sich mit Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen, leistet Gegen Ende der Nacht letztlich einer Verkitschung und Entpolitisierung der NS-Vergangenheit Vorschub, weil er filmästhetisch den Nationalsozialismus als ein abgeschlossenes historisches Ereignis darstellt und damit die monströse und unabgeschlossene NS-Vergangenheit ›still stellt‹.

L ITER ATUR Bessler, Gabriele (1995): Von Nixen und Wasserfrauen, Köln: DuMont Buchverlag. Eckel, Jan/Moisel, Claudia (2008): »Nachgeschichte und Gegenwart des Nationalsozialismus in internationaler Perspektive«. In: Dietmar Süß/ Winfried Süß (Hg.), Das »Dritte Reich«. Eine Einführung, München: Pantheon Verlag, S. 333-353. Fried, Erich (1960): Ein Soldat und ein Mädchen. Roman, Hamburg: Claassen Verlag. Friedländer, Saul (2007 [1986]): Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag. Hake, Sabine (2007): »Historisierung der NS-Vergangenheit. Der Untergang (2004) zwischen Historienfilm und Eventkino«. In: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.), NachBilder des Holocaust, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, S. 188-218. Jaiser, Constanze (2007): »Irma Grese. Zur Rezeption einer Aufseherin«. In: Simone Erpel (Hg.), Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück, Berlin: Metropol Verlag, S. 338-346. Kramer, Sven (2009): »Wiederkehr und Verwandlung der Vergangenheit im deutschen Film«. In: Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hg.), Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München: Verlag C.H. Beck, S. 283-299.

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Loewy, Hanno (2007): »Die Mutter aller Holocaust-Filme? Wanda Jakubowskas Auschwitz-Trilogie«. In: Simone Erpel (Hg.), Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück, Berlin: Metropol Verlag, S. 277-298. Reichel, Peter (2004): Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München/Wien: Carl Hanser Verlag. Schlink, Bernhard (1995): Der Vorleser, Zürich: Diogenes Verlag. Seeßlen, Georg (2009): Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über Inglourious Basterds, Berlin: Bertz + Fischer GbR. Storz, Oliver (25./26.4.2009): »Die Frau in Handschellen«. In: Süddeutsche Zeitung.

F ILMVERZEICHNIS Fernsehfilme Holocaust (USA 1978), Regie: Marvin J. Chomsky, 4-tlg. Serie. Drei Tage im April (D 1994/95), Regie/Drehbuch: Oliver Storz. Gegen Ende der Nacht (D 1998), Regie/Drehbuch: Oliver Storz Kamera: Hans Grimmelmann Musik: Werner Fischötter Produzent: Thomas Martin, Brigitte Dithard Mit: Stefan Kurt, Karoline Eichhorn, Bruno Ganz, Felix Eitner, Ueli Jäggi, Heidy Forster, Patriq Pinheiro, Carolin Ebner, Richard Beck, Jack Luceno, James Matthews, Jeffrey Mittelman, Nina Michelle, Jaymes Butler. Drei Schwestern made in Germany (D 2006), Regie/Drehbuch: Oliver Storz.

Kinofilme Schindlers Liste (USA 1993), Regie: Steve Spielberg. Comedian Harmonists (D/A 1997), Regie: Joseph Vilsmaier. Aimée und Jaguar (D 1999), Regie: Max Färberböck. Rosenstraße (D 2003), Regie: Margarethe von Trotta. Der Untergang (D 2004), Regie: Oliver Hirschbiegel. Der Vorleser (USA 2008), Regie: Stephen Daldry.

Schuld und Sühne: Geschlechtercodes der Religionen

Männlichkeit und Selbstmitleid Religiöse Rhetorik in Selbstzeugnissen von NS-Tätern Björn Krondorfer

Am 12. Februar 1950 nahm Oswald Pohl im Landsberger Gefängnis für NS-Kriegsverbrecher den katholischen Glauben an. Unterstützt wurde er dabei vom katholischen Gefängnisseelsorger Karl Morgenschweis. Morgenschweis war es auch, der Pohl half, kurz nach seiner Bekehrung ein schmales Buch zu veröffentlichen: »Credo. Mein Weg zu Gott«. Darin bekennt sich Pohl schriftlich und öffentlich zu seinem neu gefundenen Glauben wie auch zu seiner »Schuld«. »Schuld« ist hier in Anführungszeichen gesetzt, weil Pohl sich weigert, konkrete Schuld anzuerkennen, und er den Begriff immer dann mit Anführungszeichen schmückt, wenn »Credo« sich einem persönlichen Schuldgeständnis nähert. Als apologetisches Selbstzeugnis spiegelt »Credo« eine Mentalität wider, die im ersten nachkriegsdeutschen Jahrzehnt weit verbreitet war: Mit Hilfe eines Duktus des Selbstmitleids stritt man externe Schuldvorwürfe und interne Schamgefühle ab. Zeitgenössische Kritiker/-innen haben diesen Hang zum Selbstmitleid und zur Schuldabwehr schon in den vierziger Jahren beobachten können. Beispielsweise schreibt die aus dem Exil zurückgekehrte Erika Mann 1946 in einer Reportage über die »deutschen Zustände«: »Nehmen Sie beispielsweise, was in bestimmten alliierten Kreisen die deutsche Mitleidstour genannt wird. Es heißt, daß die Deutschen, indem sie ihr Leiden absichtlich übertreiben, darauf hoffen würden, erstens ihre Lage als Bewohner eines besetzten Landes zu verbessern, zweitens die aktive Sympathie der Welt draußen zu bekommen […]. Die Deutschen glauben ernsthaft – jede und jeder

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für sich und ohne sich mit anderen zu verschwören –, daß ihr Leid alle Vorstellungskraft übersteigt. Sie, d.h. neunzig Prozent von ihnen, glauben auch an die Unschuld des deutschen Volkes. Die wenigen, die eine gewisse deutsche Kollektivschuld zugeben, pochen darauf, daß die Sieger eigentlich genausoviel Schuld haben.« (Mann 2001: 378)

Ganz ähnlich lautete die Kritik des protestantischen Theologen Hermann Diem als er sich 1947 mit Helmut Thielicke über die »Schuld der Anderen« stritt.1 Diem spricht von der »unbußfertigen Selbstrechtfertigung unseres Volkes« und stellt fest, die deutschen Schuldzuweisungen an die Alliierten seien »das geheime Thema fast aller offiziellen Verlautbarungen der Kirche« gewesen (Thielicke 1948: 17ff). NS-Täter wie Oswald Pohl, die sich gegenüber den alliierten Siegermächten zu verantworten hatten, bedienten sich häufig der Rhetorik des Selbstmitleids und der Schuldabwehr. Der wissenschaftlichen Forschung zur deutschen Vergangenheitspolitik sind diese Verteidigungsstrategien hinreichend bekannt (vgl. Frei 1999, Moeller 2001). Ich möchte in diesem Beitrag darauf hinweisen, wie sehr in Selbstzeugnissen von NS-Tätern religiöse Rhetorik, Schulddiskurse und Geschlechter(sub-)texte verwoben sind. Ich klopfe also diese Dokumente nicht vorrangig nach ihrer historischen Verwertbarkeit ab, sondern lese sie als Zeugnisse der Selbstrechtfertigung.2 Damit steht nicht so sehr der Wahrheitsgehalt dieser Texte im Vordergrund, sondern ins Zentrum rückt ein analytisches Interesse an Problemen der Identität und Repräsentation – und damit auch der Gender Performativität. Wie stellt sich der deutsche männliche Täter nach der Kapitulation der Ideologie des Herrenmenschen dar? Woran orientieren sich diese Männer nach dem Verlust ihrer politischen Macht, völkischen Weltanschauung und ›mannhaften‹ »Sachlichkeit« (Herbert 1995)? Wie halten ihre Selbstzeugnisse die Waage zwischen dem Hang zur Selbst1 | In seiner Karfreitagspredigt von 1947 argumentiert Thielicke, es sei in Deutschland Tabu, das Unrecht der »Anderen« (gemeint sind die Alliierten) anzusprechen. Diem widersprach ihm heftig. Ihr Streit wurde 1948 unter dem Titel »Die Schuld der Anderen« veröffentlicht. Zur Analyse des Textes siehe Krondorfer (2008a); zur Diskursanalyse der Memoiren Thielickes Krondorfer (2006). 2 | Zur Selbstzeugnisforschung, siehe Bähr/Burschel/Jancke (2007). Zur diskurskritischen Auswertung von Autobiographien Berg (2003) und Krondorfer (2006).

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entschuldung und dem Wunsch nach Amnestie? Auf dem Spiel stand die ›Anständigkeit‹ dieser Männer: Mit möglichst geringem Gesichtsverlust wollten sie als anständige Menschen wieder in die Gemeinschaft zurückgeführt werden.3 Der Wunsch nach Respektabilität4 bedarf allerdings etlicher Erklärungsbemühungen, gerade unter jenen Männern, die mit staatlich sanktionierter Gewalt einem Unrechtssystem gedient und sich nun öffentlich zu verantworten hatten. Die von ihnen bemühten Strategien öffentlicher Selbstrechtfertigung stellen allerdings kein spezifisch deutsches Phänomen dar, wie es Erika Mann in ihrer Reportage behauptet, sondern sind, wie wir heute wissen, überall dort zu finden, wo sich moderne Unrechtsgesellschaften im Übergang zu neuen demokratischen Ordnungen befinden und sich ehemalige Machthaber ihren (Un-)Taten öffentlich stellen müssen.5 Anhand von drei ausgewählten Beispielen möchte ich zeigen, dass die Selbstzeugnisse von NS-Tätern in strategisch wichtigen Momenten auf religiöse Rhetorik zurückgreifen. Dieser Rückgriff ermöglicht es diesen Männern – so meine These – sich einerseits mit Schuldvorwürfen auseinander zu setzen und andererseits als geläuterte, moralpolitische Respektsperson darzustellen. Der diskursive Effekt des Rückgriffs auf die Religion, so ließe sich vorausgreifend zusammenfassen, besteht in der Remaskulinisierung der angeschlagenen Männlichkeit. Es ist der Versuch, unter veränderten politischen Machtbedingungen die Krise des kompromittierten Mannes zu überwinden. In dieser Situation konnten die männlichen NS-Täter auf den Zuspruch kirchlicher Kreise vertrauen, denn Kirche, Seelsorger und Theologen machten in der Nachkriegszeit den schuldig gewordenen Männern ein Angebot, sich als geläuterte Menschen zu präsentieren – freilich unter der Direktive des christlichen Glaubens. 3 | Als ein Beispiel für die Rhetorik der Anständigkeit sei hier lediglich Thielicke erwähnt, der den NS-Gauleiter Scheel nach dem Krieg als einen »der Anständigsten in den höheren Nazi-Regionen« bezeichnet (Thielicke 1984: 244). 4 | Nach Mosse ist »respectability« ein zentraler Aspekt in der Konstruktion der Männlichkeit in der Moderne, und diese wiederum ist eng mit dem aufkommenden Bewusstsein der nationalen Idee verbunden: »Respectability […] provides society with essential cohesion« (Mosse 1996: 192f). 5 | Zur vergleichenden Analyse von Täter-Selbstzeugnissen siehe Payne (2008); vgl. auch die einschlägige Literatur zur »transitional justice«, z.B. Hayner (2002).

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Insofern sich Selbstzeugnisse an die Öffentlichkeit richten, nehmen sie als »confessional performances« (Payne 2008: 13-40) an nationalen und politischen Dramen über Fragen der Schuld, Versöhnung und Rechtsprechung teil. Natürlich sind solche (halb-)öffentlichen Läuterungsprozesse – im Sinne des Angeklagten – nicht immer erfolgreich verlaufen, wie wir an den drei Beispielen sehen werden, aber das schmälert nicht die Bedeutung einer religiösen Leid- und Läuterungsrhetorik, die das lädierte männliche Ich zu rehabilitieren und remaskulinisieren versuchte.

O SWALD P OHL UND SEIN H AGIOGR APH Beginnen wir mit Oswald Pohl und seiner Bekehrungs- und Bekenntnisschrift – das Herzstück meines Beitrags. Wer ist dieser Mann? Pohl wurde 1892 geboren und wuchs in einem protestantischen Elternhaus auf, in dem »echte Religiosität das Leben« bestimmte. »Die evangelische (reformierte) Glaubenslehre« sei ihm, schreibt Pohl, durch das Vorbild der »innigen Frömmigkeit einer sich aufopfernden Mutter« zur Lebensgrundlage geworden (»Credo«: 17).6 Er war früh schon Mitglied der nationalsozialistischen Bewegung und trat 1934 – von Heinrich Himmler umworben – der SS bei. Pohl stieg rasch in der Bürokratie des NS-Staates auf und wurde 1942 Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes (WVHA). In dieser Funktion war er verantwortlich für die industrielle und ökonomische Verwaltung der Konzentrationslager. Unter seiner Leitung entstand ein komplexes, funktionierendes Netz zwischen Rüstungsindustrie, der SS und privaten Firmen (Allen 2000, 2002, Schulte 2001). Zwischen 1942 und 1945 unterlag Pohl die Aufsicht der gesamten Arbeitskraft der KZ-Häftlinge, einschließlich der Verwertung der Habseligkeiten der vernichteten jüdischen Menschen (Kleidung, Brillen, Haare, Goldzähne etc). 1946 wurde Pohl verhaftet und 1947 in Nürnberg zum Tode verurteilt. Bald schon setzten sich »führende Repräsentanten der Kirchen, der im Aufbau befindlichen Bundeswehr sowie der Bundesregierung« für seine Begnadigung ein, aber der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy entschied im Januar 1951, das Todesurteil gegen ihn nicht aufzuheben (Schul6 | Da ich argumentieren werde, Pohl könne nicht alleiniger Autor dieses Textes sein, zitiere ich seine Schrift durchgehend als »Credo«; im Literaturverzeichnis ist sie allerdings unter Pohl (1950) aufgeführt.

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te 2001: 44). Mit sechs weiteren NS-Tätern gehörte Pohl zu den letzten Hingerichteten der amerikanischen Militärgerichtsbarkeit. Am 7. Juni 1951 wurde er in Landsberg am Lech gehängt.7 »Credo« ist im Sommer 1950 entstanden, also in den wenigen Monaten zwischen Pohls Konversion zum Katholizismus und seiner Hinrichtung. Das 75-seitige Büchlein wurde in einer Auflage von 9000 Exemplaren mit kirchlicher Imprimatur gedruckt. Das Besondere an »Credo« ist nicht so sehr die Tatsache der Konversion – auch andere NS-Täter rekonvertierten nach 1945 zum Christentum oder erneuerten ihre Kirchenmitgliedschaft – sondern dessen Charakter als öffentliche Bekenntnis- und Bekehrungsschrift. »Credo« ist der Versuch, den Läuterungsprozess eines NS-Täters der deutschen Öffentlichkeit in Form eines traditionell-christlichen Bekenntnisses zu präsentieren. Bereits im Vorwort von »Credo« äußert Pohls Seelsorger Karl Morgenschweis den unüberhörbaren Wunsch nach Öffentlichkeit: »Es ist begreiflich, daß diese Bekehrung in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt hat und daß nunmehr auch die vorliegende Bekehrungsgeschichte, die Pohl selbst verfaßt hat, Aufsehen […] hervorrufen wird. Pohl wollte seine Aufnahme in die katholische Kirche durch diese Schrift öffentlich machen, um damit auch öffentlich seinem bisherigen religiösen und weltanschaulichen Bekenntnis und seinem bisherigen Leben abzusagen, zugleich aber auch um damit ein öffentliches Bekenntnis für die katholische Kirche abzulegen.« (Morgenschweis in »Credo«: 9, Hervorh. B.K.)

Morgenschweis macht in diesen Sätzen drei Dinge deutlich: Erstens, »Credo« ist eine Bekehrungs- und Bekenntnisgeschichte; zweitens, Pohl hat diese Geschichte selbst verfasst; drittens, es handelt sich hier um ein Ereignis, dass Öffentlichkeit sucht und verdient. »Credo« beansprucht also, öffentlich Zeugnis zu geben von der inneren Veränderung eines NS-Täters, und zwar in dessen eigenen Worten. Dieser Anspruch folgt der augustinischen Bekenntnistradition, in der sich ein selbstreflektierendes Subjekt mit seiner vergangenen Sündigkeit und Schuld auseinander setzt, um nach einem Prozess reuiger Erkenntnis als 7 | Siehe Schulte (2001: 44-45). Zur Geschichte der Landsberger Häftlinge und die verschiedenen Amnestie- und Begnadigungskampagnen vgl. Buscher (1989) und Schwartz (1990).

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geläutertes Ich neugeboren zu werden. Der innere Reinigungs- und Bekehrungsprozess soll nicht im Verborgenen einer privaten Meditation bleiben, sondern wendet sich durch den Text an ein Publikum.8 Das sich der Leserschaft derart offenbarende Subjekt erhält Modellcharakter. Wenn also Morgenschweis in seinem Vorwort so großen Wert auf die Öffentlichkeit des Pohlschen Bekenntnisses legt, dann entspricht es seinem Wunsch, »Credo« dem nachkriegsdeutschen Publikum als erfolgreiche Bekehrung eines (ehemaligen) NS-Täters anzupreisen. Der Erfolg läge sowohl im Beweis der Stärke des christlichen Glaubens als auch in der Hoffnung, gerichtliche Milde für seinen geistlichen Klienten zu erwirken. Pohl hätte zum konservativ-christlichen Vorhängeschild einer erfolgreichen Reintegration eines NS-Angeklagten mutieren sollen. Folgerichtig schreibt Morgenschweis am Ende seines Vorworts: »In Ehrfurcht und Dank gegen Gott übergebe ich das Bekenntnis dieses Mannes der Öffentlichkeit. Nicht um Streit um seine Person zu wecken, sondern als Beitrag zur Versöhnung und Frieden.« (»Credo«: 13)

Diesen Ansprüchen kann »Credo« allerdings nicht genügen. Das ist schon allein daran zu erkennen, dass das Büchlein die Amerikaner nicht überzeugen konnte, die Todesstrafe aufzuheben. Aber auch ungeachtet des juristischen Ausgangs mangelt es »Credo« an Glaubwürdigkeit. Die augustinische Bekenntnistradition wird dem Text regelrecht aufgedrängt, ohne dieser auch nur annähernd gerecht zu werden. Halbherzig werden grobe Zaunpfähle eingeschlagen, um eine Parallele zu den »Confessiones« des Kirchenvaters zu markieren, aber wenig ist von der Tiefe einer compunctio, der intim-geistlichen Zerrissenheit und Verwundbarkeit des bekennenden Subjekts, zu spüren. »Credos« religiöse Sprache wirkt aufgesetzt und eingeübt. Pohls lebensgeschichtliche Reminiszenzen und weltanschauliche Betrachtungen sind in die Schablone eines Bekehrungsmodells gepresst worden. Das Zwanghafte der Rhetorik wirft die berechtige Frage auf, inwieweit Pohl »Credo« allein geschrieben haben könne. Zwar behauptet Morgenschweis in seinem Vorwort, dass dem so sei, aber die stilistischen Ungereimtheiten des Textes deuten in eine andere Richtung. Ein Beispiel mag 8 | Zur Funktion und Bedeutung der Öffentlichkeit in männlichen Selbstzeugnistexten siehe Krondorfer (2008c; 2010).

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genügen, um Pohls alleinige Autorenschaft zu bezweifeln. Im letzten der vier Kapitel, das sich am stärksten in philosophisch-theologischem Grübeln ›ergießt‹, heißt es: »Je mehr der Mensch über sich weiß oder zu wissen vermeint, desto mehr entschwindet er sich selbst als Einheit und eindeutig bestimmbares Ganzes. […] Hierin liegt auch der tiefste Sinn und der größte Reichtum der Erlösung, daß sie das vernunftbegabte Geschöpf aus den unendlichen Fernen seiner Seinsohnmacht und aus der abgründigen Verlorenheit seiner Sünde in die göttliche Lebensflut erhebt und eben dadurch fähig macht, am Werke der Erlösung mitzuarbeiten.« (Ebd.: 53, 65)

Es ist kaum denkbar, dass der nationalistische und theologisch ungeschulte Geist Pohls diese Zeilen aufs Papier gebracht hat. Andere Stellen offenbaren ein wesentlich derberes Verständnis des Christentums. Im Kommisston eines NS-Verwaltungsleiters schreibt Pohl beispielsweise vom »Totalitätsanspruch« der Lehre Christi (Ebd.: 19), bezeichnet den Moment seiner religiösen Wandlung als »Frontaldurchbruch« und beschreibt, wie die »neue Rüstung des Glaubens« ihm in der »Niederringung der Zweifel« geholfen habe (Ebd.: 58). In der dritten Person schreibt er über sich selbst: »Schließlich wird es niemand einem alten Soldaten verübeln, daß der starke Orientierungsgeist und die autoritative Führung, die die katholische Kirche vor allen anderen christlichen Gemeinschaften auszeichnet, ihm aufs höchste imponierte; denn Ordnung und Einheit, Führung und Gehorsam stehen im Klangbereich des Militärischen.« (Ebd.: 60)

Die Unterschiedlichkeit dieser zwei Zitate ist verblüffend, und nur eine allzu leichtgläubige Leserschaft kann ernsthaft behaupten, Pohl habe sowohl die kunstvoll theologischen Konstruktionen über »Seinsohnmacht« und »Erlösung« als auch die ungelenken Zeilen über den »Gehorsam« und die »Ordnung« des »alten Soldaten« verfasst. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass Morgenschweis aktiv an der Erstellung des Textes mitgewirkt hat. Morgenschweis ist nicht nur Pohls Seelsorger, sondern auch sein Hagiograph. Gemeinsam schreiben er und Pohl eine Legende der Läuterung und (Un-)Schuld. Im Unterschied zu traditionellen Hagiographien, die

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den heroischen Akt eines Märtyrers oder die wundersamen Kräfte eines Heiligen beschreiben, versucht »Credo« die menschliche Anständigkeit eines NS-Täters wieder herzustellen. In einer Art Bekenntnisbund, den Morgenschweis und Pohl miteinander geschlossen haben, verschmelzen die Grenzen zwischen Selbstzeugnis und Hagiographie. Ein solcher Bekenntnisbund lindert allerdings weder die Bedeutung von »Credo« noch impliziert er, der Text sei eine Fälschung oder gar das Produkt einer Verschwörung. Im Gegenteil: ein Bekenntnisbund lenkt unseren Blick auf die dialogische Qualität jeder Bekehrungs- und Bekenntnisgeschichte, also dem diskursiven Verwobensein von Beichtenden und Beichtvater, Sünder und Seelsorger (vgl. Krondorfer 2010). Und dennoch muss Morgenschweis darauf bestehen, Pohl habe die Bekehrungsgeschichte »selbst verfasst« und sei »einzig und allein unter dem Einfluß der Gnade Gottes zur Konversion gekommen« (»Credo«: 9f). Würde der Geistliche zugeben, er (und nicht Gott) habe die Bekehrung veranlasst, und er (und nicht allein Pohl) sei beim Abfassen des Bekenntnisses beteiligt gewesen, so stünde die Glaubwürdigkeit der Konversion auf dem Spiel. Die Ambition des Hagiographen darf nicht mit dem Bedürfnis des seelsorgerlich Betreuten verwechselt werden – »der Wunsch kam aus ihm selbst« (Morgenschweis in Ebd.: 10); andernfalls würde die Öffentlichkeit den Hagiographen vorwerfen, er erzähle Fiktives, anstatt Glaubenswahrheiten zu berichten. Die Echtheit einer Bekehrungsgeschichte ruht in der Freiwilligkeit des Sünders, nicht im Eifer des Seelsorgers. Das Beharren auf der alleinigen Autorenschaft Pohls mag eine rhetorische Notwendigkeit sein – eine hagiographische Illusion, die unbedingt aufrecht erhalten werden muss –, aber textanalytisch hält diese Behauptung nicht stand. Halten wir also fest: Morgenschweis und Pohl sind einen Bekenntnisbund eingegangen, woraus »Credo« als gemeinsames Produkt hervorgegangen ist. Die Aufgabe des betreuenden Hagiographen bestand darin, Pohl zu normalisieren. Pohls Beteiligung am Völkermord und am Unrechtsstaat musste neutralisiert werden, um die moralische Standhaftigkeit und menschliche Anständigkeit des ehemaligen Täters und nunmehr christlichen Bürgers herauszustreichen. »Der Augenblick der Wandlung erfüllte mich mit sehnsüchtiger Liebe«, schreibt Pohl. »Die Liebe aber ist es, worauf alles ankommt, denn sie ist das Grundwesen und Hauptziel des Christentums überhaupt, […]die wahre Liebe zu Gott und zu unseren Nächsten. […] Ich war unversehens in den Mittelpunkt der katholischen Glau-

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benswelt geraten […]: Auferstehung Seines gekreuzigten Sohnes und Gegenwart des Auferstandenen im Allerheiligsten Sakrament des Altares. Es war wie ein Frontaldurchbruch.« (Ebd.: 57f)

Morgenschweis beschreibt seinen Klienten als einen »Mann voll Energie, Willenskraft und Tatkraft.« Er sei »Offizier vom Scheitel bis zur Sohle«, »ein Mann von hoher Geistesbildung und Herzensbildung, aufrecht, gerade und wahrhaft.« Er lebe, so Morgenschweis, »wie ein Mönch in seiner Zelle, betend und opfernd.« Er sei »von glühender Liebe zu Christus« ergriffen, trage sein »ungewisses Schicksal in völliger Gottergebenheit« und seine »Gesinnung und Haltung«9 lege Zeugnis ab für »seine innere Beglückung, die die Frucht seiner völligen inneren Bekehrung zu Gott und seiner Heimkehr zur katholischen Kirche« sei (Morgenschweis in Ebd.: 12f). Morgenschweis konstruiert mit diesem Portrait einen biographischtheologischen Rahmen, der den Blick des Lesers in vorgegebene Bahnen lenken soll. Pohl ist der ›verlorene Sohn‹, der in »den Schoß der alleinseligmachenden Kirche« (Ebd.: 51) zurückgekehrt ist und um Wiederaufnahme in die Nation bittet. Nicht eine wundertätige Vergangenheit, sondern Pohls gegenwärtige Anständigkeit sei das wahre Wunder der Wandlung des ehemaligen Leiters des WVHA. Darum muss Morgenschweis tunlichst vermeiden, auf die alliierten Schuldvorwürfe einzugehen. »[A]ls Priester und Seelsorger habe ich die heilige Pflicht, das Bild Pohls so zu zeichnen, wie ich es in dem mehrjährigen unmittelbaren Verkehr mit ihm als geistlicher Vater und Seelenführer sehe« (Ebd.: 12f). Die Gegenwärtigkeit eines geläuterten Mannes sollte davon überzeugen, dass Pohl die Begnadigung verdiene. Morgenschweis wollte den ›verlorenen Sohn‹ der Nation zurückgeben. Noch 14 Jahre nach der Hinrichtung behauptete Morgenschweis, es seien falsche Beschuldigungen gewesen, die Pohl zum Galgen geführt hätten: Als Leiter des WVHA sei er »nicht für die KZs und Judenmorde verantwortlich gewesen.«10 9 | Nach Sabine Autsch (2000: 163-165) ist Haltung ein »kollektivbiographischer«, »rhetorischer Schlüsselbegriff« der Generation, die zwischen 1907 und 1915 geboren ist. 10 | Zitiert nach Posset (1993: 25), der leider seine Quellen nicht benennt. Grundsätzlich wird Morgenschweis daran gelegen sein, den katholischen Glauben in der nachkriegsdeutschen Gesellschaft zu fördern und auf die moralische

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P OHLS S CHULDABWEHR UND S ELBSTMITLEID Wie Morgenschweis so muss auch Pohl gehofft haben, die Veröffentlichung von »Credo« könne zur Begnadigung führen – eine Hoffnung, die angesichts der beharrlichen Amnestieappelle der protestantischen und katholischen Kirchen durchaus berechtigt war.11 Obwohl in »Credo« diese Hoffnung nie direkt ausgesprochen wird, hat Pohl sie andernorts geäußert. Beispielsweise schreibt er zwei Tage vor seiner Hinrichtung einen Brief an Admiral Gottfried Hansen, der sich bereits früher für eine Begnadigung eingesetzt hatte (vgl. Frei 1999: 209). Der Duktus des Briefes schwankt zwischen Verstocktheit und Selbstmitleid: »Sie werden sich kaum vorstellen können, welche Gefühle Ihr Eintreten für mich in mir ausgelöst hat. Zum ersten Male in den 5 Jahren meiner Einzelhaft (davon fast 4 Jahre in der Todeszelle) strecken sich helfende Hände durch das Gitterfenster. Ich konnte nur die Hände falten und dem Allmächtigen danken für dieses Zeichen Seiner Gnade. […] Nun hätten mich vor 14 Tagen unsere ›Befreier‹ doch beinahe zum zweiten Male aufgehängt! Und diese Gefahr bleibt akut. […] [D]ie Ankläger und Richter in Nürnberg [haben] mir nicht einen einzigen Befehl und keinen Akt meines Willens und meiner Initiative nachweisen können, durch den irgendein Mensch verfolgt, eingesperrt, gequält oder gar umgebracht worden wäre; auch kein Jude! […] Das ganze Spiel vor den Gerichtshöfen in USA geht nur

Integrität der Kirche zu verweisen, die selbst in Zeiten korrupter säkularer Kräfte – wie etwa dem Modernismus, Kommunismus und Nationalsozialismus – instand geblieben sei. Zur Rolle der katholischen und protestantischen Kirchen in der Nachkriegszeit siehe Gabriel (1993), Greschat (1990), Hockenos (2004), Herzog (2005: 103-107), Kleßmann (1993), Löhr (1990). 11 | Zur kirchlichen Unterstützung der Amnestieappelle siehe von Kellenbach (2001: 47f); auch Phayer (2000: bes. 138-144). Zur sozialen, legalen und politischen Amnestiedebatte, siehe Buscher (1989: 91-130), Frei (1999: 133-233), Schwartz (1990). Zu den bekanntesten Befürwortern der Begnadigung gehörten in der protestantischen Kirche Hans Meiser (München), Theophil Wurm (Stuttgart), Otto Dibelius (Berlin) und Martin Niemöller (Hessen-Nassau); unter den Katholiken, besonders Kardinal Frings und Johannes Neuhäusler.

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darum, die von uns erstrebte Voraussetzung einer richterlichen Überprüfung, d.h. die Gewährung einer echten Revision zu sabotieren.« 12

»Credo« verhält sich im Ton viel vorsichtiger als dieser private Brief: Die Alliierten werden nie direkt beschuldigt, die Erwähnung von jüdischen Menschen peinlich vermieden, und Pohl als bußfertiger Sünder präsentiert, der gelassen dem Schicksal entgegensieht. Täterzeugnisse zeichnen sich jedoch ausnahmslos durch ihre Widersprüchlichkeit, Uneinheitlichkeit und Brüchigkeit aus,13 und auch »Credo« gelingt es nicht, die Schimäre eines gelassenen Mannes aufrechtzuerhalten. Immer wieder sickert durch Risse des Textes die ungeduldige, unnachgiebige und jammernde Disposition eines Mannes, der elf Jahre lang das Herrschen gewohnt war und nun in einer Gefängniszelle darbt. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Pohl über die Schuld nachdenkt. Zwar verleugnet er nicht, eine leitende Position im NS-Staat innegehabt zu haben, aber er bezeichnet sich nie als Täter. Jedes Schuldgeständnis im Sinne der Nürnberger Anklage wird vermieden und die (Un-)Taten, die zum Todesurteil geführt haben, werden mit keinem Wort erwähnt. Stolz berichtet Pohl über berufliche Erfolge im WVHA, doch habe er »niemanden totgeschlagen« oder »andere dazu aufgefordert«. »Unmenschlichkeiten« sei er »nachweisbar energisch entgegengetreten.« Was also, fragt sich Pohl, sei »der Anteil [s]einer persönlichen ›Schuld‹?« (»Credo«: 43). Er möge schuldig geworden sein, so seine Antwort, weil er als Idealist an eine Ideologie geglaubt habe, die in einer »Katastrophe« (Ebd.: 42) endete. »Das moralische Versagen gerade der führenden Schicht des Nationalsozialismus«, schreibt Pohl, sei »die Folge der Abkehr von Bindungen, die in der seelischen Tiefenschicht wurzeln und ins Transzendente streben. […] Zu dieser Entwicklung habe ich durch Unterstützung des Nationalsozialismus beigetragen. Dies zum mindesten ist meine Mitverantwortung, also ›Schuld‹. Daß ich meinen Irrtum nicht rechtzeitig erkannt habe, 12 | Der Brief (datiert am 5. Juni 1951) ist abgedruckt in der revisionistisch-konservativen »Deutschen Hochschullehrer-Zeitung« (1963; Jg. 11,1/2, S. 25-26) und in Koch (1988: 159), dort allerdings irrtümlicherweise auf den 5. Juli 1951 datiert (Pohl wurde am 7. Juni gehängt). Aufgrund von Kochs sensationellem Reportagestil müssen seine Angaben und Quellen mit Vorsicht behandelt werden. 13 | Zur Widersprüchlichkeit von Täter-Selbstzeugnissen in anderen Kontexten siehe Adak (2007), Buchholz (2003), Foster et al. (2005), Payne (2008).

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macht mich nicht weniger ›schuldig‹ oder gar schuldlos« (Ebd.: 45f). Er habe sich fernerhin nicht für die »Partei«, sondern »hingebungsvoll« fürs »Vaterland« eingesetzt (Ebd.: 42), aber habe dabei verkannt, wie sehr er von einer schwachen Ideologie verblendet worden sei. Wie hinfällig die Wurzeln der nationalsozialistischen Weltanschauung gewesen seien, so Pohl, könne man daran erkennen, wie schnell der »stolze Bekennermut« der nationalsozialistischen Führer (zu denen Pohl sich selber nicht zählt!) nach der »Katastrophe« von 1945 (gemeint ist Kriegsende und Kapitulation) zerstoben sei. Pohls Zorn richtet sich deshalb gerade gegen jene Führer und WVHA-Mitarbeiter, die um die Gunst der Alliierten warben, indem sie als Zeugen »gegen ihre eigenen Kameraden« aussagten. Er nennt sie »Vogelscheuchen«, »leblose Attrappen« und »Kreaturen«, die ihr »kümmerliches Fetzen Dasein als ›Kronzeugen‹« verkauften. Es erfasse ihn »ein Grauen angesichts dieser sittlichen Verkommenheit« (Ebd.: 43f). Hinter Pohls Zorn verschwindet die eigene Täterschaft. Persönliche Schuld wird zwar als rhetorische Frage in den Raum gestellt, aber sofort mit dem Verweis auf Verrat und Schuld der Anderen weggewischt. Die ›Anderen‹ sind in »Credo« vor allem die illoyalen, denunziatorischen Kameraden von gestern.14 Pohl fühlt sich als Opfer einer missverstandenen Situation. »Der Zusammenbruch Deutschlands im totalen Sieg der Alliierten brachte mich vor das Tribunal des Siegers«. Als dann 1947 die »Tore des Gefängnisses hinter [ihm] zu krachten« und Pohl in einer »dunklen kalten Zelle auf der Pritsche saß«, überfiel ihn eine »frostige Einsamkeit und bodenlose Verlassenheit«: »Vor dem Tore blieb mein Leben, das mich ohne Protektion und ohne Beziehungen vom schlichten Arbeitersohn in die höchsten Stellungen des Soldatenhandwerks geführt hatte: durch Fleiß, Nüchternheit und Aufopferung.« (Ebd.: 39)

Pohl hat sich selber wenig vorzuwerfen. Im Gegenteil: Er bezeichnet seinen beruflichen Erfolg als Resultat seiner Aufopferung für die Sache und sieht sich als Opfer einer Siegerjustiz. Durch das Ausblenden konkreter 14 | »Credo« vermeidet es, Juden und Jüdinnen zu erwähnen. In Briefen aus dem Gefängnis benennt Pohl allerdings ausdrücklich Juden als die Gegner seiner juristischen Einsprüche: Er beschuldigt sie des Hasses und der Rachsucht (Koch 1988: 156, 158).

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Schuldigkeit wird Pohl als handelndes und schuldig gewordenes Subjekt nicht greifbar, und dadurch nicht angreifbar – aber eine solche Einstellung steht ganz im Gegensatz zu den Erwartungen an das sündige Ich der augustinischen Bekenntnistradition. Wenn sich Pohl dennoch auf den letzten Seiten von »Credo« durchringt, ein christliches Schuldbekenntnis abzulegen, bleibt es emotional hohl und theologisch schal. »Erst als ich zwischen den grausigen Trümmern dieses Lebens saß, erkannte ich Gottes Willen. Indem ich mich Ihm bewußt und willend beugte, mich aufrichtig zu aller Schuld und zu allen Sünden bekannte, anerkannte ich zugleich all mein Elend und meine Leiden als Seine Prügel für meine Läuterung.« (Ebd.: 68)

Pohls allgemeines Schuldbekenntnis kennt kein Leiden der Opfer seiner NS-Täterschaft. Stattdessen rückt das eigene Elend, welches als göttlich angeordnete Katharsis verstanden wird, in den Mittelpunkt. »Im Fegefeuer dieses äußersten Verworfenseins wurde ich geläutert zum wahren Glauben zu Gott« (Ebd.: 57f). So klingt ein Diskurs des Vermeidens, nicht des Bekennens. Die Opfer der Pohlschen WVHA-Tätigkeiten bleiben unsichtbar. »Credo«, als Dokument einer restaurativen Übergangsphase,15 möchte Pohl als geläuterten Menschen portraitieren, der eine christlich-konservative Anständigkeit verkörpert und damit symbolisch für die nationale Erneuerung und Normalisierung Deutschlands einstehen soll. Doch trotz allem Bemühen, sich an den augustinischen »Confessiones« zu orientieren, bleibt »Credo« im Wiederkäuen apologetischer, narrativer Konventionen stecken.

M ÄNNER DER 1918 ER K OHORTE : P OHL , L E Y UND F R ANK »Credos« religiöse Rhetorik – eine Mischung aus theologischem Konservatismus, Selbstmitleid, Opferstilisierung und Tugenden soldatischer Maskulinität – sollte den politischen, moralischen und stilistischen Geschmack des nachkriegsdeutschen Publikums treffen. »Credo« ist aber nie 15 | Zur kulturpolitischen Geschichte dieser Epoche siehe Schissler (2001a); zur sozialpolitischen Situation Schwarz (1989); zur Situation der katholischen Kirche Gabriel (1993).

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ein kommerzieller Erfolg geworden und ist heute nur wenigen Historiker/-innen bekannt. Einen winzigen Einblick in die Kreise, in denen »Credo« gelesen wurde, gewährt uns Katrin Himmlers kritische Familienbiographie »Die Brüder Himmler« (2005). Die Autorin, Großnichte Heinrich Himmlers, erzählt in ihrem Buch, dass ihre Großmutter Paula, die mit Heinrichs Bruder verheiratet war, die politischen Begnadigungskampagnen für die Landsberger Häftlinge unterstützt hatte. Im Herbst 1950 habe Paula auch persönlich mit Pohl korrespondiert. Sie schickte ihm im gleichen Jahr ein Weihnachtspaket. Katrin Himmler erinnert sich daran, dass »Credo« im Bücherregal ihrer Großmutter gestanden habe (Ebd.: 273). Pohl ist nicht der einzige NS-Täter, der im Selbstzeugnis auf eine religiöse Rhetorik zurückgreift. Ich werde dies an zwei weiteren Beispielen skizzieren. Zuvor möchte ich an meine Ausgangsthese erinnern, dass in den Selbstzeugnissen männlicher NS-Täter nicht nur politische Identifikationen, sondern auch die Identität des Mannes auf dem Spiel stehen. Zuviel Selbstmitleid läuft Gefahr, in Wehleidigkeit umzuschlagen, was zur Folge hätte, dass die »Herrenmenschen« von einst nunmehr als ›Jammerlappen‹ daständen. Einer wehleidigen Selbststilisierung zum Opfer, die das männliche Subjekt zu entmaskulinisieren droht, muss also entgegengesteuert werden, um nicht jegliche moralische und politische Glaubwürdigkeit zu verlieren. Der Rückgriff auf religiöse Rhetorik erlaubt diese Gradwanderung. Die Täterzeugnisse von Robert Ley und Hans Frank weisen Strategien der Schuldvermeidung auf, wie wir sie bereits in »Credo« kennen gelernt haben. Pohl, Ley und Frank teilen ähnliche lebensgeschichtliche Daten. Alle drei hatten führende Positionen im NS-Regime inne, wurden nach dem Krieg verhaftet, unter Anklage gestellt, und überlebten die alliierte Gerichtsbarkeit nicht. Alle drei gehörten der 1918er Kohorte an, also jener Generation von Männern, die es nicht gelernt hatte, Gefühle offen zu zeigen (Krondorfer 2006: 46-49). Sie fühlten sich der Eigenschaft der »Sachlichkeit« verpflichtet. Hinter dem Begriff der Sachlichkeit verbarg sich »wortkarge Verschlossenheit und Zurückhaltung«, um sich vom ›Gefühligen‹ persönlicher Kontakte abzugrenzen (Herbert 1995: 33f; vgl. Autsch 2000: 167f). Die ›Sache‹ war diesen Männern wichtiger als das Persönliche, und aufgrund ihrer Ersten Weltkriegserfahrung waren sie besonders anfällig für die Kompromisslosigkeit nationalistischer, rassistischer und völkischer Ideen. In alliierter Haft brach ihre gesamte Weltsicht zusam-

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men, und sie mussten ihre Handlungen und Entscheidungen unter den Vorgaben einer neuen demokratischen Ordnung erklären und verteidigen. Über die Aneignung religiöser Sprache begann der Panzer ihrer sachlichkühlen Männlichkeit zu bröckeln, und einige dieser Männer ließen sich, wenn auch nur zögerlich, kärgliche Schuldeinsichten entlocken. Zum Beispiel Robert Ley: Nach seiner Verhaftung bekannte er sich, wie Pohl, zu einer inneren Wandlung zum Christentum. Er schreibt darüber in persönlichen Briefen und seinem Testament. Diese Dokumente hat seine Tochter Renate Wald in ihrer persönlichen Biographie »Mein Vater Robert Ley« (2004) verarbeitet und veröffentlicht.16 Ley hatte während der NS-Zeit verschiedene Parteipositionen in der NSDAP bekleidet und übernahm schließlich die Führung der Deutschen Arbeitsfront. Er war bekannt für seinen fanatischen Antisemitismus. Renate Wald erklärt in ihrem Buch, ihr Vater habe sich immer sozialpolitischen Fragen gewidmet, die von protestantischen und preußischen Wurzeln getragen worden seien, die sich aber dann mit »der Ideologie der NSDAP« gemischt und erst in den »Kampfjahren« und »angesichts der militärischen Niederlage bei Kriegsende bis zur Unkenntlichkeit veränder[t]« hätten. Seine Einstellungen zur sozialen Frage »begründeten sich in der Antwort Jesu Christi, des Herrn und Meisters: ›Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!‹«, schreibt Wald. »Erst nach dem Zusammenbruch, in der Haft 1945«, habe er sich selbst gestellt, »um Gott wieder zu finden« (Wald 2004: 9). Ley und Pohl wuchsen beide in protestantischen Elternhäusern auf. Ley wurde 1890, Pohl 1892 geboren. Die Jahre der ›Selbstfindung‹ als junge Männer werden bei Ley als »ungewisse Wanderjahre« (Wald 2004: 33) und in »Credo« als »protestantische Jugend und Wanderjahre« (»Credo«: 15) beschrieben. Diese Wanderjahre überschnitten sich mit dem Ersten Weltkrieg, der sie als Männer der 1918er Kohorte prägte. In der »Frontkameradschaft« lernte Ley echtes »Mannestum« kennen, das von »Haltung«, »Disziplin« und der »Kameradschaft der Mannschaften« gekennzeichnet war (Wald 2004: 29). Schwer enttäuscht vom Kriegsende machte sich Ley die nationalsozialistische Ideologie als Hoffnungsträgerin einer völkischen Erlösung zu eigen. Ähnlich wie Pohl stieg Ley von eher ärmlichen Verhältnissen (er stammte aus kleinbäuerlichem Milieu) in Elitepositionen des NS-Parteiapparates auf, wo er die NS-Sozialpolitik verwaltete und förderte. 16 | Diese Dokumente sind z.T. in der »Collection of World War Two Crimes« der US National Archives, Washington, einsehbar.

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Ley, wie Pohl, hatte sich nach einer Scheidung neu verheiratet (Ley heiratete 1938 eine wesentlich jüngere Frau; zu Pohls Frauen, siehe Krondorfer 2008b). Nach der Verhaftung durch die Alliierten werden Pohl und Ley in ihren Zeugnissen als dem Schicksal ergebene Männer dargestellt. Ley beschreibt sich selbst als einen »vom Schicksal und vom Leben abgesteckten Menschen«; laut seiner Tochter habe er auf einem Photo aus der Haftzeit einen »ruhigen, gesammelten« Blick (Wald 2004: 117). Über die amerikanischen Haftbedingungen schreibt Ley ohne Wehleidigkeit: Ihm fehle »physisch« nichts, »das Essen [sei] gut«, die Zelle »warm«, und die Amerikaner »korrekt, zum Teil freundlich« (Ebd.: 118). Seinen Antisemitismus verteidigt er damit, dass »Christus selber Antisemit« gewesen sei, dass aber die »antisemitische Einstellung [des Nationalsozialismus] weit über die Bekämpfung von Auswüchsen jüdischen Verhaltens hinausgegangen« sei (Ebd.: 109, 111). Er sei zwar Antisemit gewesen, habe aber »keine Juden verfolgt, gefoltert [oder] eingesperrt« (Ebd.: 142). Ähnlich wie Pohl wünscht Ley, sich mit Gott zu versöhnen, nimmt aber sein Schicksal in die eigene Hand, da er die »Behandlung als Verbrecher« nicht ertrage und weil seine »Vorschläge für die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen« ins Leere liefen (Ebd.: 143). Am 24. Oktober 1945, fünf Monate nach seiner Verhaftung, begeht Robert Ley Selbstmord. In einem undatierten Abschiedsdokument schreibt er: »Ich bin mit Gott versöhnt. Ich habe um seine Gnade und sein Erbarmen gerungen und bete inbrünstig darum. Ich habe die ›Heilige Schrift‹ gelesen und glaube, dass Christus, der Herr auch für mich gestorben ist. Ich bin nicht verzweifelt, ich bin ganz ruhig in Gott, meinem Schöpfer, meinem Lenker und meinem Erlöser. Sein Wille geschehe …« (Ebd.: 144)

Im Falle Leys sehen wir das Bestreben und frühe Scheitern eines Mannes, der sich über den Weg einer religiöse Wandlung umorientieren und rehabilitieren wollte, und eine Tochter, die 60 Jahre später die Erinnerung an ihn wach halten möchte. Hans Frank ist mein letztes Beispiel. Frank trat 1919 in die Thule-Gesellschaft (Vorläufer der NSDAP) und 1927 in die Partei ein. Als promovierter Jurist wurde er Reichsjuristenführer im NS-Staat, und 1939 wurde ihm die Leitung des Generalgouvernements der besetzten polnischen Gebiete angetragen (in denen sich auch Vernichtungslager befanden). 1945 wurde er von den Amerikanern verhaftet, in Nürnberg zum Tode verurteilt und

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im Oktober 1946 gehängt. Im Gefängnis schrieb er »Im Angesicht des Galgens« (1953), eine Art lebensgeschichtlich-politischen Kommentar zur NS-Zeit, zu seiner Beziehung zu Hitler und zu seinen weltanschaulichen Deutungen. Die 400-seitige Schrift ist weder Autobiographie noch Bekehrungsschrift (wie »Credo«), doch gibt sie als Selbstzeugnis eines NS-Täters Auskunft über seine Gedanken zur Schuld (gegenüber dem polnischen und jüdischen Volk) und enthält religiöse Entschuldungsstrategien. Wie Oswald Pohl wurde auch Hans Frank im Gefängnis seelsorgerlich betreut. 1946 geschah dies noch unter der Obhut eines amerikanischen Geistlichen, dem Franziskaner Sixtus O’Connor. Frank wurde 1900 in eine altkatholische Familie geboren und konvertierte in seiner Haft zur römisch-katholischen Kirche.17 O’Connor betreute die Erstellung des lebensgeschichtlichen Dokuments. »Der amerikanische Armeepfarrer«, schreibt Herausgeber Oswald Schloffer in der Einführung zu Franks Buch, habe »entscheidend« an der Niederschrift mitgewirkt (Frank 1953: 19). »Den handschriftlichen Text schenkte [Frank] dem Pater und bat ihn, diese Originalarbeit seinem Klosterarchiv zu übergeben.« Frank habe noch ein Typoskript des Originals korrigieren können, und ein mit »Schreibmaschine fixiertes Manuskript« habe er, Schloffer, »von Frau Brigitte Frank« erhalten (Ebd.: 19).18 Schloffer redigierte und veröffentlichte das Manuskript nach Franks Tod, in einer Zeit, als in Westdeutschland über Kollektivschuld, Begnadigungsgesuche und die Entnazifizierungspolitik debattiert wurde. 1953 war das Werk auf dem Buchmarkt erhältlich. In seiner Einführung wird Schloffers unkritische Einstellung gegenüber Frank deutlich. Als Herausgeber nimmt er die Schuldfrage nur ungenügend zur Kenntnis, wünscht sich aber von seiner Leserschaft eine »ernste, sachgerechte Kritik« (Frank 1953: 20). Eine »klärende Erkenntnis« habe »Hans Frank für sich und unzählige andere zu spät gefunden«, schreibt Schloffer entschuldigend, und »darin lieg[e] sein Irrtum, aber auch seine Schuld. Über sie zu richten [sei] nicht unsere Aufgabe … [und] gehör[e] nicht in den Zuständigkeitsbereich 17 | Der Altkatholizismus ist Teil einer autonomen Kirchenbewegung, die sich dem Zentralismus des Papstum widersetzte. Frühe Formen können bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgt werden. 18 | Franks Sohn, Niklas, hat eine eigene »Abrechnung« mit seinem Vater veröffentlicht (Frank 1987), in der er erwähnt, dass seine Mutter am Vertrieb und der Verteilung des Buches ihres Mannes stark beteiligt war.

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des Herausgebers«. Schließlich habe sich »Dr. Hans Frank offen zu seiner Schuld bekannt« (Ebd.: 16). In anderen Worten: Sowohl Morgenschweis als seelsorgerlicher Hagiograph, Renate Wald als persönliche Biographin, als auch Schloffer als säkularer Herausgeber haben die Apologetik ihrer Schützlinge mitgetragen. In »Im Angesicht des Galgens« bekennt sich Frank tatsächlich zu einer Schuld, die er stellvertretend für Hitler auf sich nehmen will. »Wer die Ehren eines Regimes teilte, hat auch die Schuld dieses Regimes zu teilen … [und] so trat ich in Nürnberg an seiner Statt vor die Richter und sagte, daß ich Schuld bekenne«. Im Gegensatz zu Pohls »Credo« spezifiziert Frank die Schuld »am Mord von einigen Millionen unschuldiger Menschen« und den »Massentötungen der Juden«. Frank bekennt sich zu einer »stellvertretenden« Schuld, weicht aber einem persönlichen Geständnis aus, indem er die Verbrechen mit Hilfe von mythologischen und theologischen Metaphern zu erklären versucht: Hitler sei »der dämonische Sendling des Teufels« gewesen, und »Hitlers System [habe] die Verneinung Gottes in Massenform gebracht« (Ebd.: 392f). Immerhin legt Frank – im Gegensatz zu Pohl – ein spezifisches Schuldbekenntnis ab. Der Unterschied zwischen diesen zwei Männern mag unter anderem mit der zeitlichen Diskrepanz begründet werden. Als Frank 1946 sein Selbstzeugnis verfasst, mag er (zu Recht) wenig Hoffnung auf Begnadigung gehabt haben. Vier Jahre später, als Pohl seine innere Wandlung der Öffentlichkeit präsentiert, hatte sich das politische Klima in Deutschland bereits geändert: Begnadigungsgesuche und Reintegrationsbemühungen ehemaliger Täter hatten 1950 durchaus eine Chance. Pohl musste also in der Hoffnung auf Gnade wesentlich vorsichtiger mit der Frage nach persönlicher Schuld umgehen. Allerdings finden wir auch in Franks Schrift die charakteristische Widersprüchlichkeit und Widerspenstigkeit von Täterzeugnissen. Auf den letzten vier Seiten greift Hans Frank auf eine stark religiös gefärbte Sprache zurück, in der sich Bilder von Gott und Volk, Reue und Rache miteinander verschränken. Noch einmal versucht er seine ambivalenten Gefühle gegenüber Hitler zum Ausdruck zu bringen, den er – trotz des satanischen Paktes – bewunderte. In einer letzten Ode an den Führer verweist Frank überraschenderweise auf die Bekenntnisse des Kirchenvaters Augustinus: »Als Mensch, als Übermensch und Untermensch habe ich Hitler erlebt. […] Und da ich mich nun von dir, Schatten Hitlers, verabschiede, ist es mir wie das Ende

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eines langen, langen Schmerzensweges. Hitler, du warst gottlos. Du hattest sie nicht, die große Liebe. […] Hitler, du kanntest auch nicht jene wahre, innere Gerechtigkeit, die sich nicht nach dem Willen der Gewohnheit richtet, sondern nach dem gerechten Gesetz des allmächtigen Gottes, jenes Recht, von dem Augustinus in seinen Bekenntnissen schreibt.« (Frank 1953: 430)

Der Bezug auf Augustinus ist kurz, aber signifikant. Es ist unwichtig, ob dieser Bezug vom amerikanischen Pater Sixtus O’Connor oder dem Juristen Frank hergestellt wurde. Entscheidend ist, dass sich NS-Täter und ihre Seelsorger im dialogischen Bund darum bemühten, ihre Selbstzeugnisse in der christlichen Bekenntnistradition zu verorten. Franks Schrift ist im Vergleich zu »Credo« weniger wehleidig. Das mag unmittelbar damit zu tun haben, dass er Schuld nicht in theologischer Vagheit, sondern als spezifisches Verbrechen benennen kann. Allerdings bringt Frank wenig Mitgefühl für die Opfer der NS-Diktatur und der Shoah auf, dafür um so mehr leidenschaftliches Mitleid mit dem deutschen Volk, das, wie er schreibt, eine schwere »Passion« erleide. Am Ende seines Selbstzeugnisses fühlt er sich dazu berufen, die (alliierten) Sieger anzuprangern und deren Schuldigkeit hervorzuheben.19 Als ehemaliger Generalgouverneur des besetzten Polens nimmt er vor allem das polnische Volk ins Visier: »Lebe wohl, lebe ewig wohl, du Polenvolk und Polenland! Gott sei mit dir, glücklich zu werden! Du hast dich jetzt aus Rachedurst schrecklich an unserem Volk versündigt. […] Die entsetzlichen Massenmorde an unserem Volk treffen dich dereinst genau so, wie Hitler getroffen wurde. Kehre zum Guten zurück, ehe es zu spät ist! Das bete ich für dich.« (Frank 1953: 428) 20

Polen sei, so behauptet Frank mit paternalistisch-imperialem Pathos, mit dem verbrecherischen Geist des Nationalsozialismus vergleichbar. Fazit: Alle Völker und Nationen seien sündig. 19 | Die Häufigkeit, mit der angeklagte NS-Täter (aber auch zeitgenössische männliche Theologen und Historiker) auf die Schuld der Anderen verwiesen, bestätigt Hermann Diems eingangs zitierte Kritik an Thielickes Position (siehe Fußnote 1). 20 | Auf diese Passage seines Vaters reagiert Niklas Frank (1987) besonders heftig: Sie würde in ihm Brechreiz erzeugen.

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»Das Deutschland aber, das Hitler hinterließ, erlebt jetzt die schwerste Passion. Es wird verhöhnt, gegeißelt und ans Kreuz geschlagen. Das Reich ist begraben. Und da ich nun auch meinen Weg mit Hitler bedenke, neige ich in Schuld mein Haupt. Nichts bleibt mir als das Gebet zu Gott für mein Volk und Land und meine Buße als Beitrag zur Sühne. Und in Ewigkeit diene ich dir, Vaterland […] Denn ich habe Dich geliebt über alles in der Welt.« (Ebd.: 431)

Dies sind Franks letzte Worte in »Im Angesicht des Galgens«. Er malt das Schicksal Deutschlands in den Farben einer christlichen Passion.21 Nicht Christus, sondern das Vaterland sei ans Kreuz geschlagen worden! Seine Rede von Schuld und Reue dient letztlich der völkischen Liebe. Als rekonvertierter Katholik möchte Frank seine Rückkehr zu Gott demonstrieren, doch seine Loyalität gilt nicht Gott, sondern dem Vaterland: »Denn ich habe Dich geliebt über alles in der Welt.«

G ESCHLECHTER (SUB -) TE X T Die wenigen Auszüge aus den Selbstzeugnissen von Pohl, Ley und Frank demonstrieren, trotz aller Unterschiedlichkeit, eine gewisse family resemblance. Ihre Schuld-, Leid- und Läuterungsdiskurse sind nicht nur individuelle Vorlieben, sondern müssen als kollektive Bewältigungsmuster verstanden werden. Die schuldig gewordenen Männer eigneten sich eine religiöse Sprache an, um öffentlich Rechenschaft zu geben, ohne moralische und politische Glaubwürdigkeit zu verlieren. Aus heutiger Perspektive müsste man sagen, dass keiner der hier vorgestellten Männer besonders überzeugend war. Die religiöse Rhetorik ihrer schriftlichen Selbstzeugnisse (ver-)führte zur Apologetik und Wehleidigkeit, mit der Konsequenz, dass die einst mächtigen Männer politische und moralische Verantwortung abgaben. Dadurch trugen sie zur eigenen Entmächtigung und Entmännlichung bei (im Sinne ihrer alten Männlichkeitsideale: Sachlichkeit, Kühle, Härte). Indem 21 | Das Klagen über die »deutsche Passion« ist ein Topos, der bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren von deutsch-nationalen Geistern zur Verarbeitung der Niederlage des Ersten Weltkrieges benutzt und nach 1945 wiederbelebt wurde (vgl. Krondorfer 2008a: 218f). Thielicke bedient sich dieses Topos in »Die Schuld der Anderen« (1948).

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sie persönlicher Schuld auswichen und sich zum Opfer der neuen Machtverhältnisse stilisierten, verzichteten sie darauf, sich als Subjekte ihrer eigenen Handlungen und Entscheidungen zu beschreiben. Ein derartiges Vorgehen hat den Vorteil, sich in der Hoffnung auf Gnade als geläuterter Mann zu präsentieren, birgt aber die Gefahr, ›mannhafte‹ Respektabilität zu verlieren. Der Tendenz der ›Verweichlichung‹ und Entmaskulinisierung musste entgegengewirkt werden, und gerade dieser Balanceakt gelang mit dem Rückgriff auf religiöse Rhetorik in den Selbstzeugnissen der Täter. In ihren (öffentlichen) Bekenntnissen zur inneren, geistlichen Wandlung klagten sie eine neue moralische Deutungshoheit ein. In ihren Schriften wird der (ehemalige) NS-Täter als ein ›im Grunde anständiger‹ Mensch dargestellt, der von einer Ideologie verblendet worden sei und diesen Irrtum zu spät erkannt habe. Seine Anständigkeit wird an der aufopferungsvollen Hingabe zum Vaterland und am beruflichen Erfolg festgemacht, unter gleichzeitiger Betonung persönlicher Unschuld. Die mannhafte Anständigkeit, so der Duktus, sei auch daran zu erkennen, dass die Inhaftierten nicht davor zurückschreckten, die Ungerechtigkeiten der Alliierten anzuprangern. Gewappnet mit solch einem Gerechtigkeitssinn könnten sie im Sinne der Anklage eigentlich nicht schuldig sein (wohl aber schuldig im theologischen Sinne der allgemeinen Sündigkeit der Menschheit); wenigsten aber sollten sie mit ›Gnade vor Recht‹ rechnen können. Es sei der Läuterung unter christlicher Leitung zu verdanken, dass die Angeklagten den Mut aufbrächten, mit sich und der Welt ehrlich ins Gericht zu gehen. Aufgrund solcher Argumentationslinien kann Hans Frank seinen moralischen Zeigefinger gegen das polnische Volk erheben, Ley sich beklagen, dass seine Vorschläge zur Versöhnung zwischen Juden und Deutschen nicht angenommen worden seien, und Pohl schreiben, dass die »letzte Konsequenz des Glaubensverfalles im Menschen […] die ›Religion des Sozialismus‹ [sei], deren Apostel den autonomen Menschen selbst an die Stelle Gottes setzen« (»Credo«: 56). Diese falschen Apostel, so Pohl weiter, riefen dann: »›Wir haben alle Macht!‹ Jawohl; denn ihr habt Radio, Weltpresse, Kino, Fußballtoto, Düsenjäger und Atombomben.

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Bedauernswertes Geschlecht, das auf diesem Erdenstern dahintreibt, auf dem die Menschen nicht mehr bedeuten als die Bakterien auf der Schale eines Apfels.« (Ebd.: 56)

Ein abgeklärter Pohl meint, aus erhabener Vogelperspektive über das ganze Menschengeschick urteilen zu können. In dieser Weise bewegen sich die Selbstzeugnisse von NS-Tätern zwischen wehleidiger Selbstentschuldung und moralischer Selbstrestauration, zwischen selbst entmächtigender Passivität und trotziger Selbstbehauptung. »Und den ganzen Jammer des Lebens hat Er [Gott] über mich ausgegossen: Verleumdung, Demütigung, körperliche und seelischer Mißhandlungen, irdisches Gericht und Galgen.« (Ebd.: 67)

Selbstbemitleidend möchte Pohl als sanfterer und gelassener Mann von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Um aber nicht als ›Jammerlappen‹ in die Geschichte einzugehen, darf seine Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit nicht angezweifelt werden. Und so endet Pohl mit den Worten, er habe sich »aufrichtig aller Schuld und zu allen Sünden bekannt«, so dass er mit der Fülle Gottes nun die »Welt und Dasein als Ganzes« erkenne (Ebd.: 68, 70). Versehen mit einem göttlichen Mandat und erneuerter moralischer Autorität vermeidet das schuldig gewordene, männliche Subjekt die Gefahr der Verweichlichung und Verweiblichung.22 In alliierter Haft muss die Männlichkeitskrise besonders präsent gewesen sein, denn die Welt, die sich die angeklagten NS-Täter ausgemalt hatten, hatte sich ins Gegenteil verkehrt: Der Traum eines völkischen Lebensraum war auf die Größe einer Gefängniszelle geschrumpft. Aber auch außerhalb der alliierten Gefängnisse fand sich die deutsche Männlichkeit in Bedrängnis. Mit der militärischen Niederlage und mit vier Millionen toten Soldaten und weiteren zwölf Millionen in Kriegsgefangenschaft hatten deutsche Männer Schwierigkeiten, sich in der Nachkriegsgesellschaft zurecht zu finden – ein Konflikt, der bis tief in die fünfziger Jahre hineinreichte (vgl. Herzog 2005, Schissler 2001b). Kirchenmänner boten den angeklagten und angeschlagenen Männern eine theologisch und politisch konservative Sprache an, um ihre Krise zu 22 | Zur Problematik der Feminisierung Pohls und dem Ausschluss aller Frauen aus seinem Bekenntnistext siehe Krondorfer (2008b).

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bewältigen. Indem Seelsorger und Theologen diesen Männern ihre ›Anständigkeit‹ bescheinigten, beteiligte sich die Kirche an der politischen Restauration der Nation und der moralischen Restauration der männlichen Identität. Im Falle Pohls zeigt sich, dass er nicht wirklich eine innere Wandlung im Sinne einer augustinischen Selbstreflexion durchschritten hat, sondern lediglich die totalitäre Weltanschauung des Nationalsozialismus mit der totalisierenden Glaubenswelt des Katholizismus eintauschte. »Schließlich wird es niemand einem alten Soldaten verübeln«, dass ihm »der starke Orientierungsgeist und die autoritative Führung [der] katholische[n] Kirche […] aufs höchste imponierte« (»Credo«: 60). Die Schriften von Pohl, Ley und Frank zeugen von keiner moralischen Verzweiflung über den Schmerz und die Leiden der Opfer ihrer verbrecherischen (Verwaltungs-)Politik. Das Verschweigen und die Abwesenheit des Mitfühlens mit den Anderen zeichnet ihre Selbstzeugnisse als Täterdokumente aus. Es macht sie zugleich unglaubwürdig als aufrichtige Bekenntnisse. In »Credo« ist das besonders offenkundig: am Ende bleibt nicht die Reue um das Leid der Anderen, sondern das Festklammern am eigenen Leben. In diesem Sinne schließt Karl Morgenschweis sein Vorwort mit der folgenden Ermahnung ab: »Möge [das Bekenntnis dieses Mannes] vielen zum Segen werden, ganz besonders seiner Familie und seinen ehemaligen Kameraden! Möge es auch die versöhnen, die noch immer im Haß leben über das Unrecht, das ihnen angetan worden ist durch das System, dem der ehemaliger General der Waffen-SS gedient hat. Er dient heute als ganzer Katholik Gott und Christus und Seiner göttlichen Liebe in der Welt […]. Te Deum laudamus.« (Morgenschweis in Ebd.: 14)

Der Gefängnisseelsorger bescheinigt den Opfern Hass, während er dem Täter und seiner Gemeinschaft einen Segen ausspricht. Wohl wahrlich kein Grund, Gott zu preisen.

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Poetik der Verantwortung Eine Analyse von Paul Celans Gedicht »Nah, im Aortenbogen« Naomi Shulman

Nach der Shoah ringt Paul Celans Dichtung mit den Möglichkeiten und Grenzen von Kunst und Religion, die beide Bedeutung herzustellen suchen, indem sie Akte der Schöpfung und Versuche des Gedenkens erzählen. Celan verbindet seine Kritik an der Religion mit einer Erwägung der Gefahren der Kunst als Form der Kreativität und zeigt dabei auch eine Geschlechtsproblematik auf. Man bedenke zum Beispiel die ersten Zeilen des Gedichts »Allerseelen«: »Was hab ich/getan?/Die Nacht besamt, als könnt es/noch andere geben, nächtiger als/diese« (Celan 2003: 107). Der Akt der Besamung unterstreicht die notwendige Ambivalenz eines Projekts des dichterischen Meisterns, und so ist die Vorstellung der Schöpfung, sowohl im religiösen als auch im literarischen Sinn, an eine Erforschung geschlechtlicher Formen des Schuldigwerdens gebunden. Die Frage, mit der das Gedicht beginnt und die die Macht des Autors anspricht, durch eine quasi-göttliche Szene, die der Vernichtung entspringt, verflicht Geschlecht, Verantwortung und das Problem der Schaffung von Glauben und Bedeutung. In diesem Aufsatz konzentriere ich mich auf ein anderes, späteres Gedicht Celans, »Nah, im Aortenbogen«, welches das Göttliche als schöpferische Kraft und das Judentum als gedenkende und religiöse Tradition in Frage stellt, indem es ein Schreiben nach der Shoah als potentiell schuldhafte Form der Kreativität erforscht. Hier steht jedoch nicht männliche Meisterschaft im Vordergrund, sondern die Frage einer geschlechtlichen

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Produktion des Glaubens entspringt Überlegungen zu der Beziehung zwischen weiblicher Schöpfungskraft und göttlichem Geist. Celan schrieb dieses kurze Gedicht 1967, während eines Krankenhausaufenthalts nach einem Suizidversuch, und er nahm es dann im Band »Fadensonnen« auf, der 1968 veröffentlicht wurde. Nah, im Aortenbogen, im Hellblut: das Hellwort. Mutter Rahel weint nicht mehr. Rübergetragen Alles Geweinte. Still, in den Kranzarterien, unumschnürt: Ziw, jenes Licht.

Beim ersten Lesen verrät das Gedicht keine direkten Bezüge zu den Gräueln der Shoah. Dennoch bietet es einen mittelbaren Kommentar zu dieser Geschichte, indem es zentrale geschlechtliche Traditionen der Entwicklung jüdischer Ursprünge und des Gedenkens jüdischen Verlusts reflektiert. Wie stellt es einen kritischen Dialog zwischen einer geschlechtsgebundenen Vorstellung religiöser Bedeutung und der Möglichkeit verantwortlicher Dichtung her; wie gedenkt es der Opfer der Shoah, während es sich zugleich mit den Grenzen und dem Schweigen auseinandersetzt, die sowohl religiösen als auch literarischen Traditionen im Prozess der Erinnerung begegnen? Die Bilder der Mutter Rahel und der Schechina unterstreichen die Bedeutung des Geschlechts als Potential, Einfluss, und schöpferische Kraft. Glauben und Erinnerung als problematisch verknüpfte Formen der kreativen Verantwortung darstellend, betont das Gedicht durch die Figur der Mutter Rahel – und ihrer Position in der jüdischen Vorstellung als mythische Matriarchin des gesamten Volkes, die endlos dessen Leiden betrauert – das Wehklagen als notwendige und doch flüchtige Gegenwart. Ihre Klage ist eine Form der Artikulation, die Erinnerung transportiert, aber sich gegen ein Versprechen der Heilung oder Erlösung verwahrt. Im Folgenden

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deute ich die Figur der Mutter Rahel zusammen mit der der Schechina – der weiblichen Manifestation des göttlichen Geistes in der Welt, die eine prominente Stellung in der jüdischen Mystik einnimmt – und untersuche ihre Beziehung zum künstlerischen Versuch der Kommunikation nach der Shoah, so sie einer geschlechtsgebundenen Darstellung entspringt und das Weibliche als zugleich integralen und liminalen Bestandteil der Gestaltung jüdischer Erinnerung konstitutiert. Warum präsentiert das Gedicht das Bild der Mutter Rahel als Schlüsselbeziehung zwischen innerer und äußerer Welt, zwischen der isolierenden Erfahrung des Leidens und dem öffentlichen Gedenken an diese Erfahrung? Indem ich einige Intertexte des Gedichts betrachte, analysiere ich, wie die Figur Rahels zeitliche und ethische Aspekte der Erinnerung anspricht und so die Schwierigkeit der Weitergabe der Erinnerung sowohl im Kontext der Geschichte als auch in dem des Mythos erhellt. Obwohl die Bibelstelle Jeremias (31:15), in der Rahel untröstlich um ihre verlorenen Kinder weint, der primäre Intertext von denjenigen, die hier untersucht werden, zu sein scheint, bezieht sich diese Passage bereits auf eine frühere Geschichte über Rahel im ersten Buch Moses (Kapitel 29, 30, und 35). So findet die Konfrontation mit der Rolle des Geschlechts im schöpferischen Akt durch die Perspektive zweier Erzählungen statt, die, zusammen gelesen, die Ursprünge des jüdischen Volkes aber auch das Gedenken an seine Verluste evozieren. Die Kapitel Moses, welche Rahel als Matriarchin darstellen, beschreiben den weiblichen Körper als umkämpften Boden, der männliche Nachfahren erschaffen soll, um den Bestand des jüdischen Volkes zu sichern. In den Kapiteln 29 und 30 wetteifern die Schwestern Leah und Rahel miteinander, Jakob möglichst viele Söhne zu gebären. Während Rahel sterbend im Kindbett ihres zweiten Kindes liegt, tröstet die Hebamme sie mit dem Versprechen, dass auch dieser Nachkomme ein Sohn sei (1 Mose 35:17). Nach Rahels Tod und ihrem Begräbnis auf dem Weg nach Efrata errichtet Jacob einen Gedenkstein (35:20), so dass ihr Grab zu einem ewigen Ort der Erinnerung wird, der nicht an eine bestimmbare Zeit gebunden ist. So markiert dieser Vers den Übergang von einer historisch-genealogischen Erzählung über die Ursprünge eines Volkes zu der mythisch-prophetischen Sage in Jeremia, die Mutter Rahel nicht als körperliche Präsenz sondern als personifizierte Artikulation der Trauer darstellt. In dieser Sage ertönt Jahrhunderte nach ihrem Tod Rahels Stimme aus dem Grab, als einzigartiges Zeugnis der Gemeinschaft, den Verlust ihrer Kinder und de-

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ren Vertreibung ins Exil beweinend. Samuel Dresner, der Rahels zentrale Stellung in der jüdischen Tradition beschreibt, weist darauf hin, dass ihre Trauer das Volk umfasst und aneinander bindet, weil sie ohne Unterlass weint und somit die Grenzen historischer Zeit überschreitet, um in den Bereich des Mythos überzugehen: »Rachel grieved inconsolably for all the children of Israel. The Zohar tells us that Rachel wept not merely for those who went into exile then; she weeps each time Israel suffers banishment. As Israel’s mother, she laments so long as the anguish of the exile persists.« (Dresner 1994: 152) Ilana Pardes charakterisiert Rahels Rolle in ähnlicher Weise, »[Rachel] may be the black sheep of the family, but despite, or because of, this role, she has never ceased to be the favorite matriarch in Jewish tradition. […] In Jeremiah’s famous prophecy Rachel is allowed to transcend time. Her voice rises from the dead to cry on behalf of the exiled.« (Pardes 1992: 77f.)

In der Tat beschreiben die Verse Jeremias, die Celans Gedicht aufnimmt, Rahels Wehklage als immerwährende Gegenwart, da sie sich zu einem nie endenden Betrauern verpflichtet: »So spricht der Herr: Man hört Klagegeschrei und bittres Weinen in Rama: Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder, denn es ist aus mit ihnen.« (Jeremia 31:15)

Die Textstelle widmet sich dann der Prophezeiung Gottes als Antwort auf Rahels Tränen, mit der er ihr ein Ende des Exils ihrer Kinder und eine Wiedervereinigung verspricht: »Aber so spricht der Herr: Laß dein Schreien und Weinen und die Tränen deiner Augen; denn deine Mühe wird noch belohnt werden, spricht der Herr. Sie sollen wiederkommen aus dem Lande des Feindes, und deine Nachkommen haben viel Gutes zu erwarten, spricht der Herr, denn deine Söhne sollen wieder in ihre Heimat kommen.« (Jeremia 31: 16-17)

Celans Gedicht beschäftigt sich jedoch nicht mit den Versen 16 und 17, die Hoffnung, Trost und eine Rückkehr Israels aus dem Exil versprechen. Stattdessen hält der zentrale Vers des Gedichts die Bedeutung von Rahels Tränen als ein Gedenken an den Verlust aufrecht, indem es intertextuell an

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ein auf jiddisch verfasstes Gedicht Moyshe-Leyb Halperns »az du vest batsoln, bruder« [»Wenn du bezahlst, Bruder«] anknüpft. Wie Barbara Wiedemann und John Felstiner in ihren jeweiligen Kommentaren zu »Nah, im Aortenbogen« anmerken, unterstreicht Celan in Gershom Scholems Buch »Von der mystischen Gestalt der Gottheit« (1991 [1962]) – ein dritter Intertext des Gedichts, auf den ich zurückkommen werde – Passagen, die sich auf Mutter Rahel beziehen. An den Rand schreibt er die vom Gedicht Halperns komprimierten Zeilen: »Vet di mame rokhl veynen/vet meshiekh nit mer kenen/dos geveyn aribertrogn« [»Mutter Rahel wird weinen/Messias wird ihr Gewein/nicht mehr ertragen können«]. Das Halpern-Gedicht wurde erstmals 1919, als Teil des Zyklus »a nakht«, welcher den Band »in nyu-york« abschließt, veröffentlicht. Es ist aber wahrscheinlich, dass Celan das Gedicht durch seine Wiederveröffentlichung in einer kleinen Sammlung »Zeks Shloflider« kannte, die der ihm bekannte Hersh Segal 1939 in Czernowitz herausgab. Celans Gedicht beginnt seinen Dialog mit Halpern durch die Anspielung auf Mutter Rahel, aber auch durch die Problematisierung von Geschlecht und vor allem von Mutterschaft als Verhandlung der Spannung zwischen individueller und gemeinschaftlicher Erfahrung, zwischen innerer und äußerer Welt. In »Nah, im Aortenbogen« scheint die äußere Welt, die in den Körper gedrungen ist, nur durch die innere Wahrnehmung zu existieren. Zugleich schließen die Bilder der Interiorität das Sein nicht ein, denn es bleibt durchlässig und strahlend. Es ist daher bedeutsam, dass das erste Wort des Gedichts »nah« ist, durch kein lokalisierendes Wort eingeschränkt. Die Idee der Nähe ist wichtig, da sie andeutet, dass der Raum zwischen innerer und äußerer Welt nicht reduzierbar ist, so dass beide miteinander durch einen konstanten aber nie vollendeten Austausch verbunden sind. Das Bild des Blutstroms, der das Herz umfließt, präsentiert seine Zirkulation und Tränkung als einen Kommunikationsmodus, der das Körperliche mit dem Verbalen verschmilzt. Dem Sprechenden wird eine Identität als biologisch-geschlechtliches Wesen verweigert, weshalb das Gedicht keine Ich-Stimme beansprucht. So wird die Rolle des Geschlechts im Prozess der Schöpfung und des Gedenkens eine, die über die Figur des Autors oder des Sprechenden hinausgeht und die Möglichkeit erschwert, die Trennung dieser Figur von der Gemeinschaft, die sie anspricht, zu markieren. In Halperns Gedicht stoßen wir auf eine ähnliche Schwierigkeit. Dort wendet sich der Sprechende an seinen Bruder und beschreibt ihn als

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einen von allen gemiedenen permanenten Exilanten, der wie »ein fremder Hund« von jeder Tür vertrieben wird und dazu verdammt ist umherzuirren, so dass er niemals eine Nacht am gleichen Ort verbringen kann. Nach dieser düsteren Prophezeiung sieht der Sprecher in den letzten zwei Versen des Gedichts die Reaktion seines Bruders auf dieses Schicksal voraus: Du wirst dich auf einen Stein setzen, Dich im Herzen schlagen, Ay liu liu liu liu; Die Mutter Rahel wird dein schwarzes Schicksal beweinen – So mach schon deine Äuglein zu, Ay liu liu liu liu. Wird Messias nicht mehr können Dein Gewein ertragen, Ay liu liu liu liu; Wird er sich von den Ketten reißen Und den Kopf auf Steine schlagen – So mach schon deine Äuglein zu, Ay liu liu liu liu. [Vestu af a shteyn zikh zetsn, Shlogn zikh aleyn in hartsn, Ay liu liu liu liu; Vet di mame rokhl veynen Af dayn goyrl af dem shvartsn – Makh zshe shoyn di oyg[e]lekh tsu, Ay liu liu liu liu. Vet meshiekh mer nisht kenen Ir geveyn aribertrogn, Ay liu liu liu liu; Vet er zikh fun keytn raysn Un dem kop in shteyn zikh shlogn – Makh zshe shoyn di oyg[e]lekh tsu, Ay liu liu liu liu.]

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Im ersten dieser beiden Verse entdecken wir, wie in Celans Gedicht, eine auffallende Wendung. Zuerst erreicht die Einsamkeit des Bruders einen Höhepunkt im kontinuierlichen, gewaltsamen inneren Kampf: »shlogn zikh« bezieht sich sowohl auf die Ausführung eines Kampfes als auch – zusammen mit dem Bild des Herzens – auf den Herzschlag. Aber genau dieses einsame Ringen bindet den Bruder an eine größere historische und mythische Gemeinschaft, in der Rahel über alle ihre Kinder wacht und ihr Exil beweint. Es scheint also zunächst, als beschreibe Halperns Gedicht eine Welt nach den Pogromen, in der sowohl der Sprechende als auch der Angesprochene radikal vereinsamt ist. Aber Chana Kronfeld hebt hervor, dass der Zyklus »a nakht« im Kontext des gesamten Bandes »in nyu-york« gelesen wird: »[It] can no longer be construed according to premodernist, realist norms as a vision of the destruction of Europe and its Jews (although this theme is certainly an important part of the work). Rather, the poem is both a projection and an interiorization of that vision, an expressionist montage of the war theme on top of other fragments of personal and collective existence.« (Kronfeld 1996: 167)

Kronfelds Analyse unterstreicht eine Auffassung des Gedichts als Kommunikation, indem sie nicht nur die Trennungslinie zwischen innerer und äußerer Welt sondern auch die Durchlässigkeit dieser Grenze und den notwendigen Prozess des Austauschs darstellt. Demnach ist es entscheidend, dass das Bewusstsein des Sprechenden zugleich nach außen führt und die äußere Welt in die eigenen Grenzen bringt, weil so die unvermeidliche Verknüpfung individuellen und gemeinschaftlichen Leidens aufgezeigt wird. Auch Kathryn Hellerstein schlägt eine Interpretation der Beziehung zwischen innerer und äußerer Welt in diesem Gedicht vor: »[The speaker] finds himself alone in the expanded subjectivism of the nocturnal dream. The narrative structure of the poem merges with the structure of the dream. As a result, the individual ›I‹ of the speaker expands symbolically into the collective ›I‹ of the Jewish people (XIX). At the same time, the speaker divides into two parts, the dreamer and the survivor, the man and the perverse ›little man,‹ dos mentshele. Both the dreamer and the survivor—the idealist and the realist—are aspects of the individual Jew and of the Jewish people.« (Halpern/ Hellerstein 1982: xix)

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Die Forderungen des Individuums und der Gemeinschaft abwägend, bietet die Figur Mutter Rahels in Halperns Gedicht die Möglichkeit, individuelles Leid in den gemeinschaftlichen Bereich zu übertragen, aber diese Vermittlung fordert einen Preis. Denn Mutter Rahels Tränen – Artikulation ihres Leidens – erweisen sich als unerträglich; sie sprengen die Grenzen des Übertragbaren und gipfeln in der gegen sich selbst gerichteten Gewalt des Messias. Der Aspekt einer ausufernden Kommunikation findet sich auch in »Nah, im Aortenbogen«. Hier weint Rahel nicht mehr, eine Tatsache, die andeutet, dass die Darstellung ihres Schmerzes und ihrer Trauer beendet ist. Es ist bezeichnend, dass sich das Gedicht über den Ausgang dieser Kommunikation ausschweigt. John Felstiner bemerkt, dass Celan eine entscheidende Änderung im Verbtempus vornahm, als er das Gedicht überarbeitete: »At the poem’s midpoint, this present-tense weint, changed from past tense in draft, balances the poem at an ever present turning point: we will always need to know an end to weeping.« (Felstiner 1995: 237) Es ist also das Ende des Weinens welches, paradoxerweise, zur konstanten Gegenwart wird, obwohl es schon vollendet ist (wenn wir an die folgenden Zeilen denken – »rübergetragen/alles Geweinte«). Ich möchte eine alternative Interpretation zu Felstiners Vorschlag, dass das immerwährende Ende von Rahels Weinen ein willkommener und notwendiger Trost – eine Trauerpause – ist, in Erwägung ziehen. Stattdessen möchte ich die These formulieren, dass das ständige Versiegen von Rahels Tränen die biblische Tradition der weiblichen Wehklage umarbeitet. Indem das Gedicht die Annahme verweigert, dass Frau als Mutter sich nicht von dem, was sie erzeugt, abgrenzen kann, stellt es die Grenzen der Trauer und der auktorialen Verantwortung in Frage. Mit anderen Worten entwerfen diese Zeilen – »Mutter Rahel/weint nicht mehr./Rübergetragen/alles Geweinte« – das Problem der auktorialen Verantwortung als notwendig paradoxe Verhandlung der Grenze zwischen Selbst und Anderem. Indem das Gedicht die Beziehung zwischen Mutter und Kind als Chiffre für die Schwierigkeiten der Abgrenzung wählt, betont es die Notwendigkeit, geschlechtlich differenziertes Vermögen als potentielle Macht und potentielle Schuldhaftigkeit anzuerkennen. Halperns und Celans Verse verknüpfen die Erfahrung des Verlusts und das darauf folgende Erinnern und Gedenken mit dem Weiblichen und vor allem mit dem Mütterlichen, denn sie stellen den Bruch der Beziehung einer Mutter zu ihren Kindern als den Verlust der primären intimen und

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nährenden Verbindung dar. In beiden Gedichten trifft man jedoch auf die Zäsur dieser Trope: In Halperns Gedicht führt Mutter Rahels Weinen zum brutalen Ende der Hoffnung, im Bild der Selbstzerstörung des Messias. Celans Gedicht wiederum konzentriert sich auf den Moment, in dem die Erinnerung an die Verlorenen über eine darstellbare Trauer hinauswächst. Es bleibt die Frage, ob die Bewegung über Trauer und Hoffnung hinaus unvermeidlich oder beabsichtigt ist; wir wissen jedoch, dass Rahels Weinen immer zugleich erwartet und endgültig ist, da es die Grenzen der Artikulation sprengt. Die Verhandlung von Macht und Verantwortung offenbart sich dann in der Zeitlichkeit der Erinnerung und in der heiklen Lage ihrer genealogischen Übertragung: Die Gegenwart – auch die ewige Gegenwart von Rahels Weinen in der Bibelstelle – ist ein vorstellbarer Moment, aber er wird im Akt der Kommunikation nicht vollkommen erfasst. Indem man Celans und Halperns Gedichte zusammen liest, entsteht die Möglichkeit einer anderen Zeitlichkeit des Seins, die weder dem einen noch dem anderen Gedicht innewohnt, sondern zwischen ihnen Form annimmt, in der Verschiebung vom Zukünftigen in Halperns Gedicht zu einer Vergangenheit in Celans, die sowohl aktuell als auch abgeschlossen ist. Halperns Sprecher prophezeit, dass Rahels Klage eine Antwort des Messias hervorrufen wird, der, weil er ihre Tränen nicht mehr ertragen kann (»nit kenen mer aribertrogn«), sich von seinen Ketten reißen und seinen Kopf gegen die Steine schmettern wird. Dieses gewaltsame, apokalyptische Bild ist nicht tröstlicher als Celans Verse, die eine postmessianische Welt darstellen, in der das, was vorher ertragen werden sollte (»aribertrogn«) nun vermittelt worden ist (»rübergetragen«). Die Zeilen »Mutter Rahel/weint nicht mehr./Rübergetragen/alles Geweinte« schildern eine immerwährende Vergangenheit der Kommunikation, indem sie auf die Zukunftsprojektion in Halperns Gedicht eingehen und antworten, und sie entwerfen damit das Bild eines notwendigen und doch unmöglichen Gesprächs. Das Schweigen beider Dichter über eine mögliche Rettung aus Einsamkeit, Verlust, und Exil schreibt den Ausgang der biblischen Geschichte Jeremias um, denn die Gedichte beschränken sich auf Mutter Rahels Tränen als Form der Kommunikation und des Gedenkens anstatt auf die Linderung ihres Schmerzes. In diesem Sinne ist Erlösung weder eine imaginierte noch eine vorstellbare Option, und die wandelbare zeitliche Bindung des Gedächtnisses stellt den Zustand des Überlebens, der die Perspektiven beider Sprechenden strukturiert, als verletzlich und exzessiv zugleich dar.

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Angesichts der Unmöglichkeit des Gedenkens als erlösendes Geschehen stellt sich die Frage, wie Celans Gedicht mit der Möglichkeit des Glaubens umgeht, besonders im Kontext einer geschlechtlichen Darbietung von Macht und Verantwortung, wie sie hier erörtert wurde. Die Figur der Mutter Rahel verbindet sich in der jüdischen Vorstellung sowohl mit der biblischen Matriarchin als auch mit der Schechina, der weiblichen Offenbarung des göttlichen Geistes. Das Bild der Schechina stellt den göttlichen Geist als schöpferische Kraft dar, die die Risiken der Macht an der Grenze von Sprache und Schweigen konfrontiert. Im Band der gesammelten Gedichte Celans schreibt Barbara Wiedemann, dass er während der Verfassung von »Nah, im Aortenbogen« Gershom Scholems Kapitel über »Das passiv-weibliche Moment der Gottheit« las und dort auf den Begriff »Ziw« traf, das strahlende Licht, das die göttliche Gegenwart in der Welt manifestiert und das der Schluss des Gedichts evoziert: »Ziw, jenes Licht«. In Bezug auf Celans Gedicht ist es bedeutsam, dass Scholem auf den verschiedenen Formen, die »das Weibliche« als wesentliches oder als variables Attribut der Schechina figurieren, besteht. Einerseits untersucht er kabbalistische Schilderungen des Weiblichen als Gefäß oder Medium, das selbst leer ist, andererseits analysiert er die Vereinigung des Männlichen und Weiblichen, um die Spannungen zwischen Aktivität und Passivität, Produktion und Rezeption zu beleuchten. In Scholems Beschreibung vermischen sich in der Figur der Schechina das Aktive und Passive auf so komplexe Weise, dass es fast unmöglich ist, die Ursprünge der Kreativität zu erkennen. Scholem fixiert die Frage der Macht in der Differenzierung zwischen den relativen weiblichen und männlichen Attributen der oberen und unteren Schechina: Weil die Weiblichkeit der oberen Schechina männliche Aspekte beinhaltet, besitzt sie eine Kraft und ein kreatives Potential, das die untere, die absolut weiblich und daher nicht reflektionsfähig ist, nicht hat. Die überraschende Beharrung des Sohars1 auf der Schechina als Symbol der sexuellen Symbiose im Göttlichen erklärt Scholem folgendermaßen: »Die Energie, das Strömen des aktiven, wenn auch seinem Wesen nach nur reflektierten Lichtes, das aus dem Weiblichen kommt, erweckt das Männliche und bringt es zur Wirkung.« (Scholem 1991 [1962]: 183) Der Bahir, einer mehrerer kabbalistischer Texte, die er analysiert, bekundet, »daß die anderen Potenzen Gottes überhaupt nicht anders als durch die1 | Der Sohar ist ein zentrales Werk der Kabbala, der jüdischen Mystik, und widmet sich vor allem einer Interpretation der fünf Bücher Moses.

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ses Medium innerhalb der Schöpfung wirken, daß sie in ihm allein sich darstellen und solcherart die rein rezeptive Natur der Schechina mit aktivem Gehalt durchdringen« (Ebd.: 166). Wie diese Textstellen zeigen, ist die Schechina als weibliche Manifestation zugleich notwendig und nichtig, die Grenze von Macht und Passivität und somit das Prisma, durch welches kreative Energie gebrochen wird und zu sich selbst zurückkehrt. Tatsächlich übersetzt sich dieses Problem der Beziehung zwischen Männlichem und Weiblichem in eine Unterscheidung ihrer unterschiedlichen geschichtlichen Zeitlichkeiten, die die zwei Versionen des göttlichen Geistes erfassen: Scholem beendet sein Kapitel mit der Behauptung, dass die obere Schechina, welche das Männliche und Weibliche vereint, »der Mutterschoß der Sefiroth, der Äonen und der Weltenzyklen« sei (Ebd.: 191). Die untere Schechina hingegen erzeuge keine geschichtlichen Prozesse; sie könne über das Statisch-Passive des absolut Weiblichen nicht hinaus. Scholem schreibt ihr »das Ewig-Weibliche« zu, eine Kontinuität, die nicht an der Entwicklung der Geschichte teilnimmt und so auch von Austausch, Kommunikation, und Gedenken ausgeschlossen bleibt. Indem Celan einen Dialog mit Scholems Analyse der traditionellen Bedeutungen der Schechina für das Judentum aufnimmt, stellt er dessen Annahmen über die Beziehungen zwischen Geschlecht, Macht und Verantwortung in Frage. Nach Scholem beeinflusst die traditionelle Assoziation der Aktivität mit dem Männlichen und der Passivität mit dem Weiblichen das kabbalistische Verständnis einer schöpferischen Macht und auf diesem Weg auch die Entwicklung der Geschichte. In Antwort auf Scholems Überlegungen ringt Celans Gedicht mit dem Problem einer Zeit und eines Raums für Trauer und Erinnerung, die von den fließenden Grenzen zwischen der vermeintlichen Gegensätzlichkeit von Eigenem und Anderem, Aktivem und Passivem, Männlichem und Weiblichem gelöst werden. Man beachte die Anspielung auf die Schechina, die das Gedicht beschließt: »Ziw, jenes Licht«. Wie Wiedemann anmerkt, unterstreicht Celan eine relevante Stelle in Scholems Analyse, die zwischen Gottes Wohnen an einem bestimmten Ort und diesem Wohnen als unlokalisierbarem Zustand differenziert. Scholem betont, dass das Wohnen der Schechina in der Welt eher ein Sein als ein konkretes Auftreten sei: »Das ›Wohnen‹ Gottes, seine Schechina im wörtlichen Verstand, bedeutet vielmehr seine sichtbare oder auch verborgene Anwesenheit an einem Platz, seine

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Gegenwart. Diese kann sich in einem überirdischen Lichtglanz manifestieren – von einem solchen Licht (Ziw) der Schechina ist oft die Rede.« (Ebd.: 143)

Celans Aufmerksamkeit für die Idee einer Anwesenheit, die trotzdem nicht in einer lokalisierbaren Weise zu Hause ist, ist mit dem Problem des Überlebens verknüpft, mit dem er in seinem gesamten Oeuvre ringt: Wie kann die Qual, die Gräuel der Shoah überlebt zu haben, sich in Sprache manifestieren, ohne einen Platz für sich zu beanspruchen? Auf diese Weise stellt sich auch wieder die Frage des Schuldigwerdens, denn das Schreiben an sich – als schöpferischer Akt, der trotz und sogar aus der Vernichtung heraus entsteht – trägt eine Verantwortung in sich, der sich der Autor nicht immer stellen kann. Wie oben schon erwähnt, schrieb Celan »Nah, im Aortenbogen« während eines Krankenhausaufenthalts nach einem Suizidversuch. Ohne die Analyse in transparent-biografischem Rahmen verorten zu wollen, bleibt festzustellen, dass diese gegen die eigene Existenz gerichtete Gewalt mit der dichterischen Auseinandersetzung der Grenzen zwischen innerer und äußerer Welt einhergeht. Die Frage der eigenen Schuld wird dann nicht nur ein Problem psychischer Vorgänge sondern unausweichlich auch ein ethisches Problem, weil sie die Grenzziehung zwischen Schöpfung und Auslöschung sowie die Verantwortung für das Dasein als solches nachzeichnet. Wie ich gezeigt habe, ist für Celan die Verantwortung für das Dasein und für die Dichtung auch eine Frage einer möglichen Kommunikation, die eine notwendige Form der Vermittlung der ethischen Grenze zwischen Eigenem und Anderem bedeutet. Tatsächlich spielt das Licht, das am Ende des Gedichts aufleuchtet, eine Rolle im Briefwechsel zwischen Celan und seiner Dichterfreundin Nelly Sachs, ebenfalls Überlebende der Shoah. Während ihres Treffens 1960 in Zürich bemerken sie ein schimmerndes goldenes Licht über dem Wasser, und wenig später in Paris sehen sie es wieder. In ihren Briefen (und auch in Celans Gedicht »Zürich, zum Storchen«, das er Nelly Sachs widmet) beziehen sie sich wiederholt auf dieses Licht. In den wenigen Briefen, die sie über einen Zeitraum von drei Monaten Anfang 1968 austauschen – zu diesem Zeitpunkt ist ihr Verhältnis distanzierter –, kommen die beiden wieder auf dieses Licht zurück. Es dient ihnen als Chiffre für ein Gedenken an die Gräuel der Geschichte und die Qual der Überlebenden, sowie für die bedrohte, verletzbare Position der Kommunikation. Sachs beschwört das Licht als die Substanz einer gemeinsamen Erinnerung, einer flüchtigen und doch währenden Begeg-

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nung: »Wie oft bin ich im Geiste bei Euch, und dann das Gold über dem Wasser und in Deinem Zimmer!« (Celan/Sachs 1993: 93). Celan antwortet, »Meine liebe Nelly,/es war so gut Deinen Brief in Händen zu halten und von Dir selbst an das Licht erinnert zu werden, das in Zürich überm Wasser und dann in Paris aufschien. Einmal, in einem Gedicht, kam mir, über das Hebräische, auch ein Name dafür« (Ebd.: 94). Ein paar Tage später schreibt Sachs, »Paul, tiefen Dank für Dein Gedenken. Käme das Gold durch die Luft noch einmal aus dem Geheimnis. Es war so lange schwarz für uns beide, fühlte mit Dir durch alle Länder« (Ebd.). Nach mehreren Monaten des Schweigens ist es wieder Sachs, die schreibt, »Paul, lieber Paul, ist etwas Gold vom nirgendwo zu Dir gekommen, mit dem Herzen möcht ich es zu Dir schicken« (Ebd.: 95). Noch einmal bezieht sich Celan auf das Gedicht »Nah, im Aortenbogen«, indem er darauf beharrt, dass das Licht, an das sie sich erinnern, dort gleichsam eingraviert ist: »Meine liebe Nelly, hab Dank für Deine Zeilen, für die Erinnerung an jenes Licht. Ja, jenes Licht. Du wirst es genannt finden in meinem nächsten Gedichtband, der im Herbst erscheint, genannt – benannt mit einem hebräischen Namen«. (Ebd.)

Zweimal nennt Celan es »jenes Licht«, genau wie im Gedicht. Während das Bild des göttlichen Lichts kein erkennbares Geschlecht hat, beinhaltet die komplexe Rolle der Schechina in der jüdischen Tradition eine Problematisierung der Beziehung zwischen Geschlecht und schöpferischer Macht, wie auch Scholems Analyse verdeutlicht. Dieses Bild gleicht deshalb einem Kommentar zum Zusammenhang der Verantwortlichkeit dichterischer Schöpfung mit der Vermittlung der Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen. Die Frage des Geschlechts der Schechina unterstreicht ja die Fluidität ihrer Rollen, so dass das Weibliche sowohl zentral als auch liminal zu ihrer Existenz und Macht erscheint.2 Celans Betonung in seinen Briefen an Sachs, dass es »jenes« und nicht etwa »dieses« Licht ist, 2 | Während eine genauere Analyse den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, ist es doch wichtig zu bemerken, dass Celan mit den Werken einiger Denker, unter anderen Maurice Blanchot, »L’Espace littéraire«, Martin Buber, »Das dialogische Prinzip« und Emmanuel Levinas, »Totalité et infini: Essai sur l’extériorité« vertraut war, die sich auch mit Ethik und der Frage der Verantwortung, insbesondere im Hinblick auf die schwierigen Beziehungen zwischen Selbst und Gegenüber, auseinandersetzen.

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stellt eine notwendige Distanz her; das Licht mag sich nähern, aber es erreicht nie den Ort des Sprechenden oder des Angesprochenen. Wiederum manifestiert sich die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen an einer Trennungslinie, welche Unterschiede genauso markiert, wie sie versucht, Verständigung zu ermöglichen. So spürt das Gedicht den Grenzüberschreitungen eines Gedenkens und einer Kommunikation nach, die sich geschlechtlich äußern. Der ungeschlechtliche Körper des Sprechenden sieht sich dem Glanz des göttlichen Geistes ausgesetzt und durch ihn beglaubigt. Die Figur der Schechina verkündet ihr Geschlecht nicht und kehrt somit die konventionelle Markierung der Geschlechterverteilung um, die das Weibliche, als Partikulares, dem unmarkierten und so universellen Männlichen unterordnet. Als Behausung der Schechina ist der Körper nicht länger nur ein abgegrenzter und bestimmter Raum, die Trennungslinien zwischen Aktivität und Passivität verschwimmen in beiderseitigen Bemühungen einer Kommunikation, die Begrenzung des Selbst überwindend. Von der Autorin aus dem Englischen übersetzt

L ITER ATUR Celan, Paul/Sachs, Nelly/Wiedemann, Barbara (Hg.) (1993): Briefwechsel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Celan, Paul/Wiedemann, Barbara (Hg.) (2003): Die Gedichte: Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dresner, Samuel H. (1994): Rachel, Minneapolis, MN: Fortress Press. Pardes, Ilana (1992): Countertraditions in the Bible: A Feminist Approach, Cambridge, MA and London, England: Harvard UP. Kronfeld, Chana (1996): On the Margins of Modernism: Decentering Literary Dynamics, Berkeley and Los Angeles, CA and London, England: University of California Press. Felstiner, John (1995): Paul Celan: Poet, Survivor, Jew. New Haven and London: Yale UP. Halpern, Moshe Leib/Hellerstein, Kathryn (Hg.) (1982): In New York, Philadelphia, PA: Jewish Publication Society of America. — (1939): Zeks Shloflider, Tshernovits: A. Harnik. Scholem, Gershom (1991 [1962]): Von der mystischen Gestalt der Gottheit: Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Frankfurt a.M., Suhrkamp.

»Mister Holocaust 1989« und die göttliche Gaia Religiöse und soziale Scham in Alessandro Pipernos Roman »Con le peggiori intenzioni« Mirjam Bitter

»Unter der glitzernden Oberfläche des Romans gibt es einen Glutkern: das Gefühl einer niemals zu überwindenden Scham. Die Schamlosigkeit von Beby entspringt der Beschämung, ohne Verdienst überlebt zu haben, und die Familie schämt sich wiederum der so elendig umgekommenen Verwandten«, schreibt der Rezensent Tomas Fitzel über »Mit bösen Absichten«, die 2006 erschienene deutsche Fassung des Romans »Con le peggiori intenzioni«. Nicht nur die von Fitzel erwähnten jüdischen Figuren des Romans empfinden Scham, auch der antisemitische Nanni Cittadini schämt sich und erfindet, wie die jüdische Figur Karen Ruben, Ahnen – allerdings nicht, um den horror vacui zu bekämpfen, den die Nazis erzeugt haben, indem sie alle ihre Verwandten ermordeten (vgl. PI 169), sondern weil der Parvenu sich seiner nicht-adeligen Herkunft schämt (vgl. PI 268). Der in Italien 2005 bei Mondadori publizierte Roman ist das Debüt des jüdisch-katholischen Autors Alessandro Piperno, der an der Università Tor Vergata in Rom französische Literaturwissenschaft unterrichtet und 2000 einen langen Essay mit dem Titel »Proust antiebreo« (›Der antijüdische Proust‹) veröffentlichte. Pipernos erste belletristische Veröffentlichung erzählt mit autobiographischen Bezügen die Geschichte der römischen Familie Sonnino.

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Das Buch des bis dahin unbekannten Autors verkaufte sich innerhalb weniger Monate rund 250.000 Mal (vgl. Lippitz 2006), stand auf den Bestsellerlisten gleich hinter dem Papst, García Márquez und Dan Brown und erhielt zwei wichtige italienische Literaturpreise1 . Neben dem auf Provokation und Tabubruch angelegten Inhalt des Romans trug maßgeblich die Debatte in den Feuilletons zu diesem Verkaufserfolg bei. Hauptauslöser der Debatte war zum einen ein hoch lobender Artikel des einflussreichen Kritikers Antonio D’Orrico im Magazin des Corriere della Sera, der Piperno schon in der Überschrift als ›neuen Proust‹ feierte (D’Orrico 2005a: 68), zum anderen ein Verriss durch den Schriftsteller Aldo Nove in der Zeitung Liberazione, der den Roman als beruhigend, versöhnlerisch, konservativ und oberflächlich bezeichnete, da der Holocaust zum bloßen Vorwand für elegante Neurosen verkomme. Die Frage der sich anschließenden Debatte war allerdings weniger, ob man die Shoah auf diese Weise erinnern dürfe bzw. welche Konsequenzen eine solche Darstellung habe, als vielmehr, ob man einen Bestseller so verreißen dürfe, wie Aldo Nove dies getan hatte.2 Eigentlich diskussionswürdig wäre hingegen, dass und wie dieser hypertrophe Roman den Shoah-Diskurs mit Sexualität und religiösen Geschlechterbildern verwebt. Durch das Aufrufen dieser unterschiedlichen Diskurse werden auch verschiedene Formen der Scham ins Spiel gebracht, denen ich im Folgenden nachgehen werde. Dazu soll zunächst der unter den Geschlechterbeziehungen zu findende Subtext der Shoah herausgearbeitet werden, in dessen Zusammenhang auch die Thematisierungen von Scham und Schambewältigungsstrategien zu stellen sind.

1 | Piperno erhielt den Premio Viareggio und den Premio Campiello, beide werden für Erstlingswerke vergeben. 2 | Eine Zusammenfassung der Debatte findet sich auf den Seiten der italienischen Schriftstellergewerkschaft unter www.sindacatoscrittori.net/comunicazione/news2/piperno.htm (eingesehen am 02.08.2008) sowie auf den Seiten des Feltrinelli Verlages, vgl. www.feltrinellieditore.it/BlogItem?item_id=734 (eingesehen am 08.02.2008).

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S HOAH -D ISKURS UND G ESCHLECHTERBEZIEHUNGEN Der Ich-Erzähler Daniel Sonnino zeichnet im ersten Teil des Romans, beginnend mit dem jüdischen Großvater Bepy, nacheinander Porträts einzelner Familienmitglieder und bezieht viele Themen des Erinnerungsdiskurses zur Shoah auf Sexualität und Geschlechterbeziehungen. Der zweite Teil des Romans hebt sich durch eine Rahmenhandlung vom ersten Teil ab, in der der Ich-Erzähler kurz nach dem 11. September 2001 zu einem Kongress über »Jüdische Literatur heute« nach New York fliegt, sich dort mit seinem ehemaligen Klassenkameraden Giorgio trifft und auf dem Rückflug nach Italien beginnt, seine Geschichte niederzuschreiben. Auch hier wird aus dem Shoahdiskurs geläufiges Vokabular auf eher banale Situationen heranwachsender wohlhabender Snobs im Rom der 1980er Jahre angewandt. So beschreibt Daniel gleich zu Beginn die »antijüdischen Gesetze von 1938« als für seine jüdischen Großeltern Bepy und Ada Sonnino »alles in allem« »Dosis erotischer Frustration« (BA 17), es sei die Erotomanie, die Ada und ihren Ehemann ein Leben lang ›verbrannt‹ (»bruciato« PI 26)3 hätte, und es ist die Rede vom »verschwommenen Schuldbewusstsein Adas, der allein Überlebenden« (BA 31), das sich jedoch keineswegs auf die in der Shoah vernichteten Verwandten bezieht, sondern darauf, dass sie Bepy nicht zu einer Blasenoperation hatte überreden können. »Come aveva potuto permettere a quello sciagurato d’immolarsi sull’altare del suo insopportabile machismo? Perché aveva lasciato che quel corpo virile, coperto da uno strato di pelle ruvida e dura come una bisaccia – che l’aveva tanto eccitata sin dai tempi lontani in cui s’erano incontrati e uniti in piena campagna razziale, benedetti dalle bombe amiche degli ›alleati‹ – si disseccasse? Per l’ultima volta Bepy non solo aveva affrontato il passo estremo senza lasciarsi traversare dalla cupezza, né dalla stupida aridità dei Problemi Fondamentali, ma era quasi riuscito a persuaderci che la virilità fosse un bene per cui sacrificare la vita.« (PI 27, Hervorh. M.B.) 3 | Ich zitiere sowohl aus dem italienischen Original (PI) als auch aus der deutschen Übersetzung (BA). Eine Übersetzung stellt immer schon eine Interpretation dar; wenn meine Interpretation davon abweicht, muss ich also auf die italienische Fassung zurückgreifen. An dieser Stelle steht in der deutschen Übersetzung beispielsweise »verzehrt« (BA 29), was weniger Assoziationen zu Verbrennungsöfen wachruft als das italienische »bruciato«.

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[»Wie hatte sie es zulassen können, dass sich der Unglückliche auf dem Altar seines unerträglichen Machotums opferte? Warum hatte sie es geschehen lassen, dass dieser männliche Körper mit seiner satteldeckenrauen Haut – die sie so sehr erregt hatte, von den fernen Tagen an, als sie einander mitten in der Rassenkampagne begegnet und, von den Freundesbomben der Alliierten gesegnet, ihre Verbindung eingegangen waren – der Ausdörrung anheim fiel? Zum letzten Mal hatte Bepy nicht nur den äußersten Schritt getan, ohne sich von düsteren Gedanken, von der dummen Dürre grundlegender Probleme berühren zu lassen, es war ihm beinahe auch gelungen, uns davon zu überzeugen, dass die Männlichkeit ein Gut sei, dem man sein Leben opfern könne.« (BA 31, Hervorh. M.B.)]

Mit diesen Worten endet das erste Kapitel des Romans. Worte wie Altar, Opfer und Segen zeigen die den Roman bestimmende religiöse Metaphorik und Sprache. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Shoah selbst im Roman zwar kaum explizit erwähnt wird. Sie stellt jedoch keine vollkommene Leerstelle dar, sondern schwingt latent sehr wohl mit. Ein Hinweis darauf könnte in diesem Fall sein, dass die »grundlegende[n] Probleme« im Italienischen durch Großschreibung betont und quasi zu einem feststehenden Begriff erhoben werden. Das lässt sich als eine Art Scham lesen, diese allseits bekannten »Probleme« beim Namen zu nennen – oder aber als indirekte Kritik an einer Familientradition und einer Gesellschaft, welche die Shoah soweit verdrängt, dass sie diese hinter verharmlosenden, weil abstrakt bleibenden Begriffen verbirgt. Schon auf der sechsten Seite des Romans wird – wieder durch Großschreibung, die in diesem Fall auch in der Übersetzung auftaucht – auf Primo Levi angespielt: »O come se quella follia di diabolica malvagità che s’era abbattuta sui Sommersi avesse autorizzato i Salvati a una disinvoltura spregiudicatezza: era per questo – solo per questo? – che non esisteva un solo individuo nel milieu di Bepy e Ada che non si sentisse autorizzato a violare i precetti borghesi, avanzando sessuali profferte alla moglie del migliore amico o alla figlia minorenne del collega più caro?« (PI 16, Hervorh. M.B.) [»Oder als ob der Wahnsinn des diabolischen Bösen, der über die UNTERGEGANGENEN hereingebrochen war, den GERET TETEN eine unbefangenere Skrupellosigkeit zugestanden hätte: Gab es deshalb – allein deshalb? – im Milieu von

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Bepy und Ada keinen einzigen Mann, der sich nicht dazu berechtigt gefühlt hätte, die bürgerlichen Gesetze zu verletzen, indem er der Frau seines besten Freundes oder der minderjährigen Tochter seines liebsten Kollegen sexuelle Avancen machte?« (BA 17f.)]

Damit wird nicht nur auf Levis letztes Buch über die nationalsozialistischen KZs, »I sommersi e i salvati« (1986, dt. »Die Untergegangenen und die Geretteten« 1990), angespielt, sondern auch auf das gleichnamige Kapitel in Primo Levis Auschwitzschilderungen »Se questo è un uomo« (1958)4 . Mit intertextuellen Bezügen zu Dantes »Göttlicher Komödie« schreibt Levi darin über Auschwitz: »Questo è l’inferno.« (Levi 1958: 19), »das ist die Hölle«. In Pipernos Roman bezieht sich »Questo era l’inferno.« (PI 277) hingegen auf den Liebeskummer der von David Ruben verlassenen Gaia, von der noch die Rede sein wird. Auch die Aussage: »non c’è niente di più incomunicabile d’una pena amorosa« (PI 285)5, ist vor dem Hintergrund der Debatte über die Darstellbarkeit von Auschwitz und das sogenannte ›Unsagbare‹ eine Provokation. Für Leser/-innen, die bei Inferno nicht sofort an Primo Levi denken, ist der Zusammenhang zu KZs auch innerhalb des Romans gegeben, da etwa einhundert Seiten zuvor das »inferno« (PI 168) Karen Rubens mit dem »unaussprechlichen« (»impronunciabile«) Namen »Buchenwald« (Ebd.) bezeichnet worden war. Die provokative Mischung aus tabulosen Schilderungen von Sexualität mit religiös konnotierten Begriffen sowie die Verwendung des Höllenbegriffes für den Liebeskummer einer Heranwachsenden muss nicht allein als Provokation um der Provokation willen gelesen werden: Sie trägt auch dazu bei, einen oberflächlichen philosemitischen sowie sakralisierenden Erinnerungs- und Schambewältigungs-Diskurs aufzubrechen. Denn statt eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Shoah und den Folgen für unsere heutige Zeit zu befördern, wird er im Gegenteil eher aufrechterhalten, um diese zu vermeiden. Die inflationär und häufig sinnentleert verwendete Höllenmetaphorik ist fragwürdig, wenn sie (anders als

4 | Die Erstveröffentlichung von 1947 wurde kaum wahrgenommen, 1958 wurde das Buch dann in leicht veränderter Fassung bei Einaudi publiziert (vgl. von der Lühe 2005: 255); die deutsche Fassung »Ist das ein Mensch?« erschien 1961. 5 | »Ja, es gibt nichts, das sich so wenig mitteilen lässt, wie ein Liebeskummer.« (BA 338)

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bei Primo Levi6) unreflektiert bleibt (vgl. von der Lühe 2005: 259): Die in Dantes »Inferno« anzutreffenden Figuren sind schließlich durch eigenes Verschulden dorthin gelangt, was von den KZ-Insassen keineswegs gesagt werden kann. Die Ironisierung von Adas Schuldgefühlen kann als Kritik daran gelesen werden, dass die Konzentration auf die Scham- und Schuldgefühle der Überlebenden den Blick von den eigentlich schuldig gewordenen Täter/-innen ablenkt, bei denen Schuldgefühle viel stärker angebracht wären.7 Darüber hinaus kritisiert Ruth Klüger in ihrem Aufsatz über KZ-Kitsch die Rede vom ›Unsagbaren‹, schließlich war das Vergangene in der unmittelbaren Nachkriegszeit »nur allzu vorstellbar, darum war es bedrückend. Erst später wurde es durch den Heiligenschein seiner Unsagbarkeit, also durch eine Kitsch-Aura, verklärt« (Klüger 2006: 55). Die so zu Heiligem erhobene Shoah ersetze das Antlitz und den Namen Gottes, weshalb das sogenannte ›Unaussprechliche‹ und ›Unvorstellbare‹ »keinem Wirklichkeitsanspruch, sondern der Tabuisierung des Themas für literarische oder künstlerische Aufarbeitung« diene (Ebd.: 66f.). Im zweiten Teil des Romans wird durch das Wort ›Untergehen‹ schon vor der Schilderung von Daniels persönlichem »Holocaust« (BA 233) die peinlich-beschämende Szene eines anderen Jugendlichen seiner Clique mit der Shoah verknüpft. Giorgio lässt nämlich, ausgerechnet als die von ihm angebetete Diamante auf seine Annäherungsversuche eingeht, einen für alle hörbaren Furz fahren, woraufhin das allgemeine Lachen ihn im Pool untergehen lässt (»lo sommerse« PI 189). Dass diese Anspielung auf Primo Levi durchaus gewollt ist, lässt auch die in Bezug auf Swimming Pool-Szenen von Heranwachsenden eher unübliche Vokabel der ›Verjährung‹ vermuten: »Perché certe adolescenziali figure di merda non cadono in prescrizione.« (PI 189)8 6 | Butzer verdeutlicht, wie die bei Dante gegebene Einheit von Topographie und Topik bei Levi grundlegend zerstört und stattdessen die Willkürlichkeit der in den Lagern geltenden Topik herausgestellt wird (Butzer 2002: 57). 7 | Demmerling/Landweer betonen, dass für das Verständnis sogenannter ›Überlebensschuld‹ die »Unterscheidung von ›Schuldig sein‹ und ›Sich schuldig fühlen‹« unverzichtbar sei (Demmerling/Landweer 2007: 239). 8 | »Und gewisse scheiß Figuren, die man in seiner Jugend macht, verjähren nicht.« (BA 222)

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Giorgio, der nur eine von mehreren Figuren ist, in denen der Icherzähler sein Gefühl der Scham über die eigene Unzulänglichkeit spiegelt, ist es dann auch, der etwa zehn Seiten später Daniels beschämenden Auftritt bei Gaias 18. Geburtstag explizit mit der Shoah in Verbindung bringt – und zwar als Vorwurf, dass »die Juden« immer alles mit der Shoah in Verbindung bringen würden: »[Giorgio:] ›Ne conosco di tipi come te. […] Hanno tutti il tuo profilo da formichiere e le lenti degli occhiali rigate. Sempre pronti a mandare in avanscoperta i vostri libri, la vostra sensibilità, e gli ebrei e l’Olocausto e tutte queste altre puttanate …‹ [Daniel:] ›Che c’entra l’Olocausto?‹ [Giorgio:] ›… E pretendete pure che gli altri vi rispettino. Perché poi? Hai più diritti di noi? Perché se Diamante mi dà buca è normale, ha le sue ragioni e tutto il diritto di scegliere … Mentre se Gaia rifiuta lui, il Signor Sensibilità, il Signor So Tutto Io, Mister Olocausto 1989, lo fa per motivi oscuri, reconditi, perché è una mignotta, una pompinara antisemitica. […] Tu volevi arraffare solidarietà. Volevi dimostrarci che Lei era cattiva, che Lei ti aveva ingannato, che ti aveva portato all’esasperazione, che Lei era il male assoluto … Te lo ricordi quando hai osato paragonarla ad Adolf Hitler? […] Via, Daniel, conosci parole quali ›vergogna‹, ›dignità‹, ›decoro‹?‹« (PI 197f.) [»[Giorgio:] ›Ich kenne solche Typen wie dich. […] Sie haben alle dasselbe Profil wie du, wie ein Ameisenbär, und zerkratzte Brillengläser. Stets bereit, eure Bücher loszuschicken, auf eure Sensibilität zu pochen, und die Juden und der Holocaust und all das andere scheiß Zeug …‹ [Daniel:] ›Was hat das mit dem Holocaust zu tun?‹ [Giorgio:] ›… Und ihr erwartet auch noch, dass euch die anderen respektieren. Warum eigentlich? Hast du mehr Rechte als wir? Auch wenn Diamante mich abblitzen lässt, das ist normal, sie hat ihre Gründe und das Recht zu wählen … Aber wenn Gaia ihn wegschickt, den Herrn Höchstempfindlich, den Herrn WeißIchDochAlles, den Mister Holocaust 1989, dann tut sie das aus obskuren, verborgenen Gründen, weil sie eine Nutte, eine antisemitische Schwanzleckerin ist. […] Du wolltest Solidarität erzwingen. Wolltest uns beweisen, dass Sie die Böse war, dass Sie dich betrogen hatte, dass Sie dich zur Verzweiflung getrieben hatte, dass Sie das absolute Böse war … Erinnerst du dich noch, dass du gewagt hast, sie mit Adolf Hitler zu vergleichen? […] Geh, Daniel, kennst du überhaupt Wörter wie ›Schamgefühl‹, ›Würde‹, ›Anstand‹?‹« (BA 233f.)]

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Obwohl man Scham und Schuld eigentlich auf der Täter/-innenseite erwarten sollte, fällt die Frage nach dem (fehlenden) Schamgefühl im Rahmen dieser offen antisemitischen verbalen Attacke Giorgios. Auch die einzige explizite Nennung des Holocaust in dem 300 Seiten umfassenden Roman ist in dieser Figurenrede Giorgios zu finden. Hier fragt Daniel zwar, was denn der Holocaust mit all dem zu tun habe, an vielen anderen Stellen ist jedoch die Projektion der Shoah auf Geschlechterbeziehungen und die Erwähnung seiner großen Nase dem Icherzähler Daniel selbst zuzuschreiben.

D AS G EFÜHL DER S CHAM Im obigen Zitat finden sich verschiedene Dimensionen der Schamthematik. Insbesondere handelt es sich um eine Verquickung von Scham, einerseits zu den Nachkommen der ›Opfer‹ zu gehören und durch antisemitische Stereotype wie die große Nase und die Brille des Intellektuellen immer wieder in diese Genealogie eingeordnet zu werden, und andererseits nicht als Mann und Sexualpartner anerkannt zu werden. Die Scham auslösende Figur, die – zumindest nach Giorgios Aussage – von Daniel als Täterfigur empfunden wird, ist deshalb eine weibliche, nämlich Gaia Cittadini, die Enkelin Nannis, des ehemaligen Geschäftspartners von Daniels Großvater Bepy. Schon bei Daniels Beschreibung seines ersten Kontakts mit dem weiblichen Geschlecht als 14-Jähriger bei einem Englandaufenthalt, erinnert ihn das deutsche Mädchen, mit dem er dort tanzt, an Eva Braun mit ihrem frischen teutonischen Dekolleté und die Tanzpartnerin seines älteren Bruders lässt ihn an engelsgleiche Rotkreuzlerinnen der Hitlerjugend denken (vgl. PI 118). Dass Gaia nicht nur mit Hitlers Geliebter, sondern mit Hitler selbst verglichen wird und schließlich mit dem Bösen schlechthin, liegt am Umschlagen ihrer vorherigen Vergötterung durch Daniel, auf die noch das großgeschriebene »Lei«/»Sie« (wie bei der Anrede des Herrn in der Bibel) im obigen Zitat verweist. Als gefallener Engel wird sie wie Luzifer zum Teufel. Daniel lernt Gaia kennen, nachdem er gerade von seinem aufwühlenden Englandurlaub zurückgekehrt ist. Vom Boot steigend, ist sie »einer Pontormo-Madonna ähnlich« (BA 238). Ihre Wirkung auf Daniel wird verstärkt durch die Erwartung von Gaias Ankunft, die die ganze Villa Nanni

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Cittadinis erfüllt (vgl. PI 207f.) und in deren Beschreibung Gaia u.a. mit »Aphrodite« und einer »abwesende[n] Göttin« (BA 245) verglichen wird. Ihre geschlossene Zimmertür, die von Daniel u.a. als »Klagemauer« (BA 248) bezeichnet wird, scheint ein »Geheimnis« (BA 246) zu verbergen, wobei das italienische »mistero« (PI 209) auch ›Mysterium‹ anklingen lässt. Analog zum gigantischen Ausmaß der Shoah, die Daniels Scham als ›Opfer‹ auslöst, konstruiert der infantil männliche Icherzähler also eine gigantische Frauenfigur: die göttliche Gaia. An einer anderen Stelle im Roman heißt es: »Die Erwartung ist Gott. Es gibt keinen anderen Gott außer der Erwartung. Die Erwartung erklärt alles. […] Warum wir uns von etwas verführen lassen, das in sich nicht verführerisch ist.« (BA 254) Gaia an sich, das junge Mädchen aus Fleisch und Blut, wäre nicht verführerisch. Es ist das imaginäre Weibliche, das Daniel in seiner Erwartung auf sie projiziert. Passend dazu hat Gaia als einzige Figur dieses autobiographisch inspirierten Romans kein Vorbild in der Realität (vgl. D’Orrico 2005b: 18). Silvia Bovenschen hat bekanntlich schon 1979 in ihrem Buch »Die imaginierte Weiblichkeit« das Auseinanderklaffen zwischen den Bildern des Weiblichen und der Geschichte der realen Frauen ausführlich beschrieben. Über die »Idealisierung des Weiblichen« (Bovenschen 1979: 30) schreibt sie: »Aber all dies spielt sich nur in der Idee ab, in der Realität gilt diese Größe nichts: Gaia am Spülstein.« (Ebd.: 31f.) Die Gegensätze, die Bovenschens Formulierung »Gaia am Spülstein« vereint, kehren auch im Namen der Figur Gaia Cittadini wieder: einerseits göttlich, andererseits bürgerlich. ›Gaia‹ ist die Urmutter der griechischen Mythologie, die Erde in Göttergestalt. ›Cittadini‹ hingegen bedeutet wörtlich ›Bürger‹ oder ›Städter‹. Der Roman thematisiert diesen Nachnamen mehrmals an der Figur des Parvenus Nanni Cittadini, der sich lieber mit dem aristokratischen Namen seiner Frau Sofia Altavilla schmücken würde (vgl. u.a. PI 266f.). Auch Gaia trägt also diesen eindeutig bürgerlichen Nachnamen, vom Erzähler betont, als er sich »die Mutter aller Fragen« (BA 248) stellt: »Was wird Gaia Cittadini von mir denken? (Und wer weiß, warum der Nachname unerlässlich scheint.)« (BA 248). Genau diese Frage sei, so der Erzähler weiter, das Problem und die Ursache von allem was folgte, dieses Angewiesensein auf das Urteil einer anderen, statt umgekehrt zu fragen, was er von den anderen denke.

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Mit der Ansicht der anderen ist auch das Gefühl der Scham verbunden. Scham bezieht die Idee des Blicks mit ein (vgl. u.a. Sartre 1952; Wurmser 1981; Williams 1993; Landweer 1999; Demmerling/Landweer 2007), ob dies nun der Blick eines realen oder eines bloß vorgestellten Anderen ist. In gewohnt übersteigerter Weise schreibt der Icherzähler Gaia eine Blickmacht zu, die von ihm als (islamistischer) Terror empfunden wird. So lässt sich die folgende Romanpassage als groteske Anspielung auf bekannte Schamtheorien lesen, fühlt sich Daniel (der als Intellektueller sicher Sartre gelesen hat) doch durch Gaias Blick zum Objekt degradiert: »L’universo maschile, attraverso il suo sguardo, si riduceva al catalogo di una clinica estetica […]. In quei momenti la mia immagine – che esisteva malgrado me, che mi si ribellava contro, che mi prendeva in giro mio malgrado, che non sarebbe mai potuta essere altro che se stessa, sulla quale non mi era consentito esercitare alcun controllo – si sbriciolava dentro di me come un grattacielo demolito.« (PI 233f.) [»Das männliche Universum zog sich unter ihrem Blick zum Katalog einer kosmetischen Klinik zusammen […]. Mein Bild – das gegen meinen Willen existierte, das gegen mich aufbegehrte, das sich gegen meinen Willen über mich lustig machte, das nie etwas anderes würde sein können als es selbst, auf das ich keinerlei Kontrolle ausüben durfte – zerbröckelte in solchen Momenten in mir wie ein demolierter Wolkenkratzer.« (BA 275f.)]

Daniel tritt hier also durch den Blick der Anderen zu sich selbst in Differenz und steht seinem Bild gegenüber, über das er keine Kontrolle ausüben kann. Der »demolierte[] Wolkenkratzer« ist ein Rückverweis auf den in der Rahmenhandlung des zweiten Romanteils thematisierten 11. September 2001.9 Wenn Daniel Gaia einige Seiten später als verwegene »Eva postmoderna« (PI 237) betitelt, wird neben soziologischen Theorien der Scham nun zusätzlich die biblische Geschichte des Sündenfalls und somit religiöse Thematisierung der Scham in den Roman eingespielt. Schließlich brachte der 9 | Über die in den Roman eingestreuten Bezüge zu islamistischem Terror (vgl. etwa »fatwa« (PI 291), »Jihad« (PI 77)), ließe sich vermutlich eine eigene Untersuchung anstellen.

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Sündenfall die Scham erst in die Welt.10 »Der Rahmen zu dieser Geschichte, der dem Mythos von der Austreibung vorangeht und ihn beendet, ist die ›Namensgebung‹.« (Wurmser 1990: 90) Analog zu ihrer außergewöhnlichen Blickmacht schreibt der Ich-Erzähler Gaia auch die Macht der Benennung zu, denn als sie ihn beim Namen ruft, hat es für Daniel eine ähnlich erlösende und vereinnahmende Wirkung wie der Ruf Gottes in Jesaja 43,1 (vgl. PI 217). Allerdings ist Gaia »wie der calvinistische Gott, der Gnade verleiht oder verweigert, je nach seinem unanfechtbaren Willen. Na gut, wie sehr es auch nach einer Aporie aussehen mag, in dem Augenblick gelang es mir, die Vorstellung, dass Gaia mich als einen Mann ihrer Gattung in Betracht zog, mit der in Einklang zu bringen, dass sie mich nie als einen Mann ihrer Gattung in Betracht ziehen würde« (BA 273). Das, worum Daniel »nicht den Mut hatte, sie zu bitten«, ist, ihn »als Mann ihrer Gattung in Betracht zu ziehen. Dass sie mich gesellschaftlich höher heben sollte. Dass sie mir ihren blauen Schlüssel zum Paradies aushändigte. Dass sie mir den Aufstieg garantierte, den ich zu verdienen glaubte« (BA 273f.). Das in der italienischen Fassung verwendete Wort für Aufstieg, nämlich »upgrade« (PI 232), fällt durch den Anglizismus aus der sonstigen Tongebung des Romans heraus und wird so nicht nur betont, sondern auch aus der religiösen, metaphysischen Sphäre herausgelöst. Deutlich wird hier die Erhebung zu Gott, der Schlüssel zum Paradies mit sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Stellung parallelisiert. Soziale Schwäche wird sowohl in der psychoanalytischen Studie Léon Wurmsers (vgl. 1990: 46f.) als auch in der soziologischen Sighard Neckels (vgl. 1991: 17) als einer der häufigsten Gründe für Schamgefühle genannt. Obwohl im ersten Teil des Romans der ökonomische Niedergang der Fa10 | »Im Gegensatz zum Christentum kennt die jüdische Religion die ›Erbsünde‹ nicht. Dementsprechend gilt die Gestalt der Eva als Urmutter, die ›Mutter aller Lebendigen‹, und nicht als Verkörperung des Sündenfalls und der Verführung wie im Christentum. Für die jüdische Religion ist die Sexualität selbst auch nicht sündhaft«, erklärt Christina von Braun (2001: 528f.). Daniel hat zwar einen jüdischen Vater, seine Mutter hingegen ist katholisch, zudem ist er im katholischen Italien aufgewachsen. An anderer Stelle erwähnt er auch seinen »Catto-Ebraico Senso Di Colpa« (PI 197), sein katholisch-jüdisches Schuldbewusstsein, weshalb Eva hier m.E. sehr wohl den Sündenfall evoziert und auch das semantische Feld der Sexualität.

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milie Sonnino beschrieben wird, hatte sich der Erzähler Daniel immer für privilegiert gehalten, bis sich sein Wohlstand durch den Kontakt mit den Cittadinis und den Rubens relativiert, er das »übermenschliche[] Gesetz der Relativität« (BA 257) kennenlernt. Nun entwickelt er plötzlich »ein Gefühl des Ungenügens« (BA 259).11 Als Scham abwehrende Deckaffekte benennt Wurmser unter anderem Liebe, Mystifizierung und Schamlosigkeit (vgl. Wurmser 1990: 302-335). Sofern sich psychoanalytische Konzepte auf Romanfiguren anwenden lassen,12 könnte man also sagen, Daniel verliebe sich aus Schamabwehr in Gaia. Der ganze zweite Romanteil trägt schließlich den vielsagenden Titel: »Quando l’invidia di classe degradò in disperato amore« (PI 157).13 Da Daniel Gaia aber zur Göttin erhebt, ›beerdigt‹ er ihr gegenüber seine Männlichkeit (vgl. PI 225) und ernennt sich selbst zum »Sovrintendente Alla Castità di Gaia Nonché Guardiano Dei Suoi Santi Orifizi« (Ebd.), zum »Superintendenten von Gaias Keuschheit und Wächter ihrer heiligen Öffnungen« (BA 265). Weil er Gaia nicht als menschliches und somit geschlechtliches Wesen wahrnimmt, merkt Daniel auch als letzter, dass Gaia Cittadini und sein Freund David Ruben, die beiden schönsten und reichsten Jugendlichen des Viertels, ein Paar sind, obwohl er dafür »viele Wirklichkeiten […] hatte verklären müssen, um [s]ich vor den unerträglichen Wahrheiten zu schüt11 | Demmerling/Landweer, die Scham vornehmlich als ›akute Scham‹ verstehen, weisen darauf hin, dass eine »Häufung von Schamsituationen« die Tendenz habe, Scham u.a. in Minderwertigkeitsgefühle umzuwandeln (Demmerling/Landweer 2007: 220). 12 | Mieke Bal folgend, geht Marion Gymnich davon aus, »dass Figuren insofern durchaus Ähnlichkeit mit realen Personen aufweisen, als sie in Analogie zu Personen konstruiert werden. Damit erscheint auch die gerade in der Gender-orientierten Literaturwissenschaft häufig anzutreffende Bezugnahme auf soziologische und psychologische Theorien bei der Figurenanalyse im Prinzip zulässig« (Gymnich 2004: 128). Der Autor Alessandro Piperno hat sich in jedem Fall mit Psychoanalyse auseinandergesetzt, wie zahlreiche Anspielungen auf Freud im Roman (vgl. u.a. PI 48) oder seine eigene (abgebrochene) psychoanalytische Therapie (vgl. Brocardo 2005) zeigen. 13 | »ALS DER KLASSENNEID IN EINE VERZWEIFELTE LIEBE AUSARTETE« (BA 185)

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zen, die in dem kommerziellen Sigel Gaia & Dav enthalten waren« (BA 321f.). Der schon auf den vorigen Seiten im kaufmännischen ›Und‹-Zeichen zwischen »Gaia & Dav« enthaltene Bezug zur Ökonomie wird hier expliziert. Wie die Ironie es will, merkt Daniel diese Verbindung erst kurz bevor die beiden sich schon wieder trennen bzw. David Gaia verlässt. Das immer noch lieben, aber nicht mehr zurückgeliebt werden, ruft bei Gaia nun erstmals Scham hervor; und Daniel empfindet, was mit Hilge Landweer als »Mitscham« (Landweer 1999: 126) bezeichnet werden könnte, allerdings vornehmlich, weil ein Makel auch auf ihn selbst fällt: »Ja, ich war der kleine Fisch, der täglich von Gaia verschlungen wurde, die ihrerseits von Dav in Stücke gerissen wurde.« (BA 339f.)

S CHAMBE WÄLTIGUNGSVERSUCHE »Questa è la storia della festa di Gaia, passata agli annali – con il mio determinante contributo – come la più disastrosa e indimenticabile. Questa è la storia della mia fine. Della mia fallita rivoluzione. Delle mie dimissioni da figlio di papà. Questa è la storia del secondo ebreo giustamente crocifisso da un’oligarchia di romani. Questa è la storia della mia crocifissione, dopo la quale non sarei mai potuto risorgere. Questa è la storia della mia cacciata dall’Eden: la storia che sin dal principio io m’ero proposto di raccontare, prima di perdermi in un labirinto d’inutili dietrologie.« (PI 223) [»Das ist die Geschichte von Gaias Fest, mit meinem entscheidenden Beitrag in die Annalen eingegangen als das katastrophalste und unvergesslichste. Das ist die Geschichte meines Endes. Meiner gescheiterten Revolution. Meines Abschieds als Sohn eines reichen Vaters. Das ist die Geschichte des zweiten Juden, der von einer römischen Oligarchie zu Unrecht gekreuzigt wurde. Das ist die Geschichte meiner Kreuzigung, nach der ich nie mehr auferstehen konnte. Das ist die Geschichte meiner Verweisung aus dem Garten Eden: die Geschichte, die ich von Anfang an erzählen wollte, bevor ich mich in einem Labyrinth vergeblicher Rückblicke verirrte.« (BA 263f.)]

So leitet Daniel seine Erinnerungen an die Gaia-Geschichte im letzten Kapitel des Buches ein und stilisiert sich dabei selbst als Jesus Christus und Adam zugleich, als Revolutionär und ödipaler Rebell, der aus der eigenen (männlichen) Familiengenealogie austritt.

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Gaias Fest, ihr 18. Geburtstag, findet 1989 statt, das Jahr in dem Daniel nach Giorgios Aussage »Mister Holocaust« wurde. Seine »Kreuzigung« und sein persönlicher »Holocaust« hängen also mit der anschließend geschilderten Zerstörung des Madonnenbildes und dem Eindringen in die heiligen Hallen der Gaia sowie der darauf folgenden Verweisung aus der Villa Cittadini zusammen, die das ganze römische Parioli-Viertel in Aufruhr versetzt: An Gaias Geburtstag betritt der wegen eines Drohbriefes an Gaia gar nicht erst eingeladene Daniel sturzbetrunken und begünstigt vom ›Wunder seiner Unsichtbarkeit‹ (vgl. PI 295) die Villa der Cittadini und zerstört dort die Reproduktion eines teuren Madonnenbildes (vgl. BA 351), dessen Beschreibung im ersten Teil des Romans die Stereotype der Heiligen und der Hure vereint und das sich durch die mehrfachen Vergleiche Gaias mit einer Pontormo-Madonna auf die Figur der Gaia beziehen lässt. Diese Zerstörungswut, deren nach außen drängende leibliche Richtung dem Engungsgefühl der Scham entgegengesetzt ist, lässt sich als Schambewältigungsversuch werten, gehören Zorn und Scham doch affektdynamisch zusammen (vgl. Demmerling/Landweer 2007: 221). Als »äußerste[] Wallfahrt« (BA 347) macht Daniel sich dann zu Gaias Zimmer, den »heiligen Orte[n]« (BA 346) auf. Das Zimmer erscheint ihm kleiner und gewöhnlicher als erwartet, und als er ihr Bad betritt, wundert er sich, dass dieser Ort in seiner Phantasie nie existiert hatte. Sein Fehler war die Vorstellung, »dass Gaia keine Frau sei« (BA 354). Nun bringt ihn aber auf Proust’sche Art der mémoire involontaire der Geruch ihrer benutzten Unterwäsche um Jahre zurück zu seinem Englandaufenthalt und zu Henry Millers Ausspruch, »Die Möse ist international! […] Sie haben alle – in feinen Nuancen – genau denselben Geruch, der jegliche Metapher auslöscht und die Metaphysik verbietet« (BA 355). Mit der Volljährigkeit und dem vorherigen Verlust der Jungfräulichkeit schlägt Gaia endgültig in eine gewöhnliche Cittadini um: Sie ist doch ein Mensch und doch geschlechtlich. Die vielfachen, auch widersprüchlichen Bezüge und Vergleiche (mit biblischen Figuren, heidnischen Göttinnen, dem jüdisch-christlichen Gott, aber auch mit Adolf Hitler und dem absolut Bösen), mit denen die GaiaFigur im Laufe des Romans belegt wird, zeigen anschaulich die »Leerform ›Weiblichkeit‹« (Bovenschen 1979: 76), die je nach Kontext und Anliegen anders gefüllt werden kann. Die durch Gaia ausgeübte Faszination auf Daniel verweist zudem auf jene Faszination, die von Täter/-innenfiguren aus-

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zugehen scheint (wie u.a. der aktuelle Boom solcher Figuren in Literatur und Film zeigt). Da das Weibliche sich traditionell eben nicht nur zur Idealisierung, sondern auch zur Unterwerfung eignet, kann der notorische Verlierer Daniel am Ende doch noch die »patriarchale Dividende« (Connell 1999: 100) ausnutzen, selbst zum Täter und somit zum Handelnden werden und sich als einzelnes historisches Subjekt, das mit seiner Szene für immer im kollektiven Gedächtnis des Viertels präsent sein wird, über die international ununterscheidbaren, letztlich auf ihre Sexualität reduzierten Frauen erheben. Während die Daniel-Figur von 1989 ihre schamlose Geste und den dadurch ausgelösten Aufruhr als beschämend empfindet, präsentiert der Erzähler Daniel, der 2001 die Geschichte aufschreibt, diese Schamlosigkeit als zwar »leicht lächerlich[es]« (BA 328) aber dennoch erfolgreiches Modell der Selbstbefreiung. Im Schreiben deutet er seinen persönlichen Holocaust zu seiner Selbstermächtigung gegenüber der Scham auslösenden Figur Gaia um – dies skeptisch zu sehen, bleibt den Leser/-innen überlassen.

S CHLUSS Im vorliegenden Roman versteckt sich eher der Subtext Shoah unter den Geschlechterbildern als umgekehrt. Je nach Lesart können entweder die (religiös tradierten) Geschlechterbilder als Material für eine Auseinandersetzung mit der Shoah begriffen werden, oder aber man liest die Bezüge zur Vernichtung des europäischen Judentums und zu NS-Täter/-innen als Bilder für die Auseinandersetzung mit der »zweite[n] ›Krise der Männlichkeit‹« (von Schnurbein 2001: 11) – spielt der Roman doch in den 1980er Jahren und sah schon Bepy in der »Männlichkeit ein Gut, dem man sein Leben opfern könne« (BA 31).14 So gelesen, resultiert Daniels Scham nicht 14 | Mein Dank gilt Stefanie von Schnurbein, die während der fruchtbaren Diskussion im Konferenz-Panel »Geschlechtercodes der Religionen« meinen Blick für diese Lesart geschärft hat. Connell hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Rede von der ›Krise der Männlichkeit‹ ein kohärentes System Männlichkeit voraussetzt, das als solches gar nicht existiert. Hegemoniale, okzidentale Männlichkeit als normatives Ideal ist nur eine Konfiguration der insgesamt durch eine »Kri-

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vornehmlich aus gegen ihn gewendeten antisemitischen Stereotypen oder seinem »KLASSENNEID« (BA 185), sondern vor allem aus seiner »Angst, kein Mann zu sein« (BA 84), die noch vor seiner Angst genannt wird, »dass [s]eine Nase nicht aufhört zu wachsen« (Ebd.). Diese Angst um die Männlichkeit führte in Daniels Projektion somit zu weiblichen Täterfiguren. In beiden Fällen verharren die weiblichen Figuren, im Gegensatz zu den komplexeren männlichen Figuren, die verschiedene Männlichkeiten darstellen – welche (ganz im Sinne der Debatte um Intersektionalität/ Interdependenz)15 immer schon mit Klassenzugehörigkeiten, Sexualitäten oder verschiedenen Graden von Zugehörigkeitsgefühl zum Judentum verwoben sind –, leider stark in den dichotomen Stereotypen der Heiligen und der Hure. Dies könnte, wenn man beim Lesen den Fokus auf die Thematisierung der Shoah legt, den bilderstürmerisch auftretenden Roman durch das »Sicherheitsversprechen« (Wenk 2002: 291) des ›immer schon so Gewesenen‹ letztlich unpolitisch machen. Bei aller Reflektiertheit des Romans – dessen Autor und intellektueller Erzähler Daniel geradezu mit akademischen Leser/-innen zu rechnen scheinen, die alle von ihnen eingespielten Diskurse wieder herausfiltern – bleibt der Schambewältigungsversuch doch sehr traditionell patriarchal, ohne dass dies romanintern problematisiert würde.

sentendenz« gekennzeichneten Geschlechterordnung, deren »Krisenanfälligkeit« sich insbesondere an Machtbeziehungen, Produktionsbeziehungen und emotionalen Bindungsstrukturen und deren Veränderungen analysieren lassen (Connell 1999: 105-107). Auch von Schnurbein weist darauf hin, dass »[d]as, was sich um die Jahrhundertwende [vom 19. zum 20. Jahrhundert] erstmals als ›männliche Identität‹ diskursiv formiert, […] von Anfang an ›krisenhaft‹ konstituiert [ist]« (von Schnurbein 2001: 10). Parallel zum Diskurs der Jahrhundertwende trat die ›Krise der Männlichkeit‹ in den 1980ern durch gesellschaftliche Krisendiskurse – wie etwa die Enttäuschung über die Stagnation der 1968er-Bewegung, ökonomische und ökologische Umbrüche und Probleme sowie eine wieder erstarkte Frauenbewegung – erneut besonders zutage (vgl. Ebd.: 11). Laut Neckel wird zudem die Selbstdarstellung als souverän in den 80ern immer relevanter. Misslingt diese, entsteht Scham (Neckel 1991: 174). 15 | Vgl. stellvertretend für das weite Feld der Interdependenzdebatte Walgenbach et al. 2007.

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Wer allerdings die Thematik der ›Männlichkeitskrise‹ mit in den Blick nimmt, wird daran erinnert, dass es der »Schmerzensmann«16 Daniel ist, der uns diese Frauenbilder präsentiert. Nun ist der schnüffelnde und öffentlich masturbierende Strumpfhosendieb Daniel nicht nur kein Sympathieträger, er ist auch ein eher unzuverlässiger Erzähler17, wie schon am Beispiel seiner Wirklichkeitsverklärung im Bezug auf »Gaia & Dav« (PI 271; BA 321) abzulesen war. Zudem weisen andere Figuren auf seine Unzuverlässigkeit hin, wie etwa (der ebenso unsympathische) Giorgio mit seiner Aussage: »Du hast immer unsere Blicke von den Fakten abgelenkt.« (BA 235) Darüber hinaus lässt sich eine Romanstelle als Eingriff einer auktorialen Erzählinstanz werten, die in einer Leser/-innenansprache auf Daniels »abuso avverbiale« (PI 259), seinen Missbrauch der Adverbien, aufmerksam macht.18

16 | Glawion/Haschemi Yekani/Husmann-Kastein fassen »›Krisen‹- und ›Schmerzensmänner‹ als Variationen der Erlöserfigur« (Glawion et al. 2007: 15) und »betonen, dass sich Leiden und Schmerz auch herrschaftsstrategisch aneignen lassen« (Ebd.: 18) und letztlich »einer Logik der Re-Privilegisierung folgten und folgen« (Ebd.). Da sich der Icherzähler des vorliegenden Romans selbst als ›Erlöser‹ stilisiert, wenn er von seiner »Kreuzigung« (BA 263) spricht, und sich, wie gezeigt, am Ende durch Abwertung des Weiblichen zum Handelnden aufschwingt, folgt Pipernos Figur ganz der beschriebenen Logik. 17 | Folgt man Greta Olsons Einteilung unzuverlässiger Erzähler in »Fallible and Untrustworthy«, die sie im Anschluss an Wayne Booth und in Auseinandersetzung mit Ansgar Nünnings stärker kognitionstheoretisch ausgerichtetem Modell entwickelt (vgl. Olson 2003), wäre Daniel als ›untrustworthy‹ zu bezeichnen. Für einen Überblick über Theorien zum unzuverlässigen Erzählen vgl. den Eintrag »Reliability« in der »Routledge Encyclopedia of Narrative Theory« (Nünning 2005). Allrath/Surkamp, die sich aus Gender-Perspektive mit unzuverlässigem Erzählen beschäftigen, stellen fest: »Bei einer Vielzahl von Romanen männlicher Schriftsteller mit einem männlichen unzuverlässigen Erzähler fällt auf, dass die betreffenden Erzähler ein hochgradig problematisches Verhältnis zu Frauen haben.« (Allrath/Surkamp 2004: 58) 18 | Evtl. spricht der Erzähler auch kurzzeitig von sich selbst in der 3. Person, folgt doch im nächsten Satz schon wieder ein »mi« (›mich‹). Vermutlich haben wir es mit einer hybriden Konstruktion im Sinne Bachtins zu tun (vgl. Bachtin 1979: 195). Ebensolches gilt für eine Stelle, in der Daniel mit »du« angeredet wird, die

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Als Teil eines heutigen Diskurses über die Shoah ist der Roman insofern aufschlussreich, als er den Geschlechtertext in den Vordergrund stellt und in seiner Mehrfachlesbarkeit Sexualität, Klassenhierarchien und die Frage nach Verfolgern und Verfolgten während des Nationalsozialismus als Aspekte eines Zusammenhangs darstellt. Durch diese Zusammenführung kann die komplexe Thematik von Scham und Schuld in vielfachen Dimensionen thematisiert werden, was allerdings unweigerlich in eine extreme Hypertrophie mündet. Die Schamlosigkeit des Romans in Bezug auf die Kombination disparater Diskurse und auf die groteske Übersteigerung derselben könnte mit Wurmser als Scham abwehrender Deckaffekt gewertet werden. So gewendet zeugt der Roman in seiner provokativen Haltung letztlich eventuell von einer tiefen Scham.19

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Geschlecht und Heilsgeschichte Ulla Berkéwicz’ Roman »Engel sind schwarz und weiß« Tim Lörke

Der 1992 erschienene Roman »Engel sind schwarz und weiß« von Ulla Berkéwicz erzählt von dem Jungen Reinhold, der sich etwa 1938/39 in der hessischen Provinz mit dem reichen Industriellensohn Hanno anfreundet. Beide wollen Dichter werden. Zudem sind beide in gewisser Weise fasziniert von der Hitlerjugend, von den raunenden Mythen des Deutschtums und dem nationalen Aufbruch, dessen Zeugen sie zu sein meinen. Nach Kriegsausbruch wird Hanno von seinen Eltern auf eine SS-Ordensburg geschickt. Reinhold kommt zur Wehrmacht, wird in die Sowjetunion abkommandiert und soll hinter der Front an den bestialischen Mordkommandos gegen die jüdische Bevölkerung teilnehmen. Die dort zu sehenden Gräueltaten führen erst zu seinem psychischen Zusammenbruch, dann zu seiner Desertion. Auf der Flucht trifft er auf Jüdinnen und Juden, die sich vor der Wehrmacht verstecken. Er bleibt bei ihnen, verliebt sich und muss doch gehen, als die sowjetische Armee auf dem Vormarsch ist. Wieder in seiner Heimatstadt erlebt er das Ende des Krieges begeistert wie beschämt. Der folgende Beitrag interpretiert das im Roman entworfene GenderModell vor dem Hintergrund der Shoah: Weiblichkeit wie Männlichkeit werden von Ulla Berkéwicz in einer besonderen Weise konstruiert, wie im Folgenden gezeigt wird. Weiblichkeit wird von Ulla Berkéwicz dabei in einem unauflöslichen Zusammenhang mit dem Erzählen einerseits, mit Opfer, Gnade und Heil andererseits gesehen. Daraus ergibt sich eine prekäre Theologie von Weiblichkeit und Opfer, die zur unabdingbaren Grundlage des Erzählens erklärt wird. Zugleich wird damit der Shoah eine theologisch-geschichtsphilosophische Sinnhaftigkeit zugesprochen, weil sie

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als notwendige Voraussetzung der Erlösung dargestellt wird. Zuvor jedoch werden die empörten und empörenden Rezensionen vorgestellt, die das Erscheinen des Romans 1992 kommentierten – und unbewusst den von Ulla Berkéwicz dargestellten Zusammenhang von Männlichkeit, verdrängender Erklärung und Destruktionslust bestätigten.

F R AUEN DÜRFEN KEINE R OMANE ÜBER DIE S HOAH UND DEN K RIEG SCHREIBEN : DER R OMAN IN DER K RITIK Die Rezensionen brandmarken nahezu alle einen als völlig misslungen empfundenen Roman. Seine Autorin wird mit viel Häme bedacht. Der Psychoanalytiker Tilmann Moser hat die Rezensionen gesammelt und einer scharfen Analyse unterzogen (Moser 1994; die Rezensionen werden nach Mosers Sammlung zitiert). Wie lauten die Vorwürfe? Auffällig ist, dass alle Rezensionen, seien sie von einem Kritiker oder einer Kritikerin verfasst, die Person der Autorin stark in den Mittelpunkt der Argumentation rücken. So wird darauf verwiesen, dass es sich bei Ulla Berkéwicz um eine attraktive Frau handelt (vgl. Stolle: 1992). In welcher Beziehung die Schönheit der Autorin zu dem von ihr vorgelegten Roman steht, ist für die Rezensionen überdeutlich: Ulla Berkéwicz ist schließlich die Ehefrau von Siegfried Unseld, ihrem Verleger. Ihr Roman »Engel sind schwarz und weiß« konnte überhaupt nur erscheinen, weil der Verleger der erotischen Verlockung der Autorin erlegen ist und seine ehelichen Pflichten erfüllte (vgl. ebd.: 47f.). Der Roman wird abgelehnt, weil man einer ›attraktiven‹ Frau offenbar das Verfassen eines literarischen Kunstwerks nicht zutraut; das Erscheinen des Romans wird durch die persönliche Verbindung von Autorin und Verleger erklärt, als hätte es keinen anderen Grund dafür geben können. Sodann stimmen die Rezensionen weitgehend darin überein, dass der Roman scheitern musste, weil er von einer Frau geschrieben wurde, die sich in die Erzählstimme eines pubertierenden deutschen Jungen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs hinein fantasiert. Dessen Kopf ist angefüllt mit einer Mischung aus Deutschtümelei, romantischer Wald- und Nachtbegeisterung und spätexpressionistischen Phrasen, die längst von der nationalsozialistischen Ideologie durchsetzt sind. Daran erscheinen zwei Momente den Rezensionen verdächtig: Zunächst einmal ist es der Literaturkritik völlig undenkbar, dass sich eine erwachsene Frau literarisch

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in einen pubertierenden Jungen versetzen kann. Hier kann es nur zu Fehlleistungen kommen, und der Erzähler des Romans kann keineswegs authentisch wirken. Hier wird der Autorin die Eigenschaft der Einbildungskraft abgesprochen: die künstlerische Qualität des Hineinversetzens in fremde, da erfundene Seelenzustände; als ob der Entwurf einer Erzählerstimme sich nicht durchaus aus anderen Quellen speisen könnte als aus dem eigenen Erleben eines Autors oder einer Autorin (vgl. Ebel 1992: 46f. sowie Stolle 1992: 47 und Neuhaus 1992: 60). An dieser Stelle bleibt zu fragen, wie die Kritik den Roman aufgenommen hätte, wäre er von einem Mann verfasst worden, der sich in den Jungen versetzt. Das zweite Verdachtsmoment, das sich aus der Erzählerstimme für die Kritik ergibt, ist die pathetische, schwülstige, stark zum Kitsch neigende Sprache, die zudem deutliche Spuren nationalsozialistischer Infektion trägt (vgl. Moser 1994: 51-69). Sollte der Autorin doch eine authentische Stimme gelungen sein? Denn was ist zu erwarten von einem pubertierenden Jungen, der sich zum Dichter berufen fühlt, in dem viel unverstandener, darum umso stärker empfundener Novalis und Hölderlin sich mit deutschem Liedgut und Karl May vermischen und der in der Mode existentialistischer Prosa, die auf Leben und Tod geht, seine Seele im Tagebuch reflektiert? Doch anstatt diese Prosa, die immerhin zu eindringlichen Bildern gerade in der Beschreibung von Massenhinrichtungen russischer Jüdinnen und Juden hinter der Front fähig ist (vgl. Berkéwicz 1992: 245-250), als avancierten Kunstgriff der Autorin zu begreifen, wird ihr unterstellt, sie wolle nationalsozialistische Blut-und-Boden-Mythen wieder salonfähig machen. Mehr noch: Sie wird in manchen Kritiken nachgerade zur Hexe und »Gebietsmädelführerin« (Stolle 1992: 50), die durch ihre Sprachmagie die Leserinnen und Leser verzaubern und für die Verlockungen des Bösen einstimmen will. Zweierlei ist daran auffällig. Zum einen wird für dieses Argument der zuvor erhobene Kitsch-Vorwurf zurückgenommen, denn wenn es gegen die Autorin verwendet werden kann, hat ihre Sprache Magie, anstatt Kitsch zu sein. Zum anderen verwechselt die Kritik hier Erzähler und Autorin miteinander, und sie muss in ihrer Eingenommenheit gegen die Autorin diesen Fehler konsequent begehen: Da Ulla Berkéwicz sich nicht in den Jungen hineinversetzen kann, muss diese Sprache, in der der Junge spricht, zwangsläufig von Ulla Berkéwicz sein. Abschließend wird Ulla Berkéwicz immer wieder der Vorwurf gemacht, sie trage mit ihrem Roman nichts Neues zur Erklärung des Nationalsozia-

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lismus und seines Antisemitismus bei, was man nicht auch schon längst in Geschichtsbüchern hätte lesen können. Und genau hier dürfte Ulla Berkéwicz sich verstanden gefühlt haben, nur die Kritiker haben nichts begriffen. Indem die Kritik dem Roman das kalte, argumentierende Sachbuch entgegenhält, entspricht sie einer Männlichkeitsrolle, die der Roman geradezu verantwortlich macht für die NS-Herrschaft, den Krieg und die Shoah: Männlich ist es, Emotionen zu unterdrücken, indem sie erklärt, benannt, rubriziert werden. Dies leistet auch das Sachbuch. Der Roman hat die weibliche Qualität des Erzählens, und das heißt: Emotionen zu evozieren, zuzulassen und in der Mitteilung aushaltbar zu machen. Der Roman zielt keineswegs darauf ab, Nachrichten vom Nationalsozialismus, seiner Entstehung und seiner Wirkung zu verbreiten, sondern zu erzählen, welche Gefühlslagen Krieg und Shoah ermöglichten. Was der Roman »Engel sind schwarz und weiß« als weiblich kenntlich macht, ist das Einfühlungsvermögen, das Emotionen nicht durch Erklärungen verdrängt, sondern durch das Erzählen bewusst hält, gerade wenn sie unbewältigt sind, wie noch zu zeigen sein wird. Die Kritik suggeriert, die Autorin hätte ihrem Sujet nicht gerecht werden können, weil sie sich zu wenig auf die Standardliteratur der Historiker/-innen verlassen habe. Überhaupt schwingt der Vorwurf mit, eine Frau hätte niemals einen Roman über die Schrecken des Krieges und der Shoah schreiben können: weil sie intellektuell dem Thema nicht gewachsen ist, und dürfen: weil sie gefühlsduselig auf die Sprachklischees der Nazis hereingefallen ist. Indem Ulla Berkéwicz ihren Leserinnen und Lesern aber die Lektüre ihrer schonungslosen Anverwandlung zumutet, macht sie seelische Prozesse verständlich und verdeutlicht, wie emotionale Lagen dem Faschismus vorarbeiteten. Die Literaturkritik, die lieber ein Sachbuch gelesen hätte, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, die eigene Fasziniertheit vom Faschismus zu verdrängen.1 Solche Verdrängungsmechanismen, die Emotionen unterdrücken, statt zur Sprache zu bringen, stellen für Ulla Berkéwicz wiederum den Nährboden dar, auf dem der Nationalsozialismus gedeihen konnte. Verdrängen ist männlich, ebenso wie das hasserfüllte Zerschlagen unbegriffener Komplexe und Zusammenhänge männlich ist, wie Berkéwicz (Berkéwicz 1992: 9, passim) zeigt. Die Wut, die die einzelnen Verrisse des Romans ausmacht, lässt sich mit dem Analysebesteck, 1 | Vgl. zur Faszination des Faschismus die grundlegende Studie von Brockhaus 1997.

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das der Roman bereitstellt, ebenfalls als männlich determiniert begreifen, weil die von den Rezensentinnen und Rezensenten eingeforderte nüchterne Analyse des Komplexes nationalsozialistischen Terrors die Schrecken eher bannt, also in die Ferne rückt. Dagegen zielt die radikale empathische Versetzung in einen zunächst vom Nationalsozialismus begeisterten Jungen darauf ab, den Schuldzusammenhang den Leserinnen und Lesern am eigenen Leibe begreifbar zu machen. Nicht die nüchterne Distanz, sondern die unmittelbare Einfühlung fördert den Erkenntnisgewinn. Die Destruktionslust, die sich in den scharfen Verrissen Bahn bricht, wehrt sich dieser Nähe durch ihre überzogene Argumentation. Das in den Rezensionen deutlich werdende Konzept von männlicher Autorschaft, die allein einem solchen Thema angemessen wäre, lässt sich als Strategie begreifen, die eigene, durch den Roman vorgeführte Verführbarkeit zu leugnen. Doch gerade in der rücksichtslosen und unkritischen Versetzung in einen pubertierenden Hitlerjungen und späteren Wehrmachtssoldaten liegt die große Leistung des Romans, wie Tilmann Moser hervorhebt (Moser 1994: 32-39). Der Roman führt seinen deutschen Leserinnen und Lesern den Faschismus in ihnen selbst vor; er zeigt, weil er keine Distanz walten lässt, sondern sich auf völlige Einfühlung verlegt, welche allgemein menschlichen Emotionen der Faschismus ausgenutzt hat. Dies soll aber keineswegs zu einer Entlastung des zeitgenössischen Gewissens dienen, im Sinne einer Haltung, die den Nationalsozialismus als etwas allgemein Menschliches entschuldigt und somit den Terror verharmlost. Vielmehr rückt der Roman deutlich ins Bewusstsein, dass die ausgenutzten Gefühlslagen auch heute noch ansprechbar sein könnten. Die intensive und unmittelbare Einfühlung in die Figuren, die im Roman geleistet wird, erfüllt eine Warnfunktion.

S CHWARZ UND WEISS : G ENDERMARKIERUNGEN IM R OMAN Der Roman wird organisiert durch die deutlichen Geschlechterzuschreibungen, die Berkéwicz vorführt. Bereits der Titel annonciert die aggressive Bipolarität der Geschlechterrollen: »Engel sind schwarz und weiß«. Die schwarzen Engel stehen für die Zerstörung und sind im Roman männlich codiert, wie im Roman besonders das Schwarz der SS-Uniformen beweist (Berkéwicz 1992: 119ff.). Zudem verweisen sie auf Satan und die gefallenen Engel der Apokalypse, wie ein dem Widerstand nahe stehender Pfarrer in

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seiner Predigt hervorhebt (Ebd.: 50-52). Weiße Engel dagegen symbolisieren die Unschuld, das Opfer und die Gnade; sie sind weiblich gekennzeichnet (Ebd.: 14, 23-27, 45f.). Besonders deutlich gestaltet Berkéwicz diesen Symbolzusammenhang, als der auf seinen kleinen Bruder eifersüchtige Reinhold von seiner Mutter getröstet wird, die ihm wie ein weißer Engel erscheint (Ebd.: 26f.). Die schematische Zuordnung der Farben entspricht der biblischen Bildwelt wie dem nachfolgenden Aberglauben, die den Horizont der Romanfiguren maßgeblich bestimmen. Der Roman setzt ein mit der schroffen Kontrastierung männlicher und weiblicher Genderzuschreibungen: »Ein deutscher Junge weint nicht! und wenn der Feuersturm durch seinen Kopf fährt, und wenn die Reiterei durch seinen Hals bricht, und wenn die Brust verbrennt, weint der noch lange nicht.« (Ebd.: 9)

In diesem ersten Satz entfaltet Berkéwicz bereits alle Motive, die im Roman Männlichkeit ausmachen. Die militaristische Metaphorik verweist auf das inbesitznehmende, zerstörerische und kriegerische Element der Gewalt und Macht, das Männlichkeitsmythen definiert. Zugleich wird das Unterdrücken kreatürlicher Reaktionen auf Schmerzen als männlich eingefordert. Die daraus resultierende Unterdrückung anderer Emotionen wird als Konsequenz einer rigiden geschlechtsspezifischen Erziehung kenntlich gemacht. Im strikten Gegensatz dazu ist Frauen das Weinen erlaubt, ja es macht in gewisser Weise ihre Weiblichkeit erst aus: »Die Mutter weinte. – Frauen dürfen weinen!«, heißt es, und etwas später: »Die Mutter, die Magda, weinte. – Mädchen sind weich und weinen, Mütter sind dick und weinen auch!« (Ebd.: 10, 12) Diese Sätze sind allesamt mit einem Ausrufezeichen beschlossen, das der jeweiligen männlichen wie weiblichen Genderzuschreibung den Charakter einer festen, unumstößlichen Norm verleiht. Ein größerer Gegensatz zwischen männlichen und weiblichen Verhaltensmustern lässt sich nicht denken; die männliche Unterdrückung aller Emotionen kontrastiert die weibliche Weichheit, die Emotionen zulässt und körperlich ausagiert. Zu dem Gegensatz von Weiblichem und Männlichem gehört im Roman auch die Religiosität. Frauen sind grundsätzlich fromm, wobei der Roman keine Unterschiede zwischen Bekenntnissen und Religionen macht. Die Kirche ist der Raum weiblicher Gemeinschaft, und das Gebet wird zur

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emotionalen Gesprächshandlung, in der sich weibliches Leid artikulieren lässt. Dagegen steht die Kneipe mit dem Männerchor als männlich codierter Raum. Dort wird das deutsche Liedgut gepflegt, das gewissermaßen der männliche Ersatz für das Gebet ist. Trotzdem ist der Unterschied zu beachten, dass im Gebet kreatürliche Not unverstellt zum Ausdruck kommt, während sich die männlichen Emotionen einzig durch das Medium tradierter Lieder kanalisieren lassen. Statt des unmittelbaren Ausdrucks wird auf sozial akzeptierte Formen zurückgegriffen, die einerseits einen Ersatz leisten für die unterdrückten Emotionen, andererseits gerade in ihrer ritualisierten Form die Emotionen zu unterdrücken helfen. Auffällig ist an dieser Kontrastierung zudem die Bedeutung des Religiösen: Während Frauen fromm und gläubig sind, zeigen sich Männer atheistisch und agnostisch: ihre religiösen Bedürfnisse werden durch Ersatzhandlungen befriedigt. Dass der Männerchor in der SA aufgeht, dass die religiösen Bedürfnisse also durch die politische Religion des Nationalsozialismus aufgefangen werden, ist in der Antithetik des Romans nur folgerichtig. Hier greift Ulla Berkéwicz auf die Epoche machende Studie von Eric Voegelin zurück, der bereits 1938 den atheistischen Grundzug totalitärer Systeme auf die Formel der politischen Religion brachte (Voegelin 2007). In einer auf Gott bezogenen Welt steht der Einzelne in einer unmittelbaren Beziehung zu Gott. Die politischen Religionen, wie Eric Voegelin sie analysiert hat, kappen diese unmittelbare Beziehung, indem der Staat den Einzelnen vereinnahmt und so die neuen Kollektive des Totalitarismus entstehen, die nicht länger auf einen transzendenten Gott, sondern den immanenten Staat verpflichten. Die theistische Perspektive auf den jenseitigen Gott wird durch die atheistische auf den alles regierenden Staat oder Führer ersetzt. Anfällig für den Faschismus erweisen sich im Roman nur die als männlich gekennzeichneten Figuren: Ulla Berkéwicz erklärt den Nationalsozialismus also aus unterdrückten männlichen Emotionen sowie aus dem Verlust der Religiosität. Dieser Zusammenhang zwischen Atheismus und Nationalsozialismus wird im Roman quälend deutlich angesichts der bestialischen Mordaktionen gegen die russischen Jüdinnen und Juden. Dort tritt ein von seiner Macht berauschter Offizier auf: »Der Jude, sagt er, ist ein Prinzip, der Jude ist fromm, der Jude ist toll. […] Das Klagegeschlecht überspannt seinen Glauben, sein Gott schwimmt in Judenblut, […] der Gott säuft ab.« (Berkéwicz 1992: 248) Aus dieser Perspektive versteht der Roman die Shoah als männlich-atheistischen Angriff auf Gott,

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der Vernichtungswille gegen die Jüdinnen und Juden zielt auf die Vernichtung Gottes und der Religiosität – und ist damit deutlich als gegen die Weiblichkeit gerichtet gekennzeichnet. Der Nationalsozialismus wird von Berkéwicz als brutaler Angriff auf die Weiblichkeit inszeniert und die Shoah als katastrophaler Höhepunkt einer männlich-nihilistischen Terrorherrschaft.

S CHWARZE E NGEL WERDEN WEISS : DYNAMISCHE G ENDER -I DENTITÄTEN Die Genderzuschreibungen des Romans sind strikt antithetisch gesetzt. Schwarz gegen weiß, böse gegen gut, männlich gegen weiblich. Allerdings differenziert Ulla Berkéwicz zwischen Sex und Gender. Denn auch Frauen können als männlich codiert auftreten, indem sie sich ganz und gar der völkischen Sache verschreiben und der Auslöschung der Jüdinnen und Juden fiebernd entgegensehen (vgl. etwa ebd.: 111). Umgekehrt treten im Roman verschiedene männliche Figuren auf, die in die Sphäre des Weiblichen gehören. Zu denken ist etwa an den Pfarrer und die übrigen Mitglieder einer Widerstandsgruppe in Reinholds Stadt. So wie die Kirche als weiblicher Raum definiert ist, ist es auch der Widerstand gegen die Diktatur. Die in diesem Zusammenhang waltende Logik resultiert aus der strengen Antithetik des Romans, die Weiblichkeit und Religiosität in eins setzt. Dieser Logik entspricht, dass die jüdischen Figuren des Romans unabhängig vom biologischen Geschlecht immer weiblich konnotiert sind. Das bedeutet, dass zum Weiblichen nicht nur Emotionen und Religiosität gehören, sondern auch der Status als Opfer männlichen Destruktionswillens. Alle Opfer des Nationalsozialismus, der auf die völlige Auslöschung des Weiblichen zielt, sind darum bei Ulla Berkéwicz weiblich markiert. Zugleich allerdings schreibt der Roman die Opferrolle als Voraussetzung von Weiblichkeit fest, was zu bedenklichen Konsequenzen führt, wie noch zu zeigen sein wird. Entsprechend lässt sich die Entwicklung der beiden Jungen Hanno und Reinhold als eine Ver-Weiblichung beschreiben. Besonders krass führt der Roman das am Beispiel Hannos vor: Als Weichling in der SS-Ordensburg verspottet, erweist er sich als dienstunfähig im Sinne der SS. In einer Ritualhandlung, die männliche Emotionen kanalisiert und zur Bestrafung des Unmännlichen einsetzt, wird Hanno zu Tode vergewaltigt. Der Zu-

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sammenhang von Weiblichkeit, Gewalt, Opfer und Tod ist in der einschlägigen Theoriebildung überzeugend vorgeführt (vgl. Stephan 2006: 82ff.). Der weibliche Körper erscheint als Objekt der Unterwerfung und Überwindung, die als Gewaltakte vonstatten gehen. Indem Hanno durch Vergewaltigung getötet wird, wird sein Körper gewissermaßen verweiblicht und der männlichen Destruktionslust wie dem männlichen Machtwillen preisgegeben. Hannos Zweifel am Tun der SS sowie seine dichterischen Versuche, seine Not auszusprechen, lassen Sex und Gender bei ihm auseinander treten, was durch radikale Bestrafung geahndet wird. Ähnlich ist der Fall Reinholds. Seine anfängliche Begeisterung für den Krieg ist gespeist durch heroische Männlichkeitsmythen. Die tatsächliche Erfahrung des Krieges befördert jedoch den Durchbruch seiner als weiblich gekennzeichneten Disposition. Die in ihm angelegte Sensibilität zwingt ihn angesichts der brutalen Exekutionen, seine Gender-Identität zu wechseln. Sein Versagen vor dem Mordauftrag wird von den Kameraden als Impotenz verhöhnt. Reinhold erlebt den Befehl, zu töten, als eine psychische Vergewaltigung. Von da an ist auch Reinhold als Opfer gekennzeichnet, auch bei ihm sind Gender und Sex auseinandergetreten, und er erweist sich als unfähig zu männlicher Gewalt- und Machtausübung. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass es neben seiner grundsätzlichen Disposition das Gefühl der Scham ist, das Reinhold zur Erkenntnis seiner Schuldverstrickung und seines Opferstatus‘ führt. Er empfindet es als beschämend, sich gegen sein besseres Wissen auf den Nationalsozialismus eingelassen zu haben. Zugleich fühlt er sich als Opfer, an dem der Terror sich vergangen hat; diese Metaphorik rückt Reinhold deutlich in den Bereich der weiblichen Genderzuschreibungen des Romans. Auch er verweiblicht, indem er männlicher Gewaltlust zum Opfer fällt, sogar gegen seinen Willen in die Gewalt verstrickt werden soll. Der Roman beschreibt Scham als einen Zustand der emotionalen Vergegenwärtigung von Unrecht, nicht des Verdrängens, und kennzeichnet sie als weiblich.

W EIBLICHE H EILIGKEIT : THEOLOGIE VON O PFER UND E RZ ÄHLEN Bei seiner ersten Begegnung mit russischen Jüdinnen und Juden wird Reinhold als Gast in der Klagegemeinschaft geduldet. Es ist der gemeinschaftliche religiöse Gesang, der Reinhold besonders anspricht. Die Mög-

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lichkeit, sein Leid durch Sprache zu artikulieren und somit bewusst zu machen und zu halten, fesselt ihn. Er erkennt den fundamentalen Zusammenhang zwischen dem Klagegesang und dem eigenen Dichten: »Wenn du schreibst, stirbst du nicht, hat Hanno mir gesagt.« (Berkéwicz 1992: 251) Sprache als Schrift, Erzählung, Gesang oder Gebet gehört im Roman zum weiblichen Raum der Religiosität, hier wird angesichts des Leids durch Sprache Linderung gesucht und Trauerarbeit geleistet. Ein solches Singen, Erzählen oder Beten zielt auf Befreiung und Bewältigung der Emotionen, während die knappe Befehlssprache oder das nationalsozialistisch vereinnahmte Liedgut wie die raunenden Phrasen auf die Beherrschung der Emotionen abzielen. Im Gesang oder in der Erzählung lässt sich eine Opfergemeinschaft etablieren, das Leid kommt zur gemeinsamen Sprache. Zugleich bietet das Erzählen eine Möglichkeit, sich dem Leid zu stellen und es vielleicht sogar zu überwinden: »Erzählen, das heißt die Schwelle überschreiten, das heißt die Furcht überwinden.« (Ebd.: 268) Erzählen wird zur Ermächtigung, das eigene Opfersein zu transzendieren und sich als mächtiger zu empfinden als diejenigen, die ihre Emotionen unterdrücken, indem sie Gewalt ausüben. Der Opferstatus wird damit im Roman zur unabdingbaren Voraussetzung des Erzählens und damit der Literatur: Reinhold wird zum Dichter, als er beschämt die vorgefügten Worthülsen ablegt und durch Artikulation und Gestaltung eigenen Leids ersetzt. Da das Erzählen im Roman zum Motivzusammenhang des Religiösen und des Gebets gehört, entwirft Ulla Berkéwicz gewissermaßen eine weibliche Gnadenlehre des Opfers und der Literatur. Erlöst werden kann im Roman einzig der, dem zuvor Gewalt getan wurde und der sich deswegen schämt; erzählen können ausschließlich Opfer; im Erzählen eröffnet sich das Heil. Standardisierte Annahmen von männlicher Autorschaft werden von Berkéwicz damit rigoros zurückgewiesen; allein dem weiblich markierten Opfer gehört die Stimme, die erzählt. Nur dem Opfer gelingt die unverfälschte und angemessene Artikulation des Leids und die Vermeidung sprachlicher Schemata, wie sie das männlich konnotierte Liedgut aufweist. Intrikat daran ist die Voraussetzung des Opferseins als Bedingung der Gnade, weil damit Leid als sinnvoll gerechtfertigt wird.

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A NTITHE TIK VON SCHWARZ UND WEISS : DIE G EBURT DES E RZ ÄHLENS AUS DEM L EID Erzählen wird von Ulla Berkéwicz in »Engel sind schwarz und weiß« weiblich bestimmt. Erzählen ist die Folge des Zusammenwirkens weiblicher Genderzuschreibungen der Feinfühligkeit und des Einfühlungsvermögens, der Artikulationsfähigkeit und der religiösen Frömmigkeit. All diese Zuschreibungen disponieren für die Opferrolle, die damit die notwendige Bedingung des Erzählens wird. Zugleich spekuliert der Roman mit einer Opfertheologie, die allein im Opfer die Möglichkeit der Gnade erkennt. Mit dieser Gnadenlehre rekurriert Ulla Berkéwicz auf die theologischen Debatten um die Shoah und nimmt damit eine heikle Position ein, wenn sie das Opfersein zur Bedingung eines erlösenden Erzählens macht (zur jüdischen Theologie nach Auschwitz vgl. Fackenheim 1978, Katz 2007, Patterson 2006, Rubenstein 1992): Gerade von orthodoxen Strömungen des Judentums wird die Shoah als gerechte Strafe für jüdische Sündhaftigkeit und verfehlte Lebensführung gerechtfertigt und geradezu zu einer heilsgeschichtlichen Notwendigkeit erklärt. Die Shoah musste vor diesem Deutungshorizont passieren, damit Gnade möglich wird; sie wird zur conditio sine qua non der Erlösung. Und auch der Roman erkennt in der Shoah ein heilsgeschichtliches Geschehen. Sie wird zur sinnvollen, da die Erlösung vorbereitenden Katastrophe. Und hierin liegt die eigentliche Schwierigkeit in der Bewertung von Berkéwicz‘ Roman. Das unvorstellbare Leid wird gerechtfertigt, weil allein darin die Möglichkeit des Heils begründet ist. Zugleich jedoch kann man die Verbrecher somit gerechtfertigt sehen, die in dieser Perspektive Werkzeuge des Heils werden. Das von Berkéwicz geführte Argument, das Erzählen nicht allein zu einer kompensatorischen, sondern zu einer ermächtigenden Handlung zu erheben, kehrt sich in der Konsequenz zu einer Relativierung der Opfer, die erst, wenn sie Opfer sind, gerettet werden können. Diese Haltung ist nahezu zynisch. Und man fragt sich, ob sie den Intentionen der Autorin entspricht. Wenn man einerseits ihrem Roman eine Warnfunktion vor dem Faschismus in den gegenwärtigen Leserinnen und Lesern zubilligt, scheut man andererseits vor dieser Deutung zurück, die der Roman aber nahe legt. Indem Ulla Berkéwicz sich nämlich zu einer theologischen Deutung der Shoah aufschwingt, entschärft sie die kritische Stoßrichtung ihres Romans: Ihre Rechtfertigung des Opfers als Bedingung

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des Heils macht sprachlos angesichts der Ermordung der Jüdinnen und Juden, weil sie die Shoah zur notwendigen Bedingung der Kunst erhebt. Indem Ulla Berkéwicz Erlösung und Erzählen parallelisiert, wird das Leid auch zur unabdingbaren Voraussetzung für die Literatur. In diesem Zusammenhang wird das Erzählen im Roman zum irdischen Vorgriff auf Erlösung. Es wird zu einem weltlichen Gnadenersatz, der allein bei weiblicher Genderzugehörigkeit möglich ist. Angesichts der unaufhebbaren Antithetik der schwarzen und weißen Engel, die im Roman das Leben der Menschen bestimmen, ist die heilsgeschichtliche Perspektive des Romans dem unaufhebbaren Gegensatz von gut und böse, weiß und schwarz, weiblich und männlich verpflichtet. Angesichts dieser Bipolarität bleibt dem Menschen nur das Erzählen vom Bösen, um es zu bannen. Um es aber erzählen zu können, muss man ihm zum Opfer gefallen sein. Vor dem Horizont des Romans bedeutet die Shoah die Ermöglichung des Erzählens. Die Kunst erfährt somit eine immense Wertzuschreibung, weil sie als Ergebnis von Leid wichtiger wird als das tatsächlich erlittene Leid selbst. Die Shoah wird mit dem Argument gerechtfertigt, dass daraus Kunst entsteht. Das ist der eigentliche Skandal des Romans, den die Literaturkritik jedoch völlig übersieht: der emphatisch vorgetragene Gedanke, Kunst sei bedeutender als Menschenleben. Die Shoah wird relativiert zur Vorbedingung der Kunst, der Massenmord entschuldigt mit der ihn vergegenwärtigenden Literatur.

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Sexualität und Nationalsozialismus

»Die Nazis, die war’n ja schlimmer wie die Juden!« Sexualitätsentwürfe als Medium von Kontinuität und Bruch zwischen Volksgemeinschaft und postnazistischer Gesellschaft Sebastian Winter

»Die Liebenden sind die, welche weder sich selbst noch das Kollektiv erhalten und beschützen. Sie werfen sich weg und dafür trifft sie der Zorn. Romeo und Julia starben gegen die Gesellschaft für das, was diese selbst verkündete. […] Ihnen hält die Treue, wer in Deutschland die Rassenschande begeht. […] Ihr Martertod […] steht als Wahrheit über der faschistischen Emanzipation des Geschlechts und dem ganzen konzessionierten Leben.« Horkheimer 1942: 295

Die Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe der Nationalsozialist/-innen klingen seltsam verzerrt im kollektiven Gedächtnis (nicht nur) der Deutschen nach. Bereits in den 1930er und 40er Jahren hatte die Assoziation des Nationalsozialismus mit perversen, die Geschlechterordnung zersetzenden Ausschweifungen ihren festen Platz in Flüsterwitzen und antinazistischen Flugschriften gefunden. Sie lässt sich aber auch in der Nachkriegsgeschichte bis heute nachweisen. Ob das Auschwitz aus der Homosexualität des Führers ableitende Buch Hitlers Geheimnis des Historikers Lothar Machtan (2001) oder die Orgien halbnackter Uniformträger/

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-innen in populären Filmen wie Der Untergang1 oder Die Gustloff2: ›Nazis‹ sind hier alles andere als ›ganze Kerle‹ und ›echte Frauen‹. Was motiviert insbesondere die Nachkriegsbilder? Was wurde hier im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis wie umgearbeitet? Angelehnt an die amerikanische Historikerin Dagmar Herzog, die als eine der ersten die Zentralität von Sexualitätsbildern als Medium der Abwehr von Scham und Schuld in der kollektiven Erinnerung an den Nationalsozialismus herausstellte, lassen sich mehrere Etappen dieser Umarbeitungen, sowie die Entwicklungen neuer Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in ihrer Abgrenzung und Kontinuität zu den nationalsozialistischen herausarbeiten. Diese Prozesse werde ich für die westdeutsche Nachkriegszeit bis zu den späten fünfziger Jahren im Folgenden kurz umreißen und anschließend auf ihre psychischen Funktionen hin befragen. Welcher Art ist die Psychodynamik, die diese Bilder bei der ›Bewältigung‹ der deutschen Vergangenheit attraktiv für die Rezipient/-innen machte und noch immer macht? Woher stammt ihre Sogwirkung? Vorweg stelle ich einen Überblick über die nationalsozialistischen Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe, die Horkheimer mit dem Oxymoron von der »faschistischen Emanzipation des Geschlechts« zu fassen versucht hatte. Ohne deren Verständnis lassen sich auch die Muster ihrer Erinnerung, ihrer Kontinuitäten und Brüche nicht begreifen.

M ÄDEL , M ÜT TER UND S OLDATEN Der Nationalsozialismus sah sich in seinem Kampf gegen die ›zersetzende‹ Moderne im Zeichen des ›Heils‹, das mit dem Gruß »Heil Hitler« immer wieder evoziert wurde. Im ›Volk‹ sollten mit der ›Endlösung‹, die der »Erlösungsantisemitismus« (Friedländer 1998: 87) forderte, alle Widersprüche und Spannungen, die die bürgerliche Welt strukturiert hatten, eliminiert werden. Dazu gehörte auch die Zerrissenheit der sich selbst entfremdeten Subjekte. Das auflagenstarke Hausblatt der SS »Das Schwarze Korps« (SK) propagierte die Einheit von Leib und Seele gegen die christliche und bürgerliche Körperverachtung, die »alle natürlichen Regungen des Körpers, ja selbst das gesamte gesunde Sinnesleben für gottfeindlich« 1 | Regie: Oliver Hirschbiegel, BRD 2004. 2 | Regie: Joseph Vilsmaier, BRD 2008.

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(SK, 16.04.1936) erklärt habe. Die Ablehnung des »Gegensatz[es] zwischen Leib und Seele« als falsche, unnordische Auffassung tangierte auch die Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe. Die »NS Frauen-Warte« (NSF), Organ der NS-Frauenschaft, schrieb 1940: »Die nationalsozialistische Idee ist zutiefst lebensbejahend. Nichts liegt ihr daher ferner als Prüderie […] Ein schönes Mädchen ist gewiß nicht zur Nonne erschaffen – allerdings, und das ist der Unterschied zwischen gestern und heute, auch nicht zur Kokotte! Die leichte und frivole Erniedrigung der Frau zum Vergnügungsobjekt, die widerwärtige Verfälschung eines gesunden, natürlichen Körpergefühls im Sinne platter und unverhüllter Geschlechtsgier, diese ganz verzerrte, ungesunde Atmosphäre gehört ausschließlich in das Kapitel der jüdischen Zersetzungspropaganda!« (NSF 1940, zit.n. Herzog 2005a: 51f.)

Die antisemitische Feindschaft gilt hier sowohl der ihre Leiblichkeit verleugnenden prüden »Nonne« als auch der »Kokotte« als erniedrigtes »Vergnügungsobjekt«. Eine dritte, ihrem Leib und Wesen entfremdete weibliche Feindfigur stellt die an Familie und Kinderkriegen uninteressierte ›vermännlichte‹ Frau dar: »Die Frau darf aber niemals verleitet werden, als Mann zu denken, zu fühlen und zu handeln. […] Ihre Geistesverfassung ist keine niedrigere, sie ist nur eine andere als beim Mann« (SK, 14.08.1935). Bei den nationalsozialistischen Männlichkeitsentwürfen finden sich entsprechende Negativbilder: Erstens – der ›Kokotte‹ korrespondierend – der verantwortungslose »klebrige Don Juan« (SK, 25.06.1942). Zweitens der sexualfeindliche Mönch: Das katholischen Priestern auferlegte Zölibat sei »widernatürlich«. Ihre Angst ums Seelenheil angesichts nackter Körper verrate bloß »eine so schleimige und ekelerregende Phantasie, wie sie nur in der widernatürlichen Abgeschiedenheit eines Menschen entstehen kann, der das gesunde Empfinden in sich mit verlogenen Moralgrundsätzen niederkämpfen will« (SK, 19.09.1935). Diese Abwehr des Leiblichen habe auch die »Frauenverachtung« bedingt: »Sie folgt ganz logisch aus der Missachtung des Leiblichen, indem sie den Geschlechtsverkehr zu einem Übel schlechthin erklärt […]« (SK, 29.06.1939, Herv. im Original). Solche Prüderie führe erst recht zu Lüsternheit. Es zeige sich dann »das uralte jüdische Spiel mit der Sünde, mit dem perversen Reiz des Verbotenen« (SK, 25.11.1937): In dem katholischen Priester lauert das ›Verjudete‹. Das Schwarze Korps illustrierte dies mit der Karikatur eines katholischen Priesters, dessen Krummstab eine ›Judennase‹ formt.

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Abb. 1: SK, 04.08.1938 Immer wieder taucht im SK das Bild des katholischen Geistlichen auf, der sowohl weibliche als auch männliche Schutzbefohlene sexuell missbraucht. Das dritte Feindbild auf der Seite der Männer stellt der ›Schwule‹ dar, der die Geschlechtergrenzen verwischt. Dieser wurde zusammen mit der ›vermännlichten‹ Frauenrechtlerin in den umfassenderen Kontext der Gefahr einer Nivellierung der Geschlechterdifferenz gestellt. Der Rassenphysiologe und spätere NSDAP-Parteigenosse Robert Stigler hatte schon 1920 ausgeführt: »[Es] sind auch die somatischen Geschlechtsmerkmale bei Juden auffallend häufig verwischt. Es finden sich bei Juden anscheinend besonders häufig Frauen mit relativ schmalem Becken und relativ breiten Schultern […]. Prof. Pilcz bestätigte nach seiner Erfahrung die relative Häufigkeit der Homosexualität bei Juden. Ganz besonders typisch ist aber das psychische Verhalten. Bei Jüdinnen findet sich mit auffallender Häufigkeit eine Verwischung der psychischen Weiblichkeit und Auftreten als unweiblich bezeichneter Seeleneigenschaften, vor allem ein Zurücktreten der spezifisch weiblichen Instinkte, der weiblichen Passivität, der für Frauen typischen Hemmungen psychomotorischer Impulse (z.B. der Scheu vor öffentlichem Auftreten), wodurch sich das Überwiegen der Jüdinnen unter den politischen Aufrührerinnen erklärt […]. Feministische Bestrebungen finden

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besonders häufig bei der jüdischen Intelligenz lauten Widerhall.« (Stigler 1920, zit.n.: Schickedanz 1933: 30f.)

Drei Grundfeindschaften – gegen die verkopfte Spaltung von Körper und Geist, gegen das lüsterne Begehren und gegen die Grenzverwischung zwischen den Geschlechtern – lassen sich aus diesen Bildern als das ihnen zugrundeliegende ideologische Muster herauslesen. Die positiven Gegenentwürfe der Nationalsozialist/-innen zeichneten sich demgegenüber durch Ganzheit, Reinheit und Klarheit aus. Ohne Widerspruch und Lüsternheit sollten Frauen und Männer – ›gleichwertig, aber nicht gleichartig‹ – zusammenfinden. Die überkommene hierarchische Komplementarität der Geschlechterentwürfe wurde von jeder (erotischen) Spannung bereinigt petrifiziert. Eine gesunde, ebenso prüderie- wie koketteriefreie Leiblichkeit im Einklang mit der Seele, die in der größeren des Volkes aufging, war das erstrebte Ideal für Männer wie für Frauen. Das Kinderkriegen galt als dem Fortbestand und der ›Aufartung‹ des Volkskörpers dienende öffentliche Angelegenheit und wurde mit der Einrichtung von Entbindungsheimen für ledige ›arische‹ Mütter durch den Lebensborn e.V. und Ansätzen zur rechtlichen Gleichstellung unehelicher Kinder ein Stück weit von der privaten Ehe getrennt (vgl. Buske 2004: 147ff). Die ›Volksgenossen‹ und ›Volksgenossinnen‹ sollten sich nicht als geschlechtliche Individuen begegnen, sondern als Teile des ›Großen Ganzen‹, als ›Volkszellen‹. Das Paradigma der nationalsozialistischen Sexualitätsentwürfe war nicht individuelle Lust, sondern Fortpflanzung des Volkes. »Das Verhältnis von Mann und Frau hat aber durch den Umbruch der nationalsozialistischen Weltanschauung gegenüber früheren Zeiten unendlich gewonnen. Nicht mehr das individualistische Liebesgefühl, nicht mehr die ausschließliche Polarität von Mann und Frau, nicht mehr das erotische Spiel oder die sexuelle Triebregelung, das Motiv jüngst verflossener ›Lyriker‹, beherrschen unsere Denkvorstellungen, sondern ein neues Wissen um die Unendlichkeit des Lebens und eine neue Verpflichtung einer ewigen Gesetzmäßigkeit gegenüber.« (SK, zit.n.: D’Alquen 1937: 259)

Im Gleichschritt und den Blick geradeaus gerichtet, zeigt die Plastik Menschenpaar von Georg Kolbe aus dem Jahr 1937 das »Verhältnis von Mann und Frau« gereinigt von aller individuellen Zuwendung und erotischen Spannung.

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Abb. 2: Postkarte, Ende der 1930er Jahre Im Gegensatz etwa zum Duce war der asketische Führer alles andere als ein ›Macho‹. Wer volksvergessen und nur den individuellen Vorlieben folgend seine Partner/-innen wählte, wurde als asoziale »›h.w.G Person‹ (= häufig wechselnder Geschlechtsverkehr)« (Zürn 1987: 92, zit.n.: Brauerhoch 2006a: 123) denunziert oder gar der ›Rassenschande‹ beschuldigt. Doch trotz aller Verfolgungen kam die völkische Ganzheit nicht zur Ruhe. Die populäre Interpretation der Abkürzung BDM als »Bubi drück mich« oder »Bedarfsartikel deutscher Männer« (Klaus 1983: 119f.) zeigt wenig von der nordischen Gegnerschaft gegen die »frivole Erniedrigung der Frau zum Vergnügungsobjekt«. Dagmar Herzog betont den pornographischen Kitzel, den der »Stürmer« mit seinen detailliert ausgemalten Schauermärchen von Ritualmorden und Mädchenschändungen bediente (Herzog 2005a: 50f.) und auch die aus starker Untersicht aufgenommen Wochenschau-Filme Gymnastik treibender BDM-Mädel in ihren kurzen

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Röcken erzählen viel über den angeblich prüderie- und lüsternheitsfreien Blick von Kameramännern und Kinopublikum.3

Abb. 3: BDM-Mädchen bei einer Gymnastikvorführung, 1941, Bundesarchiv, Sign.: Bild 183-2000-0110-500 Scheint hier das Abgewehrte lediglich durch die völkischen Selbstinszenierungen hindurch, so gab es daneben auch unter der nationalsozialistischen Herrschaft noch Überreste der erotischen Kultur der Weimarer Republik, die den überzeugteren Nationalsozialist/-innen Dornen im eigenen Fleisch schienen. Elizabeth Heineman erwähnt »an erotic culture, that survived Nazi pronouncements against ›degeneracy‹, such as film magazines‹ defence of Marlene Dietrich’s erotic appeal long after the denunciation by the regime« (Heinemann 2002: 29). In den BDM-Heimen hing ihr Bild, lasziv eine Zigarette rauchend mit der Unterschrift: »Dies ist keine deutsche Frau. Deutsches Mädel!« (Theweleit 1978: 37)4 3 | Vgl. hierzu den Dokumentarfilm: Ewige Schönheit. Film und Todessehnsucht im Dritten Reich von Marcel Schwierin (BRD 2003). 4 | Terri J. Gordon zeigt am Beispiel der Revue-Tanzgruppe Hiller-Girls auf, wie sehr scheinbare Kontinuitäten zur Kultur der Republik oftmals gebrochen waren durch eine spezifisch völkische Einfärbung. Die sowieso schon militär-affine Ästhetik der von »order, discipline, and control« (Gordon 2002: 172) geprägten Auftritte von Gruppen wie den englischen Tiller-Girls wurden im Nationalsozialismus

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Zeigen die vorigen Beispiele die Volksgenossen und Volksgenossinnen als trotz ihrem nordischen Selbstbild »menschlich« geblieben, so wird der Bruch zwischen der Realität und der ›Anständigkeit‹, die Himmler von seinen Einsatzgruppenangehörigen auch beim Morden forderte,5 auf brutale Weise deutlich angesichts der sadistischen Folterungen in den Konzentrationslagern und der Vergewaltigungen an der Front (Beck 2002; Mühlhäuser 2008).

E HE UND F AMILIE In den Monaten und Jahren nach der Kapitulation Deutschlands vergaßen nicht wenige deutsche Frauen angesichts der depotenzierten, oftmals verstümmelten deutschen Kriegsheimkehrer ihre völkischen Pflichten. Dagmar Herzog sieht in dem deutschen ›Fräulein‹, das für Nylonstrümpfe, Schokolade oder gar umsonst mit einem GI anbändelte und das zum in Romanen und Filmen vielfach bearbeiteten Emblem der unmittelbaren Nachkriegsjahre wurde, eine direkte Nachfolgerin des ›Mädels‹. In ihrem Flirten mit den Besatzungssoldaten habe es die antiprüde Haltung des BDM fortgesetzt (Herzog 2005a: 88ff., 2005b: 152).6 Die Kulturwissenschaftlerin Annette Brauerhoch beschreibt das ›Fräulein‹ dagegen in einem anderen Licht: Sein Stereotyp habe nicht die Reinheit des ›Mädels‹ – z.B. von ihrem deutschen Pendant, den »[n]o longer desireable« (Jelavich 1993: 225) Hiller-Girls – mit Uniformen und Militärmusik überzeichnet, zum Lob des Gemeinschaftsgeistes und der Selbstaufopferung für die Truppe. ›Abtrünnige‹ Tänzerinnen, die sich dem entzogen, enden – so zeigte es der Revuefilm Wir tanzen um die Welt – als Prostituierte (Gordon 2002: 177f.). 5 | In seiner ›Posener Rede‹ führte Himmler bekanntlich aus: »Von Euch werden die meisten wissen, was es heisst, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte, denn wir wissen, wie schwer wir uns täten, wenn wir heute noch in jeder Stadt – bei den Bombenangriffen, bei den Lasten und bei den Entbehrungen des Krieges – noch die Juden als Geheimsaboteure, Agitatoren und Hetzer hätten« (Himmler 1943: 145). 6 | Vgl. hierzu auch die ähnliche Argumentation von Henke 1995: 198.

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ausgestrahlt, sondern »forcierte Jugendlichkeit, artifizielle (statt ›natürlicher‹) Feminität, Konsumorientiertheit, ›Asozialität‹ und Promiskuität […]. Fräuleins waren Nestbeschmutzer, untreue, vorschnelle, ›billige‹ Kapitulierer, Opportunisten« (Brauerhoch 2006b: 27f.). Vielmehr als dem ›Mädel‹ war das ›Fräulein‹ der ›Kokotte‹ verwandt.7 Spätestens ab Mitte der 1950er Jahre lässt sich im Mainstream der öffentlichen Meinung die Etablierung einer Sexualmoral beobachten, die sich sowohl von der völkischen der Nationalsozialist/-innen als auch von der amerikanisierten der ›Fräuleins‹ abgrenzte. Mit der Konsolidierung der Bonner Republik, mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder bestimmte zunehmend eine »Rechristianisierung« das gesellschaftliche Klima (Herzog 2005a: 127ff.). Der Katholik und ehemalige Zentrumspolitiker Konrad Adenauer, der 1952 forderte, dass endlich Schluss sein müsse mit der »Naziriecherei« (Verhandlungen des Bundestages 22.10.1952, zit.n.: Frei 1996: 86) und Hans Globke zu seinem Staatssekretär ernannte, repräsentiert diese ›bleierne Zeit‹ trefflich. Die Begeisterung für Führer und Volk wurde nun abnormen Triebdurchbrüchen angelastet. Nicht nur die Verehrung des Führers, auch die sadistischen Quälereien in den Konzentrationslagern wurden weiblich konnotiert. Die Berichterstattung über Prozesse gegen KZ-Wachpersonal fokussierte auf die angeklagten Aufseherinnen. Die männliche Verteidigungsstrategie, sich auf Befehlsgehorsam und Disziplin zu berufen, blieb bei diesen Frauen unwirksam. Konnten sie sich nicht glaubwürdig als ›mütterlich‹ um ihre Gefangenen besorgt, als naives kleines Rädchen oder von Männern angestiftet und verführt darstellen, wurde sie vom Gericht und der öffentlichen Meinung als »peitschenschwingende Sadistin in hohen Schaftstiefeln« verurteilt (Kompisch 2008: 241). Eugen Kogon schrieb in seinem die Sicht auf den Nationalsozialismus lange prägenden Werk Der SS-Staat den Angehörigen der Totenkopf-SS »Luxus, Völlerei, Faulheit, Weichlichkeit und jede Art von Laster« (Kogon 1946: 290) zu, charakteri7 | Vgl. hierzu auch Heineman 1999: 21, Bauer 1996. Denunziationen und Verurteilungen wegen Kuppelei oder unerlaubter Prostitution waren an der Tagesordnung (Höhn 2002: 166f., 183f.). In Würzburg, wie auch in anderen deutschen Städten, wurden Frauen, die sich mit schwarzen GIs einließen, geschoren und krankenhausreif geprügelt (Biddiscombe 2001: 629). Andere wurden mit Säure überschüttet oder nackt über die Strassen getrieben. Vereinzelt wurden auch Lynchmorde an ›Fräuleins‹ verübt (Domentat 1998: 188ff.).

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sierte sie als »Drückeberger« (Ebd.: 303) und KZ-Aufseherinnen als »Flintenweiber« und »Huren« (Ebd.: 194f). Ausdrücklich wies er auf die in SS, SA und Wehrmacht angeblich verbreitete Homosexualität hin (Ebd.: 263).8 Die populäre Vorstellung, die Lebensbornheime seien staatliche Bordelle gewesen (Schmitz-Köster 1997: 9ff.), ist ein weiterer Aspekt dieser ›feminisierten‹ und ›pornografisierten‹ (Hoffmann-Curtius 1996; Wenk 2002) Beschreibung des Nationalsozialismus und seiner Akteur/-innen als sexuell pervers, enthemmt und triebhaft. Mittels christlichem Bekenntnis imaginierte man sich als an der Seite der ehemals Verfolgten stehend. Über die ›Fräuleins‹ zeigten sich Kirchenvertreter und Konservative angesichts des »empörenden Anbiederns mit den feindlichen Soldaten« (Bericht des Dekanats Künzelsau v. 26.6.45, zit.n.: Henke 1995: 195) ebenso entrüstet wie über die ›Nazis‹.9 Ehe, Familie und Homophobie, Ekel vor Pornographie und Abtreibungsgegner-

8 | Schon in den 20er Jahren polemisierten antifaschistische Zeitungen gegen die ›schwulen Nazis‹ (Brunotte 2004: 103). Die »Herstellung von Zusammenhängen insbesondere zwischen den als ›Sadismus‹ gefassten Gewaltexzessen der Nationalsozialisten und deren (vermeintlich) homosexueller Veranlagung« (Zinn 1997: 219) lebte nach dem Krieg weiter. Die These, Hitler sei schwul gewesen und dies erkläre das Wesen des Nationalsozialismus, ist erst jüngst wieder durch ein Buch des Historikers Lothar Machtan (Machtan 2001) aufgekommen, wurde aber von der Historiker/-innenzunft recht schnell und einhellig abgelehnt (vgl. die Debatte in der »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft«). 9 | Auf einem Plakat der CSU von Ende der vierziger Jahre heißt es: »Frauen und Mädchen! Unmoral, Ehrvergessenheit, Treulosigkeit sind durch Krieg und Nazismus in Deutschland eingezogen. […] Wir wollen entgegentreten dem falsch verstandenen Lebensgenuß, der ordinären Vergnügungssucht, dem seelenvergiftenden Schmutz und Schund, dem Morschen und Faulen! Denn weder Armut noch Not können es rechtfertigen, daß man seinen wertvollsten Besitz – die Ehre, die Sauberkeit, die Anständigkeit – leichtfertig dahingibt!« (CSU o.J.). Der sexuellen Unmoral und ›Hitler‹ ständen – so wird es in dem Tagebucheintrag eines Mädchens vom Mai 1945 dargestellt – die wahrhaft deutschen Tugenden, wie sie im BDM vermittelt worden seien, gegenüber: »Überall Empörung gegen die Frauenzimmer, die man bei hellem Tag die Soldaten umbuhlen sieht. ›Huren hat der Hitler erzogen‹, sagt ein alter Mann, ›so wollte er es ja.‹ […] Es hat ja die BDMErziehung keine Woche vorgehalten.‹ (07.05.1945)« (zit.n.: Grenz 2009: 426)

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schaft bestimmten die retraditionalisierte Atmosphäre.10 Antisemitismus wurde in diesem Kontext kaum thematisiert. Die Grausamkeiten des NS konnten abgeschoben werden auf die Exzesse dämonisierter und sexualisierter Einzeltäter/-innen. So wurde sich, statt über die völkischen Ideale, den Antisemitismus und die Morde zu sprechen, über die sexuelle Moral bzw. Unmoral des NS empört, mit der anständige Deutsche nichts gemein gehabt hätten (Herzog 2005a: 120, 130). In der offiziellen öffentlichen Meinung der BRD, in Politikerreden und Zeitungen dominierte zu dieser Zeit das prowestliche und antikommunistische Bekenntnis zu den Westalliierten und den jüdischen Opfern. Doch der offiziellen, pseudokonservativen und proamerikanischen öffentlichen Meinung stand das geistige Klima der Stammtische und Familiengespräche gegenüber, das »was jeder in Deutschland reisende Besucher, Feriengast oder Journalist von allen Dächern pfeifen hört[e]« (Böhm 1955: XIII). Nach der Überwindung der Vergeltungsangst in den ersten Monaten nach Kriegsende war hier deutlich ungehemmter die Abneigung gegenüber der ›Siegerjustiz‹ und den ›Fräuleins‹ zu vernehmen. Das ›Mädel‹ überlebte hier unangetastet, wie sich z.B. anhand der Mädchen/-Frauendarstellungen in populären Heimatfilmen, wie den Mädels vom Immenhof11 zeigen lässt.

D IE » FASCHISTISCHE E MANZIPATION DES G ESCHLECHTS « Sowohl im Nationalsozialismus als auch in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ist eine Kluft zu beobachten zwischen den harmonischen Selbstbildern, dem, was in ihnen an Verborgenem durchscheint und dem realen Verhalten. Diese Kluft verdeutlicht die Grenzen einer nur diskursanalytischen Herangehensweise. Dagmar Herzogs theoretische Interpretation der paradoxen Antiprüderie des Nationalsozialismus stützt sich schwerpunktmäßig auf Herbert Marcuses Theorem der ›repressiven Entsublimierung‹ (Herzog 2005a: 25f.). Dies ist ein m.E. für das gestellte Problem sehr geeig10 | 1951/52 verbrannten katholische Jugendliche pornographische Schriften und steckten Kioske, die sie verkauften, in Brand (Herzog 2005a: 140). 11 | Regie: Wolfgang Schleif, BRD 1955. Zum Weiterleben antisemitischer Bilder im deutschen Heimatfilmen vgl. Anspach 2007.

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netes theoretisches Instrument. Allerdings verkürzt Herzog Marcuses Theorie über die schon bei ihm selbst problematische Vorstellung vom Verhältnis zwischen Trieb und Kultur hinaus (Brunner 2008: 279ff.) repressionstheoretisch. Sie zitiert zur Darstellung des Konzepts repressiver Entsublimierung Reimut Reiche: »Die Sexualität wird ein Stück weit ›freigelassen‹ und in den Dienst der Herrschaftssicherung genommen« (Reiche 1968: 45, zit.n.: Herzog 2005a: 329). Reiche hat das Wort »freigelassen« in Anführungszeichen gesetzt. Diese Distanzierung fehlt bei Herzog.12 Die NS-Sexualitätsentwürfe seien, so Herzog, neben der Verfolgung von männlichen Homosexuellen, dem Straftatbestand der ›Rassenschande‹ und der eugenischen Leitidee »auch eine Fortschreibung, Ausweitung und Intensivierung schon vorhandener liberalisierender Tendenzen« (Herzog 2005a: 22) mit Anreizen zu »playful, pleasurable heterosexuality« (Herzog 2002b: 8) gewesen,13 die sich seit der Jahrhundertwende und insbesondere in der Weimarer Zeit ausgebreitet hatten und unverändert, lediglich als ›arisch‹ umdeklariert von großen Teilen der nationalsozialistischen Bewegung übernommen worden seien (Herzog 2002a: 6). Nach Herzog seien die nationalsozialistischen Sexualitätsentwürfe zumindest in ihrem Mainstream von der »Bejahung sexuellen Vergnügens« auch ohne Fortpflanzungszweck und ohne Bindung an die Ehe geprägt gewesen (Herzog 2005a: 23, 36).14 Die affektive Attraktivität 12 | Auch Terri J. Gordon teilt mit Herzog Marcuses Konzept als theoretischen Rahmen zur Erklärung von Geschlechter- und Sexualitätsentwürfen im NS. Sie spricht von »sexuality in a straitjacket, to release but simultaneously restrain desire« (Gordon 2002: 184), beschreibt dann aber genauer als Herzog die Form dieser »released« Sexualität am Beispiel der Geschichte des expressionistischen Ausdruckstanzes und der Kickline-Revuen im NS insbesondere hinsichtlich der Pole Gemeinschaft – Individuum. 13 | Martin Lengwiler attestiert in Anlehnung an Herzog der NS-Geschlechterpolitik »durchaus liberale, wenn auch gänzlich heterosexuelle Sexualmodelle verhandelt und verbreitet« zu haben (Lengwiler 2008: 87). 14 | Herzog unterbetont die Rolle, die die Fortpflanzung in dem nationalsozialistischen Sexualitätsparadigma spielte. So nutzt sie bspw. einen Artikel des SK, der sich gegen die »menschliche, ethische und soziale Diskriminierung des unehelichen Kindes und seiner Mutter« richtet (SK, 07.01.1937), als Beleg für die Anpreisung von »sexual happiness« durch die SS (Herzog 2002a: 10). Der frag-

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des NS habe nicht zuletzt auf diesem Versprechen sexueller Libertinage beruht. Die Spannung in den NS-Sexualitätsentwürfen zwischen der »Bejahung sexuellen Vergnügens« und antisemitischem Ressentiment gegenüber der »Geschlechtsgier« erklärt sich Herzog m.E. wenig überzeugend als Nebeneinander differenter Diskursstränge – konservativere und ›liberalere‹ Nationalsozialist/-innen (Herzog 2005a: 24f, 53) –, das nach dem ›good cop, bad cop‹-Prinzip die Bevölkerung bei der Stange gehalten habe (Herzog 2002b: 13). Teilweise sei auch eine uneingestandene Doppelmoral die Erklärung. Antisemitische Feindbilder dienten

liche Artikel preist aber nicht »sexual happiness« an, nicht einmal vorehelichen Sex. Er lässt vielmehr keinen Zweifel am Vorrang der Ehe und v.a. dem Kind als Zweck sexueller Verbindungen: »Wir sind weit davon entfernt, nun etwa dem außerehelichen Verkehr das Wort reden zu wollen. Es gibt, was immer wieder betont werden muß, keinen größeren Gegner der ›freien Liebe‹ als gerade den Nationalsozialismus. Andererseits sehen wir aber auch in der unehelichen Herkunft eines Kindes keineswegs einen ›Makel‹. […] Auch wir halten den von Dr. Gmelin geschilderten Tatbestand [nur 5 % der Bevölkerung geht ›jungfräulich‹ in die Ehe, die Mehrzahl hatte zuvor mehrere Sexualpartner/-innen, S.W.] keineswegs für ideal. Wir bemühen uns deshalb mit allen Kräften, Abhilfe zu schaffen. Unser stetes Eintreten für die Ermöglichung der Frühehe ist eines dieser Mittel« (SK, 07.01.1937). Der Jurist Rudolf Bechert, den das SK zitiert, grenzt unehelichen Beischlaf unter Verwendung von Kontrazeptiva scharf ab von einem solchen, der dem Kinderkriegen dienen soll: »Um wie viel höher steht sittlich eine [ledige, S.W.] Mutter, die ihr Kind austrägt, als ein Weib, das sich dem folgenlosen Verkehr womöglich mit einem verheirateten Manne hingibt« (Ebd.). Zum Beleg dafür, dass »happy heterosexual activity […] not just for the sake of reproduction, but also for the sake of pleasure« propagiert worden sei (Herzog 2005b: 119), verweist Herzog auf Stellen in den OSS-Berichten Herbert Marcuses, die m.E. genau das Gegenteil besagen: »The emancipation of sexual life is definitely connected with the population policy of the third Reich. The sexual relations are perverted into rewarded performances: controlled mating and breeding. They are means for achieving a political end, posited and propagated by the government. […] The individual recognizes his private satisfaction as a patriotic service to the regime, and he receives his reward for performing it. By this very fact individual satisfaction loses the character which made it such.« (Marcuse 1942a: 85, 90) Vgl. zur Problematisierung von Herzogs Quellenarbeit auch Decker 2006.

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demnach der Ablenkung von dem, was man selbst nicht nur wünschte, sondern sogar offen propagierte und tat. »Not only the continual self-labeling as ›pure‹ and ›clean‹, then, but also the fiercely hyperbolic attacks an Jews, Marxists, and Weimar-era cultural arbiters for their purposed advocacy of premarital sex, pornography, and nakedness served to distract attention from the Nazis‹ advocacy of those very same things. Das Schwarze Korps in short did precisely that which it said it was not doing.« (Herzog 2002a: 12, vgl. auch Herzog 2005a: 50)

Die NS-Weltanschauung habe eben das propagiert, was sie im Antisemitismus bekämpft habe. Diese Sicht endet in einer Gegenüberstellung von zumindest partieller sexueller Permissivität in den Zwanzigern, im Nationalsozialismus sowie in der ›68er‹-Bewegung und sexueller Repressivität in den Fünfzigern.15 Repressive Entsublimierung meint aber mehr als nur eine Kombination aus partiell freigelassener und partiell unterdrückter Sexualität, wie Herzog nahelegt. Repressive Entsublimierung als »Freisetzung gehemmter Sexualität« trägt, so Marcuse, das Mal der repressiven Gesellschaft und ist – auch in ihrer Bejahung »sexuellen Vergnügens« – keinesfalls zu Verwechseln mit dem von Marcuse anvisierten utopischen Zustand einer Erotik ohne Entfremdung (Marcuse 1955: 174). Repressive Entsublimierung gaukelt als Karikatur dieser Versöhnung die Überwindung des »unglückliche[n] Bewusstsein[s] der gespaltenen Welt« (Marcuse 1964: 81) bloß vor. Sexualität – von Begierde, Sehnsucht und Scham gereinigt – wird sauber, harmlos und in dieser Form auch erlaubt. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind nach Marcuse insbesondere die nichtgenitalen Partialtriebe und ihre Perversionen. Diese Abspaltung reduziere nicht nur den Sexus, sondern wandle ihn qualitativ. Er verliere die »erotische Qualität« (Marcuse 1963: 74). Theodor W. Adorno stimmt Marcuse zu:

15 | Zudem bleibt unklar, wie Herzog sich den Zusammenhang von Sexualitätsentwürfen und realem Verhalten, von Alltags- und Diskursgeschichte vorstellt. Letztere steht bei Herzogs Betrachtungen im Vordergrund, Elemente realen Verhaltens (z.B. Kondomverbrauch) werden ihr bruchlos subsumiert. Vgl. hierzu auch Bauer 2006: 166.

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»Während der Sexus eingegliedert ward, bleibt, was an ihm nicht sich eingliedern läßt, das eigentlich sexuelle Aroma, der Gesellschaft verhaßt. […] Ihn beschlagnahmt ein Ideal des Natürlichen, das unter einer Art von Freiluftkultur möglichst auf die pure Genitalität hinausläuft und gegen jedes Raffinement sich sträubt.« (Adorno 1963: 535, 538)16

Hier zeige sich eine »neue, tiefere Form der Verdrängung«, die weiterhin die autoritäre Charakterbildung und deren Disposition zur antisemitischen Projektion speise (Ebd.: 535f.). Es reicht nicht aus, vom Umgang des Nationalsozialismus mit der Sexualität zu reden, und diesen dann als ›repressiv‹ oder ›freizügig‹ zu klassifizieren.17 Ich schlage, Herzogs theoretische Anregung aufgreifend, eine andere Sicht vor und will statt der Entscheidung für die Alternative permissiv vs. repressiv mit der Psychoanalytikerin Sophinette Becker fragen: »Was für eine Sexualität wurde im Nationalsozialismus propagiert und gefördert, welche Sexualität wurde diffamiert und verfolgt?« (Becker 2001: 130, Herv. S.W.)18

16 | Herzog zitiert eben diesen Aufsatz Adornos ebenfalls, allerdings nur als historischen Beleg für den stärker werdenden Blick auf den NS als Reich sexueller Repression (Herzog 2005a: 162f.). 17 | Vgl. die ähnlich gerichtete Kritik an Herzogs Konzept von Brückner 2006 und Reichardt 2005. 18 | Auch die amerikanische Historikerin Elizabeth Heineman lehnt die These von den konkurrierenden Diskurssträngen innerhalb des NS zur Erklärung der scheinbar widersprüchlichen Aussagen zur Sexualmoral ab und sucht den gemeinsamen Nenner in einem spezifisch nationalsozialistischen Sexualitätsentwurf: »While the regime was neither ›prosex‹ nor ›antisex‹, the overall message was not that ›anything goes‹. Rather it was a coherent whole, that simultaneously rejected Victorian prudery and the ›degenerated sexuality‹ associated with Weimar in favor of a ›clean‹ but distinctly sexual life.« (Heineman 2002: 32)

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Abb. 4: SK, 20.10.1938 Das SK druckte die hier dargestellte Doppelseite am 20. Oktober 1938 ab. Es propagiert hier nicht einfach »premarital sex, pornography, and nakedness«, sondern stellt zwei Arten von Sexualität einander gegenüber, die sich gerade im Unterschied von »nakedness« und »pornography«, im SKJargon: von »Nacktheit« und »schamlose[r] Entblößung« (SK, 25.11.1937) zeigen. In dieser nationalsozialistischen Variante des Bildes von der ›Heiligen‹ und der ›Hure‹, erscheint die traditionell asexuelle und daher ungefährliche Heilige als ›Mädel‹ nackt, aber glatt, unanrührbar, eingefügt in die Natur und ohne Bezug auf einen Anderen. Nicht einmal als ins Auge springend Abwesendes, Verbotenes – wie etwa bei der ›Nonne‹, die von der »Frauenwarte« zusammen mit der ›Kokotte‹ klar abgelehnt wurde – ist eine erotische Verlockung hier anwesend. Die ›Hure‹ dagegen, das »Vergnügungsobjekt« posiert auf den im SK abgedruckten Photos offensiv und blickt den Betrachter direkt und herausfordernd an. Das asexuell-nackte »Schön[e] und Rein[e]« ist Teil des ›Heils‹ in der Volksgemeinschaft. Die Idee dieses ›Heils‹ lässt sich im Anschluss an die Massenpsychologie Sigmund Freuds als eine Ersetzung der individuellen Über-Ichs der Volksgenossen und Volksgenossinnen durch ein sich in der Figur des Führers zentrierendes, hochnarzisstisches Ich-Ideal beschrei-

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ben. Die spezifische affektive Vergesellschaftungsform des völkischen Kollektivs stellte sich demnach her über die gemeinsame Aufrichtung dieses Ideals, das die Einzelnen miteinander identifizierte und sie zur Gemeinschaft ohne innere Differenz ›zusammenschweißte‹. Individuelle Liebe spielte dann keine Rolle mehr. »Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau bleibt außerhalb dieser Organisationen. Auch wo sich Massen bilden, die aus Männern und Weibern gemischt sind, spielt der Geschlechtsunterschied keine Rolle. Es hat kaum einen Sinn zu fragen, ob die Libido, welche die Massen zusammenhält, homosexueller oder heterosexueller Natur ist, denn sie ist nicht nach den Geschlechtern differenziert und sieht insbesondere von den Zielen der Genitalorganisation der Libido völlig ab.« (Freud 1921: 132)

Wir haben mit der völkisch-antisemitischen Weltanschauung ein Konfliktbewältigungsangebot vor uns, das das Dilemma des Eros, die dem menschlichem Dasein immanente, mit dem bürgerlichen Geschlechterdualismus auf spezifische Weise den Körpern eingeschriebene und gesellschaftlich institutionalisierte Entfremdung von dem Anderen, sowie das aus dieser Kluft entspringende Begehren vergessen lassen konnte (vgl. Rendtorff 1998; Winter 2010). ›Lüstern‹ bei der Betrachtung obiger Bilder könne selbstverständlich nur ›der Jude‹ oder der ›verjudete‹ katholische Geistliche sein. Alles das ›Heil‹ Störende und Konflikthafte wurde nach Außen verlagert (auch wenn es – parasitär – immer wieder im Innen angetroffen wurde), und projektiv an den zu Feinden Erklärten paranoid gefürchtet und verfolgt. Der Spaltung, dem sie zu überwinden suchenden Begehren und der resultierenden Grenzüberschreitung zwischen den Körpern und Geschlechtern galt die Feindschaft der klaren, eindeutigen und ganzheitlichen ›Volkszellen‹, die ihre Subjekthaftigkeit in dem massenpsychologischen ›Heil‹ zu leugnen versuchten.

D AS » VERWÜNSCHTE H AUS « Zygmunt Bauman beschreibt die postnazistische deutsche Gesellschaft als »verwünschte[s] Haus«, in dem noch der »Geist« des Nationalsozialismus umgehe (Bauman 1999: 110). Die Sozialpsychologen Markus Brun-

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ner (Brunner 2010) und Jan Lohl (Lohl 2008: 168ff.) haben mittels des psychoanalytischen Konzeptes der ›Krypta‹ ein Modell entwickelt, das ein untergründiges Weiterleben dieses Geistes erklären kann. Die narzisstisch-paranoide Struktur, die das Dasein als Volkszelle ausgezeichnet hatte, überdauert demnach in einem abgekapselten Teil des psychischen Apparates trotz aller lärmenden Distanzierung an der Oberfläche. Der verleugnete Verlust, ja die Verleugnung, dass da überhaupt etwas gewesen war, das man hätte verlieren können – niemand wollte nach der Kapitulation ›Nazi‹ gewesen sein – konservierte psychisch das in der Realität Besiegte. Das Tor dieser Krypta aber schloss nie sehr fest. Oft genug brach der ›innere Reichsparteitag‹ durch, wie von Loriot in seinem Sketch Weihnachten bei Familie Hoppenstedt19 in all seiner Fluchtreflexe auslösenden Vertrautheit herrlich komisch vorgeführt. Doch auch viel versteckter macht das Kryptisierte sich in der Entwicklung bestimmter (familiengeschichtlich und massenmedial generierter) Erinnerungsbilder an den NS bemerkbar. Die spezifisch postnazistische Form des »pseudoconservatism« – ein Begriff, mit dem die Autorinnen und Autoren der Studien zum autoritären Charakter eine potentiell faschistische Haltung beschrieben haben, hinter deren bürgerlich-konservativer Fassade autoritaristische Dispositionen lauern (Adorno 1950: 360f.) – nutzte Ehe, Familie und christliche Anständigkeit als Masken, die die Leichen im Keller und die hörige Verliebtheit in ›Adolf‹ vergessen machen sollten. Die pseudokonservative Orientierung am ›Westen‹ und der ihr verbundene »verordnete[…] Philosemitismus« (Stern 1990: 193) blieben in großen Teilen der Bevölkerung allerdings recht oberflächliche Phänomene: eine »offizielle anti-anti-semitische Staatsauffassung, die dem festen Volksurteil die Hand vorhält« (Claussen 1987: 53). Der Krypta-Inhalt überstand sie mühelos und wirkte als Antikommunismus auch in ihr selbst weiter. Im »Gruppenexperiment«, einer in den Jahren 1950/1951 von den Mitarbeiter/-innen des aus dem Exil zurückgekehrten Frankfurter Instituts für Sozialforschung durchgeführten Gruppendiskussions-Studie wurde festgestellt, dass die völkischen Ideale und die dazugehörigen Feindbilder in veränderter Form den »objektiven Geist« der damaligen bundesdeutschen Gesellschaft auch entgegen der prowestlichen offiziellen öffentlichen Meinung dominierten. Den »vorgeblich idealen Kern des Nationalsozialismus vom Mißbrauch oder die rühmliche Frühzeit der Hitlerdiktatur 19 | Regie: Vicco von Bülow, BRD 1978.

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von der späteren ›Entartung‹« zu unterscheiden, war ein verbreitetes Argumentationsmuster (Adorno 1955: 376f.). Dass der Nationalsozialismus »a good idea but badly carried out« gewesen sei, bejahten während der Besatzungszeit in Meinungsumfragen amerikanischer Demoskop/-innen regelmäßig ca. die Hälfte der Befragten (Merritt/Merritt 1970: 32f.). Das Ressentiment gegen das volksvergessene »Eckenstehen und Mädchen anquatschen«, das, wie einer der Diskutanten im »Gruppenexperiment« beklagt, den Hauptlebensinhalt der »heutigen Jugend« ausmache (zit.n. Pollock 1955: 451), ist ein zentraler Inhalt der Krypta. Adorno beobachtete Anfang der Sechziger Jahre, dass diese »deutschen Sexualtabus […] in einer dem manifesten Inhalt nach entpolitisierten Form« fortleben (Adorno 1963: 536). Dies erlaubte, sich als Antinazi zu imaginieren und doch mittels Fragmenten der nazistischen Ideologie an der »deutschen Art zu lieben« (Mitscherlich/Mitscherlich 1967: 13) festzuhalten.

O PA ALS »H ELD DES A LLTAGS « Und heute? Die Last des Schweigens wurde den Kindern und Enkelkindern aufgeladen. Bernd Leineweber, Christian Schneider und Cordelia Stillke (1996) beschreiben, wie postnazistische »Traumtexte« als Ergebnis eines gemeinsamen Entwurfs der Generationen entstehen, der sowohl der Abwehr der narzisstischen Desillusionierung der ehemaligen Volksgenossen und -genossinnen, als auch derjenigen, der mit ihnen projektiv identifizierten Kinder und Enkel/-innen (Lohl 2008: 250ff.) dient. Die Verleugnung der Verbrechen und die Heroisierung der Großeltern sind in diesem gemeinsamen Text oft noch deutlicher zu beobachten als in den Erzählungen der Großeltern selbst, wie der Gedächtnisforscher und Sozialpsychologe Harald Welzer berichtet. Die Traumtexte werden hier intergenerationell perfektioniert. Welzer hält diese von ihm untersuchten Familiengespräche in einem normativen Sinne für gelungen, weil eines der von ihm gefundenen Erzählmuster – die konstruierte Erinnerung an Opa als Widerständler, verwoben in Geschichten von »Heldentum, Widerstand und Zivilcourage« (Welzer 2001: 72) – zeige, dass nicht mehr die Nazis, sondern antinazistische Widerständler/-innen als Identifikationsobjekt fungierten. Die Form des Heldentums, das in diesen Gesprächen den (Groß-)Eltern zugeschrieben wird, sollte etwas misstrauischer unter die Lupe ge-

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nommen werden, als dies bei Welzer der Fall ist. Aus welchen Bildern setzt es sich zusammen? Welche Tradition haben diese Bilder? Ist dieses konstruierte Heldentum so antinazistisch, wie es sich darstellt? Es lässt sich beobachten, dass die Helden und Heldinnen hier mit Attributen ausgestattet werden, die sie als treue Vertreter/-innen des völkischen ›Heils‹, als Mädels und deutsche Jungens, kennzeichnen, während die ›Nazis‹ unterschwellig mit dem assoziiert werden, was auch ihnen selbst schon ein Gräuel war.20 In den von Welzer beschriebenen, im Familiengespräch entwickelten Erinnerungsmustern an die ›dunkle Zeit‹ bleibt die (sexuelle) Reinheit des Daseins als Volksgenosse oder Volksgenossin aufbewahrt. Scham wird nicht aufgrund der Teilhabe an diesem Ideal empfunden, sondern angesichts derjenigen, die ihm angeblich nicht entsprochen haben. Die natürlich-aerotische Grundstimmung dieser Heldendarstellungen steht in einem Kontinuum zu denen der nationalsozialistischen Propaganda selbst. Welzers Helden ebenso wie die Hitler-Sekretärin Traudl Junge und der Hitlerjunge Peter Kranz in Der Untergang (vgl. Winter 2007), oder der Kapitän Hellmuth Kehding und die Marinehelferin Erika Galetschky in Die Gustloff vertreten die völkischen (Geschlechter-)Ideale und sind entsetzt von der Feigheit und den dekadenten Entgleisungen der ›Nazis‹. Diese Held/-innen sind ausgezeichnet durch ihre Selbstlosigkeit gegenüber dem ›Volk‹, während die ›Nazis‹ diese Ideologie nur scheinheilig vor sich hertragen, wie bspw. Himmler, der in Der Untergang seinen Führer verlässt und flieht. Die Belegung ›des Nazis‹ mit Attributen, die in der nationalsozialistischen Weltanschauung ›dem Juden‹ galten, erlaubt nicht nur weiterhin, sich der Auseinandersetzung mit der verlorenen Großartigkeit als ›Herrenrasse‹ und den Taten der Vorfahren zu entziehen, sondern auch ein Festhalten an den nazistischen Idealen und Feindbildern: In 20 | Am augenfälligsten wird dieses Muster in den immer wieder auftauchenden Mutmaßungen über jüdische Vorfahren führender NS-Funktionäre. Eine besonders umfangreiche derartige Auflistung zitiert Ralph Giordano aus einem an ihn adressierten Schmähbrief eines »unbescholtene[n] Deutsche[n]«, der sich echauffiert über »die Nazis, die auch nie und nimmer je gewählt worden wären vom deutschen Volke, wenn es auch nur eine Ahnung gehabt hätte, daß Hitler, Goebbels, Göring, Himmler, Hans Frank, Bormann, Ley (früher Levy), Röhm, Streicher, Adolf Eichmann und Heydrich etc. etc. alle Viertel-, Halb- und sogar Volljuden waren …« (zit.n.: Giordano 1990: 157, Herv. im Original).

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einem der von Harald Welzer in seinem Projekt zur intergenerationellen Herstellung von Erinnerungsmustern an den NS geführten Gesprächen sagt der Interviewte: »Die Nazis, die war’n ja schlimmer wie die Juden!« (Welzer u.a. 1997: 8).

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Nuda Veritas? Zum Effekt des Pornographischen in Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten« Birgit Dahlke

»Die Frauen, vor allem die Kinder erschwerten uns die Arbeit manchmal sehr, es versetzte einem jedes Mal einen Stich ins Herz.« (Littell 2008:154).

Alles an diesem Satz ist obszön. Zunächst einmal die Grammatik: Ukrainische Opfer nationalsozialistischer Vernichtungsaktionen von 1941 erscheinen syntaktisch-formal als Subjekte, obgleich sie auf der Inhaltsebene als entindividualisierte Ziele systematischer Tötungshandlungen erkennbar werden. Erzählt wird aus der bewusst reduzierten Perspektive eines Ichs, das sich ganz selbstverständlich als Teil des Mörder-Kollektivs wahrnimmt. Während die Formulierung »jedes Mal« den historisch informierten Leser/-innen das Faktenwissen um die Quantität der Morde ins Bewusstsein ruft, wird Emotion ausschließlich dem Kollektiv der Täter/-innen zugestanden. Während der Mörder retrospektiv über den »Stich ins Herz« philosophiert, nimmt der ganz und gar nicht metaphorische »Stich« in die Herzen seiner Opfer im Tätergedächtnis keinen Platz ein. Provokant spricht der Ich-Erzähler auch Jahrzehnte danach selbstverständlich von »Arbeit«. Schuld an seiner Traumatisierung – er leidet seitdem an einer Art permanenter Verstopfung mit Kotz-Zwang – so legt er nahe, sind die gemordeten Frauen und Kinder, ihr anthropologischer Status »erschwerte« die »Arbeit« des Mordens, sie kooperierten nicht, sie starben nicht ›wie ein Mann‹.

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Das den 1400-Seiten-Roman Jonathan Littells durchziehende Motiv der Kotz-Verstopfung symbolisiert überdeutlich dessen narrative Konstruktion: Erzählt wird aus der Perspektive eines SS-Massenmörders, der sich in der Erzählgegenwart mit seiner Vergangenheit arrangiert, indem er belastende Details immer wieder auskotzt, uns auf die Buchseiten kotzt, sie versprachlicht, aber nicht verdaut. Es spricht ein affekt-kalter Täter, ein halbgebildeter ›Buchhalter‹ – das Gegenstück zu Shakespeares Verbrechern. Die radikal reduzierte Erzählperspektive, über die der Autor uns Lesende in die Position des Voyeurs, der Voyeurin zwingt (hinsichtlich des in allen Einzelheiten geschilderten Erschießens, Vergiftens, Erschlagens, »Vergasens« und zugleich hinsichtlich der obszönen Selbstreflexion des Mörders) – ist, so möchte ich zeigen, Bestandteil einer pornografisierenden Erzählstrategie. In meine Überlegungen gehen Ergebnisse aus dem Seminar »Pornographie? Tabus in der Shoahliteratur« an der HumboldtUniversität ein, in dem wir Littells Roman überhaupt erst diskutieren konnten, nachdem wir unsere eskalierenden Abwehrreaktionen zu analysieren begannen.

B LICK UND N ARR ATION »Die Salve krachte, und ich sah hinter den dünnen Rauchfähnchen der Gewehre etwas Rotes aufspritzen. Die meisten Erschossenen flogen nach vorn, mit dem Gesicht ins Wasser; zwei blieben am Rand der Grube liegen, in sich zusammengekrümmt. ›Säubern Sie das und bringen Sie die Nächsten!‹, befahl Nagel. Einige Ukrainer fassten die toten Juden an Armen und Beinen und schwangen sie in die Grube; laut klatschend schlugen sie auf dem Wasser auf, das Blut, das in Strömen aus ihren zerschmetterten Köpfen floss, war über die Stiefel und grünen Uniformen der Ukrainer gespritzt. Zwei Männer mit Schaufeln traten vor und säuberten den Rand der Grube, schaufelten die blutdurchtränkte Erde mitsamt Brocken weißer Hirnmasse auf die Toten. Ich trat näher, um hinabzublicken: Die Leichen trieben im schlammigen Wasser, die einen auf dem Bauch, andere auf dem Rücken, nur noch ihre Nasen und Bärte ragten aus dem Wasser; das Blut aus ihren Schädeln breitete sich auf der Oberfläche wie ein dünner Ölfilm aus, von einem leuchtenden Rot, auch ihre weißen Hemden waren rot, und auf Haut und Bärten liefen dünne rote Rinnsale. Die zweite Gruppe wurde gebracht, […].« (Littell 2008: 123; Hervorh. B.D.)

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Ohne auf alle Details dieser für den Roman typischen Überschreitungsästhetik einzugehen, sei zumindest auf die von mir kursiv markierte namen- und gesichtslose Benennung der Opfer hingewiesen. Sie werden entmenschlicht, auf Körperteile bzw. einen (zum logistischen Problem erklärten) Blutstrom reduziert. Berichtet wird von Schlachtvieh, im rassistischen Stereotyp markiert durch Nasen, Bärte und Blut. Ausführlich erfasste physische Details erzeugen Abwehr bei uns und beim erzählenden Beobachter. Ekel erregt der physische Körper des Opfers, nicht die ›saubere‹ Tat des Erschießens. Das erzählende Ich konstituiert sich – noch im erinnernden Rückblick – in der Grenzziehung zu den Opfern. Aufgrund der mit Ekelgefühlen verbundenen Exklusionseffekte (Menninghaus 1999) ergibt sich eine Zweiteilung: den ekelerregenden Opfern stehen die sich Ekelnden gegenüber, schon sind Lesende und Beobachter/Mörder Teil ein und derselben Gemeinschaft. Der explizit benannte »Blick«, das für Zeitzeugenaussagen charakteristische »Ich sah«, gesteigert zu einer Adaption der filmischen Zoomtechnik (»ich trat näher, um hinabzublicken«) weckt Empörung. Lesend werden wir zu Komplizen des in Kamera- und Tonspur-Wahrnehmungsdetail, aber vollkommen empathielos beschriebenen Verbrechens gemacht, das uns eben nicht als Verbrechen, sondern als Logistikproblem geschildert wird. Dieser Kriegsbeobachter ist – im Unterschied zu dem bei Tolstoi oder Remarque – ganz und gar nicht entsetzt. Das Entsetzen des Beobachters als ästhetische Grundposition gegenüber dem Kriegsgeschehen (Köppen 2005) fehlt völlig. Nicht nur der junge Max Aue der erzählten Zeit 1941 zeigt keine Empathie mit den Opfern, auch der gealterte Achtzigjährige der Erzählzeit lässt keinerlei Distanz zur Position des kalten Beobachters erkennen. Stattdessen wird uns überdeutlich die Konzeption des Romans offengelegt: »näher treten, um hinabzublicken«, in den Abgrund. Als Abgrund werden allerdings nicht die historischen Ereignisse des industrialisierten Massenmords präsentiert, sondern die mit Schuldwissen verbundenen emotionalen Verstrickungen, in welche nicht nur die Mörder, sondern noch die Generationen der Nachgeborenen geraten, sobald sie sich den historischen Verbrechen stellen wollen, sobald sie »wissen« wollen. Mit der Herausbildung der modernen Medien Film und Fotografie war die Bestimmung des Beobachtungsstandpunkts zum Gegenstand der Literatur geworden: seit Kleist wurde er hinterfragt und die Relation von Distanz und Nähe neu bestimmt (Köppen 2005: 5). Im Unterschied zur frühaufklärerischen Tradition von Kriegsliteratur reflektiert der Ich-Erzäh-

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ler Littells seinen Beobachterstandpunkt nicht, sondern nimmt ihn anmaßend selbstverständlich und völlig unkritisch ein. Zugleich wird eben dieser Standort auf der Ebene der narrativen Konstruktion zum eigentlichen Gegenstand des Romans. Der Beobachter wird als Konstruktion aufgedeckt, indem Aue im Verlauf des über tausendseitigen Romans aus der Ukraine, dem Kaukasus, von der Krim, aus Stalingrad, aus Auschwitz, aus Berlin, aus der Schweiz und aus Frankreich berichtet und ca. 340 historisch dokumentierte und fiktive Figuren trifft oder zumindest persönlich kennt. All das sprengt den Rahmen einer ›realistischen‹ Darstellung ganz offensichtlich und führt vor Augen, was Historiker/-innen des 20. Jahrhunderts mehrfach als methodisches Problem thematisierten: Nicht ein Mangel an Quellen, sondern deren überwältigende Fülle stellt für viele die eigentliche Herausforderung dar (vgl. z.B. Schlögel 2008: 24). Obgleich uns im Roman jede Menge psychoanalytischer Versatzstücke geboten werden, ist Max Aue nicht als literarische Figur mit psychischem Innenleben angelegt. Er ist ein Konstrukt des involvierten Beobachters oder besser: des Beobachtens im Krieg. Er ist, wie wir sehen werden, nicht zu trennen vom Blick. Von wo aus aber blickt der Ich-Erzähler Littells »hinab«? Die Vertikale zeigt eine Ermächtigungsstrategie an. Der erste Satz des Romans praktiziert sie auf einer noch umfassenderen Ebene: »Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.« (Littell 2008: 9) Die Lesenden werden eingemeindet, in ein Brüderschaftsverhältnis mit dem Massenmörder gezwungen, der sich ein Definitionsrecht über das Humane anmaßt und das Pathos antiker Mythen nutzt. Trotz solchen Pathos ist der Blick hinab nicht vorrangig philosophisch angelegt. Auch ist er nicht im Rahmen einer Jünger’schen Ästhetik des Schreckens1 zu verstehen. Die Extremsituationen brechen nicht als Bilder des Grauens herein, die wie innerhalb der hoch kontrollierten Wahrnehmungsintensität Jüngers »unter einem Mikroskop betrachtet sein« (Köppen 2005: 283) wollen und den Betrachtenden selbst verändern. Zwar werden die Erinnerungsbilder vordergründig als den Erzähler traumatisierend ausgestellt,

1 | »Die Explosion mag vielleicht vor einer Sekunde geschehen sein und das Bild von dem, was dort unten vor sich geht, gräbt sich wie eine bei Magnesiumlicht gestellte Aufnahme glühend in mein Hirn.« (Jünger 1929: 99) Zu Jüngers hoch kontrollierter Wahrnehmung trotz aller expliziten Anspielungen auf das Rauschhafte vgl. Bohrer 1978.

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aber der Ich-Erzähler bleibt von Anfang bis Ende des Romans eigenartig ungerührt. Statt einer Ästhetik des Schreckens tritt uns bei Littell eine Perspektive entgegen, die ich als pornografisierend bezeichne. In der zitierten Erschießungsszene stehen Erzählstimme und Blickender einander nahe, sind jedoch nicht identisch.2 Die Erzählstimme bezieht Optik und Innenperspektive der Blickträgerfigur ein.3 Die drastische Beschreibung provoziert zusätzlich durch die explizite Benennung und Integration des technokratisch blickenden Subjekts. Ja mehr noch, das ›filmische‹ Detail nimmt weitaus mehr Raum ein als der Erzählfluss. Woran wir uns im Medium des Kriegsfilms im Kino4 und der Reportage im Fernsehen längst gewöhnt haben, die Kino-im-Kopf-Manipulation, wirkt, Text geworden, ungleich provokativer. Aue ist ein gnadenloser Erzähler, der uns ungeheuerliche Gewaltakte nicht als Verbrechen, sondern einfach als Ereignisse präsentiert. Die Einbindung in diese Perspektive macht die Lesenden hilflos, sie nimmt ihnen den Schutz der »Vogelperspektive« des historischen Urteils. Vervielfacht wird die auf der Mediendifferenz beruhende Strategie noch dadurch, dass das blickende Subjekt Max Aue innerhalb der Narration vom Sicherheitsdienst (SD) beauftragt wurde, den Verlauf der Mordaktionen »zu beobachten«, darüber zu berichten und schließlich Vorschläge für deren technisch-administrative Optimierung (!) zu erarbeiten. Sein Beobachterstatus ist mehrfach Gegenstand der (handlungsinternen) Figurenrede und des (externen) Erzählerkommentars. In einer Szene, wo Aue Zeuge 2 | »In narrative there is an external focalizer distinguished in function, not identity, from the narrator.« (Bal 2005: 631) 3 | In Bezug auf die Bedeutung des Blicks beziehe ich Anregungen aus der im Sommersemester 2008 im Rahmen meines Seminars entstandenen Hausarbeit von Lukas Engelmann ein: »Der Blick als Komplize. Über die Konfiguration des Blicks vor dem Hintergrund narrativer Visualisierung in Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten«. 4 | Vgl. den »Live-Effekt« der zwanzigminütigen Angriffssequenz zur Landung der Wehrmacht in der Normandie 1944 in Steven Spielbergs Saving Privat Ryan (USA 1998). Statt der Vogelperspektive wählt Spielberg eine Kameraeinstellung, welche die Zuschauenden in die hilflose Lage der Gis versetzt. Köppen spricht von einer »dispositiven Einbindung des Zuschauers« und einem neuen Ausmaß an visuellem und auditivem Reizniveau (vgl. Köppen 2005: 363 sowie Köppen 2003).

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sadistischer Lust am Erschlagen wird, was ihn »aschfahl« werden und »am ganzen Leib« zittern lässt, entgegnet ihm der Schläger »Sie sind nur als Beobachter hier« (Littell 2008: 354). Den Ich-Erzähler bringen allerdings nicht die Tötungen selbst zu einer Affektreaktion, die sieht er als notwendige, wenn auch unangenehme »Arbeit« an, sondern die beobachtete Lust am Töten. Im Gespräch mit der inzestuös geliebten Zwillingsschwester Una kurz vor Ende des Krieges schildert der Ich-Erzähler, was er auf ihre Frage antwortete, ob auch er Menschen getötet und wenn ja, was er dabei empfunden habe: »Meistens war ich mit nachrichtendienstlicher Tätigkeit beschäftigt, ich habe Berichte geschrieben. […] Nichts anderes, als wenn ich andere schießen sah. In dem Augenblick, wo es getan werden muss, spielt es kaum eine Rolle, wer es tut. Im Übrigen denke ich, dass ich beim Zuschauen genauso verantwortlich bin, wie wenn ich es selber tue.« (Ebd.: 674)

Thematisiert wird damit die Frage der Verantwortung des Beobachters in Kriegen, eine Frage, welche der erste ›Irakkrieg‹ 1991 als Medienkrieg erneut aufgeworfen hatte. Es ist das Spannungsverhältnis zwischen Erzählund Blickperspektive, das den Roman ausmacht. Es spricht der alternde, reflektierende, mehr wissende, aber nicht bereuende Max Aue. Es blickt der junge, in die Vernichtungsmaschinerie involvierte Max Aue. Beide Perspektiven lösen als politisch und ästhetisch tabuisierte eine voyeuristische Neugier aus. Littell stellt die visuelle, ikonografische Dimension in den Vordergrund seines Narrativs, nicht die erzählende. Dies wirft Fragen danach auf, wie bildlich wir lesen und wie narrativisch wir sehen. Es weist darauf hin, welch’ bedeutenden, Wissen produzierenden Status das Visuelle, die Evidenz historischer Einbildungskraft, innerhalb des kulturellen Gedächtnisses des 20. Jahrhunderts hat. Es verschiebt den Fluchtpunkt des Erzählens von den Ereignissen in den (erzählten) Bildern hin zum Ereignis des Bildes selbst.5

5 | »Thus, narrativity is shifted from the events in the image to the event of the image: the pragmatic effect of verbal-cum-visual storytelling.« (Bal 2005: 632)

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S E XUALISIERUNG UND A DRESSIERUNG Strukturen der Sexualisierung lassen sich nicht allein auf der inhaltlichen Ebene finden, dort aber im Überfluss. Inzest ist innerhalb von Literatur immer auch eine Reflexionsfigur des Erzählens selbst und wird, so meine These, auch bei Littell in dieser Funktion eingesetzt. Die inzestuöse Liebe zwischen Max Aue und seiner Zwillingsschwester steht narrativ in keiner direkten Beziehung zu dessen Mordschuld, sie stellt den Mörder jedoch in die Reihe mythischer Helden von Ödipus bis Orest und ordnet die Beichte des Massenmörders so provokant in die großen kulturellen Erzählungen Europas ein. Das Inzestmotiv thematisiert Schuldwissen, dem Massenmord an Jüdinnen und Juden wird der Status des ›Familiengeheimnisses‹ Europas im 20. Jahrhundert eingeräumt. Die Flut an Verdauungs-, Anal- und Penetrationssymboliken hat kein/-e Rezensent/-in des Romans unerwähnt gelassen. Die Sexualisierung der Täter und Täterinnen, oft in Form von enthistorisierenden sadomasochistischen Psychodramen, ist an Filmen von Visconti, Bertolucci, Pasolini, Cavani und anderen untersucht worden (vgl. Geuens 1995/96; Herzog 1998; Stiglegger 1999). Ob damit eine Feminisierung des Nationalsozialismus verbunden ist, wie Silke Wenk (2002) behauptet, und ob dies tatsächlich einen Schuld entlastenden Effekt hätte, stelle ich hier zunächst zurück. Die Sexualisierung ist bei Littell weitaus umfassender, sie erfasst eben nicht nur ›sexuelle‹ Gegenstände, sondern wird als Struktur angewendet, welche die Dramaturgie des Romans als Enthüllungsprotokoll offenlegt. So wird am Anfang von »Exekutionstouristen« unter den Wehrmachtsangehörigen (nicht etwa der SS) erzählt, welche während der Hinrichtung zweier jüdischer NKWD-Männer um Aufschub, um eine Verlangsamung der Hinrichtung bitten, damit sie besser fotografieren (!) können: »›Langsamer, nicht so schnell‹, riefen die fotografierenden Landser.« (Littell 2008: 136). Hier wird ganz direkt das technische Versprechen der Kamera als Instrument zunehmender Übersicht bei gleichzeitiger Distanzgarantie ad absurdum geführt: Nicht die Kamera, sondern das Fotografier-Interesse der Landser wird zum handlungstreibenden Element. Damit aber ergibt sich eben auch die Frage nach dem beunruhigenden Ursprung der Kriegsfotos, eine Frage, die im Zusammenhang der Wehrmachtsausstellung zu der These führte, Fotografie sei ein Teil der Routine des Ausrottungsprozesses in Nazi-Deutschland gewesen (Milton 1999). Es sind von Tätern gemachte Fotografien, die eine vorherrschende Rolle in heutigen Gedenk-

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ritualen spielen. Erst seit kurzem wird dies wie auch die Integration des damit verbundenen rassistisch »gebrochenen« Blicks und der impliziten Geschlechterdramaturgien in unser Opfergedenken problematisiert (Hirsch 2002: 203-226, hier 204). Gegen Ende des Romans berichtet der Erzähler − eingeleitet durch die Bemerkung: »Der Rest ist bekannt« (Littell 2008: 1165) − ausführlich, wie der Lagerkomplex Auschwitz angesichts der vorrückenden Roten Armee »evakuiert« wird. Obszön erscheint die Erzählung nicht vorrangig durch die detaillierte Schilderung des damit verbundenen Mordens, sondern durch die technokratische Perspektive dieser Schilderung. Emotionale Kommentare Aues beziehen sich nie auf die beobachteten Gewaltausbrüche, sondern darauf, dass es ihm nicht gelingt, die arbeitsfähigen Häftlinge im Chaos der winterlichen Evakuierungsmärsche für den Einsatz in der Kriegsindustrie zu »retten«. Ausschließlich dies löst Kommentare aus wie »Auch ich machte mir Sorgen« (Ebd.: 1177) oder »Ich hatte von meiner Seite alles Menschenmögliche getan« (Ebd.: 1179). Es ist angesichts der Obszönität der Perspektiven des jungen erlebenden/erblickenden und des alten erzählenden Max Aue nur logisch, wenn unmittelbar an diese Schilderung eine über 70 Seiten reichende Sequenzfolge sexueller Ekstase angeschlossen wird (Ebd.: 1209-1274). Überdeutlich werden hier Blicke und Spiegel aufgerufen, bis das rauschhaft erzählte Kapitel »Air« schließlich in einer an Georges Batailles Augen-Dramaturgie (Bataille 1928) angelehnten Szene kulminiert, die sich poetologisch als Referenz auf die Romandramaturgie der pornografischen Nahsicht6 bzw. des penetrierenden Blicks lesen lässt: »Dieses Geschlecht [die Vulva seiner Mutter − B.D.] schaute mich an, belauerte mich wie ein Gorgonenkopf, wie ein unbeweglicher Zyklop, dessen einziges Auge7 niemals blinzelt. Ganz allmählich durchdrang mich dieser stumme Blick bis ins Mark. Mein Atem beschleunigte sich, und ich streckte die Hand aus, um es zu verdecken: Ich sah es nicht mehr, doch es erblickte mich immer noch und entblößte mich (obwohl ich bereits nackt war). […] Ich streckte meinen Arm aus und stieß meinen Mittelfinger in dieses Riesenauge. […] Statt es ausgestochen zu haben, hatte ich es vielmehr geöffnet und dem Auge, das sich dahinter verbarg, 6 | Silke Wenk deckt diese in Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker« (1996) auf (Wenk 2002: 286-290). 7 | Der Fotograf blickt »einäugig«.

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den Blick freigegeben. Da kam ich auf eine Idee: Ich zog meinen Finger zurück und stieß, mich mit den Unterarmen kräftig nach von ziehend, mit der Stirn gegen diese Vulva, wobei ich meine Narbe gegen das Loch drückte. Jetzt war ich es, der ins Innere blickte, die Tiefen dieses Körpers mit meinem strahlenden dritten Auge erforschte, während ihr eines Auge seinen Strahl auf mich richtete und wir uns auf diese Weise gegenseitig blendeten […].« (Littell 2008: 1266f.)

Max Aues »drittes Auge«, mit dem er Dinge sieht, die andere nicht sehen können, ist Ergebnis eines Kopfschusses bei Stalingrad. Es ist das Eintrittsloch auf der Stirn, das er als Waffe und Forschungsinstrument einsetzt und wodurch, so könnte man allegorisch lesen, der jüdische Autor in Sprache, Perspektive und Körper des SS-Mörders schlüpft. Susan Sontag fasst Pornografie positiv als Dichtung der Übertretung, die als solche einen eigenen Zugang zur »Wahrheit«/zum Wissen ermögliche: »Derjenige, der die Übertretung begeht, bricht nicht nur ein Gesetz. Er begibt sich an einen Ort, den die anderen nicht kennen; er weiß etwas, das die anderen nicht wissen.« (Sontag 2003: 48-90) Pornografie hatte schon immer auch eine politische, »aufdeckende« Funktion, woran auch Gustav Klimt mit dem Titel seines Bildes Nuda Veritas 1899 anschließt. Die Allegorie der Wahrheit ist nackt und als solche nur weiblich denkbar.8 Die nackte Wahrheit ist als Redewendung im grimmschen Wörterbuch zu finden. Der neue Pauly verweist auf Horaz, etymologisch ist das griechische »aletheia« (Wahrheit) »das Unverdeckte, Unverborgene«. Im Wort enthalten ist »lethe« (Vergessen), sodass Wahrheit auch als das Nicht-zu-Vergessende zu verstehen wäre. Von Wissen produzierenden Mechanismen des Sexualitätsdiskurses spricht auch Michel Foucault und davon, dass das Geständnis eine der im Abendland höchstbewerteten Techniken der Wahrheitsproduktion und Sex innerhalb der christlichen Kulturen zum Gegenstand des Geständnisse par excellence avanciert sei (Foucault 1976: 76, 49, 75). Kommen deshalb viele Texte, die sich der Täterperspektive widmen, nicht ohne Sex aus wie Edgar Hilsenraths Roman »Der Nazi und der Friseur« (1977) oder Niklas 8 | Zuerst emblematisch in Ver Sacrum 1. Jg. Heft 3, März 1898, S. 12. Das 1899 entstandene Gemälde hing ab 1900 im Arbeitszimmer Hermann Bahrs (vgl. Pausch et al. 1997). Die Frauenfigur hält einen Spiegel hoch, Symbol des Lichts und (im alten Ägypten) des Lebens. Die sich um die Füße der Figur ringelnde Schlange verkörpert Neid, aber natürlich auch die Schlange am paradiesischen Baum der Erkenntnis.

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Franks »Der Vater. Eine Abrechnung« (1987) und Bernward Vespers »Die Reise« (1983)? Dem verstörenden Moment der Sexualisierung in Texten aus der Opferperspektive etwa von Doron Rabinovici, Maxim Biller oder Robert Schindel bin ich an anderer Stelle nachgegangen (Dahlke 2007). Shalom Auslander schreibt in seinen Memoiren »Foreskin’s Lament« (2007), das erste nackte jüdische Mädchen sei ihm innerhalb eines Films begegnet, als Teil eines Leichenhaufens, den Bulldozer zusammenschoben. Er sah dies elfjährig in einer Yeshiva in Monsay, N.Y. Im Dokumentarfilm Stalags von Ari Libsker (2008) ist von im Israel der frühen sechziger Jahre kursierenden hebräischen KZ-Pornos die Rede, in welchen männliche Gefangene von weiblichen NS-Aufseherinnen gefoltert und vergewaltigt wurden. Dies habe das Reden über den Holocaust ermöglicht. Im uns hier interessierenden Zusammenhang des Schuldwissens wird die pornografisierende Perspektive zielgerichtet als Technik maximaler Sichtbarmachung eingesetzt. In Bezug auf nationalsozialistische Verbrechen gibt es – wie in der Pornografie – weit mehr zu sehen als zu verstehen. Pornografische Bilder werden, wie die Fotografien der Leichenberge, Haare, Goldzähne aus Auschwitz, umso ungreifbarer, je mehr man sie anstarrt. Im Wissen um unsere Unfähigkeit, Bilder wie die von George DidiHuberman diskutierten von der Einäscherung in den Verbrennungsöfen von Auschwitz Vergaster »heute angemessen zu betrachten« (Didi-Huberman 2007: 5), tritt Littell die Flucht nach vorn an und konstruiert ein Narrativ, das nicht nicht-pornografisch zu lesen ist und die Lesenden ununterbrochen auf das Problematische ihrer eigenen Rolle in diesem AutorLeser-Pakt aufmerksam macht. Mit seiner pornografischen Adressierung weist er einerseits darauf hin, dass jeglicher Fiktionalisierungsversuch von Gewaltverbrechen nahezu zwangsläufig in die Falle des Lustgewinns gerät. Ruth Klüger spricht von »Missbrauch«, Imre Kertész von »HolocaustKonsumenten« (Klüger 2006: 61; Kertész 2003: 150). Zum anderen führt Littell uns damit den durch und durch sexualisierten Charakter unserer Öffentlichkeit vor Augen. Inwieweit es in der künstlich konstruierten Täter-Autobiografie gelingt, auf dem Wege der Überschreitungsästhetik und der pornografischen Fantasie zum »Ungewussten«, zu einem sonst nicht zugänglichen Wissen vorzudringen (Sontag 1990), ist die Frage.

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P ORNOGR AFISIERTES B LICKREGIME Wir treffen auf verschiedene Blickstrategien im Roman. Da ist zunächst einmal die provokant-philosophische Rahmung des Blicks: »Und wenn sich die Radikalität als die des Abgrunds und das Absolute als das absolut Schlechte erwies, so galt es trotzdem […], ihnen offenen Auges bis zum bitteren Ende zu folgen.« (Littell 2008: 138) Sie wird ergänzt vom ›penetrierenden‹ Blick, mit dem der junge Max Aue Exekutionen beobachtet und der alte Lust im wiederholenden Erzählen gewinnt. In einer Szene wird dafür auch noch der Gegenblick des Opfers, einer »jungen Partisanin«, instrumentalisiert: »Sie blieb stumm, die Augen weit geöffnet. […] Als ich an der Reihe war, sah sie mich an, mit einem klaren, leuchtenden Blick, vollkommen reingewaschen, sie verstand alles, wusste alles, und dieses reine Wissen setzte mich in Flammen.« (Ebd.: 255)

Wir begegnen zum dritten einem Opfer und Täter gleichmachenden Blick: »Jetzt traf die Menge ein und überschwemmte den Friedhof; ich erblickte Soldaten in Badehose, auch Frauen und Kinder. Man trank Bier und reichte Zigaretten herum. Mein Blick fiel auf eine Gruppe von Generalstabsoffizieren […].« (Ebd.: 138)

Weder der Erzählton noch der erzählte Blick differenzieren zwischen dem Blick auf die gefangenen, zur Erschießung auf den Friedhof getriebenen Soldaten, Frauen und Kinder und dem »man«, das Bier trinkt und Zigaretten umherreicht wie auf einer Party. Hier spricht niemand, der sich als Zeuge rechtfertigt, sondern jemand, der in affektiver Kälte eine Erfahrung mitteilt.9 Genau diesen Gestus findet man in den Autobiografien der realen Täter Rudolf Höß und Adolf Eichmann. Reflexionen zum Blick rahmen den Roman: am Anfang ist davon die Rede, der Ich-Erzähler fühle sich nicht nur ständig beobachtet, sondern er »wäre gleichzeitig diese Kamera« (Ebd.: 154), gegen Ende heißt es: »wenn 9 | So heißt es etwa auf S. 183 »glücklicherweise wehte ein kräftiger Wind«. Es ist eben dieses »glücklicherweise«, das die Lesenden in die Perspektive des Täters einbindet.

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ich mich oder vielmehr den Blick, der ich geworden war, in die Straßen hinabsenkte […]« (Ebd.: 867). Der Ich-Erzähler ist nicht nur Subjekt des Blicks, der Blick selbst wird sozusagen zum Subjekt. Filmtechnisch gesprochen, wird der point/object shot in den point/glance shot10 überführt. Wir sehen nicht nur, was eine Figur sieht, sondern wir sehen ihr beim Sehen zu. Zugleich ist der Ich-Erzähler Objekt des Blicks: Der junge Max Aue wird von der Erzählstimme durch seine fehlende Empathie, der alte (erzählende) Max Aue als vom Fehlen jeglichen Schuldgefühls gezeichnet charakterisiert. Damit erregen beide Ichs, das erzählte und das erzählende, trotz ihres Alters- und Erfahrungsunterschieds unsere Abwehr. Der Perspektive des erzählenden auf das erzählte Ich kommt vielleicht der von Aue fantasierte Blick seines Schwagers (und Konkurrenten um die Liebe der Zwillingsschwester) am nächsten: »Er blickte mich unverwandt an, wie man eine Küchenschabe oder eine Spinne anblickt, nicht mit Ekel, sondern mit der kalten Leidenschaft eines Entomologen. Ich malte mir das alles ganz deutlich aus.« (Ebd.: 1217)

Der Ich-Erzähler aber leidet nicht etwa unter dem auf ihm ruhenden kalt ordnenden Blick des Insektenforschers,11 er selbst imaginiert ihn, um Genuss daraus zu ziehen. Das unterscheidet ihn von Franz Kafkas Käfer. Ruft man sich Primo Levis autobiografischen Bericht »Ist das ein Mensch?« von 1958 ins Gedächtnis, lässt sich im imaginierten Insektenforscherblick eine Anspielung auf den Täterblick erkennen, an den sich Levi erinnert. Das Verhör, das der deutsche Doktor Pannwitz mit dem jüdischen Häftling 174517 führt, schildert Levi so: »Als er mit Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an. Von Stund an habe ich oft und unter verschiedenen Aspekten an diesen Doktor Pannwitz 10 | Die kinematografische »Point of View«-Struktur arbeitet mit zwei »Shots«: dem »point/glance shot«, der eine Figur beim Blick auf einen Bildschirm zeigt, und dem »point/object shot«, der ein Objekt fotografiert von eben jenem, im ersten Shot gezeigten Standort aus (Keating 2005: 440). Die Unterscheidung verdanke ich Lukas Engelmann. 11 | Vgl. den bannenden Blick fremder Beobachtung, dem beinahe alle Figuren in Kafkas Texten ausgesetzt sind, nicht nur der Käfer in »Die Verwandlung« (1915).

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denken müssen. […] Denn zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. Könnte ich mir aber bis ins letzte die Eigenart dieses Blickes erklären, der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen, so hätte ich damit auch das Wesen des großen Wahnsinns im Dritten Reich erklärt.« (Levi 1992, 127f.)

Indem Littell diesen Blick ins Zentrum seines Romans stellt, sucht er wie Levi, den »großen Wahnsinn« zu verstehen. Im vorletzten Kapitel »Air« werden wir zu Zeugen des sexuellen Rauschs Max Aues gemacht, ihm und uns verschmelzen die Grenzen zwischen Realität und Wunschfantasie. Aue wird hier narrativ zum Objekt unserer, aber auch seiner eigenen Blicke in die zahlreich in die Szene gestellten Spiegel gemacht. Spiegel sind Elemente der Schamkultur, das Angeblickt-Werden ist traditionell weiblich konnotiert. Max Aue wird einmal in seinem Verweiblichungsbegehren, Una zu »sein«, gezeigt. Andererseits wird die Homosexualität des Täters im Sinne der einflussreichen männerbündischen Wandervogelideologie als Zeichen gesteigerter, nicht etwa geschwächter Maskulinität eingesetzt. Aue agiert als »Männerheld« im Sinne Hans Blühers, dessen Eros mit dem Eros der Macht verschmilzt (Blüher 1912). Von einer Schuldentlastung per Feminisierung des Täters ist somit nicht zu sprechen. Statt in das erwartbare Schuldnarrativ stellt der Autor den SS-Offizier in ein Schamnarrativ. Scham bezieht sich auf das Bild des idealen Selbst, Schuld würde hingegen in Handlungskontexte einbinden. Zugleich wird durch die pornografisierende Adressierung den Rezipient/innen Schuld aufgeladen. Selbst der Widerstand der Lesenden gegen (diskursive) Sexualisierung wird (performativ) zu einem sexualisierten Akt, sagt Judith Butler. »Der Widerstand gegen die Sexualität wird in einer Weise umorganisiert, dass er zum spezifischen Schauplatz ihrer Affirmation und neuerlichen Belebung wird. Diese Sexualisierung findet im und als Sprechakt statt.« (Butler 2006: 132f.)

Im performativen Widerspruch der von Butler angeführten Aussage des Opfers vor Gericht ist auch jedes Schreiben über die industriellen Massenmorde an Jüdinnen und Juden gefangen: Der Akt des Sprechens produziert eine Bedeutung, welche diejenige Bedeutung untergräbt, auf die er zielt. Pornografie kennt wie das Freudsche Unbewusste, so Butler, kein Nein.

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Littell unterbindet unsere Flucht in die Identifikation mit den Opfern und er verhandelt implizit das Paradoxon von (medien-)technisch hergestellter Distanz, die in Distanzlosigkeit umschlägt. So wie in der vom Täter ausgehenden Anrede »Ihr Menschenbrüder« die Lesenden als solche, vom Massenmörder nicht durch eine ordnende Grenze12 getrennte konstituiert werden, so unterläuft Littells pornografisierende Adressierung auch die beruhigende Scheidung zwischen (schuldigem) Autor und (unschuldigen) Lesenden. Littell geht nicht auf Ursachensuche in der Vergangenheit, sondern er geht von der Gegenwärtigkeit des »Traumatischen« aus. Entgegen dem Anschein dient etwa das Inzest-Motiv hier nicht dem (psychoanalytischen) Aufspüren einer »Urszene«, sondern ist eher Instrument intertextueller Kritik an als unzureichend bewerteten Wissenskulturen. Dagmar von Hoff spricht am Beispiel von Sarah Kanes Dramen von einem »posttraumatischen« Theater, in dem nicht mehr Traumatisierungen in Szene gesetzt werden, sondern das selbst als Text oder in der Aufführung ›traumatisierend‹ wirke (von Hoff 2003: 351f.). Die Abwehrreaktionen in meinem Seminar wären so gesehen vom Autor einkalkuliert, Moment einer diskursiv und performativ herbeigeführten Katharsis, die im besten Falle Erkenntnis fördernd wirkt. Diese aber gehört nicht der Vergangenheit an, nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart wird enthüllt.

L ITER ATUR Auslander, Shalom (2007): Foreskin’s Lament. A memoir, New York: Riverhead. Bal, Mieke (2005): »Visual Narrativity«. In: David Herman/Manfred Jahn/ Marie-Laure Ryan (Hg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London, New York: Routledge, S. 629-633. Bataille, Georges ([1928] 1977): Das obszöne Werk, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

12 | Vgl. Mary Douglas zur Erfahrung ordnenden Funktion von Tabus (Douglas 1985). Die während der Haft in Israel entstandenen Memoiren Adolf Eichmanns beginnen mit dem Satz »Als ein Menschenkind, trat ich am 19. März 1906 in das Leben.« Vgl. www.hagalil.com/shoah/eichmann/goetzen. (Letzter Zugriff 4.9.2009).

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Zu den Autorinnen und Autoren

Mirjam Bitter, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK/GCSC) der JustusLiebig-Universität Gießen und Mitherausgeberin des Rezensionsmagazins KULT_online. Studium der Neueren deutschen Literatur und Italianistik in Marburg, Venedig und Berlin, freie Übersetzerin aus dem Italienischen. Ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind jüdische Literatur der Gegenwart sowie das Verhältnis von Gedächtnis und Geschlecht. Ihre Magisterarbeit zu Lyrik und Essayistik Barbara Köhlers wurde 2006 unter dem Titel sprache macht geschlecht in der Reihe ZeitStimmen des Trafo-Verlages Berlin veröffentlicht. Birgit Dahlke ist Privatdozentin für Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der deutschen Literatur und Kultur vom 19. bis 21. Jahrhundert. Zuletzt erschienen: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900 (2006), sowie als Mitherausgeberin: German Life-Writing in the Twentieth Century (2009). Simone Erpel, Dr. phil., Historikerin, kuratiert in der Stiftung Deutsches Historisches Museum die Ausstellung Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, die 2010 eröffnet wird. Sie forscht zur Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus, insbesondere zum deutschjüdischen Widerstand, zum Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück und zu NS-Täterinnen. Zuletzt erschienen: »Zivilcourage. Schlüsselbild einer unvollendeten Volksgemeinschaft«. In: Gerhard Paul (Hg.), Bilderatlas des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts (Göttingen 2009), »Jüdischer Wider-

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stand in der öffentlichen Erinnerung«, in: Newsletter des Webportals Lernen aus der Geschichte (1/2010). Maja Figge, M.A., Studium der Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und Neueren und Neuesten Geschichte in Bremen und Berlin. Promoviert zu (Wieder-)Herstellungsprozessen von Deutschsein im bundesdeutschen Kino der 1950er Jahre. War von 2007 bis 2010 am DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« assoziiert. Lehraufträge an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte sind Medien- und Genderforschung, kritische Weißseinsforschung, Postkoloniale Theorie, Film und Geschichte, deutsches Kino nach 1945. Zuletzt erschienen: »›Der Konsum hilft!‹ Rassismus und Heilung durch Integration in Toxi«. In: Klaus Krüger et al. (Hg.), Um/Ordnungen. Fotografische Menschenbilder zwischen Konstruktion und Destruktion (München 2010). Sabine Grenz, Dr. phil., arbeitet zurzeit an ihrer Habilitation zu Geschlecht und Nationalismus anhand von Tagebüchern von Frauen aus dem Zweiten Weltkrieg. 2008-2009 war sie mit diesem Projekt am Gender Institute der Universität Göteborg und 2005-2006 Postdoktorandin am DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«. 2004 schloss sie ihre Promotion in Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Studium der Gender Studies in London (LSE) und der Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie an der Universität Köln. Forschungsschwerpunkte: Feministische Wissenschaftskritik, (Wissens-)Geschichte der Sexualität, Prostitution, Männlichkeitsforschung, qualitativ-empirische Sozialforschung. Zuletzt erschienen: »Das Begehren zu sprechen oder geschlechtsbezogene Artikulationen in Interviews mit heterosexuellen männlichen Freiern«. In: GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur, Gesellschaft (2009). Konstanze Hanitzsch, M.A., ist Gender- und Literaturwissenschaftlerin. Von 2006 bis 2009 war sie Stipendiatin des Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind intergenerationelle Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischer Täterschaft in Text und Film, Frauenund Geschlechterforschung zum NS, sowie Subjektkonstitutionen und die Rolle von Scham und Schuld. Zuletzt erschienen: »Der Inzest als Symptom der Shoah: Zur Wiederkehr des Verdrängten in Max Frischs ›Homo

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faber‹ und Ingeborg Bachmanns ›Malina‹«. In: Ute Frietsch/et al. (Hg.), Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht (Bielefeld 2008). Ljiljana Heise, M.A., Historikerin. Promoviert zum Thema »NS-Täterschaft in transnationaler und geschlechterreflektierter Perspektive. Die Ravensbrück-Prozesse 1946-1948 und ihre Wahrnehmung in britischen und deutschen Medien« und ist seit 2009 Stipendiatin der Heinrich-BöllStiftung. 2008 bis 2009 arbeitete sie als wissenschaftliche Referentin im Deutschen Historischen Museum Berlin. Zuletzt erschienen: KZ-Aufseherinnen vor Gericht. Greta Bösel – »another of those brutal types of women«? (Frankfurt a.M. 2009). Kathrin Hoffmann-Curtius, Dr. phil., lebt als freiberufliche Kunsthistorikerin in Berlin und arbeitet über (nationale) Bilderpolitik, Mythen zu Künstlerinnen und Künstlern, Kunst in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und über die Anfänge der Rezeption des Holocaust in der deutschen Kunst. Zuletzt erschienen: »Terror in Germany 1918/19: Visual Commentaries on Rosa Luxemburg’s Assassination«. In: Sarah Colvin und Helen Watanabe-O’Kelly (Hg.), Women and Death: Warlike Women (London 2009). Klub Zwei – Simone Bader und Jo Schmeiser arbeiten seit 1992 an der Schnittstelle von Kunst, Film und neuen Medien. Im Zentrum stehen gesellschaftspolitische Themen und die Mittel ihrer Darstellung. Es geht ihnen um die Kritik an etablierten, aber auch um die Entwicklung von neuen Darstellungsweisen. Denn die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Veränderung hängt auch von Bildern ab. Weitere Ziele sind der kritische Blick auf Strukturen und die egalitäre Zusammenarbeit von Frauen mit unterschiedlichen Geschichten, Herkünften und Lebensentwürfen. Simone Bader lehrt an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Jo Schmeiser arbeitet als freie Grafikerin und Autorin in Wien. Aktuelle Projekte: Liebe Geschichte, Dokumentarfilm, 98 Min., A 2010; Modernologies, 2009/2010, MACBA – Museu d’Art Contemporani de Barcelona, Muzeum Sztuki Nowoczesnej w Warszawie, Kuratorin: Sabine Breitwieser; Phaidon. Verlage im Exil/Phaidon. Presses in Exile, 22 Min., A/GB 2006; Respone Ability, Video, 33 Min., A 2006.

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Björn Krondorfer ist Professor für Religious Studies am St. Mary’s College of Maryland, USA und Institutsleiter des Department of Philosophy and Religious Studies. Schwerpunkte seiner Lehr- und Forschungstätigkeiten sind Gender und Kultur, Folgen des Holocaust, Nachkriegstheologie und Autobiographie, Gewalt und religiöser Fundamentalismus. International bietet er Workshops zur interkulturellen Erinnerungsarbeit und zum Bibliodrama an. Zuletzt erschienen: Male Confessions: Intimate Revelations and the Religious Imagination (Stanford UP 2010), Men and Masculinities in Christianity and Judaism (SCM 2009). Jan Lohl, Dr. phil., Sozialwissenschaftler, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover, Koordinator der Hannoverschen Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie. Schwerpunkte: Psychoanalyse und psychoanalytische Sozialpsychologie, Generationenforschung, Vergangenheitsaufarbeitung, Integration und Ausgrenzung. Zuletzt erschienen: Gefühlserbschaft und aggressiver Nationalismus. Eine sozialpsychologische Studie zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus (Hannover 2008), »›Jüdischer Krieg‹ und ›mörderische Wut‹. Zum Stellenwert psychoanalytischer Traumakonzepte im wissenschaftlichen Diskurs über den Umgang mit der NS-Vergangenheit auf der ›Täterseite‹«. In: Psychosozial 29, 4 (2006). Tim Lörke, Dr.phil., ist wissenschaftlicher Angestellter an der Freien Universität Berlin. Studium der Germanistik und Anglistik an den Universitäten Heidelberg und Warwick. 2007 Promotion über Die Verteidigung der Kultur. Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne (Würzburg 2010). Herausgeber des Faust-Jahrbuchs. Zuletzt erschienen: zus. mit Christian Müller: Vom Nutzen und Nachteil der Theorie für die Lektüre. Das Werk Thomas Manns im Licht neuerer Literaturtheorien (Würzburg 2006) sowie Thomas Manns kulturelle Zeitgenossenschaft (2009). Katharina Obens, Dipl.-Psych., studierte Medizin und Psychologie in Hamburg und Berlin und promoviert derzeit als Stipendiatin der Hans-BöcklerStiftung zum Thema »Repetion von NS-Opfern als Zeitzeugen bei Jugendlichen«. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Psychotraumatologie, sozialpsychologische Holocaustforschung, qualitative Methoden und geschichtsdidaktische Forschung. Zudem arbeitet sie als Dokumentarfilmerin und als Lehrbeauftrage am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Zuletzt

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erschienen: mit Christian Geißler-Jagodzinski: »Historisches Lernen im Zeitzeugengespräch. Erste Ergebnisse einer empirischen Mikrostudie zur Rezeption von Zeitzeugengesprächen bei Schülern«. In: Gedenkstättenrundbrief 151 (2009). Margit Reiter, PD, Dr.phil, Zeithistorikerin in Wien, 2006 habilitiert am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien, Lehrtätigkeit an den Universitäten Salzburg und Wien. Forschungsschwerpunkte sind Beziehungen zwischen Österreich und Israel, Exil in Shanghai aus der Geschlechterperspektive, (linker) Antisemitismus, Antizionismus und Antiamerikanismus, NS-Vergangenheitspolitik, Generation und Gedächtnis mit Schwerpunkt auf Zweite Generation und Familiengedächtnis. Diverse Forschungsaufenthalte in Israel und Deutschland u.a. 2006-2007 Gastforscherin am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas an der Freien Universität. Zuletzt erschienen: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis (Innsbruck 2006). Naomi Shulman ist Doktorandin der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der University of California, Berkeley. Ihren B.A. erhielt sie in Anglistik und Judaistik von der Indiana University Bloomington, wo sie eine Honors Thesis über die Darstellung der Mutter-Kind-Beziehung in der Shoah-Literatur vorlegte. Sie schreibt eine Dissertation über deutsch-, englisch-, und jiddischsprachige Lyrik, die sich mit der Shoah auseinandersetzt, und widmet sich dabei vor allem ethischen Fragen der Kommunizierbarkeit von Erfahrung und Überleben. 2005 erhielt sie für ihren Aufsatz »Addressing Metaphor, Metaphorizing Address: Paul Celan’s Politics of Language« den Benjamin Goor Prize in Judaistik. Das Jahr 2008 verbrachte sie als DAAD-Stipendiatin in Berlin. Zurzeit ist sie Dozentin im Fachbereich Englisch an der Universität Denis Diderot, Paris 7. Nadine Teuber, Dipl.-Psychol., Studium der Psychologie in Frankfurt und London, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF Projekt »Trauma im Alter« an der Fachhochschule Frankfurt a.M., Promotion 2010 über »Das Geschlecht der Depression« am DFG Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«, Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2007 in psychoanalytischer Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut (DPV). Forschungsschwerpunkte sind: Geschlecht, Depression und Schmerz sowie Antisemitismus, Trauma und Tradierung.

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Sebastian Winter, M.A., Studium der Sozialpsychologie, Soziologie und Geschichte an der Leibniz Universität Hannover, seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der LUH, seit 2009 Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Hannover. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Geschlechtergeschichte der völkischen Bewegung und des Nationalsozialismus, Antisemitismusforschung, geschlechtertheoretische Sozialisationstheorie, psychoanalytische Sozialpsychologie. Zuletzt erschienen: »›Hinter diesen schlichten Worten steht ein Heldentum …‹. Eine Quellenkritik von Hanna Fueß‹ ›Kriegschronik‹«. In: Celler Hefte. Schriftenreihe der RWLE-Mäller-Stiftung, H.5-6 (2010).

GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Christina von Braun, Dorothea Dornhof, Eva Johach (Hg.) Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht 2009, 448 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1145-8

Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-707-3

Gabriele Dietze Weiße Frauen in Bewegung Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken (2., unveränderte Auflage 2010) Dezember 2010, ca. 450 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-89942-517-8

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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Gabriele Dietze, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hg.) Kritik des Okzidentalismus Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht (2., unveränderte Auflage 2010) 2009, 318 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1124-3

Elke Frietsch, Christina Herkommer (Hg.) Nationalsozialismus und Geschlecht Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945 2009, 456 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-854-4

Sabine Grenz, Martin Lücke (Hg.) Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart 2006, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-549-9

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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Ulrike Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert (Hg.) Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900 März 2011, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1572-2

Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.) Epistemologie und Differenz Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften Oktober 2010, 226 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1013-0

Ute Frietsch, Konstanze Hanitzsch, Jennifer John, Beatrice Michaelis (Hg.) Geschlecht als Tabu Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht 2007, 270 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-713-4

Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein (Hg.) Erlöser Figurationen männlicher Hegemonie

Jana Husmann Schwarz-Weiß-Symbolik Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie November 2010, ca. 380 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1349-0

Ulrike Klöppel XX0XY ungelöst Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität Februar 2010, 698 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1343-8

Sophia Könemann, Anne Stähr (Hg.) Das Geschlecht der Anderen Eine Wissensgeschichte der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie März 2011, ca. 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1592-0

Katarzyna Leszczynska Hexen und Germanen Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung 2009, 396 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1169-4

2007, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-733-2

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