Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft: Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen [1 ed.] 9783737010863, 9783847110866

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Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft: Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen [1 ed.]
 9783737010863, 9783847110866

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Macht und Herrschaft Schriftenreihe des SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“

Band 11

Herausgegeben von Matthias Becher, Elke Brüggen und Stephan Conermann

Matthias Becher (Hg.)

Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen

Mit 8 Abbildungen

V&R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2019, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Lewis Chesspiece – King; © National Museums of Scotland/Bridgeman Images Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2511-0004 ISBN 978-3-7370-1086-3

Inhalt

Vorwort zur Schriftenreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Matthias Becher Vormoderne Macht und Herrschaft. Zugänge, Phänomene, Perspektiven .

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Christian Schwermann Konfliktmanagement im antiken China. Der Han-Kaiser Wu (reg. 141– 87 v. Chr.) im Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt . . . . . . . . . . . .

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Andrea Stieldorf Spieglein, Spieglein … Bilder von Königinnen auf Siegeln und Münzen

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Alheydis Plassmann Sudden death. Kontingenz des Todes und Legitimation von Herrschaft . .

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Elke Brüggen Political Speech in the ‘Kaiserchronik’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Konrad Klaus Die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir, dargestellt nach der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ des Kalhana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 ˙ ˙ Mechthild Albert Herrscher und Berater/in in der kastilischen Literatur des Mittelalters. Transkulturelle Konstellationen in der Epoche Alfons’ des Weisen . . . . 173

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Inhalt

Karina Kellermann Der tiuvel schiez iu in den kragen! Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Andreas Rutz Formen und Funktionen weiblicher Herrschaftspartizipation im Heiligen Römischen Reich am Beispiel der Herzoginnen von Kleve (1417–1609) . . 213 Anna Kollatz Transkulturalität als Strategie. Gedanken zur Integration von Eliten am Mogulhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Diana Ordubadi / Dittmar Dahlmann Die ‚Zeit der Wirren‘ und die Moskauer Selbstherrscher (1598–1613) aus russischer Perspektive und in zeitgenössischen ausländischen Berichten . 273 Peter Schwieger Tibet im 18. Jahrhundert. Wo lag die Macht und wer war der Herrscher? . 299 Liste der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Vorwort zur Schriftenreihe

Im Bonner Sonderforschungsbereich 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ werden die beiden namengebenden Vergesellschaftungsphänomene vergleichend untersucht. Sie prägen das menschliche Zusammenleben in allen Epochen und Räumen und stellen damit einen grundlegenden Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften dar. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des disziplinär breit angelegten Forschungsverbundes, die Kompetenzen der beteiligten Fächer in einer interdisziplinären Zusammenarbeit zu bündeln und einen transkulturellen Ansatz zum Verständnis von Macht und Herrschaft zu erarbeiten. Hierbei kann der SFB 1167 auf Fallbeispiele aus unterschiedlichsten Regionen zurückgreifen, die es erlauben, den Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu schärfen. Die Reihe „Macht und Herrschaft“ enthält Beiträge, die den interdisziplinären Zugriff auf das Thema und die transkulturelle Perspektivierung abbilden. Die Arbeit des Bonner Forschungsverbundes ist von vier Zugängen zu Phänomenen von Macht und Herrschaft geprägt, die auch den Projektbereichen des SFB 1167 zugrunde liegen: Die Themen der Spannungsfelder „Konflikt und Konsens“, „Personalität und Transpersonalität“, „Zentrum und Peripherie“ sowie „Kritik und Idealisierung“ stehen im Zentrum zahlreicher internationaler Tagungen und Workshops, die dem Dialog mit ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland dienen. Dieser wichtige Austausch, dessen Erträge in der vorliegenden Reihe nachzulesen sind, wäre ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und das kontinuierliche Engagement der Universität Bonn zur Bereitstellung der notwendigen Forschungsinfrastruktur nicht möglich, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Matthias Becher – Elke Brüggen – Stephan Conermann

Vorwort

Im Juli 2016 hat der SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ seine Arbeit aufgenommen, die von der Überzeugung getragen ist, dass die sogenannte Globalisierung ohne eine Analyse der überkommenen politisch-gesellschaftlichen Organisationsformen nicht adäquat verstanden werden kann. Das Verbundforschungsprojekt setzt hier an und untersucht vergleichend vormoderne Konfigurationen von Macht und Herrschaft in Asien, Europa und dem nördlichen Afrika. Dafür ist eine große fachwissenschaftliche Breite notwendig, die an der Universität Bonn gegeben ist. Der SFB 1167 wird von zwanzig inhaltlichen Teilprojekten aus den Fächern Ägyptologie, Anglistik, Archäologie, Germanistik, Geschichte, Indologie, Islamwissenschaft, Japanologie, Kunstgeschichte, Romanistik, Sinologie und Tibetologie gebildet. Diese fachliche Breite gewährleistet einen umfassenden Blick auf die Erscheinungsformen von vormoderner Macht und Herrschaft – sowohl auf Gemeinsamkeiten als auch auf Unterschiede oder Varianten ihrer Ausprägung. Sie standen im Zentrum der dreisemestrigen Ringvorlesung ‚Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft‘, die der SFB 1167 vom Anfang des Sommersemesters 2017 bis zum Ende des Sommersemesters 2018 veranstaltete. Für den vorliegenden Band wurde gut die Hälfte dieser Vorträge für den Druck überarbeitet. Neben Aspekten der vier Spannungsfelder des SFB 1167 gingen zahlreiche Beiträge auch den Geschlechterdimensionen von Macht und Herrschaft auf den Grund, denen im Wintersemester 2018/2019 eine weitere Ringvorlesung gewidmet wurde. Mein Dank gilt zunächst den Beiträgerinnen und Beiträgern, die mit ihren Ausführungen wichtige Einblicke in die Arbeit des SFB 1167 geben. Neben ihnen haben sich zahlreiche weitere Personen um den Band verdient gemacht. An erster Stelle ist Herr Achim Fischelmanns zu nennen, der sowohl für die Planung der Ringvorlesung als auch für die redaktionelle Betreuung der Drucklegung verantwortlich war und diese Aufgaben mit der ihm eigenen Umsicht erfüllt hat. Zusammen mit seinen Kolleginnen vom Teilprojekt Öffentlichkeitsarbeit des SFB, Frau Christine Beyer und Frau Jasmin Leuchtenberg, war er auch für die

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Vorwort

Berichterstattung über die Ringvorlesung verantwortlich. Bei der redaktionellen Betreuung halfen schließlich Frau Julia Gehrke, Frau Hannah Stelberg und Herr Daan Lijdsman. Für die abschließende Durchsicht danke ich Frau Dr. Katharina Gahbler. Der DFG sind alle Mitglieder des SFB 1167 für die großzügige Förderung des Gesamtunternehmens sehr verbunden. Bonn, im August 2019

Matthias Becher

Matthias Becher

Vormoderne Macht und Herrschaft. Zugänge, Phänomene, Perspektiven

Abstract For several years the terms ‘modernity’ and especially ‘pre-modernity’ have become established in historical science and have occasionally even replaced the traditional division of historical periods into ‘antiquity’, ‘middle ages’ and ‘modernity’. This traditional division came under criticism for its development based on European history and its application on other parts of the world. But even for Europe, the traditional division can at best be applied in terms of political rather than socio-economic developments. The most incisive turningpoint for the division between pre-modernity and modernity is set around 1800, potentially with a “long 19th century” as a transitional period. Nowadays, a third term has come into usage, the so called ‘postmodernity’, which is characterized by the dissolution of such securities as had been established in modernity and by developments that had hitherto rather been associated with pre-modernity. In this context, an analysis of pre-modern structures promises to gain a better understanding of current difficulties. With ‘power’ and ‘domination’, the DFG-Collaborative Research Centre 1167 examines central phenomena of human coexistence and approaches them from four different perspectives, addressing fundamental issues that occur in the context of power and domination: ‘conflict and consensus’, ‘personality and transpersonality’, ‘centre and periphery’ as well as ‘criticism and idealization’. ‘Conflict and consensus’ describes the oscillating relations of rulers, elites and subjects between these two poles. Predominantly, the Collaborative Research Centre focuses on strategies that served to legitimize and stabilize existing configurations of power and domination. ‘Personality and transpersonality’ aims to answer the question, how power that is tied to a certain person develops stable structures that can guarantee the survival of concrete configurations over longer periods of time. Power and dominantion are not only tied to persons, but can establish themselves in spaces. These are to be comprehended dynamically in the interplay of ‘centre and periphery’, as various concepts of space exist next to each other as well as in opposition to each other. ‘Criticism and idealization’ deals with ideal criteria as the fundament on which power and domination were wielded, recognized and challenged. All these research areas constitute the Collaborative Research Centre 1167, and their questions and results will be further discussed in the contributions to this volume.

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Im Juli 1966 kam es in China zu einem bemerkenswerten Schauspiel. Der „Große Vorsitzende“ Mao Zedong durchschwamm den Yangzi-Fluss – kein einfaches Unterfangen: Der bereits 73-jährige musste 15 km zurücklegen und dies bei einer ziemlich starken Strömung. Angeblich benötigte Mao nur 65 Minuten für diese sportliche Großtat, die in den Medien erhebliche Aufmerksamkeit erfuhr. Während aber im Westen diese Aktion nur als bizarres Spektakel und als PresseCoup galt, wurde Maos sportliche Leistung in China ganz anders rezipiert. Die Nachrichtenagentur ‚Neues China‘ zeigte Photographien des „wunderbar gesunden Vorsitzenden Mao“ und berichtete: „Auf der weiten Wasserfläche schwamm der Vorsitzende Mao zeitweise auf der Seite, vorwärtsstrebend, indem er die Wellen zerteilte, und zeitweise trieb er auf dem Rücken und hatte Aussicht auf den azurblauen Himmel über sich.“1 Die Botschaft war klar: Der große Vorsitzende, der nach dem Scheitern des sogenannten „großen Sprungs nach vorn“ der Jahre 1958 bis 1961 ins Abseits geraten war, hatte eindrucksvoll seine körperliche Leistungsfähigkeit demonstriert und damit gezeigt, dass er gleichsam auch politisch noch nicht untergegangen war. Maos sportliche Höchstleistung gilt als Signal für den Beginn der sogenannten Kulturrevolution, mit der er seine Vorstellung von einer kommunistischen Gesellschaft durchsetzen wollte, auch gegen Widerstände innerhalb der kommunistischen Partei. Kurz vor dieser Unternehmung hatte er das Volk Chinas aufgefordert, die Partei und deren Funktionäre zu kritisieren. Insbesondere die Jugend, organisiert in den „Roten Brigaden“, folgte seinem Aufruf. Zunächst wurden Professoren bedroht und Hochschulen lahmgelegt. Bald kam es zu gewaltsamen Ausbrüchen. Am 5. August 1966 ermordeten Schülerinnen der Pädagogischen Hochschule Peking ihre Schulleiterin; in den folgenden Wochen wurden allein in der Hauptstadt 1.772 „Klassenfeinde“ von Jugendlichen getötet und 77.000 Menschen mit „schlechtem Klassenhintergrund“ vertrieben. Der Aktionismus zeigte schnell Erfolg: Seine Gegner wie Deng Xiaoping übten Selbstkritik und wurden politisch kaltgestellt, ihre Anhänger wurden durch Parteigänger Maos ersetzt. Nachdem dieses Ziel erreicht war, brauchte der Große Vorsitzende die „Roten Brigaden“ nicht mehr: Vor Aufnahme des Schulbetriebs im Oktober 1967 verhaftete die Armee allein in der Provinz Szetschuan 100.000 Rebellen als ‚Konterrevolutionäre‘.2 Bis heute gilt die große Kulturrevolution als das Trauma der jüngeren chinesischen Geschichte schlechthin. Außerdem wurde sie auch weltweit rezipiert und kann somit als globales Ereignis gelten, lange bevor das Schlagwort von der 1 Zitiert nach: Der Spiegel Nr. 32, 1. August 1966, 14. 2 Zum Geschehen vgl. Jonathan D. Spence, Chinas Weg in die Moderne, aktualisierte und erweiterte Aufl., München 2001, 709–729; sowie den Überblick von Daniel Leese, Die chinesische Kulturrevolution 1966–1976 (C.H. Beck Wissen), München 2016.

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‚Globalisierung‘ erfunden wurde. Im Westen hielten sich – vorsichtig ausgedrückt – Bewunderung für den Kampf der Jugend gegen reaktionäre Eliten und das Entsetzen über die blutigen Auswüchse die Waage. Dies war natürlich auch eine Reaktion auf den Kalten Krieg, also den Kampf zweier gesellschaftlicher Systeme um die weltweite Vorherrschaft. Mao wollte dem kommunistischen Geschichts- und Gesellschaftsmodell folgen, das Karl Marx um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Hinblick auf die wirtschaftlichen und sozialen Zustände im westlichen und mittleren Europa entwickelt hatte. Er wollte also nichts anderes erreichen, als die Umsetzung eines spezifischen wissenschaftlichen Erklärungsmodells in einem Land mit einem ganz anderen historischen Hintergrund: ein Unterfangen, das am Ende weitgehend gescheitert ist. China versuchte in der Folgezeit, das kommunistische Ideal mit spezifisch chinesischen Traditionen zu verbinden und eine ganz eigene Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftsform zu entwickeln. All dies ist ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Globalisierung, und die Probleme der Kulturrevolution sind wohl typisch für diesen Prozess: Westlich geprägte Ideale für staatliche, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ordnungen treffen auf einheimische Traditionen und Vorstellungen. Dies führte zu einem Machtkampf innerhalb der Kommunistischen Partei, den Mao mit Hilfe der mobilisierten Jugend gewinnen wollte. Ein Teil dieses Machtkampfs war die eingangs erwähnte sportliche Höchstleistung des Großen Vorsitzenden, worauf Horst Bredekamp hingewiesen hat.3 Losgelöst vom Schwimmen als der konkreten Durchführung dieser Demonstration wandte Mao damals eine Herrschaftstechnik an, die man etwa auch bei Wladimir Putin wenigstens eine Zeit lang beobachten konnte. Dieser inszenierte sich gern als Sportler und ließ sich unter anderem als Taucher ablichten, der verborgene Schätze entdeckt, als durchtrainierter Jäger mit bloßem Oberkörper, oder als Sportflieger, der Kranichen den Weg weist.4 Eine solche Instrumentalisierung des eigenen Körpers, die sicherlich dem Zweck dient, die eigene Befähigung zur Machtausübung zu unterstreichen, stößt aber auch auf Befremden, besonders im sogenannten aufgeklärten Westen. Hierzulande, so könnte man meinen, gilt eine solche Inszenierung der Körperlichkeit eines Machthabers als archaisches Relikt einer längst überwunden geglaubten Phase der Geschichte, als die Könige noch ihre Armeen selbst anführten und sich womöglich sogar ins Kampfgetümmel stürzten, einer Zeit, in der die Jagd zur Demonstration adliger Körper- und Naturbeherrschung diente und körperlich beeinträchtigte Personen 3 Horst Bredekamp, Der Schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers. Eine Studie zum schematischen Bildakt (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 86), Berlin 2014, 13–17. 4 Oliver Das Gupta, Der mit den Kranichen fliegt, in: Süddeutsche Zeitung vom 06. 09. 2012, https://www.sueddeutsche.de/politik/wladimir-putin-als-leittier-der-mit-den-kranichen-fliegt -1.1460451 (12. 06. 2019); vgl. auch Bredekamp 2014, 132, Anm. 13.

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womöglich sogar von der Machtausübung ausgeschlossen wurden.5 Freilich bemühen sich in jüngerer Zeit sogar demokratisch gewählte Politiker, ihre körperliche Leistungsfähigkeit beim Joggen oder vergleichbaren Aktivitäten unter Beweis zu stellen.6 Da nun Politiker des 20. Jahrhunderts Formen der Selbstdarstellung wählen, die auf den ersten Blick als wenig aufgeklärt und geradezu vormodern gelten können, stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, bestimmte Techniken der Machtund Herrschaftsausübung einzelnen Epochen der Geschichte zuzuordnen. Ganz grundsätzlich stehen damit historische Epochen und ihre Abgrenzung voneinander zur Debatte. Am bekanntesten ist sicherlich die Trias ‚Antike‘ – ‚Mittelalter‘ – ‚Neuzeit‘, die uns allen bekannt ist, da sie schon in der Schule gelehrt und gelernt wird.7 An den Universitäten sind diese Epochen sogar institutionalisiert, denn es gibt Professuren, die auf die genannten Epochen bezogen sind. Hintergrund dieser Kanonisierung der Epochen ist die feste Überzeugung, dass jede von ihnen eindeutig charakterisiert und so von den anderen abgehoben werden kann, auf den Punkt gebracht von Leopold von Ranke: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst.“8 Seit einigen Jahrzehnten wird die ‚Neuzeit‘ differenzierter gesehen, weshalb es auch Professuren für die ‚Frühe Neuzeit‘ und die ‚Zeitgeschichte‘ gibt. Die klassische Einteilung scheint also den Lauf der Geschichte nicht mehr angemessen zu gliedern. Schließlich ist sie nicht naturgegeben, sondern geht auf eine vergleichsweise willkürlich vorgenommene Setzung zurück. So betonte schon Johann Gustav Droysen, „daß es in der Geschichte sowenig Epochen gibt wie auf dem Erdkörper die Linien des Äquators und der Wendekreise, daß es nur Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt, um sie so desto gewisser zu fassen.“9 Die europabezogene Epocheneinteilung kam lange vor der Etablierung der kritischen Geschichtswissenschaft auf: 5 Mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit führte aber nicht per se zum Ausschluss von der Herrschaft, vgl. Oliver Auge, Physische Idoneität? Zum Problem körperlicher Versehrtheit bei der Eignung als Herrscher im Mittelalter, in: Cristina Andenna/Gert Melville (edd.), Idoneität – Genealogie – Legitimation: Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittelalter (Norm und Struktur 43), Köln/Weimar/Wien 2015, 39–58. 6 Hannes Vollmuth, Justin Trudeau. Da läuft er!, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. 05. 2017, https://www.sueddeutsche.de/stil/justin-trudeau-da-laeuft-er-1.3517379 (12. 06. 2019). 7 Vgl. allgemein Christoph Cornelissen, Epoche, in: Stefan Jordan (ed.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, 70f. 8 Leopold von Ranke, Erster Vortrag vom 25. September 1854, in: ders., Aus Werk und Nachlass, ed. Walther P. Fuchs/Theodor Schieder, 4 Bde., Bd. 2: Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe, ed. Theodor Schieder/Helmut Berding, München/Wien 1971, 59f. 9 Johann G. Droysen, Historik, Historisch-kritische Ausgabe, ed. Peter Leyh/Horst W. Blanke, 5 Bde., Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 371.

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Die Humanisten besannen sich im 16. Jahrhundert zurück auf die Antike und lehnten die Zeit zwischen sich und dieser goldenen Epoche ab. Der Begriff ‚Neuzeit‘ sollte verdeutlichen, dass ein vollkommen neues Zeitalter begonnen hatte, welches sich positiv von der angeblich gerade vergangenen Epoche – dem ‚Mittelalter‘ – abhebe. Entsprechend war mit ‚Mittelalter‘ ein dunkles Zeitalter gemeint, und noch heute wird ja bisweilen gern vom ‚finsteren Mittelalter‘ gesprochen und das Adjektiv ‚mittelalterlich‘ als Synonym für ‚rückständig‘ gebraucht; erst in der Romantik wurden die positiven Seiten der Epoche stärker betont.10 Dennoch wird man mit Bernhard Jussen von der „Erfindung einer Ausgrenzungstechnik der eigenen Vorgeschichte – des Alteritätskonzepts Mittelalter“ sprechen können, mit deren Hilfe sich die europäische Aufklärung von der so beschriebenen Zeit abwandte, „um den gesamten Kredit für die Durchsetzung der pluralistischen Zivilgesellschaft selbst einzustreichen“.11 Die uns geläufige Epocheneinteilung wurde von Georg Horn (1620–1670) und Christoph Cellarius (1638–1707) kanonisiert.12 Das Mittelalter, über dessen Definition auch die beiden anderen Epochen mittelbar bestimmt werden, begann für sie mit dem Ende des Weströmischen Reiches (476) bzw. mit Konstantin dem Großen (315–337), dem ersten christlichen Kaiser; den Endpunkt legten beide auf 1453, das Jahr des Untergangs des Oströmischen Reiches. Andere weit verbreitete Epochengrenzen sind der Einbruch der Hunnen nach Europa, der 375 die Völkerwanderung auslöste, und 1492, die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts und nicht zuletzt die Reformation, die 2017 500-jähriges Jubiläum feierte. Die meisten Vorschläge orientieren sich also an Daten der politischen Geschichte. Wirtschafts- und Sozialhistoriker legten andere Kriterien zugrunde und plädierten spätestens seit Alfons Dopsch (1869–1959) für eine lange Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter, die von der Spätantike bis weit in die Karo10 Vgl. Otto G. Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: Gerd Althoff (ed.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, 7–28. 11 Bernhard Jussen, Richtig denken im falschen Rahmen? Warum das „Mittelalter“ nicht in den Lehrplan gehört, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016), 558–576, hier 559; ebenfalls kritisch zum Mittelalterbegriff etwa Karl-Ferdinand Werner, Das „Europäische Mittelalter“: Glanz und Elend eines Konzepts, in: Karl-Ernst Jeismann/Rainer Riemenschneider (edd.), Geschichte Europas für den Unterricht der Europäer. Prolegomena eines Handbuchs der europäischen Geschichte für die Lehrer der Sekundarstufe II. Materialien einer europäischen Konferenz in Münster/Westfalen, 17.–20. Dezember 1979 (Studien zur Internationalen Schulbuchforschung. Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts 27), Braunschweig 1980, 25–35, ND in: Karl-Ferdinand Werner, Einheit der Geschichte. Studien zur Historiographie (Beihefte der Francia 45), Sigmaringen 1999, S. 3–15. 12 Vgl. etwa Egon Boshof/Kurt Düwell/Hans Kloft, Grundlagen des Studiums der Geschichte. Eine Einführung. Köln/Wien 1973, 111–115; Hartmut Boockmann, Einführung in die Geschichte des Mittelalters, München 1978, 13–18.

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lingerzeit gedauert habe.13 Für Henri Pirenne war dabei das Ende des Mittelmeerhandels durch die arabische Expansion entscheidend; mit seiner These löste er eine der am intensivsten geführten Debatten über die Epochengrenze zwischen Antike und Mittelalter aus.14 Der französische Historiker Guy Bois wollte die Epochengrenze sogar erst um das Jahr 1000 ansetzen.15 Insgesamt geht die Forschung heute von einer ‚Transformation of the Roman World‘ aus, wie ein großes Forschungsprojekt der European Science Foundation genannt wurde.16 Auch die Trennung von Mittelalter und Neuzeit ist zu hinterfragen.17 In vielerlei Hinsicht gibt es zwischen dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit gar keinen Bruch, was eine neue Epoche konstituieren würde.18 In ähnlicher Weise haben in Deutschland Historiker wie Otto Brunner und andere den Begriff ‚Alteuropa‘ eingeführt, um entweder die klassische Antike, das Mittelalter und die frühe Neuzeit zusammenzufassen (so vor allem Brunner selbst) oder die Zeit vom 13. bis zum 19. Jahrhundert zusammenfassend zu umschreiben.19 Aber schon der 13 Alfons Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung von Cäsar bis auf Karl den Großen, 2 Teile, Wien 1918–20, 2. Aufl., Wien 1923/24; zur Kontroverse um seine Thesen vgl. die repräsentativ ausgewählten Beiträge in: Paul E. Hübinger (ed.), Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter (Wege der Forschung 201), Darmstadt 1968. 14 Henri Pirenne, Mahomet et Charlemagne, Paris/Brüssel 1937; vgl. Theo Kölzer, Kulturbruch oder Kulturkontinuität? Europa zwischen Antike und Mittelalter – Die Pirenne-These nach 60 Jahren, in: Klaus Rosen (ed.), Das Mittelmeer – Die Wiege der europäischen Kultur (Cicero-Schriftenreihe 3), Bonn 1998, 208–227; eine umfassende Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung bei Michael McCormick, Origins of the European Economy. Communications and Commerce, A. D. 300–900, Cambridge 2001; zur Übergangsphase vgl. auch Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean, 400– 800, Oxford/New York 2005. 15 Guy Bois, La mutation de l’an mil. Lournand, village mâconnais de l’Antiquité au féodalisme, Paris 1989. 16 Vgl. zusammenfassend Ian N. Wood, Transformation of the Roman World, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 31 (2. Aufl. 2006), 132–134. 17 Vgl. schon Stephan Skalweit, Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff (Erträge der Forschung 178), Darmstadt 1982. 18 Vgl. Helmut Neuhaus (ed.), Die Frühe Neuzeit als Epoche (Historische Zeitschrift Beihefte 49), München 2009. 19 Vgl. Otto Brunner, [Das „ganze Haus“ und] Die alteuropäische „Ökonomik“, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 13 (1950), 114–139; ND mit erweitertem Titel in: Ferdinand Oeter (ed.), Familie und Gesellschaft, Tübingen 1966, 23–56; auch in: Otto Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 3. Aufl., Göttingen 1980, 103–127; Dietrich Gerhard, Zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte, in: ders. (ed.), Alte und Neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 10), Göttingen 1962, 40–56; Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008; zusammenfassend Christian Jaser/Ute LotzHeumann/Matthias Pohlig (edd.), Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200–1800) (Zeitschrift für historische Forschung. Vierteljahresschrift zur Erforschung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, Beiheft 46), Berlin 2012, mit zahlreichen weiterführenden Beiträgen.

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Begriff ‚Alteuropa‘ macht eines überaus deutlich: Es geht bei diesen Epochen und Periodisierungen stets um die europäische Geschichte. Sie ergeben für die indische, chinesische oder altamerikanische Geschichte wenig Sinn, auch wenn da und dort eine an die europäische Epochengliederung angelehnte Einteilung verwendet wird.20 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass in jüngster Zeit die Begriffe ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ zunehmend durch die Bezeichnung ‚Vormoderne‘ ersetzt werden. Man kann sagen, dass die ‚Vormoderne‘ regelrecht Konjunktur hat.21 Die Historiker Thomas Kohl und Steffen Patzold haben dieses Phänomen untersucht und festgestellt, dass es bis 1990 nur eine einzige wissenschaftliche Veröffentlichung gegeben hat, die die ‚Vormoderne‘ im Titel trägt, in den gesamten 1990er Jahren waren es etwas über zwanzig, dagegen allein in den Jahren 2000 bis 2005 mehr als 50, weitere 80 bis 2010 und allein 70 in den Jahren 2011 bis 2013. Die ‚Vormoderne‘ beginnt sich also tatsächlich als Epochenbegriff durchzusetzen, wofür ein kleines Beispiel angeführt sei: ‚Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution‘ – diesem Thema widmete sich der im Jahr 2000 eingerichtete Münsteraner Sonderforschungsbereich 496; seine seit 2001 erscheinende Schriftenreihe trägt dagegen den bezeichnenden Titel ‚Symbolische Kommunikation in der Vormoderne‘.22 Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass der Begriff eine ähnliche Gefahr in sich trägt wie der des ‚Mittelalters‘: Er ist rein negativ – nämlich als Gegensatz zur ‚Moderne‘ – definiert, und dies zudem ebenfalls aus europäischer oder westlicher Perspektive. So konstatiert der Soziologe Thomas Schwinn eine zweifache, sowohl vertikale als auch horizontale Abgrenzung der ‚Moderne‘, „einmal gegenüber der eigenen vormodernen Vergangenheit und zum anderen gegenüber den (noch) nicht modernen außer-westlichen Gesellschaften“.23 Der Begriff ‚Moderne‘ wird also ähnlich gebraucht wie ‚Neuzeit‘ vor ihm, nämlich als Chiffre für die eigene, als positiv empfundene Zeit. Die ‚Vormoderne‘ ist letztlich die Negation dazu und wird ähnlich gebraucht wie ‚Mittelalter‘, also mit einer starken Tendenz, die so beschriebene Zeit als defizitär zu bewerten. Vor diesem 20 Kritik daran übt aus islamwissenschaftlicher Perspektive Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, München 2018. 21 Hierzu und zum Folgenden vgl. Thomas Kohl/Steffen Patzold, Vormoderne – Moderne – Postmoderne? Überlegungen zu aktuellen Periodisierungen in der Geschichtswissenschaft, in: Thomas Kühtreiber/Gabriele Schichta (edd.), Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 6), Heidelberg 2016, 23–42. 22 Kohl/Patzold 2016, 28f. 23 Thomas Schwinn, Die Vielfalt und die Einheit der Moderne – Perspektiven und Probleme eines Forschungsprogramms, in: ders. (ed.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kulturund strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006, 7–34, hier 7.

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Hintergrund entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der Begriff ‚Moderne‘, modernitas, allem Anschein nach im 12. Jahrhundert, also mitten im europäischen Mittelalter aufkam und als Gegenbegriff zu antiquitas gebraucht wurde.24 Diese Beobachtung unterstreicht die Zeitgebundenheit der gerade beschriebenen Charakterisierungen von ‚Moderne‘ und ‚Vormoderne‘. Eine solche Vorfestlegung soll im Sonderforschungsbereich 1167 vermieden und die ‚Vormoderne‘ aus ihrem eurozentrischen Kontext gelöst werden. Daher stellt sich zunächst die Frage, ob man mit einem undifferenzierten Begriff von der ‚Moderne‘ der globalisierten Welt überhaupt gerecht wird. Zunächst gilt diese Frage dem Singular ‚Moderne‘. Demgegenüber vertrat der Soziologe Shmuel N. Eisenstadt die These von einer „Vielfalt der Moderne“. Die Moderne habe in den verschiedenen Weltgegenden ein je eigenes Gesicht und habe sich nicht überall gleich oder parallel entwickelt. Dafür verantwortlich seien die zivilisatorischen Tiefenstrukturen der Vormoderne.25 Dieser Vielgestaltigkeit soll im Sonderforschungsbereich am Beispiel von Macht und Herrschaft auf den Grund gegangen werden. Die jüngste Wendung in der Debatte um die Epocheneinteilung gibt uns sogar recht. In letzter Zeit ist immer öfter davon die Rede, eine neue Trias habe die alte letztlich abgelöst: Die Geschichte werde nun nicht mehr eingeteilt in ‚Altertum‘, ‚Mittelalter‘ und ‚Neuzeit‘, sondern in ‚Vormoderne‘, ‚Moderne‘ und ‚Postmoderne‘.26 Unter ‚Postmoderne‘ wird dabei die gerade angebrochene allerneueste Zeit verstanden, die sich unter anderem dadurch auszeichne, dass es Anzeichen für die Rückkehr vormoderner oder gar mittelalterlicher Zustände gebe – etwa religiöser und nationalistischer Fanatismus oder die Anwendung asymmetrischer Kriegsführung werden in diesem Zusammenhang angeführt. Sofern man der negativen Konnotation von ‚vormodern‘ bzw. ‚mittelalterlich‘ folgt, handelt es sich also bei der neuen Dreiteilung der Geschichte um eine zutiefst pessimistische Weltdeutung, die allmählich an die Stelle einer vielleicht übertrieben optimistischen Einschätzung der Moderne und ihrer Errungenschaften tritt. Wie auch immer man das bewerten mag, dieser Schwenk zeigt eines deutlich: Eine allzu scharfe Epochentrennung sollte man nicht vornehmen.

24 Vgl. Walter Freund, Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 4), Münster 1957; Albert Zimmermann (ed.), Antiqui und moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späteren Mittelalter, Berlin/ New York 1974 (darin v. a. die Beiträge von Wilfried Hartmann, Elisabeth Gössmann, Joachim Ehlers und Gunter Wolf); Werner 1999, 8; John Moorhead, The Word modernus, in: Latomus 65 (2006), 425–433; Wilken Engelbrecht, On ‚modernus‘ and ‚modernitas‘ in Medieval Latin, in: Mittellateinisches Jahrbuch 50 (2015), 241–252. 25 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (2000), 1–30; dt.: Die Vielfalt der Moderne (Heidelberger Max-Weber-Vorlesungen), übers. v. Brigitte Schluchter, Weilerswist 2000. 26 Vgl. Kohl/Patzold 2016, 33–39.

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Dies gilt im Übrigen auch für die Definition des Untersuchungsgegenstandes des SFB 1167 selbst, also von „Macht und Herrschaft“. Laut der weithin akzeptierten Definition von Max Weber ist ‚Macht‘ „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.27 Da aber Dynamik und Komplexität von Machtbeziehungen in der Praxis nur schwer zu erfassen seien, habe ‚Macht‘ als „soziologisch amorph“ im Gegensatz zu ‚Herrschaft‘ zu gelten. Diese beschrieb er als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“. Weiter unterscheidet Weber drei „reine Typen legitimer Herrschaft“, nämlich ‚legale‘, ‚traditionale‘ und ‚charismatische Herrschaft‘.28 Diese werden idealtypisch den bekannten Epochen zugeordnet: Die ‚traditionale Herrschaft‘, die auf dem Glauben an die Heiligkeit der überkommenen Ordnung beruht, gilt als typisch für die Vormoderne, die ‚legale Herrschaft‘ als Errungenschaft der Moderne; ‚charismatische Herrschaft‘ ist dagegen nicht eindeutig zuzuordnen. Diese Zuordnung birgt aber auch für die Erforschung von Macht und Herrschaft die Gefahr, einer stereotypen Epocheneinteilung zu folgen. Daher ist ein mit Blick auf die Epochenzuordnung neutraler Theorieansatz zu Macht und Herrschaft notwendig. So unterscheidet Anthony Giddens zwei Arten von ‚Macht‘: Im weiteren Sinne sei darunter die Fähigkeit zu verstehen, zu agieren und Ereignisse zu beeinflussen. Im engeren Sinne bedeute ‚Macht‘ das konkrete Einwirken auf die Handlungen anderer, was Webers Vorstellungen von ‚Herrschaft‘ weitgehend entspricht. Folgt man dieser Setzung, zielt ‚Herrschaft‘ auf die Interaktion von Personen oder Personengruppen, während ‚Macht‘ die Fähigkeit zum Handeln bezeichne. Giddens verzichtet also auf den Legitimitätsbegriff,29 der Weber zu seiner Einteilung der Herrschaftsformen mit ihren impliziten Epochenzuordnungen geführt hat. Gleichwohl wird man bei der Erforschung von Macht und Herrschaft von strukturellen Unterschieden auszugehen haben, die man bei oberflächlicher Betrachtung auf die Unterscheidung von ‚Moderne‘ und ‚Vormoderne‘ zurückführen könnte. Um aber nicht den gerade skizzierten Problemen bei der Ein27 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, ed. Johannes Winckelmann, Studienausgabe, 5. Aufl., Tübingen 1972, 28f. (Originalausg. 1922), Neuauflage: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920, ed. Edith Hanke/Thomas Kroll (Max Weber Gesamtausgabe I/23), Tübingen 2013, 210f. (im Folgenden zitiert nach der Studienausgabe von 1972); zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Webers Herrschaftssoziologie vgl. etwa Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen (edd.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, Tübingen 2001. 28 Vgl. Weber 1972/1922, 124. 29 Vgl. schon die Kritik von Otto Brunner, Bemerkungen zu den Begriffen ‚Herrschaft‘ und ‚Legitimität‘, in: Karl Oettinger/Mohammed Rassen (edd.), Festschrift für Hans Sedlmayr, München 1962, 116–133.

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teilung der Geschichte aufzusitzen, wird die ‚Moderne‘ mit Jürgen Osterhammel pragmatisch als im Laufe des „langen 19. Jahrhunderts“ anbrechende „neue Zeit“ verstanden, die als „randoffen“ zu charakterisieren sei, was es erlaube, die zeitlichen Unterschiede in den Modernisierungsentwicklungen der einzelnen Regionen zu berücksichtigen.30 Folglich erstreckt sich die ‚Vormoderne‘ als Untersuchungszeitraum unseres Forschungsvorhabens auf die Zeit vor diesem langen Jahrhundert und eröffnet auch die Möglichkeit, bis an eben jene offenen Ränder zu blicken. Von einem solchen offenen Rand war zu Beginn dieser Ausführungen die Rede: Der Vorsitzende Mao bediente sich im Jahr 1966 scheinbar vormoderner Strategien, um seine Macht zu sichern, was anhand der folgenden Aspekte noch einmal hervorgehoben sei: – Mit seiner sportlichen Großtat löste Mao eine Ereigniskette konfliktgeladener Situationen aus. Es war ein Signal für seine Anhänger, die „Roten Brigaden“, auf deren Unterstützung er zählte. Tatsächlich waren diese bereit, ihm überall hin zu folgen und gegen seine mutmaßlichen Gegner vorzugehen. Diese wurden wirkungsvoll zum Feindbild stilisiert, das mit allen Mitteln bekämpft werden durfte. Mao schuf also einen Konsens darüber, wer zu bekämpfen sei, und konnte so in dem von ihm provozierten Konflikt auf ihre bedingungslose Unterstützung zählen. – Mit dem Durchschwimmen des Yangzi-Flusses gelang es Mao Zedong, seine körperliche Verfassung zum Thema zu machen und die gelenkte chinesische Öffentlichkeit von seiner nach wie vor bestehenden Befähigung zur Ausübung der politischen Führung im Lande zu überzeugen. Mit anderen Worten: Er lenkte alle Aufmerksamkeit auf seine Person und setzte – um mit Max Weber zu sprechen – auf sein Charisma. Charisma ist nun aber an Personen gebunden, und damit haben wir mitten im 20. Jahrhundert ein herausragendes, aber sicher nicht das einzige Beispiel für die Wirksamkeit persönlicher Machtausübung. – Der Ort für Maos Demonstration körperlicher Fitness war gut gewählt: Zum einen spielt der Yangzi eine überragende Rolle für das Selbstverständnis 30 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 1286; vgl. dazu u. a. Franz J. Bauer, Das „lange“ 19. Jahrhundert. Profil einer Epoche (Reclams Universal-Bibliothek 17043), Stuttgart 2004; Eric J. Hobsbawm, The Age of Revolution 1789–1848, London 1962, dt.: Das lange 19. Jahrhundert, übers. v. Johann G. Scheffner, Bd. 1: Europäische Revolutionen 1789–1848, Darmstadt 2017; ders., The Age of Capital 1848–1875, London 1975, dt.: Das lange 19. Jahrhundert, übers. v. Johann G. Scheffner, Bd. 2: Die Blütezeit des Kapitals 1848–1875, Darmstadt 2017; ders., The Age of Empire 1875–1914, London 1987, dt.: Das lange 19. Jahrhundert, übers. v. Johann G. Scheffner, Bd. 3: Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Darmstadt 2017; Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl. 13), Stuttgart 2001.

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Chinas. Vor allem aber hatte Mao das Machtzentrum verlassen, wo seine Ideen nicht so wohl gelitten waren. So spielte er die Peripherie des chinesischen Riesenreiches gegen das Machtzentrum in Peking aus – alles in allem mit Erfolg. – Schließlich ging die gesamte Kulturrevolution mit einer ins Unermessliche gesteigerten Verherrlichung des großen Vorsitzenden einher, gepaart mit einer ebenso maßlosen Kritik an seinen Feinden. Mit diesen Aspekten sind die vier großen Themenbereiche angerissen, die wir im Sonderforschungsbereich 1167 als zentrale Untersuchungskategorien für Phänomene von Macht und Herrschaft ansehen; sie sind in die folgenden Begriffspaare gefasst: ‚Konflikt und Konsens‘, ‚Personalität und Transpersonalität‘, ‚Zentrum und Peripherie‘ sowie ‚Kritik und Idealisierung‘. Zudem wird deutlich, warum unser Sonderforschungsbereich auch Relevanz für die jüngere Vergangenheit und Gegenwart besitzt. Diese Relevanz speist sich weniger aus oberflächlich erscheinenden Aktionen wie den körperbetonten Höchstleistungen eines Mao Zedong, sondern vor allem aus den tief in den Traditionen verwurzelten Strukturen von Macht und Herrschaft. Den Blick für Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu schärfen und eine entsprechende Phänomenologie möglichst jenseits eurozentrischer Weltdeutungen aufzustellen – das ist das Ziel des SFB 1167. Dies geschieht auf der Grundlage einiger methodischer Überlegungen: Strukturen können für die sogenannte ‚Vormoderne‘ nur analysiert werden, wenn man Personen in den Blick nimmt. Schließlich ist die überwältigende Mehrheit der heranzuziehenden vormodernen Überlieferungsträger – seien es Sachzeugnisse, normative oder erzählende Quellen – entweder in der (unmittelbaren) Nähe des Herrschers (etwa an dessen Hof) entstanden bzw. setzt sich inhaltlich in positiver wie negativer Weise mit ihm auseinander. Den Herrscher kann man daher zunächst einmal nur als Person fassen, wobei wir davon ausgehen, dass er seine Macht erst durch die Kommunikation mit anderen Personen zur Geltung bringen kann. Den daraus resultierenden verschiedenen Konstellationen der persönlichen Beziehungen wird am ehesten der Begriff ‚Konfiguration‘ gerecht. Dieser steht – in Anlehnung an Norbert Elias’ Gebrauch von ‚Figuration‘ – für die gegenseitige Abhängigkeit der Akteure eines Herrschaftssystems, die ihre Positionen permanent neu aushandeln.31 Diese Prozesse, oft genug aber nur ihre Ergebnisse, werden in den 31 Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), 2 Bde., Frankfurt a. Main 1976 (Originalausg. Basel 1939); vgl. auch die Entlehnung bei Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter, Ordnungskonfigurationen. Die Erprobung eines Forschungsdesigns, in: dies. (edd.), Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 64), Ostfildern 2006, 7–18; Stefan Weinfurter, Ordnungskonfigurationen im Konflikt. Das

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Quellen reflektiert. Dies führt zu einer weiteren Dimension der Konfigurationen von Macht und Herrschaft: das komplexe Verhältnis von Text und historischer Realität. Mit Johannes Fried kann man konstatieren, dass die Quellen eine „Geschichte des praktischen Denkens, des sozialen Wissens, des geistigen Habitus und Verhaltens sozialer Gruppen“ reflektieren.32 Diese Erkenntnis impliziert auch eine Aufwertung fiktionaler Texte und narratologischer Strategien für die Erforschung von Macht und Herrschaft. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Herrscher, Eliten und Beherrschten wohl nur im Idealfall völlig spannungsfrei. Bereits die Etablierung von Macht und Herrschaft erfolgt in vielen Fällen mit Gewalt. Auf Dauer können menschliche Gemeinschaften aber nicht ausschließlich mit physischem Zwang organisiert werden, hinzutreten muss die mehr oder minder freiwillige Anerkennung durch einen relevanten Teil der Beherrschten. Laut dem Historiker Bernd Schneidmüller wird Macht zur Akzeptanzsteigerung „verklärt und entweder in der Transzendenz oder im Konsens verankert“.33 In der Regel wird beides miteinander kombiniert: Den politischen Eliten fällt es meist leichter, einem sakral überhöhten Herrscher zu folgen, als sich reiner Gewaltandrohung zu fügen. Kommt es dennoch zu einem Einsatz von Gewalt, wird auch dieser im Idealfall – also bei weitem nicht immer – durch ungeschriebene Normen, Rituale oder gar kodifiziertes Recht kanalisiert. Je nach kulturellem Kontext kann dieses Gefüge von Normen, Werten, Ritualen und Recht stark variieren. Dies gilt nicht allein dafür, was im Konflikt erlaubt oder gar gefordert ist, sondern auch dafür, wer überhaupt mit wem wo streiten darf und kann, oder welche Gegenstände streitfähig sind. Solche akzeptierten Formen des Konflikts, der eben nicht als ausschließlich negatives Phänomen gefasst werden darf, sondern auch positive und sogar integrierende Wirkungen entfalten kann,34 verweisen auf den zweiten, von Beispiel Kaiser Heinrichs III., in: Jürgen Petersohn (ed.), Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters (Vorträge und Forschungen 54), Stuttgart 2001, 79– 100; Bernd Schneidmüller, Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), 485–500. 32 Johannes Fried, Recht und Verfassung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und kollektiver Erinnerung: Eheschluß und Königserhebung Heinrichs I., in: Albrecht Cordes (ed.), Stadt – Gemeinde – Genossenschaft. Festschrift für Gerhard Dilcher zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, 293–320, 304; zum ‚linguistic turn‘ in der Mediävistik vgl. Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, 113–117. 33 Bernd Schneidmüller, Verklärte Macht und verschränkte Herrschaft. Vom Charme vormoderner Andersartigkeit, in: Matthias Becher/Stephan Conermann/Linda Dohmen (edd.), Macht und Herrschaft transkulturell. Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung (Macht und Herrschaft 1), Göttingen 2018, 91–121, hier 106. 34 Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, 247–336; vgl. etwa Tobias Werron, Wettbewerb als historischer Begriff, in:

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Schneidmüller genannten Faktor: auf den Konsens. Dem Konsens zwischen dem Herrscher und den Eliten misst die neuere Forschung große Bedeutung zu – zumindest für das europäische Mittelalter.35 Ein Mindestmaß an Konsens mit den politischen Eliten und darüber hinaus mit den ‚Beherrschten‘ im Allgemeinen ist sicherlich die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Herrschaftsausübung. Immer wieder heben die Quellen etwa für das europäische Mittelalter hervor, dass wichtige Entscheidungen des Herrschers in Übereinstimmung mit den Beherrschten, insbesondere den politischen Eliten, getroffen wurden. Wer sich diesem Konsens nicht anschließen wollte, der wahrte eine räumliche Distanz zum Herrscher, so die gängige Meinung der Forschung, wobei die Quellen häufig ein Idealbild zeichnen, das es näher zu analysieren gilt. Vor allem aber gilt es zu prüfen, ob dieser spezifisch europäische Ansatz der jüngeren Mediävistik auf andere vormoderne Ordnungen, insbesondere in außereuropäischen Räumen, übertragen werden kann. Bei Entscheidungen über die Nachfolge eines obersten Herrschaftsträgers wurden bestimmte Regeln beachtet, die in vielen Fällen zu einer bemerkenswert langen Kontinuität politischer Gemeinwesen beigetragen haben.36 Der einfachste Grundsatz ist der der Vererbung, bei der die Position des Vaters nach dessen Tod zumeist auf den ältesten Sohn übertragen wird. Doch sind in der Praxis stets auch Angehörige der politischen Elite beteiligt. Erinnert sei etwa an das Wahlkönigtum im Heiligen Römischen Reich des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Aber etwa auch im mittelalterlichen Kaschmir wurde die Königwürde nicht einfach an den ältesten Sohn weitergegeben, sondern die Thronfolge war in aller Regel das Ergebnis eines komplizierten politischen Prozesses unter Beteiligung der führenden Kreise des Reiches.37 Letztlich wirft dies die Frage nach dem Charakter vormoderner Macht und Herrschaft auf: Für das europäische Früh- und Hochmittelalter hat die ForRalph Jessen (ed.), Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen, Frankfurt a. Main/New York 2014, 59–93; Tobias Werron, Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der ‚Soziologie der Konkurrenz‘, in: Hartmann Tyrell/Otthein Rammstedt/Ingo Meyer (edd.), Georg Simmels große „Soziologie“. Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren, Bielefeld 2011, 227–258. 35 Vgl. Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig et al. (edd.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, 53–87; Bernd Schneidmüller, Zwischen Gott und den Getreuen. Vier Skizzen zu den Fundamenten der mittelalterlichen Monarchie, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), 193–224; Schneidmüller 2018, 109–112. 36 Für Europa vgl. den jüngsten Überblick: Matthias Becher (ed.), Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017; künftig: Tilmann Trausch (ed.), Norm, Normabweichung und Praxis des Herrschaftsübergangs in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 3), Göttingen 2019. 37 Vgl. den Beitrag von Konrad Klaus in diesem Bd.

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schung postuliert, das politische und gesellschaftliche Leben sei allein von persönlichen Beziehungen geprägt gewesen, etwa im Rahmen der Gefolgschaft oder des Lehnswesens. Herrschaft sei daher nicht einseitig ausgeübt worden, sondern habe auf Gegenseitigkeit beruht: Während der Herr „Schutz und Schirm“ gewährt habe, sei der Gefolgs- oder Lehnsmann zu „Treue“ in Form von „Rat und Hilfe“ verpflichtet gewesen.38 Erst im Verlauf des Spätmittelalters habe man dann „die zwei Körper des Königs“ wiederentdeckt, also die Trennung von öffentlicher Funktion und privater Person.39 Demnach hätten vor allem Rituale und nicht Institutionen die Ausübung königlicher Macht und Herrschaft bestimmt, die allein personal zu denken sei.40 Von einem „Staat“ könne nicht einmal ansatzweise die Rede sein – so die Position von Gerd Althoff, Johannes Fried, Bernhard Jussen oder Jörg W. Busch.41 Diese Forschungsrichtung wird jedoch den Aussagen der Quellen über die diversen Formen und Dimensionen der Herrschaftsorganisation nicht gerecht.42 Vor allem aber macht sie einen grundsätz38 Vgl. zusammenfassend Hans K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, 4 Bde., Stuttgart 1985–2011. 39 Ernst Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957; dt.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 2. Aufl., München 1992. 40 Vgl. etwa Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003; Hermann Kamp, Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2001; Karl-Heinz Spiess, Fürsten und Höfe im Mittelalter, Darmstadt 2008; Gerd Althoff (ed.), Frieden stiften: Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011. 41 Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart/Berlin/Köln 2000; Johannes Fried, Der karolingische Herrschaftsverband im 9. Jh. zwischen „Kirche“ und „Königshaus“, in: Historische Zeitschrift 245 (1982), 1–43; ders., Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Jürgen Miethke/Klaus Schreiner (edd.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, 73–104; Bernhard Jussen, Um 2005 – Diskutieren über Könige im vormodernen Europa. Einleitung, in: ders. (ed.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, XI–XXIV; ders., Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2014, 81–84; Jörg W. Busch, Die Herrschaften der Karolinger 714–911 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 88), München 2011, 56–59. 42 Vgl. Hans-Werner Goetz, Staatsvorstellung und Verfassungswirklichkeit in der Karolingerzeit, untersucht anhand des Regnum-Begriffs in erzählenden Quellen, in: Jörg O. Fichte/ Karl-Heinz Göller/Bernhard Schimmelpfennig (edd.), Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongreßakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen 1984 (Kongreßakten zum Symposium des Mediävistenverbandes 1), Berlin/New York 1986, 229–240; Hans-Werner Goetz, Regnum. Zum politischen Denken der Karolingerzeit, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 104 (1987), 110–189; ders., Staatlichkeit, Herrschaftsordnung und Lehnswesen im Ostfränkischen Reich als Forschungsprobleme, in: Il feudalesimo nell’alto medioevo. 8–12 aprile 1999 (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 47,1), Spoleto 2000, 85–143.

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lichen Fehler: Sie sieht im modernen Staat zwar nicht das Ziel der historischen Entwicklung, aber sie erhebt ihn zum Maßstab für das europäische Mittelalter, das mithin als defizitär charakterisiert wird. Dagegen hat Rudolf Schieffer mit Recht gemahnt, „die Frage nach Vorhandensein und die Qualität staatstheoretischer Konzepte […] von der Untersuchung des Aufbaus und der Effizienz des Herrschaftsapparates“ zu trennen.43 Macht und Herrschaft werden allerdings nicht nur über Personen, sondern auch über Räume ausgeübt. Bekanntlich sind Räume aber nicht einfach gegeben, sondern ähnlich wie politische, ökonomische und juristische Strukturen gesellschaftlich konstruierte Größen.44 Sie können sich abhängig von den Akteuren ständig verändern, weil diese in vielen Fällen verschiedene Raumkonzepte favorisieren, was zu ständigen Anpassungsprozessen führt. Die Etablierung von Macht und Herrschaft im „Raum“ ist daher das Ergebnis verschiedener, einander überlagernder Konstruktionsprozesse.45 Sie ist allerdings nur in Ausnahmefällen längerfristig stabil, sondern wird in aller Regel immer wieder hinterfragt, unterliegt also den erwähnten Aushandlungsprozessen, wie zahlreiche Grenz- und Territorialkonflikte zeigen. Wie aber sind Macht und Herrschaft sowie ihre Träger grundsätzlich zu bewerten? Dies ist der vierte große Themenkreis, dem der SFB 1167 nachgeht, da es in nahezu allen Gesellschaften einen Diskurs über die Frage gibt, was gute und was schlechte Herrschaft sei und aus welchen Gründen die aktuell erfahrenen Verhältnisse zu bejahen und zu stützen oder, im Gegenteil, anzugreifen und zu überwinden seien.46 Literarische Texte bieten dazu besondere Einsichten, weil in 43 Rudolf Schieffer, Die internationale Forschung zur Staatlichkeit in der Karolingerzeit, in: Walter Pohl/Veronika Wieser (ed.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven (Denkschriften der Österreichische Akademie der Wissenschaften, PhilosophischHistorische Klasse 386 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, 43–49, hier 49. 44 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1506), Frankfurt a. Main 2001; Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1761), Frankfurt a. Main 2006; Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009; Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt a. Main/New York 2013. 45 Vgl. Beispielhaft Renate Dürr/Gerd Schwerhoff (edd.), Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit (Zeitsprünge 9, 3/4), Frankfurt a. Main 2005. 46 Zur deutschen Literatur des Mittelalters vgl. Joachim Heinzle, Literatur und historische Wirklichkeit. Zur fachgeschichtlichen Situierung sozialhistorischer Forschungsprogramme in der Altgermanistik, in: Eckart C. Lutz (ed.), Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997 (Scrinium Friburgense 11), Fribourg 1998, 93–114; Ursula Peters, Die ‚Gesellschaft‘ der höfischen Dichtung im Spiegel der Forschungsgeschichte, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), 3–28.

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ihnen viel eher als in der oft auf den Herrscher ausgerichteten Historiographie von einem Fehlverhalten des Herrschers die Rede ist. Aber es gibt bei der Untersuchung von Kritik und Idealisierung auch in anderen Quellengattungen bemerkenswerte Befunde: Die Zentralverwaltung des 1911 untergegangenen chinesischen Kaiserreichs etwa kannte seit Beginn der Westlichen Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 9 n. Chr.) Ämter, die offiziell für Kontrolle und Kritik des Herrschers zuständig waren.47 In den sogenannten „Einsprüchen“, „Zurechtweisungen“ oder „Remonstrationen“, die schriftlich beim kaiserlichen Sekretariat einzureichen waren, wurde ein breites Spektrum tagespolitischer Fragen diskutiert – von der Haushalts-, Heirats-, Militär- und Außenpolitik bis hin zum Lebensstil des Herrschers. Hier haben wir also eine Form der Herrschaftskritik vor uns, die nicht destabilisierend wirkte, sondern gerade zum Erhalt einer Dynastie beitrug. Dies ist jedoch nur eine von vielen exemplarischen Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft, welche in den folgenden Beiträgen präsentiert werden.

Quellen- und Literaturverzeichnis Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997. Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart/Berlin/Köln 2000. Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Gerd Althoff (ed.), Frieden stiften: Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011. Oliver Auge, Physische Idoneität? Zum Problem körperlicher Versehrtheit bei der Eignung als Herrscher im Mittelalter, in: Cristina Andenna/Gert Melville (edd.), Idoneität – Genealogie – Legitimation: Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittelalter (Norm und Struktur 43), Köln/Weimar/Wien 2015, 39–58. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009. Franz J. Bauer, Das „lange“ 19. Jahrhundert. Profil einer Epoche (Reclams UniversalBibliothek 17043), Stuttgart 2004. Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, München 2018. Matthias Becher (ed.), Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017. Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008.

47 Vgl. den Beitrag von Christian Schwermann in diesem Bd.

Vormoderne Macht und Herrschaft. Zugänge, Phänomene, Perspektiven

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Christian Schwermann

Konfliktmanagement im antiken China. Der Han-Kaiser Wu (reg. 141–87 v. Chr.) im Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt1

Abstract Utilizing the concept of conflict management, this paper investigates the breakdown of consensual rule at early imperial Chinese courts, taking the reign of Emperor Wu of the Han (Han Wudi 漢武帝, r. 141–87 B. C. E.) as an instructive example. It can be shown that exceptionally strong-minded and powerful individuals, who acceded to the throne, survived the first onslaughts from opponents and managed to replace the established court elites with men of their own choice, were able to suspend for a long time the preventionist mechanisms of resolving or settling conflicts at court, or even better: of minimizing escalation and nipping strife in the bud. – Emperor Wu of the Han was a prime example for this forceful style of government. Men like him, however, had to pay a high price for abolishing the ancient ideal of a courtly community of consent, which was based on a full-fledged notion of constructive dissent and a tri-partite model of decision-making, comprising the three ideal stages of counsel, royal decree, and sanctioning of the decree. If conflicts broke out, they tended to do so at the third stage of decision-making, when public display of consensus was expected, and at that stage could only be suppressed by use of violence. Moreover, a ruler who extended his power beyond the limits of what consensual rule alotted to him ran the high risk of being openly criticized by contemporaries and being despised by posterity. Even before he had passed away, high court officials tried to make sure that he was not succeeded by his like but by a weak heir apparent who ideally was still in his minority and could be moulded to whatever shape required or desired. This is exactly what happened in the case of Han Wudi: Both contemporaries and immediate posterity depicted his long reign in a highly ambivalent way, his foreign and financial policies were by and large rescinded within a few years after his death, and a seven-year old child was chosen as his successor, made heir apparent only two days before Emperor Wu’s demise and controlled by the court officials for the rest of his short life.

1 Für wertvolle Hinweise danke ich Paul Fahr und Christoph Harbsmeier.

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Christian Schwermann

Entgegen dem landläufigen Vorurteil von der ‚orientalischen Despotie‘2 waren chinesische Kaiser häufig eher schwache Vertreter der Spezies Monarch. Sie agierten – oder agierten eben auch nicht – im Spannungsfeld der Interessen von drei Gruppen am Hof: (1) der Führungsbeamten in der Zentralverwaltung, (2) der Eunuchen im kaiserlichen Harem und Palast und (3) der Familie der Kaiserin. Zu den Führungsbeamten gehörten (1) der Premierminister oder Kanzler (chengxiang 丞相) – hiervon gab es zu Zeiten zwei, nämlich den Kanzler zur Linken und zur Rechten –, (2) der Kaiserliche Großwürdenträger (yushi dafu 御 史大夫), zuständig für die Aufsicht über die Zentralverwaltung, daher auch von manchen als Zensor bezeichnet,3 sowie (3) die Neun Minister ( jiu qing 九卿), das heißt die Leiter der obersten Regierungsbehörden, nämlich der Ministerien für das Hofzeremoniell, den kaiserlichen Hofstaat, die Palastgarde, das Transportwesen, die Rechtsprechung, den Empfang von Gesandtschaften, die kaiserliche Familie, die Landwirtschaft (einschließlich der Getreidespeicher und öffentlichen Einnahmen) und die kaiserliche Schatzkammer, d. h. die kaiserlichen Privateinkünfte.4 Diese drei Gruppen – die Führungsbeamten, Eunuchen und Angehörigen der Kaiserin – waren entweder unmittelbar an der Regierung beteiligt oder versuchten, von außen Einfluss auf diese zu nehmen. Dabei ist davon auszugehen, dass es Interessenkonflikte nicht nur zwischen diesen, sondern auch innerhalb dieser drei Fraktionen gab. Nicht zu unterschätzen war außerdem die Entscheidungsmacht der Kaiserinmutter, das heißt in der Regel der Hauptfrau des vorangehenden Herrschers, und der Kaiseringroßmutter, sofern diese noch

2 Es geht zurück auf Karl August Wittfogel, Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power, New Haven/London 1957. Den Boden für seine These bereitete Wittfogel (1896– 1988) mit der Theorie der hydraulischen Gesellschaft, siehe ders., Wirtschaft und Gesellschaft Chinas. Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer grossen asiatischen Agrargesellschaft. Erster Teil: Produktivkräfte, Produktions- und Zirkulationsprozess (Schriften des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt a. M. 3), Leipzig 1931. 3 In einem einschlägigen Handbuch zu den Beamtentiteln der Kaiserzeit schreibt etwa Charles O. Hucker (A Dictionary of Official Titles in Imperial China, Stanford 1985, 593): „[…], grand master of Censors: Censor-in-chief, head of the Censorate (yü-shih t’ai) and one of the most eminent officials of the central government, in administrative charge of Censors (yü-shih) of many sorts who maintained disciplinary surveillance over the officialdom, freely impeaching any official for public or private misconduct.“ Die verkürzende Gleichsetzung mit dem Amt der römischen censores geht wohl auf Max Weber (1864–1920) zurück; vgl. seine Darstellung der Aufsicht über die kaiserliche Zentralverwaltung, die „dem Druck der öffentlichen Meinung gegenüber der Amtsführung der Beamten ein ziemlich starkes und oft recht wirksames Ventil“ geöffnet habe, in Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: Konfuzianismus und Taoismus, ed. Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko (Studienausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe 1,19), Tübingen 1991, 126 und 129 zum Zitat. 4 Vgl. die Übersicht von Michael Loewe, Crisis and Conflict in Han China, 104 BC to AD 9, London 1974, 308–311 (= Loewe 1974b).

Konfliktmanagement im antiken China

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lebte. Mit Hilfe ihrer Seilschaften konnten diese beiden vor allem minderjährige Herrscher bevormunden oder gar ausschalten. Zu Beginn der Westlichen Han 漢-Dynastie (206 v. Chr. bis 9 n. Chr.) kamen noch die entfernten Verwandten des Kaisers hinzu. Sie hielten sich nur zeitweise am Kaiserhof auf und residierten ansonsten in ihren Unterherrschaften, den sogenannten Titularkönigtümern in der Osthälfte des Reiches. Mit diesen waren sie bei Gründung der Dynastie ausgestattet worden. Als das Kaiserhaus den Versuch unternahm, sie der Zentralverwaltung zu unterwerfen, setzten sie sich zur Wehr und schlossen sich 154 v. Chr. im Aufstand der Sieben Könige zusammen.5 Zunächst ging es ihnen lediglich darum, den status quo und ihre Privilegien wie das Gewaltmonopol und das Münz- und Steuereintreibungsrecht zu verteidigen. Aber am Ende wollte ihr Anführer sich selbst zum Kaiser krönen lassen, was freilich misslang und zur Zerschlagung der Titularkönigtümer in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. führte. Diese strukturellen Probleme und die aus ihnen resultierenden Konstellationen in Zentrale und Peripherie erschwerten nicht nur das Regieren. Sie dürften beim Monarchen auch den Sinn dafür geschärft haben, dass er sich in ständiger Lebensgefahr befand. Doch damit nicht genug: Der nominell mächtigste Mann war auch noch in einem Korsett von Hofzeremoniell und potentiell lähmenden Verwaltungsstrukturen gefangen. Mit ihren Eingaben und administrativen Routinen konnten die Hofbeamten den Entscheider systematisch überfordern, ihn gleichsam unter einer Lawine von Informationen begraben und handlungsunfähig machen. Er wiederum konnte versuchen, nach dem Prinzip des divide et impera und mithilfe von wechselnden Koalitionen diese Widerstände zu überwinden. Oder aber er kapitulierte, zog sich resigniert von den Regierungsgeschäften zurück, widmete sich den weniger konfliktgeladenen Seiten des Herrscherlebens, zum Beispiel seinem Harem oder der Jagd, und überließ das Regieren seinen Führungsbeamten. So mochte er seine Chance vergrößern, eines natürlichen Todes zu sterben, blieb dafür allerdings bedeutungslos zu Lebzeiten und unter Umständen ein Schandfleck in den Augen der Nachwelt. Sein Nachruhm hing nämlich entscheidend davon ob, ob man ihm einen guten oder einen schlechten kanonischen Namen verlieh, bei welchem ihn nach seinem Ableben unter anderem die Geschichtsschreiber nannten.6 5 Siehe hierzu Reinhard Emmerich, Die Rebellion der Sieben Könige, 154 v. Chr., in: ders./ Hans Stumpfeldt (edd.), Und folge nun dem, was mein Herz begehrt. Festschrift für Ulrich Unger zum 70. Geburtstag (Hamburger Sinologische Schriften 8), 2 Bde., Hamburg 2002, Bd. 2, 397–497. 6 Daher werden die sogenannten shihao 諡號 in der Sekundärliteratur auch als posthume Namen bezeichnet. Siehe Hans van Ess, The Origin of Posthumous Names in ‚Shih-chi‘ 14, in: Chinese Literature. Essays, Articles, Reviews (CLEAR) 30 (2008), 133–144, und Christian Schwermann, Schlechte Namen, Leserlenkung und Herrscherkritik in antiken chinesischen

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Christian Schwermann

In ihrem Realismus war die vorkaiserzeitliche legistische Herrschaftstheorie allerdings vom Regelfall des durchschnittlichen Herrschers, das heißt von dem des mittelmäßig zum Regieren begabten bzw. motivierten Dynasten ausgegangen.7 Deshalb hatte sie das Modell einer bürokratischen Herrschaft ersonnen, welche den Monarchen nicht nur entlastete, sondern tendenziell auf seine zeremoniellen Funktionen reduzierte.8 Von dieser Sicherheitsvorkehrung versprach man sich institutionelle und dynastische Kontinuität oder „eternal empire“, wie es Yuri Pines in seiner einschlägigen Studie zur Entwicklung der Staatsideologie des frühen Kaiserreichs in der ausgehenden Zhanguo-Zeit nennt.9 Zugleich wünschten sich die Führungsbeamten in ihrem Streben nach mehr Partizipation einen schwachen und formbaren Herrscher, den sie jederzeit nach ihren politischen Vorstellungen beeinflussen konnten – einen Erfüllungsgehilfen, der das dekretierte, was sie ihm diktierten. Was aber geschah, wenn ein starker und machtbewusster Kaiser den Thron bestieg? Wenn er diesen obendrein noch mehrere Jahrzehnte besetzte, indem er Texten, in: Günther Distelrath/Ralph Lützeler/Barbara Manthey (edd.), Auf der Suche nach der Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Festschrift für Hans Dieter Ölschleger zu seinem sechzigsten Geburtstag von seinen Freunden und Kollegen (Bonner Asienstudien 11), Berlin 2012, 539–594. Zum Ursprung posthumer Namen unter den frühen Westlichen Zhou 周 (1045–771 v. Chr.) siehe Du Yong 杜勇, Jinwen ‚sheng cheng shi‘ xinjie 金文“生称谥”新解 (A New Interpretation of the Use of Posthumous Titles for Living Western Zhou Kings as Seen in the Inscriptions on Ancient Bronze Objects), in: Lishi yanjiu 历史研究 (Historical Research) 2002/3, 3–12, 190, der die ältere These von Guo Moruo 郭沫若 (1892–1978) widerlegt, die kanonischen Namen seien anfänglich schon zu Lebzeiten ihrer Träger verliehen worden. Eine detaillierte Analyse der Vergabe kanonischer Namen an hohe Würdenträger der Chunqiu 春 秋- (722–481 v. Chr.) und Zhanguo 戰國-Zeit (5. Jh. bis 221 v. Chr.) bietet Dong Changbao 董 常保, Chunqiu Zuozhuan shihao yanjiu 春秋左傳諡號研究 (Studien zu den kanonischen Namen in ‚Chunqiu‘ und ‚Zuozhuan‘), Chengdu 2013. 7 Vgl. Han Feizi 韓非子, Kap. 40, in: Han Feizi jijie 韓非子集解, ed. Wang Xianshen 王先慎, Peking 2003, juan 17, 392: 且夫堯、舜、桀、紂千世而一出,是比肩隨踵而生也;世之治 者不絕於中,吾所以為言勢者,中也。中者,上不及堯、舜而下亦不為桀、紂,抱法 處勢則治,背法去勢則亂。 Vgl. die von mir leicht modifizierte Übersetzung von Christoph Harbsmeier (TLS – Thesaurus Linguae Sericae. An Historical and Comparative Encyclopaedia of Chinese Conceptual Schemes, ed. Christoph Harbsmeier/Jiang Shaoyu, http://tls.uni-hd. de/home_en.lasso [20. 07. 2019]): „Moreover when Yao, Shun [der Legende nach zwei beispielhafte Monarchen], Jie and Zhou [zwei legendäre Tyrannen] emerge once in a thousand generations, then this counts as coming up shoulder-to-shoulder, heel on heel. Those who govern the world are incessantly of the mediocre kind. Those to whom I refer when I talk about position of power are the ones of medium talent. Those who are of medium talent are not up to Yao and Shun at the top and they are not as low as Jie and Zhou below. If those of medium talent embrace the norms and dwell in their position, then there is good government; if they go against the norms and leave their position of power, then there is political turmoil.“ 8 Zum Idealtypus der bürokratischen Herrschaft siehe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriss der Sozialökonomik 3), Tübingen 1922, 124–130. Zum Literatenstand im antiken und kaiserlichen China als Mischform siehe ders. 1991, 111–135. 9 Siehe Yuri Pines, Envisioning Eternal Empire. Chinese Political Thought of the Warring States Era, Honolulu 2009.

Konfliktmanagement im antiken China

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die Anschläge der alten Machteliten auf seine Person überlebte? Und wenn er auch noch mit einem hohen Alter gesegnet war? Wie setzte er seine Interessen durch? Welche Auswirkungen hatte dies auf das Konfliktmanagement am Kaiserhof ? Und was geschah nach seinem Tod, mit dem er doch vermutlich ein großes Machtvakuum hinterließ? Diesen Fragen wird der vorliegende Beitrag am Beispiel der Herrschaft des Han-Kaisers Wu 武 (Xiaowu huangdi 孝武皇帝, kurz: Han Wudi 漢武帝) nachgehen. 156 v. Chr. geboren, regierte er von 141 bis zu seinem Tod 87 v. Chr. – so lange wie kein Kaiser vor ihm und wie nach ihm erst wieder der Kangxi 康熙-Kaiser, der von 1661 bis 1722 über das Qing 清-Reich (1644–1911) herrschte. Der nachfolgenden Analyse von Konflikt und Konsens am Kaiserhof der Westlichen Han sei zunächst ein kurzer Exkurs zum eben erwähnten ‚Konfliktmanagement‘ vorausgeschickt: Warum eignet sich dieser Begriff aus den Sozialund Wirtschaftswissenschaften für die Beschreibung von Herrschaftstechniken am antiken chinesischen Kaiserhof ? In der heutigen Arbeits- und Verwaltungspraxis sind Verfahren zur konstruktiven Beilegung von Konflikten wie die Mediation nicht nur in aller Munde, sondern – zumindest mancherorts – schon seit vielen Jahren in Gebrauch. Es gibt inzwischen eine reiche Theoriebildung zu diesem Thema, die sich in einschlägigen Fachzeitschriften wie der 2000 begründeten ‚Zeitschrift für Konfliktmanagement‘ niederschlägt. Kann es im alten China vergleichbare Denkansätze gegeben haben? Von einer leitenden Theorie zur Deeskalation von Konflikten ist nichts bekannt. Wohl aber arbeiteten Herrschafts- und Militärtheoretiker fast aller Schulen Strategien aus, die dazu dienen sollten, Konflikte zwischen Herrschenden und Beherrschten bzw. unter den Beherrschten beizulegen oder besser noch: schon ihren Ausbruch zu verhindern. Dieser Ansatz, der die chinesische Innenwie auch Außenpolitik bis heute kennzeichnet, soll im Folgenden als Präventionismus bezeichnet werden.10 Dem präventionistischen Idealherrscher der antiken Staatslehren geht es darum, politisch und sozial gefährliche Entwicklungen vorauszusehen und sie im Keim zu ersticken. Auf diese Weise soll er soziale und wirtschaftliche Konfliktkosten so klein wie möglich halten, um seiner Herrschaft eine möglichst lange Dauer zu verleihen. Die präventionistische Tendenz der antiken chinesischen Tradition erahnte offenbar bereits Max Weber, indem er nämlich feststellte, dass die überlieferten Lehrmeinungen des Konfu-

10 Zu diesem Konzept siehe jetzt Christian Schwermann, Innovationsrhetorik chinesischer Prägung. Eine Analyse der Rede Xi Jinpings vom 9. Juni 2014 vor der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking, in: Barbara Mittler et al. (edd.), China and the World – The World and China. A Transcultural Perspective (Deutsche Ostasienstudien 37), 4 Bde., Gossenberg 2019, Bd. 3, 201–214, hier 208.

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zius dahin gehen würden, „daß Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit sei und ein unangebrachtes Einsetzen seines eigenen Lebens dem Weisen nicht zieme.“11 Entsprechend gründete die Regierungspraxis in China zu allen Zeiten auf einem umfangreichen Inventar von Taktiken zur Konfliktbewältigung und Konfliktvermeidung. Hierbei handelte es sich um Maßnahmen, die bewusst und zielgerichtet eingesetzt wurden, um die Eskalation von bestehenden Konflikten zu verhindern oder um diese gar nicht erst entstehen zu lassen. Wenn man wollte, könnte man diese Vorkehrungen in einen systematischen und somit auch institutionengeschichtlichen Zusammenhang bringen. Ein prominentes Beispiel ist das traditionelle chinesische Remonstrationswesen, das der Institutionalisierung von Herrscherkritik diente und damit nicht nur auf Optimierung von Verwaltungsabläufen, sondern auch auf Kontrolle von Dissens zielte, mithin eine Herrschaftstechnik bildete.12 Insofern und vor dem Hintergrund des oben erwähnten Präventionismus scheint der Begriff ‚Konfliktmanagement‘ durchaus angemessen. Er bezeichnet einen zentralen Baustein der „Menschenregierungskunst“ (l’art de gouverner les hommes) chinesischen Typs.13 Um dies und den tieferen Sinn chinesischer Konfliktlösungsstrategien zu verstehen, muss man nicht unbedingt moderne Theorien des Konfliktmanagements bemühen. Allerdings könnten sie sich als hilfreich erweisen bei der exakten Bestimmung und Bewertung von Unterschieden im Regiment konsensorientierter und konfliktfreudiger Herrscher. So differenziert Friedrich Glasl in seinem Ebenenmodell des Konfliktmanagements drei Plateaus mit jeweils drei, das heißt insgesamt neun Unterstufen der Eskalation bzw. entsprechender Strategien der Deeskalation von Konflikten.14 Auf der ersten Hauptebene könnten beide Parteien mit Hilfe einer sachorientierten Lösung erfolgreich aus einem Konflikt hervorgehen. Auf der zweiten Ebene sei dies nur mehr einer der beiden Konfliktparteien möglich, wobei auf beiden Seiten noch moralisch-ethische Erwägungen zu einer Lösung des Konflikts beitragen könnten. Auf der dritten Ebene gebe es lediglich Verlierer, denn keine der involvierten Parteien könnten siegreich aus einem Konflikt hervorgehen, der von Vernichtungsabsichten gekennzeichnet sei oder gar die Selbstvernichtung als Mittel zum Zweck nicht ausschließe. Auf dieser Stufe würden Konflikte nicht 11 Siehe Weber 1991, 116. 12 Siehe hierzu demnächst Thomas Crone/Christian Schwermann (edd.), The History of Remonstrance in China – From the Beginnings to the Medieval Period (Studien zu Macht und Herrschaft) (in Vorbereitung). 13 Zu diesem Begriff siehe Michel Foucault, Was ist Kritik?, übers. v. Walter Seitter, Berlin 1992, 10 (franz. Originalausg.: Qu’est-ce que la critique?, in: Bulletin de la Société française de philosophie 84 [1990], 35–63). 14 Zum Folgenden siehe Friedrich Glasl, Konfliktmanagement. Diagnose und Behandlung von Konflikten in Organisationen, Bern/Stuttgart 1980, insbes. 235–237.

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mehr durch Moderation oder Mediation gelöst, sondern könnten nur noch durch sogenannte Machteingriffe beigelegt werden. Die im Folgenden zu überprüfende These lautet nun schlicht, dass auch im alten China ein konfliktfreudiger Kaiser die Prinzipien konsensualer Herrschaft außer Kraft setzen konnte und zumindest zeitweise in den Modus offener Konfliktaustragung umschaltete. Der Ausdruck ‚konsensuale Herrschaft‘ bezieht sich hier auf das von den Mediävisten Bernd Schneidmüller und Steffen Patzold entwickelte Konzept einer höfischen Konsensgemeinschaft, in welcher der König die Zustimmung seiner Getreuen zu politischen und rechtlichen Entscheidungen regelmäßig einholte.15 Wenn man ein dreistufiges Modell der Entscheidungsfindung mit den Phasen der Beratung, Entscheidung und Sanktionierung zugrundelegt, wurden Meinungsverschiedenheiten hier im Vorfeld, das heißt in der Phase der Beratung, ausgeräumt. Die Konsenserwartung aller Beteiligten sorgte dafür, dass die herrscherliche Entscheidung in der dritten Phase die ostentative Zustimmung der Großen fand bzw. – in China – mit dem Gehorsam (shun 順) der Großen beantwortet wurde.16 Die These geht weiter: Kam es am antiken chinesischen Kaiserhof – aus welchen Gründen auch immer – zu offenen Auseinandersetzungen über eine bereits getroffene Entscheidung, konnten sie oft nicht mehr mit den vorhandenen institutionellen Ressourcen eingehegt werden. Der Kaiser musste sie mit Hilfe von Machteingriffen beenden, die unter Umständen mit hohen materiellen und symbolischen Konfliktkosten verbunden waren. Legt man das oben erwähnte Drei-Stufen-Modell der Entscheidungsfindung zugrunde, so wurden Meinungsverschiedenheiten hier nicht im Vorfeld, das heißt in der Phase der Beratung, ausgeräumt. Zum Beispiel traf der Monarch seine Entscheidungen ohne vorherige Abstimmung mit den Großen – mit dem Ergebnis, dass diese ihm 15 Siehe Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig et al. (edd.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, 53–87; Steffen Patzold, Konsens und Konkurrenz: Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik, in: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), 75–103; Steffen Patzold, Consensus – Concordia – Unitas: Überlegungen zu einem politisch-religiösen Ideal der Karolingerzeit, in: Nikolaus Staubach (ed.), Exemplaris Imago: Ideale in Mittelalter und Früher Neuzeit (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 15), Frankfurt a. Main 2012, 31–56; Steffen Patzold, „Konsens“ und „consensus“ im Merowingerreich, in: Verena Epp/Christoph H. F. Meyer (edd.), Recht und Konsens im frühen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 82), Ostfildern 2017, 265–297. 16 Zum Drei-Stufen-Modell siehe Paul Fahr/Christian Schwermann, Konsensuale Herrschaft im alten China. Eine begriffsgeschichtliche Annäherung, in: Linda Dohmen/Tilmann Trausch (edd.), Entscheiden und Regieren. Konsens als Element politischer Entscheidungsfindung – Ruling and Consent-Based Decision-Making (Macht und Herrschaft 9) (in Druckvorbereitung).

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anschließend ihren Gehorsam verweigerten. Die dritte Phase war entsprechend nicht wie in der Schneidmüllerschen bzw. Patzoldschen Idealform konsensualer Herrschaft von Eintracht gekennzeichnet, sondern im schlimmsten Fall von einem blutig ausgetragenen offenen Konflikt. Dieser konnte nur noch mit erheblichem Aufwand und unter Aufbietung aller Machtressourcen des Herrschers pazifiziert werden. Die These schließt: Ein Kaiser, der den Boden der oben beschriebenen konsensualen Herrschaft in dieser Weise verlassen hatte, wurde in der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung in der Regel negativ, zumindest aber ambivalent bewertet. Er bildete die Ausnahme. Nach seinem Ableben war man bemüht, die Fassaden konsensualer Herrschaft wiederzuerrichten, um unter einem schwächeren Nachfolger die Interessen der verschiedenen Fraktionen am Hof zum Ausgleich zu bringen und nach außen Einigkeit zu demonstrieren. Nun aber zum konkreten historischen Beispiel und der Frage, ob es nach altbewährter chinesischer historiographischer Art zu Generalisierungen zu inspirieren vermag. Unter der Herrschaft von Kaiser Wu erreichte das Reich der Han seine bis dato größte Ausdehnung. Es erstreckte sich im Süden bis ins heutige Vietnam, im Nordosten bis ins heutige Korea und im Nordwesten bis weit nach Zentralasien ins heutige Kirgisistan. Sogar das Ferghana-Tal stand zeitweilig unter seiner Kontrolle.17 Nach konventionellen Maßstäben war er ein großer Herrscher – sofern man historische Größe an der Größe der von ihm entfalteten Macht, an der Größe der von ihm eroberten Territorien oder an der Tragweite der von ihm gefällten Entscheidungen messen will. Dennoch ist kein Porträt von Kaiser Wu erhalten. Bildnisse selbst sogenannter großer Individuen wurden nicht in Münzen geschlagen wie im Falle Alexanders des Großen – man denke zum Beispiel an die Medaillons von Abukir. Ebensowenig wurden ihnen Statuen errichtet. Es gab noch keinen Begriff des ‚Individuums‘, geschweige denn den des ‚welthistorischen Individuums‘ oder ‚Geschäftsführers des Weltgeistes‘,18 oder zumindest keinen solchen Begriff, der im Kontext von Herrscherdarstellungen in Anschlag gebracht worden wäre.19 Dies 17 Siehe Michael Loewe, The Former Han Dynasty, in: ders./Denis C. Twitchett (edd.), The Cambridge History of China, Bd. 1: The Ch’in and Han Empires, 221 B.C. – A.D. 220, Cambridge 1986, 103–222, hier 163–170. 18 Siehe Rolf Trauzettel, Individuum und Heteronomie: Historische Aspekte des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in China, in: Saeculum 28 (1977), 340–352, sowie ders., Historical Aspects of the Individual-Society Relationship in China, in: Carl-Albrecht Seyschab et al. (edd.), Society, Culture, and Patterns of Behaviour (East Asian Civilizations. New Attempts at Understanding Traditions 3/4), Unkel/Bad Honnef 1990, 25–70. 19 Siehe Christoph Harbsmeier, Living Up to Contrasting Portraiture: Plutarch on Alexander the Great and Sima Qian on the First Emperor, in: Hans van Ess/Olga Lomová/Dorothee Schaab-Hanke (edd.), Views from Within, Views from Beyond. Approaches to the ‚Shiji‘ as an Early Work of Historiography (Lun Wen. Studien zur Geistesgeschichte und Literatur in

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macht sich auch in den überlieferten Lebensbeschreibungen historischer Persönlichkeiten bemerkbar, die in der Regel Stereotypen und Topoi aneinanderreihen, zum Beispiel hinsichtlich des Charakters einer Person, ihrer Bildung und ihrer Ämterlaufbahn. Offenkundig ging es in solchen ‚Aufgereihten Überlieferungen‘ (liezhuan 列傳) darum, anhand der Taten einer Person und der von ihr überlieferten Dokumente einen bestimmten Typus von historischem Akteur exemplarisch vorzustellen. Entsprechend ordnet auch der kanonische Name Wu 武, der ihm posthum verliehen wurde, den Kaiser einem Typus zu: nämlich dem des kriegerischen Herrschers. Sein vollständiger kanonischer Name und Titel lautet: „Der Pietätvolle und Kriegerische Erhabene Höchste“ (Xiaowu Huangdi 孝武皇帝). Unter diesem Namen firmiert der Mann, der eigentlich Liu Che 劉徹 hieß, in den Traditionsquellen.20 Wu ist kein schlechter kanonischer Name, steht aber in einem sicherlich bewussten Gegensatz zu dem seines Großvaters und Vorvorgängers Xiaowen Huangdi 孝文皇帝, des „Pietätvollen und Kultivierten/Zivilisierten Erhabenen Höchsten“ (kurz Han Wendi 漢武帝, d. i. Liu Heng 劉恆, reg. 180–157 v. Chr.).21 In einem antiken Glossar posthumer Herrschernamen, den ‚Regeln zur Vergabe kanonischer Namen‘ (‚Shi fa‘ 諡法), heißt es unter anderem zum Namen Wen 文, dem entscheidenden Epitheton im posthumen Namen des Liu Heng: „Wer hingabevoll und gütig war und das Volk schonte, heißt Wen.“ (慈惠愛民曰文。)22 Hingegen lautet eine Glosse zu Wu: „Wer hart, unnachgiebig und prinzipienfest war, heißt Wu.“ (剛彊直理曰武。)23 Eine andere Erklärung desselben Namens besagt: „Wer das Volk bestrafte und [seine Widersacher] unterwarf, heißt Wu.“ (刑民克服曰武。)24 Auf diese Weise wurden Herrscherpersönlichkeiten historiographisch rubriziert. Entsprechend aussagekräftig bzw. nichtssagend sind auch die Quellen zum Leben und Wirken von Kaiser Wu. Im ‚Shiji‘ 史記, den ‚Aufzeichnungen der Großschreiber‘, der ersten chinesischen Universalgeschichte aus dem frühen

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China 20), Wiesbaden 2015, 263–296. Zur Entstehung eines Konzepts individueller Autorschaft in der frühen Kaiserzeit siehe Christian Schwermann, Composite Authorship in Western Zho¯u Bronze Inscriptions. The Case of the ‚Tia¯nwáng guıˇ‘ 天亡簋 Inscription, in: ders./Raji C. Steineck (edd.), That Wonderful Composite Called Author. Authorship in East Asian Literatures from the Beginnings to the Seventeenth Century (East Asian Comparative Literature and Culture 4), Leiden/Boston 2014, 30–57. Eine Zusammenfassung der Nachrichten über Liu Che in den Traditionsquellen bietet Michael Loewe, Biographical Dictionary of the Qin, Former Han and Xin Periods (221 BC – AD 24) (Handbuch der Orientalistik: Abt. 4, China: Bd. 16), Leiden 2000, 273–282. Zu seiner Herrschaft siehe ebd., 306–311. Siehe Yi Zhou shu huijiao jizhu 逸周書彙校集注, ed. Huang Huaixin 黄懷信/Zhang Maorong 張懋鎔/Tian Xudong 田旭東/Li Xueqin 李學勤, Shanghai 1995, 679. Die Übersetzungen in diesem Beitrag stammen – sofern nicht anders angegeben – vom Verfasser. Ebd., 680. Ebd., 681.

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ersten Jahrhundert v. Chr., sind seine Annalen im zwölften Kapitel durch eine Abschrift des 28. Kapitels über die kaiserlichen Opfer an Himmel und Erde ersetzt worden, die offenbar als Beleg für die dort eingangs aufgestellte These dienen soll, dass er die Opfer an die Geister in besonderer Weise respektiert, das heißt, auch an diese geglaubt habe.25 Mehr oder weniger unverhüllte Kritik in anderen Kapiteln des Werkes, insbesondere im Traktat zur Wirtschaft, den ‚Dokumenten zum Ausgleichen des Standards‘ (‚Pingzhun shu‘ 平準書), die auch eine Generalabrechnung mit der Außen-, Personal- und Rechtspolitik von Kaiser Wu beinhalten,26 haben Anlass zu der Spekulation gegeben, dass die ursprüngliche Fassung der Annalen so negativ ausgefallen war, dass sie entfernt wurde – schließlich weilte der Kaiser bei Abschluss der Universalgeschichte noch unter den Lebenden. Allerdings gibt es keine Belege dafür, dass er diese zu Lebzeiten gelesen hat. Außerdem stellt sich die Frage, warum die Annalen unterdrückt worden sein sollten, wenn doch zum Beispiel der Wirtschaftstraktat trotz seiner radikalen und umfassenden Kritik, die an Offenheit wenig zu wünschen übriglässt, überliefert wurde.27 Denkbar wäre auch, dass Sima Qian, der Hauptautor des ‚Shiji‘, „diesen Traktat [d. h. den über die kaiserlichen Opfer an Himmel und Erde] mit voller Absicht zweimal eingefügt hat.“28 Wie dem auch sei, so dokumentiert der textus receptus der Annalen jedenfalls nur den Aberglauben von Kaiser Wu und sein Streben nach Unsterblichkeit, enthält aber keine Nachrichten über seine sonstigen Taten. Ein solcher Tatenbericht findet sich im sechsten Kapitel der späteren Dynastiegeschichte der Westlichen Han, dem ‚Hanshu‘ 漢書, d. h. den ‚Dokumenten der Han‘ aus dem späten ersten Jahrhundert n. Chr.29 Aber auch diese dürre annalistische Darstellung zeichnet kein Bild der Persönlichkeit des Kaisers. Dafür schließt sie mit einem vielsagenden historischen Werturteil des Autors, auf das am Ende dieses Beitrags noch zurückzukommen sein wird. Ergänzende Nachrichten und lebhaftere historische Narrative finden wir in anderen Kapiteln von ‚Shiji‘ und ‚Hanshu‘, insbesondere in den Biographien von Zeitgenossen und den Beschreibungen der Westlande (Xiyu 西域), das heißt der zentralasiatischen Territorien, die unter Kaiser Wu erobert wurden.30 Diese Kapitel zitieren auch 25 Siehe Shiji 史記, komm. Pei Yin 裴駰/Sima Zhen 司馬貞/Zhang Shoujie 張守節, Peking 1959, juan 12, 451–486. Zur Frage des fehlenden Kapitels siehe Hans van Ess, Politik und Geschichtsschreibung im alten China. Pan-ma i-t’ung (Lun Wen 18), 2 Bde., Wiesbaden 2014, Bd. 1, 6–9, und Bd. 2, 543f. 26 Siehe Shiji, juan 30, 1417–1443. 27 Zum gesamten Komplex der Kritik Sima Qians 司馬遷 (um 145 – um 86 v. Chr.) an Kaiser Wu und der Frage seiner Intention siehe van Ess 2014, Bd. 1, 26–41. 28 Siehe ebd., Bd. 2, 544. 29 Siehe Hanshu 漢書, Ban Gu 班固 et al., Peking 1962, juan 12, 155–215. 30 Siehe Shiji, juan 123, 3157–3180, und Hanshu, juan 96A–B, 3871–3932. Wichtig im Hinblick auf die folgende Darstellung ist eine Einsicht, die Hans van Ess nach einem eingehenden

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Erlasse des Kaisers. Darunter ist ein interessantes Dokument aus den letzten Jahren seiner Herrschaft, vermutlich aus dem Sommer 90 v. Chr., ein Dekret, in dem er selbst kritisch Stellung bezieht zu seinen Taten.31 Sofern es sich nicht um eine Fälschung seiner politischen Gegner handelt, wirft dieses Dokument einige wichtige Fragen auf im Hinblick auf den Konflikt um seine Militär- und Finanzpolitik. Allerdings steht seine Authentizität nicht nur aufgrund der eben erwähnten neuen Erkenntnisse von Hans van Ess zur Entstehungsgeschichte der Westlandbeschreibungen in Frage, wie unten zu zeigen sein wird. Überliefert ist des Weiteren die Zusammenfassung einer Hofkonferenz, auf der der Nachfolger von Kaiser Wu, Kaiser Zhao 昭 (Xiaozhao huangdi 孝昭皇帝, kurz: Han Zhaodi 漢昭帝, d. i. Liu Fuling 劉弗陵, reg. 87–74 v. Chr.), 81 v. Chr. die Maßnahmen seines Vaters erörtern ließ.32 Die Dokumentation, die einige Jahrzehnte nach der Konferenz auf der Grundlage der Diskussionsvoten zusammengestellt wurde, trägt den Titel „Debatte über die Salz- und Eisenmonopole“ (Yantie lun 鹽鐵論).33 Sie befasst sich nicht nur mit der Finanzpolitik des Kaisers Wu, sondern hinterfragt sein gesamtes Regierungsprogramm und seine innen- wie außenpolitischen Entscheidungen: von den Feldzügen gegen die zentralasiatische Stammeskonföderation der Xiongnu 匈奴 über die Staatsmonopole, die zur Finanzierung derselben eingerichtet wurden, und deren Folgen für die Landwirtschaft bis hin zu den herrschaftstheoretischen und ideologischen Grundlagen seiner Politik. Diese Quelle gehört schon zum Urteil der unmittelbaren Nachwelt, das abschließend durch die bereits erwähnten historiographischen und herrschaftspraktischen Bewertungen aus den ersten Jahrhunderten vor und nach Christus ergänzt werden soll. Vergleich der drei Schriften gewonnen hat, dass nämlich entgegen landläufiger Meinung die Beschreibung der Westlande im ‚Shiji‘ älter ist als die beiden Kapitel im ‚Hanshu‘, und dass die letzteren die im ‚Shiji‘ linear erzählte Handlung auseinanderreißen, um Sima Qians Kritik an der Kriegspolitik von Kaiser Wu nicht nur zu entschärfen und in eine primär landeskundliche Abhandlung zu verwandeln, sondern die verlustreichen Feldzüge sogar zu rechtfertigen. Siehe van Ess 2014, Bd. 1, 348–388, insbes. 387. 31 Siehe Hanshu, juan 96B, 3912–3914. 32 Zu seiner Herrschaft siehe Loewe 2000, 298–301. 33 Siehe Yantie lun jiaozhu 鹽鐵論校注, ed. Wang Liqi 王利器, Peking 1992. Vgl. die exzellente und reich annotierte russische Gesamtübersetzung von Jurij L. Krol’, Huan Kuan: Spor o soli i zˇeleze (Jan’ te lun’) (Pamjatniki pis’mennosti Vostoka 125, 1–2), 2 Bde., Moskau 2001. Siehe auch Esson M. Gale, Discourses on Salt and Iron. A Debate on State Control of Commerce and Industry in Ancient China, Chapters I–XIX (Sinica Leidensia 2), Leiden 1931; ders., unter Mitarbeit von Peter A. Boodberg und T.C. Lin, Discourses on Salt and Iron (Yen T’ieh Lun: Chaps. XX–XXVIII), in: Journal of the North China Branch of the Royal Asiatic Society 65 (1934), 73–110; Erling von Mende, Einleitung zum „Yantie lun“, in: Bertram Schefold (ed.), Vademecum zu dem Klassiker der chinesischen Wirtschaftsdebatten, Düsseldorf 2002, 53–75; Hans Ulrich Vogel, Das „Yantie lun“. Ereignisse und Interpretationen, in: Bertram Schefold (ed.), Vademecum zu dem Klassiker der chinesischen Wirtschaftsdebatten, Düsseldorf 2002, 77–105.

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Auf der erwähnten Hofkonferenz des Jahres 81 v. Chr. stritten zwei Fraktionen miteinander, die der britische Sinologe Michael Loewe in seiner einflussreichen Studie ‚Crisis and Conflict in Han China‘ als Modernisten und Reformisten bezeichnet hat.34 Die ersteren hätten sich durch einen pragmatischen und realpolitischen Ansatz ausgezeichnet, die Expansionspolitik und deren Finanzierung durch Staatsmonopole unterstützt und sich – nach heutigen Begriffen – für den Ausbau der sekundären und tertiären Wirtschaftssektoren ausgesprochen. Die letzteren hätten sich an den Wertbegriffen der konfuzianischen Staatslehre orientiert, seien für die Stärkung des landwirtschaftlichen Primärsektors und eine Politik des Volkswohls eingetreten und hätten daher die Revision der Militärund Finanzpolitik des wenige Jahre zuvor verstorbenen Monarchen verlangt. Loewes Darstellung scheint aus zwei Gründen ergänzungs- bzw. überholungsbedürftig: Erstens erwecken die Etiketten ‚Modernisten‘ und ‚Reformisten‘ den Anschein, als hätte es sich um zwei Parteien mit sachpolitisch orientierten Programmen gehandelt. Tatsächlich geht es schlicht um Befürworter und Gegner der kaiserlichen Politik. Diese als Modernisten und Reformisten zu bezeichnen ist ein Werturteil und weckt irreführende Assoziationen auf beiden Seiten. Zweitens verdeckt Loewes historisches Narrativ, das im Jahre 104 v. Chr. mit der Regierungsdevise „Der Große Neuanfang“ (Taichu 太初) einsetzt, dass diese beiden Lager sich nicht erst im letzten Drittel der Herrschaft von Kaiser Wu bildeten. Tatsächlich begann der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern seiner Militär- und Finanzpolitik schon wenige Jahre nach der Thronbesteigung 141 v. Chr., wie unten gezeigt wird. Entsprechend lässt sich seine Regierungszeit in drei Abschnitte unterteilen: (1) die Phase der Konsolidierung von 141 bis 135 v. Chr., (2) der Ausbau und Höhepunkt der Macht von 135 bis 104 v. Chr. und (3) der Niedergang von 104 bis 87 v. Chr. Die ersten Jahre von 141 bis 135 v. Chr. verbrachte – und überlebte – der minderjährige Kaiser unter dem Regiment der Kaiseringroßmutter Dou Yifang 竇猗房. Sie war die kaiserliche Hauptfrau seines oben erwähnten Großvaters Liu Heng und hatte bereits dessen Regierung im Sinne einer daoistischen Politik des laissez faire beeinflusst.35 Trotz dieser Strategie der Dezentralisierung kam es 154 v. Chr. zum eingangs erwähnten Aufstand der Sieben Könige, in dem die junge Dynastie fast untergegangen wäre. Auch in der Regierungszeit ihres Sohnes, des Kaisers Jing 景 (Xiaojing huangdi 孝景皇帝, kurz: Han Jingdi 漢景帝, d. i. Liu Qi 劉啟, reg. 157–141 v. Chr.),36 also des Vaters von Kaiser Wu, hatte die zu diesem Zeitpunkt schon über Fünfzigjährige als Kaiserinmutter Dou die Richtlinienkompetenz, wie man heute sagen würde. Sie sorgte unter anderem dafür, dass die 34 Siehe Loewe 1974b, 91–112. 35 Siehe zusammenfassend Loewe 2000, 78f. 36 Siehe ebd., 338–344.

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Sparpolitik ihres Mannes, des Kaisers Wen, und seine Politik der Besänftigung gegenüber der zentralasiatischen Stammeskonföderation der Xiongnu fortgesetzt wurden.37 Seit Beginn der Dynastie waren die Steppennomaden in regelmäßigen Abständen ins Han-Territorium eingefallen und hatten es geplündert, um sich dann mit ihrer Beute in die Weiten Zentralasiens zurückzuziehen.38 Nachdem ein Feldzug des ersten Han-Kaisers Gao 高 (auch, in Folge einer Vermischung seines posthumen Namens Gao mit seinem Tempelnamen Taizu 太 祖, Han Gaozu 漢高祖, d. i. Liu Bang 劉邦, reg. 206–195 v. Chr.) gescheitert war, verlegten er und seine Nachfolger sich darauf, die Xiongnu mit regelmäßigen Tributzahlungen, insbesondere chinesischen Konsumgütern, und den Mitteln der Heiratsdiplomatie (heqin 和親), das heißt mit Han-Prinzessinnen, zu beschwichtigen.39 Hier erkannte der jugendliche Kaiser Wu wohl sein künftiges Betätigungsfeld. Noch zu Lebzeiten seiner Großmutter wandte er sich gegen die herrschende Doktrin des Huang-Lao 黃老-Daoismus und trieb die Einsetzung des Konfuzianismus als Reichsideologie voran.40 Dabei war er keineswegs ein überzeugter Konfuzianer, wie seine spätere Militär- und Finanzpolitik nur allzu deutlich zeigt. Es ging ihm offenbar in erster Linie darum, mit dem Programm seiner Großmutter zu brechen, die alte Machtelite auszutauschen und seine eigenen Leute in Führungspositionen zu bringen.41 Dabei bediente er sich u. a. eines persönlichen Beraterstabes in seiner direkten Umgebung im Inneren des Kaiserpalastes, welchen man traditionell als „inneren Hof“ bezeichnet, in Abgren37 Zu dieser Konföderation, den Nachrichten über sie und ihrer Darstellung in den antiken Quellen siehe u. a. Nicola Di Cosmo, Ancient China and its Enemies. The Rise of Nomadic Power in East Asian History, Cambridge 2002, 163–166; Paul R. Goldin, Steppe Nomads as a Philosophical Problem in Classical China, in: Paula L. W. Sabloff (ed.), Mapping Mongolia. Situating Mongolia in the World from Geologic Time to the Present, Philadelphia 2011, 220– 246; Enno Giele, Evidence for the Xiongnu in Chinese Wooden Documents from the Han Period, in: Ursula Brosseder/Bryan K. Miller (edd.), Xiongnu Archaeology. Multidisciplinary Perspectives of the First Steppe Empire in Inner Asia (Bonn Contributions to Asian Archaeology 5), Bonn 2011, 49–75. Zu einem Vergleich der Darstellung der Xiongnu in den beiden wichtigsten Traditionsquellen, ‚Shiji‘ und ‚Hanshu‘, siehe van Ess 2014, Bd. 1, 320– 333. 38 Nach Darstellung des ‚Hanshu‘ lag dies an ihrer hinterlistigen, habgierigen und unzivilisierten Natur, nach Darstellung des ‚Shiji‘ bildete das Verhalten der Xiongnu lediglich eine Reaktion auf das zunehmend aggressive Vorgehen chinesischer Truppen. Siehe ebd. 39 Siehe Hanshu, juan 64A, 2801. Zur Herrschaft von Kaiser Gao siehe zusammenfassend Loewe 2000, 253–259. 40 Siehe Robert P. Kramers, The Development of the Confucian Schools, in: Michael Loewe/ Denis C. Twitchett (edd.), The Cambridge History of China, Bd. 1: The Ch’in and Han Empires, 221 B.C. – A.D. 220, Cambridge 1986, 747–765; vgl. van Ess 2014, Bd. 1, 257–318. Zur Doktrin des Huang-Lao-Daoismus siehe Reinhard Emmerich, Bemerkungen zu Huang und Lao in der Frühen Han-Zeit. Erkenntnisse aus ‚Shiji‘ und ‚Hanshu‘, in: Monumenta Serica 43 (1995), 53–140. 41 Zur „neuen Elite“ unter Kaiser Wu siehe van Ess 2014, Bd. 1, 257–318.

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zung zum „äußeren Hof“, d. i. der regulären Zentralverwaltung.42 Dies war ein Kampf auf Leben und Tod, was unter anderem daraus erhellt, dass zwei seiner engsten Gefolgsleute auf Betreiben seiner Großmutter zum Selbstmord gezwungen wurden.43 Nachdem diese 135 v. Chr. im Alter von rund 70 Jahren gestorben war, stand dem endgültigen Umbau der Machtelite, der Erhöhung der Ausgaben und der militärischen Expansion niemand mehr im Wege. Schon 139 v. Chr. hatte Kaiser Wu eine erste Expedition unter Zhang Qian 張騫 (gest. 113 v. Chr.) in die Westlande geschickt, um mit dem Reich der Yuezhi 月氏 ein Bündnis gegen die Xiongnu zu schließen.44 Ab 133 v. Chr. folgten mehrere große Feldzüge gegen die Xiongnu, die in den Quellen als Strafexpeditionen zur Vergeltung von Einfällen der Steppennomaden bezeichnet werden.45 Hierfür wurden im Schnitt Heere mit einer Truppenstärke von 50.000 bis 100.000 Mann ausgehoben. Im wohl größten Feldzug 119 v. Chr. soll der Kaiser allerdings alleine eine Kavallerie von 100.000 Mann, Hilfstruppen zu Pferde von 140.000 Mann und eine Infanterie von mehreren 100.000 Mann aufgeboten haben.46 Im gleichen Zeitraum führte er mehrfach Kriege im Nordosten und Südwesten des Reiches und verdoppelte so in etwa das Territorium der Han. Insgesamt wurden in den eroberten Gebieten 24 neue Kommandanturen eingerichtet – Verwaltungseinheiten vom Rang und von der Größe heutiger Provinzen. Für die Sicherung der neuen Grenzen sollten sogenannte Militärbauernkolonien (tuntian 屯田 oder zutian 卒田) sorgen. Im Idealfall kultivierten die hier stationierten Heere nicht nur das Grenzland, sondern sorgten für ihren eigenen Unterhalt. Das sollte die Abgaben der Agrarproduzenten im Binnenraum des Reiches senken, tat es jedoch nur in der Theorie. Die Bauern ächzten offenbar unter der zunehmenden Steuerlast. Dennoch waren die rasant steigenden Militärausgaben nicht mehr zu finanzieren. In dieser Situation schlug der reiche Kaufmann Sang Hongyang 桑弘羊 (152– 80 v. Chr.) vor, zwei Schlüsselbereiche der Wirtschaft, nämlich die Salz- und Eisenindustrie, zu verstaatlichen.47 Im Jahr 119 v. Chr. wurden die Monopole auf 42 Für die klassische Studie hierzu siehe Lao Gan 勞幹, Lun Handai de neichao yu waichao 論漢 代的內朝與外朝, in: Huang Qinglian 黃清連 (ed.), Zhidu yu guojia 制度與國家 (Taiwan xuezhe Zhongguoshi yanjiu luncong 2), Peking 2005 (Orig. 1948), 40–82. 43 Zum Schicksal von Wang Zang 王臧 und Zhao Wan 趙綰 siehe Hanshu, juan 6, 157; vgl. Loewe 2000, 711f. 44 Siehe Shiji, juan 123, 3157–3169, und Hanshu, juan 61, 2687–2693; vgl. Anthony F. P. Hulsewé, China in Central Asia, The Early Stage: 125 B. C. – A. D. 23 (Sinica Leidensia 14), Leiden 1979, 205–219. 45 Zum Folgenden siehe Michael Loewe, The Campaigns of Han Wu-ti, in: Frank A. Kierman/ John K. Fairbank (edd.), Chinese Ways in Warfare, Cambridge, MA 1974, 67–122 (= Loewe 1974a). Vgl. van Ess 2014, 333–388. 46 Siehe Loewe 1974a, 92. 47 Zum Folgenden siehe Jurij L. Kroll, Toward a Study of the Economic Views of Sang Hungyang, in: Early China 4 (1978/79), 11–18; Loewe 1974b, 91–112, und Loewe 2000, 462–464.

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Salz und Eisen eingerichtet. In Anerkennung seiner Verdienste wurde Sang Hongyang 110 v. Chr. zum Landwirtschaftsminister und 87 v. Chr., kurz vor dem Tod von Kaiser Wu, zum Kaiserlichen Großwürdenträger befördert. Das Eisenmonopol war ein Vollmonopol, das heißt Eisenbergwerke, Gießereien und der Vertrieb der Produkte kamen sämtlich in staatliche Hand. Beim Salzmonopol standen nur die Salinen unter direkter staatlicher Kontrolle, der Salzhandel ging in Kommission. Die Einkünfte deckten die Militärausgaben, aber die Wirtschaftlichkeit der staatlichen Betriebe beruhte vor allem auf der Ausbeutung von Zwangsarbeit. Außerdem führten die Monopole nach Einschätzung der Kritiker dazu, dass die Preise stiegen, während die Qualität der Produkte sank; zugleich seien aber die Bauern von den Beamten dazu gezwungen worden, die Früchte ihrer Arbeit zu einem niedrigen Standardpreis abzugeben, der nicht annähernd dem Wert der Agrarprodukte entsprochen habe.48 Als Kaiser Wu 104 v. Chr. die Regierungsdevise „Großer Neuanfang“ ausrief – er war übrigens der erste Kaiser, der programmatische Regierungsdevisen einführte – war der Zenit bereits überschritten.49 Es kam immer öfter zu militärischen Niederlagen im Äußeren und Aufständen im Inneren, denn viele Bauern litten zunehmend Not und entzogen sich der Steuerpflicht, indem sie die Scholle verließen und sich im schlimmsten Fall zu Räuberbanden zusammenschlossen. In dieser Situation entwickelte sich in den Jahren 92 bis 90 v. Chr. ein Machtkampf zwischen dem Kaiser, einigen seiner Führungsbeamten und der Familie der Kaiserin Wei 衛. Der Monarch bezichtigte sie sowie seinen ältesten Sohn und Kronprinzen Liu Ju 劉據 der Schwarzen Magie.50 Er hatte offenbar einem Höfling Glauben geschenkt, der behauptete, die beiden würden versuchen, ihn mit Rachepuppen zu verzaubern. Im folgenden Bürgerkrieg zwischen den kaisertreuen Truppen unter Führung des Kanzlers Liu Quli 劉屈氂 (hingerichtet 90 v. Chr.) und den Gefolgsleuten des Kronprinzen sollen im Sommer des Jahres 90 v. Chr. in der Hauptstadt Chang’an 長安 Zehntausende ums Leben gekommen sein, darunter auch die Kaiserin und ihr Sohn. Nachdem der Kaiser erkannt hatte, dass er getäuscht worden war, bekämpfte er die andere Faktion und ließ unter anderem den Kanzler, seinen eigenen Neffen, hinrichten. Seine letzten drei Lebensjahre waren offenbar von Krankheiten und einer vorsichtigen Revision seiner Politik gekennzeichnet. Erst zwei Tage vor seinem Tod am 29. März 87 v. Chr. wurde ein Siebenjähriger zum Kronprinzen ernannt. Die Regentschaft übernahm ein dreiköpfiger Staatsrat.51 Der minderjährige Kaiser Zhao hatte – anders als sein Vater – offenbar nie die Chance, sich gegen 48 Siehe Yantie lun jiaozhu, juan 1, 3–5. 49 Zum Folgenden siehe Loewe 1974a, sowie Loewe 1974b, 17–90. 50 Zum Folgenden siehe Shiji, juan 30, 1980, und Hanshu, juan 63, 2741–2747. Vgl. Loewe 1974b, 40–43, und Loewe 2000, 321f. 51 Siehe Hanshu, juan 7, 217, juan 63, 2751. Vgl. Loewe 2000, 298.

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seine Führungsbeamten durchzusetzen, und verstarb schon 74 v. Chr. im Alter von 20 Jahren. Die Großen am Hof gingen gestärkt aus der Krise hervor und kehrten zu den tradierten Formen konsensualer Herrschaft zurück. Entsprechend heißt es in der abschließenden Bewertung am Ende der Annalen von Kaiser Zhao im ‚Hanshu‘, dieser habe mit Unterstützung seiner Vormunde eine Epoche des Friedens und des Wohlstands eingeläutet, indem er nach Jahrzehnten der Verschwendungssucht, der ständigen Überlastung des Heeres und der Überstrapazierung der Agrarproduzenten die Steuern und Abgaben gesenkt habe.52 Damit stiftete Ban Gu einen wirkmächtigen Konnex zwischen einem konsensualen Arbeitsmodus und einer ressourcenschonenden Wohlfahrtspolitik. Wie konnte es zu diesem Ende und einer bis dahin beispiellosen Eskalation von Gewalt am Hof der Han kommen? Warum hatte das oben beschriebene Konfliktmanagement versagt? Tatsächlich hatte es von Anfang an Widerstand gegen die Militär- und Finanzpolitik von Kaiser Wu gegeben. Aber es war weder ihm noch seinen Führungsbeamten gelungen, diese Konflikte zu moderieren. Ein frühes Beispiel ist eine Remonstration des Zhufu Yan 主父偃 (hingerichtet 127 v. Chr.) gegen die Xiongnu-Politik des Kaisers aus dem Jahr 129 oder 128 v. Chr.53 Der Autor greift hier auf Präzedenzfälle unter dem Ersten Kaiser und dem oben erwähnten Gründer der Han-Dynastie, Liu Bang, zurück, um die Feldzüge als verfehlt zu kritisieren. Seine Kritik kleidet er durchgehend in Zitate, die mehr als 22 Prozent der mit 746 Schriftzeichen recht langen Throneingabe ausmachen.54 An keiner Stelle greift er den Kaiser direkt oder gar namentlich an. Seine Zitate implizieren allerdings bei Berücksichtigung des Kontextes in den zitierten Schriften, dass er Kaiser Wu für einen Menschenfeind und Ressourcenvernichter hielt.55 Diese Sicht auf den Monarchen erinnert inhaltlich stark an die direkte Kritik an Kaiser Wu im Wirtschaftskapitel der eingangs erwähnten Universalgeschichte, des ‚Shiji‘, das unter anderem anmerkt, dass nach dem Ende der Heiratsdiplomatie (heqin) die Xiongnu „in die nördlichen Grenzgebiete einfielen und sie plünderten, so dass die Truppen ununterbrochen im Einsatz waren und die Welt unter den Lasten ächzte, aber die bewaffneten Auseinandersetzungen dennoch Tag für Tag zunahmen.“ (侵擾北邊,兵連而不解,天 52 Siehe Hanshu, juan 7, 233. 53 Siehe Shiji, juan 112, 2954–2956. Vgl. Christian Schwermann, Rhetorical Functions of Quotations in Late Pre-Imperial and Early Imperial Memorials on Questions of CivilianMilitary Leadership, in: Asiatische Studien/Études Asiatiques 68 (2014), 1069–1114, hier 1099–1108. Zu Zhufu Yan siehe Shiji, juan 112, 2953–2962 und Hanshu, juan 64A, 2798–2804. Vgl. Emmerich 2002, 473–485, und Loewe 2000, 749f. 54 Siehe Schwermann 2014, 1099. 55 Ebd., 1101 und 1109.

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下苦其勞,而干戈日滋。)56 Zudem findet sich im ‚Shiji‘ indirekte Kritik in Form von Andeutungen wie im Kapitel 129, den ‚Aufgereihten Überlieferungen über die Magnaten‘ (‚Huo zhi liezhuan‘ 貨殖列傳), wo es heißt, dass „der schlimmste Typus des Herrschers mit dem Volk in Konkurrenz“ (zui xia zhe yu zhi zheng 最下者與之爭) trete, nämlich Staatsmonopole auf Salz und Eisen einführe.57 Wahrscheinlich war es nicht ungefährlich, offen Kritik zu äußern oder direkt zu remonstrieren. Selbst versteckte Kritik garantierte keine lange Lebensdauer, denn 127 v. Chr., ein bis zwei Jahre nach Einreichen seiner Remonstration, wurde besagter Zhufu Yan der Bestechlichkeit angeklagt und hingerichtet.58 Vermutlich herrschte von Anfang an ein Klima der Angst am Kaiserhof. Entscheidungen wurden anscheinend nicht durch Beratungen gefunden, sondern ohne vorangehende Konsultationen vom Kaiser allein oder im Kreise seiner engsten, ihm treu ergebenen Berater getroffen und anschließend ohne Duldung von Widerspruch durchgesetzt. Die eingangs beschriebenen Prinzipien und Mechanismen konsensualer Herrschaft waren außer Kraft gesetzt. Daher wurde Kaiser Wu im Hinblick auf seine autokratischen Tendenzen, seine Härte und Unduldsamkeit, seine Zensurmaßnahmen und seinen Aberglauben immer wieder mit Qin shi huangdi 秦始皇帝, dem „Ersten Erhabenen Höchsten von Qin“ (d. i. Ying Zheng 嬴政 bzw. Zhao Zheng 趙政, reg. 221–210 v. Chr. als Kaiser von Qin 秦, zuvor von 247 bis 221 v. Chr. als König Zheng 政 von Qin), dem Gründer der kurzlebigen Qin-Dynastie (221–206 v. Chr.), verglichen.59 Allerdings unterschied er sich in zweierlei Hinsicht entscheidend vom Ersten Kaiser. Zum einen wurde Kaiser Wu nicht zum Totengräber seiner eigenen Dynastie. Diese bestand nach seinem Tod noch viele Jahrzehnte weiter – wenn man die Spätere oder Östliche Han-Dynastie (25–220 n. Chr.) nach dem Interregnum des Wang Mang 王莽 (45 v. Chr. bis 23 n. Chr.) hinzunimmt, der 9 n. Chr. als Angehöriger der Kaiserinnenfamilie Wang den Thron usurpierte und die kurz-

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Siehe Shiji, juan 30, 1421. Siehe ebd., juan 129, 3253. Siehe ebd., juan 112, 2962, und Hanshu, juan 64A, 2804. Siehe Reinhard Emmerich, Die Autorität eines chinesischen Dynastiegründers. Das Beispiel des Ersten Kaisers, in: Matthias Becher/Stephan Conermann/Linda Dohmen (edd.), Macht und Herrschaft transkulturell. Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung (Macht und Herrschaft 1), Göttingen 2018, 223–268, insbes. 224f. zum aktuellen Forschungsstand und zur weiterführenden Literatur, von der hier stellvertretend die beiden wichtigen neueren Studien von Martin Kern, The Stele Inscriptions of Ch’in Shih-huang. Text and Ritual in Early Chinese Imperial Representation (American Oriental Series 85), New Haven 2000, und Charles Sanft, Communication and Cooperation in Early Imperial China. Publicizing the Qin Dynasty, Albany 2014, genannt seien. Zu einem anregenden transkulturellen Vergleich der Darstellungen des Ersten Kaisers und Alexanders des Großen in den Traditionsquellen siehe Harbsmeier 2015.

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lebige Xin 新-Dynastie gründete,60 sogar noch bis 220 n. Chr. Mit ihr blieben die Errungenschaften von Kaiser Wu erhalten: die von ihm neu eingerichteten Kommandanturen und die von ihm flächendeckend durchgesetzte Zentralverwaltung. Zum anderen ist von ihm ein Dekret erhalten, in dem er sich öffentlich zu seinen Verfehlungen bekennt und das in China unter dem Titel ‚Luntai-Erlass‘ (‚Luntai zhaoling‘ 輪臺詔令) bekannt ist. Das Dokument findet sich im Kapitel 96B des ‚Hanshu‘ über die Westlande.61 Sofern es sich nicht um eine nachträgliche Fälschung handelt, wurde es wahrscheinlich im Sommer des Jahres 90 v. Chr. aufgesetzt, also auf dem Höhepunkt der oben beschriebenen Staatskrise.62 Eigentlich geht es in dem Dekret nur um die Verkündung einer kaiserlichen Entscheidung: Der Herrscher werde nicht dem Rat seines Landwirtschaftsministers Sang Hongyang folgen, werde also im entlegenen Luntai 輪臺, das wohl an einer wichtigen Route der Seidenstraße auf dem Gebiet der heutigen Autonomen Region Xinjiang 新疆 lag,63 keine weiteren Militärbauernkolonien gründen. Zur Begründung dieser Entscheidung holt der Verfasser weit aus, verkündet erstens die Abkehr von einer verfehlten Steuerpolitik, die der Finanzierung der Feldzüge zur Sicherung der Grenzen im Nordwesten dienen sollte, aber das eigene Volk weit über Gebühr belastet habe, gesteht zweitens die militärischen Fehlschläge der vergangenen Jahre ein, insbesondere die Kapitulation von General Li Guangli 李廣利 (gest. 88 v. Chr.) mit insgesamt 70.000 Reitern kurz zuvor,64 und bekennt 60 Zu der Usurpation des Kaiserthrons durch Wang Mang und der Restauration der HanDynastie durch Liu Xiu 劉秀 (5 v. Chr. bis 57 n. Chr., reg. 25–57 n. Chr. und erhielt den posthumen Namen Guangwu 光武) siehe zusammenfassend Hans Bielenstein, Wang Mang, the Restoration of the Han Dynasty, and the Later Han, in: Michael Loewe/Denis C. Twitchett (edd.), The Cambridge History of China, Bd. 1: The Ch’in and Han Empires, 221 B.C. – A.D. 220, Cambridge 1986, 223–290. Zur Legitimationsstrategie des Wang Mang siehe jetzt Paul Fahr, Den Kaiser herausfordern? Die Herrschaft Wang Mangs vor dem Hintergrund der Thronfolge der Westlichen Han, in: Tilmann Trausch (ed.), Norm, Normabweichung und Praxis des Herrschaftsübergangs in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 3), Göttingen 2019, 263–290. 61 Siehe Hanshu, juan 96B, 3912–3914; vgl. die englische Übersetzung in Hulsewé 1979, 168– 174. 62 Als terminus post quem gibt Loewe 1974b, 64, den 18. Juli 90 v. Chr. an, an welchem der oben erwähnte Kanzler Liu Quli hingerichtet worden sei; zum Datum vgl. ebd., 45. 63 Die genaue Lage ist strittig; in Frage kommen die Kreise Kuqa und Bügür sowie die Stadt Aksu auf dem Gebiet der heutigen Autonomen Region Xinjiang; vgl. Hulsewé 1979, 166, Anm. 527. 64 Zu Li Guangli siehe Loewe 2000, 221–223, sowie van Ess 2014, Bd. 1, 363–368 und 373–381. Zu seiner Kapitulation im Jahre 90 v. Chr. und seinem Tod 88 v. Chr. in Gefangenschaft siehe Hanshu, juan 61, 2704, und juan 94A, 3778–3781; vgl. die englische Übersetzung seiner Lebensbeschreibung in Hulsewé 1979, 228–236. Vgl. aber Shiji, juan 110, 2918, wo die Kapitulation des Generals in das Jahr 97 v. Chr. datiert wird. Zum Vergleich der Darstellungen in ‚Shiji‘ und ‚Hanshu‘ siehe van Ess 2014, Bd. 1, 376–381. Van Ess (2014, Bd. 1, 387f.) kommt nach eingehender Analyse der Beschreibungen der Westlande (Xiyu) in ‚Shiji‘ und ‚Hanshu‘ zu dem Schluss, dass entgegen weitverbreiteter Einschätzung die Darstellung im ‚Shiji‘ die ältere ist.

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sich drittens zu einer diesen Niederlagen zugrundeliegenden Unterschätzung des steppennomadischen Gegners aufgrund vorangegangener Fehleinschätzungen von Orakelbeamten und Militärberatern, die zum Teil namentlich mit ihren Ratschlägen und mit detaillierten Angaben zu den Ergebnissen der Orakelnahmen erwähnt werden.65 In diesem Zusammenhang spielt der Autor auch noch auf den Topos der eigenen Inkompetenz66 an und bringt sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass er „in Unserer Kurzsichtigkeit/Unbesonnenheit“ (zhen zhi bu ming 朕之不明) dem Bericht eines sonst nirgends erwähnten, offensichtlich subalternen Hauptmanns Hong ( junhou Hong 軍候弘) über demütigende Provokationen durch die Xiongnu Beachtung geschenkt und deswegen Truppen ausgehoben habe.67 Für all diese Erklärungen und zerknirschten Selbstvorwürfe benötigt der Verfasser des Dekrets fast 500 Schriftzeichen – eine erhebliche Textmenge für einen Erlass –, bevor er schließlich zur eigentlichen Sache kommt, seine Entscheidung verkündet und den Vorschlag des Sang Hongyang, Militärbauernkolonien in Luntai zu gründen, ablehnt: „Nun bringen Wir es nicht über uns, auf [diesen Rat] zu hören.“ (今朕不忍聞。)68 Auf diesen Beschluss folgt ein letzter Textabschnitt, der offenbar nicht in inhaltlichem Zusammenhang mit der Frage der Gründung von Militärbauernkolonien in Luntai steht und zahlreiche Korruptelen enthält, so dass bereits Anthony F.P. Hulsewé vermutete, dass „the state of the present text is due to corruption and a possible conflation of the accounts of more than one incident.“69 All dies deutet zusammen mit der oben erwähnten Entdeckung von Hans van Ess, dass die zwei Kapitel mit Westlandbeschreibungen im ‚Hanshu‘ eine tendenziöse Überarbeitung des entsprechenden Kapitels im ‚Shiji‘ darstellen,70 darauf hin, dass es sich bei dem sogenannten Luntai-Dekret um eine Fälschung handeln könnte. Dafür spricht auch, dass es keinen Präzedenzfall für eine solche kaiserliche Selbstbezichtigung gibt, weshalb der vorliegende Erlass selbst zum Prototyp einer neuen Gattung von sogenannten ‚Selbstbezichtigungsdekreten‘ (zuijizhao 罪己詔) erklärt worden ist. Sofern das Dekret zumindest in seinem Kern echt ist, was hier nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, hätte Kaiser Wu drei Jahre vor seinem Tod die militär- und finanzpolitischen Richtlinien der vorangegangenen vier Jahrzehnte 65 Siehe Hanshu, juan 96B, 3912f.; vgl. die englische Übersetzung in Hulsewé 1979, 168–172. 66 Zu diesem Topos siehe Christian Schwermann, „Dummheit“ in altchinesischen Texten. Eine Begriffsgeschichte (Veröffentlichungen des Ostasien-Instituts der Ruhr-Universität Bochum 62), Wiesbaden 2011, 67f. sowie 78f. mit Belegen aus inschriftlichen Quellen, die zeigen, dass durchaus auch Herrscher sich in ihren Verlautbarungen dieser rhetorischen Figur bedienten. 67 Siehe Hanshu, juan 96B, 3913. 68 Ebd. 69 Siehe Hulsewé 1979, 172, Anm. 564. 70 Siehe Van Ess 2014, Bd. 1, 348–388, insbes. 387.

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kassiert und wäre vollständig auf die Linie seiner Gegner eingeschwenkt. Tatsächlich wurden nach den Ereignissen im Jahr 90 v. Chr. keine weiteren Feldzüge mehr unternommen, und es setzte ein Prozess des Umdenkens ein, der auf der oben erwähnten Hofkonferenz über die Monopole auf Salz und Eisen sechs Jahre nach dem Tod des Herrschers kulminierte. Zwar wurden die Monopole auch nach dieser Konferenz nicht aufgegeben, zumal ihr Architekt Sang Hongyang zu diesem Zeitpunkt noch in Amt und Würden war, aber er blieb dies nicht mehr allzu lange: Nur ein Jahr nach der Konferenz, im Jahre 80 v. Chr., wurde er einer Verschwörung gegen Kaiser Zhao angeklagt und zur Höchststrafe: öffentlicher Hinrichtung und Auslöschung seiner gesamten Familie verurteilt.71 Damit scheint sich ein Kreis geschlossen zu haben: Wiederum war ein Austausch der Machtelite abgeschlossen, und man kehrte zur Spar- und Besänftigungspolitik von Kaiser Wen, dem Großvater von Kaiser Wu, und den damit verbundenen Formen des Konfliktmanagements zurück. Nach den Zeitgenossen soll abschließend auch noch die unmittelbare Nachwelt mit zwei Urteilen über Kaiser Wu zu Wort kommen. Auch diese fielen nicht einhellig positiv aus. So heißt es am Ende seiner Annalen im ‚Hanshu‘: 如武帝之雄材大略,不改文景之恭儉以濟斯民,雖詩書所稱何有加焉! „Wenn Kaiser Wu mit seinen herausragenden Fähigkeiten und großartigen Plänen nicht von der Mäßigung und Sparsamkeit [seiner Vorgänger] Wen und Jing abgewichen wäre, wenn er also auf diese Weise dem Volk geholfen hätte, was wäre dann selbst den [entsprechenden] Preisliedern und Lobreden in den [kanonischen] Büchern der ‚Lieder‘ und ‚Dokumente‘ noch hinzuzufügen?“72

Hier zeigt sich die oben erwähnte Ambivalenz in der Bewertung von Monarchen, die die Formen konsensualer Herrschaft ein Stück weit verlassen hatten: Ban Gu 班固 (32–92 n. Chr.), der Hauptautor des ‚Hanshu‘, der in seiner abschließenden Würdigung im Namen seiner eigenen Familie spricht und dabei in einem insgesamt positiven Urteil verbleibt, wirft dem Eroberer Maßlosigkeit und Verschwendungssucht, also eine defizitäre Finanzpolitik vor – will heißen: er wäre ein noch größerer Herrscher gewesen, wenn er seine Pläne realisiert hätte, ohne die Staatsfinanzen zu ruinieren. Anders als im Falle Alexanders des Großen war seine Kriegsbeute indes nicht groß genug, um weitere Eroberungen zu finanzieren. Indem Kaiser Wu seine Feldzüge eigenmächtig zu Lasten der innerstaatlichen Ressourcen führte, habe er – so die Kritik des Ban Gu – letztlich nicht dem Volkswohl gedient. Dahinter steht zudem der unausgesprochene Vorwurf, dass seine Regierung sich nicht am präventionistischen Modell und der Herrschaft auf Grundlage von Konsens orientiert habe. 71 Siehe Hanshu, juan 66, 2887. Vgl. Loewe 2000, 463f. 72 Siehe Hanshu, juan 6, 212.

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Man vergleiche das berühmte Urteil des Jia Yi 賈誼 (200–168 v. Chr.) in der ‚Erörterung über die Verfehlungen von Qin‘ (‚Guo Qin lun‘ 過秦論).73 In seiner wirkmächtigen Analyse von Aufstieg und jähem Fall der Vorgängerdynastie stellt Jia Yi im Hinblick auf den Ersten Kaiser fest, dieser habe nicht vom Eroberungsin den Verwaltungsmodus umschalten können.74 Unter anderem aus diesem Grund und weil der Monarch zudem eine Selbstherrschaft errichtet und nicht auf die Remonstrationen seiner Führungsbeamten gehört habe, sei die Qin-Dynastie innerhalb weniger Jahre untergegangen.75 Entsprechend wirft der Hauptautor des ‚Hanshu‘ Kaiser Wu vor, dass er aus dem Verwaltungsmodus in den Eroberungsmodus zurückgefallen sei, ohne den zur Fortsetzung und Konsolidierung der Eroberungen nötigen Gewinn aus den eroberten Gebieten ziehen zu können. Anstatt das Bestehende zu sichern, nachhaltig und ressourcenschonend zu wirtschaften und für eine gerechte Verteilung des Wohlstandes zu sorgen, habe er auf Kosten des Volkes seinen persönlichen Ehrgeiz befriedigt. Eine etwas frühere und zugleich wesentlich ausführlichere Bewertung findet sich in den ‚Neuen Erörterungen‘ (‚Xin lun‘ 新論) des Huan Tan 桓譚 (43 v. Chr. bis 28 n. Chr.). Dieses Werk, das nur fragmentarisch überliefert ist, wurde wahrscheinlich 26 n. Chr. – ein gutes Jahrhundert nach dem Tod von Kaiser Wu – beim Thron eingereicht, um dem oben erwähnten Liu Xiu, der 25 n. Chr. die HanDynastie wiedererrichtete und bis 57 n. Chr. unter dem kanonischen Namen Guangwu regierte, wohl unter anderem als Fürstenspiegel zu dienen.76 Es könnte durchaus die Vorlage für das abschließende Urteil der Dynastiegeschichte gebildet haben, und sein Urteil dürfte repräsentativ sein für die Sichtweise von Beamtenliteraten des ausgehenden ersten Jahrhunderts v. Chr. Anders als der Historiker Ban Gu bewertet der Autor des politisch-philosophischen Traktats die Leistungen und Verfehlungen des Kaisers im Einzelnen, bevor er sein Fazit zieht:77 漢武帝材質高妙,有崇先廣統之規,故即位而開發大志,考合古今,模獲前聖 故事,建正朔,定制度,招選俊傑,奮揚威怒,武義四加,所征者服,興起六 藝,廣進儒術,自開闢以來,唯漢家最為盛焉。故顯為世宗,可謂卓爾絕世之 主矣。然上多過差,既欲斥境廣土,又乃貪利爭物之無益者。聞西夷大宛國有 名馬,即大發軍兵,攻取歷年,士眾多死,但得數十疋耳。又歌兒衛子夫,因 73 74 75 76

Siehe Shiji, juan 6, 276–284. Zu Jia Yi siehe Loewe 2000, 187–189. Siehe Shiji, juan 6, 283. Ebd., 278 und 283. Siehe Timoteus Pokora, Hsin lun 新論, in: Michael Loewe (ed.), Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide (Early China Special Monograph Series 2), Berkeley 1993, 158–160, hier 158. Zu einer Übersicht über die Quellen der ‚Xin-lun‘-Fragmente siehe Timoteus Pokora, Hsin-lun (New Treatises) and Other Writings by Huan T’an (43 B. C.–28 A. D.), Ann Arbor 1975, 271f. 77 Siehe Yiwen leiju 藝文類聚, ed. Ouyang Xun 歐陽詢, 2 Bde., Shanghai 1965, Bd. 1, juan 12, 231.

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幸愛重,乃陰求陳皇后過惡而廢退之,即立子夫,更其男為太子。後聽邪臣之 譖,衛后以憂死,太子出走滅亡,不知其處。信其巫蠱,多徵會邪僻,求不急 之方,大起宮室。內竭府軍(庫) 78,外罷天下,百姓之死亡,不可勝數。此可謂 通而蔽者也。 „Die Fähigkeiten und Anlagen von Han Wudi waren herausragend. Er folgte den Regeln, seine Vorfahren zu verehren und seine Herrschaft auszuweiten. Daher entfaltete er nach seiner Thronbesteigung große Ambitionen. Er prüfte und vereinigte Altertum und Gegenwart. Er nahm sich ein Vorbild an den Präzedenzfällen der früheren Weisen. Er führte einen neuen Kalender ein.79 Er legte neue Regularien fest. Er berief hervorragende Ratgeber. Er verbreitete seine ehrfurchtgebietende und grimmige Autorität. Er trug Krieg in die vier Himmelsrichtungen, so dass ein jeder, gegen den er zu Felde zog, sich ihm unterwarf. Er ließ die Sechs Künste80 aufblühen und förderte die [konfuzianischen] Klassikerstudien. Von [allen Dynastien seit] Anbeginn hat das Haus der Han die höchste Machtvollendung erreicht. Daher ragt Han Wudi heraus als ‚Begründer einer Epoche‘.81 Man kann ihn einen Herrscher von unübertroffenem Rang nennen. Dennoch beging der Kaiser viele Fehler und hatte viele Unzulänglichkeiten. Er wollte nämlich nicht nur die Grenzen erweitern und das Land vergrößern, sondern gierte darüber hinaus auch noch nach Profit und stritt wegen unnützer Dinge. Nachdem er gehört hatte, dass es in Dayuan (Ferghana), dem Reich der West-Barbaren, berühmte Pferde gab, entsandte er ein großes Heer, das für etliche Jahre im Einsatz war. Viele seiner Offiziere und Soldaten kamen ums Leben, doch er erbeutete nur ein paar Dutzend Pferde. Des Weiteren: Da das Singmädchen Wei Zifu sich in großem Maße der Zuneigung und Zuwendung des Kaisers erfreute, suchte er insgeheim Fehltritte der Kaiserin Chen ausfindig zu machen und verstieß sie. Sobald er Wei Zifu zur Kaiserin erhoben hatte, machte er ihren Sohn zum Kronprinzen. Später hörte der Kaiser auf die üble Nachrede schlechter Minister, und die Kaiserin Wei starb vor Gram. Der Kronprinz [Liu Ju 劉據] floh und kam ums Leben – man weiß nicht, wo. [Der Kaiser] glaubte an Schamanismus und Schwarze Magie. Er rief viele Bösewichte an den Hof und traf sich mit ihnen und suchte entbehrliche Fachleute für Okkultes auf. Er ließ in großem Maßstab Paläste errichten, leerte im Innern die Schatzkammern und Speicher und erschöpfte im Äußern die Welt. Die Zahl der Toten unter dem Volk ist nicht zu beziffern. So einen mag man intelligent und doch beschränkt nennen.“ 78 Ich folge der Parallelversion im ‚Taiping yulan‘ 太平御覽 und emendiere 軍 zu 庫. Siehe Taiping yulan 太平御覽, ed. Li Fang 李昉, 4 Bde., Peking 1960, Bd. 1, juan 88, 11a (422 in der durchgehenden Paginierung). 79 Dies geschah im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Regierungsdevise „Der Große Neuanfang“ (Taichu 太初) im Jahre 104 v. Chr., siehe Loewe 1974b, 31f. 80 Zur Entstehung des Kanons und der Verwendung des Begriffs „Sechs Disziplinen“ (liuyi 六 藝) siehe Hans van Ess, Politik und Gelehrsamkeit in der Zeit der Han (202 v. Chr. – 220 n. Chr.). Die Alttext/Neutext-Kontroverse, Wiesbaden 1993, 8–22. Der Ausdruck „Sechs Disziplinen“ bezeichnete ursprünglich die sechs Künste, in denen der Adlige bewandert sein sollte (Riten, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Rechnen und Schreiben). Seit Beginn der Han-Zeit referierte er auch auf das Studium der Klassiker und die Abfassung von Kommentaren dazu. 81 Shizong 世宗 ist der Tempelname Han Wudis, der an dieser Stelle offensichtlich im Hinblick auf dessen historischen Rang ausgedeutet wird.

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Trotz der Berücksichtigung von Verdiensten lässt dieses Urteil nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig – vor allem, wenn man bedenkt, dass es in einem Fürstenspiegel ausgesprochen wird. Xunzi 荀子, ein konfuzianischer Philosoph des dritten Jahrhunderts v. Chr., hatte der ‚Befreiung von Beschränktheit‘ (‚Jie bi‘ 解蔽) einen ganzen Traktat gewidmet.82 Hierin definiert er geistige Beschränktheit als „Einschränkung des Blickfelds auf eine Einzelheit“ (bi yu yi qu 蔽於一曲) und als „mangelnde Einsicht in die Grundstrukturen“ (an yu da li 闇 於大理). Er bezeichnet sie als eine verbreitete menschliche Schwäche, die auf einem „allgemeinen Defekt in der Funktionsweise des menschlichen Geistes“ (xin shu zhi gong huan 心術之公患) beruhe. Genauer gesagt, bestehe die Fehlfunktion darin, dass der Beschränkte sich in seinen Entscheidungen von seinen persönlichen Begierden (yu 欲) und Abneigungen (wu 惡) leiten lasse, statt die Dinge von höherer Warte aus zu betrachten. Auf diese Analyse eines – aus Sicht des Autors auflösbaren – intellektuellen Defizits auf dem Gebiet dessen, was man heute auch als emotionale Intelligenz bezeichnen würde, spielt Huan Tan in seinen ‚Neuen Erörterungen‘ möglicherweise an. Aus seiner Perspektive fehlte es Kaiser Wu nicht unbedingt an herrscherlicher Größe oder an Intelligenz in dem materialistischen Sinne heutiger Verfahren zur Intelligenzmessung zwecks Bestimmung eines sogenannten Intelligenzquotienten, wohl aber an grundlegendem Humanwissen. Im historischen Urteil des späten ersten Jahrhunderts v. Chr. hatte er als Kaiser wesentlich versagt, denn er war nicht in der Lage gewesen, das öffentliche Wohl von seinen Privatinteressen zu trennen und das Land in Abstimmung mit seinen Führungsbeamten auf der Grundlage konsensualer Herrschaft zu regieren. Erst unter seinem minderjährigen Nachfolger gelang es diesen, die alten Konsensfassaden wiederzuerrichten. Noch einmal sollte eine lange Zeit des Friedens und des Wohlstands folgen. Von Kaiser Wu sprach man nur noch wie rund zwei Jahrtausende später Deng Xiaoping 鄧小平 (1904–1997) von Mao Zedong 毛澤 東 (1893–1976): „siebzig Prozent gut, dreißig Prozent schlecht“ (qi fen gonglao, san fen guocuo 七分功勞,三分過錯). Oder waren es vielleicht doch eher fünfzig zu fünfzig?

Quellen- und Literaturverzeichnis Hans Bielenstein, Wang Mang, the Restoration of the Han Dynasty, and the Later Han, in: Michael Loewe/Denis C. Twitchett (edd.), The Cambridge History of China, Bd. 1: The Ch’in and Han Empires, 221 B.C. – A.D. 220, Cambridge 1986, 223–290. 82 Zum Folgenden siehe Schwermann 2011, 150, sowie Xunzi 荀子, in: Xunzi jijie 荀子集解, ed. Wang Xianqian 王先謙, 2 Bde., Peking 1988, Bd. 2, juan 15, 386–388.

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Andrea Stieldorf

Spieglein, Spieglein … Bilder von Königinnen auf Siegeln und Münzen

Abstract The seals of european queens between 1100 and 1400 reveal a representative strategy referring to the status of their royal husbands. In France, England and Spain, only the crown identifies the depicted lady as a queen as not all of them are shown holding royal insignia like a sceptre. They are standing – like other noble ladies on their seals as well – and wearing precious clothes indicating their high rank. Only the Roman queens used seals of majesty showing them enthroned due to the necessity to highlight their rank as similar to their husbands. This seemed necessary because of the encreasing princely influence on the election of the Roman king in Germany and stopped quite suddenly when the Goldene Bulle 1356 strengthened the role of the electoral princes. The queens were displayed as unequal partners in kingship but as participating the royal power nevertheless. The concept of partnership of king and queen finds its expression in some Staufen coins depicting king and queen as (nearly) equals. The images of queens on seals and coins show them as some kind of ‘junior partners’ in kingship with no clearly defined functions but providing king(ship) with a softer, more social – more female? – side.

„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Diese Frage, die die natürlich böse Stiefmutter und Königin im Märchen von Schneewittchen an ihren magischen Spiegel richtet, scheint symptomatisch für das Bild einer mittelalterlichen Königin zu sein. Verstärkt wird dies durch die Rezeption des Märchens im Film – sowohl in Disneys Zeichentrickfilm von 1931 als auch in der Verfilmung von 2012 –, die die Geschichte in der Regel im Mittelalter, sicher aber vormodern verortet. Und diese Vorstellung popularisiert vielleicht sogar Konzeptionen weiblicher Schönheit in der Minnedichtung.1 In dieser Szene tritt 1 Vgl. Max Stiller, Conceptions of Female Beauty in Medieval and Early Modern German Literature, in: Christine Adams/Tracy Adams (edd.), Female Beauty Systems. Beauty as Social Capital in Western Europe and the United States. Middle Ages to the Present, Newcastle-uponTyne 2015, 77–105, hier 90–91; Katharina Boll, Alsô redete ein vrowe schoene. Untersuchungen zur Konstitution und Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jahrhunderts (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 31), Würzburg 2007, 68, 85–87, 506–508, die betont, dass es in der Minne nur um Herrscherinnen ginge, deren Schönheit dazu diene, dass

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Andrea Stieldorf

zudem ein weiterer Aspekt zutage, den man sogleich als typisch mittelalterlich erkennt: der Wettstreit. Dabei geht es nicht um einen Wettbewerb im Sinne heutiger Misswahlen oder Casting Shows für hoffnungsfrohe künftige Supermodels, sondern um einen Wettstreit, bei dem Schönheit als gleichsam sichtbarer Ausdruck von Adel fungiert und damit zu einem Faktor der Positionsbestimmung innerhalb einer Adelshierarchie wird, bei der aus Rang tatsächliche Handlungsoptionen abgeleitet werden können.2 Im Folgenden soll die Frage nach der Rolle weiblicher Schönheit sowie nach dem Wettstreit natürlich nicht im Vordergrund stehen, aber auch nicht gänzlich aus den Augen verloren werden. Ausgehend von der Annahme Percy Ernst Schramms, dass Bilder maßgeblich durch das Medium, das sie trägt, bestimmt werden,3 soll es insbesondere um die Darstellung von Herrscherinnen auf Siegeln gehen; zu einem nicht unwesentlichen Aspekt werden auch Münzen herangezogen. Es geht um die Zeit zwischen 1100 und 1400, wobei das mittelalterliche Deutschland, England, Frankreich und Spanien im Vordergrund stehen. Die Betrachtung der Siegel und Münzen von Königinnen ist innerhalb des Bonner Sonderforschungsbereichs 1167 ‚Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘ Bestandteil des Teilprojektes ‚Bilder vom König‘, in dem die Siegel- und Münzbilder der deutschen Kaiser und Könige zwischen 936 und 1250 im Zentrum stehen, aber flankierend auch die Siegel und Münzen von Herrscherinnen im europäischen Vergleich in den Blick genommen werden. In einem ersten Schritt wird nach den Hintergründen für das Aufkommen von Herrscherinnensiegeln im frühen 12. Jahrhundert gefragt, zweitens die beiden maßgeblichen Typen Thronsiegel und stehendes Bildnis der Herrscherinnen in die Männer sie begehrten und damit den Wert der Frau bestimmten, dass aber andererseits die ratio der Männer dazu dienen müsse, die Frauen nicht anzurühren, so dass die Schönheit zugleich ein Ausdruck der Unversehrtheit der Frau sei. Vgl. auch Andreas Kablitz, Die Minnedame. Herrschaft durch Schönheit, in: Martina Neumeyer (ed.), Mittelalterliche Menschenbilder (Schriftenreihe der Katholischen Universität Eichstätt 8), Regensburg 2000, 79–118, hier 79–110, 80, wonach die Schönheit die Minnedame aus dem Kreis der Frauen heraushebt. 2 Zur Schönheit als Ausdruck von Adel vgl. u. a. Mayke de Jong, Queens and Beauty in the Early Medieval West. Balthild, Theodelinda, Judith, in: Cristina La Rocca (ed.), Agire da donna. Modelli e pratiche di rappresentazione (secoli VI–X). Atti del convegno Padova 18–19 febbraio 2005 (Collection Haut Moyen Âge 3), Turnhout 2007, 235–248. 3 Percy E. Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert. Mit Beiträgen verschiedener Verfasser (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 13,1), Stuttgart 1954, 1–21; vgl. auch Frank Rexroth, Der Umgang mit Artefakten und das Unbehagen der historischen Methode. Anmerkungen zum Erscheinen von Norbert Kamps Dissertation, in: Reiner Cunz/Claus Artur Scheier (edd.), Macht und Geld im Mittelalter. Forschungen zu Norbert Kamps Moneta Regis (Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 58), Braunschweig 2008, 49–65, hier 52–56.

Spieglein, Spieglein … Bilder von Königinnen auf Siegeln und Münzen

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ihrer Funktion analysiert, um drittens die Insignienausstattung und Kleidung zu untersuchen und abschließend ergänzend einige staufische Münzen heranzuziehen, die etwas bieten, was die Siegel bis 1400 nicht aufweisen, nämlich Herrscherpaardarstellungen.

1. Siegel dienten, nachdem sie seit der Spätantike zum Verschließen von Briefen verwendet wurden, seit dem Frühmittelalter als Beglaubigungsmittel von Urkunden.4 Sie hatten folglich eine rechtliche Funktion, was insbesondere bei hochgestellten Siegelführern auf die Gestaltung von Siegelbild und -umschrift zurückwirkte. Diese mussten den Siegelführer oder die Siegelführerin in Amt, Funktion und Rang eindeutig identifizieren, was zu deutlichen Festlegungen des Siegelbildes auf einen Typ für die einzelnen Statusgruppen führte. Siegel der männlichen Herrscher zur Beglaubigung von Urkunden kennen wir in Europa seit der Karolingerzeit: Nach Karl dem Großen ließen seine Nachfahren sowohl im Ostfrankenreich als auch im Westfrankenreich ihre Urkunden besiegeln und die Ottonen in Deutschland sowie die Kapetinger in Frankreich 4 Die Siegel der Herrscherinnen sind bislang nur selten Gegenstand der Forschung gewesen und erst recht nicht vergleichend. Vgl. zu den Siegeln der deutschen Herrscherinnen, die zusammengestellt sind bei Otto Posse, Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige von 751 bis 1913, 5 Bde., Dresden 1909–1913, hier Bd. 1: Taf. 19 Nr. 4 (Mathilde), Taf. 24 Nr. 1 (Konstanze), Taf. 24 Nr. 5 (Irene-Maria), Taf. 26 (Maria), Taf. 32 Nr. 1–2 (Margarete), Taf. 33 Nr. 1–2 (Elisabeth), Taf. 34 Nr. 7 (Beatrix), Taf. 35 Nr. 5 (Elisabeth), Taf. 42 Nr. 6–7 (Gertrud), Taf. 43 Nr. 4–6 (Imagina), Taf. 45 Nr. 57 (Elisabeth), Taf. 49 Nr. 4 (Elisabeth), Taf. 52 Nr. 1–3 (Beatrix), Taf. 52 Nr. 4–8 (Margarete), Taf. 53 Nr. 9 (Isabella); Bd. 2: Taf. 11 Nr. 3 (Elisabeth) sowie die kurzen Analysen zu den einzelnen Siegeln in Bd. 5; vgl. auch Andrea Stieldorf, Rheinische Frauensiegel. Zur rechtlichen und sozialen Stellung weltlicher Frauen im 13. und 14. Jahrhundert (Rheinisches Archiv 142), Köln/Weimar/Wien 1999, 31–44; dies., Die Siegel der Herrscherinnen. Siegelführung und Siegelbild der „deutschen“ Kaiserinnen und Königinnen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 64 (2000), 1–44. Eine Zusammenstellung der Siegel französischer Königinnen findet sich bei Marie-Adélaïde Nielen, Les sceaux des reines et des enfants de France (Corpus des sceaux français du moyen âge 3), Paris 2011, wo es auch einen einführenden Übersichtsbeitrag gibt: 11–52. In ihrer Untersuchung der Grabmäler und Siegel französischer Königinnen befasst sich Kathleen Nolan nicht nur mit den Siegeln französischer Königinnen, sondern auch mit jenen englischer und deutscher Herrscherinnen, vgl. Kathleen Nolan, Queens in Stone and Silver. The Creation of a Visual Imagery of Queenship in Capetian France, New York 2009. Eine Zusammenstellung vor allem der Siegel einiger englischer Königinnen des 12. bis 16. Jh.s bietet Elizabeth Danbury, Queens and Powerful Women. Image and Authority, in: Noël Adams/John Cherry/James Robinson (edd.), Good Impressions. Image and Authority in Medieval Seals (British Museum Research Publication 168), London 2008, 17–24. Nur knapp zu englischen Königinnensiegeln des 12. Jh.s vgl. Susan M. Johns, Noblewomen, Aristocracy and Power in the Twelfth-Century Anglo-Norman Realm, Manchester/New York 2003, 123–126.

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Andrea Stieldorf

setzten dies fort.5 In England hingegen setzte die Besiegelung von Urkunden erst im 11. Jahrhundert mit Edward dem Bekenner ein und fand unter den normannischen Königen ihre Fortsetzung.6 Seit dem 12. Jahrhundert verwendeten auch die christlichen Könige der iberischen Halbinsel Siegel zur Beglaubigung von Urkunden.7 Trotz dieser unterschiedlichen zeitlichen Verläufe setzte die Siegelführung der Herrscherinnen fast überall nahezu zeitgleich ein, nämlich bald nach 1100.8 In Frankreich war es Bertrada von Montfort, die zweite Frau Philipps I., die in ihrer Witwenzeit ein Siegel führte,9 in Deutschland Kaiserin Mathilde, die Gemahlin Kaiser Heinrichs V., die bereits während dieser Ehe und in England ein Siegel

5 Die merowingischen Siegel waren noch nicht Beglaubigungsmittel des Herrschers und wurden auch nicht als solche angekündigt; vgl. Andrea Stieldorf, Gestalt und Funktion der Siegel auf den merowingischen Königsurkunden, in: Archiv für Diplomatik 47/48 (2001/02), 133–166. – Zu den Siegeln seit den Karolingern vgl. Hagen Keller, Ottonische Herrschersiegel. Beobachtungen und Fragen zu Gestalt und Aussage und zur Funktion im historischen Kontext, in: Konrad Krimm/Herwig John (edd.), Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum fünfundsechzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1997, 3–51; Hagen Keller, Zu den Siegeln der Karolinger und Ottonen. Urkunden als Hoheitszeichen in der Kommunikation des Herrschers mit seinen Getreuen, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), 400–441; Robert-Henri Bautier, Échanges d’influences dans les chancelleries souveraines du moyen âge, d’après les types des sceaux de majesté, in: Comptes rendus des séances de l’Academie des Inscriptions et Belles-Lettres 112 (1968), 192–220. 6 Vgl. hierzu Brigitte Bedos-Rezak, The King Enthroned, a New Theme in Anglo-Saxon Royal Iconography: The Seal of Edward the Confessor and its Political Implications, in: Joel T. Rosenthal (ed.), Kings and Kingship (Center for Medieval and Early Renaissance Studies. Acta 11), Binghamton, NY 1986, 53–88; wiederabgedruckt in: Brigitte Bedos-Rezak, Form and Order in Medieval France. Studies in Social and Quantitative Sigillography (Variorum Collected Studies Series 424), Aldershot/Brookfield 1993, IV, 53–88. 7 Vgl. Maria del Pilar Rábade Obradó, Siegel, IX. Iberische Halbinsel, in: Lexikon des Mittelalters 7 (2003), 1855. 8 Zur angeblichen Siegelführung der Theophanu vgl. Stieldorf 2000, 2f. Ein Siegel der Frau Kaiser Heinrichs II., Kunigunde, kann nicht nachgewiesen werden. Bei dem dafür gehaltenen Objekt handelt es sich tatsächlich um einen Spielstein; vgl. ebd., 4 Anm. 16. Vgl. anders noch Erich Kittel, Siegel (Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde 11), Braunschweig 1970, 274–277 mit Abb. 275 und danach Nolan 2009, 25f. Wahrscheinlich siegelte auch Agnes von Poitou nach dem Tode Heinrichs III., zumindest lässt eine Urkunde von 1059 dies vermuten; vgl. Stieldorf 2000, 4f. 9 Recueil des actes de Louis VI, roi de France (1108–1137). Actes antérieurs à l’avènement et 1108–1125, ed. Jean Dufour (Chartes et diplômes relatifs à l’histoire de France 14,1), Paris 1992, 317f. Anm. 3; zum Siegel der Bertrada vgl. Nielen 2011, Nr. 61 Nr. 5; Brigitte BedosRezak, Women, Seals and Power in Medieval France, 1150–1350, in: Maryanne Kowalski/ Mary C. Erler (edd.), Women and Power in the Middle Ages, Athen/London 1988, 61–82, hier 63, 78 Anm. 5; vgl. auch Nolan 2009, 21–34, die auch die Zweifel Dufours an der Zuverlässigkeit der Überlieferung dieses nur in einer Zeichnung des 17. Jh.s überlieferten Siegels mitteilt.

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führte,10 sowie deren Mutter Königin Mathilde, die Frau König Heinrichs I., ebenfalls bereits zu dessen Lebzeiten.11 Lediglich auf der iberischen Halbinsel setzte die Siegelführung der Königinnen erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts mit der Frau Alfons’ I. von Aragon, Sancha von Kastilien, ein.12 Die erste Siegelführung von Königinnen fällt also in eine Zeit, als sich seit dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts die Siegelführung im weltlichen Adel stärker zu verbreiten begonnen hatte – was zunächst vor allem für dessen männliche Mitglieder galt.13 Dies ist zwar einerseits mit der seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zunehmenden Schriftlichkeit im Bereich der sog. pragmatischen Schriftlichkeit und damit auch der Urkunden zu erklären, wobei die hier festzustellenden Zahlen letztlich noch nicht so sind, dass diese Siegel nun massenhaft zum Einsatz gekommen wären. Bedenkt man, dass die Anschaffung eines Siegelstempels, z. B. aus Silber, mit hohen Kosten verbunden war, wird deutlich, dass diese frühen Siegel andererseits als Ausdruck der persönlichen Autorität anzusehen sind, also in Verbindung mit dem rechtlichen einen hohen repräsentativen Wert besaßen.14 Dahinter steht ein verändertes Verständnis vom Sie-

10 Zum Siegel der Kaiserin Mathilde vgl. Marjorie M. Chibnall, The Empress Matilda. Queen Consort, Queen Mother and Lady of the English, Oxford 1991, 102–105 mit Abb. 4 und 5; vgl. Nolan 2009, 69–71. Möglicherweise steht ihre Siegelführung mit dem Bemühen Heinrichs V. in Zusammenhang, die Stellung der Königin nach Jahrzehnten ohne aktive Herrscherin wieder zu stärken; vgl. Claudia Zey, Frauen und Töchter der salischen Herrscher. Zum Wandel salischer Heiratspolitik in der Krise, in: Tilman Struve (ed.), Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Köln/Weimar/Wien 2008, 47–98, hier 84–88. 11 Vgl. Nolan, 2009, 10–12. Nolan vermutet, freilich ohne näheren Beleg, dass das Siegel anlässlich der Krönung Mathildas geschnitten wurde. Zum Siegel der Frau Heinrichs I. von England vgl. Lois L. Huneycutt, Matilda of Scotland. A Study in Medieval Queenship, Woodbridge 2003, 89 (Abb. des Siegels auf dem Titelbild), sowie Thomas A. Heslop, Seals, in: Tristram Holland et al. (edd.), English Romanesque Art, 1066–1200. Exhibition held at the Hayward Gallery, London 1984, 298–319, hier 301, 305 Abb. 336. Zu Mathilde von Schottland und ihren zeitweilig weitreichenden Handlungsspielräumen vgl. allgemein Huneycutt 2003. Dabei wird deutlich, dass Mathilde nicht nur in den Urkunden ihres Mannes sehr häufig als Zeugin auftrat, sondern dass sie Urkunden in eigenem Namen ausstellte, darunter solche, die man als Handlungen stellvertretend für ihren Mann interpretieren kann, aber auch solche, in denen sie über ihr Eigentum verfügte: ebd., 56, 66, 73, 79–84, 99–100 sowie 151–160 mit Regesten der Urkunden Mathildas. Huneycutt 2003, 74 vermutet, dass um 1100 die politische Rolle der Königin akzeptiert war. – Mathildes Typar wurde von Heinrichs I. zweiter Frau Adeliza weiterverwendet, die hierzu die Umschrift umgravieren ließ; vgl. Heslop 1984, 305. 12 Vgl. Ferran de Sagarra, Sigillografia catalana I. Inventari, descripció i estudi del segells de Catalunya, Barcelona 1915, Nr. 150–163 mit den Siegeln der Königinnen vor 1400. 13 Vgl. Jean-Luc Chassel, L’essor du sceau au XIe siècle, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 155 (1997), 221–234; Jean-François Nieus, Early Aristocratic Seals. An Anglo-Norman Success Story, in: Anglo-Norman Studies 38 (2016), 97–124. 14 Vgl. Michael T. Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066–1307, Cambridge, MA 1979, 207; Bedos-Rezak 1988, 73; Nolan 2009, 33–34.

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gelbild als Stellvertreter für den Siegelführer, welches ebenfalls in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entwickelt wurde.15 So nahm die Siegelführung von weltlichen und geistlichen Personen neben dem König deutlich zu, und dazu zählten Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen, Herzöge und Grafen, aber noch kaum weltliche Frauen. Dies bedeutet zugleich, dass die Königinnen zwar in ihren Reichen eine Vorreiterrolle übernahmen, aber nicht im europäischen Vergleich insgesamt, da für Italien mit den Markgräfinnen Beatrix und Mathilde von Canossa sowie Adelheid von Turin bereits in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts Frauen bezeugt sind, die eigene Siegel führten – in all diesen Fällen vor dem Hintergrund eigenständiger Herrschaftsrechte in Italien.16 Für die Königinnen ist der Aspekt der Repräsentation zu betonen, denn wir haben für die einzelnen Herrscherinnen meist jeweils nur eine Handvoll Urkunden überliefert – wenn überhaupt, denn in einigen Fällen sind nur Siegelabdrücke erhalten, für die man nicht mehr sagen kann, an welcher Urkunde sie befestigt waren; in anderen Fällen handelt es sich um Abzeichnungen der Siegel in frühneuzeitlichen Gelehrtenhandschriften.17 Während die männlichen Herrscher, die meist aus eigenem Recht herrschten, einen Siegeltyp wählten, der auch als Majestätssiegel bezeichnet wird, weil sie thronend dargestellt werden, gekrönt und in herrscherlichem Ornat gewandet sowie mit zwei weiteren Insignien ausgestattet,18 so gilt dies für ihre Frauen zunächst nur in einem Fall. Denn von den ersten königlichen Sieglerinnen wird nur Kaiser Heinrichs Frau Mathilde thronend dargestellt, wobei sie in der rechten Hand ein kurzes Lilienzepter hält; ob sie auch eine Insignie in der linken Hand hält, ist nicht ganz eindeutig zu erkennen.19 Die Umschrift weist sie als Mathilde, von Gottes Gnaden Königin der Römer, aus: MATHILDIS DEI GRATIA ROMANORVM REGINA. Dieses Siegel ist auf ihre Ehe mit Heinrich V. zurückzuführen, doch führte sie es danach weiter. Sie ließ sich weder anlässlich 15 Brigitte Bedos-Rezak, When Ego was Imago. Signs of Identity in the Middle Ages (Visualising the Middle Ages 3), Leiden/Boston 2011. 16 Bedos-Rezak 1988, 64 setzt die Siegelführung weltlicher Frauen unterhalb der Ebene der Königinnen für nach 1150 an. Zur Siegelführung der italienischen Markgräfinnen sowie auch einiger Frauen im normannischen Süditalien vgl. Elke Goez, Ein neuer Typ der europäischen Fürstin im 11. und frühen 12. Jahrhundert?, in: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (edd.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007, 161–193, hier 177–179 mit weiterer Literatur. 17 Dies gilt für Bertrada von Montfort, Adelheid von Maurienne, die ersten beiden Siegel der Eleonore von Aquitanien und Kaiserin Beatrix. 18 Vgl. zu den Siegeln der deutschen Herrscher Posse 1909–13, zu denen der französischen Könige den Katalog von Martine Dalas, Corpus des sceaux français du Moyen Âge 2: Les sceaux des rois et de régence, Paris 1991; und zu den Siegeln der englischen Könige Alfred B. Wyon/Allan Wyon, The Great Seals of England. From the Earliest Times to the Present Time. Arranged and Illustrated with Descriptive and Historical Notes, London 1887. 19 Zum Siegel siehe oben Anm. 10.

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ihrer zweiten Heirat mit Graf Gottfried von Anjou ein neues Siegel schneiden, noch, als sie als einziges überlebendes Kind Heinrichs I. von England 1135 Anspruch auf dessen Nachfolge erhob. Dass sie sich kein neues Siegel fertigen ließ,20 ist vermutlich mit dem höheren Ranganspruch der römischen Königin zu erklären, ein Titel, der sie in die Nähe des Kaisertums rückte, obwohl sie nie zur Kaiserin gekrönt wurde.21 Im Fall der Mathilde wird also das Siegel als Ausdruck der persönlichen Autorität besonders deutlich, denn der beanspruchte Rang sollte ihr im Machtkampf gegen ihren Cousin Stephen von Blois helfen, der den Titel des englischen Königs ebenfalls beanspruchte und als solcher urkundete und siegelte. Zudem hieß Stephens Frau gleichfalls Mathilde; diese wurde als Königin von England betitelt und führte ein Siegel, das sie vermutlich als Königin von England bezeichnete, zu erkennen ist von der Umschrift aber nur noch MATILDA DEI GRATIA […].22 Stephens Frau wurde zudem zur englischen

20 Angeblich gab es ein weiteres Siegel, dessen Umschrift MATHILDIS IMPERATRIX ROM(ANORVM) ET REGINA ANGLIAE lautete. Regesta Regum Anglo-Normannorum 1066–1154, 3: Regesta regis Stephani ac Mathildis imperatricis ac Gaufridi et Henrici ducum Normannorum 1135–1154, ed. Henry A. Cronne/Ralph H. C. Davis, Oxford 1968 (= RRAN III), 99–101 Nr. 274 (zu Mittsommer 1141) halten den Hinweis für zuverlässig: Mathilda urkundet hier für den Earl von Essex, Geoffrey von Mandeville, als M(athildis) regis Henrici filia. Die Urkunde wurde durch ein Feuer stark beschädigt und weist kein Siegel mehr auf. Die Abschrift British Museum, Harley MS. 5019 hat auch eine Zeichnung dieses (angeblichen?) Siegels der Mathilde; dagegen die Rezension zu den RRAN III von James C. Holt in: Economic History Review 24 (1971), 481–483. 21 Vgl. Alfred Gawlik, Ein neues Siegel Heinrichs V. aus seiner Königszeit, in: Günter Cerwinka et al. (edd.), Geschichte und ihre Quellen. Festschrift für Friedrich Hausmann zum 70. Geburtstag, Graz 1987, 529–536, hier 535 mit Anm. 45; vgl. Stieldorf 2000, 16. Zudem wird der Titel des römischen Königs unter Heinrich V. konsequent gebraucht, dies erklärt wohl auch, warum der Titel einer römischen Königin auf ihrem Siegel erstmals erscheint; vgl. Jörg Schwarz, Herrscher- und Reichstitel bei Kaisertum und Papsttum im 12. und 13. Jahrhundert (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 22), Köln/ Weimar/Wien 2003, 19–20. 22 Zum Siegel der Mathilde von Boulogne, welches sie stehend, mit einem langen Mantel bekleidet, mit einem Lilienzepter in der rechten Hand und einem Vogel auf der linken zeigte; vgl. Lewis C. Loyd/Doris M. Stenton (edd.), Sir Christopher Hatton’s Book of Seals (Northamptonshire Record Society 15), Oxford 1950, 296; vgl. Johns 2003, 125; 203 Nr. 3; vgl. Patricia A. Dark, The Career of Matilda of Boulogne as Countess and Queen in England 1135–1152, Oxford 2005, 152, 158, die die Ähnlichkeit zum Siegel von Mathildes Tante, Heinrichs I. erster Frau Mathilde von Schottland, betont und darin eine gezielte Legitimationsstrategie von Stephens Königin sieht. Sie beruft sich dabei auf die Beschreibung des nicht mehr erhaltenen Siegels bei Christopher Hatton. Eine eigene Kanzlei der Königin hält sie aufgrund der letztlich geringen Urkundenzahlen für wenig wahrscheinlich (ebd., 107). Diese Mathilde wird in den Urkunden als Mathildis (dei gratia) Anglorum regina (et Boloniensis comitissa) bezeichnet: RRAN III, 9 Nr. 24, Nr. 26, 30 Nr. 76, 58 Nr. 157, 71 Nr. 195, 76 Nr. 207, 79f. Nr. 221, 80 Nr. 224, 85 Nr. 239b, 86 Nr. 239d, 87 Nr. 243, 114 Nr. 301 usw.

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Königin gekrönt, Heinrichs I. Tochter hingegen nicht. Den Titel der römischen Königin führte sie zurecht. Mit dem Thronsiegel aus ihrer ersten Ehe bekundete Mathilde, die sich in England in Urkunden und auf Münzen sogar Kaiserin nannte, obwohl sie diesen Titel während ihrer Ehe mit Heinrich V. nicht geführt hatte,23 zum einen ihren höheren Rang vor Stephen, andererseits aber nutzte sie mit dem Thronsiegel einen Siegeltyp weiter, den ihr Vater auf dem Avers seines zweiseitigen Siegels führte – die andere Seite zeigte den englischen König gerüstet in den Kampf reitend. Deswegen soll diese Mathilde im Folgenden zur Unterscheidung von den weiteren Mathilden als ‚Kaiserin‘ Mathilde bezeichnet werden. ‚Kaiserin‘ Mathildes Mutter, König Heinrichs I. von England erste Frau Mathilde von Schottland sowie ihre Stiefmutter, Heinrichs zweite Frau Adeliza von Löwen, führten hingegen ein Typar, das sie stehend zeigte – nebenbei bemerkt kann man hier von einem Siegel sprechen, da Adeliza den Siegelstempel der Mathilde von Schottland umarbeiten ließ, indem sie ihren Namen eingravieren ließ.24 Für ihr angestrebtes Wirken in England hätte ‚Kaiserin‘ Mathilde also durchaus Vorbilder von Königinnensiegeln mit einem stehenden Bildnis

23 Eine übliche Titulatur in ihren Urkunden ist Mathildis imperatrix (regum [sic] Anglie filia): RRAN III, 7f. Nr. 20, 28 Nr. 71, 29 Nr. 72, 41 Nr. 112, 113, 42 Nr. 115, 43 Nr. 116a, 61 Nr. 168, 120 Nr. 316, 126 Nr. 334, 141–143 Nr. 370–372, teils auch ergänzt um et Anglorum domina: RRAN III, 15 Nr. 43, 26f. Nr. 65, 40 Nr. 111, 43 Nr. 116, 70 Nr. 190, 91 Nr. 253, 92f. Nr. 259, 101f. Nr. 275, 112 Nr. 295–296, 120 Nr. 316a, 124 Nr. 328, 130 Nr. 343, 145 Nr. 377, 146 Nr. 378. Nur 99–101 Nr. 274 nennt den Titel imperatrix nicht. Die Nennung als Tochter des die Herrschaft legitimierenden Vaters findet sich bei Frauen öfter; vgl. Therese Martin, The Art of a Reigning Queen as Dynastic Propaganda in Twelfth-Century Spain, in: Speculum 80 (2005), 1134–1171, hier 1145–1149; Goez 2007, 174f. Zur Titelführung im römisch-deutschen Reich vgl. Kurt-Ulrich Jäschke, Notwendige Gefährtinnen. Königinnen der Salierzeit im römischdeutschen Reich des 11. und beginnenden 12. Jahrhundert (Historie und Politik 1), Saarbrücken 1991, 164–168. Entscheidend ist hier, dass Mathilde in den Diplomen Heinrichs V. wie in ihren eigenen Urkunden den Titel einer römischen Königin führt, da sie 1111 zwar in Rom mit einer Festkrönung geehrt wurde, aber nicht zur Kaiserin gekrönt wurde. Dennoch wurde sie von einigen Zeitgenossen wohl bereits vor dem Tod Heinrichs V. auch als Kaiserin genannt. Zu den Urkunden der Mathilde siehe jetzt die vorläufige Edition auf der Website der Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Math. 1–3, 5–6: http://www.mgh.de/ddhv/dhv_ math_1.htm; http://www.mgh.de/ddhv/dhv_math_2.htm; http://www.mgh.de/ddhv/dhv_ math_3.htm; http://www.mgh.de/ddhv/dhv_math_5.htm; http://www.mgh.de/ddhv/dhv_ math_6.htm (02. 11. 2017). 24 Vgl. zum Siegel der Mathilde von Schottland C. H. Hunter Blair, Durham Seals. Catalogue of Seals at Durham from a manuscript made by the Reverend William Greenwell, in: Archaeologica Aeliana, 3rd series 13 (1916), 117–155, hier 119f. Nr. 3018 sowie Taf. VI; vgl. Heslop 1984, 305 Nr. 336; Huneycutt 2003, 89, 138, 158–159; Johns 2003, 125, 203 Nr. 1; Danbury 2008, 17; Nolan 2009, 10–12. Urkundlich belegt: Regesta Regum Anglo-Normannorum 1066–1154, 2: Regesta Henrici primi 1100–1135, ed. Charles Johnson/Henry A. Cronne, Oxford 1956 (= RRAN II), 129 Nr. 1108, 135 Nr. 1143; Nolan 2009, 21–34.

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gehabt.25 Das Beibehalten ihres deutschen Thronsiegels – mit dem Titel der römischen Königin! – in England sollte durch den Kontrast zu dem stehenden Siegelbild der drei Königinnen durch Heirat, also ihrer Mutter und Stiefmutter ebenso wie Stephens Frau Mathilde, wohl deutlich machen, dass sie aus eigenem Recht und als Nachfolgerin des Vaters herrschte, der ein Thronsiegel geführt hatte. Die Reiterseite der englischen Königssiegel mit ihrer militärischen Konnotation entfiel bei Mathilde. Einen solchen Herrschaftsanspruch wird man bei den Frauen der römischdeutschen Kaiser und Könige, die bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts in der Nachfolge der ‚Kaiserin‘ Mathilde Thronsiegel führten,26 nicht annehmen dürfen, da nur Konstanze von Sizilien mit ihrem freilich aus der normannischen Tradition heraus abzuleitenden Thronsiegel einen eigenen Anspruch auf Königsherrschaft erheben konnte.27 Doch warum führten die Frauen der römisch-deutschen Könige im Unterschied zu anderen europäischen Königinnen Thronsiegel, welche immerhin als besonderer Ausdruck für das „Innehaben von Herrschaft“ gelten?28 Natürlich liegt der – freilich recht vage – Verweis auf Marienbildnisse nahe und wird gelegentlich in der Literatur angeführt, nur erklärt dies den Verzicht auf das Thronbild bei englischen und französischen Königinnen nicht.29 Ein Weiteres sei 25 Das Siegel der ‚Kaiserin‘ Mathilde ist erstmals sicher zu 1117/18 bezeugt; im Jahr 1118 starb Mathilde von England, so dass ihr Siegel vermutlich älter war als das der Tochter, vgl. Stieldorf 2000, siehe Anm. 67. 26 Von dem Siegel von Friedrichs I. zweiter Gemahlin existiert nur noch eine knappe Beschreibung; vgl. Stieldorf 2000, 8f., 34 Nr. 4. 27 Zum Siegel der Konstanze von Sizilien vgl. Posse 1909, Bd. 1, Taf. 24,1; Theo Kölzer, Urkunden und Kanzlei der Kaiserin Konstanze, Königin von Sizilien (1195–1198) (Studien zu den normannisch-staufischen Herrscherurkunden Siziliens. Beihefte zum ‚Codex diplomaticus regni Sicilie‘ 2), Köln/Wien 1983, 83–86; Stieldorf 2000, 34f. Nr. 5. Zum verlorenen Thronsiegel (mit Reichsapfel und Zepter) der Isabella von Brienne, die über ihre Mutter Maria Erbin des Königreiches Jerusalem war und 1225 Friedrich II. heiratete, vgl. Hans E. Mayer/Claudia Sode, Die Siegel der lateinischen Könige von Jerusalem (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 66), Wiesbaden 2014, 188–190 Nr. 88. 28 Helga Sciurie, Maria-Ecclesia als Mitherrscherin Christi. Zur Funktion des Sponsus-SponsaModells in der Bildkunst des 13. Jahrhunderts, in: Hedwig Röckelein/Claudia Opitz/Dieter R. Bauer (edd.), Maria. Abbild oder Vorbild? Zur Sozialgeschichte mittelalterlicher Marienverehrung, Tübingen 1990, 110–146, hier 112. 29 Vgl. z. B. Bedos-Rezak 1988, 73; vgl. Thomas A. Heslop, The Virgin Mary’s Regalia and 12th Century English Seals, in: Alan Borg/Andrew Martindale (edd.), The Vanishing Past. Studies of Medieval Art, Liturgy and Metrology Presented to Christopher Hohler (BAR International Series 111), Oxford 1981, 53–62; Danbury 2008, 18; Elizabeth Danbury, Images of English Queens in the Later Middle Ages, in: The Historian 46 (1995), 3–9, hier 5. Natürlich dient Maria immer wieder als Bezugspunkt und Vorbild für weltliche Königinnen, dennoch scheint mir diese Bezugnahme zu verengt; vgl. zu Maria als Referenz für Königinnen John C. Parsons, The Queen’s Intercession in Thirteenth-Century England. Contradictory Nature of the Queen’s Role as Intercessor, in: Jennifer Carpenter/Sally-Beth MacLean

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an dieser Stelle vermerkt: Auch die Verwendung der DEI GRATIA-Formel in den Umschriften markiert keinen Unterschied, denn unabhängig vom Thronsiegel oder vom stehenden Bildnis führen die meisten Herrscherinnen diesen legitimierenden Titelzusatz nach der Nennung ihres Namens und vor der Angabe ihres Titels; bei Bertrada von Montfort heißt es beispielsweise: SIGILLUM BERTRADE DEI GRACIA FRANCORUM REGINE, bei Mathilde von Schottland: + SIGILLVM MATHILDIS [SE]CVN[DAE] DEI GRACIE REGINAE ANGLIE; das secunda ist insofern interessant, weil Mathilde sich hiermit auf die Frau Wilhelm des Eroberers und Mutter Heinrichs I. bezieht, für die aber kein Siegel belegt ist.30 Auch die späteren Königinnen behalten die DEI GRATIA-Formel bei, die sie in die Nähe des Ranges ihrer Ehemänner rückte, die gleichfalls diese Legitimationsformel in Siegel und Urkunden nutzten. An dieser Stelle wird der enge Zusammenhang zwischen den Siegeln der Königinnen und denen ihrer Ehemänner deutlich.31 Tatsächlich scheint auch mit Blick auf die Thronsiegel der römisch-deutschen Herrscherinnen der Bezug auf die Majestätssiegel ihrer königlichen oder kaiserlichen Ehemänner der wesentliche Bezugspunkt zu sein, wobei ein Faktor entscheidend ist: Während die Nachfolgeregelungen in England, Frankreich und auch Spanien wesentlich durch das Erbrecht bestimmt waren, wenngleich mitnichten alle Herrschaftsübergänge unangefochten vonstatten gingen, so war der Einfluss der Großen auf die Nachfolge im Königtum im römisch-deutschen Reich seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts immer größer geworden, so dass die Wahl durch die Fürsten immer stärkeres Gewicht gegenüber dem dynastischen Erbanspruch gewann.32 Der Wunsch der Herrscher nach Durchset(edd.), Power of the Weak. Studies on Medieval Women, Urbana, IL 1995, 147–177, hier 153, 158–162; Stieldorf 2000, 13f.; Anne J. Duggan, Introduction, in: dies. (ed.), Queens and Queenship in Medieval Europe. Proceedings of a Conference held at King’s College London, April 1995, Woodbridge 1997, XV–XXII, hier XVI–XVII. 30 Vgl. Johns 2003, 125; Danbury 2008, 17 unter Bezugnahme auf Regesta Regum AngloNormannorum 1066–1154, 1: Regesta Willelmi Conquestoris et Willelmi Rufi 1066–1100, ed. Henry W. C. Davis, Oxford 1913 (= RRAN I), 35 Nr. 135. Die Urkunde wurde zwar von Mathilde (I.) ausgestellt, doch gibt es keine Hinweise für eine Besiegelung. 31 Zu den Umschriften der Königinnensiegel vgl. Stieldorf 2000, im Anhang; zur DEI GRATIA-Formel, die in der Forschung zuletzt vor allem Aufmerksamkeit gefunden hat als Ausdruck fürstlichen Selbstverständnisses, vgl. u. a. Alexander Sauter, Fürstliche Herrschaftsrepräsentation. Die Habsburger im 14. Jahrhundert (Mittelalter-Forschungen 12), Stuttgart 2003, 71f. mit Anm. 47. 32 Vgl. zu den Thronfolgeregelungen in England Alheydis Plassmann, […] et claues thesaurorum nactus est, quibus fretus totam Angliam animo subiecit suo […]. Herrschaftsnachfolge in England zwischen Erbschaft, Wahl und Aneignung (1066–1216), in: Matthias Becher (ed.), Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017, 193–229; in Deutschland und Frankreich Martin Kintzinger, Kontingenz und Konsens. Die Regelung der Nachfolge auf dem Königsthron in Frankreich und im Deutschen Reich, in: ebd., 255–286, in Spanien Klaus Herbers, Herrschaftsnachfolge auf der

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zung der Thronfolge ihres jeweils ältesten Sohnes aber blieb, wozu dessen Legitimationsvorsprung entsprechend ausgebaut werden musste. Und hierzu dienten offenbar auch die Siegel der römisch-deutschen Königinnen und Kaiserinnen, die durch die Throndarstellung – in Parallele zum Herrschersiegel – in besonderer Weise als von Gott eingesetzte Herrscherinnen dargestellt wurden. Der visuelle Verweis auf die Erhöhung der Königinnen als gesalbte Herrscherinnen sollte den von ihnen geborenen Söhnen einen ideellen Vorsprung vor möglichen anderen Prätendenten sichern. In den anderen Königreichen, wo sich – wie in England und Frankreich – die Erbmonarchie durchgesetzt hatte, war dies nicht notwendig. So ist es schließlich bezeichnend, dass die Siegel der deutschen Herrscherinnen bereits unter Karl IV. keine Bildnissiegel mehr waren, sondern reine Wappensiegel. In dem Moment, in dem mit der Goldenen Bulle 1356 das Wahlrecht de iure zum Thronfolgeprinzip im römisch-deutschen Reich erhoben worden war, entfiel die Notwendigkeit auf eine visuelle Erhöhung der Königin.33 In den anderen europäischen Reichen erfolgte der Übergang der Königinnensiegel, die sich durch das stehende Bildnis weniger von den Siegeln anderer Frauen des Hochadels unterschieden hatten, zum Wappensiegel hingegen später, im Verlauf des 15. Jahrhunderts.34 Die ungewöhnliche visuelle Annäherung an den Herrscher im römisch-deutschen Reich durch die Thronsiegel der Königinnen scheint also vor allem daran zu liegen, dass die Legitimierung des aus der Herrscherehe hervorgehenden Nachfolgers aufgrund der zunehmenden Konkurrenz des fürstlichen Wahlrechtes in besonderer Weise repräsentiert werden sollte. Insgesamt war jedoch für die Darstellungen europäischer Herrscherinnen das stehende Bildnis üblicher, was insofern bemerkenswert ist, weil sie sich damit Iberischen Halbinsel. Recht – Pragmatik – Symbolik, in: ebd., 231–253 sowie Elena Woodacre, The Queens Regnant of Navarre. Succession, Politics, and Partnership, 1274–1512 (Queenship and Power), Basingstoke 2013, 21–25, u. a. mit Verweis auf die Fueros sowie auch Theresa M. Vann, The Theory and Practice of Medieval Castilian Queenship, in: dies. (ed.), Queens, Regents and Potentates, Dallas 1993, 125–147. 33 Das war das wesentliche Ergebnis von Stieldorf 2000; vgl. zu den Veränderungen im Spätmittelalter nun Stefanie Dick, Die römisch-deutsche Königin im spätmittelalterlichen Verfassungswandel, in: Matthias Becher (ed.), Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017, 341–358. 34 Vereinzelt führen auch Frauen des weltlichen Hochadels Thronsiegel wie z. B. Herzogin Elisabeth von Österreich, vgl. Claudia Feller, Frauensiegel im hochmittelalterlichen Österreich, in: Andreas Schwarcz/Katharina Kaska (edd.), Urkunden – Schriften – Lebensordnungen. Neue Beiträge zur Mediävistik. Vorträge der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung aus Anlass des 100. Geburtstages von Heinrich Fichtenau (1912–2000) (Wien, 13.–15. Dezember 2012) (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 63), Wien/Köln/Weimar 2015, 273–291, hier 288 Abb. 7 sowie allgemeiner Stieldorf 1999, 248–253. Eine genauere Untersuchung des Phänomens steht noch aus, soll aber im Rahmen meines Teilprojektes im SFB 1167 erfolgen.

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vom Bildtypus her nicht von den anderen hochadeligen Frauen abgrenzten, die ebenfalls überwiegend diesen Siegeltyp nutzten. Die Prävalenz des stehenden Bildnisses für die europäischen Königinnen zeigt sich besonders beim Blick auf die iberische Halbinsel, wo vom 13. bis 15. Jahrhundert immerhin fünf Königinnen als Erbinnen ihrer Väter bzw. Mütter aus eigenem Recht herrschten – ein Umstand, der in den Urkunden durchaus erwähnt wird, also nichts war, was verschwiegen werden musste.35 Dennoch werden beispielsweise Johanna I. (1274–1305) und ihre Enkelin Johanna II. (1328–1349) auf ihren Siegeln gekrönt, aber stehend dargestellt, beseitet jeweils von den Wappenschilden Navarras sowie denen ihrer französischen Ehemänner: Johanna I. war die Frau König Philipps IV. von Frankreich, Johanna II. die Frau des Grafen Philipp von Evreux. Die beiden Ehemänner führten entweder Thronsiegel oder Münzsiegel, deren eine Seite sie als berittenen Krieger, die andere aber thronend zeigt.36 35 Vgl. Elena Woodacre, „Most Excellent and Serene Lady“. Representations of Female Authority in the Documents, Seals and Coinage of the Reigning Queens of Navarra (1274–1512), in: Sean McGlynn/Elena Woodacre (edd.), The Image and Perception of Monarchy in Medieval and Early Modern Europe, Newcastle upon Tyne 2014, 84–109, hier 85–98. Zu den Nennungen in den Urkunden sowie zum historischen Hintergrund vgl. dies. 2013, welche aber nicht auf Siegel und Münzen eingeht. – Auch in Schweden gibt es diesen Typus, wie das Siegel der Blanche von Namur, der Frau König Magnus’, zeigt. Dieses zeigt sie stehend in einem langen Gewand mit Mantel. Sie ist bekrönt und trägt in der rechten Hand ein Zepter mit drei Querstreben; mit der linken Hand greift sie in die Tasselschnüre ihres Mantels. Die Figur der Königin ist eingebettet in eine detailreiche Mikroarchitektur, in der u. a. vier Schildhalterfiguren die Wappen von Norwegen, Namur, Frankreich und Schweden halten. Die Umschrift lautet S(IGILLUM) BLANC(HE:DEI:GRACIA:REGI)NE:SUECIE:NORWEGIE:ET: SCANIE; vgl. Steinar Imsen, Late Medieval Scandinavian Queenship, in: Anne J. Duggan (ed.), Queens and Queenship in Medieval Europe. Proceedings of a Conference held at King’s College London, April 1995, Woodbridge 1997, 53–73, hier 54–55 mit Abb. 1 (Nachzeichnung eines Abdruckes von 1364); Henric Bagerius/Christine Ekholst, The Unruly Queen. Blanche of Namur and Dysfunctional Rulership in Medieval Sweden, in: Zita E. Rohr/Lisa Benz (edd.), Queenship, Gender and Reputation in the Medieval and Early Modern West, 1060–1600 (Queenship and Power), Cham 2016, 99–118. Philippa von England, Frau Eriks von Pomeranien, führte ein reines Wappensiegel; vgl. Imsen 1997, 57. 36 Vgl. Nielen 2011, 81–82 Nr. 19 a und b; Faustino Menéndez Pidal de Navascués/Mikel Ramos Aguirre/Esperenza Ochoa de Olza Eguiraun (edd.), Sellos Medievales de Navarra. Estudio y corpus descriptivo, Pamplona 1995, 47, 113 Nr. 1/21 als Königin von Navarra (mit Gegensiegel 113 Nr. 1/22), 114 Nr. 1/23 als Königin von Frankreich und Navarra (mit Gegensiegel 114 Nr. 1/24); vgl. Woodacre 2014, 98 sowie dies. 2013, 21–49 zur Biographie der Königin. Das rechte Wappen ist das von Navarra, das linke das der Champagne; das Gegensiegel zeigt einen gespaltenen Schild, der beide Wappen vereint. Zu den Siegeln Philipps IV. als König von Navarra vgl. Menénendez/Ramos/Ochoa 1995, 47–48 sowie 115 Nr. 1/25 (mit Gegensiegel Nr. 1/26), welches ihn vor dem Tod seines Vaters als König von Navarra zeigt, wobei er wie seine navarresischen Amtsvorgänger ein Reitersiegel führt. Nach dem Herrschaftsantritt in Frankreich führt er ein Thronsiegel in der Tradition der französischen Könige: Dalas 1991, 164 Nr. 84 (Reitersiegel), 166 Nr. 85; vgl. Menénendez/Ramos/Ochoa 1995, 115 Nr. 1/27 (mit Gegensiegel 116 Nr. 1/28). Ludwig X. von Frankreich (= Ludwig I. von Navarra), der Sohn aus der Ehe Philipps IV. mit Johanna I., führte nach dem Tode der Mutter

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Johanna I. steht in einer gotischen Mikroarchitektur und trägt ein langes, gegürtetes Gewand und darüber einen Mantel, dessen Pelzfütterung auf der Innenseite man gut erkennen kann. Mit der linken Hand greift sie in die Tasselschnüre ihres Mantels. In der rechten Hand hält sie eine Lilie, die kein eindeutiges Königinnenattribut ist, weil sie auch in den Händen von Äbtissinnen sowie weltlicher hochadeliger Frauen zu sehen ist. Lediglich ihre Krone weist sie eindeutig als Königin aus. Die Umschrift nennt ihre Titel, auf dem ersten Siegel wird der der Königin von Navarra als erstes genannt.37 Auf ihrem zweiten Siegel, das nach dem Herrschaftsantritt Philipps als König von Frankreich 1285 angefertigt wurde, wird zuerst der Titel der französischen Königin, dann der von Navarra genannt. Hier wird deutlich, dass die Rechte und repräsentativen Ansprüche, die sich aus dem Titel des ebenfalls königlichen Gemahls ergaben, Vorrang hatten. Interessanterweise führt Johanna auf diesem zweiten Siegel nun auch ein Zepter, welches der Tradition der französischen Königinnensiegel entlehnt ist. Ähnliches ist bei ihrer Enkelin Johanna II. von Navarra zu beobachten, der man zwar die Nachfolge ihres Vaters Ludwig X. in Frankreich verwehrte, die aber als seine Tochter die Nachfolge in Navarra antreten konnte. Wie ihre Großmutter steht sie bekrönt und hält auf ihrem zweiten Siegel ein Zepter.38 Die Siegel beider Frauen sind maßgeblich durch die Ikonographie der französischen Königinnensiegel geprägt, bei denen die Siegelinhaberinnen immer stehend dargestellt werden. Obwohl diese beiden Herrscherinnen ihr Amt nicht „nur“ erheiratet, sondern geerbt hatten, wurde das stehende Bildnis als ausreichend für ihre Reein Münzsiegel, das ihn auf dem Avers in der Tradition der französischen Königssiegel thronend zeigt, auf dem Revers hingegen als berittenen Krieger, wie für die Könige von Navarra üblich: Dalas 1991, 172 Nr. 90 und 90bis; vgl. Menénendez/Ramos/Ochoa 1995, 117 Nr. 1/33. Nach dem Regierungsantritt in Frankreich verzichtete er auf das Reitersiegel und führte einseitige Thronsiegel, die mit einem Gegensiegel versehen werden konnten: Dalas 1991, 173 Nr. 91, 174 Nr. 92, vgl. Menénendez/Ramos/Ochoa 1995, 118 Nr. 1/35 und Nr. 1/36 (mit Gegensiegel 119 Nr. 1/37); vgl. hierzu ebd. 48–49. 37 Nielen 2011, 82–83 Nr. 20 und 20bis. Ihr zweites Siegel wurde nach der Thronbesteigung ihres Mannes Philipps IV. in Frankreich angefertigt und gibt nun dem Wappen von Frankreich den Vorrang vor dem Navarras, wobei das Wappen der Champagne entfällt. Das Gegensiegel zeigt einen gespaltenen Schild mit dem französischen Wappen rechts und einer Teilung links, wobei oben das Wappen von Navarra steht und unten das der Champagne. Auf der Umschrift des Hauptsiegels erhält der Titel der französischen Königin Vorrang vor dem von Navarra: S’ IOHANNE D(e)I GR(aci)A FRANCOR(um) Z(=et) NAVA[RRE R]EGINE CA(m)PAN(ie) Z(=et) B(ri)E CO(m)ITISSE PALAT(ine). Das Bild entspricht weitgehend dem ihres ersten Siegels; allerdings hält sie in der rechten Hand nun ein Zepter mit einer Lilienbekrönung in der rechten Hand, also im Unterschied zum ersten Siegel ein „echtes“ Herrschaftsattribut. 38 Menéndez/Ramos/Ochoa 1995, 124 Nr. 1/51 (mit Gegensiegel Nr. 1/52 sowie den Signeten Nr. 1/53 und 125 Nr. 1/54), vgl. Nielen 2011, 196–198 Nr. 96, 96bis 97; Woodacre 2014, 98– 100.

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präsentation in einem stark rechtlich gebundenen Kontext erachtet. Dies ist ebenfalls zu beobachten, als zu Beginn des 15. Jahrhunderts Isabella von Bayern offiziell die Regentschaft für ihren kranken Mann Karl VI. von Frankreich übernahm.39 Die französischen Königinnen führten seit Bertrada von Montfort durchgehend Siegel mit dem stehenden Bildnis; Veränderungen sind allerdings neben der Gewandung und der Gestaltung des Siegelfeldes bei den Insignien zu beobachten: Während bis einschließlich Blanche von Kastilien, der Frau Ludwigs VIII. (1223–1226), die französischen Königinnen eine Lilie in der rechten Hand halten, wurde Margarete von der Provence, die Frau Ludwigs IX. (1226–1270), erstmals mit einem Lilienzepter dargestellt, was ihre Schwiegertochter Maria von Brabant übernahm.40 Dieser Bildtyp hielt sich bis ins 15. Jahrhundert.41 Die überwiegend verwendete spitzovale Form der meisten Königinnensiegel, die im Übrigen für die meisten Siegel weltlicher Frauen Verwendung fand, hat für viele Diskussionen gesorgt. Einerseits hat man vermutet, dass diese Form aus pragmatischen Gründen gewählt wurde, weil sich stehende Figuren, und um diesen Siegeltyp handelt es sich bei weltlichen Frauen zumeist, so am besten darstellen lassen würden. Anderseits wurde angenommen, dass Frauen diese Form gezielt gewählt hätten, weil die Siegel geistlicher Persönlichkeiten und auch Institutionen häufig spitzoval waren. Dies sei aus Frömmigkeit geschehen bzw. in Abgrenzung zu den Siegeln männlicher weltlicher Herrschaftsträger, die runde Siegel bevorzugt hätten. Insgesamt ist wohl eher der pragmatischen Auffassung zuzustimmen, da in den Fällen, in denen sich Frauen wie Mathilde thronend darstellen ließen, die runde Form bevorzugt wurde. Ähnliches gilt für die Falkenjagdsiegel weltlicher Frauen, die wie die Reitersiegel männlicher Hochadeliger im Regelfall rund sind.42 39 Dalas 1991, 237–239 Nr. 157–158; Nielen 2011, 107 Nr. 39 und 109 Nr. 41 (Ad causas und Appellationssiegel); vgl. Bedos-Rezak 1988, 64; Pascale Saisset, Le sceau de la belle Isabeau et le costume d’apparat d’une reine de France, in: Club français de la médaille 58/1 (1978), 146–151; Rachel C. Gibbons, Isabeau of Bavaria, Queen of France. Queenship and Political Authority as „Lieutenante-Général“ of the Realm, in: Zita E. Rohr/Lisa Benz (edd.), Queenship, Gender, and Reputation in the Medieval and Early Modern West, 1060–1600, Cham 2016, 143–160; Heidrun Kimm, Isabeau de Bavière, reine de France (1370–1435). Beitrag zur Geschichte einer bayerischen Herzogstochter und des französischen Königshauses (Miscellanea Bavaria Monacensa 13), München 1969, 48–84. 40 Blanche von Kastilien, Frau Ludwigs VIII.: Nielen 2011, 74–75 Nr. 15 und 15bis; Margarete von der Provence, Frau Ludwigs IX.: Nielen 2011, 76f. Nr. 16, 16bis, Maria von Brabant, Frau Philipps III.: Nielen 2011, 78–80 Nr. 17, 17bis, 18. 41 Vgl. Woodacre 2014, 100–102, zumal jetzt auch gemeinschaftliche Siegel aufkamen. Hierzu führt sie weitere Beispiele an, wie das Siegel Franz’ II. und der Maria von Schottland. Sie erwähnt nicht das Siegel Maximilians und der Maria von Burgund, siehe dazu unten S. 86. 42 Vgl. zu dieser Diskussion Stieldorf 2000, 339f.; Danbury 2008, 17. Tatsächlich sind die meisten Siegel weltlicher Frauen (spitz-)oval; vgl. auch Johns 2003, 203 sowie 335f. Marc Gil,

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2. Allen Königinnen resp. Kaiserinnen gemeinsam ist, dass sie eine Krone tragen.43 Diese ist somit das wesentliche Auszeichnungsmerkmal der Herrscherinnen, das sie selbst dann von anderen weltlichen Frauen unterschied, wenn sie wie diese stehend abgebildet wurden.44 In den Ordines zur Weihe der Königin wird die Krone vor allem als Zeichen für die Reinheit und Klugheit der Königin gedeutet, als Vorbilder werden die alttestamentarische Königin Esther sowie die Gottesmutter Maria benannt.45 Die Heidelberger Dissertation von Heike Drechsler konnte nachweisen, dass es sich dabei weder um spezielle Frauenkronen handelte, noch dass es innerhalb der einzelnen Reiche jeweils nur eine Königinnenkrone gegeben hätte, die gewissermaßen weitergereicht worden wäre. In der Krone, mit der mit Ausnahme der spanischen Königinnen die europäischen Herrscherinnen im Rahmen einer kirchlichen Handlung gekrönt wurden, wird neben der visuell im Siegelbild jedoch kaum darstellbaren Salbung die Beteiligung der Königin an der Herrschaft ihres Mannes am deutlichsten.46 Nicht alle, aber doch die meisten der Königinnen halten ein Zepter in der rechten Hand, gelegentlich nur eine Lilie, in den meisten Fällen einen Stab, der mit unterschiedlichen Bekrönungen versehen sein kann; und dies gilt sowohl für Königinnen, die aus eigenem Recht herrschten, als auch für diejenigen, die ihre Würde bzw. ihr Amt durch die Ehe mit einem König erlangten. Mit dem Zepter halten die Herrscherinnen ein Attribut in der Hand, das man tatsächlich als Herrschaftsinsignie interpretieren kann.47 Allerdings wird das Zepter nicht in allen Ordines genannt, in den englischen ist das Königinnenzepter erst seit dem

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Question de goût, question de „genre“? Commandes de sceaux royaux et princiers autour des reines Jeanne II de Bourgogne (1328–1349) et Jeanne II de Navarre (1329–1349), in: Cynthia Brown/Anne-Marie Legaré (edd.), Les femmes, la culture et les arts en Europe entre Moyen Âge et Renaissance (Texte, Codex & Contexte 19), Turnhout 2016, 327–343, hier 335–336. Einzige Ausnahme ist Elisabeth von Bayern, die Frau Konrads IV.; vgl. Stieldorf 2000, 18, 37f. Nr. 11 a und b. Vgl. zur Krone als wesentlichem Auszeichnungsmerkmal einer Königin Hans-Werner Goetz, Frauen im frühen Mittelalter. Frauenbild und Frauenleben im Frankenreich, Weimar/Köln/ Wien 1995, 290–306. Vgl. Stieldorf 2000, 19. Auch die Königinnen der Karolingerzeit wurden mit Krone dargestellt, obwohl sich keineswegs für alle ein Krönungsvorgang nachweisen lässt und erst 856 für Karls des Kahlen Tochter Judith und 866 für ihre Mutter Irmentrud ein Ordo erstellt wurde; vgl. Heike Drechsler, Die Krone der Herrscherin. Das Herrschaftszeichen im literarischen und bildlichen Symbolsystem des Früh- und Hochmittelalters (751–1254). Mit einem Katalog der erhaltenen Kronen aus dem fränkisch-deutschen Reichsverband, Heidelberg 1998, 10f.; Janet L. Nelson, Early Medieval Rites of Queen-Making and the Shaping of Medieval Queenship, in: Anne J. Duggan (ed.), Queens and Queenship in Medieval Europe. Proceedings of a Conference held at King’s College London, April 1995, Woodbridge 1997, 301–315, hier 306–312. Vgl. Stieldorf 2000, 19–21.

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14. Jahrhundert erwähnt, kann aber schon seit dem 13. Jahrhundert nachgewiesen werden.48 Die faktische Ausübung von Herrschaft durch die Königinnen gestaltete sich freilich in den einzelnen Reichen ganz unterschiedlich und war nicht nur durch strukturelle, sondern auch durch individuelle Faktoren bestimmt. Immerhin ist aber für die meisten der hier untersuchten Herrscherinnen nachweisbar, dass sie als Intervenientinnen bei ihren Männern eine wichtige politische Funktion einnahmen. Dennoch wird man vermutlich wie schon bei der Krone die Verwendung des Zepters nicht ausschließlich auf die Übernahme konkreter politischer Funktionen zurückführen können,49 sondern darin allgemeiner einen Verweis auf Partizipation der Königin an der Herrschaft ihres Mannes sehen dürfen, deren konkrete Umsetzung und praktische Ausgestaltung ganz unterschiedlich ausfallen konnte.50 In einigen Fällen wird das Zepter besonders floral ausgestaltet, wie etwa bei Konstanze von Kastilien und Isabella von Angoulême, eine Anspielung auf die Wurzel Jesse, wo die Wurzeln an die irdischen Wurzeln Mariens und die Blüte an Christus anspielen.51 Hier werden die mehrdeutigen Bezüge deutlich, die in die Konzeption der Herrscherinnensiegel einflossen und auf die generative Funktion der Königin genauso hinweisen wie auf die Heilserwartung. In Frankreich wird seit Isabella von Hennegau, der Frau Philipps II., konsequent ein Lilienzepter verwendet.52 48 Vgl. Ordines coronationis imperialis. Die Ordines für die Weihe und Krönung des Kaisers und der Kaiserin, ed. Reinhard Elze (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris Germanici 9), Hannover 1960; Jean-Pierre Bayard, Sacres et couronnements royaux, Paris 1984, 204– 207 zur Krönung der Königin sowie Übersicht 343–347; zu den englischen Ordines John C. Parsons, Ritual and Symbol in English Medieval Queenship to 1500, in: Louise O. Fradenburg (ed.), Women and Sovereignty (Cosmos 7), Edinburgh 1992, 60–77, hier 61–71; wiederabgedruckt in: Cordelia Beattie (ed.), Women in the Medieval World (Critical Concepts in Women’s History), 4 Bde., Bd. 4, Abingdon 2017, 106–120. 49 Vgl. Danbury 2008, 18 schlägt für die englischen Königinnen den Zusammenhang zwischen Zepter und Intervention vor nach Parsons 1992, 62–66. Zur fleur-de-lys vgl. Bedos-Rezak 1988, 75f. 50 Adlerzepter gibt es keine: Zur Rolle des Adlers, besonders seit der zweiten Hälfte des 12. Jh.s, vgl. Martina Giese, Der Adler als kaiserliches Symbol in staufischer Zeit, in: Stefan Burkhardt et al. (edd.), Staufisches Kaisertum im 12. Jahrhundert. Konzepte, Netzwerke, politische Praxis, Regensburg 2010, 323–360. 51 Zum Siegel der Isabella vgl. Danbury 2008, 20 mit Abb. 8, die tatsächlich von einer Blume spricht. 52 Vgl. R. Johnes, The Seal Matrix of Queen Isabel of Hainaut and Some Contemporary Seals, in: The Antiquaries Journal 40 (1960), 73–76 mit Abb. Plate XXIII; Nielen 2011, 72f. Nr. 13; Nolan 2009, 94; Noël Adams/John Cherry/James Robinson (edd.), Good Impressions. Image and Authority in Medieval Seals (British Museum Research Publication 168), London 2008, Katalogteil: 116 Nr. 7.3 – Wie sehr das Lilienzepter zur Königin(nen)herrschaft gehört, sieht man auch daran, dass die effigies der Isabeau von Bayern bei deren Begräbnis 1435 ebenfalls mit Krone und Lilienzepter ausgestattet war; vgl. Martin Kintzinger, Die zwei Frauen des Königs. Zum politischen Handlungsspielraum von Fürstinnen im europäischen

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Sehr selten wird der Reichsapfel gebraucht, er findet sich lediglich auf dem Siegel der Mathilde von England, wird aber nicht von den späteren englischen Königinnen weiterverwendet, sieht man einmal von der Nachzeichnung eines Siegels der Eleonore von Aquitanien von ca. 1199 ab.53 In Frankreich ist er, wie auch auf den Siegeln der französischen Könige, gar nicht zu finden, wohl aber in Deutschland auf einigen Herrscherinnensiegeln der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, wo er das Zepter ersetzt.54 Ein eindeutiger Grund für die Verwendung des Reichsapfels durch einzelne Herrscherinnen ist nicht auszumachen. Denkbar wäre, dass man in ihm ein stärkeres Symbol der zumindest theoretisch allumfassenden kaiserlichen Macht sah, das in Zeiten sich steigernder Auseinandersetzungen mit dem Papsttum auch Eingang in die Siegel römisch-deutscher Königinnen fand, wie bei Margarete von Holland-Hennegau,55 der zweiten Frau Ludwigs IV., und der Frau seines Thronrivalen und zeitweiligen Mitkönigs Friedrichs des Schönen, Isabella von Aragon, die zudem noch von einem schwebenden kaiserlichen Adler zu ihrer Linken beseitet wird.56 Nur wenige Herrscherinnen halten zwei Herrschaftsinsignien in den Händen. Mathilde von Schottland, die erste Frau Heinrichs I. von England, hält in ihrer rechten Hand ein kurzes Zepter mit einer Vogelbekrönung und in der linken Hand einen von einem Kreuz überhöhten Reichsapfel.57 In Verbindung mit ihrer Gewandung, etwa der Brosche, die den Mantel über dem Brustkorb zusammenhält, und der Borte, die senkrecht verläuft, wird eine strenge Symmetrie erzeugt. Mit dem Reichsapfel in der rechten Hand hält sie eine Insignie, wie sie auch Heinrich I. auf der Thronseite seines Siegels führt.58 Während er aber in seiner rechten Hand traditionsgemäß ein gezücktes Schwert hält, ist es bei Mathilde ein Vogelzepter. Vermutlich ist darin in legitimierender Absicht ein Verweis auf die Abstammung Mathildes aus dem angelsächsischen Königshaus zu sehen, denn ein Vogelzepter führte auch Edward der Bekenner auf seinem Siegel. Der Vogel wurde auf dem Siegel Heinrichs I. anstelle der Kreuzbekrönung verwendet, was sicherlich denselben Bezug herstellt. Bei Mathilde konnte dieser freilich direkt mit einem Vogelzepter erfolgen. Zugleich ist dieses erste englische Königinnensiegel das einzige, auf dem eine englische Königin mit zwei Herr-

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Spätmittelalter, in: Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (edd.), Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit. 6. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (Residenzenforschung 11), Stuttgart 2000, 377–398, hier 378f. mit Abb. 1. Siehe Anm. 49. Vgl. Stieldorf 2000, 21. Vgl. ebd., 40–42 Nr. 18. Vgl. ebd., 42f. Nr. 19. Siehe oben S. 68 und 70. Vgl. zu den Siegeln Heinrichs I. Wyon/Wyon 1887, 9 Nr. 17 und 18 (Abb. Taf. III), 10 Nr. 19 und 20 (Abb. Taf. III), Nr. 21 und 22 (Abb. Taf. III), 11 Nr. 23 und 24 (Abb. Taf. IV).

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schaftsinsignien dargestellt ist. Mathilde von Boulogne, die Frau Stephens, hielt in der linken Hand eine Fleur-des-lys und in der rechten Hand einen Vogel, in dem man am ehesten einen Falken, und damit kein Herrschaftsattribut, sehen darf, und der in der Tradition kontinentaler Frauensiegel zu sehen ist – immerhin war Mathilde zugleich als Erbin ihres Vaters Gräfin von Boulogne.59 Zudem wies laut der Nachzeichnung aus dem 17. Jahrhundert das Siegel der Bertrada von Montfort gleichfalls diese Attribute auf.60 Diese Anordnung übernahmen die späteren englischen Königinnen auf ihren Siegeln, denn nach Mathilde von Boulogne führte auch Eleonore von Aquitanien als Königin von England ein Siegel mit diesen Attributen.61 Ein weiteres Siegel der 59 Vgl. zu Mathilde von Boulogne Dark 2005. 60 Zum Siegel der Bertrada siehe oben Anm. 9. Adelheid von Maurienne, die Frau Ludwigs VI., hielt möglicherweise das Zepter nicht in der rechten, sondern in der linken Hand. Dies kann aber ein Problem der Überlieferung sein, da bereits zum Zeitpunkt der Nachzeichnung nur noch ein Fragment vorhanden war. Vgl. Marion F. Facinger, A Study of Medieval Queenship. Capetian France, 987–1237, in: Studies in Medieval and Renaissance History 5 (1968), 1– 48, hier 30–31; Bedos-Rezak 1988, 63–64, 78 Anm. 9; Nielen 2011, 62 Nr. 6; Nolan 2009, 64– 72. 61 Zum Siegel aus der englischen Königinnenzeit vgl. Nielen 2011, 65f. Nr. 10 und 10bis; vgl. Elizabeth A. R. Brown, Eleanor of Aquitaine Reconsidered, in: Bonnie Wheeler/John C. Parsons (edd.), Eleanor of Aquitaine. Lord and Lady (The New Middle Ages), New York 2003, 1–54, hier 23f. mit Abb. 1.3. Eleonore führte bereits während ihrer Ehe mit Ludwig VII. ein eigenes Siegel, mit dem Urkunden von 1146 und 1147 beglaubigt wurden, doch ist dieses Siegel nicht mehr erhalten; vgl. Nielen 2011, 63 Nr. 7. Nach ihrer Scheidung und ihrer Heirat mit Heinrich II., aber noch vor dessen Thronbesteigung in England führte sie ein Siegel als Herzogin von Aquitanien, welches nur noch in einer Zeichnung des 17. Jh.s erhalten ist und die stehende Herzogin ohne Krone zeigt, wie sie in der rechten Hand ein fleur-de-lys hält und auf der linken Hand einen (Jagd-)Vogel; vgl. Nielen 2011, 64 Nr. 8; vgl. Brown 2003, 49 Anm. 151. Möglicherweise führte sie dieses Siegel aber auch bereits vor der Heirat mit Heinrich, denn ein weiteres Siegel ist ebenfalls in einer Nachzeichnung des 17. Jh.s bezeugt, welches sie nun als Herzogin der Normandie und Gräfin von Anjou nennt. Wieder hält sie in der linken Hand einen (Jagd-)Vogel; vgl. Nielen 2011, 64 Nr. 9. John H. Pinches/Rosemary V. Pinches, The Royal Heraldry of England, London 1974, 19 Abb. 23 bildet ohne Quellenangabe die Zeichnung eines zweiseitigen Siegels der Eleonore ab, welches sie angeblich nach dem Tode Heinrichs II. geführt haben soll. Dieses zeigt sie auf der Vorderseite in einer Mikroarchitektur (!) stehend, mit Krone und einem Zepter in der rechten Hand, während sie mit der linken Hand in die Tasselriemen ihres Mantels greift. Allein diese Darstellung verweist deutlich ins 13. Jh., ebenso wie die Wappendarstellung auf der zweiten Seite mit einem Wappenschild mit drei Leoparden. Diese Seite ist der Darstellung der Rückseite des Siegels der Eleonore von Kastilien angelehnt, wie es Pinches/Pinches 1974, 35 Abb. 42 (Zeichnung) ebenfalls abbildet; vgl. Anm. 74. François-Xavier Eygun, Sigillographie du Poitou jusqu′en 1515. Étude d’histoire provinciale sur les institutions, les arts et la civilisation d’après les sceaux, Mâcon 1938, 159f. Nr. 4 führt ein Münzsiegel der Eleonore von 1199, welches sie auf der Vorderseite stehend und mit einem Zepter in der rechten Hand zeigt und in der linken mit einem Reichsapfel, der mit einem Kreuz überhöht wird. Auf dem stark beschädigten Siegel ist der Kopf nicht mehr zu erkennen und nur Reste der Umschrift, die aber vermutlich Eleonore als Königin von England bezeichnete: [S‘A]LIONOR[E D]E[I] G[RA REGINE ANGLORVM]. Die Rückseite soll genauso aussehen und die Umschrift aber auf Aquitanien und das Anjou

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Eleonore zeigt sie jedoch mit einem floralen Zepter und einem Falken.62 Dies gilt auch für ihre ebenfalls vom Kontinent stammende Schwiegertochter Isabella von Angoulême, die Frau Johanns I. Danach hielten die englischen Königinnen mit dem Zepter in der rechten Hand nur noch eine Insignie. Vor allem seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts sieht man immer wieder, wie die Herrscherin mit der linken Hand in die Tasselriemen ihres Mantels greift und diesen damit etwas herunterzieht, so dass man die häufig kostbaren Borten und Stickereien am Halsabschluss des Untergewandes besser sehen kann. Diese Geste ist auch in plastischen Arbeiten weit verbreitet: nicht nur bei weltlichen Frauen, sondern auch bei Männern. Eine Schwur- oder Segensgeste, wie gelegentlich in der Literatur angenommen, kann man hier nicht herauslesen, vielmehr wird die so dargestellte Frau eindeutig als Mitglied der höfischen Kultur charakterisiert, die mit den Gesten höfischer Rafinesse vertraut ist.63 In anderen Fällen hält die Königin, wie Eleonore von Aquitanien, mit dem Falken zwar ein zweites Attribut in ihrer linken Hand, aber eben keine Herrschaftsinsignie, sondern – durch die Anspielung auf die Falkenjagd – einen weiteren Indikator für die hohe gesellschaftliche Stellung der Sieglerin und den damit verbundenen Lebensstil.64 Deutlich wird, dass durch den überwiegenden Verzicht auf eine zweite Herrschaftsinsignie ein Rangunterschied zu den königlichen resp. kaiserlichen Ehemännern visualisiert wird, stattdessen wird stärker, und vielleicht sogar als komplementär gedachte Alternative, auf den sozialen Status der Sieglerin verwiesen. Tatsächlich gibt es Königinnen, die außer der Krone mit keiner weiteren herrschaftlichen Insignie abgebildet wurden, wie Konstanze von Kastilien, die zweite Frau Ludwigs VII. von Frankreich; allerdings sind diese Fälle als seltene Ausnahmen zu betrachten.65 Sowohl in England als auch in Frankreich war also die Verwendung wenigstens einer Herrschaftsinsignie in den Händen der Herrscherin auf den Königinnensiegeln das Übliche: Eleonore von Kastilien, Edwards I. erste Frau, greift mit der linken Hand in die Tasselschnüre und hält in der rechten Hand ein Zepter, in dem man möglicherweise einen Hinweis auf ihre aktive Politik im Umfeld Edwards

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verweisen; vgl. ebd., 160 Nr. 4 a. Unter Nr. 5 führt Eygun noch ein weiteres Siegel an, welches nicht datiert wird und Eleonore ohne Krone stehend mit einer offenen rechten Hand und einem Vogel in der linken Hand zeigt. Die nicht mehr vollständig erhaltene Umschrift nennt sie als Herzogin der Normandie und Gräfin von Anjou. Vgl. Brown 2003, 24f. und 21 mit Abb. 1. Zur dieser Art des Zepters vgl. Parsons 1992, 65. Vgl. Elke Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts (Beihefte zum Euphorion 23), Heidelberg 1989, 44–46; Danbury 2008, 18. Vgl. Stieldorf 1999. Vgl. Nielen 2011, 67 Nr. 11 nach einem Siegelabdruck, der nicht weiter datierbar ist; Nolan 2009, 88–91.

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sehen kann; auf die Wappenfiguren auf ihrem Siegel wird später noch kurz einzugehen sein (vgl. Abb. 1 und 2).66 Margarete von Frankreich, die zweite Frau Edwards I., und Edwards II. Gemahlin Isabella von Frankreich sowie Edwards III. Gattin Philippa übernehmen diese Art der Darstellung.67

Abb. 1 und 2: Vorderseite (links) und Rückseite (rechts) des Großen Siegels der Königin Eleonore (von Kastilien), erste Ehefrau Edwards I. © The National Archives of the UK, ref. DL27/196.

An dieser Stelle ist wenigstens kurz auf die Kleidung einzugehen, auch um noch einmal auf die Frage der Schönheit zurückzukommen. Denn in der Regel sind die kostbaren höfischen Gewänder als solche gut erkennbar. Als Prototyp der schönen Königin mag uns hier Margarete von Frankreich, Königin von England, dienen, deren langes faltenreiches Untergewand plastisch gearbeitet wurde, und deren Mantel zudem zur Projektionsfläche heraldischer Repräsentation wurde, da die drei schreitenden Leoparden aus dem Wappen ihres Mannes hier aufge-

66 Zum Siegel vgl. Danbury 2008, 19 Abb. 5, auch mit dem Gegensiegel, welches hier erstmals für eine englische Königin bezeugt ist. Danbury verweist auf Abdrucksammlungen, stellt also keinen Bezug zu Beurkundungen her. Außerdem nennt sie nicht die Umschrift und keine weiteren Literaturbelege für dieses Siegel. 67 Zum Siegel der Margarethe vgl. Nielen 2011, 193 Nr. 93; Danbury 2008, 18 Abb. 3; zu Isabella Nielen 2011, 195 Nr. 995, Danbury 1995, 4 mit Abb. 2; zu Philippa vgl. Danbury 2008, 19 Abb. 4.

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arbeitet sind.68 Ihr Mantel wird mit einer Tasselschnur gehalten; dadurch, dass sie ihn mit den Ellenbogen etwas nach hinten schiebt, ist gut zu erkennen, dass er pelzgefüttert ist. Die Kostbarkeit ihres Gewandes wird so noch einmal deutlich betont. Ihr Gesicht wird vom Gebende umfasst, unter der Krone fällt ein etwa schulterlanger Schleier herab. Teilweise sind die Königinnen zudem sehr weiblich gezeichnet, je nach Mode durch enganliegende Gewänder betont.69 Obwohl immer wieder hervorgehoben wird, dass Mutterschaft eine wesentliche Aufgabe der Königinnen sei und auch deren Stellung stärke, kommt dieser Aspekt in den Siegeln nicht zum Tragen.70 Wenigstens ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass seit dem 13. Jahrhundert Mikroarchitekturen zum Einsatz kommen, die die Königinnen immer mehr umrahmen.71 Am Anfang stehen in Frankreich Siegel wie das der Blanche von Kastilien, der Frau Ludwigs VIII., auf denen zunächst einmal das Siegelfeld nicht mehr leer gelassen wird, sondern mit Lilien bestreut ist.72 Ludwigs IX. Frau Margarete von der Provence wird dann erstmals in eine Mikroarchitektur gestellt, die in Folge immer weiter ausgestaltet wird.73 In England setzt diese Entwicklung mit dem Siegel der Eleonore von Kastilien ein; auch hier wird die Gestaltung des Siegelfeldes immer weiter ausdifferenziert. Im 14. Jahrhundert ist die zunehmende Heraldisierung der Herrscherinnensiegel zu beobachten. Dieser Trend setzte ein mit der Aufnahme von heraldischen Figuren, zu sehen z. B. bei der englischen Königin Eleonore von Kastilien, zu deren Rechten die kastilische Burg, die Wappenfigur des Königreiches Kastilien, frei im Siegelfeld schwebt, unterhalb der Burg sowie zu ihrer Linken der englische Löwe. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts werden die frei schwebenden Wappenfiguren zunehmend durch Wappenschilde an den Seiten der Sieglerin ersetzt.74 Berücksichtigt wurden die Herkunftswappen der Frauen sowie die Wappen ihrer königlichen Ehemänner, wobei letzteren normalerweise die höherrangige Seite zur Rechten der Sieglerin zugestanden wurde und den Wappen 68 Zum Siegel vgl. Danbury 2008, 18 mit Abb. 3. Pinches/Pinches 1974, 38 Nr. 44 bildet ohne Beleg eine Nachzeichnung eines spitzovalen Wappensiegels der Margarete ab. 69 Vgl. etwa Isabella von Angoulême: Danbury 2008, 20. 70 Das betont auch Bedos-Rezak 1988, 75. 71 Vgl. Gil 2016, 329f., der dies auch durch die Buchmalerei beeinflusst sieht; vgl. Markus Späth, Mikroarchitektur zwischen Repräsentation und Identitätsstiftung. Die Siegelbilder englischer Klöster und Kathedralkapitel im 13. Jahrhundert, in: Christine Kratzke/Uwe Albrecht (edd.), Mikroarchitektur im Mittelalter. Ein gattungsübergreifendes Phänomen zwischen Realität und Imagination. Beiträge der gleichnamigen Tagung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 26. bis 29. Oktober 2005, Leipzig 2008, 253–277. 72 Vgl. Nielen 2011, 74 Nr. 15; Nolan 2009, 152–157. 73 Vgl. Nielen 2011, 76 Nr. 16. Zu Maria von Brabant, Frau Philipps III. le Hardi, vgl. ebd., 78 Nr. 17; zu Johanna von Navarra und der Champagne, Frau Philipps IV., vgl. ebd., 82f. Nr. 20 (zu ihr schon oben Anm. 36); zu Johanna von Burgund, Frau Philipps VI., vgl. ebd., 94 Nr. 28. 74 Vgl. Pinches/Pinches 1974, 35f. mit Abb. 42; Danbury 2008, 19 mit Abb. 5 und 6.

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der Herkunftsfamilie die Linke. Während der Übergang vom Bildnissiegel zum Wappensiegel als Hauptsiegel im römisch-deutschen Reich recht abrupt unter den Frauen Karls IV. und damit um die Mitte des 14. Jahrhunderts von statten ging,75 ist in Frankreich, England und Spanien seit etwa 1350 ein allmählicher Übergang zu beobachten, der vom Wechsel zwischen Wappensiegel und Bildnissiegel geprägt ist und sich bis weit ins 15. Jahrhundert hinein hinzog.76 Unter den neuen Ansätzen der Heraldik, die sich allmählich von einem rein affirmativen Narrativ zu lösen beginnt, wäre dieser Übergang eine eigene Untersuchung wert. Das ist an dieser Stelle natürlich nicht zu leisten, diese Entwicklung ist aber ein wesentlicher Grund, warum als Endpunkt dieser Untersuchung die Zeit um 1400 gewählt wurde. Die meisten Siegel zeigen die Königin im stehenden Bildnis als hochadelige, weltliche Frau, welche immer mit der Krone und meist auch mit einem Zepter als Frau eines Königs oder Kaisers gekennzeichnet wurde. Durch den Verzicht auf eine Throndarstellung wird die Königin im Rang deutlich von ihrem Mann unterschieden.77 Dabei ist vor allem interessant, dass diese Darstellung gleichermaßen für Reiche greift, wo die Herrschaft vom Vater auf die Tochter übergehen konnte, wie auf der iberischen Halbinsel, als auch für solche wie Frankreich, wo dies nicht der Fall war und der Ausschluss der Frauen von der Thronfolge im 14. Jahrhundert durch eine entsprechende Rechtsauslegung noch zementiert wurde.78 Lediglich im römisch-deutschen Reich wurde mit der Throndarstellung die Darstellung der Herrscherin im Siegelbild den Majestätssiegeln der Herrscher 75 Vgl. Stieldorf 2000, 23–25. 76 Zum Übergang in Frankreich vgl. Brigitte Bedos-Rezak, Idéologie royale, ambitions princières et rivalités politiques d’après le témoignage des sceaux (France 1380–1461), in: La ‚France Anglaise‘ au Moyen Âge. Actes du 111e Congrès national des Sociétés savantes (Poitiers 1986), Section d’histoire médiévale et de philologie, Paris 1988, 483–511; wiederabgedruckt in: dies., Form and Order in Medieval France. Studies in Social and Quantitative Sigillography (Variorum Collected Studies Series 424), Aldershot/Brookfield 1993, III, 483– 511. 77 Vgl. Claire Richter Sherman, Taking a Second Look. Observations on the Iconography of a French Queen, Jeanne de Bourbon (1338–1378), in: Norma Broude/Mary D. Garrard (edd.), Feminism and Art History. Questioning the Litany, New York 1982, 101–117, hier 104, 106 macht dies am Beispiel der Darstellungen der Johanna von Burgund im Krönungsbuch Karls V. deutlich, wo die Königin nur durch den Nebeneingang in die Kirche kommt, von Geistlichen und nicht von den Großen des Reiches begleitet wird, ein kleineres Zepter erhält und auch nicht mit dem Öl aus der Heiligen Ampulle, sondern ‚nur‘ mit normalem Salböl an Kopf und Brust und nicht siebenfach wie der König gesalbt wird. Hinzu kommt, dass die Königin hier anders als der König keinen Eid leistet und ihre Stellung auch nicht in dem Rahmen eines ritterlichen Bezugsystems eingeordnet wird; vgl. Anne Denieul-Cormier, Wise and Foolish Kings. The First House of Valois, 1328–1498, New York 1980, 108–124. 78 Claire Richter Sherman, The Queen in Charles V’s ‚Coronation Book‘. Jeanne de Bourbon and the ‚Ordo ad reginam benedicendam‘, in: Viator 8 (1977), 255–297, hier 258 mit Anm. 9; vgl. dies. 1982, 106f.

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angenähert, wenngleich auch nicht vollständig angeglichen, da sie keine eine herrscherliche Würde anzeigenden Gewänder tragen und meist auch nur eine und nicht zwei Insignien in den Händen halten. Die Beobachtung, dass die Königinnen zwar unterschiedliche politische Funktionen übernahmen, aber nicht tatsächlich die Herrscherrolle wahrnahmen, wird folglich im Siegelbild reflektiert.79 Dass die Königin dennoch vor den anderen hochadeligen Frauen ausgezeichnet werden musste, liegt auch daran, dass sie alleine dem König legitime Erben gebären konnte, in deren Erziehung sie dann meist eingebunden war; ein Umstand, der durch die prominente Stellung und den Umfang der Gebete um Fruchtbarkeit der Königin in den Krönungsordines in England, Frankreich und Deutschland deutlich wird.80 Diese lange Zeit als wichtigste Aufgabe der Königin angesehene Funktion oder auch die Salbung als legitimierender Akt war aufgrund von dessen Anforderungen an Eindeutigkeit kaum ins Siegelbild zu bringen, das lange durch die statische Darstellung einer Einzelperson dominiert wurde.81 Als eindeutiges Auszeichnungsmerkmal diente die Krone, deren Charakter zur Bezeichnung der Königin darin zum Ausdruck kommt, dass sie nicht nur bei Inaugurationskrönungen getragen wurde, sondern ebenso bei festlichen Anlässen.82 Auch die meisten Zepter, die viele der Königinnen halten, weisen in diese Richtung, da sie als Zeichen der weltlichen Autorität verstanden werden können.83 Diese Insignien können freilich nur als allgemeine Symbole begriffen werden, da die Ausgestaltung politischer Tätigkeit der Königin stark changierte und offenbar zu einem nicht unerheblichen Maße von individuellen Faktoren abhängig war. Darüber hinaus aber war die Königin auf vielfältigste Weise in die Repräsentation der Königsherrschaft eingebunden: sie hatte eine führende Rolle am Hofe inne und wurde darin von einem eigenen, meist umfangreichen Hofstaat unterstützt.84 Dabei ist Repräsentation nicht völlig von der politischen Rolle zu trennen, denn die Nähe zum König machte die Königin zu einer Ansprech79 Vgl. Sciurie 1990, 112 und für Frankreich vgl. Sherman 1982, 104. 80 Vgl. für Frankreich Sherman 1982, 104, 108f. mit Abb. zur Erziehung der Kinder durch die Königin. Die Beobachtung, dass in diesem Fall vor allem Frauen des Hauses David als Vorbild genannt werden, weist in die Richtung der legitimen Nachkommenschaft des Königs als Stellvertreter Christi; vgl. Parsons 1992, 67. Vgl. zur reproduktiven Funktion als wichtigster Aufgabe von Königinnen und adeligen Frauen Georges Duby, Women and Power, in: Thomas Bisson (ed.), Cultures of Power. Lordship, Status, and Process in Twelfth-Century Europe (The Middle Ages Series), Philadelphia 1995, 69–85, hier 71f. 81 Vgl. zur Darstellung der Salbung Sherman 1982, 104 und 105 Abb. 4. Zur Salbung in Frankreich vgl. Percy E. Schramm, Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jahrhundert, 2 Bde., Bd. 1, Weimar 1939, 124f. 82 Vgl. zu den Kronen der Königinnen Drechsler 1998. 83 Vgl. Sherman 1982, 106. 84 Vgl. ebd., 108.

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partnerin ersten Ranges, wollte man etwas vom König erreichen, und dies scheint ein Kontinuum vom frühen bis ins späte Mittelalter zu sein, das sich sowohl an den in Herrscherurkunden nachweisbaren Interventionen und Interzessionen von Königinnen ablesen lässt als auch an entsprechenden Hinweisen aus erzählenden Quellen.85 Letztlich ist die Rolle der Königin gänzlich abhängig von ihrer Ehe mit dem König, zu dem sie aber eine wichtige Ergänzung darstellt. Das heißt, die Repräsentation der Königin auf den Siegeln ist auf die des Herrschers bezogen.86 Dass es sich dabei um ein grundsätzliches Konzept handelt, welches auch politische Wandlungen überstehen kann, zeigen die Siegel der englischen Königinnen: Sind die ersten Sieglerinnen unter den englischen Königinnen Frauen, die aktiv in das politische Geschehen eingreifen und auch Regentschaftsfunktionen übernehmen, so bricht dies nach Eleonore von Aquitaniens Beteiligung am Aufstand gegen Heinrich II. 1173 ein und lebt auch unter den Frauen Richards I. und Johanns I. nicht wieder auf. Am Siegel von Johanns zweiter Frau Isabella von Angoulême kann man diesen Unterschied jedoch nicht erkennen, und auch, als mit der Heirat Heinrichs III. mit Eleanor von der Provence 1236 eine Königin nach England kommt, die nicht nur ihr eigenes Einkommen hatte, dieses erweiterte und aktiv in die Politik ihres Mannes eingriff,87 ist dies an ihrem Siegel nicht zu erkennen; gleiches gilt für Eleonore von Kastilien.88 Grundsätzlich wird die Königin in gleicher Weise repräsentiert, unabhängig von ihrer faktischen Machtausübung an der Seite ihres Mannes. Und dies gilt, wie das Beispiel der beiden Johannen von Navarra zeigt, offenbar auch dann, wenn die Königinnen die Königsherrschaft selbst ererbt hatten. Dies alles freilich deutet darauf hin, dass hinter den Siegelbildern der Königinnen grundsätzliche, auf das Königtum – vielleicht gar ein geschlechtsloses Königtum à la Kantorowicz?89 – bezogene Konzeptionen stehen, die unabhängig von der einzelnen Königin sind und auf das Herrscherpaar bzw. die Königsherrschaft insgesamt zielen. Zumindest in den englischen Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts, für Frankreich, Deutschland und Spanien ist dies offenbar noch nicht weiter untersucht, gibt es einen Diskurs, der diese Rolle der Herrscherin an positive Äußerungen der Bibel über die Aufgaben von Frauen im Allgemeinen und Königinnen im Besonderen bindet – wie beispielsweise Ekkl. 26, 1: Gesegnet sei der 85 Vgl. Duby 1995, 79 mit den entsprechenden Quellenbelegen. 86 Den Aspekt der Komplementarität betont Parsons 1995, 147. An einem literarischen Text arbeitet dies Kathryn Smits, Die Schönheit der Frau in Hartmanns Erec, in: Zeitschrift für deutsche Philologe 101 (1982), 1–28, hier 2 und 7, heraus. 87 Vgl. Parsons 1995, 149–151. 88 Siehe zu ihrem Siegel S. 80f. 89 Ernst Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, 80.

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Mann, der eine gute Frau hat – und daran Überlegungen anschließt, wonach die Königin mit ihrer weiblichen Milde und Barmherzigkeit u. a. die Aufgabe hat, strenge Entscheidungen des Herrschers abzumildern und auch im Interesse der Kirche auf ihren Mann einzuwirken.90 Diese Funktion war geradezu in das Amt der Königin implementiert; für die englischen Königinnen des 13. und 14. Jahrhunderts lässt sich beispielsweise belegen, dass in die Feierlichkeiten zu ihren Krönungen auch die Interzession beim König, um Begnadigungen zu erwirken, eingebaut war.91 Bereits im 9. Jahrhundert hatte Agobard von Lyon die Königin als adiutrix in regimine et gubernacione palacii et regni bezeichnet und ihr damit eine wichtige politische Funktion zugewiesen, wie sie auch im c. 22 von Hinkmars ‚De Ordine palatii‘ zum Ausdruck kommt. Und Sedulius Scottus hatte gar auf das Zusammenwirken von König und Königin hingewiesen, wobei der König auf den guten Rat seiner Frau hören sollte.92 Die Königinnen verkörperten geradezu die weibliche Seite des Königtums, was erklärt, warum und wie die Komplementarität der Siegelbilder von Herrscher und Herrscherin funktioniert. Eine solche komplementäre Zuordnung von Mann und Frau hat sich wesentlich unter dem Eindruck der Frühscholastik weiterentwickelt: Diese geht davon aus, stark verkürzt, dass bei grundsätzlicher Verschiedenheit im Wesen sich Mann und Frau ergänzen, wobei der Mann stärker vernunftbegabt sowie kämpferisch orientiert sei, die Frau eher sinnlich und emotional, womit sie aber auf den Mann einwirken könne und müsse, auch wenn diesem letztlich der Vorrang gebühre.93 Diese veränderte Geisteshaltung erklärt möglicherweise zu-

90 Vgl. Parsons 1995, 150–155 mit Quellen- und Literaturbelegen 164–168. 91 Vgl. ebd., 156. 92 Vgl. zu den entsprechenden Diskursen in der Karolingerzeit Sedulius Scottus, Liber de rectoribus Christianis, in: Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters, ed. Hans H. Anton (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalter. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 45), Darmstadt 2006, 100–149, hier 124, 126; Agnes Drucker, Die Rolle der Königin im 9. Jahrhundert, Diplomarbeit Wien 2009, 54–56, http://othes.univie.ac.at/5004/ (20. 07. 2019). 93 Dabei spielt auch die Aufwertung der Ehe durch die Zuerkennung der Sakramentalität eine Rolle; vgl. Urs Baumann, Gesellschaft, Recht und Glaube. Verständnis und Leitbild von Ehe in Theologie und Kanonistik des Mittelalters, in: Abraham P. Kustermann/Richard Puza (edd.), Bilderstreit um die Ehe. Theologische und kanonistische Erblasten eines aktuellen Konflikts (Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat 53), Freiburg/Schweiz 1997, 35–47, hier 38, 47; Hans Zeimentz, Ehe nach der Lehre der Frühscholastik. Eine moralgeschichtliche Untersuchung zur Anthropologie und Theologie der Ehe in der Schule Anselms von Laon und Wilhelms von Champeaux, bei Hugo von St. Viktor, Walter von Mortagne und Petrus Lombardus (Moraltheologische Studien. Historische Abteilung 1), Düsseldorf 1973.

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sätzlich zu den eingangs genannten Faktoren, warum um 1100 diese Art der Darstellung von Königinnen aufkommt.94 Dieses frühscholastische Ehekonzept prädestiniert im Grunde auch Paardarstellungen, die wir auf den Siegeln für unseren Zeitraum freilich nicht finden, weil hier die Vorstellung des Siegels als Stellvertreter noch auf eine Person beschränkt ist.95 Erst im Spätmittelalter gibt es Siegel, die Herrscherpaare abbilden, dann freilich vor dem Hintergrund, wenn über die Frau wichtige Herrschaftsrechte vermittelt worden waren, wie etwa bei Maria von Burgund und Maximilian von Habsburg.96 Lediglich einige staufische Münzen zwischen der Mitte des 12. Jahrhunderts und dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts greifen die Konzeption des sich ergänzenden Herrscherpaares auf. Sie folgen dabei ursprünglich dem Muster der Sponsus-Sponsa-Darstellung mit der Braut zur Rechten des Bräutigams und damit auf der Ehrenseite, doch wird dieses Muster bald variiert.97 Obwohl die gemeinsame Throndarstellung den Königinnen einen hohen Rang einräumt, finden sich doch immer wieder deutliche Abstufungen zum männlichen Herr94 Nach Chiara Frugoni, L’iconographie de la femme au cours de Xe au XIIe siècles, in: Cahiers de civilisations médiévales 20 (1977), 177–188, wurden weltliche Frauen ansonsten überwiegend in biblischen Zusammenhängen oder als Heilige abgebildet. Jane Martindale, Succession and Politics in the Romance-speaking World, c. 1000–1140, in: Michael Jones/ Malcolm Vale (edd.), England and Her Neighbours. Essays in Honour of Pierre Chaplais, London 1989, 19–41, hier 22f., 32f., vermutet, dass der erste Kreuzzug zu einer veränderten Stellung von Frauen führte, die nunmehr in Abwesenheit ihrer Männer agieren mussten und so nachwiesen, dass sie regieren und verwalten konnten. Hinsichtlich der Frage, ob Frauen seit dem 11. Jh. eine deutlich veränderte Stellung haben, kommt Goez 2007 zu keinem abschließenden Ergebnis. Anhand der deutschen Literatur kommt Karin Rinn, Liebhaberin, Königin, Zauberfrau. Studien zur Subjektstellung der Frau in der deutschen Literatur um 1200 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 628), Göppingen 1996, zu dem Ergebnis, dass zwar ältere Erzählschichten Frauen als eigenständig handelnde Herrscherfiguren kennen, dass ihr Handeln aber seit der Stauferzeit zunehmend auf die Männer bezogen und immer stärker von diesen bestimmt ist. 95 Aber auch sonst sind Darstellungen vom Ehepaaren oder gar Hochzeitspaaren vor 1100 selten und nehmen erst im Verlauf des 13. und 14. Jh.s zu; vgl. Chiara Frugoni, Frauenbilder, in: Christiane Klapisch-Zuber (ed.), Geschichte der Frauen 2: Mittelalter, Frankfurt a. Main/ New York 1993, 359–429, hier 363–369. 96 Zum Siegel von Maria von Burgund und Maximilian von Habsburg vgl. Posse 1912, Bd. 3, Taf. 1 Nr. 2/3 (Reitersiegel mit Gegensiegel), Nr. 4/5 (Reitersiegel mit Gegensiegel), Taf. 2 Nr. 1/ 2 (Reitersiegel mit Gegensiegel), Nr. 3 (Wappensiegel), Nr. 4 (Wappensiegel), Nr. 5 (Wappensiegel), Nr. 6/7 (Wappensiegel), Nr. 8 (Wappensiegel), Nr. 9 (Wappensiegel); siehe auch Erich Kittel, Siegelstudien V: Ehegattensiegel, in: Archiv für Diplomatik 8 (1962) 290–308, hier 292. 97 Vgl. Helga Sciurie, Vom Münzbild zum Standbild. Beobachtungen an Darstellungen deutscher Herrscherpaare des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Bea Lundt (ed.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, 135–163, hier 139–141, 158f.; Lasse Hodne, Sponsus amat sponsam. L’unione mistica delle Sante Vergini con Dio nell’arte del Medioevo. Uno studio iconologico (Palindromos 1), Roma 2007.

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scher, der wie auf den Siegeln zwei Insignien in den Händen hält, die ihn begleitende Königin jedoch meist nur eine oder auch keine. Außerdem wird, sofern die Münzen Aufschriften oder Umschriften haben, meist nur der König oder Kaiser genannt, nicht aber die Königin. Damit wird deutlich, dass es nicht um die Darstellung einer bestimmten Königin oder Kaiserin geht, sondern dass die Königin integraler Bestandteil von Königsherrschaft ist, dass sie bestimmte, nach den Vorstellungen der Zeit auf ihr Geschlecht zugeschnittene herrschaftliche Aufgaben übernimmt; der Herrscher bleibt aber der eigentliche Träger der Herrschaft.98 Die Siegel- und Münzbilder sind natürlich kein Spiegelbild der Königinnen selbst,99 wohl aber ein Spiegel ihrer Rolle in der Königsherrschaft bzw. deren Deutung: Sie verorten Frauen in einer Konstruktion von Herrschaft, die offenbar primär männlich konzipiert ist. Das Bild der Frauen wird mit Bedacht konstruiert und kann das ihrer Männer positiv wie negativ unterstützen.100 Somit sind Siegel und Münzen Objekte der Präsenz zwar nicht weiblicher Herrschaft, aber doch immerhin eines zeitweilig auch als unverzichtbar angesehenen Anteils von Frauen an der Königsherrschaft – wenigstens in repräsentativer Hinsicht.101

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Alheydis Plassmann

Sudden death. Kontingenz des Todes und Legitimation von Herrschaft

Abstract While historians in the High Middle Ages agreed on the fact that it was difficult to discern God’s purpose in history, there was nevertheless a general consensus that a sudden death clearly showed divine disfavour. In this case, a historian who wanted to praise his king could get into difficulties to maintain his claim of the king’s goodness, while the sudden death could be exploited if the king was criticized. The unusual frequency of sudden deaths in the English royal family in the 12th century provided ample opportunities for historians to use the death of kings to voice their criticism of English royal rule. As can be shown by the single case of William II Rufus’ death in a hunting accident in the year 1100, the sudden death provided opportunity for criticism without dictating the direction of the criticism. Thus, each historian could use the case of William Rufus as well as other deaths in the royal family to point out which exact behaviour was punished by God until the death of William Rufus became something of a trope which had to be included even in histories of the late 12th century. Against the background of this strong trope alternative, more positive tales about Rufus stood no chance. The use of the sudden death trope was reinforced when the deaths in the Plantagenet family provided more examples. This string of deaths in the royal family begged explanations and was usually interpreted in a highly critical way. The trope developed a strong life of its own because of its possible use for criticism. Natural deaths were reinterpreted, mostly by vivid description of ghastly funerals that allowed for shading even the qualities of kings that would not have been subject to open criticism before the trope of sudden death got a hold in English historiography.

Ein Bild aus der Chronik des Petrus von Eboli zeigt den Tod Friedrich Barbarossas.1 Dies ist nun kein englischer König, aber es lässt sich hieran gut verdeutlichen, weshalb der plötzliche Tod für die mittelalterlichen Autoren ein Problem darstellte und weshalb es sich lohnen mag, von diesem Blickwinkel aus

1 Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis. Codex 120 II der Burgerbibliothek Bern. Eine Bilderchronik der Stauferzeit, ed. Theo Kölzer/Marlis Stähli, Sigmaringen 1994, 82f.; Bern, Burgerbibliothek, Cod. 120.II, fol. 107r, https://www.e-codices.unifr. ch/de/bbb/0120-2//107r (24. 07. 2019).

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die Tyrannenschelte im hochmittelalterlichen England zu beleuchten und Rückschlüsse auf die Legitimation der Könige zu ziehen. Friedrich Barbarossa starb nicht so, wie man sich das von einem guten König oder Kaiser vorstellt. Er starb auf einem Kreuzzug, was als gut zu werten wäre, aber er starb nicht im Kampf gegen die Ungläubigen, sondern plötzlich und unerwartet, als er im Fluss Saleph schwimmen ging und ertrank.2 Das bedeutete, dass er nicht nur unvorbereitet, ohne Beichte und ohne ein letztes Mal die heilige Kommunion zu erhalten, starb, was an sich schon schlimm genug gewesen wäre, sondern er starb im Wasser, ein Tod, der einen guten getauften Christen eigentlich gar nicht ereilen dürfte. Wasser als das Element der Taufe musste eigentlich für einen Gläubigen ungefährlich sein.3

Abb. 1: Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti: Der Tod Friedrich Barbarossas, Burgerbibliothek Bern, Cod. 120.II, f. 107r (Ausschnitt), Foto: © Codices Electronici AG, www.e-codi ces.ch.

Der Künstler, der das Bild von Barbarossas Tod entwarf, war sich aber offenbar dennoch sicher, dass Friedrich Barbarossas Seele für den Himmel bestimmt war. Wir sehen Engel, die ein kleines Kind zum Himmel tragen, das für die Seele steht. Als die Kolorierung und Ausmalung des Bildes anstand, wurde der ursprüngliche Plan jedoch verworfen und die Skizze von Barbarossas Tod übermalt.4 In einer 2 Vgl. zum Tod Barbarossas Knut Görich, Friedrich Barbarossa. Eine Biografie, München 2011, 590–597. 3 Romedio Schmitz-Esser, Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers, Ostfildern 2014, 44–46. 4 Zur Übermalung Petrus de Ebulo, 82.

Sudden death. Kontingenz des Todes und Legitimation von Herrschaft

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Chronik, die Barbarossas Sohn Heinrich VI. loben sollte, war offenbar kein Platz für eine Erzählung, die man als himmlische Verurteilung des Kaisers lesen konnte. Das führt uns nun direkt zu dem Dilemma, das einen Geschichtsschreiber im Angesicht des plötzlichen Todes eines Herrschers erwartete, jedenfalls in den Fällen, in denen der Geschichtsschreiber die Herrschaft des Königs preisen wollte, und der plötzliche Tod nicht ins Bild passte. Selbst ein plötzlicher Tod, der nicht so sinister war wie der Tod durch Ertrinken, konnte doch als göttliche Strafe verstanden werden und zugleich das göttliche Urteil über den verstorbenen Herrscher überdeutlich vor Augen führen. Der plötzliche Tod, der den Panegyriker in erhebliche Erklärungsnöte bringen konnte, konnte für denjenigen, der nach Möglichkeiten zur Tyrannenschelte suchte, ein gefundenes Fressen sein. Es lässt sich kaum ein besseres Argument finden als den plötzlichen Tod, an dem das heilsgeschichtliche Urteil offenbar zweifelsfrei festgemacht werden konnte. Natürlich konnte man auch dann die Erzählungen durchaus so wenden, wie man sie haben wollte. Es hing eben immer davon ab, wer die Geschichte erzählte. Als in Deutschland der Gegenkönig Rudolf von Rheinfelden in der Schlacht an der rechten Hand verwundet wurde, machten die Anhänger König Heinrichs IV. daraus eine Erzählung, die die Verwundung zum Verlust der Hand ausbaute und diesen als Strafe für den gebrochenen Schwur Heinrich IV. gegenüber deutete, auf den der verdiente Tod folgte.5 Rudolfs Anhänger aber berichteten vom Tod eines wahrhaft würdigen Königs, der sich auf sein Ableben vorbereitet hatte, und spielten die Schwere der Verwundung herunter.6 Eine solche unterschiedliche Ausrichtung in einem Einzelfall ist kaum überraschend, wenn uns verschiedenartige Quellen überliefert sind, und wir dürfen ohne weiteres davon ausgehen, dass ein kritisch eingestellter Geschichtsschreiber die Steilvorlage, die sich aus einem plötzlichen Todesfall ergab, nutzte. Im Folgenden soll es aber nicht um Einzelfälle gehen, sondern der Rahmen soll weiter gesteckt werden. Im Teilprojekt ‚Englische Königsherrschaft im Spiegel der Tyrannenschelte‘ des Sonderforschungsbereichs 1167 sollen anhand der weit verbreiteten Königskritik in der anglo-normannischen resp. englischen Historiographie zum einen von der Perspektive des Königs her die Besonderheiten im englischen Königreich erarbeitet werden, die gerade im Vergleich zum Kontinent zu einem ungleich höheren Ausmaß an Kritik geführt haben, und zum anderen 5 Vita Heinrici IV imperatoris, ed. Wilhelm Eberhard (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [58]), Hannover/Leipzig 1899, hier cap. 4, 19. 6 Brunos Buch vom Sachsenkrieg, ed. Hans-Eberhard Lohmann (Monumenta Germaniae Historica. Deutsches Mittelalter 2), Leipzig 1937, cap. 124, 117. Zur Verwundung Rudolfs vgl. Schmitz-Esser 2014, 649f.

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sollen von der Perspektive der Kritiker her die Muster und Kategorien der Kritik erkannt werden. Der zeitliche Rahmen ist dabei die anglo-normannische Zeit von 1066 bis 1154 und die frühen Anjou-Plantagenet von 1154 bis zur Magna Charta 1215 (vgl. die grobe Übersicht über die Herrscher von 1050–1215, Tafel 1).

Die Thronfolge der Könige von England Könige von Wessex/England

Herzöge der Normandie Richard I.

Richard II.

Robert

Ælfgifu

1

2

Knut

Harald I.

1

Emma

Wilhelm Clito

11

Æthelred

Harthaknut Edward

Edith

Harald II. Edgar

Wilhelm II. Rufus

Adela

Theobald

Theobald v. Blois

Stefan

Eustachius Heinrich

Heinrich I.

Mathilde

Edith-Mathilde

Wilhelm Ætheling Mathilde

Wilhelm Richard

Ælfgifu

Edmund Eisenseite

Godwin

Wilhelm I. der Eroberer

Robert Kurzhose

2

Edward Margaret David

Eleonore

Arthur

Blanka

Maria

Eustachius v. Boulogne

Geoffrey

Heinrich II. Geoffrey

Malcolm

Eleonore v. Aquitanien Johann

Ludwig VIII.

Heinrich III.

Tafel 1: Die Thronfolge der Könige von England 1050–1215.

Der plötzliche Tod als ein Anlass für Kritik scheint im englischen Fall mehrere Möglichkeiten der Ausleuchtung zu bieten. Erstens stellt sich die Frage, ob anhand des einzelnen plötzlichen Todesfalls ähnliche Kritikpunkte aufgegriffen werden, oder ob eine Strukturierung der Kritik unterblieb. Zweitens soll untersucht werden, ob die Autoren selber Gemeinsamkeiten suchten, sei es in den Todesfällen selbst oder in den kritisierten Lastern, die den Todesfall als göttliches Gericht heraufbeschworen. Drittens soll gefragt werden, ob der plötzliche Todesfall und das darin zum Vorschein kommende Urteil Gottes über die Königsherrschaft als Topos ausgeweitet werden konnte, und viertens soll schließlich untersucht werden, ob die Tyrannenschelte aus Anlass eines plötzlichen Herrschertodes vom Diskurs über die Königsherrschaft bestimmt ist.

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1.

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Der einzelne Todesfall: Wilhelm Rufus

Für den einzelnen sudden death soll mit einem Fall begonnen werden, der unstrittig als plötzlicher Todesfall zu werten ist: der Jagdunfall des Wilhelm Rufus. Am 2. August des Jahres 1100 wurde Wilhelm II., genannt Rufus wegen seines roten Haares, der zweitälteste überlebende Sohn Wilhelms des Eroberers, auf der Jagd tödlich verwundet.7 Anscheinend ohne Beichte, ohne eine letzte heilige Kommunion, wurde er aus dem Leben gerissen. Da er keinen Sohn hatte, konnte sein jüngerer Bruder Heinrich in einem Coup die Krone für sich selber sichern.8 Um seinen Anspruch zu untermauern, ließ Heinrich nach Anselm, dem verbannten Erzbischof von Canterbury, schicken. In Anselms Gefolge befand sich Eadmer, der Geschichtsschreiber, dem wir den ersten Bericht über den Tod des ‚roten Wilhelm‘ verdanken. Es bedarf kaum einer Ausführung, dass Eadmer in seiner ‚Historia Novorum‘, seiner Sammlung von Neuigkeiten über die englische Geschichte, den Tod des Rufus als Strafe Gottes erklärt.9 Schließlich hatte sich der König dem heiligen Anselm gegenüber unbotmäßig verhalten und ihn ins Exil gedrängt. Der Tod des Rufus war ein göttliches Zeichen, das die Heiligkeit Anselms unterstrich, und der König, der als Tyrann verunglimpft wurde, starb ohne Möglichkeit zur Reue. Im Lichte dieses Straftodes musste alles, was Rufus sonst getan hatte, auch unter Verdacht geraten. Sein Tod war der Beweis dafür, dass er nichts anderes als ein Tyrann gewesen sein konnte. Und wenn man nach tyrannischem Verhalten Ausschau hält, wird man auch fündig. Eine andere Deutung finden wir in der französischsprachigen Geschichte der englischen Könige von Geffrei Gaimar, der die Erzählung über die englischen Könige an höfischen Idealen ausrichtete. „Viermal schrie [Wilhelm Rufus] laut auf. Er bat darum, dass man ihm die heilige Hostie gebe, aber sie waren in einer unbewohnten Gegend und es gab niemanden, der ihm die Kommunion hätte geben können. Einer der Jäger nahm eine Handvoll Gras, mit Blumen und allem und gab dies dem König zu essen, und wollte ihm so die Kommunion

7 Vgl. John Gillingham, William II. The Red King (Penguin Monarch Series 4), London 2015, 97–99. 8 Zu diesem Thronwechsel vgl. Alheydis Plassmann, et claues thesaurorum nactus est, quibus fretus totam Angliam animo subiecit suo… Herrschaftsnachfolge in England zwischen Erbschaft, Wahl und Aneignung (1066–1216), in: Matthias Becher (ed.), Die Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017, 193–229, hier 198. 9 Eadmer, Historia Novorum in Anglia, in: Historia Novorum in Anglia et opuscula duo de vita Sancti Anselmi et quibusdam miraculis ejus, ed. Martin Rule (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 81), London 1884 (ND London 1965), lib. II, 116f. Bei Eadmer, Vita Sancti Anselmi (The Life of St. Anselm, Archbishop of Canterbury), ed. Richard W. Southern (Oxford Medieval Texts), Oxford 1962, lib. II, cap. 45–47, 122–124, liegt die Betonung darauf, wie Anselm vom Tod Wilhelm Rufus’ erfährt. Zu Eadmer vgl. Paul Antony Hayward, Eadmer of Canterbury, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 1 (2010), 553.

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geben. Das Urteil darüber ist in Gottes Hand, so wie es sein soll. Am Sonntag davor aber hatte der König geweihtes Brot gegessen und das kam ihm sicher zustatten.“10

Als wirkmächtiger in Bezug auf die Tradition der englischen Geschichtsschreibung erwies sich indes Eadmer. Wilhelm Rufus entwickelte sich zum Musterbeispiel eines Tyrannen in der lateinischen Historiographie in England.11 Die einleuchtendste Erklärung für seinen gewaltsamen Tod war im Denken der Zeit seine Tyrannei; und das Narrativ vom verdienten Tod des bösen Tyrannen entwickelte ein Eigenleben, das über den Einzelfall weit hinausging, aber eben auch kontextbezogen unterschiedliche Varianten durchlief. Gegen das allgemeine Wissen, dass Wilhelm Rufus ein Tyrann war, ließ sich dann kaum noch anschreiben und es ist bezeichnend, dass nach Geffrei Gaimar niemand mehr eine eindeutig positive Deutung versuchte.12 Wie hätte sich auch gegen etwas anschreiben lassen, was gebildeten Geschichtsschreibern als Fakt bekannt war? Wie ließe sich so ein plötzlicher Tod auch anders und zufriedenstellend erklären? Wenn einem König eine Reihe an Missgeschicken widerfuhr, konnte man das immer noch als Prüfung Gottes und damit als Zeichen besonderer göttlicher Gnade deuten. Aber die Endgültigkeit des Todes stand einer solchen Erklärung entgegen. Die Fortschreibung von Wilhelm Rufus als Tyrann an sich wurde durch weitere Faktoren begünstigt. Ein toter Tyrann ist schließlich für einen Geschichtsschreiber, der etwas von seinem Handwerk versteht, ein überaus nützliches Beispiel. Der Tyrann kann in den schwärzesten Farben gemalt werden, entweder um den eigenen Herrscher umso heller erstrahlen zu lassen oder um dem toten Tyrannen die ganze Wucht der Kritik zukommen zu lassen, für die der lebende Herrscher der eigentliche Adressat war. Hinzu kam, dass Rufus ja keine direkten Nachfahren hatte und keiner seiner Nachfolger sich brüskiert fühlen konnte, 10 Geffrei Gaimar, Estoire des Engleis/History of the English, ed. Ian short, Oxford 2009, Vers 633–646, 342f.: li reis chaï / par quatre faiz s’est escrïez / le corpus domini ad demadez / mes il ne fu ki li donast; / loinz de muster ert en un wast./ E nepurquant un veneür / prist des herbes od tut la flur, / un poi en fist al rei manger, / issi quidat l’acomenger. / En Deu est ço e estre deit: / il aveit pris pain ben[ë]eit / le dï[e]maigne dedevant: /ço li deit estre bon guarant. (Übers. A. P.). Zu Geffrei Gaimar vgl. Richard Moll, Geffrei Gaimar, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 1 (2010), 656. 11 Vgl. hierzu Gillingham 2015, 3–14; auch in der französischen Chronik des Benoît, die um 1175 auf Veranlassung Heinrichs II. verfasst wurde, wird das Motiv vom Warntraum, den hier Wilhelm Rufus selber hat, und der anschließenden Bestrafung durch Gott wiederaufgenommen: Benoît de Sainte-Maure, Chronique des ducs de Normandie, ed. Carin Fahlin, Uppsala/Wiesbaden/Genf 1954, 593–602. 12 Hugh the Chanter hat immerhin eine neutrale Schilderung versucht: Hugh the Chanter, Historia ecclesiae Eboracensis (The History of the Church of York 1066–1127), ed. Charles Johnson (Oxford Medieval Texts), Oxford 1990, 16. Zu Hugh the Chanter vgl. Paul Antony Hayward, Hugh Sottewain [Hugh the Chanter], in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 1 (2010), 818.

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dass der eigene Vorfahr Gegenstand so schneidender Kritik war. Schließlich konnte der plötzliche Tod des Tyrannen auch für die allgemeine Belehrung des Publikums herhalten: Es lässt sich schließlich kaum ein besseres Beispiel für die Vergänglichkeit des weltlichen Ruhmes finden als der König, der am Morgen in Glanz und Gloria zur Jagd geht und am Abend auf einem Karren jämmerlich zu Grabe gefahren wird.13 So ist denn auch die Warnung, die Rufus am Tage seines Todes aus dem Munde eines Mönches zuteilwurde,14 ein fester Bestandteil der Erzählung geworden. Es wird kaum überraschen, dass wir bei der Wiedergabe von Rufus’ Tod sowohl die Variante der Glorifizierung des eigenen Herrschers als auch jene der verborgenen Kritik antreffen. Kommen wir nun zu den Kategorien von Kritik, die mit der Erzählung vom Tod des Rufus verbunden werden. Während die grobe Struktur der Erzählung als Strafe Gottes stets die gleiche blieb, finden wir große Unterschiede in der Art der Sünde, die Rufus zugeschrieben wurde. Bei Eadmer liest sich das noch recht einfach als eine Strafe für das Fehlverhalten Anselm gegenüber.15 Rufus beginnt nicht unbedingt als schlechter König, aber sein Verhalten Anselm gegenüber wirft natürlich auch einen Schatten des Zweifels auf seine allgemeine Eignung als König. Die Möglichkeit zu einer guten Herrschaft wird von Eadmer immerhin 13 Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, ed. Roger A. B. Mynors/Rodney M. Thomson/Michael Winterbottom (Oxford Medieval Texts), Oxford 1998, lib. IV, cap. 333.5/6, 574f. Zu Wilhelm von Malmesbury vgl. Alheydis Plassmann, Bedingungen und Strukturen von Machtausübung bei Wilhelm von Malmesbury und Heinrich von Huntingdon, in: Norbert Kersken/Grischa Vercamer (edd.), Macht und Spiegel der Macht – Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien 27), Wiesbaden 2013, 145– 171, sowie den Sammelband: Rodney Thomson/Emily Dolmans/Emily Winkler (edd.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017. 14 Vgl. etwa Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum, lib. IV, cap. 332–333.4, 573f.; Ordericus Vitalis, Historia Ecclesiastica, ed. Marjorie Chibnall (Oxford Medieval Texts), 6 Bde., Oxford 1969–1980, lib. X, Bd. 5, 284–289, hier 288: Denique dum de pluribus inutiliter confabularentur, et domestici clientes circa regem adunarentur, quidam monachus de Gloucestra affuit, et abbatis sui litteras regi porrexit. Quibus auditis rex in cachinnum resolutus est, et subsannando supradictum militem sic affatus est, ,Gualteri, fac rectum de his quae audisti.′ At ille, ,Sic faciam domine.′ Paruipendens itaque monita seniorum, immemor quod ante ruinam exaltatur cor, de serie litterarum quas audierat dixit, Miror unde domino meo Serloni talia narrand voluntas exhorta est, qui vere ut opinor bonus abbas et maturus senior est. Ex simplicitate nimia michi tot negociis occupato somnia stertentium retulit, et per plura terrarum spacia scripto etiam inserta destinavit. Num prosequi me ritum autumat Anglorum, qui pro sternutatione et somnio vetularum dimittunt iter suum seu negotium?; Zu Ordericus vgl. jetzt Charles C. Rozier et al. (edd.), Orderic Vitalis. Life, Works and Interpretations, Woodbridge 2016; The Warenne (Hyde) Chronicle, ed. Elisabeth M. C. van Houts/Rosalind C. Love (Oxford Medieval Texts), Oxford 2013, cap. 23, 42–45. Zur Warenne-Chronik vgl. das Vorwort in der Edition. 15 Eadmer, Historia Novorum, lib. II, 116f. sowie Eadmer, Vita Anselmi, lib. II, cap. 45–47, 122– 124.

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angesprochen. Wenn Rufus mit Anselm zusammengearbeitet hätte, wären sie, so Eadmer, wie Lanfranc und Wilhelm der Eroberer vor ihnen zwei Ochsen unter einem Joch gewesen, die sich zum Wohle des Reiches abgearbeitet hätten. Indes ist laut Eadmer Anselm eher ein Lamm und Rufus ein Stier.16 Die Kritik des Eadmer zielt also insbesondere auf Rufus’ Verhalten einer bestimmten Person gegenüber.17 Aber da es sich bei dieser Person um einen Heiligen handelt, stellt sich natürlich die Frage, ob der König dann ein tugendhafter Mann sein kann. Das muss Eadmer dann gar nicht weiter ausführen. Andere Geschichtsschreiber folgten Eadmer und die Behandlung Anselms wird von den Nacherzählungen immer mit aufgenommen, aber um einige zusätzliche Punkte erweitert. Ordericus Vitalis, der etwa 30 Jahre nach Rufus’ Tod schrieb, erläutert seinem Publikum, dass Rufus nicht nur Anselm, sondern die gesamte englische Kirche geradezu gequält habe18 – eine Erklärung, die in der Angelsächsischen Chronik ebenfalls übernommen wird.19 Ordericus zeichnet das lebhafte Bild, wie Maria, die Mutter Gottes, Gott verzweifelt bittet, die Verfolgung der englischen Kirche zu beenden. Während Ordericus’ Kritik leicht in die Schublade eines Kirchenmannes gesteckt werden kann, sieht das in den ‚Gesta regum Anglorum‘ des Wilhelm von Malmesbury differenzierter aus. Für Wilhelm von Malmesbury, der in den 1120er Jahren schrieb, ist Rufus ein überaus komplexes Beispiel für einen beispielhaften Niedergang. Die Tatsache, dass Wilhelm Rufus in den ‚Gesta‘ auch positive Eigenschaften zeigt, ist Teil der Erzählstrategie Wilhelms von Malmesbury, die auf eine abgewogene Abhandlung verschiedener positiver und negativer Herrschereigenschaften ausgerichtet ist.20 In den ‚Gesta‘ sind es stets nur einzelne Handlungen der Könige, die als nachahmenswert und beispielhaft gelten. So wird Rufus für seine Tapferkeit gepriesen und sogar mit Caesar verglichen,21 aber auch für seine Verschwendungssucht getadelt.22 Die Misshandlung der Kirche, die bei 16 Eadmer, Historia Novorum lib. I, 36. 17 Ganz gelegentlich beschränkt Eadmer die Verunglimpfung des Wilhelm Rufus nicht nur auf seine Interaktionen mit Anselm: Eadmer, Historia Novorum, ad a. 1093, 39, zeigt er sich Bischof Gundulf von Rochester gegenüber uneinsichtig; ad a. 1095, 65, wird zumindest angedeutet, dass auch andere Bischöfe Ärger mit Rufus hatten, ad a. 1098, 99–101 schildert Eadmer eine von Rufus veranlasste Disputation mit Juden, die sicher den König auch noch weiterhin in ein schlechtes Licht rücken sollte, und ad a. 1100, 116f., bescheinigt er Rufus insgesamt eine schlechte Herrschaft. 18 Ordericus Vitalis, Historia Ecclesiastica, lib. X, cap. 15, Bd. 5, 290. 19 The Anglo-Saxon Chronicle. Manuscript E, ed. Susan Irvine (A Collaborative Edition 7), Cambridge 2004, ad a. 1100, 109–111. 20 Vgl. hierzu allgemein Plassmann 2013. 21 Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum, lib. IV, cap. 320.4, 567; vgl. dazu auch John Gillingham, The Ironies of History: William of Malmesbury’s Views of William II and Henry I, in: Thomson/Dolmans/Winkler (edd.) 2017, 37–48. 22 Etwa Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum, lib. IV, cap. 313, 556–559.

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Wilhelm ebenso auftritt wie bei Ordericus, wird also in den Kontext der Verschwendungssucht gestellt, die den König nach immer neuen Geldquellen Ausschau halten lässt. Die Einkünfte vakanter Bischofssitze kommen dem König daher gerade recht. Absichtlich lässt Rufus die Vakanzen andauern, um das königliche Einkommen aufzubessern.23 Für Wilhelm von Malmesbury ist die Erzählung von Rufus’ Herrschaft eine Erzählung von Verfall, von einem König, der seine Laster nicht in den Griff bekommt und dessen tadelnswertes Handeln sich auftürmt. Seine Großzügigkeit wird zu Verschwendungssucht, seine Großherzigkeit wird Stolz, seine Strenge wird Grausamkeit. Diese Dynamik von Rufus’ Leben ist allein den ‚Gesta Regum Anglorum‘ zu eigen.24 Umso interessanter ist es, dass Wilhelm von Malmesbury für die Erzählung vom Tod des Königs vollständig auf das offenbar schon etablierte Muster zurückgreift, das uns in Eadmer und Ordericus ebenfalls begegnet. Es ist die Missachtung für die Kirche, die zu Rufus’ Tod führt. Wilhelm von Malmesbury berichtet, dass ein Mönch in der Nacht vor Rufus’ Tod folgenden Traum gehabt habe: Der König habe ein Kruzifix malträtiert, indem er den an dem Kreuz hängenden Corpus angenagt habe; dafür habe ihn der hölzerne Christus bestraft. Die Gelegenheit zur Umkehr, die Rufus gewährt wird, wird selbstverständlich vom König in den Wind geschlagen,25 und wie bei Ordericus ist der Tod des Königs die göttliche Strafe für die Misshandlung der Kirche. Für Johannes von Worcester, der vor 1140 schrieb, ist der Jagdunfall dann eine göttliche Strafe für vielerlei persönliche Laster und darüber hinaus nicht nur für die Vernachlässigung der Kirche, sondern gleich des gesamten Reiches. Das Gift von Rufus’ Geldgier verbreitet sich im gesamten Reich. Richter lassen sich bestechen und der Wille des Königs gilt mehr als das Recht.26 Bei Rufus’ Tod spielen sogar nicht nur seine eigenen zahlreichen Verfehlungen, sondern auch die der königlichen Familie insgesamt eine Rolle, worauf gleich beim zweiten Punkt noch eingegangen wird. In der ‚Historia Anglorum‘ des Heinrich von Huntingdon, die nach 1154 abgeschlossen wurde, können wir dann schließlich den Höhepunkt der Kritik an Wilhelm Rufus beobachten. Wir finden in diesem Werk, das in der Mitte des 12. Jahrhunderts geschrieben wurde, alle schlechten Eigenschaften von Rufus, 23 24 25 26

Ebd., lib. IV, cap. 314, 558–561. Plassmann 2013, 161. Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum, lib. IV, cap. 333, 573–575. Johannes von Worcester, Chronicon, ed. Patrick McGurk, in: The Chronicle of John of Worcester (Oxford Medieval Texts), 3 Bde., Bd. 3: The Annals from 1067 to 1140 with the Gloucester Interpolations and the Continuation to 1141, Oxford 1998, 94. Zu Johannes von Worcester vgl. Paul Antony Hayward, John of Worcester, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 2 (2010), 941–943.

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die andernorts genannt wurden, aber Rufus ist bei Heinrich von Huntingdon nicht nur eine Gefahr für sich selbst, für seine Richter, sondern gleich für das gesamte Land, weil er alle dazu animiert, seine Laster nachzuahmen. Wilhelm Rufus war schlecht für sein Volk, aber am schlechtesten für seine eigene Person.27 Heinrich von Huntingdon wollte anhand der Geschichte deutlich machen, dass man die Welt am besten verachtet, und sich allein um das Erreichen des Himmelreiches kümmern sollte, auch als König. Die besten Könige sind die, die auf die Krone verzichten und ins Kloster gehen.28 Angesichts solcher Beispiele musste es für den Leser der ‚Historia Anglorum‘ eigentlich klar sein, dass Wilhelm Rufus es wohl nicht in den Himmel geschafft hatte, auch wenn das nicht explizit gesagt wird. Nach der Mitte des 12. Jahrhunderts nimmt das bis dahin lebhafte Interesse am Tod Rufus’ etwas ab. Weitere Ausschmückungen werden nicht vorgenommen und es entwickelt sich ein Narrativ, das den Tod Wilhelm Rufus’ und die Nachfolge Heinrichs I. einem immer gleichen Schema von Königsabfolgen in der englischen Geschichte unterwirft. Der tyrannische König wird von einem würdigeren abgelöst, der verspricht, seine Sache besser zu machen und sich zumindest anfänglich darum bemüht, dieses Versprechen einzuhalten.29 Die Selbstverpflichtung auf die gute Herrschaft, die sich bei Heinrich I. daraus erklärt, dass er für seinen Handstreich die Unterstützung zumindest einiger Großer benötigte,30 wird dann für die Königsabfolgen immer wieder berichtet. Das liest 27 Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum (Henry, Archdeacon of Huntingdon, History of the English People), ed. Diana Greenway (Oxford Medieval Texts), Oxford 1996, lib. VII, cap. 22, 448f. Zu Heinrich von Huntingdon Plassmann 2013, 166–170. 28 Dazu Bernd Roling, Der Historiker als Apologet der Weltverachtung. Die Historia Anglorum des Heinrich von Huntingdon, in: Frühmittelalterliche Studien 33 (1999), 125–168; Alheydis Plassmann, Bede’s legacy in William of Malmesbury and Henry of Huntingdon, in: David Bates/Edoardo d’Angelo/Elisabeth van Houts (edd.), People, Texts, and Artefacts: Cultural Transmission in the Medieval Norman Worlds, London 2018, 171–192. 29 Deutlich etwa auch bei Wace, Roman de Rou, ed. Hugo Andresen, in: Maistre Wace’s Roman de Rou et des Duces de Normandie, 2 Bde., Heilbronn 1877–1879, v. 10105–10129, 430f., wo Heinrich schon beim Verlassen der Jagd eine Prophezeiung über seine zukünftige Herrschaft erhält, vgl. über eine angebliche Designation Heinrichs I. durch Wilhelm den Eroberer auch Plassmann 2017, 204. Zu Wace vgl. Francoise H. M. Le Saux, Wace, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 2 (2010), 1490. 30 Diese Dynamik wird explizit angesprochen bei Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum, lib. IV, cap. 306, 546: Rufus zu Roger von Montgomery: Seorsum enim ducto magnam ingessit invidiam, dicens libenter se imperio cessurum si illi et aliis videatur quos pater tutores reliquerat. Non se intellegere quid ita effrenes sint; si velint pecunias, accipiant pro libito; si augmentum patrimoniorum, eodem modo prorsus quae velint habeant. Tantum videant ne iuditium genitoris periclitetur, quod si de se putaverint aspernandum, de se ipsis caveant exemplum; idem enim se regem qui illos duces fecerit. – „Er [Wilhelm Rufus] zog ihn [Roger von Montgomery] beiseite und beschwerte sich und sagte, dass er gerne die Herrschaft abgeben würde, wenn es ihm und den Anderen, die sein Vater als Hüter zurückgelassen hatte, richtig erschiene. Aber er verstünde nicht, warum sie so widerspenstig seien; wenn sie Geld

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sich dann in der immer gleichen Abfolge zuweilen schon fast komisch. Ein neuer König verspricht die Fehler des alten nicht zu wiederholen, verspricht Freiheit für die Kirche und ähnliches. Nach einer Weile fällt er in dieselben Verhaltensmuster wie sein Vorgänger, wird nach seinem Tod von einem neuen König abgelöst, der wiederum ein Versprechen der guten Herrschaft ablegt.31 Der Herrschaftsübergang von Wilhelm Rufus auf Heinrich I. kann als Musterfall dieses sich stetig wiederholenden Narrativs gelten,32 dessen Zwangsläufigkeit dann erst 1214/15 mit dem Aufstand der Barone gegen den lebenden König Johann ausgesetzt wird.33 Dies führt zu unserem zweiten Punkt, nämlich der Frage, inwieweit plötzliche Todesfälle als Anlass für Kritik nicht fallweise verwendet wurden.

2.

Gruppierung von Todesfällen

Für die englischen Könige ist nämlich dem überaus merkwürdigen Zufall Rechnung zu tragen, dass es im 12. Jahrhundert eine Häufung an unnatürlichen Todesfällen gab, die den Geschichtsschreibern bei einer Negativauslegung der Königsherrschaft in die Hände spielen konnten. Veranlasste das die Geschichtsschreiber angesichts von Gottes eindeutigem Urteil dazu, nach verborgenen Lastern und Sünden zu forschen? Was genau war ein plötzlicher Todesfall? Man wird sich darauf verständigen können, dass der Tod Wilhelm Rufus’ im Jahr 1100 und der Richard Löwenherz’ im Jahr 1195 durch einen Pfeil wohl als solche gelten müssen. Was ist mit dem Tod Heinrichs I., der nach einem offenbar zu üppigen Mahl starb? Was ist mit dem Tod Heinrichs II., den im Alter von 56 Jahren ein Fieber dahinraffte? Wie ungewöhnlich diese Häufung an Todesfällen war, lässt sich bei einem Vergleich mit den Todesfällen bei den Königen in Deutschland und Frankreich vor Augen führen. In die Übersicht (vgl. Tafel 2) ist nur die königliche Kernfamilie eingegangen, also Könige und die Söhne der Könige. Bei dieser Veranschaulichung leuchtet unmittelbar ein, wieso in der Vorstellung des 12. Jahrhunderts die französischen Könige wohl als die Lieblinge Gottes gelten konnten. Nur Philipp, der Sohn Ludwigs VI., starb beim Sturz von wollten, könnten sie es gerne erhalten, wenn sie einen Zuwachs an Land wollten, könnten sie auf dieselbe Weise haben, was sie wollten. Sie sollten nur danach sehen, dass das Urteil seines Vaters nicht in Frage gestellt werde, denn wenn sie sein Urteil über ihn verwürfen, müssten sie selbst das Beispiel fürchten; denn der ihn zum König gemacht habe, habe sie zu Herzögen gemacht“ (Übers. A. P.). 31 Zum Versprechen der guten Herrschaft als einem wichtigen Bestandteil der Königserhebung vgl. Plassmann 2017, 223–225. 32 Dazu ebd., 224. 33 Hierzu Stephen Church, King John. England, Magna Carta and the Making of a Tyrant, London 2015, 214–234.

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einem Pferd. Alle anderen, sogar der für seine außerehelichen Affären bekannte Philipp I., starben eines natürlichen Todes. Bei den römisch-deutschen Kaisern häufen sich die ungeklärten Todesfälle bis zum Jahr 1190 auch nicht gerade in unerhörtem Maße. Nach 1190 ändert sich dieses Bild und man könnte den Verdacht haben, dass der Ruf der Staufer als verfluchte Familie, dem von der Seite des Papsttums aus kräftig Vorschub geleistet wurde,34 seine Wurzel in dieser Anhäufung von Unglück hat. Für die englischen Könige ergibt sich ein unvorhergesehener Todesfall im Schnitt alle 20 Jahre, also in einem Abstand, der zumindest sicherstellte, dass Geschichtsschreiber sich im Zweifel an den vorherigen Fall aktiv erinnerten. 1050

1075

1100

HEINRICH I. Hugo Heinrich Frankreich Charles Odo

1125 PHILIPP I. Philipp Philipp

1150 LUDWIG VI.

Philipp

PHILIPP II. Heinrich Robert Peter

FRIEDRICH I. Konrad

1200

LUDWIG VII.

HEINRICH III. Reich

1175

Heinrich VI.

LOTHAR III. Friedrich Konrad HEINRICH IV. HEINRICH V. KONRAD III. Henry Friedrich Philipp Otto

WILHELM I. HAROLD WILHELM II. HEINRICH I. STEPHEN Richard England Wilhelm

EDWARD Edgar

Robert

Eustace W Wilhelm

HEINRICH II. H Heinrich Geoffrey Richard

Tafel 2: Todesfälle im Reich, in England und in Frankreich 1050–1215.

Daher stellt sich die Frage, ob die Geschichtsschreiber die plötzlichen Todesfälle möglicherweise mit einer Ursache verbanden und damit nicht nur die Laster eines einzelnen Königs, sondern ein grundsätzliches Problem explizit ansprachen. Dies ist noch etwas anders zu beurteilen, als das Muster des ‚Neuer König 34 Zur Instrumentalisierung des ‚Stauferfluches‘ in der päpstlichen Propaganda vgl. einschlägig Cristina Andenna, Caesarea oder viperea stirps? Zur Behauptung und Bestreitung persönlicher und dynastischer Idoneität der späten Staufer in kurialen und adligen Diskursen des 13. Jahrhunderts, in: dies./Gert Melville (edd.), Idoneität – Genealogie – Legitimation. Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittelalter (Norm und Struktur 43), Köln/Weimar/Wien 2015, 189–256.

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verspricht eine bessere Herrschaft‘, das wir ja am Fall des Herrschaftswechsels von Wilhelm Rufus auf Heinrich I. schon beobachten konnten. Nur selten werden die Todesfälle im englischen Königshaus gruppiert. Eines der Beispiele dafür bietet der bereits erwähnte Johannes von Worcester. Der von ihm geschilderte Tod des Rufus ist nämlich nicht nur eine Strafe für dessen eigene Sünden, sondern sogar für die Sünden der Familie, und Johannes bemüht sich darum, das nachzuweisen. Rufus’ Tod war nämlich eine Strafe für die Forstpolitik seines Vaters. Der sogenannte Neue Forst, in dem Rufus starb, hatte seinen Namen deshalb erhalten, weil er von Wilhelm dem Eroberer angelegt worden war. Der Eroberer hatte für sein Jagdvergnügen mehrere Dörfer und – was noch schlimmer ist – Kirchen niederlegen lassen. Dass gleich drei Mitglieder der königlichen Familie in diesem Neuen Forst starben, konnte nach Johannes von Worcester kein Zufall mehr sein. Neben Rufus waren nämlich auch Richard, der zweite Sohn des Eroberers, der ursprünglich wohl als König von England vorgesehen war, und ein Bastardsohn Heinrichs I. in dem Neuen Forst umgekommen.35 Diese Erklärung, die die Sünde und die Todesart direkt verknüpfte, hat Nachahmer gefunden. Auch Geschichtsschreiber, die nicht so negativ gegenüber Rufus eingestellt waren, wiederholten diese eingängige Erklärung des Johannes.36 Die übermäßige Anhänglichkeit an das Jagdvergnügen, der Dörfer und Kirchen zum Opfer gefallen waren, musste mit Jagdunfällen bestraft werden. Es ist auffällig, dass diese Häufung von Jagdunfällen nicht so verwendet werden musste: 35 Vgl. Johannes von Worcester, Chronicon, Bd. 3, 92: Antiquis enim temporibus, Eaduuardi scilicet regis, et aliorum Anglie regum predecessorum eius, eadem regio incolis Dei cultoribus et ecclesiis nitebat uberime, sed, iussu regis Wilelmi senioris, hominibus fugatis, dominibus semirutis, ecclesiis destructis, terra tantum colebatur habitatione, et inde, ut creditur, causa erat infortunii. Nam et antea eiusdem Wilelmi iunioris germanus, Ricardus, in eadem forestra multo ante perierat, et paulo ante suus fratruelis, Ricardus, comitis scilicet Normannorum Rotberti filis, dum et ipse in venatur fuisset, a suo milite sagitta percussus interiit. 36 Wilhelm von Jumièges, Gesta Normannorum Ducum (und Fortsetzer), ed. Elisabeth M. C. Van Houts (Oxford Medieval Texts), 2 Bde., Oxford 1992–1995, lib. VIII, cap. 9, Bd. 2, 214– 217; zu Wilhelm von Jumièges vgl. Laurence Mathey-Maille, William of Jumièges, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 2 (2010), 1511; Symeon von Durham, Historia Regum, ed. Thomas Arnold, in: Symeonis Monachi Opera Omnia (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 75), 2 Bde., Bd. 2, London 1885 (ND London 1965), 3–283, hier 231; zu Symeon von Durham vgl. William Smith, Symeon of Durham, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 2 (2010), 1404f.; Walter von Coventry, Memoriale (The Historical Collections of Walter of Coventry), ed. William Stubbs (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 58), 2 Bde., London 1872–1873, Bd. 1, 117f. Walter bezieht sich auf ältere Quellen, hier den sogenannten ‚Barnwell Chronicler‘, vgl. Lisa M. Ruch, Walter of Coventry, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 2 (2010), 1493: „The text […] is derivative from Geoffrey of Monmouth, Henry of Huntingdon, Marianus Scotus, John of Worcester and Roger of Howden […]“; Ordericus Vitalis, Historia Ecclesiastica, lib. IV, Bd. 2, 262: einer der Begleiter beim weißen Schiff, der auch untergeht, ist ein Jäger, der seine Ländereien damit plagt; das übermäßige Jagdvergnügen als strafwürdiges Verbrechen kannte Ordericus also.

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Ordericus Vitalis, der in Richard eine verpasste Chance auf einen anständigen König sah, kontrastiert den Tod des älteren Bruders zu dem des Rufus.37 Im Gegensatz zu Rufus erhält Richard nämlich bei Ordericus ausreichend Gelegenheit zur Beichte und zur Vorbereitung auf den Tod. Ein anderes interessantes Beispiel für eine Gruppierung von Todesfällen unter einem Kausalzusammenhang findet sich der sogenannten ‚Warenne Chronik‘. Diese Chronik, die wohl für das gleichnamige Adelshaus geschrieben wurde, bringt nämlich die Tode von Rufus und von Wilhelm Aetheling, dem Sohn und Erben Heinrichs I., mit ihrer harten Herrschaft und ihrer ungerechten Behandlung der adligen Familien in Zusammenhang.38 Um die Todesfälle zu gruppieren, musste die ‚Warenne Chronik‘ nicht auf ähnliche Todesarten zurückgreifen, sondern einfach nur auf die Tatsache, dass die fraglichen Personen plötzlich gestorben waren. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ließ das Interesse an den anglonormannischen Todesfällen der direkten Nachfahren des Eroberers etwas nach, dafür konnte man nun die gehäuften Todesfälle in der Familie der Plantagenet betrachten. Heinrich, der junge König, starb in Rebellion gegen seinen Vater,39 sein jüngerer Bruder Gaufred wahrscheinlich ebenfalls, auch wenn dies als Turnierunfall getarnt wurde,40 und Heinrich II. selbst starb mitten in dem Versuch, die Rebellion seines Erben Richard Löwenherz niederzuschlagen.41 Diese Familientragödien haben die Phantasie der Zeitgenossen angeregt und legten als Erklärung nahe, dass die königliche Familie verflucht sei. Gervasius von Canterbury hat auch den Grund dafür schnell gefunden. In Analogie zu Rufus, der Anselm schlecht behandelte, waren die Anjou-Plantagenet gegenüber Thomas Becket schuldig geworden.42 37 Ordericus Vitalis, Historia Ecclesiastica, lib. V, cap. 2, Bd. 3, 114. 38 The Warenne (Hyde) Chronicle, cap. 21, 38–41 über die schlechte Behandlung der Adligen, cap. 23, 42–45; zum Tod von Wilhelm Rufus, der als gerechte Strafe inszeniert wird (einschließlich der Vision des Mönchs) cap. 34, 72–79 über den adligen Widerstand gegen Heinrich, cap. 36, 80f., über den Tod Wilhelm Aethelings. 39 Dazu Matthew Strickland, Henry the Young King, 1155–1183, New Haven 2016, 306–313. 40 Judith A. Everard, Britanny and the Angevins. Province and Empire 1158–1203 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought), Cambridge 2000, 138–145. 41 John Gillingham, Richard the Lionheart, 2. Aufl., London 1989, 116–124; Zur Plünderung der Leiche, die möglicherweise als Motiv auch über Sic transit gloria mundi hinausgeht, vgl. Rodger von Howden, Chronica, ed. William Stubbs (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 51), 2 Bde., London 1868–1869 (ND London 1964), Bd. 2, 367. Zu Roger von Howden vgl. Lisa M. Ruch, Roger of Howden, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 2 (2010), 1289f. 42 Gervasius von Canterbury, Chronica, ed. William Stubbs, in: The Historical Works of Gervase of Canterbury. The Chronicle of the Reigns of Stephen, Henry II., and Richard I. (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 73), 2 Bde., London 1879–1880 (ND London 1965), Bd. 1, 305 über Heinrich den Jüngeren, 593 über Heinrich II. Zu Gervasius vgl.

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Diese Erklärung des Gervasius ist ungewöhnlich, die verfluchte Familie ist die geläufigere Erklärung.43 Dieses Motiv scheint immerhin auch so bekannt gewesen zu sein, dass sich die Anjou-Plantagenet selber darüber lustig machten. Als Richard Löwenherz einmal der Vorwurf gemacht wurde, er hätte sich nicht an ein Versprechen gehalten, hat er – glauben wir Gerald von Wales – nur mit den Schultern gezuckt und sein Gegenüber gefragt, was er denn von einem König erwarten würde, der von einer Dämonin abstammt.44 Er spielte damit auf die bekannte Legende der Melusine als Ahnfrau der Plantagenet an.45 Der bereits erwähnte Heinrich von Huntingdon nutzte die diversen Todesfälle, um grundsätzlich das Thema der Verderbtheit von weltlicher Herrschaft aufzuzeigen, ein ‚Systemkritiker‘ sozusagen.46 Seine Könige sterben zwar aufgrund unterschiedlicher Laster, indes ist es nahezu unmöglich für einen König, dem Laster zu entgehen. Die plötzlichen Todesfälle sind für Heinrich von Huntingdon Zeichen der Unvollkommenheit der Welt an sich, der auch ein König am besten entsagen sollte. Wilhelm der Eroberer starb laut Heinrich, weil er die aufständische Stadt Mantes zu schwer bestrafen wollte,47 Wilhelm Rufus starb, wie wir schon gesehen haben, wegen seiner Missachtung der Kirche und seiner verderblichen Herrschaft,48 Wilhelm Aetheling, der Erbe Heinrichs I., starb bei

43

44

45

46 47 48

Paul Antony Hayward, Gervase of Canterbury, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 1 (2010), 691f. Etwa Wilhelm von Newburgh, Historia Rerum Anglicarum, ed. Richard Howlett, in: Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II, and Richard I (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 82), 4 Bde., Bd. 1, London 1884 (ND London 1964), lib. III, cap. 7, 233: Tod von Heinrich dem Jüngeren wegen seiner Rebellion, auch Gottfried stirbt deshalb; wohl auch Richard von Devizes, Chronicon de Tempore Regis Richardi Primi, ed. John T. Appleby (Medieval Texts), London et al. 1963, 76, der Richard Löwenherz die Brüder wegen des Aufstandes gegen den Vater töten lässt; Radulf Niger, Chronica, ed. Robert Anstruther, New York 1851 (ND New York 1967), 95; Robert von Torigny, Chronica, ed. Richard Howlett, in: Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II, and Richard I (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 82), 4 Bde., Bd. 4, London 1889, 305f. attestiert dem jungen König immerhin Zeit für die Beichte. Zu Wilhelm von Newburgh vgl. auch Lisa M. Ruch, William of Newburgh, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 2 (2010), 1512f. Gerald von Wales, De Principis Instructione (Instruction for a Ruler), ed. and trans. by Robert Bartlett (Oxford Medieval Texts), Oxford 2018, dist. 3, cap. 27, 688: Istud autem rex Ricardus sepe referre solebat… Hierzu und zu einer ähnlichen Geschichte bei Walter Map, vgl. auch Ian Short, Literary Culture at the Court of Henry II, in: Christopher Harper-Bill/ Nicholas Vincent (edd.), Henry II. New Interpretations, Woodbridge 2007, 335–361, hier 345–348. Zur Bedeutung des „schwarzen Schafes“ für Familiengeschichten vgl. Alheydis Plassmann, Norm und Devianz in hochmittelalterlichen Adelsfamilien West- und Mitteleuropas: Der Umgang mit schwarzen Schafen der Familie, in: Steffen Patzold/Anja Rathmann-Lutz/ Volker Scior (edd.), Geschichtsvorstellungen. Bilder, Texte und Begriffe aus dem Mittelalter. Festschrift für Hans-Werner Goetz zum 65. Geburtstag, Wien et al. 2012, 431–459, hier 456. Vgl. allgemein Roling 1999; Plassmann 2018. Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum, lib. IV, cap. 38, 404. Siehe oben bei Anm. 15.

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einem Schiffsunglück als Strafe für seine Homosexualität49 und Heinrich I. starb wegen seiner Lüsternheit.50 Das wiederkehrende Motiv war die Korrumpierung durch die Macht. Die Häufungen von Todesfällen führten also durchaus dazu, dass man sie gruppierte, aber wie beim einzelnen Fall fällt diese Gruppierung sehr unterschiedlich aus.

3.

Der plötzliche Todesfall als Motiv

Als drittes soll die Frage gestellt werden, ob der einzelne sudden death als Motiv noch erweitert wurde, ob etwa Faktoren zu identifizieren sind, die dazu geführt haben, dass der plötzliche Tod als Motiv verwendet wurde. Ist der plötzliche Tod ein Motiv, das auf jeden Fall im negativen Sinn verwendet wurde? Es scheint zumindest, dass die Geschichtsschreiber den plötzlichen Todesfall insbesondere dann auskosteten, wenn unmittelbar ersichtlich war, dass er nicht nur plötzlich für den König oder Erben kam, sondern auch unvorhersehbare Folgen für das Königreich hatte. Im Fall von Rufus’ Tod, der zur unvorhergesehenen Sukzession durch Heinrich I. führte – entgegen der mit dem älteren Bruder Robert Kurzhose eigentlich vereinbarten Erbfolge –,51 ist das offensichtlich. Das gilt auch für den Untergang des weißen Schiffes im Jahr 1120, da mit Wilhelm Aetheling der einzige legitime Sohn Heinrichs I. starb und die Schwierigkeiten, die Erbfolge zu klären, den Rest der Regierungszeit Heinrichs I. beanspruchen sollten.52 Nach Heinrichs I. Tod kam es zur sogenannten Anarchie und zu jahrelangen Auseinandersetzungen um das Königtum.53

49 Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum, lib. VII, cap. 32, 466. 50 Ebd., lib. VII, cap. 43, 490: Heinrich I. stirbt am Verzehr von Lampreten; lib. X, cap. 2, 702 über den Verfall des Leichnams. Vgl. zur Konnotation der murenae mit Lüsternheit Roling 1999, 164f., der indes murenae nicht mit Neunauge/Lampreten, sondern mit Muränen übersetzt. 51 Hierzu Judith Green, Henry I. King of England and Duke of Normandy, Cambridge 2006, 54–56; William Aird, Robert Curthose, Duke of Normandy (c. 1050–1134), Woodbridge/ Rochester, NY 2008, 139–144; Plassmann 2017, 209. 52 Green 2006, 164–168, über den Untergang des weißen Schiffes und die Auswirkungen auf die Erbfolge. 53 Die Bezeichnung anarchy hat sich als Benennung dieser Zeit eingebürgert, auch wenn sich die Forschung inzwischen einig ist, dass dies die Verhältnisse nicht trifft. Vgl. Edmund King, King Stephen (Yale English Monarchs), New Haven/London 2012, 320–339 zu einer Gesamtbewertung. Die Gesta Stephani, ed. Kenneth R. Potter/Ralph H. W. C. Davis (Oxford Medieval Texts), Oxford 1976, I, cap. 1, 1, etwa drücken wegen der folgenden Wirren Bedauern über den Tod König Heinrichs aus. Zu den ‚Gesta Stephani‘ vgl. William Smith, Gesta Stephani, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 1 (2010), 700f.

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Schauen wir uns daher einen plötzlichen Tod an, der nicht solche dramatischen Folgen hatte: 1153 starb Eustachius der älteste Sohn von König Stephen.54 An sich wäre der Tod eines Erben natürlich ein Ereignis, das die Karten noch einmal ganz neu verteilen konnte, aber im Fall des Todes von Eustachius wurde die Sukzession nicht gefährdet. Im sogenannten Vertrag von Wallingford hatten sich nämlich Stephen und Heinrich, der später als Heinrich II. König werden sollte, schon darauf geeinigt, dass Heinrich als Sohn der legitimen Tochter Heinrichs I., der Kaiserin Mathilde, auf Stephen nachfolgen sollte, wie es Heinrich I. wahrscheinlich von vorneherein geplant hatte.55 Als Eustachius starb, war er schon aus der Thronfolge herausverhandelt worden. Sein Tod bedeutete lediglich, dass der Herrschaftsübergang tatsächlich glatt vonstattenging. Eustachius hatte durch den Überfall auf die Ländereien von Bury St. Edmunds den Heiligen beleidigt und war anschließend, so suggerieren es die Quellen, vom Heiligen zu Tode gebracht worden.56 Mit der Regierung des Reiches hatte dies nichts zu tun. Die Chroniken, die sein Ableben überhaupt vermelden, tun dies gelegentlich mit einem Ausruf des Bedauerns, dass ein so junger Mensch sterben musste,57 oder sie interpretieren den Tod zwar als Eingreifen Gottes, aber als einen wohlwollenden Akt, der dafür gesorgt habe, dass der englische Bürgerkrieg endlich zu einem Ende kommen konnte.58 Eine Quelle verschiebt sogar die Adoption Heinrichs durch Stephen auf einen Zeitpunkt nach dem Tod des Eustachius, um diese Interpretation zu unterstreichen,59 die ‚Gesta Stephani‘ berichten, er sei aus Kummer über die Erbregelung gestorben.60 Geschichtsschreiber der 1180er und 1190er Jahre erwähnen dann üblicherweise den Tod des Eustachius nur am Rande, weil sich an ihm der schockierende Eingriff Gottes in die Geschichte des einzelnen Königs oder des Reiches eben nicht deutlich machen ließ.61 Dies führt uns zu einem weiteren Grund für das Aufgreifen des Motives vom plötzlichen Tod, der insbesondere in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts deutlich wird. Die neue Dynastie der Anjou-Plantagenet hatte das Interesse an 54 King 2012, 278. 55 Zu dieser Sukzession Edmund King, The Accession of Henry II, in: Christopher HarperBill/Nicholas Vincent (edd.), Henry II. New Interpretations, Woodbridge 2007, 24–46; King 2012, 270–283; Plassmann 2017, 206. 56 Die Anglo-Saxon Chronicle. Manuscript E, ad a. 1140, 137 erwähnt zumindest, dass Eustachius auf Gottes Ratschluss hin am Regieren gehindert worden sei, aber auch Gervasius von Canterbury, Chronica, Bd. 1, 155 und Bd. 2, 76 sowie Robert von Torigny, Chronica, 176 deuten die Strafe an, vgl. auch King 2012, 278 mit Anm. 44. 57 Gesta Stephani, lib. II, cap. 120, 238. 58 Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum, lib. X, cap. 35, 768. 59 Wilhelm von Newburgh, Historia Rerum Anglicarum, lib. I, cap. 30, 90f. 60 Gesta Stephani, lib. II, cap. 120, 238. 61 Walter von Coventry, Memoriale, 180f.

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den Eskapaden der ersten anglo-normannischen Könige etwas erlahmen lassen,62 aber die wichtigsten Motive der Geschichtsschreiber der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurden aufgegriffen. Der Tod von Wilhelm Rufus auf der Jagd,63 der tragische Schiffsuntergang, bei dem Wilhelm Aedling umkam,64 und die besonderen Umstände des Todes Heinrichs I.65 wurden auch dann aufgegriffen, wenn man gar nicht unbedingt eine Moral mit der Geschichte verband, ganz einfach deshalb, weil es wie die normannische Eroberung 1066 zum festen Repertoire der englischen Geschichte gehörte. Diese Ereignisse hatten geradezu Eingang in einen Kanon gefunden, der selbst bei den knappsten Zusammenfassungen der Herrschaften von Wilhelm dem Eroberer bis zu Heinrich I. noch erwähnt wurden. Ein gutes Beispiel für eine solche ‚Kanonisierung‘ bieten die Ende des 12. Jahrhunderts schreibenden Geschichtsschreiber wie Roger von Howden,66 Radulf von Diceto,67 Wilhelm von Newburgh68 und der sogenannte 62 Z. B. Radulf von Coggeshall, Chronicon Anglicanum, ed. Joseph Stevenson (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 66,1), London 1875 (ND London 1965), hier 2: Tod Wilhelms des Eroberes; 4: Tod Rufus’; 8: Tod des Aetheling; 9f.: Tod Heinrichs I.; 14: Tod Stephens. Alle diese Fälle werden sehr sachlich geschildert, indes ist Ralph of Coggeshall in Bezug auf Schauer bei Todesfällen ohnehin zurückhaltend. Zu Ralph von Coggeshall vgl. auch Elizabeth Freeman, Ralph of Coggeshall, in: Encyclopedia of the Medieval Chronicle 2 (2010), 1252f. 63 Wilhelm von Newburgh, Historia Rerum Anglicarum, lib. I, cap. 2, 25, indes ohne Wertung. 64 Wilhelm von Newburgh, Historia Rerum Anglicarum, lib. I/3, cap. 5, 29; Robert von Torigny, Chronica, 104: divino Dei judicio, licet occulto, also ohne Wertung. 65 Walter von Coventry, Memoriale, 156; Wilhelm von Newburgh, Historia Rerum Anglicarum, lib. I, cap. 3, 30; Richard von Hexham, De Gestis Regis Stephani, ed. Richard Howlett in: Chronicals of the Reigns of Stephen, Henry II, and Richard I (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 82), 4 Bde., Bd. 3, London 1886 (ND London 1964), 139–178, hier 139, indes ohne Wertung; Robert von Torigny, Chronica, 127 indes ohne Wertung. 66 Rodger von Howden, Chronica, Bd. 1, 140: nichts Besonderes über den Tod Wilhelms I.; ad a. 1100, Bd. 1, 155f.: Wilhelm Rufus stirbt wegen der Forstgesetze, Zeichen auf sein Hinscheiden sind ähnlich wie bei Johannes von Worcester; ad a. 1120, Bd. 1, 177 Untergang des weißen Schiffes ohne Hinweis auf göttliche Strafe; ad a. 1135, Bd. 1, 187: Tod Heinrichs I. mit dem Bericht über den Lampretenverzehr; ad a. 1136, Bd. 1, 188: Begräbnis Heinrichs I. wie bei Heinrich von Huntingdon; ad a. 1154, Bd. 1, 213: Tod Stephens und Eustachius’ ohne besondere Vorkommnisse. 67 Ralph de Diceto, Abbrevationes Chronicorum, ed. William Stubbs, in: Radulfi De Diceto Decani Lundoniensis Opera Historica (The Historical Works of Master Ralph De Diceto, Dean of London) (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 68,1), London 1876, 3–263, hier 212: Wilhelms I. Tod ohne Wertung; 233: Tod Wilhelm Rufus’ ohne besondere Wertung; 243: Tod Wilhelm Aethelings ohne besondere Wertung; 247: Tod Heinrichs I. ohne besondere Wertung; Ralph de Diceto, Ymagines Historiarum, ed. William Stubbs, in: Radulfi De Diceto Decani Lundoniensis Opera Historica (The Historical Works of Master Ralph De Diceto, Dean of London) (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 68,2), London 1876, 291–440, hier 298: Tod Stephens ohne besondere Wertung; 296: Tod Eustachius’ ohne besondere Wertung. 68 Wilhelm von Newburgh, Historia Rerum Anglicarum, lib. I, cap. 1, 21f: über den Tod Wilhelms I. (ohne Wertung); lib. I, cap. 2, 25f.: über den Tod Wilhelms II. Rufus: Es wird berichtet,

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Barnwell Chronicler.69 In Anbetracht der aufregenden innerfamiliären Streitigkeiten im Hause Anjou-Plantagenet und bei allen Schwierigkeiten mit König Johann ist es bezeichnend, dass die Todesfälle der normannischen Könige trotzdem immer noch wiederholt werden. Schließlich ist noch eine auffällige Leerstelle anzusprechen, eine mögliche Erklärung, die für die plötzlichen Todesfälle niemals herangezogen wurde, und das, obwohl es mögliche Präzedenzfälle gegeben hätte. Der plötzliche Todesfall eines Königs könnte schließlich nicht nur als Strafe für den König, sondern auch als göttliches Gericht über ein zu bestrafendes Volk verstanden werden. Dieses Erklärungsmuster war den Geschichtsschreibern des 12. Jahrhunderts auch durchaus bekannt. Als Beispiel kann die besonders prägnante Aussage Heinrichs von Huntingdon über die Schlacht von Hastings, den Tod König Harolds II. und die Niederlage der Engländer dienen: „Im Jahre des Herrn 1066 brachte der Herr zur Vollendung, was er schon lange für die Engländer geplant hatte. Er lieferte sie der Zerstörung durch die tückischen und grausamen Normannen aus.“70

Die Deutung der Schlacht von Hastings als Strafe für die Engländer ist ein Motiv der englischen Geschichtsschreibung, das sogar bis auf spätantike Vorbilder zurückgeht.71 Ähnlich wie der Jagdunfall des Wilhelm Rufus und der Untergang des weißen Schiffes gehört der Tod in der Schlacht des meineidigen Harold und die Niederlage der sündigen Engländer zum Kanon, zur ‚Meistererzählung‘, und verblasst als Motiv erst im 13. Jahrhundert. Warum die Schuld des Volkes oder des Reiches bei den plötzlichen Todesfällen nicht angeführt wird, ist meines Erachtens erklärungsbedürftig. Sicher könnte man anführen, dass die Bestrafung der Angelsachsen durch die Niederlage bei dass er von seinem eigenen Soldaten getötet wurde, und anschließend noch Folgendes: completumque est in eo illud: Vidi impium superexaltatum et elevatum sicut cedros Libani, et transivi et ecce non erat, quaesivi eum et non est inventus locus ejus; lib. I, cap. 3, 30: über den Tod Heinrichs I. und den Mann, der durch seinen Leichnam starb; lib. I, cap. 32, 95: Tod Stephens ohne Wertung; lib. I, cap. 30, 90: Tod des Eustachius ohne Wertung. 69 Walter von Coventry, Memoriale, 99: nichts Besonderes über den Tod Wilhelms I.; 117: Wilhelm II. Rufus stirbt wegen der Forstgesetze; 139: Tod Wilhelms Aetheling ohne Wertung, 156 über den Tod Heinrichs I. ohne Wertung; 183: Tod Stephens ohne besondere Wertung; 180: Tod des Eustachius ohne Wertung. 70 Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum, lib. VI, cap. 27, 384: Millesimo sexagesimo sexto anno gratie, perfecit dominator Dominus de gente Anglorum quod diu cogitauerat. Genti namque Normannorum aspere et callide tradidit eos ad exterminandum. 71 Alheydis Plassmann, Die Normannen. Erobern – Herrschen – Integrieren, Stuttgart 2008, 176; Beispiele: Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum, lib. III, cap. 345, 456–461; Roger von Howden, Chronica, Bd. 1, 115: Harolds Tod ist Gottes Vorsehung: De quo praelio testantur adhuc Franci qui interfuerunt, quoniam livet varius casus hinc inde extiterit, tamen tanta strages ac fuga Normannorum fuit, ut victoria, qua potiti sunt, vere et absque dubio Deo judicio sit ascribenda, qui puniendo scelus perjurii ostendit Se Deum nolentem iniquitatem.

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Hastings und die Machtübernahme der Normannen in der Folge als Legitimationsgrundlage für jegliche Herrschaft, sogar für die der Kirchenmänner, eine bedeutende Rolle gespielt hat, und man daher nicht den Verdacht aufkommen lassen wollte, dass die neue Elite vielleicht auch eine Strafe verdient hätte.72 Dies dürfte aber nicht der einzige Grund gewesen sein, dass man auf dieses Schema nicht zurückgriff. Das wiederholte Motiv des neuen Königs, der ein besseres Verhalten verspricht, die Stilisierung der Abfolge von Königen mit einem guten Beginn, einem Niedergang in Laster und Sünde und einem Neuanfang mit Versprechen, die dann doch nicht gehalten werden, deuten darauf hin, dass es den Geschichtsschreibern nicht nur um schauerliche Todesanekdoten oder die Belehrung ihres Publikums ging, sondern dass man ernsthafte Probleme mit der Ausübung der Herrschaft im englischen Königreich hatte, auch wenn sich diese vielleicht nicht in allen Einzelheiten genau formulieren ließen.

4.

Nützlichkeit des Motivs des plötzlichen Todesfalls und seine Ausweitung

Die Tatsache, dass ein plötzlicher Tod nicht in allen Fällen für das Narrativ der göttlichen Strafe genutzt wurde, führt zur letzten Frage. Inwieweit waren sich die Geschichtsschreiber bewusst, dass sie mit den plötzlichen Todesfällen ein nützliches Narrativ zur Verfügung hatten, das für die Kritik an und den Diskurs über Herrschaft genutzt werden konnte? Es gibt Hinweise darauf, dass die Geschichtsschreiber auch Todesfälle, die an sich auch ohne weiteres natürlich hätten erklärt werden können, ausschmückten, indem sie die Umstände des Begräbnisses sinister gestalteten und mit diesem Kunstgriff einen Schatten auf das Wirken des Königs zu Lebzeiten warfen. Dafür sollen zwei Beispiele genannt werden, die bezeichnenderweise nach dem Jagdunfall von Wilhelm Rufus 1100 niedergeschrieben wurden. Wilhelm der Eroberer starb im Alter von 60 Jahren bei einem Feldzug gegen Le Mans. Während wir im Bericht ‚De obitu Wilhelmi‘ den mustergültigen Tod eines Herrschers geschildert bekommen, der auf dem Sterbebett letzte Verfügungen trifft und im Frieden mit Gott stirbt, und in zeitgenössischen Quellen zumindest über den Tod des Eroberers nichts Besonderes berichtet wird,73 weiß Ordericus Vitalis das Begräbnis Wilhelms lebhaft auszumalen. 72 Zur Bedeutung der Legitimierung der normannischen Elite durch den ‚Sündenfall‘ der Engländer vgl. auch George Garnett, Conquered England. Kingship, Succession, and Tenure, 1066–1166, Oxford 2007, vor allem 1–44, das Kapitel über ‚The Justification of the Conquest‘; Plassmann 2008, 176f. 73 Hierzu David Bates, William the Conqueror, New Haven/London 2016, 483f.; De obitu Wilhelmi, in: Wilhelm von Jumièges, Gesta Normannorum Ducum, lib. VII, cap. 44, Bd. 2,

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„Da trat Ascelin vor, der Sohn des Arthur und beklagte sich mit lauter Stimme, so dass alle ihn hören konnten: ‚Auf diesem Boden, auf dem ihr steht, stand meines Vaters Haus, das ihm dieser Mann, für den ihr gerade betet, als er nur Herzog der Normandie war, mit Gewalt abgenommen hat. Er verweigerte meinem Vater alle Wiedergutmachung und gründete hier diese Kirche auf dem Höhepunkt seiner Macht. Ich erhebe Anspruch auf diesen Grund und verbiete in Gottes Namen, dass der Körper dieses Räubers mit Erde bedeckt werde, die mir gehört, oder in meinem Grundstück bestattet wird.‘ Als die Bischöfe und die anderen Großen diese Worte hörten und von Nachbarn, die Zeugen waren, erfuhren, dass er die Wahrheit sprach, ließen sie den Mann zu sich bringen und schlossen Frieden mit ihm. Sie boten ihm sofort 60 Schillinge für die Begräbnisstätte an und noch einmal dieselbe Summe für den Rest […]. Als nächstes, als der Leichnam in den Sarkophag gelegt wurde und dabei gefaltet wurde, weil die Steinmetze den Sarkophag aus Versehen zu kurz und zu eng gemacht hatten, barsten die geschwollenen Eingeweide und ein unerträglicher Gestank übermannte die Nasen aller. Ein dichter Rauch stieg von den Räuchergefäßen auf, aber er war nicht kräftig genug, um den Fäulnisgestank zu überdecken. Also beeilten sich die Priester, die Bestattung zu vollenden, und kehrten sofort schlotternd in ihre eigenen Häuser zurück.“74

Das Bild des großen Eroberers wird also unterlaufen, indem dem mächtigen König nicht einmal mehr das Fleckchen Erde zusteht, das es für das Begräbnis braucht.75 Angesichts von Wundererzählungen von unpassenden Sarkophagen bei Bischofsbegräbnissen, die dann aufgrund göttlichen Eingreifens doch den Körper des Heiligen aufnehmen können,76 muss diese Erzählung bei Ordericus doch wohl recht eindeutig als eine Verurteilung des Eroberers gelesen werden. 192–195 ähnlich Anglo-Saxon Chronicle. Manuskript E, ad a. 1087, 96. Die angelsächsische Chronik greift immerhin das Motiv des Sic transit gloria mundi auf. 74 Ordericus Vitalis, Historia Ecclesiastica, lib. VII, cap. 16, Bd. 4, 107: Tunc Ascelinus Arturi filius de turba surrexit, et uoce magna querimoniam huiusque cunctis audientibus edidit, ’Haec terra ubi consistitis area domus patris mei fuit; quam uir iste pro quo rogatis dum adhuc esset comes Normanniae patri meo uiolenter abstulit, omnique denegata rectitudine istam edem potenter fundauit. Hanc igitur terram calumnior et palam reclamo; et ne corpus raptoris operiatur cespite meo, nec in hereditate mea sepeliatur ex parte Dei prohibeo.’Hoc ut episcopi et proceres alii audierunt, et uicinos eius qui eundem uera dixisse contestabantur intellexerunt, hominem accersierunt, omnique remota uiolentia precibus blandis lenierunt; et pacem cum eo fecerunt. Nam pro loculo solius sepulturae lx solidos ei protinus adhibuerunt. Pro reliqua uero tellure quam calumniabatur equipollens mutuum eidem promiserunt; et post non multum temporis pro salute specialis eri quem diligebant pactum compleuerunt. Porro dum corpus in sacrofagum mitteretur, et uiolenter quia aus per imprudentiam cementariorum breue et strictum erat complicaretur; pinguissimus uenter crepuit, et intolerabilis foetor circum astantes personas et reliquum uulgus impleuit, fumus thuris aliorumque aromatum de thuribulis copiose ascendebat; sed teterrimum pudorem excludere non preualebat. Sacerdotes itaque festinabant exequias perficere; et actutum sua cum pauore mappalia repetere. (Übers. A. P.) 75 Zumindest diesen Aspekt wiederholt auch Wace, Roman de Rou, v. 9275–9340, 396–400. 76 Eadmer, Vita Anselmi, lib. II, cap. 68, 144–146; The Life of St Wulfsige of Sherborne by Goscelin of Saint-Bertin. A New Translation with Introduction Appendix and Notes by Rosalind Love, in: Katherine Barker (ed.), St Wulfsige and Sherborne: Essays to Celebrate

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Heinrich von Huntingdon, der Weltverächter, ist es, der den Tod Heinrichs I. im Alter von 67 und sein Begräbnis zu einem Verdikt über die schreckliche Regierungszeit Heinrichs ausschmückt. Als ob der Tod Heinrichs I. an einer üppigen Mahlzeit in der Fastenzeit nicht schlimm genug wäre, erweist sich Heinrich I. hier über seinen Tod hinaus als ein Tyrann, der willkürlich Menschen umbringt: „Sein Leichnam wurde nach Rouen gebracht und dort wurden seine Eingeweide, sein Hirn und die Augen zusammen begraben. Der Rest des Leichnams wurde mit Messern geschnitten und mit viel Salz eingerieben und in Ochsenhäute gewickelt, um den starken durchdringenden Geruch zu bekämpfen, der schon einige, die über ihn wachten, getötet hatte. Dadurch wurde sogar ein Mann getötet, den man für viel Geld angeheuert hatte, um den Kopf abzutrennen und das stinkende Gehirn zu entfernen. Obwohl er sich selbst in leinene Tücher gehüllt hatte, erhielt er einen schlechten Lohn für seinen Aufwand. Er war der letzte von vielen, die König Heinrich zu Tode gebracht hatte.“77

Das Motiv des plötzlichen Todesfalls, an dem sich der Zorn Gottes offenbart, wird hier auf die Beerdigung ausgeweitet. Was mit dem Körper des Toten passiert, ist ein weiterer Hinweis auf das göttliche Strafgericht und auf den schlechten Charakter des Herrschers bzw. seine schlechte Regierung. Diese Erzählung vom Leichnam Heinrichs I. und dem armen Teufel, der postum von ihm umgebracht wird, hat die Phantasie der Geschichtsschreiber übrigens derart angeregt, dass diese Erzählung sich auch später findet, als das Interesse am Drama der Regierung Heinrichs I. deutlich nachgelassen hatte.78 Es lässt sich wohl sagen, dass die Ausführung dieser Begräbnisse über das Motiv des Sic transit gloria mundi noch hinausgeht und der Sinn der Erzählung nicht nur in der Belehrung des Publikums über die Unausweichlichkeit des Todes liegt, sondern dass sie auch versuchen, ein Unbehagen an der Königsherrschaft anzusprechen, das sich möglicherweise nicht genau artikulieren ließ.

the Millennium of the Benedictine Abbey 998–1998, Oxford 2005, 98–123, cap. 9, 109, wo sich der Sarkophag und das Grab an den Leichnam des Heiligen anpasst. Vgl. auch Beda über König Sebbi in Beda, Historia Ecclesiastica gentis Anglorum (Bede’s Ecclesiastical History of the English People), ed. Bertram Colgrave/Roger A. B. Mynors (Oxford Medieval Texts), Oxford 1969, lib. IV, cap. 11, 369. 77 Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum, lib. X, cap. 2, 702f.: Cuius corpus allatum est Rotomagum. Et ibi uiscera eius et cerebrum et oculi consepulta sunt. Reliquum autem corpus cultellis circumquaque dissecatum, et multo sale aspersum coriis taurinis reconditum est, causa fetoris euitandi, qui multus et infinitus iam circumstantes inficiebat. Vnde et ipse qui magno precio conductus securi caput eius diffiderat, ut fetidissimum cerebrum extraheret, quamuis lintheaminibus caput suum obuoluisset, mortuustamen ea cause precio male gauisus est. Hic est ultimus e multis quem rex Henricus occidit. (Übers. A. P.) 78 Etwa Wilhelm von Newburgh, Historia Rerum Anglicarum, lib. I, cap. 3, 30.

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Für diese ‚Artikulationsschwierigkeiten‘ soll zu guter Letzt noch ein Beispiel genannt werden, das noch einmal die Probleme deutlich macht, die uns bei der Analyse der Herrscherkritik erwarten: Johannes von Worcester berichtet, dass Heinrich I. kurz vor seinem Tod beunruhigende Träume gehabt habe: Dreimal schlief er ein und träumte dreimal von Personen, die ihn bedrohten: Einmal war es die Geistlichkeit des Reiches, einmal die Ritter, und einmal die Bauern. Dies muss man wohl als eine massive Kritik lesen, schließlich ist es gleich die gesamte Ordnung, repräsentiert in den drei Ständen, die gestört ist. Heinrich I. ist auch nach Johannes’ Bericht über die Träume schwer erschüttert. Was wird ihm aber nun geraten, als er wissen will, was er zur Verbesserung der Situation tun könnte? Er soll Witwen und Waisen beschützen, Almosen geben und bescheiden leben, also traditionelle Herrschertugenden bedienen.79 Der Zusammenhang zur gestörten Ordnung ist für uns Heutige nicht unmittelbar ersichtlich, es ist aber die einzige Antwort, die die Zeitgenossen Heinrichs I. haben. Der englische König soll sich so verhalten, wie das christliche Herrscher zu tun pflegen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts sieht das schon anders aus: Hier sind die Forderungen, die an König Johann Ohneland gestellt werden, schon deutlich konkreter. Die Barone, die sich gegen Johann verschworen, arbeiteten einen Forderungskatalog aus, der sich an der Krönungscharta Heinrichs I. orientierte.80 Diese Krönungscharta war der erste Fall in einer langen Reihe von Selbstverpflichtungen des Königs, auf die man jetzt zurückgriff. Für den Diskurs über rechte Königsherrschaft und die Methoden, wie ein schlechter König entlarvt und wie er an Versprechen gebunden werden kann, sind die narrativen Muster der Geschichtsschreiber von großer Bedeutung, weil die Geschichtsschreibung die Erwartungshaltung prägte.

79 Johannes von Worcester, Chronicon, 198–203 (Rat zum Almosengeben bei 202f.). Diese Stelle ist in Bezug auf die drei Stände in der Forschung bereits vielfach diskutiert worden, ohne dass der spezielle Aspekt der Herrscherkritik schon ausführlich beleuchtet worden wäre. Vgl. z. B. Georges Duby, Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt am Main 1981, 417 als locus classicus. Vgl. zur funktionalen Dreiteilung auch Lotte Kery, Beten, kämpfen, arbeiten. Zur Deutung der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter, in: dies. (ed.), Eloquentia copiosus. Festschrift für Max Kerner zum 65. Geburtstag, Aachen 2006, 129–148. Außerdem gibt es Illustrationen in der Handschrift: Oxford, Corpus Christi College, MS 157, fol. 383r. 80 Hierzu zuletzt Church 2015, 223–234 und ders., The Dating and Making of Magna Carta and the Peace of June 1215, in: Alheydis Plassmann/Dominik Büschken (edd.), Staufen and Plantagenets. Two Empires in Comparison (Studien zu Macht und Herrschaft 1), Göttingen 2018, 53–70.

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5.

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Fazit

Einen toten König zu kritisieren, war sehr viel einfacher als einen lebenden zu ermahnen. Der Fall Wilhelm Rufus kann als Musterbeispiel gelten. Es entwickelte sich ein Narrativ über die Fehler und Laster des toten Königs, die gerechte Strafe Gottes und das anschließende Versprechen des neuen Königs, das dann auch Einzug in die politische Wirklichkeit hielt, als sowohl Heinrich der junge König bei seiner Rebellion das Versprechen der besseren Herrschaft nutzte,81 und als sowohl Richard Löwenherz82 als auch Johann Ohneland83 ihre Herrschaft mit solch expliziten Selbstverpflichtungen begannen. Der plötzliche Todesfall konnte dafür als ein nützliches Instrument im historischen Narrativ verwendet werden. Wenn der Tod den Schluss auf Gottes Zorn nicht zweifelsfrei zuließ, konnte das Begräbnis zur Bekräftigung von Gottes Urteilsspruch herangezogen werden. Die Kontingenz von Todesfällen hatte also Einfluss darauf, wie Königsherrschaft im 12. Jahrhundert in der Geschichtsschreibung dargestellt wurde. In den englischen Fällen lässt sich plausibel machen, dass die narrative Funktion über die Darstellung der Eitelkeit der Welt hinausgeht. Die Todesfälle werden einem grundsätzlichen Fehlverhalten zugeordnet, sie werden als Zeichen dafür gesehen, dass nicht nur singuläres Verhalten oder Laster den einzelnen König zum zu bestrafenden Sünder machen, sondern dass die grundsätzliche Praxis von Herrschaft in Schieflage geraten ist. Dass die Todesfälle oftmals eine Krise oder Unsicherheit im Reich auslösten, musste diesen Eindruck noch verschärfen. Es macht sich ein grundsätzliches Unbehagen deutlich, das erst in den baronialen Kriegen zwischen Johann Ohneland und den Rebellen deutlicher artikuliert werden konnte.84 Es wird sich niemals zweifelsfrei erweisen lassen, ob Wilhelm Rufus einem Attentat zum Opfer gefallen ist. Unsere Analyse indes hat ergeben, dass der tödliche Pfeil, der Rufus traf, eine historiographische Tradition in England angeregt hat, die einen Kreislauf von Laster, Tod und Versprechen der Besserung als narratives Muster hervorrief, das in den Diskurs um die Herrschaftspraxis des Königs und die rechte Einschränkung von Königsmacht fruchtbar eingeflossen ist.

81 Strickland 2016, 145–150, 155–157. 82 Gillingham 1989, 119, 128f. 83 Church 2015, 67–72 über Johns Königserhebung. Gerade der Besuch am Grab Thomas Beckets macht die Selbstverpflichtung deutlich. 84 Church 2015, 214–234.

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Alheydis Plassmann

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Elke Brüggen

Political Speech in the ‘Kaiserchronik’

Abstract The article at hand aims at examining what literary texts like the ‘Kaiserchronik’ can contribute to a deepened understanding of political speech in the Middle Ages. Presupposing that medieval literary texts deal with political questions of good and bad rulership, an exemplary episode from the Middle High German ‘Kaiserchronik’, the story about Severus and Adelger, and, more explicitly, the depiction of political speech in three exemplary council scenes is beeing analyzed. Special attention is paid to the functions of coded speech – a motif that refers to both: the literary and the political discourse.

Before addressing the theme of political speech in the ‘Kaiserchronik’, I begin by describing the twofold context of this article (1). On the one hand, it has emerged from research being carried out on the ‘Kaiserchronik’ at Bonn’s Collaborative Research Centre (Sonderforschungsbereich or SFB) 1167, ‘Macht and Herrschaft – Premodern Configurations in a Transcultural Perspective’. On the other hand, the article has been shaped by questions considered at the conference ‘Oratorik und Literatur. Politische Rede in fiktionalen und historiographischen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit’, which took place on 3–5 November 2016 at the Warburg-Haus in Hamburg.1 I then briefly introduce the ‘Kaiserchronik’ (2), covering the following points in the process: the existence of different versions (Fassungen), the manuscript transmission of the text, and its characteristic profile as historical writing. After these preliminaries, I turn my attention to 1 The conference (for details, see Oratorik und Literatur, www.slm.uni-hamburg.de/forschung/ tagungen/oratorik-und-literatur.html [29. 11. 2018]) was organized by Britta Wittchow, Malena Ratzke, and Christoph Schmidt (University of Hamburg). The present article draws on ideas that I developed in that context; see Elke Brüggen, Politische Rede in der ‘Kaiserchronik’, in: Malena Ratzke/Christian Schmidt/Britta Wittchow (eds.), Oratorik und Literatur. Politische Rede in fiktionalen und historiographischen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Hamburger Beiträge zur Germanistik 60), Berlin 2019, 167–186. The English translation, including the translation of the Middle High German verses, has been worked out by Dr. Alastair Matthews, Edinburgh.

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political speech in the ‘Kaiserchronik’ (3) and show that it is above all the thematization of counsel – an important resource in medieval understandings and practices of rulership – that allows acts of political speech to be presented. By describing representative counsel scenes, I hope to demonstrate how competence as a ruler in the Severus–Adelger section of the ‘Kaiserchronik’ is measured by the ability to decipher political counsel in the form of a coded spoken message.

1. Together with my colleagues Anna Bücken, Ann-Kathrin Deininger, and Jasmin Leuchtenberg, I am working on a subproject of SFB 1167 entitled ‘Kaiser und Könige. Macht und Herrschaft im Reflexionsmedium deutschsprachiger Literatur des Mittelalters’. The premises and goals of this subproject can be outlined in five points before we turn to the ‘Kaiserchronik’. (1) Emperors and kings – at times also queens – figure prominently in the German-language narrative literature of the Middle Ages, where they are positioned alongside and against other rulers of the same rank as well as the – in part female – members of the elites. In the texts, they are active not only in the public sphere but also in ‘secret’ and familiar spheres. The close association of ‘rulership’ with ‘love’, ‘marriage’, and ‘religion’ means that they are also positioned at the intersection of competing horizons of values. (2) The subproject addresses the specific contribution that German-language narrative literature can make to a conceptualization and discussion of imperial and royal power and rulership. It begins by considering epics and chronicles, as well as narrative fiction, that can be dated, even if the exact point in time is unclear in some cases, to the second half of the twelfth century. In the past, scholars have emphasized the disparity of these texts. A guiding thesis of this subproject, however, is that the representations in them have a crucial focal point in common: the complex negotiation and legitimization both of imperial and royal power and rulership. When viewed from this perspective, the texts can be set in thematic and functional contexts that lead to a new assessment of the material. (3) The texts present many varied manifestations of imperial and royal power and rulership. On the one hand, they demonstrate the integrative, stabilizing capacity of the highest rulers; on the other hand, they thematize the failure of such rulers to perform the duties of rulership. Its general avoidance of onesided models and unequivocal appraisals makes (fictional) literature an extremely interesting source with which to study the diverse ways in which social order is perceived, interpreted, and transformed. The subproject thus contributes to SFB 1167 as a whole by covering material that is highly sig-

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nificant as a medium reflecting historical processes and that opens up an important approach to the discursivization of contemporary social knowledge about power and rulership. Our attention is directed in particular at how ‘good’ and ‘bad’ rulership is represented, as well as at the significance of and relationship between personal and transpersonal factors, in order to investigate – in cooperation with the other subprojects – their culture-specific and cross-cultural dimensions on a wide-ranging basis. (4) Bearing in mind the transcultural perspective that defines SFB 1167 as a whole, the ‘immanent transculturality’ of the material under consideration should also be emphasized. The texts not only participate in traditions of thought and representation that can be traced back to classical or early French literature and culture, but also, in some cases, map out plot spaces which are located on the periphery of the world of Western Christianity and thus present contacts between Occident and Orient, Islam and Christianity. These stagings are to be interrogated with respect to the perception and interpretation of ‘familiar’ and ‘foreign’ forms of rulership and configurations of power. (5) As an investigation in literary studies, our subproject aims to analyse these phenomena with reference to the linguistic and narrative composition of the texts. The corpus of texts is manageable and thus lends itself well to examining the multifaceted literarization of rulership that is bound to the figure of the emperor or king. The linguistic modes of thematizing power and rulership can be revealed, right down to the level of the terminology employed, and the patterns, strategies, and techniques of narration can be interrogated in search of the meaning inherent in them. In the case of text–image combinations, the interplay between the literary and visual presentation of imperial and royal power and rulership can also be examined. I would now like to address briefly the conference in Hamburg that was mentioned above, for it gave an important impetus to the work of our subproject. The aim of the conference was to understand various literary genres as mediums reflecting premodern cultures of political speech, and thus to capture the function of speech rituals in constituting and representing premodern political orders. The organizers of the conference thereby raised a question that is important for our textual corpus: the question of what twelfth-century literary texts in German, the ‘Kaiserchronik’ in particular, can contribute to reconstructing the contemporary imagination of political speech, or, more precisely: what can the ‘Kaiserchronik’ contribute to a discussion that seeks ideas and impulses from what is known in German as Oratorik – a line of enquiry that has developed a distinctive research agenda concerned with the functionality of rhetoricity and the study of political speech in its actual historical contexts, the diversely mediatized, ceremonially ritualized, and consequently complex situations that

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shape it and are shaped by it?2 Answering this question would require preliminary work that is currently lacking: a new, systematic survey of the corpus of ‘Kaiserchronik’ narratives in order to identify, typologically classify, and analyse passages of political speech. Such a survey would need to consider their participants; their triggers, situations, and spaces; their ceremonial or informal contexts; their content, the courses they take, and the techniques of argumentation employed; the text-internal evaluations of what is said; the sources of speakers’ auctoritas; the relationship between confidential communication and public speech; and the possibility of and value invested in public disputes and deliberative decision-making. Consultation of the relevant scholarly literature confirms what is apparent even from skimming the text:3 passages with oral speech are, as one would expect, 2 The research interests of Oratorik are formulated here following Josef Kopperschmidt, Oratorik – ein erfolgversprechendes Forschungsprojekt?, in: Jörg Feuchter/Johannes Helmrath (eds.), Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Eigene und fremde Welten 9), Frankfurt a. Main 2008, 23–44, here 24. The following literature proved particularly helpful: Jörg Feuchter/Johannes Helmrath, Einleitung – Vormoderne Parlamentsrhetorik, in: ibid., 9– 22; Jörg Feuchter, Oratorik und Öffentlichkeit spätmittelalterlicher Repräsentativversammlungen. Zu zwei Diskursvorgaben von Jürgen Habermas, Otto Brunner und Carl Schmitt, in: Martin Kintzinger/Bernd Schneidmüller (eds.), Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter (Vorträge und Forschungen 75), Ostfildern 2011, 183–202; Josef Kopperschmidt, Rhetorik als Medium der politischen Deliberation: z. B. Aristoteles, in: Josef Kopperschmidt (ed.), Politik und Rhetorik. Funktionsmodelle politischer Rede, Opladen 1995, 74–101; Josef Kopperschmidt (ed.), Die neue Rhetorik. Studien zu Chaim Perelman, München 2006, esp. Josef Kopperschmidt, Was ist neu an der ‘Neuen Rhetorik’? Versuch einer thematischen Grundlegung, 9–72; Renate Lachmann/Riccardo Nicolosi/Susanne Strätling (eds.), Rhetorik als kulturelle Praxis (Figuren 11), München 2008, esp. Josef Kopperschmidt, Rhetorische Überzeugungsarbeit. Annäherung an eine kulturelle Praxis, 15–30. Helpful as well were: Thomas Haye, Oratio. Mittelalterliche Redekunst in lateinischer Sprache (Mittellateinische Studien und Texte 27), Leiden 1999; Thomas Haye, Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin 2005; Florian Hartmann (ed.), Cum verbis ut Italici solent ornatissimis. Funktionen der Beredsamkeit im kommunalen Italien / Funzioni dell’eloquenza nell’Italia comunale (Super alta perennis 9), Göttingen 2011. See further Charles W. Connell, Popular Opinion in the Middle Ages. Channeling Public Ideas and Attitudes (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 18), Berlin/Boston 2016. Luise Schorn-Schütte, Politische Kommunikation als Forschungsfeld: Einleitende Bemerkungen, in: Angela De Benedictis et al. (eds.), Die Sprache des Politischen in actu. Zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Sprache von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Schriften zur politischen Kommunikation 1), Göttingen 2009, 7–18. Barbara Stollberg-Rillinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Barbara Stollberg-Rillinger (ed.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung 35), Berlin 2005, 9–24. 3 Alongside a number of early studies, see in particular the following more recent work on speech scenes in the ‘Kaiserchronik’ for further details: Graeme Dunphy, On the Function of Disputations in the ‘Kaiserchronik’, in: The Medieval Chronicle 5 (2008), 77–86; Hans Fromm, Die Disputationen in der Faustinianlegende der ‘Kaiserchronik’. Zum literarischen Dialog im

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particularly common in those sections where a strict chronicle structure (in the manner of the list of emperors in the ‘Imago Mundi’ of Honorius Augustodunensis)4 recedes in favour of a stronger weighting of the narrative aspect, as a result of which the stories show clear signs of a move towards narrative autonomy. It is above all counsel whose thematization allows acts of political speech to be presented. They are of a public as much as of a confidential nature, and in some cases (as in the section on Severus and the Bavarian Duke Adelger, 6622– 7135) they are connected in such a way that they take place as a sequence in the manner of the colloquium familiare or secretum and colloquium publicum that Gerd Althoff has traced in medieval examples of oral political consultation between kings and magnates.5 Political counsel is also, however, offered in public speech without prior discussion in the ‘Kaiserchronik’, as well as being given confidentially and in non-public situations; striking here are above all scenes in which the wives of rulers make political statements to their husbands in a context 12. Jahrhundert, in: Annegret Fiebig/Hans-Jochen Schiewer (eds.), Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, 51–69; Franz Hundsnurscher, Diachrone Dialog-Analyse: Bekehrungsgespräche. Überlegungen am Beispiel der Faustinian-Geschichte in der ‘Kaiserchronik’, in: Monika Unzeitig/Nine Miedema/Franz Hundsnurscher (eds.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven (Historische Dialogforschung 1), Berlin 2011, 17–33; Ludger Lieb/ Stephan Müller, Situationen literarischen Erzählens. Systematische Skizzen am Beispiel von ‘Kaiserchronik’ und Konrad Flecks ‘Flore und Blanscheflur’, in: Wolfgang Haubrichs/Eckart C. Lutz/Klaus Ridder (eds.), Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002 (Wolfram-Studien 18), Berlin 2004, 33–57; Alastair Matthews, Narration in Transition: The Herzog Adelger Episode of the ‘Kaiserchronik’, in: Seminar 40,4 (2004), 313–326; Gesine Mierke, Riskante Ordnungen. Von der ‘Kaiserchronik’ zu Jans von Wien (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 18), Berlin 2014, esp. 230–241; Vera Milde, si entrunnen alle scentlîchen dannen. Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der ‘Kaiserchronik’, in: Ursula Schulze (ed.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, 13–34; Almut Suerbaum, Erzählte Geschichte. Dialog und Dialogizität in der ‘Kaiserchronik’, in: Wolfgang Haubrichs/Eckart C. Lutz/Gisela Vollmann-Profe (eds.), Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998 (Wolfram-Studien 16), Berlin 2000, 235–255; Christiane Witthöft, Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben. Die christlich-jüdische Disputation der Silvesterlegende in der ‘Kaiserchronik’, in: Marion Gindhart/Ursula Kundert (eds.), Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur (Trends in Medieval Philology 20), Berlin/New York 2010, 291–310. 4 See Suerbaum 2000, 239. 5 Gerd Althoff, Colloquium familiare – Colloquium secretum – Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), 145–167; Reprint in: Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, 2nd Edition, Darmstadt 2014, 157–184; Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter, Darmstadt 2016. See also JanDirk Müller, Ratgeber und Wissende in heroischer Epik. In: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), 124–146; Doris Ruhe, Ratgeber. Hierarchie und Strategien der Kommunikation, in: Karl-Heinz Spiess (ed.), Medien der Kommunikation im Mittelalter (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), Stuttgart 2003, 63–82.

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that is confidential and can even acquire intimate contours.6 This is the case in the discussion between Mähthild and Faustinian at the beginning of the Faustinian narrative (1331–1364); then in the conversation between Tarquin and his wife in the Tarquin section (4301–4834); and in the exchange between Justinian and Tarsilla in the Justinian narrative (12813–13066). It has been rightly pointed out that the passages in which counsel and assistance become thematic not only give insights into the ways in which acts of rulership function, but are also of interest in terms of narrative technique and theory. In harmony with the generation of repetition on various levels, they contribute to the coherence of the narrative and must, furthermore, be considered as narrative turning points at which different courses of action present themselves; on the level of reception aesthetics, the rejected alternative can be understood as a productive source of tension which can, by recalling the situation in which the choice was made, accompany – in the manner of a commentary – the course of action actually chosen.7

2. I now turn to the ‘Kaiserchronik’ as the primary text on which my own research in the context of SFB 1167 concentrates.8 To begin with, we should note that the text is preserved in three different versions and transmitted on a scale that is highly 6 Wolfgang Mohr refers in this context to a “Schlafkammergespräch[]” (Wolfgang Mohr, Lucretia in der ‘Kaiserchronik’, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26,4 [1952], 433–446, here 443). 7 See Mierke 2014, 231–232, and the work on the ‘Poetik der abgewiesenen Alternative’ by Peter Strohschneider and Armin Schulz cited there in nn. 27–29. 8 Edition used: Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, ed. Edward Schröder (Monumenta Germaniae Historica. Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 1,1), Hannover 1895 (Reprint München 1984) (= Schröder 1895/1984). Mathias Herweg has produced a selection of extracts with a modern German translation: Die ‘Kaiserchronik’. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Mathias Herweg (Reclams Universal-Bibliothek 19270), Stuttgart 2014 (= Herweg 2014); see 501–509 for a list of major secondary literature. See also the bibliography hosted by the Universitätsbibliothek Heidelberg for the ‘Kaiserchronik digital’ edition at https://digi.ub.uni-heidelberg.de/en/kcd/informationen/litera tur.html (29. 11. 2018). I highlight here only a selection of recent scholarship: Mark Chinca/ Christopher Young, Uses of the Past in Twelfth-Century Germany: The Case of the Middle High German ‘Kaiserchronik’, in: Central European History 49/1 (2016), 19–38; Mathias Herweg, Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen: Narratologie und Genrefragen in der ‘Kaiserchronik’, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47,2 (2017), 281–302; Mathias Herweg, Geschichte erzählen. Die ‘Kaiserchronik’ im Kontext (nebst Fragen an eine historische Narratologie historischen Erzählens), in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 146/4 (2017), 413–443; Alastair Matthews, The ‘Kaiserchronik’. A Me-

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unusual for a work of early medieval German literature.9 The original version (A) is a text in rhyming couplets with more than 17,000 lines. It was mostly likely brought to an end, albeit one that falls somewhat short of completion in the eyes of scholars,10 in the years around 1150 (or after 1146, at any event),11 possibly in Regensburg,12 by one or more unknown authors. We do not know who commissioned the work, and theories about its primary audience are correspondingly insecure; all that is clear seems to be that the work was conceived for recipients without clerical learning. A second version (B) appeared around 1200; in the process of revision, the text was modernized linguistically and metrically, as well as being shortened by around 1,600 lines. About fifty years later, version A was revised a second time, independently of version B. This third version (C) also served primarily, even if not solely, to bring the text into line with the linguistic and metrical standards of its time. In addition, however, we find here a new prologue, and the series of rulers is extended beyond Conrad III as far as Fred-

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dieval Narrative (Oxford Modern Languages and Literatures Monographs), Oxford 2012; Mierke 2014; Stephan Müller, Anfänge deutschsprachiger Chronistik im 11. und 12. Jahrhundert, in: Gerhard Wolf/Norbert H. Ott (eds.), Handbuch Chroniken des Mittelalters. Berlin/Boston 2016, 129–143 (for ‘Kaiserchronik’, see 136–143); Armin Schulz, Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im ‘Nibelungenlied’ und in der ‘Kaiserchronik’, in: Harald Haferland/Matthias Meyer (eds.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin/New York 2010, 339– 360; Claudia Wittig, Political Didacticism in the Twelfth Century: the Middle High German ‘Kaiserchronik’, in: Michele Campopiano/Henry Bainton (eds.), Universal Chronicles in the High Middle Ages (Writing History in the Middle Ages 4), York 2017, 95–119. On the transmission, see the entries for the ‘Kaiserchronik’ in the online ‘Handschriftencensus’ at http://www.handschriftencensus.de/werke/189 (29. 11. 2018), as well as Eberhard Nellmann, Kaiserchronik, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 4 (1983), 949–964; Kurt Gärtner, Die ‘Kaiserchronik’ und ihre Bearbeitungen. Editionsdesiderate der Versepik des 13. Jahrhunderts, in: Dorothee Lindemann/Berndt Volkmann/ Klaus-Peter Wegera (eds.), bickelwort und wildiu mære. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 618), Göppingen 1995, 366–379; Herweg 2014, 473–477; Jürgen Wolf, Die Kaiserchronikfassungen A, B und C oder Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Michael Szurawitzki/Christopher M. Schmidt (eds.), Interdisziplinäre Germanistik im Schnittpunkt der Kulturen. Festschrift für Dagmar Neuendorff zum 60. Geburtstag, Würzburg 2008, 91–108. Under the leadership of Mark Chinca and Christopher Young at the University of Cambridge, a synoptic edition of the three verse versions, A, B, and C, has been in preparation as part of the ‘Kaiserchronik. Literature and History in the German Middle Ages’ project since 2012; see Chinca/Young 2016, 19–24. See Herweg 2014, Stellenkommentar zu V. 17283, 458 (commentary on line 17283). The text of version A ends by recording Conrad III taking the cross at Christmas 1146. This assumption rests on the repeated references to the city and other places in the area. On the significance of Regensburg in the eleventh and twelfth century, see Claudia Märtl, Regensburg in den geistigen Auseinandersetzungen des Investiturstreits, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 42 (1986), 145–191.

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erick II (i. e. into the mid-thirteenth century);13 in one of the manuscripts containing version C, the text was even extended to 1274.14 It should be noted that the three versions were transmitted and received in parallel: it is not the case that the new version replaced the older one(s) in each case. The overview of the surviving transmission in the ‘Handschriftencensus’, an up-to-date ‘Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters’,15 lists fifty entries for the ‘Kaiserchronik’, including twenty complete or near-complete manuscripts. The sheer number of textual witnesses is impressive. It becomes even more telling, though, if we take the chronological diversity of the manuscripts into consideration: they extend from the last quarter of the twelfth to the end of the sixteenth century,16 with a readily apparent concentration in the thirteenth and fourteenth centuries. Where the geographical provenance of the textual witnesses is concerned, the AustroBavarian area is dominant, but several of them demonstrate that the text, or extracts from it, was also received in the South-West German, Central German, and Low German areas.17 In those (relatively few) cases in which the ‘Kaiserchronik’ was transmitted not in the form of its own dedicated manuscript but as part of a collective manuscript, we find it alongside texts and assemblages of texts belonging to a great variety of genres; this demonstrates the many associations to

13 The materiality of the transmission deserves greater attention; on medium-related differences in the presentation of the ‘Kaiserchronik’, see Wolf 2008a; Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert (Hermaea 115), Tübingen 2008, 209–212. 14 This ‘second continuation’, which may still have originated in the thirteenth century, is found in the single-column paper manuscript Leutkirch, Fürstl. Waldburg zu Zeil und Trauchburgsches Gesamtarchiv (auf Schloß Zeil), ZAMs 30 (previously ZM 81), from the end of the fifteenth century. However, it breaks off with an incomplete sentence at line 483. See http:// www.handschriftencensus.de/werke/189 (29. 11. 2018); the ‘second continuation’ is printed in Schröder 1895/1984, 411–416. 15 See http://www.handschriftencensus.de/werke/189 (29. 11. 2018). 16 The oldest manuscripts are Klagenfurt, Landesarchiv, Cod. GV 6/26 (1 parchment double leaf, ‘Kaiserchronik’ A), and Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276 (f. 1ra–73vb, ‘Kaiserchronik’ A). The latest manuscript is the paper manuscript München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 965, from 1594 (‘Kaiserchronik’ C). See http://www.handschriftencensus.de/werke/189 (29. 11. 2018). 17 See Kurt Gärtner, Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters, in: Werner Besch et al. (eds.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2/4), vol. 4, 2nd Edition, Berlin 2004, 3018–3042; Thomas Klein, Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik, in: Volker Honemann/Nigel F. Palmer (eds.), Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, 110–167 (128–130 on the transmission of version A of the ‘Kaiserchronik’).

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which it lent itself.18 Together, these facts bear witness to a considerable interest in the ‘Kaiserchronik’ that spanned four centuries, as well as to the immense influence of the text; they show that its medieval and early modern users attached considerable importance to the work. The ‘Kaiserchronik’ is among those works that have set themselves the task of representing world history, and it can thus be considered a text that prepared the way for a new literary tradition: that of the German-language world chronicles (in verse and prose). They began to appear impressively and influentially soon after – in the course of the thirteenth century – with the ‘Sächsische Weltchronik’, the ‘Weltchronik’ of Rudolf von Ems, the ‘Christherre-Chronik’, and the chronicle of Jans von Wien, thereby documenting the increasing textualization of the vernacular and the growing number of fields being drawn into that process.19 The 18 See Chinca/Young 2016, 23: “The Kaiserchronik appears together with Bible epics and vernacular theology in the case of Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276, and with saints lives in that of Prague, Národní knihovna Ceské republiky, Cod. XXIII G 43; it keeps company with secular courtly romances end epics in Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2779; it is transmitted with historiography in Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 154, which inserts the episodes of Theodosius and Julianus into the text of a German translation of Martin of Troppau’s chronicle of popes and emperors. Finally, the fascicle containing the Kaiserchronik in the Vorau Codex was bound together with a second fascicle (copied in Vorau between 1185 and 1202) that contains Otto of Freising’s Gesta Friderici imperatoris; it is unlikely that the two fascicles were originally conceived as a pair (the vernacular part may not even have been copied in Vorau), but the binding of the codex is fifteenth-century, so they must have been joined together by that time.” See also ibid. 23 n. 17 (for further reading), 24 (for discussion of the transmission of the ‘Kaiserchronik’ together with German and Latin chronicles, again with further reading). 19 Graeme Dunphy has emphasized that the ‘Kaiserchronik’ itself cannot be counted among the world chronicles: it does not begin with the creation of the world narrated in the Old Testament, “and hence the absence of Old Testament material has led scholars to speak of this as not being the ‘full form of the genre’” (Dunphy 2008, 77). In this respect, the combination of the text with the ‘Vorauer Bücher Moses’ in the Vorau manuscript (Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276, on which see Kurt Gärtner, Vorauer Handschrift 276, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 10 [1999], 516–521) indicates an effort to ‘complete’ the ‘Kaiserchronik’ with the appropriate material and thereby bring it into line with a contemporary horizon of expectations supplied by the tradition of Latin world chronicles; see Herweg 2014, 479: “Anders als seine volkssprachigen Nachfolger, die im Regelfall mit der Schöpfung einsetzen und, zumindest der Intention nach, die gesamte Ökumene umgreifen […], schreibt der Kaiserchronist seinem Anspruch nach keine Welt- und Universalchronik, sondern bietet einen auf das vierte Weltreich nach Daniel, das sechste Weltalter nach Augustinus, und geographisch auf Europa beschränkten Auszug.” On the world chronicle text type, see Anna-Dorothee von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957; Michele Campopiano, Introduction: New Perspectives on Universal Chronicles in the High Middle Ages, in: Michele Campopiano/ Henry Bainton (eds.), Universal Chronicles in the High Middle Ages (Writing History in the Middle Ages 4), York 2017, 1–18; Kurt Gärtner, Die Tradition der volkssprachigen Weltchronistik in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Stephan Füssel (ed.), 500 Jahre ‘Schedelsche Weltchronik’. Akten des interdisziplinären Symposions vom 23./24. April 1993

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‘Kaiserchronik’ concentrates on non-biblical history, more specifically the history of the Roman Empire. The latter is presented in a series of lives or gesta for individual rulers that extends from Julius Caesar (d. 44 bc) to the Roman-German King Conrad III (d. 1152). The prologue of version A formulates the programme of reporting von den bâbesen unt von den chunigen, / baidiu guoten unt ubelen (“about the popes and kings, both good and evil”; 19–20); in practice, the text turns out to concentrate on the chunige (“kings”), while popes are, on the whole, of secondary importance. Thirty-six sections are devoted to the Roman emperors of antiquity, not all of whom, however, are historically authentic; nineteen sections are concerned with Roman-German emperors.20 In the history of rulership as presented in the ‘Kaiserchronik’, the focus lies, as Gesine Mierke has put it, on “der ungebrochenen Herrschaftsnachfolge im weströmischen Reich und der Ausfüllung des Körpers der Macht”.21 Even though some emperors are omitted or presented out of sequence, resulting in glaring deviations from the series temporum known at the time, the ‘Kaiserchronik’ claims to impart, analogously to the Latin tradition, true knowledge about the past and the course of history (27–40). At the same time, it makes available a reservoir of exemplary and entertaining stories that result in it becoming a “Pionierstück volkssprachiger Erzählkunst”.22 It combines historia and fabula, and is thus at once a “Geschichts- und Geschichtenbuch”.23 It comes as a surprise to modern recipients to find that the claim to truthfulness expressed so insistently in the prologue (1–42) is not grounded primarily in the facticity of the events reported:24 the narrativization of history is invested with its own significance, and thus the representation of the past, particularly in the ‘Roman’ part, introduces numerous

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in Nürnberg (Pirckheimer-Jahrbuch 9), Nürnberg 1994, 57–71; Matthias Herweg, Erzählen unter Wahrheitsgarantie: Deutsche Weltchroniken des 13. Jahrhunderts, in: Gerhard Wolf/ Norbert H. Ott (eds.), Handbuch Chroniken des Mittelalters. Berlin/Boston 2016, 145–179; Dorothea Klein, Durchbruch einer neuen Gattung: Volkssprachige Weltchroniken bis 1300, in: Christa Bertelsmeier-Kierst/Christopher Young (eds.), Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001, Tübingen 2003, 73–90; Frank Shaw, Die ‘Kaiserchronik’-Rezeption in der ‘Weltchronik’ Heinrichs von München, in: Dorothee Lindemann/Berndt Volkmann/Klaus-Peter Wegera (eds.), bickelwort und wildiu mære. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 618), Göppingen 1995, 380–392. On the differing tallies in the secondary literature, see Herweg 2014, 480, n. 57. Mierke 2014, 227. Herweg 2014, 466. Ibid., 467. On this, see Herweg 2016; Suerbaum 2000, 237–238 (citing Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ‘Policraticus’ Johanns von Salisbury (Ordo 2), Hildesheim 1988, 208–238); Peter Johanek, Die Wahrheit der mittelalterlichen Historiographen, in: Fritz P. Knapp/Manuela Niesner (eds.), Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), Berlin 2002, 9–25.

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narratives that work with classical subject matter and stories, native traditions such as heroic legends and heroic poetry, and hagiographical material.25 It was perhaps precisely this combination of “history and fiction”26 that was responsible for the great success of the ‘Kaiserchronik’. A unifying thematic focus for this process was to be found in the complex of ‘power–rulership–love’.

3. Mention has already been made of the section about Emperor Severus and the Bavarian Duke Adelger (6622–7135).27 The political, but also narrative and poetological significance of counsel becomes particularly apparent in this section, which will now be considered in detail for that reason. The aim is to illuminate the functionality of the relevant acts of speech in the context of the depicted political situations in which they are embedded. On the basis of its cast of characters and plot, the narrative can be classified as what is known as an Empörergeschichte (“revolt narrative”) insofar as the disruption of the social order originates with the power- and status-conscious Bavarian Duke who repeatedly pits himself against the Emperor. His actions, however, are neither specified more closely nor motivated in the text: it is thus only the conflict in itself that appears to be important for the construction and functioning of the narrative. Accordingly, the narration picks up events at the point where the potential 25 The standard work on the sources of the ‘Kaiserchronik’ remains Ernst F. Ohly, Sage und Legende in der ‘Kaiserchronik’. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 10), Münster 1940 (Reprint Darmstadt 1968). On the peculiar combination of facts and fictions in the ‘Kaiserchronik’, see Chinca/ Young 2016, 23: “The medieval public seems not to have had any difficulty with the Kaiserchronik’s inaccurate and often idiosyncratic account of history. On the contrary, the facts of recension, transmission, and reception all suggest that the chronicle enjoyed widespread acceptance as a work that transcended distinctions between fact and fable, history and poetry, the secular and the religious – distinctions that medieval audiences certainly recognized but considered secondary to other criteria (such as moral utility or religious orthodoxy) when it came to determining whether a narrative located in the historical past had a serious claim on their attention. Neither the B nor the C recension of the Kaiserchronik attempts to make factual corrections to the account of Roman and German history presented in A.” See also the references to further reading on the theme of historical and fictional narration in ibid., n. 16. 26 Ibid., 24. 27 The historical foundations remain unclear. Severus could be Lucius Septimius Severus (193– 211), who, as Ohly already noted, is the only one of that name who would fit the chronological context of the ‘Kaiserchronik’, or his great-nephew Severus Alexander (222–235). In neither case, however, does the reign of six-and-a-half years stated in the ‘Kaiserchronik’ (7129) fit the historical facts. For this reason, Ohly also mentions “der letzte Severus, der von 461 bis 465 im Westen regierte”; the numerical deviation would be the lowest in his case (Ohly 1940/1968, 151). On the Adelger episode, see in particular Lieb/Müller 2004 and Matthews 2004, both with references to earlier research.

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consequences of these incidents become a cause of concern for the Romans, supporters of the imperial cause who are not identified specifically: the opinion in circles around the ruler is that, if the Emperor does not take action against the Bavarian Duke who is repeatedly abusing his hulde (“goodwill”), the situation will escalate and endanger his êre (“honour”; 6630–6635). Messengers are consequently sent to Adelger summoning him to present himself in Rome: der cunic wolte mit im rede hân, / er hête wider sînen hulden getân (“the Emperor wanted to speak to him; he had abused his goodwill”; 6638–6639). These circumstances form the background to the first counsel scene in the episode, which consists of a straightforward exchange between the Duke and an old advisor. Adelger’s account of the situation both indicates its political precarity and demonstrates his own awareness of the latter – he mentions being in grôz ungemuote (“great disquiet”; 6645) – and it is this that motivates turning to an advisor. The latter is a man, / den er dike ze sînem râte nam (“man whom he often consulted”; 6640–6641). Adelger summons him zu sîner chemenâten (“to his chamber”; 6642). The Duke thereby seeks help in a discussion outside the public sphere with a man whom he trusts, from whom he has already sought advice several times in the past, and who – we must assume – lived up to what was expected of him. It falls to the Duke to set out the problem that needs to be addressed. Three components can be distinguished in what he says. First, we have the opening declaration with its phatic and appellative function.28 Words of appreciation for the intelligence of the addressee (re-)establish linguistic contact and articulate the speaker’s attitude towards the person being addressed; they ground both the exclusivity of the relationship between the two conversants and the Duke’s decision to consult this particular advisor before anyone else (6643), and seek in this way to win over the addressee. The referential function of language – supplying information about the state of affairs that pertains – is confined to a few brief remarks which set out the fact that the Romans have sent for the Bavarian Duke (6647) and classify them as ain grimmigiu diet (“a fearsome people”; 6648). This statement of the situation is unmistakably overlaid by the expressive, emotive function of language, where the assessment of the political state of affairs simultaneously reveals the speaker’s attitude: the categorization of the situation as one of grôz ungemuote (“great disquiet”; 6645) is explained by Adelger’s fear that he will be met in Rome with a humiliating reception that will dishonour him – ich vurchte, daz si mich scenden (“I am afraid that they will cast 28 The functions of language are classified and distinguished here following Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, ed. Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. Main 1979, 83–121. On the difference between the referential, emotive, conative, phatic, metalingual, and poetic functions, see ibid., 88–93; Theodor Lewandowski, Sprachfunktionen, in: Theodor Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, vol. 3, 6th Edition, Heidelberg/Wiesbaden 1994, 1015f.

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shame on me”; 6647). This in turn explains why he is reluctant to follow the Emperor’s summons. The answer of the advisor, whose age (6652) stands for his considerable political experience, begins with an act of speech in which the phatic, appellative, and emotive functions are intertwined. The advisor’s response picks up the appreciation for his work formulated earlier by the Duke, bearing it out by identifying counsel in the interest of the Duke’s êre (“honour”) as nothing short of an existential concern: alse gerne sô ich lebe, / sô rât ich dîn êre (“Giving you counsel with regard to your honour is as dear to me as my own life”; 6653–6654). After the ground has thus been prepared, disagreement can be articulated on the basis of the conviction that it is inappropriate – and thus wrong – to oppose Rome: du nemaht niht gevehten / wider rômischem rehte (“You cannot stand against the law of Rome”; 6660–6661). As Friedrich Ohly put it, “Reich und Krone sind unbedingt in ihrem Rechtsanspruch.”29 The counsel given on this basis is not to shy away from travelling to Rome; instead, Adelger should summon his holden (“vassals”; 6657), have them clothed appropriately (6658–6659), and go with them to Rome to honour the Crown (6663). This is about undergoing the harnscar (“punishment”; 6664) required by the Emperor, thereby acknowledging what is due to him by law and respecting what he can lawfully demand on that basis – alles rehtes wis im gar (“be prepared to do all that the law demands for him”; 6665). It means being prepared to carry out a “schmerzliche u[nd] beschimpfende dienstleistung”30 as atonement for erroneous behaviour. With the repeated employment of the term reht (“law”; 6661, 6665), the argumentation stresses on the one hand that the Emperor has the right to expect retribution by virtue of his office, but also, on the other hand, that there are limits for him in what he can lawfully impose (6665–6667): an “Übergriff des Richters über das in Freiheit anerkannte Recht ist Verletzung der Ehre”.31 The acceptance of this counsel by Adelger results in the Bavarian Duke and the Emperor encountering each other in person. In contrast to what would be expected on the basis of the advisor’s reasoning and expectations, this meeting develops into a bitter confrontation that cannot be covered in detail here. It should, though, be noted that the Emperor intends to kill Adelger in revenge for the disruptions of order that were committed by the latter and humiliating for the former; the Emperor thereby ignores both the safe passage accorded to the 29 Ohly 1940/1968, 153. 30 Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, vol. 1, Leipzig 1872 (Reprint Stuttgart 1992 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner), 1184, s. v. harm-, harnschar. Vgl. Georg F. Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, vol. II/2, Leipzig 1866 (Reprint Hildesheim 1963), 153a, s. v. harmschar, harnschar: “was zur kränkung, pein und qual auferlegt oder angestiftet wird; strafe, plage, noth”. 31 Ohly 1940/1968, 153.

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Bavarian Duke and the Duke’s publically stated readiness to regain the hulde (“goodwill”; 6682) of the Emperor by submitting to justice in the form of judgment passed collectively by the Romans. Even the hope of genâde (“mercy”; 6683) expressed by the Duke is turned away by Severus, who insists that his vassal should be beheaded in revenge for wrongs done and wants to give his domain to another overlord (6672–6687). The killing of Adelger is averted only by the protest of the Romans and the intervention of the Senate, which deliberates and decides to gescenden (“place shame on”; 6696) the Bavarian Duke by cutting his clothing off at the knees and clipping the hair at the front of his head in order thereby to entêwen him (“strip him of legitimacy”; 6698),32 that is, to deprive him of his position (as a lord).33 The next scene sheds light on the reactions of those affected: the Duke is seized with anger, and his holden (“vassals”; 6705) are very upset. There seems to be no way out of the situation, which brings the old advisor back into the picture. The second counsel scene throws his ingenious strategic cunning into relief with a proposal whose aim is to neutralize the measures taken by the Romans: he recommends that the Bavarian Duke should, by bestowing fiefs and material goods, persuade all his followers to imitate him and have their own hair cut short – counsel given in an earnestness that is underlined by the advisor’s assurance that he is prepared to forfeit his life if this course of action is not successful (6727– 6728). This advice lies at the core of what he has to say and is, similarly to the scene analysed above, flanked by acts of speech that are appellative and emotive in nature. They include urging the Duke to continue to trust and follow him in order to ensure that the matter is resolved in a way that brings the Duke honour (6706–6711). Êre (“honour”) proves here to be a well-chosen and crucial keyword, for the Bavarian Duke immediately picks it up and places it at the centre of his reply. Preserving his êre in the face of the disgrace that the Romans sought to impose is the prerequisite for returning to his accustomed place (6712–6719).34 The plan 32 Entêwen is glossed as “gesetzlich ungültig, unmöglich machen” in Lexer 1872/1992, vol. 1, 569 (this ‘Kaiserchronik’ passage is the only occurrence of the word on which the entry is based). 33 “Das Scheren des Haupthaares ist ein in fränkischer Zeit (also der anzusetzenden Ursprungszeit der Sage) gebräuchlicher Akt, Mitglieder der Königssippe symbolisch des ‘Fürstenheils’ zu berauben und zur Herrschaftsführung unfähig zu machen. In der Regel schickte man das Opfer danach ins Kloster. Ein prominenter Fall betraf den durch Karl den Großen abgesetzten historischen ‘Nachfolger’ des sagenhaften Adelger, Herzog Tassilo III. von Baiern (787)” (Herweg 2014, 439 [commentary on lines 6696–6698]). 34 On the importance of considering the rank and reputation of lords, see the instructive article by Knut Görich, “… damit die Ehre unseres Onkels nicht gemindert werde …”. Verfahren und Ausgleich im Streit um das Herzogtum Bayern 1152–1156, in: Peter Schmid/Heinrich Wanderwitz (eds.), Die Geburt Österreichs: 850 Jahre Privilegium minus (Regensburger

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can be put into practice only by action on the part of the Duke himself. In this respect, the text highlights that he has his followers appear before him individually and attempts to make them pledge unconditional support in one-onone conversations. A public consultation, it would seem, is not desirable given the volatile situation and the equally volatile proposal to get out of it by sharing the punishments collectively in order to turn them against their original intention; instead, a suntersprâche, a “confidential conversation” (6731), is required.35 Because all his followers affirm their willingness to serve him unto death and consequently shorten their garments and hair, it is possible to re-code the symbolic language of the dishonouring punishment. The original intention of making the disgrace imposed on an individual ruler (the leader of the Bavarians) by the rîche (“Empire”) visible in his hair and clothing is countered by the voluntary action of the collective – as the narrator specifically emphasizes in a veritable encomium to their fine appearance. The assets of physical height and imposing stature, glowing skin, and radiant beauty become, the text implies, fully clear to the eye only following the measures that have been taken (6746–6752), and the admiration with which the Roman nobility marvels at the Bavarian men (6753–6759) removes any prospect of dishonour. The ‘Kaiserchronik’ also includes, after the first confrontation between Duke and Emperor, a second one that is caused by the Emperor’s untrustworthiness and breaking of his word. Instead of showing the minne (“favour”; 6781) and friuntscaft (“friendship”; 6813) that were to be expected when Adelger departed, Severus summons him to his court again. As before, the events that lead to this move are not revealed; the narrator does, however, underline the displeasure of the Romans at this arbitrary act of rulership (6816–6817). The fact that the Emperor, in contrast to the previous conflict with Adelger, has now managed to lose the backing of his own side, helps to make ambiguous the guilt that was initially so categorically attached to the Bavarian Duke (the waters have, of course, already been muddied somewhat by the Emperor’s disregard for the conferral of safe passage and refusal to show mercy). The Bavarian Duke finds himself once more facing the decision ob er ze hove solte, / oder dâ haime solte bestân (“whether he should to go the court or remain at home”; 6831–6832). As a result, a third consultation with his experienced advisor is on the cards, albeit against a different background: Adelger was forced to leave his alten dienestman (“old ministerialis”; 6826) behind with the Emperor against his will when it became clear that this most important counsellor had ultimately been responsible for the stratagem of collectively adopting the symbols of atonement (6777– Kulturleben 4), Regensburg 2007, 23–35. I would like to thank Florian Hartmann for drawing my attention to this article. 35 See Herweg 2014, 440 (commentary on line 6731).

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6787). Setting to one side the new loyalty owed by his former advisor, the Duke secretly sends a messenger to him to remind him of der alten triwen (“his old allegiance”; 6827) and ask him to report the Emperor’s intentions (6824–6830). This request, however, is initially rebutted: the advisor emphasizes his obligation to serve the Empire faithfully in his new position. As an alternative to the anticipated plain-language information about the Emperor’s plans, the advisor then offers the prospect of a spel (“a coded tale”; 6842) which will be delivered in a public performance at the imperial court in the presence of both the Emperor and the messenger from the Bavarian Duke; the messenger is told to take careful note of the narrative and pass it on to his master accurately. When he presents this scône spel (“fine tale”; 6851) to the Emperor, the old advisor claims that he himself heard it from his father. The narrative action is thereby situated in an indeterminate past, even though, as soon becomes clear, connections can be drawn with the current political situation. Scholars have determined that this ‘narrative in the narrative’ of sixty-seven lines (6854–6921) involves a story that is also documented elsewhere, specifically in Latin chronicles and hagiography, and is associated on the one hand with the life of Theodoric and on the other hand with the fortunes of a Bavarian Duke Theodo. The various versions of this story are distinguished by interesting differences that – like the diverging efforts to reconstruct the evolution of the material – cannot be considered here.36 In the ‘Kaiserchronik’ version, two protagonists confront each other: a man who derives much pleasure from a fine vegetable and herb garden that he tends with great care, and a stag that repeatedly enters the garden at night and lays waste to it. When the gardener catches the stag in the act and manages to cut off one of its ears and half of its tail, the threat seems to have been neutralized. The hope that the pain will prevent the animal from returning again, however, turns out to be misguided: as soon as its wounds have healed, the stag lays waste to the garden once more. The gardener, though, manages to trap the creature with the help of nets through which it cannot escape, spears it in the belly, and grallochs it. When he briefly departs from the scene, a vixen slips in and, unnoticed, takes the stag’s heart away. For the gardener, who notices the absence of the heart, it seems as though the stag had never had one, as he tells his wife in amazement. She, however, finds the animal’s ‘heartlessness’ not remarkable but, on the contrary, exactly what one would expect: how else was it to be explained that the creature had entered the garden again after being painfully injured there? What happens to the stag – the painful physical mark left by its first encounter with the gardener – can be related to what happened to the Bavarian Duke on his first confrontation with the Emperor in Rome. Thus, from the moment it turns to the killing of the animal when it encounters the gardener a second time, the 36 See above all Ohly 1940/1968 und Lieb/Müller 2004.

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narrative can be understood as a cautionary fable. The only person in the world of the Severus–Adelger episode, however, who takes it in this sense is the Duke, with whom in mind it could almost have been designed. No mention is made of how the Emperor Severus understands the story, and it is meaningless for Adelger’s messenger, who returns from Rome annoyed by the apparently worthless information given by the one-time advisor. This is because he listens to it, as the text puts it, ainvalteclîche (“naively”; 6924): he perceives only its literal meaning, not the figurative one. The Duke, unlike his messenger (and very probably unlike the Emperor as well), grasps what the narrative of his old advisor can tell him with its two meanings, and he is thus able to explain to his men at a specially convened assembly: Rômære wellent mit nezzen / mir mînen lîp versezzen (“The Romans intend to entrap me in nets”; 6944–6945). Consequently, it is made known in Rome that the Duke is not going to present himself. The campaign on which Severus embarks in response is lost, and Severus himself dies. The Bavarian Duke wins a historic victory (7130–7135) not least because he is in a position to interpret coded political counsel. The text constructs a situation in which ‘open language’ is politically and ethically not an option, and coded speech is the only conceivable way out of the situation. Taking this path, however, requires special qualifications, both on the part of the person giving the counsel and on the part of the person at whom the counsel is directed. It requires an advisor who has not only presence of mind and resourcefulness, but also eloquence and a rhetorical ability that includes the register of the fable narrative; and it requires the addressee of the counsel to have an intellectual training that enables him to deal with speech that has a double meaning, identify its hidden layers of meaning, and thereby exploit its potential. Moreover, the fact that spoken counsel in the Severus–Adelger section of the ‘Kaiserchronik’ ultimately takes the form of narration that requires interpretation, can surely be understood as hinting at what can be achieved through the narrative mediation of history – a form that characteristically defines the ‘Kaiserchronik’. In this sense, this striking presentation of coded political counsel can be understood as making a hidden, yet unmistakable case for the relevance of the text as a whole, which thereby asserts its claim to validity as a narrative text in the context of reflection on power and rulership.

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Konrad Klaus

Die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir, dargestellt nach der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ des Kalhana1 ˙ ˙

Abstract The main concern of this article is to ascertain what Kalhana’s ‘Ra¯jataran˙gin¯ı’, a history of ˙ ˙ the kings of Kashmir written in the mid-twelfth-century, tells us about the royal succession in medieval Kashmir. The text contains altogether 108 instances where somebody’s accession to the throne is either explicitly mentioned or can at least be implied. In about fourfifths of these instances a dead, or abdicated, or banished king is followed either by his son, usually his eldest son, or his brother, usually his next eldest brother, or another male blood relative. This ratio leads to the assumption that in medieval Kashmir the royal succession was considered as a special case of inheritance, and this assumption is supported by the text in a number of ways: It is suggested by several of the narrator’s comments on the historical events reported by him; the characters within the narrative world often act as if a near male relative of the old king is almost automatically entitled to become his heir; and pretenders sometimes try to strengthen their claims on the throne by referring to their lineages. But this is not yet all that can be said on the issue. A perusal of those instances in which Kalhana ˙ chronicles a case of succession in some detail clearly shows that in most cases, the accession to the throne of a male relative of the former king was the end, sometimes only the preliminary end of a power struggle in which several persons and/or groups of persons partly in secret, partly in public tried to enforce the selection of their own favorite or at least to enhance their position at the Kashmiri court. Moreover, by reading the relevant text passages it becomes evident that Kalhana draws a ˙ clear distinction between the ra¯jan, the person of the king, and his ra¯jya, his kingship. Kingship is for him, so it seems, a kind of property of the royal family which on the one hand bestows on the king as head of the royal family a substantial right of use and enjoyment of the land as well as a substantial authority over the inhabitants of his kingdom, but on the other hand also imposes on him a substantial duty of care for the land and the people living in it. How properly he exercised his right of use and enjoyment of the land and his authority over the inhabitants of his kingdom, and how dedicatedly he attended to his duty of care for the land and the people living in it, these were the criteria according to which Kalhana ˙ evaluated his reign.

1 Ich danke Frau Theresa Wilke, Bonn, für ihre Hilfe bei den Recherchen für den vorliegenden Aufsatz und Herrn John Stavrellis, Köln, für seine Hilfe bei der Formulierung des Abstracts.

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Konrad Klaus

Im Zusammenhang mit der Frage, wie es in vormoderner Zeit um das Verhältnis von personalen und transpersonalen Elementen von Macht und Herrschaft bestellt war, inwieweit zum Beispiel die Menschen des frühen und hohen Mittelalters über die Fähigkeit verfügten, „die Königsherrschaft losgelöst von der Person des jeweiligen Königs und damit als abstrakte Größe zu begreifen“, oder inwieweit sie, anders gesagt, „zwischen der öffentlichen Funktion des Königs als überzeitlichem Repräsentanten des Gemeinwesens und seiner Eigenschaft als sterblicher Mensch zu unterscheiden wusste[n]“,2 stellt die Untersuchung von „Formen der Stellvertretung“ und von „Nachfolgeregelungen“ sowie des „Phänomens der Regentschaft“ innerhalb des Sonderforschungsbereichs 1167 eine zentrale Aufgabe dar,3 und zur Erledigung eben dieser Aufgabe soll der vorliegende Aufsatz beitragen. Dessen eigentliches Thema ist, wie der Titel verrät, die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir,4 doch möchte ich eingangs kurz die ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ vorstellen, den Quellentext, auf dem meine Ausführungen im ˙ Wesentlichen beruhen. Es handelt sich dabei um ein Mitte des 12. Jahrhunderts von einem gelehrten Brahmanen namens Kalhana verfasstes, episch-chronika˙ lisches Werk, in dem in nicht ganz 8000 Strophen die Geschichte der Herrscher von Kaschmir von einer mythischen Anfangszeit an bis hin zur Abfassungszeit des Werkes erzählt wird. Insgesamt umfasst die ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ einen Zeitraum ˙ von fast 3600 Jahren, konkret die Zeit von – umgerechnet – 2448 v. Chr., dem Jahr der Weihe des ersten kaschmirischen Königs, bis 1149/50 n. Chr., dem Jahr, in dem Kalhana das Werk zum Abschluss gebracht hat. Für das Verständnis der ˙ nachfolgenden Ausführungen scheinen mir vor allem zwei Dinge wichtig zu sein.5 Zum einen lassen sich in der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ zwei Teile voneinander unter˙ scheiden, ein erster, vergangenheitshistorischer Teil, der gut ein Drittel, und ein zweiter, zeitgeschichtlicher Teil, der knapp zwei Drittel des Textes ausmacht. Der erste Teil, der die Strophen I, 1 bis VII, 229 umfasst und die Geschichte des Kaschmirtals bis zum Jahr 1063 n. Chr. behandelt, ist im Wesentlichen biogra2 Matthias Becher, Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich. Einführende Gedanken, in: ders. (ed.), Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017, 9–20, hier 15f. 3 Vgl. https://www.sfb1167.uni-bonn.de/spannungsfelder/spannungsfeld-b (31. 07. 2019). 4 Die Wortwahl soll in diesem Fall nicht implizieren, dass es im Verlauf der kaschmirischen bzw. der südasiatischen Geschichte ein ‚Mittelalter‘ als eigenständige Epoche gegeben hat. Vielmehr bedeutet ‚mittelalterliches Kaschmir‘ lediglich so viel wie ‚Kaschmir in der Zeit zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert‘, vgl. Walter Slaje, Kaschmir im Mittelalter und die Quellen der Geschichtswissenschaft, in: Indo-Iranian Journal 48 (2005), 1–70, hier 4–6. 5 Vgl. zum Folgenden ausführlich Konrad Klaus, Kalhanas ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘: ein indisches ˙ von Macht und ˙ Herrschaft. Die Pendant zur Kaiserchronik?, in: Elke Brüggen (ed.), Erzählen ‚Kaiserchronik‘ im Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung (Macht und Herrschaft 5), Göttingen 2019, 133–160.

Die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir

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fisch strukturiert; er setzt sich aus einer langen Reihe von Herrscherporträts zusammen, die gleichermaßen auf diversen schriftlichen Quellen und mündlich überliefertem Erzählgut basieren und nach Art und Umfang sehr unterschiedlich ausfallen. Beim zweiten Teil, der die Strophen VII, 230 bis VIII, 3406 umfasst, handelt es sich dagegen um eine zusammenhängende, sich über die Jahre 1063 bis 1149 erstreckende, für indische Verhältnisse vergleichsweise realistische Darstellung der wichtigsten politischen Ereignisse in Kaschmir, die im Wesentlichen auf Augenzeugenberichten aus erster und zweiter Hand basieren dürfte und in die die Porträts der insgesamt neun in diesem Zeitraum regierenden Könige gewissermaßen eingewoben sind. Weiterhin ist es wichtig zu wissen, dass Kalhana sich nicht als ‚bloßer‘ Chronist ˙ oder Historiograph versteht, sondern darüber hinaus auch als kavi, d. h. als „Dichter“, als jemand, der vermag, über Zeit und Raum hinwegzuschauen und mithilfe seiner besonderen Imaginationskraft die Personen und die Ereignisse vergangener Zeiten wieder lebendig werden zu lassen. Das Erzählen (kathana, varnana) über vergangenes Geschehen (bhu¯ta¯rtha)6 ist für ihn kein Selbstzweck, ˙ und es dient auch nicht allein dazu, für sich selbst und die Protagonisten des Werkes einen dauerhaften „Ruhmeskörper“ (yas´ahka¯ya) zu schaffen und so sich ˙ selbst und ihnen Unsterblichkeit zu verleihen.7 Vielmehr will Kalhana den Lesern ˙ seines Werkes am Beispiel des Schicksals der kaschmirischen Könige und der sie umgebenden Personen die Flüchtigkeit und die Kontingenz des Weltgeschehens vor Augen führen und sie zur Abkehr von der Welt bewegen. Wenn wir uns nach diesen einleitenden Bemerkungen nun der Frage zuwenden, welches im mittelalterlichen Kaschmir die bestimmenden Faktoren bei der Thronfolge waren,8 so ist zunächst einmal zu vermerken, dass es ebendort in vormoderner Zeit nach allem, was wir bislang wissen, keine irgendwie festgeschriebenen Regelungen für die Thronfolge gegeben hat, von denen ausgehend wir uns dem Thema annähern könnten. Daher bietet es sich an, unsere Unter6 Vgl. bhu¯ta¯rthakathane in Ra¯jataran˙gin¯ı I, 7 und bhu¯ta¯rthavarnane in Ra¯jataran˙gin¯ı I, 10. Alle ˙ ¯ı‘ beziehen sich, wenn ˙nichts anderes vermerkt ˙ Verweise auf den Text der ‚Ra¯jataran˙gin ist, auf ˙ Ausgabe (Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı or Chronicle of die 1892 von Marc Aurel Stein vorgelegte ˙ Bombay 1892) the Kings of Kashmir. Bd. 1: Sanskrit Text with Critical Notes,˙ ed. Marc A. Stein, unter Einbeziehung der Varianten der Handschrift L, die Stein in den Anmerkungen zu seiner 1900 vorgelegten Übersetzung (Marc A. Stein, Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı. A Chronicle of the ˙ Kings of Kas´mı¯r. Translated, with an introduction, commentary, and˙ appendices, 2 Bde., Westminster 1900) mitgeteilt hat. Die deutschen Übersetzungen von Zitaten aus der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ stammen vom Verfasser, lehnen sich aber vielfach an die sehr guten Übersetzungen ˙ von Stein an. 7 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı I, 3. ˙ 8 Größere Vorarbeiten für die Behandlung dieser Frage liegen nicht vor. Vgl. immerhin Krishna S. Saxena, Political History of Kashmir (B. C. 300 – A. D. 1200), Lucknow 1974, S. 282–284, und Krishna Mohan, Early Medieval History of Kashmir [With Special Reference to the Loharas, A. D. 1003–1171], New Delhi 1981, S. 80–84.

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suchung mit der Feststellung zu beginnen, dass Kalhana von insgesamt 141 ˙ Personen – 138 Männern und drei Frauen – weiß, die in dem von ihm behandelten Zeitraum den Thron in Kaschmir bestiegen haben. Da allerdings einerseits zu seiner Zeit die Namen und Taten von 35 Königen der Frühzeit (Nr. 5–39) vollständig in Vergessenheit geraten waren9 und drei Könige der Frühzeit, nämlich 51Huska,10 52Juska und 53Kaniska, nach seiner Kenntnis gleichzeitig re˙ ˙ ˙ giert haben,11 dafür andererseits ein König, 115Cakravarman, drei Amtszeiten und zwei Könige, 113Pa¯rtha und 139Sussala, jeweils zwei Amtszeiten zu verzeichnen hatten,12 sind es letztlich 108 Thronbesteigungen, die im Text Erwähnung finden. Dabei werden allerdings nicht alle Situationen, in denen ein Herrscher auf den anderen folgt, auch umfassend auserzählt, sondern in vielen Fällen, zumal im vergangenheitshistorischen Teil der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘, begnügt Kalhana sich mit ˙ ˙ der bloßen Aufzählung von aufeinanderfolgenden Königen. Als Beispiel können vier Strophen im ersten Buch der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ dienen, die Angaben über fünf ˙ aufeinanderfolgende Könige enthalten: „Darauf herrschte dessen Sohn 68Ksitinanda, den die Göttin als Wurzelknollen vom ˙ Baum der [königlichen] Familie übriggelassen hatte,13 dreißig Jahre lang über die Erde. (336) Dessen Sohn, 69Vasunanda mit Namen, berühmt als Verfasser eines Lehrbuchs über die Liebe, beschützte die Erde 52 Jahre und zwei Monate lang. (337) Dessen Sohn 70Nara war sechzig Jahre lang Herrscher (vibhu), ebenso lange dessen Sohn ¯la errichten ließ. (338) 71Aksa, der das Dorf Aksava ˙ ˙ Dann behütete dessen Sohn 72Gopa¯ditya die Erde mitsamt den Inseln [um sie herum], der die glücklichen Verhältnisse des anfänglichen (d. h. goldenen) Zeitalters vor Augen führte, indem er sich um die Stände und Lebensstufen kümmerte (d. h. für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung sorgte). (339)“14

9 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı I, 83. ˙ 10 Die tiefgestellte Ziffer vor dem Namen eines Königs gibt an, welchen Platz er in der langen Reihe der kaschmirischen Könige einnimmt. 11 Vgl. Stein 1900, Bd. 1, 76. 12 Zu 115Cakravarman und 113Pa¯rtha vgl. unten, S. 157f., zu 139Sussala unten, S. 166. 13 68Ksitinandas Vater 67Baka und seine sämtlichen Brüder und Neffen waren zuvor von einer hier˙ als „Göttin“ (devı¯) bezeichneten Yogameisterin (yoges´varı¯) in einem tantrischen Ritual geopfert worden, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı I, 331–333. ˙ 14 Ra¯jataran˙gin¯ı I, 336–339: ˙ devya¯ kulataroh kandah ksitinando ’vas´esitah | ˙ trim´sad ˙ vatsara ˙ ˙ ¯m ||336|| tatas tasya sutas ¯ n anvas´a¯˙n mahı ˙ ´ dva¯pañca¯satam abda¯n ksma¯m dvau ca ma¯sau tada¯tmajah | ˙ ¯ tasmaras´a¯strakrt ||337|| ˙ apa¯sı¯d vasunanda¯khyah˙prakhya ˙ ta¯vato ’ksas´ ca tatsutah ˙ | narah sastim tasya su¯nus ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ varsa¯n abhu¯d vibhur gra¯mam yo ’ksava¯lam aka¯rayat ||338|| ˙ gopa¯dityo ’tha ksma¯m ˙ sadvı¯˙pa¯m tada¯tmajah | jugopa ˙ ˙ ˙ varna¯´sramapratyaveksa¯dars´ita¯diyugodayah ||339||.˙ ˙ ˙ ˙

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Am Ende bleiben auf die Weise etwa 45–50 Fälle übrig, in denen wir uns ein mehr oder weniger detailliertes Bild vom Übergang der Herrschaft von einem König auf den nächsten machen können. Bleiben wir aber zunächst weiterhin bei der Gesamtheit aller 108 Fälle und sehen uns an, was einen Herrschaftsübergang nach Auskunft der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ ˙ überhaupt veranlassen konnte. Das war – wenig überraschend – in aller Regel der Tod des amtierenden Königs, wobei sich auf der Ebene der Erzählung durchaus verschiedene Szenarien unterscheiden lassen. Es gibt Könige, bei denen Kalhana ˙ überhaupt nichts über das Ende ihrer Herrschaft berichtet, bei denen wir wie in dem zuvor angeführten Textbeispiel lediglich ex silentio annehmen dürfen, dass ihre Herrschaft mit dem Tod geendet hat.15 Dann gibt es solche, bei denen er zwar erwähnt, dass sie gestorben sind, jedoch nichts über die näheren Umstände ihres Todes berichtet. Das ist beispielsweise in folgender Strophe der Fall, wo es mit Bezug auf König 130Samgra¯mara¯ja (reg. 1003–1028) heißt: ˙

¯ sa¯dha des vierten Jahres „Dieser König verstarb am Tag des Beginns des [Monats] A ˙ ¯ sa¯dha des Jahres [410]4 der Laukika-Ära = 13.˙ Mai (d. h. am 1. A 1028), nachdem er ˙ ˙ seinen Sohn mit Namen 131Harira¯ja [zum König] geweiht hatte.“16

In anderen Fällen berichtet Kalhana nicht, dass ein König gestorben, sondern ˙ dass er zum Himmel aufgestiegen, ins Paradies eingegangen oder ähnliches ist, wobei wir annehmen dürfen, dass dadurch die Herrschaft des jeweils in Rede stehenden Königs in der Regel als segensreich gekennzeichnet werden soll.17 Beispiele hierfür liefern folgende Strophen: „Nachdem er das Grundstück Leva¯ra an der Ledarı¯ an eine Tempelgemeinschaft von Brahmanen gegeben hatte, stieg dieser König [i. e. 40Lava] zum Himmel auf, wobei die Schönheit seines Heldentums ohne Tadel war.“18 „Zu der Zeit erreichte der [König] 91Ba¯la¯ditya, dessen Wirken glänzend war, die Welt desjenigen, dessen Haarschopf durch die Mondsichel gekennzeichnet ist [i. e. des Gottes

15 Wohl aufgrund der Quellenlage zu Zeiten Kalhanas finden sich solche Fälle besonders häufig ˙ Strophen 88 ( Kus´a) und 97f. ( Suvarna in den Büchern I–III, vgl. etwa noch in Buch I die 41 45 ˙ und 46Janaka), in Buch II die Strophen 2 (77Jalaukas) und 62 (79Vijaya) sowie in Buch III die ´ Strophen 101 (83Sresthasena) und 475 (90Vikrama¯ditya). ˙˙ 16 Ra¯jataran˙gin¯ı VII, 127: ˙ sa caturthasama¯sa¯dhapra¯rambha¯he mahı¯patih | ˙ ˙ ||127||. harira¯ja¯bhidham˙ putram abhisicya¯stam a¯yayau ˙ ˙ ˙ 17 Im Fall von Ra¯jatarangin¯ı VI, 365, wo es mit Bezug auf die überwiegend negativ dargestellte ˙ ¯ m divam praya¯ta¯ya¯m „nachdem die Königin zum Himmel hin Königin 129Didda¯ heißt: devya ˙ die ˙Wortwahl womöglich ˙ aufgebrochen war“, dürfte sich lautlichen Aspekten verdanken. 18 Ra¯jataran˙gin¯ı I, 87: dattva¯graha¯˙ram ledarya¯m leva¯ram dvijaparsade | ˙ ´auryas´˙rı¯r a¯ruroha ˙ maha¯bhujah ˙ sa dya¯m anindyas ||87||. ˙

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S´iva], nachdem er für 37 Jahre weniger vier Monate das Juwel an der Spitze der Könige gewesen war.“19

Von einigen Königen weiß Kalhana zu berichten, dass sie an einer Krankheit ˙ gestorben sind, wobei er die Krankheit des Öfteren in Bezug zum Charakter, zur Lebensführung oder zu den Lebensumständen des von ihr betroffenen Königs setzt: „Darauf wurde König [118Unmatta¯vanti] von einer Auszehrung geplagt, die seiner grausamen Bosheit entsprach, und litt grenzenlose Qualen. (443) Nicht nur die Untertanen waren dadurch, dass er derartige Qualen [litt], befriedigt, [sondern] auch die vierzehn Ehegattinnen in den [ihm] eigenen Frauengemächern. (444)“20

Zu einer weiteren Gruppe lassen sich sodann diejenigen Fälle zusammenfassen, wo vom gewaltsamen Tod eines Herrschers berichtet wird, sei es, dass dieser auf einem Kriegszug, bei einer Rebellion im Inneren, durch die Hand von Meuchelmördern, infolge einer Verfluchung, durch die Anwendung von Hexerei oder durch das Wirken eines mythischen Wesens erfolgt ist.21 Besonders häufig sind dabei anscheinend minderjährige Könige Opfer einer Gewalttat geworden. So wird beispielsweise die Königin 129Didda¯ (reg. 980–1003) von Kalhana für den Tod ˙ 19 Ra¯jataran˙gin¯ı III, 526: ˙ ´satim abda¯n sa caturbhir ma¯sair vandhya¯m mu¯rdhani ratnam nrpatı¯na¯m | bhu¯tva¯ saptatrim ˙ ava¯pojjvalakrtyo ba¯la¯dityo ba¯las´as´a¯n˙ka¯n˙˙ kitamauleh ||526||.˙ ˙ tasmin ka¯le lokam ˙ ˙ 20 Ra¯jataran˙gin¯ı V, 443f.: ˙ kru¯rapa¯pa¯nuru¯pena ksayarogena pa¯rthivah | ˙ ¯ d aparyantavyatha ˙ ˙ ¯ turah ||443|| tato ’nuba¯dhyama¯˙no ’bhu vyathaya¯ tasya ta¯dr´sya¯ praja¯ eva na kevalam | ˙ tutusur nijas´uddha¯˙ntamahisyo ’pi caturdas´a ||444||. Vgl.˙ weiterhin z. B. IV, 398:˙ 98Vajra¯ditya starb an Auszehrung, die ihre Ursache in seinem ausschweifenden Lebenswandel (atisambhoga) hatte; V, 123–126: 108Avantivarman; VI, 145– ˙ 149: 123Parvagupta starb an einer Krankheit, die mit großem Durst verbunden war, „ausgedörrt von den Sorgen und der Aufregung infolge seiner andauernden gewalttätigen Unternehmungen“ (sudı¯rgasa¯hasa¯rambhacinta¯samrambhas´osita); VI, 185–187: 124Ksemagupta; ˙ 698–723 wird ˙ der krankheitsbedingte ˙ Tod des VI, 289: 125Abhimanyu II. In den Strophen VII, Königs 133Kalas´a (reg. 1063–1089) ausführlich dargestellt. 21 Vgl. z. B. I, 69: 2Da¯modara I. wurde von dem epischen Helden Krsna im Zweikampf getötet; V, ˙ ˙ ˙ Kriegszug außerhalb des 217–225: 109S´amkaravarman (reg. 883–902) starb auf einem ˙ einer Pfeilwunde, doch wurde sein Tod geheim gehalten, bis das Heer Kaschmirtals an wohlbehalten in das Kaschmirtal zurückgekehrt war; V, 411–413: 115Cakravarman wurde in den Armen seiner Geliebten von Angehörigen einer ländlichen Elite erschlagen, die sich in sein Vertrauen eingeschlichen hatten; VI, 106: Obwohl bereits tödlich an einer Unterleibskrankheit erkrankt, wurde 120Yas´askara von den ihn umgebenden Höflingen vergiftet; I, 259: ¯ga, einem schlangenartigen Wesen, mittels eines Regens von 60Nara wurde von einem Na Blitzstrahlen verbrannt; V, 240: 110Gopa¯lavarman wurde infolge einer Verhexung von Fieber befallen. Insbesondere im zeitgeschichtlichen Teil der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ sterben fast alle Könige ˙ eines gewaltsamen Todes.

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ihrer vier Vorgänger verantwortlich gemacht, bei denen es sich um Kindkönige handelte, die unter ihrer Obhut standen. Zunächst starb ihr Sohn 125Abhimanyu (II.), der im Jahr 958 als Kind auf den Thron gelangt war, im Jahr 972 an Auszehrung, und zwar Kalhana zufolge „niedergedrückt von den Untaten seiner von ˙ Bosheit besessenen Mutter“.22 Danach bewirkte sie vermittels Hexerei (vyabhica¯ra) heimlich den Tod ihrer beiden Enkel 126Nandigupta (reg. 972–973) und 23 127 Tribhuvana (reg. 973–975), und schließlich ging sie offen gegen ihren dritten Enkel 128Bhı¯magupta (reg. 975–980)24 vor, sobald dieser alt genug war, um zu verstehen, was um ihn herum geschah:25 „Da nun war sie nach Beratung mit [dem Stadtoberhaupt] Devakalas´a voller Sorge, und indem sie alle Scham aufgab, ließ sie Bhı¯magupta ganz offen gefangen setzen. (330) Den Zweifel, den die Leute mit Bezug auf den heimlich [begangenen] Verrat an Nandigupta und so weiter hatten, den schaffte sie mit dieser manifesten Tat aus der Welt. (331) Nachdem sie Bhı¯magupta mittels verschiedener Foltern umgebracht hatte, setzte sie sich im Jahr [40]56 [der Laukika-Ära] (= 980/1 n. Chr.) selbst auf den Königssitz. (332)“26

Nur vergleichsweise selten hatte das Ende der Herrschaft eines Königs einen anderen Grund als seinen Tod, namentlich seine Flucht beziehungsweise Vertreibung oder seine mehr oder minder freiwillige Abdankung. Markante Beispiele sind folgende: – König 75Yudhisthira I. wurde nach einer durch seine Schwäche als Herrscher ˙˙ provozierten Rebellion seiner Minister ins Exil geschickt, wo er ein asketisches Leben führte.27 – Der fromme König 81Samdhimat gab „die Königsherrschaft wie ein in seine ˙ Obhut gegebenes Gut, [das er] wohl verwahrt [hatte],“ zurück an seine Un-

22 Ra¯jataran˙gin¯ı VI, 289: dauh´s¯ılyabha¯jo ma¯tus´ ca pa¯pmabhir vidhurı¯krtah. ˙ ˙ 23 Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı VI, 310–312.˙ ˙ 24 Von Bhı¯magupta berichtet Kalhana, dass er gar kein Sohn Abhimanyus II. war, sondern einer ˙ vornehmen Familie entstammte (maha ¯ bhijanaja) und von Abhimanyus Ehefrau heimlich in die Familie gebracht worden war, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VI, 329. ˙ 25 Ra¯jataran˙gin¯ı VI, 326–328. ˙ 26 Ra¯jataran˙gin¯ı VI, 330–332: sa¯ devakalas´˙ena¯tha dattamantra¯ vis´an˙kita¯ | trapojjhita¯ spastam eva bhı¯maguptam abandhayat ||330|| ˙˙ ¯ didrohe lokasya yo ’bhavat | nigu¯dhe nandigupta ˙ samdehah sa taya¯ tena vyaktakrtyena va¯ritah ||331|| ˙ ta¯bhir ˙ ˙ ta¯bhis ya¯tana¯bhir bhı¯maguptam nipa¯˙tya sa¯ | ˙ satpañca¯´se ’bhavad varse svayam kra¯ntanr pa¯sana¯ ||332||. ˙ Ra¯jataran˙gin¯ı I, 367–373 ˙ ˙ II, 2f. Einer ˙ 27 ˙Vgl. und anderen, von Kalhana ebenfalls wiedergege˙ zufolge ist er dagegen beim Versuch, sein Reich˙zurückzugewinnen, von benen Überlieferung seinen früheren Ministern gefangen gesetzt worden, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı II, 4. ˙

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tertanen,28 als er erfuhr, dass diese ob seiner quietistischen Haltung mit seiner Amtsführung unzufrieden waren,29 und führte fortan ein Leben als Bettelmönch. – 85Ma¯trgupta, eigentlich ein Dichter, den der ausländische König Vikrama¯ditya ˙ zur Übernahme der Herrschaft in das Kaschmirtal gesandt hatte, verließ dieses wieder, als er hörte, dass sein Gönner gestorben war, vermied so eine bewaffnete Auseinandersetzung mit 86Pravarasena II., einem Neffen seines Vorgängers, der aus dem Exil mit einem Heer heranzog, um die Herrschaft über das Kaschmirtal für seine Familie zurückzuerobern, und verbrachte die übrigen ihm noch beschiedenen Lebensjahre als Asket in der heiligen Stadt Benares.30 – König 97Kuvalaya¯pı¯da setzte sich zwar im Kampf um die Nachfolge seines ˙ Vaters zunächst gegen seinen jüngeren Bruder durch,31 doch veranlasste ihn der anhaltende Widerstand gegen seine Befehle unter seinen Beratern nach etwas mehr als einem Jahr dazu, Kaschmir zu verlassen und in einem Wald an der Quelle des Flusses Sarasvatı¯ ein frommes Leben zu führen.32 Vor diesem Hintergrund können wir uns nun der Frage zuwenden, wer denn zum Nachfolger eines verstorbenen, vertriebenen oder zurückgetretenen Königs bestimmt wurde. Um uns einer Antwort auf diese Frage anzunähern, bietet es sich an, zwei verschiedene Arten von Fällen zu unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir diejenigen Fälle – insgesamt 87 an der Zahl –, in denen der Thronfolger ein Angehöriger der herrschenden Dynastie innerhalb der männlichen Linie war, und auf der anderen Seite diejenigen – insgesamt 21 an der Zahl –, in denen die Abstammung des Thronfolgers unsicher oder er definitiv kein Angehöriger der herrschenden Dynastie in männlicher Linie war. Die 87 Fälle der ersten Art lassen sich dann weiterhin ebenfalls in zwei Gruppen einteilen. In 75 Fällen handelte es sich beim Thronfolger um den Sohn eines Königs; dieser konnte folgen auf: – seinen Vater (51 Fälle), – einen seiner Brüder oder Halbbrüder (17 Fälle), – einen entfernteren männlichen Blutsverwandten, d. h. konkret einen Onkel (2 Fälle),33 einen Cousin seines Vaters (1 Fall),34 einen Sohn eines Cousins 28 29 30 31 32 33

Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı II, 159: nya¯sam iva ra¯jyam suraksitam. ˙ Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı II, 143 und 152. ˙ ˙ Vgl. Ra¯jatarangin¯ı III, 264–322. ˙ Vgl. unten, S. 165. Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 377–392. ¯ pı¯d˙a, ein unehelicher Sohn 102Lalita¯pı¯das, folgte als Kindkönig auf seinen Onkel 104Cippatajaya ˙¯ ma¯pı¯da˙ II., vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 676f. – ˙ Unmatta¯vanti, ein Sohn Pa¯rthas, folgte Sam gra 103 118 113 ˙ ˙ ˙ auf seinen Onkel 115Cakravarman, vgl. unten, S. 157f.

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seines Vaters (1 Fall)35 oder einen Sohn eines Großonkels seines Vaters (1 Fall),36 – eine Ehefrau seines Vaters, d. h. im gegebenen Fall auf seine Mutter (1 Fall),37 – oder einen Usurpator (1 Fall).38 Dem stehen als zweite Gruppe lediglich 12 Fälle gegenüber, in denen es sich beim Thronfolger nicht um einen Sohn, sondern um einen anderen männlichen Blutsverwandten eines früheren Königs handelte: – den Vater (1 Fall)39 – einen Bruder oder Halbbruder (3 Fälle)40 – einen Neffen (2 Fälle)41 – einen Enkel (1 Fall)42 – einen Sohn eines Großonkels (2 Fälle)43 – einen Urenkel eines Halbbruders (1 Fall)44

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Anan˙ga¯pı¯da, ein Sohn 103Samgra¯ma¯pı¯das II., folgte auf 105Ajita¯pı¯da, einen Cousin seines ˙ ˙ ¯ jataran˙gin¯ı IV, 707. ˙ ˙ Vaters, vgl. Ra Auf 106Anan˙ga¯pı¯da (vgl.˙die vorherige Anm.) folgte 107Utpala¯pı¯da, ein Sohn 105Ajita¯pı¯das, vgl. ˙ ˙ Ra¯jataran˙gin¯ı IV,˙ 709. ˙ ¯ madeva, ein Sohn 120Yas´askaras, von dem dieser wusste, dass er nicht von ihm 122Samgra ˙ worden war, folgte auf Varnata, einen Sohn eines Großonkels seines Vaters, den gezeugt 121 ˙ ˙ vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VI, 90–99. letzterer ihm zunächst vorgezogen hatte, ˙ Gonanda II. wurde bereits unmittelbar nach seiner Geburt als Nachfolger seiner Mutter 4 ´ovatı¯ (vgl. unten, Anm. 53) zum König geweiht, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı I, 74–76. 3 Yas ˙ und dann im Jahr Nachdem er zunächst im Jahr 923 Nachfolger seines Vaters 114Nirjitavarman ´ 934 Nachfolger seines Halbbruders 116Su¯ravarman I. geworden war, folgte 115Cakravarman im Jahr 936, zu Beginn seiner dritten Amtszeit, auf den Usurpator 117S´ambhuvardhana, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 348–350. ˙ 114Nirjitavarman war ein Enkel eines Halbbruders 108Avantivarmans, des Begründers der Utpala-Dynastie, dessen Linie mit dem Tod seines Sohnes 111Samkata im Jahr 904 ausge˙ ˙ vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, storben war. Er folgte im Jahr 921 seinem Sohn 113Pa¯rtha auf dem Thron, ˙ 250–255 und 287–288. Sussala war ein Bruder, Salhan a ein Halbbruder Uccalas, und beide waren wie dieser 139 138 136 ˙ Königs Samgra¯mara¯ja. Salhana folgte im Jahr 1111 Urenkel eines Cousins des früheren 130 138 ˙ auf den Usurpator 137Radda-S´an˙khara¯ja, 139Sussala im Jahr 1112, zu ˙ Beginn seiner ersten ˙ Amtszeit, auf 138Salhana ˙und im Jahr 1121, zu Beginn seiner zweiten Amtszeit, auf den ˙ entfernt mit ihm verwandten ¯ cara, vgl. unten, S. 166. 140Bhiksa ˙ ¯ jataran˙gin¯ı III, 102–109. – 105Ajita¯pı¯da war 86Pravarasena II. war ein Neffe 84Hiranyas, vgl. Ra ˙ ein Neffe der früheren Könige 99Prthivya ¯ pı¯da, 100Samgra¯˙ma¯pı¯da I. und 101Jaya¯pı¯d˙a, vgl. ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 689–690. ˙ war ein Enkel Harsas, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VIII, 16–18. ¯ cara 140Bhiksa 135 ˙ S´acı¯nara, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı I, 101. ˙ ´oka˙ war der Sohn eines Großonkels seines Vorgängers 48As 47 ˙ ˙ gin¯ı – 121Varnata war der Sohn eines Großonkels seines Vorgängers 120Yas´askara, vgl. Ra¯jataran ˙ ˙ ˙ VI, 90. ¯ rtha war ein Urenkel eines Halbbruders von 108Avantivarman (vgl. oben Anm. 39). Er 113Pa folgte zu Beginn seiner ersten Amtszeit (906–921) auf seine Großtante 112Sugandha¯, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 250–255. ˙ 106

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– einen Urenkel eines Cousins (1 Fall)45 – einen Ururenkel (1 Fall)46 In ähnlicher Weise sind auch die 21 Fälle, in denen die Abstammung des Thronfolgers unsicher oder er kein Angehöriger der herrschenden Dynastie in männlicher Linie war, von sehr unterschiedlicher Art: – In vier Fällen, bei den Königen 1Gonanda I., 40Lava, 54Abhimanyu I. und 55Gonanda III. macht Kalhana keinerlei Angaben zur Herkunft derselben.47 ˙ – In einem Fall ist er sich über die Herkunft eines Königs nicht im Klaren: ¯ modara II. entstammte entweder der Familie (kula) seines Vorvorgängers 50 Da ´ As oka oder einem anderen Geschlecht (abhijana).48 48 – In zwei Fällen, bei den Königen 44Godara und 79Vijaya, vermerkt Kalhana ˙ lediglich, dass sie aus einer anderen Familie (kula) als derjenigen ihrer jeweiligen Vorgänger stammten.49 – In einem Fall, bei den nach seiner Vorstellung wohl gleichzeitig regierenden Königen 51Huska, 52Juska und 53Kaniska, vermerkt er, dass sie „aus türkischem ˙ ˙ ˙ Geschlecht hervorgegangen“ (turuska¯nvayodbhu¯ta), d. h. zentralasiatischer ˙ Abstammung waren.50 – In zwei weiteren Fällen stammte der Thronfolger aus dem indischen Ausland.51 – In zwei Fällen folgte die Ehefrau eines früheren Königs und vormalige Regentin auf einen Sohn bzw. einen Enkel.52 – In jeweils einem Fall folgte eine Ehefrau ihrem Gatten auf dem Thron,53 ein Schwiegersohn seinem Schwiegervater54 und ein Neffe seiner Tante.55 45 46 47 48 49 50 51

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¯ mara¯ja, vgl. Ra¯jata136Uccala war ein Urenkel eines Cousins des früheren Königs 130Samgra ˙ ran˙gin¯ı VII, 1284–1287. ˙ ¯ hana, der Nachfolger des frommen Königs Samdhimat (vgl. oben, S. 151f.), war 82Meghava 81 ein im indischen Ausland geborener und aufgewachsener˙ Ururenkel 75Yudhisthiras I., vgl. ˙˙ Ra¯jataran˙gin¯ı II, 144–151. ˙ ˙ gin¯ı I, 57; I, 84; I, 174; I, 185. Vgl. Ra¯jataran Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı I, 153. Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı I, 95; II, 62. Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı I, 170. ˙ Nach der Exilierung ¯pa¯ditya I. 75Yudhisthiras I. (vgl. oben, S. 151) holten seine Minister 76Prata „aus einer anderen Gegend“˙ ˙(digantara¯t; Stein 1900, Bd. 1, 56: „from abroad“) herbei und weihten ihn zum König, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı II, 5. – Über 85Ma¯trgupta haben wir bereits erfahren ˙ Vikrama¯ditya von ˙ Ujjayinı¯ entsandt wurde, um (vgl. oben, S. 152), dass er von dem König über das Kaschmirtal zu herrschen, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı III, 125–129, 206–210 und 227–253. Zu 112Sugandha¯, die auf ihren Sohn 111Samkata folgte, ˙vgl. unten, S. 156f.; zu 129Didda¯, die auf ˙ vgl. ˙ oben, S. 150f. ihren jüngsten Enkel 128Bhı¯magupta folgte, Nachdem 2Da¯modara I. auf einem Kriegszug gegen den Stamm der Yadus getötet worden war, ließ Krsna, der Herrscher der siegreichen Yadus, trotz der Bedenken seiner Minister 3Yas´o˙¯˙modaras ˙ vatı¯, Da schwangere Ehefrau, interimsweise zur Königin von Kaschmir weihen, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı I, 69–73. ˙

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– In sechs Fällen gelangte ein Angehöriger der höfischen Elite auf den Thron.56 Gewiss muss man die Zahlen, die sich aus der Durchsicht sämtlicher 108 Fälle ergeben, mit einiger Vorsicht zur Kenntnis nehmen: Dass der Sohn dem Vater auf den Thron folgt, geschieht in Kalhanas Darstellung in der Frühzeit der Ge˙ schichte Kaschmirs überproportional häufig, und das legt die Vermutung nahe, dass es sich dabei mehr um eine Fiktion der ihm seinerzeit zur Verfügung stehenden Quellen handelt als um die Widerspiegelung der geschichtlichen Wirklichkeit. Der Unterschied zwischen älterer und jüngerer Zeit wird deutlich, wenn wir die Herrschaftssukzession innerhalb der Gonandı¯ya-Dynastie mit derjenigen innerhalb der Utpala-Dynastie vergleichen. Der Gonandı¯ya-Dynastie (siehe Tafel 1) gehörten insgesamt 21 Könige an, die von 1182–180 v. Chr., d. h. über ziemlich genau 1000 Jahre hinweg und damit im Durchschnitt jeweils mehr als 47 Jahre lang im Kaschmirtal die Herrschaft ausübten: In jedem Fall folgte ein Sohn des Königs seinem Vater auf dem Thron nach. Ganz anders liegen die Dinge im Fall der Utpala-Dynastie, die von 855–939 n. Chr. in Kaschmir herrschte. 108Avantivarman, der Begründer dieser Dynastie, entstammte einer Familie, die ursprünglich von niederer Herkunft war – sein Urgroßvater Uppa hatte noch von der Herstellung und vom Verkauf von Spirituosen gelebt –, deren Mitglieder jedoch unter den letzten Königen der Ka¯rkota˙ Dynastie die eigentlichen Machthaber im Kaschmirtal waren. Er gelangte im Jahr 855/6 nach längeren Machtkämpfen innerhalb seiner Familie mit der Unterstützung des Ministers S´u¯ra auf den Thron.57 Nachdem er alle „Dornen“, d. h. Widersacher, in seinem Reich beseitigt und seine Herrschaft konsolidiert hatte, entfaltete er in der Darstellung Kalhanas eine fast drei Jahrzehnte währende ˙ segensreiche Herrschaft, unter anderem durch nachhaltige Verbesserungen der 58 Infrastruktur des Landes. Sein Nachfolger wurde im Jahr 883 sein Sohn 54 55 56

57 58

Durlabhavardhana wurde Nachfolger 91Ba¯la¯dityas, der keinen männlichen Nachkommen hatte, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı III, 526–530. ˙ ¯ ja von seiner Tante Didda¯ (vgl. oben, S. 150f.) zunächst zum Nachdem 130Samgra¯mara 129 ˙ Mitregenten (yuvara¯ja) erhoben worden war, trat er nach ihrem Tod im Jahr 1003 ihre Nachfolge auf dem Königsthron an, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VI, 354–365. ˙ 81 Samdhimat, von dem wir bereits erfahren haben, dass er am Ende mehr oder weniger ˙ freiwillig abdankte (vgl. oben, S. 151f.), war ursprünglich ein fähiger Minister seines Vorgängers 80Jayendra, bei dem er allerdings in Ungnade fiel, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı II, 63–81. – ˙ Zu 108Avantivarman vgl. unten, S. 155f. – 117S´ambhuvardhana war ein Sohn Meruvardhanas, eines Ministers am Hof König 113Pa¯rthas, und selbst ein hoher Amtsträger am Hof König 115Cakravarmans. Er gelangte im Jahr 935 durch Bestechung auf den Thron, vgl. unten, S. 157. – Zu 120Yas´askara vgl. unten, S. 159f. – Zu 123Parvagupta vgl. unten, S. 158. – Zu 137Radda˙˙ S´an˙khara¯ja vgl. unten, S. 161. Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 676–717. Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı V, 2–126. ˙ 92

156

Konrad Klaus 55Gonanda

III.

a a I.

56

57Indrajit

a

58

a a II.

59

60Nara

……….. 71Ak

a

72 73Gokar 74Khi

a

khila75Yudhi

hira I.

Tafel 1: Die Gonandı¯ya-Dynastie (ca. 1182–180 v. Chr.).

S´amkaravarman, der sich zunächst gegen seinen Cousin Sukhavarman ˙ durchsetzen musste, dann seine Herrschaft über die Nachbarregionen des Kaschmirtals ausdehnte und schließlich ein durch seine Habsucht und seine Hartherzigkeit geprägtes, repressives Regime entfaltete.59 Nachdem er auf der Rückkehr von einem Kriegszug in einen Hinterhalt geraten und tödlich verwundet worden war, fiel die Herrschaft im Jahr 902 an seinen noch minderjährigen Sohn 110Gopa¯lavarman, der unter der Obhut seiner Mutter 112Sugandha¯ stand. Diese ging als Witwe eine Liaison mit dem Minister Prabha¯karadeva ein, der sich von ihr protegiert schamlos bereicherte. Nachdem 110Gopa¯lavarman bereits zwei Jahre nach seiner Thronbesteigung einem Fieberanfall erlegen war,60 folgte ihm sein Bruder 111Samkata auf dem Thron nach, doch auch dieser verstarb ˙ ˙ sehr rasch, nach nur zehn Tagen der Herrschaft.61 Da 109S´amkaravarman keine ˙ weiteren Nachkommen hatte,62 übernahm nun 112Sugandha¯ selbst die Königs109

59 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 127–213. ˙ erste Anstalten machte, sich selbst um die Staatsgeschäfte zu kümmern, 60 Da er zu dieser Zeit macht Kalhana Prabha¯karadeva für seinen Tod verantwortlich, und zwar soll dieser einen Hexenmeister˙ mit der Tötung 110Gopa¯lavarmans beauftragt haben, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 214– ˙ 241. 61 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 242. 62 In Ra¯jataran˙gin¯ı ˙V, 210 heißt es mit Bezug auf ihn: ˙

Die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir

157

herrschaft, laut Kalhana „auf Bitten der Untertanen“ (praja¯pra¯rthanaya¯). Zum ˙ Zeitpunkt ihrer Thronbesteigung war eine der Ehefrauen 110Gopa¯lavarmans von diesem schwanger, und 112Sugandha¯ hoffte, das Königtum an ihren Enkel abgeben zu können. Das Kind starb jedoch kurz nach der Geburt, woraufhin ¯ begann, sich nach einem entfernteren männlichen Verwandten 112 Sugandha ´ S am karavarmans umzusehen, der als König in Frage kam. Ihre Wahl fiel 109 ˙ schließlich auf dessen Neffen 114Nirjitavarman, jedoch gelang es ihr nicht, diesen auch tatsächlich als König durchzusetzen, sondern die Tantrins, ein zu jener Zeit mächtiger Zusammenschluss von Fußsoldaten innerhalb des königlichen Heeres,63 setzten kurzerhand 113Pa¯rtha, den zehnjährigen Sohn 114Nirjitavarmans und Großneffen 109S´amkaravarmans auf den Thron.64 ˙ Auf die weitere Entwicklung will ich gar nicht mehr im Detail eingehen. Das Königtum ging in mehr oder weniger kurzen Abständen von 113Pa¯rtha auf dessen Vater 114Nirjitavarman über, dann auf 115Cakravarman, einen anderen Sohn ´ ¯ ravarman (I.), einen dritten Sohn 114Nirjita114Nirjitavarmans, dann auf 116Su varmans und Halbbruder 115Cakravarmans, um schließlich ein zweites Mal zu ¯ rtha und von diesem ebenfalls ein zweites Mal zu 115Cakravarman zu ge113Pa langen. 115Cakravarman musste schon nach wenigen Monaten im Amt vor dem Usurpator 117S´ambhuvardhana aus der Hauptstadt S´rı¯nagar fliehen, doch konnte er nach einiger Zeit zurückkehren, 117S´ambhuvardhana töten und ein drittes Mal König werden. Sein Nachfolger wurde sein Neffe 118Unmatta¯vanti, der nach zwei Jahren der Herrschaft an Auszehrung starb, aber unmittelbar vor seinem Tod noch einen Knaben namens 119S´u¯ravarman auf den Thron setzte und in die Obhut der Mächtigen am Hof gab.65 Auch wenn es damit gute Gründe gibt zu bezweifeln, dass die Herrschaftsübergänge in der Frühzeit der kaschmirischen Geschichte so problemlos verlaufen sind, wie Kalhana es darstellt, und auch wenn einige Details noch genauer ˙ zu klären sind, so legen die Zahlen doch die Vermutung nahe, dass die Thronfolge in Kaschmir wahrscheinlich schon im Altertum, jedenfalls aber im Mittelalter sehr stark durch dynastisches Denken bestimmt gewesen ist, dass dabei im Zusammenhang mit der Erbfolge entstandene Vorstellungen eine maßgebliche Rolle gespielt haben, dass die Herrschaft nach Möglichkeit innerhalb der königlichen Familie in der männlichen Abstammungslinie weitergegeben wurde,

praja¯bhis´a¯pe patite nrpasyonma¯rgavartinah | ˙ trim´sadvim´sa¯h suta¯s ˙tasya vyapadyanta¯mayam vina¯ ||210|| ˙ ˙ sich ˙ der Fluch [seiner] Untertanen ˙ [auf ihn] gelegt hatte, kamen zwanzig bis „Nachdem dreißig Söhne dieses sich auf Abwegen befindenden Königs ums Leben, ohne krank zu sein.“ 63 Vgl. Stein 1900, Bd. 1, 219, Anm. zu V, 248. 64 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 243–256. 65 Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı V, 263–450. ˙

158

Konrad Klaus

[Uppa, ein Schnapsbrenner] Utpala (†853) Sukhavarman (†855) 108Avantivarman

(reg. 855/6–883)

karavarman (reg. 883–902) 109

110

(reg. 902–904)

Sukhavarman

112

(reg. 904–906) 111Sa ka a (reg. 904)

114Nirjitavarman

(reg. 921–923)

115Cakravarman (reg. 906–921) (reg. 923–933) (reg. 934–935) (reg. 935) (reg. 936–937) 113

117

(Usurpator, reg. 935–936)

116

(reg. 933–934)

118

(reg. 937–939) 119

(reg. 939)

II.

Tafel 2: Die Utpala-Dynastie (855/6–939 n. Chr.).

und zwar in der Regel vom Vater an den Sohn. Wie die folgenden Beispiele zeigen, wird diese Vermutung im Text auf vielerlei Art und Weise bestätigt. Nachdem 118Unmatta¯vanti im Sommer des Jahres 937 von den Ministern als Nachfolger seines Onkels 115Cakravarman zum König geweiht worden war, stachelte ihn 123Parvagupta, einer seiner Minister, der insgeheim selbst Ambitionen auf den Thron hegte, dazu an, seine sämtlichen Brüder und Halbbrüder und selbst seinen Vater 113Pa¯rtha zu ermorden, um auf diese Weise alle potentiellen Thronrivalen auszuschalten, wie Kalhana explizit feststellt.66 Als 118Unmatta¯vanti ˙ in der Folge schwer erkrankte, bestimmte er, wie oben schon kurz erwähnt, unmittelbar vor seinem Tod noch rasch den Knaben 119S´u¯ravarman zu seinem Nachfolger, den nach Auskunft Kalhanas die Haremsdienerinnen von irgendwo ˙ herbeigebracht hatten und von dem sie behaupteten, er sei von ihm, 118Unmatta¯vanti, gezeugt.67 In diesem Fall ist es die Logik der Erzählung, die das dynastische Denken belegt: 123Parvaguptas Kalkül und 118Unmatta¯vantis Handeln 66 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 427–438. 67 Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı V, 443–448. ˙

Die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir

159

wären kaum erklärlich, wenn nicht die Zugehörigkeit zur königlichen Familie das entscheidende Kriterium gewesen wäre, das über die Legitimität eines Thronaspiranten entschied. In den zwanzig Jahren vor der Weihe 118Unmatta¯vantis hatte sich immer wieder gezeigt, dass die Herrschaft eines Königs potentiell gefährdet war, solange es noch andere männliche Agnaten gab.68 Auch aus den Kommentaren, die der Erzähler seiner Schilderung des historischen Geschehens beigibt, geht mehrfach deutlich hervor, dass für ihn die Blutsverwandtschaft mit dem vorherigen oder zumindest einem früheren König ein entscheidendes Auswahlkriterium bei der Thronfolge ist. Ein schönes Beispiel dafür findet sich in der Schilderung der Ereignisse, die auf die Inthronisation 119S´u¯ravarmans II. folgten. Dieser musste bereits wenige Wochen nach seiner Thronbesteigung, als der General Kamalavardhana mit seinen Truppen in die Hauptstadt einmarschierte und in den Palast eindrang, aus S´rı¯nagar fliehen. Im Text heißt es an dieser Stelle: „Nachdem die Soldaten [der Palastwache], als sie hörten, dass er [i. e. Kamalavardhana] den Sieg errungen hatte, davongelaufen waren und den Kindkönig [i. e. 119S´u¯ravarman II.] allein zurückgelassen hatten, brachte ihn seine Mutter irgendwohin fort. (455) Entweder verwirrt von den Folgen früherer Taten oder von schlechten Beratern [dazu] veranlasst, bestieg Kamalavardhana törichterweise nicht [selbst] den Thron. (456) Da er sich nicht auf politisch kluges Handeln verstand, begab er sich damals [zunächst] in seine eigene Residenz, versammelte [dann] mit dem Wunsch, König zu werden, anderntags sämtliche Brahmanen [der Hauptstadt] und forderte [sie] auf: (457) ‚Macht einen erwachsenen und fähigen Landsmann zum König!‘ Er dachte törichterweise, dass sie ihn wegen [seiner] Eignung [zum König] machen würden. (458)“69

Ob es wirklich, wie Kalhana meint, an Kamalavardhanas fehlender politischer ˙ Erfahrung lag, dass er die Königsherrschaft nicht kurzerhand mit Gewalt an sich riss, oder ob sein Plan, sich sein Königtum von den Brahmanen legitimieren zu lassen, nicht eigentlich im Gegenteil sehr vernünftig war, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls ging der Plan gründlich schief: Die Brahmanen berieten über mehrere Tage hinweg miteinander, jagten ihn, als er kam, um sich ihnen in Erinnerung zu bringen, davon, indem sie ihn mit Ziegelsteinen bewarfen, und machten schließlich einen Mann namens 120Yas´askara zum König, der zwar in 68 Vgl. auch Ra¯jataran˙gin¯ı VIII, 18f. ˙ 69 Ra¯jataran˙gin¯ı V, 455–458: ˙ tam labdhajayam a¯karnya sainyais tyaktam pala¯yitaih | ˙¯ kinam kva¯py anayaj˙ jananı¯ ´sis´ubhu¯patim ˙ ||455|| ˙ eka ˙ pra¯kkarmabhir mohito va¯ prerito va¯ kumantribhih | ˙ ||456|| na¯bhu¯t simha¯sana¯ru¯dho mu¯dhah kamalavardhanah ˙ ˙ ¯ mo ˙ ’nya¯vasare | ˙ tada¯nı¯m svagr ha¯n ya¯˙to ra¯jyaka ˙ ˙ samghattayan dvija¯n sarva¯n acu¯cudad anı¯tivit ||457|| ˙ ham ˙˙ ´saktam ca kuruta ksma¯pam kamcit svades´ajam | praud ˙ ˙ mu¯d˙hah sa ˙ cintayan ||458||. ma¯m eva˙ kuryuh˙sa¯marthya¯d iti ˙ ˙ ˙

160

Konrad Klaus

Kaschmir geboren war, aber lange Jahre in großer Armut im Ausland gelebt hatte70 und nach Ansicht des Erzählers nichts mitbrachte, was ihn für das Amt des Königs qualifiziert hätte: „Wenn Pa¯rthas Sohn [i. e. 118Unmatta¯vanti] nicht auf Veranlassung [seines] Dieners [i. e. des Ministers 123Parvagupta] sein eigenes Geschlecht vollständig vernichtet hätte, wenn Kamalavardhana nicht dessen Sohn [i. e. 119S´u¯ravarman II.] verjagt hätte, (479) wie wäre dann für 120Yas´askara, der keiner vornehmen Familie entstammte, der als armer Mann auf der Erde umherwanderte, die Erlangung der Königsherrschaft möglich gewesen? (480)“71

Schließlich thematisieren auch die Figuren innerhalb der erzählten Welt des Öfteren ihre Abstammung, wenn es um die Legitimität ihrer Thronansprüche geht, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen: Die Herrschaft König 135Harsas (reg. 1089–1101) begann recht vielverspre˙ chend, doch nahm seine Fortune im Laufe der Jahre allmählich immer mehr ab: Seine finanziellen Ressourcen reichten immer weniger aus, um seinen aufwendigen Regierungsstil zu finanzieren, seine militärischen Unternehmungen blieben erfolglos, es umgaben ihn immer mehr Berater, die weniger seine, sondern mehr ihre eigenen Interessen im Blick hatten, und enge Vertraute wendeten sich gegen ihn. Nachdem er Verschwörungen gegen sich überlebt hatte, in die sein Halbbruder Vijayamalla, und sein unehelicher Halbbruder Jayara¯ja maßgeblich verwickelt waren, fiel es seinen Beratern in der Folge nicht allzu schwer, ihn zu überreden, sozusagen proaktiv gegen die beiden Brüder 136Uccala und 139Sussala, Angehörige einer Seitenlinie des Königshauses, vorzugehen: „Nachdem Du andere Verwandte, [die] nicht zu zählen [sind], umgebracht hast, warum, König! hast du [da] nicht [auch] Uccala und Sussala getötet, [die] beide eingebildet [sind und] deren Wesensmerkmale dem Königtum würdig sind.“72

In der Folge entspann sich zwischen 135Harsa und den beiden Brüdern ein Krieg ˙ um den Thron, der sich über ein ganzes Jahr hinzog und in dessen Verlauf – das ist der Punkt, auf den es ankommt – 136Uccala bei gegebenem Anlass seine Abstammung über nicht weniger als elf Generationen hinweg darlegte, um seinen

70 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 461–477. 71 Ra¯jataran˙gin¯ı V, ˙479f.: ˙ aya¯ vam´sam pa¯rthajah svam na ced dahet | bhrtyapreran ˙ ˙ ˙ ¯˙n na cet kamalavardhanah ˙ ˙ tatputrotpa¯tanam kurya ||479|| ˙ ¯ tasya ˙ daridrasya¯tatah ksitim | ˙ anuccakulaja ˙ ˙ ˙ tad yas´askaradevasya ra¯jyapra¯ptih katham bhavet ||480||. ˙ ˙ 72 Ra¯jataran˙gin¯ı VII, 1248: ˙ ¯ n hatva¯nya¯n kasma¯d ra¯jya¯rhalaksanau | jña¯tı¯n aganya ˙ ˙ na¯vadhı¯r uddhata ¯ v etau ra¯jann uccalasussalau˙||1248||.

Die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir

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Kontrahenten zu beweisen, dass er unter genealogischem Aspekt den Thron mit dem gleichen Recht wie 135Harsa beanspruchen konnte.73 ˙ Die kriegerischen Auseinandersetzungen endeten schließlich damit, dass 136Uccala zum König geweiht und 135Harsa auf der Flucht von Soldaten seiner ˙ Gegner ermordet wurde. 136Uccala wiederum fiel nach zehnjähriger Herrschaft einem Mordkomplott zum Opfer, für das eine zur höfischen Elite zählende Gruppe um die Brüder 137Radda, Chudda und Vyadda verantwortlich war. Die ˙˙ ˙˙ ˙˙ Hoffnung der Brüder, dass einer von ihnen 136Uccalas Nachfolger werden könnte, wurde nicht zuletzt von dem Gerücht genährt, dass sie dem Geschlecht des früheren Königs 120Yas´askara entstammten: „Das Gerücht, dass sie dem Geschlecht S´rı¯-120Yas´askaradevas74 angehörten, rief in deren Familie bei allen ein Verlangen nach der Königsherrschaft hervor.“75

Tatsächlich konnte am Abend des 8. Dezember 1111 mit 137Radda einer der ˙˙ Brüder auf den Thron gelangen, doch wurden die Verschwörer ihrerseits schon am nächsten Tag von den Anhängern des ermordeten Königs 136Uccala und den Bewohnern der Hauptstadt umgebracht: „Nachdem er für eine Nacht und ein Viertel eines Tages die Königsherrschaft ausgeübt hatte, ging der Verräter [i. e. 137Radda], der [als König] den Namen S´an˙khara¯ja ange˙˙ nommen hatte, den Gang [aller] Übeltäter. Die Verräter [i. e. 137Radda und seine Brüder] hatten die Geburt in der Familie 120Yas´as˙˙ karas als Beweis genommen (nämlich für die Berechtigung ihres Thronanspruchs), weshalb [ihnen] wie 121Varnatadeva eine augenblicklich [wieder] vereitelte Königs˙ ˙ herrschaft zuteilwurde.“76

Halten wir danach als erstes Ergebnis fest: Die bei weitem wichtigste Voraussetzung, um im mittelalterlichen Kaschmir für die Thronfolge infrage zu kommen, war die Zugehörigkeit zur herrschenden Dynastie in der männlichen Linie. Dabei ging die Herrschaft bevorzugt in einer direkten patrilinearen Abfolge vom 73 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VII, 1282–1287. ˙ 74 Vgl. Otto Böthlingk, s´rı¯, in: Sanskrit-Wörterbuch in kürzerer Fassung. Sechster Theil (1886), 273a: „[A]m Anfange von Personennamen (von Göttern und Menschen), Büchertiteln, Orten u. s. w. als Ausdruck der hohen Stellung, welche die Personen u. s. w. einnehmen.“. 75 Ra¯jataran˙gin¯ı VIII, 261: ˙ ´srı¯yas´askaradevasya vam´sya¯ eta iti ´srutih | ˙ ¯ yinı¯ ||261||. tadanvaye ’bhu¯t sarvesa¯˙m ra¯jyautsukyaprada ˙ ˙ 76 Ra¯jataran˙gin¯ı VIII, 356f.: ˙ nis´a¯m praharam ahnas´ ca ra¯jyam krtva¯ sa labdhava¯n | ˙ ˙ ˙kukrtina¯m aga¯t ||356|| drohakrc chan˙khara¯ja¯khya¯m gatim ˙ ˙ bhis˙taih prama ˙ yas´askarakule janma drogdhr ¯ nitam | ˙ yasma¯d˙ varnatadevavat ˙ ksanabhan˙gy abhajan ra¯jyam ||357||. ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ Kalhana spielt hier auf die Tatsache an, dass König 120Yas´askara kurz vor seinem Tod in schwer ˙ Zustand Varnata, einen Neffen seines Großonkels, zum König hatte weihen laskrankem 121 ˙ später wieder abgesetzt hatte, vgl. unten, S. 167. sen, ihn aber schon einen˙ Tag

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Vater auf den Sohn über, doch war daneben auch die kollaterale Nachfolge, bei der ein Bruder seinem Bruder auf dem Thron folgte, eine gängige Praxis. War weder ein Sohn noch ein Bruder des Königs vorhanden, so kam im Prinzip jeder männliche Verwandte sei es des letzten, sei es eines früheren zur Dynastie gehörigen Königs als Nachfolger in Frage. Zur Abrundung des Bildes verdienen noch zwei weitere Befunde Erwähnung. Zum einen scheint es so zu sein, dass ein mit einer Konkubine gezeugter Sohn eines Königs im mittelalterlichen Kaschmir bei der Thronfolge in aller Regel keine Berücksichtigung fand. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang vor allem der Fall des Jayara¯ja, eines Sohnes des Königs 133Kalas´a, den dieser mit seiner Lieblingskonkubine Kayya¯ gezeugt hatte.77 Im Text als „Königssohn“ (ra¯jasu¯nu) und als „jüngerer Bruder“ (anuja) König 135Harsas (reg. 1089–1101) bezeichnet, ˙ genoss Jayara¯ja das absolute Vertrauen des letzteren und wurde von ihm als eine Art Hofmarschall eingesetzt.78 Trotzdem ließ er sich von Dhammata, einem ˙ Angehörigen einer Seitenlinie des Königshauses in eine Verschwörung gegen 79 135Harsa hineinziehen, wofür er am Ende mit seinem Leben bezahlen musste. ˙ Im gegebenen Zusammenhang interessant ist das heimliche Kalkül, das Dhammata gemäß der Darstellung Kalhanas dazu veranlasste, Jayara¯ja anzuwerben: ˙ ˙

„Derjenige, der die Kritik für den Verrat abbekommt, dürfte er [i. e. Jayara¯ja] sein (als der 135Harsa näher Stehende), dieses Königreich aber wird mir zufallen, weil er als der ˙ Sohn einer Kurtisane [seiner] nicht würdig ist.“80

Der Begründung, auf die Dhammata seine Hoffnung stützt, widerspricht auf den ˙ ersten Blick die Tatsache, dass zu Beginn des 9. Jahrhunderts 104Cippatajaya¯pı¯da ˙ ˙ König von Kaschmir geworden ist, ein Sohn des Königs 102Lalita¯pı¯da und der ˙ Konkubine Jaya¯devı¯. Allerdings gelangte dieser auf den Thron, als er „beinahe noch ein Kind“ (s´is´udes´ya) war, und stand unter der Obhut der fünf Brüder seiner Mutter Jaya¯devı¯. Von daher darf man vielleicht vermuten, dass Jaya¯devı¯ und ihre Brüder auch schon bei der Inthronisation 104Cippatajaya¯pı¯das ihren ˙ ˙ Einfluss geltend gemacht haben. Dennoch bleibt auffällig, dass Kalhana die In˙ thronisation 104Cippatajaya¯pı¯das trotz dessen Abstammung von einer Konkubine ˙ ˙ in keiner Weise missbilligt, ihn vielmehr als S´rı¯-104Cippatajaya¯pı¯da81 einführt und ˙ ˙ ihn als bedauernswertes Opfer der Machenschaften seiner Onkel darstellt.82

Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VII, 725 und 733. Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı VII, 770 und 896. Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı VII, 1013–1038. ˙ 1014: Ra¯jataran˙gin¯ı VII, ˙ ¯ g esa bhaved ra¯jyam idam punah | droha¯pava¯dabha ˙ ¯ d anarhe ’sminn upais ˙ yati˙ ||1014||. ma¯m eva ves´ya¯putratva ˙ 81 Vgl. oben, Anm. 74. 82 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 676–687. ˙ 77 78 79 80

Die Thronfolge im mittelalterlichen Kaschmir

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Als zweiter Punkt bleibt noch zu erwähnen, dass im mittelalterlichen Kaschmir wahrscheinlich in aller Regel auch das Prinzip der Primogenitur Geltung hatte. Zwar erfahren wir vielfach nicht, ob der Sohn, der seinem Vater auf dem Thron folgt, Brüder hatte oder nicht, aber in Fällen von kollateraler Nachfolge erwähnt Kalhana des Öfteren durchaus, dass es sich beim Thronfolger um den jüngeren ˙ respektive nächstjüngeren Bruder (anuja, anantaraja) des vorherigen Königs handelt,83 oder dieser Sachverhalt ergibt sich auf andere Weise aus seinen Ausführungen. Aus der Tatsache etwa, dass König 132Ananta als Knabe (ba¯la) auf den Thron gelangte und anfangs von seiner Mutter vor Vigrahara¯ja, seinem Onkel väterlicherseits, beschützt werden musste, während sein Bruder und Vorgänger ¯ ja als tatkräftiger Herrscher geschildert wird,84 folgt zwangsläufig, dass 131Harira ¯jas gewesen sein muss. Darüber hinaus 132Ananta ein jüngerer Bruder 131Harira erklärte der spätere König 139Sussala, der die Herrschaft über das Kaschmirtal, wie oben bereits erwähnt worden ist, zusammen mit seinem älteren Bruder 136Uccala erkämpft hatte, gelegentlich dezidiert: „Unser Königtum ist keins, das vom Vater stammt. Wenn, [dann wäre] ein jüngerer Bruder derjenige, der das Erbe bekommt. Aber dieses (d. h. unser Königtum) ist eins, das von meinem älteren Bruder und mir mit den Armen erworben wurde.“85

In der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ werden demgemäß, wenn ich nichts übersehen habe, ˙ überhaupt nur zwei Fälle geschildert beziehungsweise erwähnt, in denen nachweislich ein jüngerer Sohn dem erstgeborenen bei der Thronfolge vorgezogen wurde. Im einen Fall lag eine spezielle Situation vor, insofern König 133Kalas´a seinen erstgeborenen Sohn Harsa, der gegen ihn ein Mordkomplott geschmiedet ˙ hatte, gefangen gesetzt hatte, als er, selbst schwer krank, auf Drängen seiner Minister seinen zweitgeborenen Sohn 134Utkarsa zum König weihen ließ.86 Den ˙ zweiten Fall erwähnt Kalhana nur ganz beiläufig in der Strophe IV, 689f., wo es ˙ mit Bezug auf Tribhuvana¯pı¯da, einen Sohn des Königs 98Bappiya und seiner ˙ Ehefrau Megha¯valı¯ sowie den älteren Bruder der drei Könige 99Prthivya¯pı¯da, ˙ ˙ ¯ ma¯pı¯da I. und 101Jaya¯pı¯da, lapidar heißt, er sei, „obwohl der Älteste, 100Samgra ˙ ˙ ˙ um das Königtum gekommen, weil er keine Parteigänger hatte“ (s´restho ’py ˙˙ aca¯krikataya¯ yo ’bhu¯d ra¯jyavivarjitah). ˙ Nachdem wir nun wissen, dass in Kaschmir – wie in den meisten anderen indischen beziehungsweise südasiatischen Monarchien auch87 – zumindest bis 83 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı III, 386 und 477; IV, 112; ferner IV, 355–358 und 402. 84 Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı VII, 127–141. ˙ 387: 85 Ra¯jataran˙gin¯ı VIII, ˙ na¯sma¯kam paitr kam ra¯jyam yadi rikthaharo ’nujah | ˙ ¯ maya ˙ ¯ caitad ˙ ˙ ¯ bhya¯m arjitam punah ˙ ||387||. majjya¯yasa bhuja ˙ ˙ 86 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VII, 703. ˙ 87 Zur ersten Orientierung vgl. dazu Hartmut Scharfe, The State in Indian Tradition (Handbuch der Orientalistik, 2. Abt.: Indien, Bd. 3: Geschichte), Leiden et al. 1989, 55–66.

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zur Mitte des 12. Jahrhunderts ein Sohn eines Königs und insbesondere der älteste Sohn eines Königs die besten Chancen hatte, König zu werden, bleibt in einem letzten Schritt noch festzustellen, unter welchen Umständen der aus der Sohnschaft beziehungsweise allgemeiner der aus der Zugehörigkeit zur Königsfamilie resultierende Anspruch des Prätendenten auf den Thron nach Auskunft der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ auch tatsächlich zu dessen Thronbesteigung führte. In ˙ dem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass Kalhana über die ˙ Herrschaftsübergänge längst nicht überall und in der Zeit vor der Mitte des 7. Jahrhunderts gar nur in wenigen Ausnahmefällen etwas zu berichten weiß. So heißt es in Strophe I, 325 über 67Baka, den Sohn des grausamen Königs 66Mihirakula, völlig singulär, dass er „von den [Haupt]städtern [zum König] geweiht wurde“ (pauraih […] abhyasicyata), eine Ausdrucksweise, die, falls sie sich nicht ˙ ˙ nur Kalhanas dichterischer Imagination oder einer Fiktion seiner Quellen ver˙ dankt, suggeriert, dass die Übernahme der Königsherrschaft in Kaschmir schon etwa in der Mitte des letzten Jahrtausends v. Chr. durch eine Form der später wohl nicht obligatorischen, aber doch häufigen „[Königs]weihe“ (abhiseka) im Beisein ˙ einer breiten Öffentlichkeit rituell inszeniert wurde.88 Ähnliches erfahren wir über König 82Meghava¯hana, einen Ururenkel 75Yudhisthiras I., der auf den nach ˙˙ Kritik an seiner Amtsführung freiwillig zurückgetretenen König 81Samdhimat ˙ folgte.89 Ihn holten „die Untertanen, angeführt von den Ministern“ (saciva¯dhis˙ thita¯h pra¯ja¯h) aus Gandha¯ra, also aus dem Ausland herbei, wo er geboren und ˙ ˙ ˙ 90 aufgewachsen war, und weihten ihn zum König. Der dritte und letzte in dieser Reihe ist 86Pravarasena II., ein Neffe des Königs 84Hiranya, der zwar in Kaschmir ˙ geboren war, den es dann aber ebenfalls ins Ausland verschlagen hatte.91 Er kehrte nach Kaschmir zurück und übernahm die Herrschaft, nachdem König ¯ trgupta abgedankt und das Kaschmirtal verlassen hatte.92 85Ma ˙ Häufiger und nach und nach auch ergiebiger werden Kalhanas Berichte über ˙ die Herrschaftsübergänge vom vierten Buch an, in dem die Könige der Ka¯rkota˙ Dynastie behandelt werden, die vom 7. bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts in Kaschmir regiert haben. Die insgesamt etwa dreißig Berichte, von denen viele zuvor schon im einen oder anderen Zusammenhang zur Sprache gekommen sind, lassen sich grob in drei Kategorien einteilen, nämlich in solche, in denen wie in der Geschichte von 86Pravarasena II. der Thronprätendent selbst die tragende Rolle spielt, solche, in denen der amtierende König vor seinem Tod seine 88 Eine ungefähre Vorstellung von der Königsweihe in Kaschmir vermitteln die Strophen Ra¯jataran˙gin¯ı III, 237–241; 528; IV, 719; V, 477; VII, 232–235. Darüber hinaus vgl. Scharfe 1989, 80–85.˙ 89 Zu 81Samdhimat vgl. oben, S. 151f. sowie Anm. 56. ˙ ˙ gin¯ı III, 2–5. 90 Vgl. Ra¯jataran 91 Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı III, 105–123. 92 Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı III, 265–324. ˙

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Nachfolge noch selbst regelt beziehungsweise zu regeln versucht, und solche, in denen Angehörige der höfischen Elite und des Militärs maßgeblich bei der Bestimmung des Thronfolgers mitwirken. Der erste Herrscher innerhalb der ersten Gruppe ist 95Ta¯ra¯pı¯da, der, um selbst ˙ auf den Thron zu gelangen, seinen älteren Bruder 94Candra¯pı¯da getötet hat, ˙ 93 indem er ihn von einem Brahmanen behexen ließ, und der auf die Weise sozusagen eine Tradition begründet hat: „Von da an wurden in diesem Königreich [Kaschmir] gegen die älteren Verwandten von Prinzen, die es nach der Königsherrschaft verlangte, böse Verfahren wie Behexung usw. angewandt.“94

Sodann heißt es von 100Samgra¯ma¯pı¯da I. in der Strophe IV, 400, dass er König ˙ ˙ wurde, „nachdem er“ seinen Halbbruder 99Prthivya¯pı¯da „vertrieben hatte“ (ut˙ ˙ pa¯tya). Im Hinblick auf die oben bereits besprochene Mitteilung, dass Tribhu˙ vana¯pı¯da, der ältere Halbbruder der beiden, bei der Herrschaftsübergabe nach ˙ dem Tod ihres Vaters 98Bappiya übergangen wurde, „weil er keine Parteigänger hatte“, dürfen wir davon ausgehen, dass 100Samgra¯ma¯pı¯da I. 99Prthivya¯pı¯da nicht ˙ ˙ ˙ ˙ allein vertrieben hat, aber darüber erfahren wir leider nichts. In der Generation zuvor hatte 97Kuvalaya¯pı¯da, der Onkel der drei, zu Beginn seiner Regierung ˙ seinen „gleich mächtigen“ (tulyaprabha¯va) jüngeren Halbbruder, ihren Vater ¯ nalo98 Bappiya neben sich, und die Höflinge eilten „gierig nach Geschenken“ (da bha¯t) zwischen den beiden hin und her.95 Am Ende konnte 97Kuvalaya¯pı¯da sich ˙ durchsetzen: „Da nun überwand König 97Kuvalaya¯pı¯da kurzerhand [seinen] jüngeren Bruder, zu˙ sammen mit dem Ränkespiel der Diener, die von beiden Seiten Geld annahmen.“96

Vergleichsweise breit schildert Kalhana den Herrschaftsübergang von ˙ tivarman zu dessen Sohn 109S´amkaravarman: ˙

108

Avan-

„Nachdem dieser [i. e. 108Avantivarman] verstorben war, bekamen viele Angehörige des Geschlechts des Utpala, deren Geist von ihrer Macht berauscht war, ein Verlangen nach der Königsherrschaft, jeder für sich in gleicher Weise. (127) Darauf machte der Kammerherr Ratnavardhana mit einiger Mühe 109S´amkaravarman, ˙ den Sohn des Königs 108Avanti[varman], zum König. (128) Aus Hass auf ihn [i. e. den Kammerherrn Ratnavardhana] verhalf Karnapa, ein Berater ˙

93 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 112. 94 Ra¯jataran˙gin¯ı IV,˙ 114: tatah prabhr˙ ti bhu¯pa¯na¯m ra¯jyecchu¯na¯m guru¯n prati | ˙ tta¯ ra¯jye ’sminn ˙ ˙ ¯ h kriya¯h ||114||. dust˙a¯h pravr abhica¯ra¯dika ˙˙ Ra ˙¯ jataran ˙ ˙ gin¯ı IV, 372–375. ˙ ˙ 95 Vgl. ˙ 96 Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 376: ˙ ¯ da¯yibhrtyacakrikaya¯ samam | athobhayadhana ˙ ¯ nujam añjasa¯ ||376||. ra¯ja¯ kuvalaya¯pı¯do babhañja ˙

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des Vinnapa, dem Sohn des S´u¯ravarman mit Namen Sukhavarman sogar zur Mitregentschaft. (129) Darauf brach eine Fehde zwischen dem König und dem Mitregenten aus, während der das Königtum wie auf eine Schaukel geraten war.“ (130)97

Keinem der beiden gelang es, die Anhänger des jeweils anderen durch Versprechungen auf seine Seite zu ziehen, und so konnte 109S´amkaravarman den ˙ Mitregenten (yuvara¯ja), der in diesem Fall eher ein Gegenkönig war, erst nach dem Tod vieler Männer „irgendwie“ (kathamcid) besiegen.98 ˙ Was im vergangenheitshistorischen Teil der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ noch als Aus˙ nahme erscheint, wird dann im zeitgeschichtlichen Teil beinahe zur Regel. Von den neun Herrschern, die in der Zeit von 1063–1149/50 in Kaschmir regiert haben, haben sich fünf den Thron mit Gewalt gesichert, einer von diesen gar zweimal. 135Harsa (reg. 1089–1101), von seinem schwer kranken Vater 133Kalas´a ˙ (reg. 1063–1089) bei der Regelung der Thronfolge auf Drängen der Minister übergangen, nahm seinen ihm bei der Gelegenheit vorgezogenen jüngeren Bruder 134Utkarsa (reg. 1089) drei Wochen nach dessen Königsweihe mit der ˙ Unterstützung mehrerer Parteigänger, die über Truppen verfügten, gefangen und bestieg selbst den Thron, woraufhin 134Utkarsa Selbstmord beging, um ˙ Schlimmerem zu entgehen. Nachdem 136Uccala (reg. 1101–1111) zum König geweiht worden war, vertrieb er 135Harsa aus dem Palast in S´rı¯nagar. Bald danach ˙ wurde dieser auf der Flucht von Soldaten seines Gegners getötet. Einer der Rädelsführer der Gruppe, die zehn Jahre später die Ermordung 136Uccalas zu verantworten hatte, war 137Radda-S´an˙khara¯ja (reg. 1111). Dieser gelangte für eine ˙˙ Nacht auf den Thron, ehe er seinerseits von Anhängern des 136Uccala getötet wurde, die dann dessen Halbbruder 138Salhana auf den Thron setzten. 136Uccalas ˙ Vollbruder 139Sussala erkannte das Königtum seines Halbbruders 138Salhana ˙ nicht an, sondern setzte ihn außerhalb des Kaschmirtals in der Burg von Lohara gefangen und machte sich selbst zum König (1. Regierungszeit: 1112–1120). Im Jahr 1120 gelang es 140Bhiksa¯cara, einem Enkel 135Harsas, ihn aus der Hauptstadt ˙ ˙ S´rı¯nagar zu vertreiben und den Thron zu besteigen, doch nur wenige Monate später kehrte 139Sussala zurück, vertrieb nun seinerseits 140Bhiksa¯cara und machte ˙ sich erneut selbst zum König (2. Regierungszeit: 1121–1128). Alle fünf genannten 97 Ra¯jataran˙gin¯ı V, 127–130: tasmin pras´a˙¯ nte pratyekam vibhavotsiktacetasa¯m | tulyam utpalavam´sya¯na¯m˙ ra¯jyeccha¯ bhu¯ya¯sa¯m abhu¯t ||127|| ˙ ¯ rah prayatna ˙ tatas´ cakre pratı¯ha ¯ d ratnavardhanah | ˙ ´ nrpam samkaravarma¯nam avantinrpateh sutam ˙||128|| ˙ apo ˙ vinnapa ˙ ˙ tanu¯jam ´s˙u¯ravarman ˙ karn ¯ ma¯tyas ah | ˙ a¯t sukhavarma¯khyam yauvara ˙ ˙ taddves ¯ jye ’py ˙ayojayat ||129|| ˙ ˙ atas tayor abhu¯d vairam ksitı¯´sayuvara¯jayoh | ˙ ˙ a¯sı¯d dola¯m iva¯˙´srayat ||130||. yasmin ksane ksane ra¯jyam ˙ ˙ ˙ ˙ 98 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 131–134. ˙

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Herrscher gingen im Rahmen der Thronkämpfe und während ihrer Herrschaft mit verschiedensten Personen und Personengruppen wechselnde Allianzen ein, die im Rahmen dieses Aufsatzes auch nicht ansatzweise dargestellt werden können. Wenden wir uns daher der zweiten Gruppe zu, den Königen, die kurz vor ihrem Tod ihre Nachfolge noch selbst geregelt beziehungsweise zu regeln versucht haben. Der erste Fall findet sich am Ende der Vita des Königs 96Lalita¯dityaMukta¯pı¯da, der seine Herrschaft weit über das Kaschmirtal hinaus ausgedehnt ˙ hat. Dieser ließ, auf einem letzten Kriegszug in die Länder des Nordens befindlich, seinen in Kaschmir zurückgebliebenen Ministern durch einen Boten eine Art politisches Testament übermitteln, das unter anderem Bestimmungen über den Umgang mit seinen Söhnen 97Kuvalaya¯pı¯da und 98Bappiya sowie seinem ˙ jüngsten Enkel 101Jaya¯pı¯da enthielt.99 König 109S´amkaravarman wiederum, auf der ˙ ˙ Rückkehr von einem Kriegszug von einem Pfeil tödlich getroffen, starb, „nachdem er [seinen] Sohn mit Namen Gopa¯lavarman, der fast noch ein Kind [und] ohne [männliche] Angehörige war, [seiner] Hauptgemahlin Sugandha¯ zum Schutz anvertraut hatte.“100

König 118Unmatta¯vanti starb im Jahr 939, nachdem er zuvor einen Knaben mit Namen 119S´u¯ravarman auf den Thron gesetzt und der Sorge der Vasallenfürsten, Minister, Eka¯n˙gas und Tantrins anvertraut hatte.101 König 120Yas´askara hatte einen Sohn namens Samgra¯madeva, von dem er wusste, dass er nicht von ihm ˙ selbst gezeugt war. Deshalb ließ er kurz vor seinem Tod nicht diesen, sondern ¯ n˙gas 121Varnata, einen Neffen seines Großonkels, im Beisein der Minister, Eka ˙ ˙ und Vasallenfürsten zum König weihen. Als 121Varnata es danach allerdings ˙ ˙ versäumte, ihn am Krankenbett zu besuchen beziehungsweise sich zumindest nach seinem Befinden zu erkundigen, setzte er ihn schon einen Tag später wieder ab und ließ nun doch den noch minderjährigen 122Samgra¯madeva zum König ˙ weihen.102 König 130Samgra¯mara¯ja starb, „nachdem er [seinen] Sohn mit Namen ˙ ¯ ja [zum König] geweiht hatte“.103 König 132Ananta dankte im Jahr 1063 131Harira auf Drängen seiner Hauptgemahlin Su¯ryamatı¯ ab und ließ ihren gemeinsamen Sohn 133Kalas´a zum König weihen. Allerdings übte er in der Folge dann doch

99 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 353–359. 100 Ra¯jataran˙gin¯ı V, ˙221: putram gopa¯˙ lavarma¯khyam nya¯sı¯krtya ca raksitum | ˙´yam maha¯devya¯h sugandha ˙ ˙ ´sis´udes ¯˙ya¯ aba¯ndhavam ||221||. ˙ ˙ gin¯ı V, 446. ˙ Bei den Eka¯n˙gas handelt es sich – ähnlich wie bei den Tantrins, von 101 Vgl. Ra¯jataran ˙ denen oben schon die Rede war – um eine bestimmte Abteilung der königlichen Truppen, vgl. Stein 1900, Bd. 1, 219f., Anm. zu V, 249. 102 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VI, 90–99. ˙ 127: harira¯ja¯bhidham putram abhisicya. 103 Ra¯jataran˙gin¯ı VII, ˙ ˙ ˙

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weiterhin die Regierungsgeschäfte aus,104 was auf lange Sicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn führte.105 König 133Kalas´a seinerseits wollte das Königtum eigentlich seinem ältesten Sohn Harsa geben, doch ˙ als er merkte, dass seine Berater dagegen waren, verfügte er unmittelbar vor seinem Tod, seinen zweitältesten Sohn 134Utkarsa zum König zu weihen.106 König ˙ 139Sussala schließlich weihte seinen ältesten Sohn 141Jayasimha bereits im Jahr ˙ 1123 zum König, als er in einer Phase der Niedergeschlagenheit mit dem Gedanken spielte, sich zurückzuziehen. Allerdings überlegte er es sich dann doch anders und übte die Herrschaft weiterhin aus.107 141Jayasimha übernahm diese ˙ erst im Jahr 1128, nachdem 139Sussala einem Mordkomplott zum Opfer gefallen 108 war. Fälle, in denen Angehörige der höfischen Elite oder des Militärs eine maßgebliche Rolle bei der Thronfolge spielen, setzen mit dem Bericht über die Herrschaft der letzten Ka¯rkota-Könige in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ˙ ein. Es wurde bereits erwähnt, dass spätestens mit der Königwerdung 104Cippatajaya¯pı¯das die Brüder seiner Mutter Jaya¯devı¯, einer Konkubine des Königs ˙ ˙ ¯ pı¯da, die eigentlichen Herrscher im Kaschmirtal waren. Obwohl sie 102 Lalita ˙ im Laufe der Jahre miteinander in Streit gerieten, sicherten sie sich die Herrschaft doch auch über den Tod 104Cippatajaya¯pı¯das hinaus, indem sie mit ˙ ˙ ¯ pı¯da, 106Anan˙ga¯pı¯da und 107Utpala¯pı¯da nacheinander drei weitere An105 Ajita ˙ ˙ ˙ gehörige der Ka¯rkota-Dynastie als Marionettenkönige auf dem Thron instal˙ lierten.109 Zu Beginn des 10. Jahrhunderts spielten dann die Tantrins, d. h. ein eigenständiger Verbund von Fußsoldaten innerhalb des königlichen Heeres, in der kaschmirischen Politik eine maßgebliche Rolle. Zunächst duldeten sie noch die Herrschaft 112Sugandha¯s (reg. 904–906), die ihre Macht auf die Eka¯n˙gas stützte, doch danach machten sie regelmäßig denjenigen Angehörigen der Utpala-Dynastie zum König, der ihnen das meiste Geld zahlte.110 Erst König 115Cakravarman gelang es im Jahr 936, sie militärisch zu besiegen und damit ihre Macht zu brechen.111 Über die vier Kindkönige 125Abhimanyu II. (reg. 958–972), ¯magupta 126Nandigupta (reg. 972–973), 127Tribhuvana (reg. 973–975) und 128Bhı (reg. 975–980) wissen wir bereits, dass für sie alle ihre Mutter beziehungsweise 104 105 106 107 108 109 110 111

Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VII, 229–250. Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı VII, 317–420. Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı VII, 703 und 729. ˙ ¯ı VIII, 1227–1234, sowie ferner Bernhard Kölver, Textkritische und Vgl. Ra¯jataran˙gin ˙ philologische Untersuchungen zur Ra¯jataran˙gin¯ı des Kalhana (Verzeichnis der orientali˙ ˙ schen Handschriften in Deutschland. Supplementband 12), Wiesbaden 1971, 79–85. Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VIII, 1300–1316 und 1358–1367. ˙ Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 676–714. ˙ Vgl. die Regierungszeiten der Könige 113Pa¯rtha, 114Nirjitavarman, 115Cakravarman und ´ S u ravarman I. in Tafel 2 sowie Ra¯jataran˙gin¯ı V, 248–304. ¯ 116 ˙ Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 312–340. ˙

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Großmutter 129Didda¯ als Regentin fungierte.112 Wir dürfen annehmen, dass diese auch bei deren Auswahl entscheidend mitgewirkt hat, auch wenn das im Text nur im Fall 128Bhı¯maguptas explizit gemacht wird: „Da nun ließ die Grausame [i. e. 129Didda¯] ohne Bedenken ihren letzten Enkel, der ¯magupta hieß, den Todespfad betreten, der den Namen ‚Königtum‘ trägt.“113 128 Bhı

Als nach dem plötzlichen Tod König 131Harira¯jas im Jahr 1028 kurzfristig ein Nachfolger für ihn bestimmt werden musste, machten die anwesenden Eka¯n˙gas gemeinsam mit dem Milchbruder entweder 131Harira¯jas oder dessen Vaters ¯ mara¯ja den Knaben Ananta, den Bruder 131Harira¯jas, zum König. Es 130Samgra ˙ scheint, als sei er der Obhut seiner Mutter S´rı¯lekha¯ unterstellt worden – die nach Auskunft Kalhanas zunächst wohl selbst Ambitionen auf den Thron gehabt hatte ˙ –, jedenfalls schickte diese ihrem Schwager Vigrahara¯ja Truppen entgegen, als er anrückte, „um“ 132Ananta „das Königtum zu rauben“ (ra¯jyam … hartum).114 ˙ Nachdem im Jahr 1101 Gargacandra, ein Parteigänger König 136Uccalas, zusammen mit seinen Begleitern dessen Mörder getötet hatte, bemühte er sich zunächst darum, geeignete Personen zu finden, die als Regenten für 136Uccalas minderjährigen Sohn hätten fungieren können. Als jedoch die Tantrins, Reitersoldaten und Minister gemeinsam Salhana, einen Halbbruder 136Uccalas, der sich ˙ während der Kämpfe versteckt gehalten hatte, herbeibrachten, weihte er kur115 zerhand diesen zum König. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt eine genauere Betrachtung der Fälle, in denen der Thronfolger nicht der herrschenden Dynastie entstammte,116 noch aussteht,117 so lässt sich, meine ich, doch auch auf der Grundlage der hier präsentierten Befunde bereits ein erstes Fazit im Hinblick auf die eingangs formulierten Fragestellungen ziehen. So wie Kalhana die Dinge darstellt, war die Thronfolge ˙ im mittelalterlichen Kaschmir einerseits maßgeblich von Vorstellungen beeinflusst, die sich im Zusammenhang mit der Regelung der Erbfolge entwickelt haben dürften. Die Herrschaft ging nach dem Ableben, der Abdankung oder der Vertreibung eines Königs zumeist auf seinen ältesten, ausnahmsweise auch 112 Vgl. oben, S. 150f. 113 Ra¯jataran˙gin¯ı VI, 313: ˙ atha mrtyupathe ra¯jyana¯mni svairam nives´itah | ˙¯ bhidhas ˙taya¯ ||313||. kru¯raya˙¯ caramah pautro bhı¯magupta ˙ 114 Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı VII, 134–141. 115 Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı VIII, 370–376. ˙ 116 Vgl. oben, S. 154f. 117 Vgl. dazu demnächst Konrad Klaus/Theresa Wilke, Die Thronbesteigung Durlabhavardhanas und weitere ‚unübliche‘ Fälle des Herrschaftsübergangs im mittelalterlichen Kaschmir, dargestellt nach der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ des Kalhana, in: Tilmann Trausch (ed.), ˙ ˙ Norm, Normabweichung und Praxis des Herrschaftsübergangs in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 3), Göttingen 2019, 135–157.

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einmal auf einen nachgeborenen Sohn, bisweilen auf seinen jüngeren Bruder und im Notfall, wenn es keinen Sohn oder Bruder gab, auf irgendeinen anderen männlichen Blutsverwandten über. Dabei war die Thronfolge aber zugleich häufig auch ein teils heimlich, teils öffentlich ausgetragener Machtkampf, bei dem unterschiedlichste Personen und Personengruppen versuchten, ihren Favoriten durchzusetzen oder zumindest ihre Position am kaschmirischen Königshof zu verbessern. Darüber hinaus ergibt sich aus den für diesen Aufsatz herangezogenen Textabschnitten sehr deutlich, dass Kalhana zwischen dem ra¯jan, dem König, der ˙ Person des Königs, und dem ra¯jya, dem Königtum, dem Amt des Königs, klar zu trennen wusste. Letzteres, so scheint es mir im jetzigen Stadium der Beschäftigung mit seinem Werk, war für ihn ein – immer wieder auch von anderen begehrtes – Besitztum der königlichen Familie, das dem jeweils amtierenden König als Oberhaupt dieser Familie einerseits ein weitgehendes Nutzungsrecht des Landes und eine weitgehende Weisungsbefugnis gegenüber den Bewohnern des Landes bescherte, ihm genauso aber auch eine weitgehende Fürsorgepflicht für das Land und seine Bewohner auferlegte. Danach, wie verträglich für alle anderen er von dem Nutzungsrecht und der Weisungsbefugnis Gebrauch machte und wie engagiert er seiner Fürsorgepflicht nachkam, wurde ein jeder König von ihm beurteilt.

Quellen- und Literaturverzeichnis Matthias Becher, Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich. Einführende Gedanken, in: ders. (ed.), Die mittelalterliche Thronfolge im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 84), Ostfildern 2017, 9–20. Otto Böhtlingk, Sanskrit-Wörterbuch in kürzerer Fassung. Sechster Theil, St. Petersburg 1886. Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı or Chronicle of the Kings of Kashmir, Bd. 1: Sanskrit Text with ˙ ˙ Critical Notes, ed. Marc A. Stein, Bombay 1892. Konrad Klaus, Kalhanas ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘: ein indisches Pendant zur Kaiserchronik?, in: ˙ ˙ Elke Brüggen (ed.), Erzählen von Macht und Herrschaft. Die ‚Kaiserchronik‘ im Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung (Macht und Herrschaft 5), Göttingen 2019, 133–160. Konrad Klaus/Theresa Wilke, Die Thronbesteigung Durlabhavardhanas und weitere ‚unübliche‘ Fälle des Herrschaftsübergangs im mittelalterlichen Kaschmir, dargestellt nach der ‚Ra¯jataran˙gin¯ı‘ des Kalhana, in: Tilmann Trausch (ed.), Norm, Normab˙ ˙ weichung und Praxis des Herrschaftsübergangs in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 3), Göttingen 2019, 135–157. Bernhard Kölver, Textkritische und philologische Untersuchungen zur Ra¯jataran˙gin¯ı des ˙ Kalhana (Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland. Supplement˙ band 12), Wiesbaden 1971.

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Krishna Mohan, Early Medieval History of Kashmir [With Special Reference to the Loharas, A. D. 1003–1171], New Delhi 1981. Krishna S. Saxena, Political History of Kashmir (B. C. 300 – A. D. 1200), Lucknow 1974. Hartmut Scharfe, The State in Indian Tradition (Handbuch der Orientalistik, 2. Abt.: Indien, Bd. 3: Geschichte), Leiden et al. 1989. Walter Slaje, Kaschmir im Mittelalter und die Quellen der Geschichtswissenschaft, in: Indo-Iranian Journal 48 (2005), 1–70. Marc A. Stein, Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı. A Chronicle of the Kings of Kas´mı¯r. Translated, ˙ ˙ with an introduction, commentary, and appendices, 2 Bde., Westminster 1900 [Online: https://archive.org/details/RajataranginiVol1 und https://archive.org/details/Rajataran giniVol2 (05. 08. 2019)].

Mechthild Albert

Herrscher und Berater/in in der kastilischen Literatur des Mittelalters. Transkulturelle Konstellationen in der Epoche Alfons’ des Weisen

Abstract The present article examines the relationship between female counselor and male ruler in the epoch of Alfonso the Wise by means of three episodes from ‘Calila and Dimna’: ‘The Investigation of Dimna’, ‘The Lion and the Religious Lynx’ and ‘King Cederano, his Counselor Belet, and his Wife Helbed’. In all of these cases, the Queen Mother or the wife of the King intervenes in crisis situations to secure the power of the king, to exhort him to affect control and Mesura or Temperantia, to Prudentia and Justitia, thereby preserving the authority and legitimacy of his rule. To these narratives of oriental origin, which were translated into Spanish in the middle of the thirteenth century, Latin chronicles and other documents of the same epoch are consulted for a transcultural comparison, allowing also a parallel between fictional and pragmatic texts. Regardless of cultural differences, the women close to the king are unanimously valued as important informal counselors who contribute significantly to securing male rule through the values they impart.

Neben dem „obersten Herrschaftsträger“ fokussiert der Sonderforschungsbereich 1167 insbesondere auch „das Beziehungsgeflecht, das eine Ausübung von Macht und Herrschaft erst möglich macht“. Dazu gehören „Personen von unterschiedlichem Status, von der Gemahlin bzw. den Gemahlinnen des Herrschers über Ratgeber, Provinzfürsten bzw. -statthalter bis hin zu lokalen Eliten, die aufgrund ihrer (land-)wirtschaftlichen Macht eine herrschaftsähnliche Position aufbauen können“.1 Eben diesen familiären Ratgeberinnen, den Gemahlinnen und Müttern des Herrschers, sowie ihrer herausragenden Bedeutung für die Erhaltung bzw. Stabilisierung seiner Macht und Herrschaft widmet sich der vorliegende Beitrag anhand narrativ-fiktionaler sowie pragmatischer Texte, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf der Iberischen Halbinsel entstanden sind bzw. rezipiert wurden.

1 Einrichtungsantrag für den Geplanten Sonderforschungsbereich 1167 ‚Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Oktober 2015.

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Mechthild Albert

Mit seiner Monographie ‚Kontrolle der Macht‘ hat Gerd Althoff einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der ‚Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter‘ geleistet. Anhand einer Fülle vornehmlich chronikalischer Quellen zwischen Karolinger- und Stauferzeit analysiert er das problematische Verhältnis zwischen Herrschern und Ratgebern im Hinblick auf die „Feststellung von regelgeleitetem Verhalten bei und im Umfeld von politischer Willensbildung“,2 wobei er vor allem „Konflikte und Krisen“ in den Blick nimmt, welche „die Notwendigkeit von Beratung und Verhandlung offensichtlich erhöhten“.3 Erstaunlicherweise identifiziert er dabei keinerlei Beraterinnen, und seine transkulturelle Perspektive von Herrscherberatung beschränkt sich auf die Vorstellung eines „vorstaatliche[n]“ ‚Palavers‘.4 Der folgende Beitrag konzentriert sich dagegen gerade auf die Figur der Beraterin in der Epoche Alfons’ X. von Kastilien, wobei er auch einige transkulturelle Aspekte weiblicher Herrscherberatung berücksichtigt. Die Iberische Halbinsel ist im Mittelalter ein transkultureller Raum, in dem das Zusammenleben der drei großen monotheistischen Religionen nicht zuletzt einen enormen Wissenstransfer zwischen den Sprachen Arabisch und Hebräisch, Latein und Altspanisch generiert, dessen Träger die sog. Übersetzerschule von Toledo ist. Neben der Philosophie und diversen Fachwissenschaften, darunter Astronomie, Medizin und Ingenieurwesen, handelt es sich bei etlichen der aus dem Arabischen übersetzten Texte um Weisheitsliteratur, die u. a. das Verständnis von Macht und Herrschaft reflektiert. Damit bildet sich Mitte des 13. Jahrhunderts in Spanien eine Tradition von Fürstenspiegeln orientalischer Herkunft heraus,5 die bis ins 14. Jahrhundert gegenüber dem westlichen Modell des Aegidius Romanus, seinem ‚De regimine principum‘ aus den 1270er Jahren, dominieren wird. Neben ihrem betont ‚säkularen‘ Charakter ist ein Spezifikum dieser östlichen Weisheitsliteratur die Unterweisung des Herrschers durch einen Philosophen, wie sie paradigmatisch in dem um 975 belegten Traktat ‚Sirr alasrâr‘ konzipiert wird, der, dank der iberischen Translationstätigkeit, im Abendland als ‚Secretum secretorum‘ bekannt ist. Diese apokryphe Belehrung Alexanders des Großen durch Aristoteles wird um 1110 in der ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi erwähnt und wenig später in Auszügen von Johannes Hispalensis für die Gräfin Theresia von Portugal übersetzt. Mitte des 13. Jahrhunderts (vor 1256) wird die vollständige Abhandlung unter dem Titel ‚Poridat de las poridades‘ aus dem Arabischen direkt ins Altspanische übertragen, und 2 Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter, Darmstadt 2016, 32. 3 Ebd., 31. 4 Ebd., 12. 5 Für das Folgende vgl. Adeline Rucquoi/Hugo O. Bizzarri, Los Espejos de Príncipes en Castilla: entre Oriente y Occidente, in: Cuadernos de Historia de España 79 (2005), 7–30.

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zwar im Umfeld des Hofes von Alfons X., der zugleich als Macht-, Kultur- und Wissenszentrum fungierte.6 Alfons der Weise, selbst Autor bzw. Koordinator und Auftraggeber historiographischer Abhandlungen, astronomischer Tafeln und Traktate, eines Schachund Spielebuchs sowie von Marienlyrik, integrierte Teile des ‚Secretum‘ in sein umfangreiches Gesetzeswerk, die ‚Siete partidas‘, in dem er eine neue „Regierungsideologie“,7 ein höchst differenziertes Konzept von Herrschaft und politischer Macht entwickelt mit dem Ziel, die kastilische Monarchie juristisch zu fundieren. Die Herrschaft Alfons’ (1221–1284, r. 1252–1284) bezeichnet damit einen spezifischen Chronotopos, der zum einen durch die „Erfindung der politischen Wissenschaft“8 und die Konsolidierung der monarchischen Herrschaftsform, deren staatstheoretische, juristische und ethische Grundlegung charakterisiert ist, zum anderen durch einen besonders intensiven Kulturtransfer zwischen Orient und Okzident. In den ‚Siete partidas‘ (z. B. II, 9; III, 21)9 wie in den zeitgenössischen Fürstenspiegeln spielt das Verhältnis zwischen Herrscher und Berater eine wichtige Rolle10 – ebenso in ‚Calila e Dimna‘, einer Sammlung von Tierfabeln, welche anhand von Exempla in unterhaltsamer Form die Funktion eines Fürstenspiegels erfüllt. Ausgehend von einer ersten indischen Fassung wurde sie aus dem Sanskrit ins Parsi, um 750 von Ibn al-Muqaffa‘ ins Arabische und danach, auf Anweisung des damaligen Infanten Alfons, 1251 ins Altspanische, wenig später ins Lateinische und von dort in viele europäische Volkssprachen übersetzt.11 In dem nach dem orientalischen Prinzip verschachtelter Rahmen- und Binnenerzählungen strukturierten Text12 spiegelt sich auf mehreren Ebenen das Verhältnis

6 Vgl. Barbara Schlieben, Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons’ X. (1252– 1284) (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 32), Berlin 2009. 7 Joseph F. O’Callaghan, The Ideology of Government in the Reign of Alfonso X of Castile, in: Exemplaria Hispanica 1 (1991–1992), 1–17. 8 Hugo O. Bizzarri, La estructura de Castigos e documentos del rey don Sancho IV. Apuntes para la historia de la formación de la ciencia política de la Castilla del siglo XIII, in: Incipit 17 (1997), 83–138, hier 108. 9 Las Siete Partidas del Rey Alfonso El Sabio, cotejadas con varios Códices Antiguos por la Real Academia de la Historia, Madrid 1807, http://fama2.us.es/fde/lasSietePartidasEd1807T3.pdf (29. 08. 2019), hier 56–86, 653–655. 10 José M. Cacho Blecua, Del Liber consolationis et consilii al Libro del caballero Zifar, in: La Corónica 27, 3 (1999), 45–66, hier 48 erwähnt u. a. das ‚Libro de los doce sabios‘ XXXVI, LV, LXV; ‚Secretum secretorum‘ XXX; Juan Gil de Zamora: ‚De preconiis Hispaniae‘, ‚De consilium regis‘; ‚Castigos del rey don Sancho‘ XXXII, XXXVIII. 11 Die weitverzweigte Rezeptionsgeschichte der arabischen Version ‚Kalı¯la wa-Dimna‘ wird derzeit an der FU Berlin von der Islamwissenschaftlerin Beatrice Gründler aufgearbeitet. 12 Vgl. David Wacks, Framing Iberia: Maqa¯ma¯t and Frametale Narratives in Medieval Spain, Leiden 2007.

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zwischen Herrscher und Ratgeber, mithin von Macht und Weisheit.13 Zwei Rahmenerzählungen setzen zunächst König Sirechuel und den Arzt Berzebuey, sodann König Dicelem und den Philosophen Burduben miteinander in Beziehung, gefolgt von der titelgebenden Binnenerzählung (ihrerseits Rahmen weiterer Geschichten), welche am Hof des Löwen, des Königs der Tiere, angesiedelt ist. Während dieser erste Teil vor allem Formen von Hinterlist und Verrat sowie den entsprechenden Gegenstrategien gewidmet ist, illustriert der zweite Teil, in dem verstärkt menschliche Akteure auftreten, ein auf Empathie und Solidarität gründendes Gemeinwesen. Neben den überwiegend männlichen Beraterfiguren schildern drei Episoden den Protagonismus von Beraterinnen, welche in Krisensituationen dazu beitragen, die Macht des Herrschers zu sichern. Im Folgenden sollen diese orientalischen Erzähltexte vorgestellt und im Hinblick auf die Funktion der Beraterin sowie die dadurch vermittelten Leitvorstellungen von Herrschertugenden analysiert werden. Zur transkulturellen Kontextualisierung sollen danach einige historische Ratgeberinnen und deren Handlungsmöglichkeiten präsentiert werden, so wie sie sich aus zeitgenössischen Chroniken christlicher Autoren auf der Iberischen Halbinsel erschließen, um abschließend einen kurzen Ausblick auf die Beraterin in Geschichte bzw. Geschichtsschreibung, Fiktion und Traktatliteratur zu eröffnen. Dimna, der Antiheld der Tierfabeln, ist ein durchtriebener Schakal, der sich bei Hof zu etablieren sucht, dabei jedoch den taktischen Fehler begeht, dem König einen aus der Fremde stammenden Bullen vorzustellen. Als dieser rasch die Gunst des Herrschers gewinnt und zu dessen Ratgeber avanciert, zettelt Dimna eine Intrige an, welche den König schließlich dazu bringt, seinen Favoriten zu töten. An dieser Stelle kommt es in dem dramatisch bewegten Kapitel IV, betitelt La pesquisa de Dimna (‚Die Ermittlung gegen Dimna‘), zur ersten Intervention der Königinmutter, droht doch der feige Mord an dem getreuen Berater dem Ruf des Königs zu schaden und die Legitimität seiner Herrschaft in Frage zu stellen. Als Ratgeberin ihres Sohnes geht sie, gemäß der didaktischen Fabel, in mehreren wohldurchdachten Schritten vor, wobei sie den Herrscher zunächst veranlasst, sein unbedachtes Handeln zu reflektieren, um die Schuld des Schakals herauszustellen, der als neiderfüllter und illoyaler Ratgeber agiert hatte. In einem zweiten Schritt ist sie es, welche Anklage gegen Dimna erhebt und diesem rhetorisch die Stirn bietet, während ihr Sohn, der König, in Passivität verharrt. Schließlich drängt sie ihn dazu, dem schlechten Ratgeber den Prozess zu

13 Zum Verhältnis von Macht und Weisheit in ‚Calila e Dimna‘ vgl. Ghislaine Fournès, El Calila e Dimna de Alfonso X: expresión del saber o representación del poder, in: Jacqueline Covo (ed.), Creación e historia: los poderes de la imagen, Lille 1998, 115–123 und Makram Abbès, Le sage et le politique dans ‚Kalila et Dimna‘, in: Eidôlon 101 (2012), 27–38.

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machen und unverzüglich Recht zu sprechen, da die Straflosigkeit des Schuldigen die Autorität des Königs gegenüber seiner Gefolgschaft untergraben würde. Abgesehen von der moralischen und juristischen Frage des Mordes am gerechten Ratgeber und dessen notwendiger Ahndung durch den Herrscher (in diesem Fall selbst der Täter, während als der eigentliche Schuldige der falsche Ratgeber dargestellt wird), beinhaltet das Kapitel eine komplexe Reflexion über die Macht- und Autoritätsbeziehungen auf der Ebene von Familie, Hof bzw. Machtelite und Staat. Die exemplarische Bestrafung Dimnas ist letztlich ein Machtbeweis, von dem die Autorität des Königs gegenüber seinem Hof und dem Reich abhängt, wie ihm seine Mutter erklärt: Si dexas a Digna vivo, faziendo tal traiçión, atreverse an a ti tus mesnadas et ninguno non se temerá de tu justiçia por grant pecado que faga.14 Neben dieser internen, familiären Instanz greift hier ebenfalls ein Vertreter der herrschaftlichen Administration ein, nämlich der alcalde, d. h. der „Kadi“, der Richter, um zu betonen, dass eine der höchsten Pflichten des Herrn darin besteht, den Guten zu belohnen (gualardonar) und den Übeltäter zu bestrafen ( justiciar al malfechor15), womit er die von der Mutter geltend gemachten moralischen Maßstäbe von Herrschaft bestätigt. In der von beiden Seiten – König und Königinmutter – durch Zornausbrüche hoch emotionalisierten Episode, die geradezu als dramatische Theaterszene gelesen werden kann, alternieren mütterliche Ermahnung und zögerliches Handeln des Sohnes bzw. dessen Auflehnung gegen ihren Einfluss, wobei das Zusammenwirken unterschiedlicher Ebenen von Autorität deutlich wird (familiär/informell vs. institutionell/formell). Die Episode um Dimnas Gerichtsverhandlung ist allerdings erst um 750 von Ibn al-Muqaffa‘, dem Übersetzer vom Persischen ins Arabische, in die Sammlung ‚Calila e Dimna‘ eingefügt worden, um den bislang ungestraften falschen Ratgeber Dimna seiner gerechten Strafe zuzuführen und der Fabel eine angemessene Moral zu unterlegen.16 Für diese Ergänzung bediente sich Ibn al-Muqaffa‘ vermutlich bei der Geschichte vom frommen Luchs (XIV El cerval religioso),17 in der es der Löwenmutter noch rechtzeitig gelingt, ihren Sohn, den König, davon abzuhalten, einen zu Unrecht angeklagten Ratgeber zu töten. Dieses Kapitel, dessen Ausgangspunkt die Frage nach einem Exemplum dafür ist, de cómmo se mejora la fazienda del rey, demonstriert beispielhaft die Gefahren, denen der Berater eines Herrschers ausgesetzt ist, und die Tugenden, über die der Herrscher in seinem Verhältnis zu diesem verfügen muss. Als soziopolitischer Kontext dieses 14 Calila e Dimna, ed. José M. Cacho Blecua/María J. Lacarra, Madrid 1987, 200. 15 Ebd., 197; vgl. auch ebd., 191: quando el malfechor es penado por lo que faze, non se atreven a fazer otro tal los otros con miedo de la justiçia, et esto es pro de la mesnada et de los pueblos. 16 Vgl. ebd., 179, Anm. 88. 17 Cerval kann ‚Schakal‘ und ‚Luchs‘ bedeuten; zur Abgrenzung vom Schakal Dimna wird für den „frommen Schakal“ die Bezeichnung ‚Luchs‘ gewählt.

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Lehrstücks wird eine im Prozess der Konsolidierung und Zentralisierung befindliche Monarchie skizziert, die sich insofern durch eine zunehmende Ausdifferenzierung im Bereich der Verwaltung auszeichnet.18 Aufgabe des Herrschers ist es dabei, die Elite seiner Mitarbeiter von Grund auf zu kennen und jeden von ihnen mit der passenden Funktion zu betrauen sowie Lohn und Strafe zu verteilen. Auf diese Prämisse folgt das Fallbeispiel des Luchses, der ein frommes und asketisches Leben führt, so dass der König, der Löwe, ihn zu seinem Berater beruft. Der Luchs versucht sich dieser Aufgabe zu entziehen, indem er neben seiner Unerfahrenheit insbesondere auf die Gefahren des Amtes hinweist, setzt er sich doch nicht nur endlosen Sorgen und Ängsten aus – el que sirve al rey rescibe en una ora de dapno et de miedo más que non rescebirá otro en toda su vida19 –, sondern begibt sich tatsächlich in Lebensgefahr – está a peligro de muerte20 –, da er als Privilegierter bei Hof nichts als Neid und Feindschaft zu gewärtigen hat. Trotz seiner Befürchtungen beugt er sich schließlich dem Willen des Königs, da dieser ihm Loyalität und Schutz verspricht, sollte einer der Höflinge oder Vasallen gegen ihn intrigieren: alguno de tus vasallos me mesclara21 bzw. de lo mesclar con el león et decir mal dél, por que lo el león matase.22 Das mezclar und der mesturero, der schlechte Ratgeber und Intrigant, welcher Zwietracht sät, sind im Mittelalter Schlüsselbegriffe des spanischen Hofdiskurses, mit weitreichenden Konsequenzen für das Bezugssystem von Macht und Herrschaft.23 Selbstverständlich bewahrheiten sich die Befürchtungen des frommen Luchses: Die Neider beschuldigen ihn, ein für den Tisch des Herrschers bestimmtes Fleischstück unterschlagen zu haben, woraufhin der König in Zorn gerät und befiehlt, den Luchs zu töten.24 Rechtzeitig interveniert die Mutter des Löwen in diesem Moment, um den zu Unrecht angeklagten Berater zu retten, wobei sie ihrem Sohn, im Einklang mit den Fürstenspiegeln der Zeit Alfons’ X., einige grundlegende Regeln gerechter Herrschaft in Erinnerung ruft, allen voran Selbstkontrolle, Reife und Reflektiertheit. Überstürztes Handeln schadet und kann zu nicht wiedergutzuma18 Las obras de los reyes son muchas et han menester muchos omnes; leales privados y vasallos que le den consejo (Calila e Dimna, ed. Cacho Blecua/Lacarra 1987, 305). 19 Ebd., 308. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., 309. 23 Vgl. Mechthild Albert, El mesturero y la economía de las emociones en el orden feudal, Vortrag im Rahmen des International Medieval Meeting Lleida 2018 ‚Emotions in the Middle Ages‘. 24 Vgl. Mechthild Albert, Ira y poder. Consideraciones en torno a una relación problemática en ‚Calila e Dimna‘ [Anger and Power. Considerations about a Problematic Relationship in ‚Calila y Dimna‘], Vortrag im Rahmen des International Medieval Meeting Lleida 2017 ‚Feelings in the Middle Ages‘ (Publikation in Vorbereitung).

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chenden Fehlern und lebenslanger Reue führen, wie dies bereits das tragische Schicksal des Bullen gezeigt hat; die Mutter rät ihm deshalb, seine Entscheidungen mit guter Weile und Besonnenheit zu fällen.25 Ein Herrscher muss sich durch seine Menschenkenntnis auszeichnen, um den engsten Kreis seiner Vertrauten auszuwählen, denen er sodann, wie im ‚Vertrag‘ mit dem Luchs, „Treue und Loyalität“ schuldet, fieldat et lealtad.26 Seine Sorge muss vor allem seinem Machterhalt gelten; so sei es verhängnisvoll, allein auf die institutionelle Autorität seines Ranges bzw. Amtes zu vertrauen und die Gefahr zu unterschätzen, die von den Schwächeren ausgeht, sobald diese sich zusammenschließen, so wie aus schwachen Halmen ein starkes Seil wird.27 Daher rät sie ihm im Interesse der Wahrung seiner Macht dringend, den rechtschaffenen Luchs wieder in seinen Status und seine Würde als „geheimer Rat“ einzusetzen,28 und interpretiert dabei den vorliegenden Konflikt als Prüfung (prueba), welche nur dazu beitrage, die amicitia (amor) des Herrn gegenüber seinem treuen Vasallen zu stärken. In diesem Sinne beschließt die Königinmutter ihre Rede mit den Worten: „Und du hast den Luchs auf die Probe gestellt und kennst ihn und musst ihn deshalb wieder in deine Liebe aufnehmen.“29 Als der König diesen Rat befolgen will, misstraut ihm der kluge Ratgeber jedoch und verlangt zunächst eine ausdrückliche Entschuldigung, bevor er ihm seinerseits sein altes Wohlwollen schenkt. Dazu ist der König bereit, verlangt dafür aber wiederum eine explizite Vergebung.30 Mit dieser förmlichen Versöhnung wird die amicitia zwischen dem Herrscher und seinem loyalen Berater auf einer neuen Ebene des Vertrauens wiederhergestellt, dank des beratenden Eingreifens der Königinmutter. Die „bösen Feinde“ indes werden in die Verbannung geschickt. Das dritte und letzte Beispiel setzt menschliche Akteure in Szene, wobei nicht die Mutter, sondern die Gattin bzw. eigentlich die Favoritin des Herrschers als Beraterin fungiert. Es handelt sich um Kapitel XI, ‚Von König Cederano, seinem Wesir Beled und seiner Frau Elbed‘,31 eine Exempelgeschichte zur Illustration der in der Rahmenerzählung vom König aufgeworfenen Frage, welche Eigenschaft für einen Herrscher unerlässlich sei, um sich selbst, sein Reich bzw. seine Herrschaft und seine Macht zu erhalten (para guardar a sí et a su regño et a su poder): ob dies Maß, Herzensadel, Stärke oder Aufrichtigkeit seien (si es mesura, o nobleza de coraçón, o esfuerzo, o franqueza). Die Antwort des Philosophen ist 25 26 27 28

Calila e Dimna, ed. Cacho Blecua/Lacarra 1987, 312. Ebd. Ebd., 313. […] torna[r] el lobo cerval en su estado et en su dignidad, que se avía de ser en todas tus poridades (ebd., 313). 29 Et tú has provado al lobo cerval, et conósceslo, por que lo deves tornar a tu amor (ebd., 314). 30 Et tú dévesme perdonar este pecado por el bien que te fize ante (ebd., 315). 31 Del rey Cederano et del su alguacil Beled et de su mujer Elbed (ebd., 279–299).

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eindeutig: Es ist die Mäßigung, das rechte Maß, die mesura.32 Diese allgemein verbindliche aristotelische Tugend gilt insbesondere für den Herrscher, der darin durch den Rat seiner Weisen und Getreuen unterstützt wird.33 Das Bündnis von Macht und Weisheit, verkörpert in der persönlichen Beziehung zwischen dem Herrscher und seinem Berater, dem privado, bildet die Grundlage einer klugen, stabilen und erfolgreichen Herrschaft, wie dies der Philosoph in der Einführung zu diesem Kapitel erläutert.34 Diese elementare Lektion eines jeden Fürstenspiegels wird durch das folgende Exemplum veranschaulicht, in dem König Cederano gegen seine Widersacher und schlechten Ratgeber, die Brahmanen, auf den guten Rat seines Ratgebers Beled, des Philosophen Caimerón und seiner Gattin Elbed zählen kann. Beled ist die rechte Hand des Herrschers; sein Amt wird im Altspanischen entweder mit dem romanischen Begriff privado oder mit dem arabischen Lehnwort alguacil bezeichnet, das vom klassisch arabischen wazı¯r (‚Wesir‘, ‚Minister‘) stammt, bzw. vom andalusisch-arabischen alwazir (mit agglutiniertem Artikel). In den zeitgenössischen Traktaten wird er als Gehilfe des Königs bei der Ausübung seiner Herrschaft bezeichnet35 und, im Rahmen der Körpermetapher, mit der Seele des Staatswesens verglichen, während der König dessen Verstand ist.36 Das ‚Libro complido en los judizios de las estrellas‘, 1254 übersetzt auf Anordnung Alfons’ X., fasst das Verhältnis zwischen Herrscher und alguacil bildlich in die Konstellation von Sonne und Mond, die im Hinblick auf Macht und Ehre ebenbürtig seien.37 Die äußerst artifiziell strukturierte Erzählung aus ‚Calila e Dimna‘ gliedert sich in zwei Teile, in deren erstem die Gattin als privilegierte Beraterin fungiert, die in einer Krisensituation zur Rettung des Königs und seiner Herrschaft beiträgt, während sie im zweiten Teil beinahe seinem Zorn zum Opfer fällt – eine neuerliche Gelegenheit, die Notwendigkeit von Selbstbeherrschung und Affektkontrolle zu demonstrieren, und eine Prüfung, die, wie in der Geschichte vom as32 […] la cosa con que el rey debe guardar su reino et sostener su poder et honrar a sí mesmo sí es mesura (ebd., 279). 33 […] que propiamente se deven consejar con los sabios et con los fieles, por tal que les departan el buen consejo (ebd., 279). 34 Et quando el rey [fuere] sabio et fuerte, et su consegero sabio et leal et desengañador, a ese da Dios lo que quisiere de seso et de ganancia, et bevirá siempre en bien et en buena andancia, et non le podrá nozir su enemigo, nin aver poder sobre él (ebd., 280). 35 Libro de los cien capítulos, ed. Marta Haro Cortés, Frankfurt a. Main/Madrid 1998, 90f. Zum Begriff alguacil siehe auch Bodo Müller, Diccionario del español medieval. Fascículo 24, Heidelberg 2003, 289. 36 Secreto de los secretos/Poridat de las poridades. Versiones castellanas del Pseudo-Aristóteles Secretum secretorum, estudio y ed. Hugo O. Bizzarri, Valencia 2010, 123. 37 Alfonso X, Iudizios de las estrellas, in: Lloyd A. Kasten/John Nitti/Wilhelmine JonxisHenkemans (edd.), The Electronic Texts and Concordances of the Prose Works of Alfonso X, El Sabio, Madison 1997, 11a, 27/29.

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ketischen Luchs, letztlich zu einer Bekräftigung des Vertrauensverhältnisses führt, das mit der ausdrücklichen Teilhabe von Berater und Beraterin an der Macht des Herrschers besiegelt wird. Der Prozess der Beratung durchläuft mehrere Etappen: Ausgangspunkt ist ein wiederholter Angsttraum des Königs,38 für dessen Deutung er fatalerweise auf den Rat der Brahmanen, seiner alten Feinde, zurückgreift, die er seinerzeit blutig verfolgt hatte. Diese prophezeien ihm nun den Untergang seines Reiches, sofern er nicht die Personen opfere, die ihm am nächsten stehen: seinen Sohn, seinen Berater (privado) und seine Gattin. Daraufhin verfällt der König in Trauer, Verwirrung und Furcht, sieht er doch bereits seine Autorität verloren, sollte er sich zum Opfer bereit erklären und seine Liebsten preisgeben.39 Als er sich in dieser kritischen Situation dem Rat seiner üblichen Berater verschließt, bittet der ihm am nächsten stehende Ratgeber (privado) die Favoritin Elbed, als Beraterin zu intervenieren, um Schaden von Herrscher und Reich abzuwenden.40 Damit greift nun die intimste Form der Beratung, hat doch die Gattin einen Zugang zum König, der selbst dessen engsten Beratern verwehrt bleibt: ca non puede ninguno entrar al rey sinon tú. Mit folgenden Worten ermuntert der Ratgeber sie, ihre Mission als privilegierte Vertrauensperson zu erfüllen: Pues liévate, buena dueña, et vete para el rey et espacia su coracón, et conórtalo et aconséjalo; et dile lo que entendieres que le fará pro, et faznos merced a todo el pueblo.41 Zugleich warnt er sie vor der Unbeherrschtheit des Königs und seinem schnell aufflammenden Zorn.42 Ihrer Verantwortung bewusst, übernimmt Elbed diese Aufgabe, indem sie ihren „gelobten Herrn“ (señor loado) in einer bedside conversation zunächst nach dem Grund seiner Kümmernis fragt (cuidado et dolor) und dabei auf die für das korporative Konzept von Herrschaft charakteristische Körpermetapher vom König als Haupt des Gemeinwesens zurückgreift.43 Sein Problem (cuita) vermag der König nur mit Hilfe kluger Berater zu lösen44 und so ist er bereit, den freundschaftlichen Rat (vgl. amicitia) seiner Gattin entgegenzunehmen. Diese bietet an, ihr Leben zu opfern, um seine Herrschaft zu sichern – por librar a ti de tristeza et porque finques en tu regño –, warnt ihn darüber hinaus jedoch vor dem 38 39 40 41 42

Calila e Dimna, ed. Cacho Blecua/Lacarra 1987, 280–281. ¿Et non avré vergüenza de me llamar rey, perdiendo yo aquestos? (ebd., 283). […] le aconsejaron su dapño et el nuestro et de todo el pueblo (ebd., 283). Ebd., 284. […] el rey ha por costumbre que, quando se ensaña, non se sufre en ninguna guisa, ni se da vagar, onde por ventura aquellos le farán verter algunas sangres (ebd.). 43 […] ca el rey es tal con el pueblo commo la cabeça con el cuerpo: quando la cabeça está bien, el cuerpo está bien. Et nós non podemos ser alegres seyendo nuestro rey triste et con pesar (ebd., 284). 44 […] aconsejar con sus amigos et con los sesudos omnes, por que lo desengañan de su fazienda (ebd., 285).

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Rat der Brahmanen sowie vor seinem eigenen impulsiven und irreversiblen Handeln: que non mates a ninguno arrebatadamente, porque después non te arrepientas; ca non podrás resucitar al que matares.45 Für den Leser ergibt sich daraus ein Wiedererkennungseffekt mit dem tragischen Schicksal des Bullen am Hof des Löwen und zugleich ein Vorgriff auf Elbeds eigenes Schicksal im zweiten Teil der Geschichte. Getreu der Maxime sämtlicher Fürstenspiegel warnt Elbed den König davor, ehemalige Feinde um Rat zu fragen, da diese aus Rache danach trachteten, ihm Macht und Herrschaft zu entreißen.46 Ihre eigene Autorität als Beraterin delegierend, rät sie ihm schließlich, den Philosophen Caimerón hinzuzuziehen, welcher den furchterregenden Traum in bonam partem deuten und damit eine glückliche Lösung herbeiführen wird. Die Macht des Herrschers bleibt erhalten, wofür er seiner Gattin und Beraterin dankt, die er als Instrument göttlichen Beistands betrachtet.47 Obwohl der König mithin in der Schuld seiner Favoritin steht, zieht diese aufgrund einer Lappalie seinen Zorn auf sich, dem sie um Haaresbreite zum Opfer fällt; zugleich stellt dieser zweite Teil eine Prüfung dar, die der Herrscher dank seines weisen Beraters Beled glücklich meistert. Nach der erfolgreichen Konfliktlösung kommt es nämlich durch einen ebenso banalen wie signifikanten häuslichen Zwischenfall zu einem Wutausbruch des Königs,48 der seinem Wesir (alguacil) daraufhin die Enthauptung der Favoritin befiehlt und eine weitere Aussprache darüber verweigert.49 Um die fatalen Konsequenzen des königlichen Zorns abzuwenden, rettet der kluge Ratgeber heimlich das Leben der Königin, und dies aus drei Gründen: Zum einen aufgrund der starken Persönlichkeit dieser „edlen Herrin“ (dueña), deren Lob eine Würdigung der klugen Beraterin darstellt,50 zum anderen weil er sich davon einen Prestigezuwachs erhofft, sobald 45 Ebd., 285. 46 […] por tal de se vengar de ti […] quiérente fazer perder todas las cosas que mantienen tu reino et con que tú estás apoderado. Et quando oviesses muerto estos, apoderarse han de ti et avrán tu reino (ebd., 286). 47 Si non que me ovo Dios merced et me acorrió con consejo de Helbed, fuera perdido en este siglo et en el otro. Et por esto conviene al omne cuerdo que se aconseje toda vía con sus amigos que sabe que lo desengañarán, ca Helbed me consejó muy bien, et yo creíla et falléme ende bien, et afirmó Dios mi regño con el buen consejo de los buenos amigos leales. Et vi manifiestamente cómo es Cainerón sabio (ebd., 287–288). 48 Aus Eifersucht gegenüber einer Zweitfrau bewirft sie ihn mit einer Reisschale, eine häusliche Szene, bei der sich jedoch die private Person des Gatten in ihrer institutionellen Würde als König verletzt sieht und mit dessen Machtmitteln reagiert. 49 ¿Ves lo que me fizo esta mujer, et cómo me desonró, et me afrontó et menospresció? Levádmela et descabeçádmela, et non me demandedes más consejo de su fazienda, nin entredes a mí fasta que la ayades muerto (ebd., 289). 50 […] ca es mujer muy sesuda et bien aventurada, tal que non ha su semejante entre las reinas. Et el rey non se podrá sofrir della, et Dios ha librado por ella a muchos de muerte, et avemos aún esperança en ella de quí adelante, si visquiere (ebd., 289–290).

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der Herrscher seinen Fehler eingesehen haben wird,51 und schließlich vor allem in der Absicht, seinem Herrn eine Lektion zu erteilen,52 wodurch einmal mehr die Funktion der Erzählsammlung ‚Calila e Dimna‘ als Fürstenspiegel in den Vordergrund tritt. Die entsprechende Belehrung (castigo), die vor den Gefahren affektgeladenen, überstürzten Handelns warnt und zur Mäßigung mahnt, bedient sich zweier für die orientalische Weisheitsliteratur typischer Verfahren: der Tierfabel53 und des Lehrdialogs. Im Verlauf einer brillanten dialektischen Disputatio,54 die mit Sentenzen, Maximen und moralischen Konzepten durchsetzt ist, führt der kluge Ratgeber und Lehrmeister Beled seinen Herrn zur Reue über sein unbedachtes Handeln und zur Wertschätzung seiner maßvollen und vernünftigen Gattin und Beraterin.55 Die Affektkontrolle, Mäßigung und Reflektiertheit ist nicht nur Thema des Dialogs zwischen Herrscher und Berater; indem er den König im Verlauf des Gesprächs immer wieder provoziert, gibt der Ratgeber ihm Gelegenheit, seine Lernfähigkeit unter Beweis zu stellen und Selbstbeherrschung zu üben. Unter der Leitung des weisen Beraters wird der Lehrdialog zur therapeutischen ‚Prüfung‘,56 einem Läuterungsprozess, in dem sich der unbeherrschte Cederano als vernunftgeleiteter und maßvoller Herrscher beweisen kann, dem das Gemeinwohl am Herzen liegt.57 Sobald dieses ‚Lernziel‘ erreicht ist, offenbart Beled seinem Herrn, dass er dessen Befehl zur Rache ignoriert und, in Vorwegnahme seiner Reue, die Favoritin Elbed gerettet hat – ein Akt des Ungehorsams (desobediencia) aus Loyalität gegenüber dem König und in dessen eigenem Interesse: por lealtad, et amando et queriendo tu pro.58 Bezüglich des glücklichen Ausgangs dieses Exempels liefert Manuskript B der in zwei Handschriften erhaltenen altspanischen Übersetzung ein aufschlussreiches Fazit,59 werden doch Elbed und Beled, die beiden guten Berater, an der 51 […] me presciará el rey más por ello sobre todos los omnes del mundo (ebd., 290). 52 […] que sabrá el rey que non debe el rey fazer las cosas apresuradamente (ebd., 290). 53 Die Fabel vom Täuberich und seinem Weibchen, ‚El palomo y su hembra‘, dient als Exemplum, greift sie doch unmittelbar den Fall des Königs auf, indem sie einen Gattenmord aufgrund falscher Anschuldigungen schildert. 54 Zu der entsprechenden dialogischen Gattung vgl. ebd., 293, Anm. 190. 55 Et a poca de ora amansóle la saña al rey et nenbróse de Helbed, cómo era mesurada et sesuda et entendida et muy apuesta, et fue en grant cuita (ebd., 290). 56 In Manuskript B wird der König eingestehen: tu quesiste me probar (Calila e Dimna. Nueva edición y estudio de los dos manuscritos castellanos, ed. Hans J. Döhla, Zaragoza 2009, 416). 57 […] le he dicho muchas cosas et le he estultado de mi palabra, onde non ha en el mundo rey que le semeje de quantos fueron et serán, pues que la saña non le fizo que me matase, seyendo yo tan rafez et de tan pequeña guisa; mas siempre fue cuerdo et sosegado, et manso et sesudo et mesurado; et non dixo más que debía nin lo mandó, ca es manso et amador de salud et de bien a todos (Calila e Dimna, ed. Cacho Blecua/Lacarra 1987, 298). 58 Ebd., 299. 59 Elbed lobt die buena mesura und gran piadat ihres königlichen Gatten, während der Berater (privado) ihn als Konklusion um Affektkontrolle und reflektiertes Handeln bittet: que tu

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Macht des Königs beteiligt, nachdem sie ihn zu einem guten Herrscher gemacht, ihm Macht und Herrschaft erhalten haben. Seinen Ratgeber bzw. Wesir Beled setzt der König als Bevollmächtigten und Siegelbewahrer ein: Et sey apoderado en mio rreyno et faz del lo que quisieres,60 dem er als Erstes die Investitur Elbeds als Königin aufträgt, die er über alle übrigen Frauen stellt und damit gewissermaßen zur Mitregentin erhebt: […] toma aquellos paños de Jorfa et dalos a Elbet, que yo quiero que ella sea poderosa sobre todas las mugeres de mi rreyno et quanto ella mandare de mi rreyno que sea fecho, et que tu tengas el sello de my reino.61

Als Stützen seiner Macht teilen die guten Berater die Macht des Herrschers, wobei bezüglich der Gender-Frage insbesondere auf das konstruktive Zusammenwirken von Berater und Beraterin hingewiesen sei, das durch den Gleichklang der Namen – Beled und Elbed – unterstrichen wird. Auch im Prozess gegen den Schakal Dimna war eine ähnliche Komplementarität zwischen der Mutter des Löwen und dem Leoparden, seinem Lehrer und Intimus zu beobachten.62 Während der Leopard der Königinmutter die notwendigen Informationen als Geheimnis (poridat) anvertraut, agiert diese auf der politisch-juristischen Bühne und rettet damit die Autorität des Königs gegenüber dem arroganten und treulosen Berater Dimna. Diesbezüglich weisen einige Forschungsbeiträge, gestützt auf die zeitgenössische Traktatliteratur, darauf hin, dass die Frau, gemäß der misogynen Tradition des Mittelalters, nicht zur Beraterin tauge, könne sie doch kein Geheimnis wahren. Sie sei egoistisch, illoyal und unfähig zur amicitia, der Grundlage einer vertrauensvollen Kooperation zwischen Herrscher und Berater63 – ganz abgesehen von Evas verhängnisvollem Rat an Adam, vom Baum der Erkenntnis zu kosten.64 Auch die orientalische Tradition liefert kontroverse Beiträge zum Frauenbild, wie zum einen die Warnung vor der Falschheit der Frauen im

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merced quiera ser vagoroso quando se ensañare et que pienses la cosa antes que la mandes esecutar (Calila e Dimna, ed. Döhla 2009, 417). Ebd. Dasselbe gilt für Elbed: Faz lo que quisieres, que nunca contra voluntad fare cosa (ebd.). Ebd., 417–418. […] que era de su mesnada et de sus privados et de los más honrados de su corte et con el que más se apartava (Calila e Dimna, ed. Cacho Blecua/Lacarra 1987, 179). Vgl. Graciela Cándano Fierro, Tradición misógina en los marcos narrativos de Sendebar y Calila y Dimna, in: Aengus M. Ward (ed.), Actas del XII Congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas, 21–26 de agosto de 1995, Birmingham, 7 Bde., Bd. 1: Medieval y lingüística, Birmingham 1998, 99–105, hier 102. Vgl. Estelle Maintier-Vermorel, Le conseil féminin dans les chroniques du règne de Ferdinand III, in: Patricia Rochwert-Zuili/Hélène Thielin-Pardo (edd.), Conseil, conseillers et conseillères dans la péninsule Ibérique au Moyen Âge, in: e-Spania – Revue interdisciplinaire d’études hispaniques médiévales et modernes 12 (2011), http://journals. openedition.org/e-spania/20665; DOI: 10.4000/e-spania.20665 (27. 06. 2019).

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‚Sendebar‘, den ‚Sieben Weisen von Rom‘, dessen Übersetzung aus dem Arabischen ins Altspanische von Alfons’ Bruder Fadrique in Auftrag gegeben wurde, und zum anderen die volkstümliche Geschichte von der weisen Jungfrau Teodor (arab. Tawaddud/Tu¯du¯r), welche in einer Prüfung über drei Gelehrte triumphiert, und deren Wirkungsgeschichte von den Geschichten aus ‚1001 Nacht‘ bis in die Neue Welt zu verfolgen ist.65 Neben den literarischen Dokumenten orientalischer und okzidentaler Provenienz finden sich in den zeitgenössischen Chroniken zahlreiche Beispiele hoch geachteter Beraterinnen, wie Estelle Maintier-Vermorel nachweist,66 die anhand dreier lateinischer Chroniken aus der Regierungszeit Ferdinands III. (1199–1252, r. 1217–1252), des Vaters Alfons’ X., die Möglichkeit indirekter Machtausübung durch Frauen im engsten Umfeld des Herrschers untersucht. Ihre Befunde auf Grundlage der Texte ‚De rebus Hispaniae‘ (Rodrigo von Toledo), ‚Chronica regum Castellae‘ (Juan de Osma) und ‚Chronicon mundi‘ (Lucas von Tuy) bestätigen die im Medium der exemplarischen Fiktion gemachten Beobachtungen und verleihen diesen prinzipielle historische Aussagekraft; darüber hinaus beweisen sie insbesondere, dass zwischen muslimischen Entwürfen (‚Calila e Dimna‘) und der Repräsentation christlicher Praxis (kastilische Chroniken des 13. Jahrhunderts) keine grundsätzliche transkulturelle Inkompatibilität besteht. In den lateinischen Chroniken des christlichen Kastilien sind es nach Maintier-Vermorel insbesondere die Mütter und Gattinnen, gelegentlich auch die Schwestern der Herrscher, deren consilium explizit erwähnt wird bzw. deren Ratgeberschaft sich implizit aus ihrer familiären Rolle erschließt, dank ihres privilegierten Zugangs zum „privaten Körper des Königs“ („corps privé du roi“).67 Aufgrund desselben Vorrechts bittet übrigens der Berater Beled in der orientalischen Erzählung aus ‚Calila e Dimna‘ die Favoritin Elbed, als Beraterin des Königs tätig zu werden. Basierend auf der affektiven Ebene ehelicher Zuneigung (dilectio) entspreche der Rat der Gattin im christlichen Kontext deren Verständnis als Gefährtin des Mannes bei Hugo von Sankt Viktor: nec domina, nec ancilla, sed socia.68 Ihr diskreter, schwer auszulotender Einfluss verdanke 65 Margaret R. Parker, The Story of a Story Across Cultures: The Case of the ‚Doncella Teodor‘, London 1996. 66 Maintier-Vermorel 2011. Althoff dagegen erwähnt die Beraterinnen weder in ‚Kontrolle der Macht‘ noch in Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue: Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990, oder in thematisch ähnlich gelagerten Aufsätzen wie ders., Colloquium familiare – Colloquium secretum – Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), 145–167 oder ders., Verwandtschaft, Freundschaft, Klientel. Der schwierige Weg zum Ohr des Herrschers, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1996, 185–198. 67 Maintier-Vermorel 2011, 4. 68 Zitiert ebd., 8 und irrtümlich Vinzenz von Beauvais zugeschrieben.

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sich den typisch weiblichen blandis colloquiis,69 die von den Chronisten nicht in eine gleichwertige Relation zur männlichen Beratungstätigkeit gesetzt werden. Der Rat der Ehefrau entspringe häufiger einem persönlichen Anliegen, während die Königinmutter primär pragmatisch und im Hinblick auf die Erfordernisse von Herrschaft argumentiere („conseil de gouvernante“).70 Die bereits aus ihrer Rolle als Erzieherin resultierende Beraterfunktion der Mutter sei dagegen mit ungleich größerer Autorität als die der Gattin ausgestattet, so dass sie die Königin gelegentlich in den Schatten stelle, wie Maintier-Vermorel etwa im Fall von Berenguela von Kastilien und Beatrix von Schwaben, Mutter und Gattin Ferdinands III. ausführt. Auch unabhängig von ihrer Regentschaft im eigentlichen Sinne erweise der Sohn seiner Mutter Gehorsam, deren Rat demjenigen männlicher Berater ebenbürtig und komplementär sei.71 Dies ist etwa auch in ‚Calila e Dimna‘ beim Zusammenwirken zwischen Löwenmutter und Leopard zu beobachten. Rodrigo von Toledo weise laut Maintier-Vermorel ausdrücklich auf die Notwendigkeit hin, den Rat von Frauen hinzuzuziehen und warne eindringlich davor, diesen zu ignorieren oder zu übergehen, wofür er abschreckende Beispiele liefere. Derselbe Autor benenne in seiner Chronik ‚De rebus Hispaniae‘ die Zuständigkeitsbereiche der Beratung durch Frauen exemplarisch mit Bezug auf Königin Sancha (1013–1067), Gattin Ferdinands I. von León, deren Rat sich in bonis et piis operibus, in regni regimine et bellorum discrimine auszeichne.72 Als „conseillère spirituelle“ des Herrschers befassten sich die Frauen also u. a. mit Stiftungen, Heiligenverehrung oder Grablegen, und im Kriegsfall koordinierten sie nicht nur die Logistik, sondern intervenierten gelegentlich auch in Bündnisfragen bzw. außenpolitisch komplizierten Konstellationen. Die in ‚Calila e Dimna‘ zu beobachtenden Fälle von Beratung durch Frauen betreffen jedoch den Kernbereich der Herrschaftsausübung, die „gestion du royaume“, bzw. die maioribus negociis, wie es bei Juan de Osma in seiner ‚Chronica regum Castellae‘ heißt.73 Im Zentrum der Monarchie fungierten die königlichen Beraterinnen als ‚graue Eminenzen‘, wobei sie eine spezifische, indirekte Form von Macht und Herrschaft ausübten, für die Georges Martin die Formel „régner sans régner“ geprägt hat,74 „herrschen ohne zu herrschen“. Die Beraterfunktion von Köni69 70 71 72 73 74

Zitiert ebd., 8. Ebd., 9. Vgl. ebd., 8. Zitiert ebd., 10. Zitiert ebd., 10. Zitiert ebd., 10, Georges Martin, Régner sans régner. Bérengère de Castille (1214–1246) au miroir de l’historiographie de son temps, in: ders. (ed.), Femmes et gouvernement. Gouverner en Castille au Moyen Âge: la part des femmes, in: e-Spania – Revue interdisciplinaire d’études hispaniques médiévales et modernes 1 (2006), http://journals.open edition.org/e-spania/326; DOI: 10.4000/e-spania.326 (27. 06. 2019).

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ginmutter und Königin wirft insofern spezifische Fragen im Hinblick auf personale und transpersonale Herrschaft auf, welche noch dadurch zugespitzt werden, dass König und Königin, speziell in Kastilien und León, als gleichberechtigte Partner agierten, so dass das Herrscherpaar als „eine einzige öffentliche Identität“ in Erscheinung trete, „une seule identité publique“.75 In Dokumenten und Chroniken finden sich nach Maintier-Vermorel bzw. Shadis stereotype Wendungen, wonach Herrscher und Gattin, bzw. Mutter, ex aequo an Entscheidungen mitwirkten, so dass weibliche Beratung in gewisser Weise institutionalisiert, dadurch zugleich jedoch paradoxerweise weniger sichtbar war. Insofern diese rhetorischen Formeln durchaus auf eine entsprechende Praxis hinwiesen, spreche Miriam Shadis von „Mitherrschaft“, „corulership“,76 ein Konzept, welches im Zusammenhang von personaler und transpersonaler Herrschaft zu berücksichtigen ist. Betrachtet man das auf Affektkontrolle und Legitimation sowie Erhalt der Macht des Herrschers abzielende Agieren von Löwenmutter und Königsgattin, so profiliert sich als spezifische Tugend der Beraterin die prudentia.77 In idealisierter, ja allegorisierter Form manifestiert sich der Rat des klugen Weibes in Albertano da Brescias ‚Liber consolationis et consilii‘. Der ebenfalls Mitte des 13. Jahrhunderts (1246) entstandene Dialog zwischen Melibeus und seiner Gattin Prudentia hat eine lange Nachkommenschaft teils pragmatischer, teils fiktionaler Beraterliteratur gezeitigt, darunter ‚The Tale of Melibee‘ aus Geoffrey Chaucers ‚Canterbury Tales‘ (1380er), ein Schlüsseltext in Judith Fersters Studie ‚Fictions of Advice: The Literature and Politics of Counsel in Late Medieval England‘.78 Was Kastilien betrifft, so findet der Traktat Albertanos Eingang in das von einem gewissen Maestro Pedro zu Beginn des 14. Jahrhunderts (ca. 1306– 1336) verfasste ‚Libro del consejo e de los consejeros‘ sowie in den ersten spanischen Ritterroman, ‚Libro del caballero Zifar‘, wo sich Doña Grima als kluge Beraterin ihres Gatten und ihrer Söhne bewährt, die allesamt zur Königswürde gelangen.79 Der Prolog dieses um 1300 entstandenen Werks enthält eine Würdigung der Regentin María de Molina (ca. 1265–1321), die als etwa Dreißigjährige nach dem Tod ihres Gatten König Sancho IV. im Jahre 1295 das Königreich Kastilien durch die Krise führte, um zunächst ihrem Sohn Ferdinand IV. (1285– 75 Maintier-Vermorel 2011, 5. 76 Miriam Shadis, Berenguela of Castile (1180–1246) and Political Women in the High Middle Ages, New York 2009, zitiert bei Maintier-Vermorel 2011, 5. Vgl. auch Karina Kellermann, Frau und Politik im Mittelalter. Untersuchungen zur politischen Rolle der Frau in den höfischen Romanen des 12., 13. und 14. Jahrhunderts (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 456), Göppingen 1986. 77 Vgl. auch die chronikalischen Befunde bei Maintier-Vermorel 2011, Anm. 38, 61, 63. 78 Judith Ferster, Fictions of Advice: The Literature and Politics of Counsel in Late Medieval England, Philadelphia 1996. 79 Vgl. Cacho Blecua 1999, 45–66.

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1312) und nach dessen Ableben auch ihrem Enkel Alfons XI. (1311–1350), gegen den militanten Widerstand des Hochadels, die Königswürde zu sichern. María de Molina, deren mesura e […] bondad auch von Chronisten hervorgehoben werden,80 steht im Mittelpunkt des Vorworts zum ‚Caballero Zifar‘, das sie als exemplarische Regentin preist: Fue muy buena dueña e de muy buena vida e de buen consejo e de buen seso natural e muy conplida en todas buenas costumbres e amadora de justiçia e con piedat, non argullesçiendo con buan andança nin desesperando con mala andança quando le acaesçía, mas muy firme e estable en todos sus fechos que entendíe que con Dios e con razón e derecho eran […].81

An Doña María werden hier zugleich modellhaft die Qualitäten der guten Beraterin veranschaulicht: Neben der prudentia, dem gesunden Menschenverstand (buen seso natural) und ihrer Gerechtigkeitsliebe zeichnet sie sich insbesondere durch ihre mesura aus und spielt damit eine zentrale Rolle im Hinblick auf die Affektkontrolle des Herrschers, als Antagonistin der schlechten Ratgeber, die durch das Aufwühlen von Leidenschaften Zwietracht säen. Als Fazit lässt sich festhalten, dass das Verhältnis zwischen Herrscher und Berater bzw. Beraterin im Königreich Kastilien zwischen 1250 und 1350 in verschiedenen literarischen Gattungen und Textsorten erörtert wird: in der als Fürstenspiegel dienenden Weisheitsliteratur orientalischen Ursprungs, sei sie fiktional-narrativer oder pragmatischer Ausrichtung, in den lateinischen und volkssprachlichen Chroniken sowie in der Erzählliteratur, die sich von den ersten Übersetzungen aus dem Arabischen (‚Calila e Dimna‘, ‚Sendebar‘, ‚Doncella Teodor‘) hin zu autochthonen Formen entwickelt. In dem ausgewählten Textkorpus aus der Zeit Alfons’ des Weisen lassen sich keine erheblichen interkulturellen Verwerfungen zwischen muslimischen und christlichen Vorstellungen von der Aufgabe des Beraters bzw. der Beraterin im Spannungsfeld von Macht und Herrschaft beobachten. Betrachtet man den Transfer zwischen den Kulturen als Frage der Translation, so haben die christlichen Übersetzer offensichtlich keine Bedenken, aus dem Wesir einen alguacil bzw. privado zu machen und die Favoritin eines polygamen orientalischen Herrschers in eine christliche Ehefrau, Gefährtin und Königin zu verwandeln. Zur transkulturellen Anschlussfähigkeit mag, neben der gemeinsamen Alltagspraxis der drei Kulturen auf der Iberischen Halbinsel und einem im wesentlichen ‚säkularen‘ Konzept von Herrschaft, auch

80 Zitiert bei Carmen Benítez Guerrero, María de Molina, reina madre entre la literatura y la historia, in: María I. del Val Valdivieso/Juan F. Jiménez Alcázar (edd.), Las mujeres en la Edad Media, Murcia 2013, 267–276, hier 271. 81 Libro del caballero Zifar, ed. Joaquín González Muela, Madrid 1982, 52, zitiert bei Benítez Guerrero 2013, 273.

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die Tatsache beigetragen haben, dass der ideale Herrscher ohnehin transkulturell konzipiert war, wie sich nicht zuletzt am Beispiel Alexanders des Großen zeigt.

Quellen- und Literaturverzeichnis Makram Abbès, Le sage et le politique dans ‚Kalila et Dimna‘, in: Eidôlon 101 (2012), 27–38. Mechthild Albert, Ira y poder. Consideraciones en torno a una relación problemática en Calila e Dimna [Anger and Power. Considerations about a Problematic Relationship in Calila y Dimna], Vortrag im Rahmen des International Medieval Meeting Lleida 2017 ‚Feelings in the Middle Ages‘ (Publikation in Vorbereitung). Alfonso X, Iudizios de las estrellas, in: Lloyd A. Kasten/John Nitti/Wilhelmine JonxisHenkemans (edd.), The Electronic Texts and Concordances of the Prose Works of Alfonso X, El Sabio, Madison 1997. Gerd Althoff, Colloquium familiare – Colloquium secretum – Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), 145–167. Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue: Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990. Gerd Althoff, Verwandtschaft, Freundschaft, Klientel. Der schwierige Weg zum Ohr des Herrschers, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1996, 185–198. Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter. Darmstadt 2016. Carmen Benítez Guerrero, María de Molina, reina madre entre la literatura y la historia, in: María Isabel del Val Valdivieso/Juan Francisco Jiménez Alcázar (edd.), Las mujeres en la Edad Media, Murcia 2013, 267–276. Hugo O. Bizzarri, La estructura de Castigos e documentos del rey don Sancho IV. Apuntes para la historia de la formación de la ciencia política de la Castilla del siglo XIII, in: Incipit 17 (1997), 83–138. José Manuel Cacho Blecua, Del Liber consolationis et consilii al Libro del caballero Zifar, in: La Corónica 27,3 (1999), 45–66. Calila e Dimna, ed. José Manuel Cacho Blecua/María Jesús Lacarra, Madrid 1987. Calila e Dimna. Nueva edición y estudio de los dos manuscritos castellanos, ed. Hans J. Döhla, Zaragoza 2009. Graciela Cándano Fierro, Tradición misógina en los marcos narrativos de Sendebar y Calila y Dimna, in: Aengus M. Ward (ed.), Actas del XII Congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas 21–26 de agosto de 1995, Birmingham, 7 Bde., Bd. 1: Medieval y lingüística, Birmingham 1998, 99–105. Judith Ferster, Fictions of Advice: The Literature and Politics of Counsel in Late Medieval England, Philadelphia 1996. Ghislaine Fournès, El Calila e Dimna de Alfonso X: expresión del saber o representación del poder, in: Jacqueline Covo (ed.), Creación e historia: los poderes de la imagen, Lille 1998, 115–123.

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Karina Kellermann, Frau und Politik im Mittelalter. Untersuchungen zur politischen Rolle der Frau in den höfischen Romanen des 12., 13. und 14. Jahrhunderts (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 456), Göppingen 1986. Las Siete Partidas del Rey Alfonso El Sabio, cotejadas con varios Códices Antiguos por la Real Academia de la Historia, Madrid 1807, http://fama2.us.es/fde/lasSietePartidasEd18 07T3.pdf (29. 08. 2019). Libro del caballero Zifar, ed. Joaquín González Muela, Madrid 1982. Libro de los cien capítulos (Dichos de sabios en palabras breves e complidas), ed. Marta Haro Cortés, Frankfurt a. Main/Madrid, 1998. Estelle Maintier-Vermorel, Le conseil féminin dans les chroniques du règne de Ferdinand III, in: Patricia Rochwert-Zuili/Hélène Thielin-Pardo (edd.), Conseil, conseillers et conseillères dans la péninsule Ibérique au Moyen Âge, in: e-Spania – Revue interdisciplinaire d’études hispaniques médiévales et modernes 12 (2011), http://jour nals.openedition.org/e-spania/20665; DOI: 10.4000/e-spania.20665 (27. 06. 2019). Georges Martin, Régner sans régner. Bérengère de Castille (1214–1246) au miroir de l’historiographie de son temps, in: ders. (ed.), Femmes et gouvernement. Gouverner en Castille au Moyen Âge: la part des femmes, in: e-Spania – Revue interdisciplinaire d’études hispaniques médiévales et modernes 1 (2006), http://journals.openedition.org/ e-spania/326; DOI: 10.4000/e-spania.326 (27. 06. 2019). Bodo Müller, Diccionario del español medieval. Fascículo 24, Heidelberg 2003. Joseph F. O’Callaghan, The Ideology of Government in the Reign of Alfonso X of Castile, in: Exemplaria Hispanica 1 (1991–1992), 1–17. Margaret R. Parker, The Story of a Story Across Cultures: The Case of the ‚Doncella Teodor‘, London 1996. Adeline Rucquoi/Hugo O. Bizzarri, Los Espejos de Príncipes en Castilla: entre Oriente y Occidente, in: Cuadernos de Historia de España 79 (2005), 7–30. Miriam Shadis, Berenguela of Castile (1180–1246) and Political Women in the High Middle Ages, New York 2009. Barbara Schlieben, Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons’ X. (1252–1284) (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 32), Berlin 2009. Secreto de los secretos/Poridat de las poridades. Versiones castellanas del PseudoAristóteles Secretum secretorum, estudio y ed. Hugo O. Bizzarri, Valencia 2010. David Wacks, Framing Iberia: Maqa¯ma¯t and Frametale Narratives in Medieval Spain, Leiden 2007.

Karina Kellermann

Der tiuvel schiez iu in den kragen! Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik

Abstract The following article ties in with the subproject ‘Complaining about Time out of Joint. Inverted Pretensions to Herrschaft in German Texts of the Medieval and Early Modern Periods’ of the Collaborative Research Centre 1167, which aims to illuminate the underside of Herrschaft. Poets who performed as ‘publicists’ acted within a specific public sphere in order to influence opinion. My research is led by the hypothesis that ‘publicist activity’ can be taken as an early form of controlling Herrschaft by ‘public opinion’. The article aims to illustrate how publicist authors draw on and advance the poetic techniques developed by the high medieval Spruchdichtung. Four texts will be used to demonstrate poetic techniques of criticising the ruler. In the song by Reinmar von Zweter and in the 5th satire of the so-called Seifried Helbling (both from the 13th century), the poets employ the allegory of personification in order to convey their political message to the public. In the first example, a ruler’s praise carries a partial criticism, while in the second, the allegory acts as critic and accuses the ruler sharply. In the third text example, a poet of the 14th century, Peter Suchenwirt, criticises the ruler by comparing King Wenceslaus to the ideal ruler, Emperor Charles IV, hence contrasting the failed son with his idealized father and predecessor. The fourth example offers a particularly intricate combination of lamentation of the dead and scolding of the ruler. It exhibits the danger of publicistic action, which however must not be omitted in the service of truth, for the failure of the king has to be made public. The text examples demonstrate a traditional approach; we do not observe fundamental dissent, but rather critical annotations towards actual representatives or a certain mischief within the Empire. Simultaneously the political complaint about the times develops its forms of expression further, addresses a broader audience and aims for response among the ruler and the elites.

1.

Einführung

„Publizistik wird häufig mit ‚öffentlicher Kommunikation‘ gleichgesetzt. Publizisten sind im engeren Sinne Personen bzw. Persönlichkeiten, die vor allem im politischen und kulturellen Bereich in schöpferischer Weise öffentlich tätig werden, in der Absicht, in eine bestimmte Richtung zu wirken und damit aktiv in

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den Gang des Geschehens einzugreifen.“1 So die Explikation des Begriffs ‚Publizistik‘ durch Günter Bentele im ‚Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft‘. In einem Raum, der auf historisch spezifische Weise als ‚öffentlicher‘ zu bezeichnen ist, konstruieren Publizisten im Medium eines variantenreichen Diskurses eine bestimmte politische ‚Wirklichkeit‘ mit narrativen Mitteln. Dieses Geschäft, das sie schon seit dem frühen Mittelalter in lateinischer Sprache betrieben, wandelte sich erheblich, als die politische Publizistik in die Volkssprache gelangte, die Alphabetisierung zunahm und eine breitere Öffentlichkeit sich konstituierte. Dies geschah, als sich im ausgehenden Mittelalter ein städtischer Kommunikationsraum herausbildete, der – auch auf Grund der städtischen Selbstverwaltungen – eine besondere politische Kultur ermöglichte. Parallel hierzu bekundeten die feudalhöfischen Zentren ein wachsendes Interesse daran, ihren Nachrichtenapparat auszuweiten und auch die Medien ihrer ‚Propaganda‘ zu differenzieren – beides insbesondere in der Volkssprache. Nun, in dieser veränderten und sich weiterhin rasch verändernden Welt, konnte der Publizist als Meinungsbildner im öffentlichen Raum auftreten. Einen enormen Auftrieb erhielt seine Aktivität durch eine doppelte mediale Revolution: 1. die Verbilligung des Materials durch den Bau von Papiermühlen nördlich der Alpen ab dem 14. Jahrhundert und 2. die Möglichkeiten der drucktechnischen Vervielfältigung am Ende des 15. Jahrhunderts; dadurch stieg die Zahl der schriftlichen Verlautbarungen exponentiell an. Die breite Nachfrage nach verschriftlichten Nachrichten ließ dem Meinungsmacher eine Deutungsmacht zuwachsen, die zur ernsthaften Konkurrenz für andere und traditionellere Deutungsmächte wurde. In den unterschiedlichsten Textsorten – Zeitklage, Weissagung, Prognostik, Ereignislied, Lügenrede, Reformtraktat – und vielfach hybriden Formen urteilen die Publizisten über die Ordnung oder Unordnung im Reich und ganz konkret über die ‚Idoneitas‘ des Herrschers oder sein Versagen. Sie kontrastieren aktuelle politische Zustände und Personen mit normativen Idealbildern. Somit generieren sie einen spezifischen ‚Diskurs‘, der sich über unterschiedlichste Formen des Aussagens erstreckt. Wenn man diesen Vorgang in den Kategorien der Bourdieuschen Soziologie ausdrückt, dann lässt sich sagen, dass ab dem 14. Jahrhundert ein neues soziales ‚Feld‘ entsteht.2 Denn innerhalb des literarischen Feldes sondert sich ein Feldteil dermaßen stark ab und rückt weg von dem stärker autonomisierten Feld der Poesie, dass es zunehmend eigene Kommunikationsregeln entwickelt.3 Und dabei geschieht, was bei der Emergenz eines neuen 1 Günter Bentele, Journalismus, in: Reallexikon der Literaturwissenschaft 2 (2000), 203–206, hier 203. 2 Vgl. Pierre Bourdieu avec Loic J. D. Wacquant, Réponses. Pour une anthropologie réflexive, Paris 1992, 71–90. 3 Das „literarische Feld“ gehört soziologisch zum „intellektuellen Feld“, das Bourdieu definiert in: Pierre Bourdieu, Choses dites, Paris 1987, 147–177, bes. 167–177.

Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik

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Feldes4 immer geschieht: Einzelne Akteure wagen sich sehr weit vor und scheitern, andere experimentieren und suchen Wege, die später nicht mehr betreten werden. Die Neuheit des Feldes ist auch daran zu erkennen, dass der Publizist eine Rolle einnimmt, die streng genommen noch keine ist, weil sie aus der Kombination mehrerer Rollen besteht.5 Hier setze ich an mit meinem Teilprojekt im SFB 1167: ‚Publizistische Zeitklagen: Invertierte Herrschaftsansprüche in deutschsprachigen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit‘. Es geht mir in diesem Projekt um die ‚Unterseite‘ der Herrschaft. In den Fokus rücke ich Reimreden, Lieder und kurze Prosatexte; in diesen Texten erhebt der Publizist den Anspruch, Sprachrohr der Beherrschten zu sein und deren Ansprüche auf formulierte Weise zur Aussage zu bringen, die Gehör verlangt. Solche Ansprüche sind überhaupt nur plausibel, weil sie sich auf Normen beziehen, die politische, soziale und moralische Dimensionen haben. Im Unterschied zum Anspruch des Herrschers, der sich auf Länder, Menschen und Ressourcen erstreckt, beinhaltet dieser ‚invertierte Herrschaftsanspruch‘ den Anspruch auf Herrschaftskontrolle. Es ist ein Kontrollanspruch von historisch spezifischer Art, deren kritischer Gehalt dadurch entsteht, dass die Texte mit einem einfachen binären Schema arbeiten: Sie kontrastieren ideale normative Ordnung und reales normwidriges Verhalten. Diese Kritik lässt sich in der Tat als Kontrolle bezeichnen. Denn da eine institutionalisierte Instanz zur Kontrolle des Herrschers in diesem Typ von Monarchie fehlt – es gibt kein Parlament –, und da die fluktuierenden Institutionen, in denen der Herrscher sich bewegt – sein Hof und sein Kronrat –, eher auf die Funktion des Beratens festgelegt sind, stößt die Publizistik hier in eine funktionale Lücke: Sie übt Kontrolle aus, indem sie Meinungen auf eine medial und sozial spezifische Weise herstellt. Sie ist eine frühe Form von Kontrolle über Herrschaft durch ‚öffentliche Meinung‘. Um das zu leisten, reicht die traditionelle Rolle des Dichters nicht aus. Der Publizist ist genötigt, zusätzliche Rollen zu übernehmen, um erstens Gehör zu finden in einer breiteren Öffentlichkeit und zweitens seinem Wort ein autoritatives Gewicht zu geben. Er muss Poet und Zeuge zugleich sein; denn er kündet von Zuständen, die er als Zeuge kennt und die er beurteilt; und er kündet von Ereignissen, für die er sich verbürgt und die beurteilen zu können und zu dürfen seine zentrale Kompetenz ausmacht. Er übernimmt dabei die Rollen des politischen Kommentators und nicht selten des 4 Vgl. Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992, 85–234, bes. 211–220. 5 Jan-Dirk Müller hat in einem wegweisenden Aufsatz über den Humanisten und Dichterpublizisten Sebastian Brant die Dreierformel „Poet, Prophet, Politiker“ geprägt. Vgl. Jan-Dirk Müller, Poet, Prophet, Politiker. Sebastian Brant als Publizist und die Rolle der laikalen Intelligenz um 1500, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 10 (1980), 102– 127.

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Warners. Diese Rolle des Warners benötigt aber eine gewisse Glaubwürdigkeit, die viele Publizisten zu erlangen suchen, indem sie sich das Gewand des Propheten umlegen. Doch diese ‚geliehene‘ Autorität ist problematisch; denn die kirchlichen Behörden reagieren misstrauisch auf apokalyptische oder millenaristische Äußerungen. Die Publizistik als neues kulturelles Feld erweitert folglich den Spielraum des Sagbaren und Thematisierbaren dramatisch, schafft damit aber auch für die Akteure auf dem Feld neue Risiken. Die publizistischen Verlautbarungen können einerseits höflich und affirmativ erfolgen, z. B. wenn sie Verbindungen eingehen mit den traditionellen panegyrischen Formen des Herrscherlobs, das den Katalog der antiken Herrschaftstugenden aufruft oder ihn sogar um neue Qualitäten bereichert. Die publizistischen Zeugnisse können andererseits die Herrschaft aber auch mit Kritik, Schelte und Spott überziehen, die Person des Herrschers mit Verachtung strafen und demontieren. Dies ist die Domäne der kritischen Publizisten, die deswegen nicht selten mit Publikationsverbot verfolgt und deren Schriften im Zeitalter des Buchdrucks mit Zensur belegt werden. Indem sie das bestehende Normensystem insgesamt aber nicht negieren, zuallerletzt die monarchische Herrschaftsform, leben diese beißenden Anklagen von der Inversion der notorischen idealen Herrschaftsqualitäten. Auf der Folie idealer Herrschaft prangern die Publizisten Machtmissbrauch an und fordern die Herstellung der alten, als ideal insinuierten Zustände, indem sie mit erzählerischen Mitteln eine Gegenwelt aufbauen.

2.

Ausgewählte literarische Strategien von Herrscherkritik

Das Ziel meines Forschungsprojektes ist es, die spezifische Relation von Herrschaftskritik und -idealisierung einerseits in ihrer literarischen Verfasstheit zu untersuchen, andererseits auf ihre Varianten hinsichtlich der politischen Intensität zu überprüfen. Für den vorliegenden Beitrag konzentriere ich mich auf den Aspekt der Herrschaftskritik und stelle verschiedene Strategien von Kritik vor. Dabei kann ich an Diskussionen anknüpfen, die wir im Rahmen des Workshops ‚Strategien und Erscheinungsformen von Kritik an Herrschern und Herrschaft‘ sowie in vor- und nachbereitenden Arbeitstreffen geführt haben.6 Ich beginne mit zwei Texten, die noch aus dem 13. Jahrhundert stammen und damit vor meinem Untersuchungszeitraum liegen; denn die politische Publizistik in der Volksprache, wie ich sie eingangs kurz definiert habe, kann erst seit

6 Hieraus wird u. a. eine Sammelpublikation zur Figur des Ratgebers erwachsen. Vgl. zu dieser Thematik auch die Beiträge von Mechthild Albert und Elke Brüggen in diesem Bd.

Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik

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Mitte des 14. Jahrhunderts sicher nachgewiesen werden.7 Das im Folgenden vorgestellte poetische Verfahren reüssiert in der politischen Publizistik des 14., 15. und 16. Jahrhunderts, wird in der lehrhaften Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts aber bereits erprobt. Es ist das Verfahren der Personifikation oder der Allegorie.

2.1

Reichsklage, Herrscherlob und Partialkritik bei Reinmar von Zweter

Reinmar von Zweter hat folgenden Sangspruch vermutlich 1236 gedichtet: Daz Rîche was vil sêre siech, sîn stimme was vor clage tunkel, heiser unde riech, rôt wâren im diu ougen, diu ôren toup, erstummet was ez ouch. Den hover kund ez niht verheln unt einen ungevüegen cropf den truoc ez an der keln; ezn mohte gân noch rîten, ûf allen vieren ez vil kûme crouch, Unz im gesante Got den keiser wîsen; des wîsheit sulen alle wîsen prîsen; der hât die siecheit understanden: des Rîches dinc vil ebene stât, wan daz im stecket noch ein grât – er weiz wol wâ – enzwischen sînen zanden. „Das Reich war sterbenskrank seine Stimme war vom Klagen dunkel, heiser, rauh, die Augen rot, die Ohren taub, und es war ganz verstummt Den Buckel konnte es nicht verbergen und einen riesigen Kropf, den es an der Kehle trug. Es konnte weder gehen noch reiten, nur mühsam kroch es auf allen vieren, bis ihm Gott den weisen Kaiser schickte. Dessen Weisheit sollen alle Weisen preisen. Er hat der Krankheit Einhalt geboten. Die Sache des Reichs steht wieder gut, nur daß ihm eine Gräte noch zwischen den Zähnen steckt, er weiß wohl, wo.“8 7 Ein Schlüsseltext der politischen Publizistik ist Lupold Hornburgs ‚Des Ryches clage‘, weil der Dichter hier explizit auf den politischen Anlass – den Passauer Fürstentag am 27. 07. 1348 –, die Adressaten, den öffentlichen Vortrag und seine eigene aktualisierende Umdichtung der Textvorlage, die von Otto Baldemann stammt, hinweist. ‚Des Ryches clage‘ ist ediert in: The Poems of Lupold Hornburg, ed. Clair H. Bell/Erwin G. Gudde (University of California Publications in Modern Philology 27,4), Berkeley/Los Angeles 1945, 199–237. Die für den publizistischen Status des Textes entscheidenden Verse sind V. 546–594. 8 Text und Übersetzung nach: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, ed. Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Berlin 2010, 170f. Wachinger gibt den Text nach: Die Gedichte

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In voller körperlicher Präsenz sehen wir hier wie auf einer Bühne eine Person, krank (siech, V. 1), verunstaltet durch einen Buckel (hover, V. 4) und einen ungevüegen cropf (V. 5), auf allen Vieren kriechen (V. 6). Diese Person ist niemand anderes als das Deutsche Reich, das aus Schwäche weder reiten – die angemessene Fortbewegungsweise des Adels – noch aufrecht gehen kann. Auch wenn das Reich hier nicht spricht, imaginiert der Dichter dennoch eine Stimme, die aufgrund von Klagen brüchig wurde (sîn stimme was vor clage dunkel, heiser unde riech, V. 2), bis sie gänzlich verstummte (erstummet, V. 3). Gerade durch die Personifikation ist das Eigenleben des Reichs mit poetischen Mitteln ausgestellt und somit die Transpersonalität von Herrschaft markiert. Dann, akkurat in der Mitte des Spruchs, der Umschlag, eingeleitet durch die temporale Konjunktion unz (V. 7), markiert durch einen Tempuswechsel vom Präteritum ins Präsens: Der weise Kaiser, Herrscher von Gottes Gnaden, d. i. der Staufer Friedrich II. (gest. 1250), hat das Reich geheilt: vollendete Gegenwart. Jetzt steht es gerade und gesund da. Der Herrscher als Arzt, eine aus Fürstenspiegeln bekannte Metapher, kommt hier zum Einsatz und erweitert den Bildbereich: das Reich ist nun nicht nur personifiziert, es ist Patient im Heilungsprozess. Ein Herrscherlob? Nicht ganz, denn eine Kleinigkeit fehlt noch zur völligen Genesung: eine Gräte steckt dem Reich zwischen den Zähnen.9 Der Arzt weiß, wo Reinmars von Zweter, ed. Gustav Roethe, Leipzig 1887, Nr. 140. Literatur zu diesem Spruch: Wilhelm Wilmanns, Chronologie der Sprüche Reinmars von Zweter, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 13 (1867), 434–463, hier 445; Die Gedichte Reinmars von Zweter, ed. Roethe, 58f.; Ulrich Müller, Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 55/56), Göppingen 1974, 66; Reinmar von Zweter, in: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, 16 Bde., Bd. 5, ed. Horst Brunner/Burghart Wachinger, Tübingen 1991, 225–295, zu Nr. 140: 261. 9 Diese Anspielung bezieht sich zweifellos auf ein reichspolitisches Problem, das Friedrich II. noch lösen muss. „Wir wissen leider nicht, wer die Gräte ist, die Lombardei oder Friedrich der Streitbare. Oder ist gar der Klerus gemeint, vor dessen glîhsenheit [„Heuchelei“, K. K.] in Strophe 141 gewarnt wird.“ (Volker Schupp, Reinmar von Zweter, Dichter Kaiser Friedrichs II., in: Wirkendes Wort 19 (1969), 231–244, hier 236). Zur Debatte stehen der Lombardenbund (Herta Gent, Die mittelhochdeutsche politische Lyrik. Siebzehn Längsschnitte [Deutschkundliche Arbeiten. Allg. Reihe 13], Breslau 1938, 86, Anm. 3) oder Herzog Friedrich II. der Streitbare von Österreich, der sich 1235 gegen den Kaiser auflehnte (Die Gedichte Reinmars von Zweter, ed. Roethe, 58; Edgar Bonjour, Reinmar von Zweter als politischer Dichter. Ein Beitrag zur Chronologie seiner politischen Sprüche [Sprache und Dichtung 24], Bern 1922 [ND Nendeln 1970], 46; Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, ed. Wachinger, 716). Vgl. Müller 1974, 66. – Das Bild der Gräte kommt auch in einem anderen Reinmar-Spruch vor (Die Gedichte Reinmars von Zweter, ed. Roethe, Nr. 128); dort heißt es: Ir seht der kirchen in den munt, / her babest, vnt nemt war, ob alle ir orden sin gesvnt; / tuot war, ob vnder baerten iht stecken grete in der kirchen keln! („Seht der Kirche in den Mund, Herr Papst, und nehmt wahr, ob alle ihre Institutionen gesund sind; macht bekannt, ob nicht unter ihren Bärten Gräten im Hals der Kirche stecken“, V. 1–3; Übers. K. K.). Hier wird die Simonie angeprangert in Verbindung mit Heuchelei, insofern als sich die Simonie unter kirchlichen Gewändern versteckt (V. 4–6).

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sie steckt, der Kaiser als guter Diagnostiker, und man wird ergänzen dürfen, er weiß auch, wie man sie herausoperiert. Der Dichter aber in „komplicenhafte[r] Vertrautheit mit des Kaisers Schwierigkeiten […] kann die andern wissen lassen, wo den Kaiser noch der Schuh drückt“.10 Reinmar von Zweter schlüpft in die Rolle des Medizinalassistenten, der vom Arzt autorisierte Bulletins zum Zustand des kranken Reichs veröffentlicht. Dieser hier vorgestellte Spruch ist erstens ein gutes Beispiel einer eher moderaten Kritik am Herrscher; im Rahmen eines umfassenden Herrscherlobs wird dieser an eine spezifische Störung im Reichskörper erinnert. Zweitens ist er der früheste volkssprachige Beleg für den Auftritt des Reichs in anthropomorpher Gestalt.

2.2

Invektiven gegen den Herrscher aus dem Munde des Landes Österreich im ‚Seifried Helbling‘

Das zweite von mir zitierte Beispiel einer politischen Allegorie ist die 5. Satire des sog. ‚Seifried Helbling‘,11 auf Herbst oder Winter 1285 zu datieren, eine Anklagerede des Landes Österreich.12 Swen des niht betrâge, der hœr des landes klage. Ey, künec Ruodolf, sît ir getriu rœmisch erd, sô klag ich iu und iuwern Swâben allen gelîch. ich armez lant Ôsterrîch, seht, man iuch des, daz ir vier jâr ab mir nâmt die iuwern nar.13 sîn bin ich jæmerlîch gedigen, daz wirt iu lenger niht verswigen. ir habt mich armez lant betrogen, 10 Schupp 1969, 238. 11 ‚Seifried Helbling‘ ist der auf einem Missverständnis beruhende Titel einer Sammlung von 15 teils didaktischen, teils politisch-polemischen Reimreden im österreichisch-habsburgischen Raum des ausgehenden 13. Jh.s. Vgl. Ingeborg Glier, Helbling, Seifried, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 3 (2., völlig neu bearb. Aufl. 1981), 943–947. 12 Text nach: Seifried Helbling, ed. Joseph Seemüller, Halle a. d. Saale 1886, Nr. V, 4–7 (Übers. K. K.). Zum ‚Seifried Helbling‘ vgl. Ursula Liebertz-Grün, Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifried Helbling (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5), München 1984, hier 11–69, Anmerkungen 169–180; Müller 1974, 154. 13 Liebertz-Grün 1984, 45: „König Rudolf – so der Text – hat vier Jahre lang, gemeint ist wohl der Zeitraum Ende 1276 bis Anfang 1281, in dem Rudolf die Herzogtümer selbst verwaltete, auf österreichische Kosten gelebt“.

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den ir mir habt geben ze herzogen, sô mir die Unger nement rê, so vert er jagen hin ze lê. ich klag iu über die herzoginne, diu hât nâch guot sô starke sinne, swaz sie des begrîfen mac, daz schiubt sie allez in ir sac. „Wen das nicht langweilt, der höre die Klage des Landes. Ei, König Rudolf, weil ihr in Treue zum römischen Reich steht, so erhebe ich Klage vor euch und vor all euren Schwaben ebenso. Ich armes Land Österreich, seht, ich erinnere euch daran, dass ihr vier Jahre lang auf meine Kosten gelebt habt. Davon bin ich ganz ausgezehrt, das soll euch nicht länger verschwiegen werden. Ihr habt mich armes Land betrogen, derjenige, den ihr mir als Herzog gegeben habt, fährt in die Berge zur Jagd, während mich die Ungarn töten. Ich klage vor euch auch die Herzogin an, die eine starke Begierde nach Besitz hat, was sie davon zusammenraffen kann, das schiebt sie alles in ihren Sack.“ (V. 1–18)

Vom 3. bis zum letzten, dem 107., Vers erhebt das Land Klage vor dem Habsburger König Rudolf I. (gest. 1291) und bezichtigt dessen Sohn, Herzog Albrecht I.,14 sowie die Herzogin Elisabeth15 und verschiedene namentlich genannte weltliche und geistliche Fürsten des Betrugs und der Ausbeutung des Landes.16 Ein weiterer schwerer Vorwurf, der erhoben wird, ist der der falschen Ratgeber: nur auf vier Ratgeber,17 und noch dazu denkbar ungeeignete, stütze sich der Herzog bei seiner Regierung: ich klag iu, daz der râtgeben, der rât der herzog solde leben, 14 Herzog Albrecht I. (gest. 1308), 1282 Herzog v. Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain, seit 1298 deutscher König. 15 Elisabeth von Kärnten, Görz und Tirol (gest. 1313), Tochter des Grafen Meinhard II. von GörzTirol. 16 Von den 15 Dichtungen des ‚Seifried Helbling‘ sind neun als „Zeitsatiren“ zu bezeichnen; diese sind „allesamt habsburgerfeindlich“, wobei die ‚Klage des Landes Österreich‘ „nur die Habsburger und ihre Parteigänger […] attackiert“, während die übrigen „Habsburgerpolemik mit Gesellschaftskritik“ verbinden (Liebertz-Grün 1984, 42). 17 D. h., dass er „den Rat der österreichischen Herren ausgeschaltet hat“ (ebd., 45).

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nimer ist danne vier, her künic, daz geloubet mier. „Ich erhebe Klage vor euch, dass die Ratgeber, nach deren Rat der Herzog leben sollte, nicht mehr als vier sind, Herr König, das könnt ihr mir glauben.“ (V. 63–66) […] Smutz der tiuvel! welch ein rât! „Da lacht sich der Teufel ins Fäustchen! Welch ein Ratgeber!“ (V. 89) […] sô sie ertrinken in dem kôt, daz sie iht unreinen daz lûter wazzer! Meinen kan sie mîn fluoch. ich armez lant bin von ir gîtikeit geschant.18 rœmischer künic, daz klag ich ze einem mâl. nû hœret mich! zem andern mâl ich iu klag: ich hân den vollen mîne tag. volendet ir sîn niht, daz ir mir rihtet iht, nû ist mîn drittez klagen: der tiuvel schiez iu in den kragen! „Wenn sie doch im Kot ertrinken mögen, damit sie nicht das klare Wasser verunreinigen! Mein Fluch gilt ihnen. Ich armes Land bin durch ihre Habgier geschändet. Römischer König, das klage ich zum Ersten. Nun hört mich an! Ich erhebe zum zweiten Mal vor euch Klage: Ich führe allumfänglich Klage mein ganzes Leben lang. Wenn ihr diese Klage nicht durch ein Urteil beendet und mir Recht sprecht, dann lautet meine dritte Klage: Der Teufel schieße euch in den Nacken!“ (V. 95–107)

Am Schluss markiert der Dichter noch einmal die Personifikation: ich armez lant (V. 98) und adressiert den König als Gerichtsherrn, der sich nun zum dritten Mal der Klage des Landes nicht angenommen habe. Der Rechtsweg hat nicht zum 18 Mit ir sind die Träger der landesfürstlichen, habsburgischen Finanzpolitik gemeint.

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Erfolg geführt; daraufhin schleudert die Klägerin einen Fluch gegen den König: der tiuvel schiez iu in den kragen (V. 107)! Mit dieser Verwünschung des Königs schließt die bitterböse Herrscherkritik. Unter dem Aspekt der literarischen Modellierung ist die sprechende Allegorie bemerkenswert, die wirkungsvoll in die Funktion des Sprechers einrückt. Der Spruchdichter scheint in dieser satirischen Dichtung an keiner Stelle als Sprecher auf, sondern überlässt die scharfe Invektive gänzlich der Personifikationsallegorie, die in der Ich-Rolle den König in zweifacher Weise attackiert: 1. als Beklagten, der seine Schutzfunktion so vernachlässigt habe, dass das Land ausgebeutet worden sei und Hunger leide, wobei sich durch die personelle und dynastische Nähe von König und Landesfürst – Vater und Sohn – die Klage implizit noch auf einen eklatanten Fall von Nepotismus erstreckt, 2. als Richter, der seiner vornehmsten Königspflicht als Gerichtsherr selbst nach dreifacher Klageerhebung nicht nachgekommen sei. Und damit ist auch auf inhaltlicher Ebene schwerstes Geschütz aufgefahren, denn dieser doppelte Vorwurf trifft ins Herz der Königspflichten: Er hat als Vogt und als Richter versagt. Personifikationsallegorien setzen sich nicht nur, aber auch in der politischen Dichtung seit der Mitte des 14. Jahrhunderts immer mehr durch; besonders die Allegorie der Frau Reich gewinnt Raum in der politischen Publizistik. Otto Baldemann, Lupold Hornburg und Muskatblut arbeiten in ihren Zeitklagen mit diesem höchst wirkungsvollen rhetorischen Mittel.19

2.3

Herrscherkritik auf der Folie guter, vergangener Herrschaft: Peter Suchenwirts Königsschelte

Ich wende mich nun einem anderen literarischen Verfahren zu, das für die Herrschaftskritik eine breite Geltung beanspruchen darf. Es ist die Aktualisierung eines binären Schemas, die Klage über Normenverlust auf der Folie der meist in die Vergangenheit gesetzten idealen normativen Ordnung. Hier kämen 19 Vgl. Karina Kellermann, Ein kurtze rede wore. Die vier politischen Reimreden des Lupold Hornburg, in: Franz-Josef Holznagel/Jan Cölln (edd.), Die Kunst der brevitas. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters. Rostocker Kolloquium 2014 (Wolfram-Studien 24), Berlin 2017, 199–219 (= Kellermann 2017a); Karina Kellermann, Zeitkritik bei Muskatblut, in: Horst Brunner/Freimut Löser (edd.), Sangspruchdichtung zwischen Reinmar von Zweter, Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim (Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 21), Wiesbaden 2017, 443–453 (= Kellermann 2017b); Karina Kellermann, Politische Reden allegorischer Gestalten in der deutschsprachigen Publizistik des Spätmittelalters, in: Malena Ratzke/Christian Schmidt/Britta Wittchow (edd.), Oratorik und Literatur. Politische Rede in fiktionalen und historiographischen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Hamburger Beiträge zur Germanistik 60), Bern et al. 2019, 323–344.

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mannigfache Texte als Demonstrationsobjekte in Frage, meine Wahl fällt auf Suchenwirts Reimrede ‚Von der fürsten chrieg und von des reiches steten‘20, vermutlich Ende 1387 gedichtet. In dieser Reimrede behandelt Peter Suchenwirt den Großen Städtekrieg von 1387–1389, bei dem der schwäbische Städtebund dem bayerischen Herzog gegenüberstand. Zunächst werden die kriegerischen Handlungen im Vorfeld des Städtekrieges mit ihren Nachteilen für alle Menschen und beide Parteien, die fürstliche und die städtische, geschildert. Es ist signifikant, dass der Autor darauf verzichtet, sich zum Sprecher einer Partei zu machen, also weder als Fürsten- noch als Städtefeind auftritt. Indem er die Frontlinie Städte – Fürsten verwischt, lenkt er die Aufmerksamkeit auf anderes: Städte und Fürsten sind gleichberechtigte Partikulargewalten des Reiches, die aber nicht in Frieden miteinander leben können. Stet und fuͤ rsten sind tzwen tail In all der werlt die pesten, Halten die nicht frides hail, Wie get ez dann tzum lesten? Die lant verwuestet wurden gar, Daz mach, got herr, wendig. „Städte und Fürsten sind zwei Parteien, die besten der Welt, wenn die nicht Frieden halten, wie wird das am Ende ausgehen? Dann würden die Länder gänzlich zerstört, Herr Gott, mach, dass dies unterbleibt.“ (V. 57–62)21

Warum aber ist der Friede gestört? Weil die Zentralgewalt versagt: In Pehem mawst der Adalar – „In Böhmen befindet sich der Adler in der Mauser“ (V. 77): Das Wappentier des Deutschen Reichs ist in der Mauser, d. h. der deutsche König Wenzel, als Wenzel IV. (gest. 1419) König von Böhmen, ist schwach. Im letzten Drittel der Kreuzreimrede fokussiert Suchenwirt den König: Er übt Kritik an der Person des Königs auf der Folie der Reichsidee. Diese Königskritik hat während Wenzels Regentschaft Konjunktur. Es bleibt aber nicht bei der über die Wappenallegorie gestalteten Königskritik, diese ist nur die Einleitung zur adhortativen Rede, die Wenzel zur Kaiserkrönung auffordert:

20 Peter Suchenwirt’s Werke aus dem vierzehnten Jahrhunderte. Ein Beytrag zur Zeit- und Sittengeschichte, ed. Alois Primisser, Wien 1827 (ND Wien 1961), Nr. 37 ‚Von der fürsten chrieg und von des reiches steten‘, 110–112. Vgl. dazu Müller 1974, 199f.; Claudia Brinker, Von manigen helden gute tat. Geschichte als Exempel bei Peter Suchenwirt (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 30), Bern et al. 1987, bes. 30, 91, 194. 21 Text nach: Peter Suchenwirt’s Werke, ed. Primisser, 110–112 (Übers. K. K.).

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Hebt ew auf die raise, Tzewcht ein chayserleichen tzug Gen Rom durch manig prayse. Seit ir ein roͤ misch chunich seit, Und habt den nam auf erde. Hebet an, dez ist wol tzeit, Schaffet, daz ew werde Preis und lob und wirdichait, Daz tzirt wol ewrn namen. „Macht euch auf den Kriegszug, begebt euch auf eine kaiserliche Fahrt nach Rom um vielfachen Ruhmes willen, weil ihr ein römischer König seid und diesen Namen auf Erden tragt. Beginnt damit, es ist an der Zeit, bewirkt, dass euch Lob, Ruhm und Ehre zuteil werden, das wird euch zur Zierde gereichen.“ (V. 82–90)

Suchenwirt traut nur der starken kaiserlichen Zentralgewalt die Friedenssicherung zu. Die Kritik an Wenzels Zaudern wird verschärft durch den Kontrast mit der besseren Vergangenheit, die hier nicht pauschal als laudatio temporis acti angelegt ist, sondern genealogisch verankert wird. Wenzel wird gemahnt, seiner königlichen Herkunft zu gedenken und seinem Vater und Vorgänger auf dem Thron, Kaiser Karl IV. (gest. 1378), nachzueifern: Seit mendleich, mild und unvertzait, Ir seit von chuniges stamen; Daz reich chainen chaiser hat Seit ewrs vater tzeiten. Tret an chaiser Charls stat, So nennet man ewch weiten, Daz ir daz reich und auch daz recht Mit trewen so besorget Daz stet und fursten pleiben slecht, Und nicht dem unrecht porget, Also daz ir guet richter seit Den arm und den reichen. „Seid tapfer, freigebig und mutig, ihr seid aus königlichem Geschlecht; das Reich hat keinen Kaiser seit eures Vaters Zeiten. Tretet an die Stelle Kaiser Karls, dann wird man euch weithin nennen, weil ihr für Reich und Recht

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in verfassungsmäßiger Treue so Sorge tragt, dass Städte und Fürsten aufrichtig bleiben und das Unrecht nicht schonen, in der Weise, dass ihr ein guter Richter seid den Armen und den Reichen.“ (V. 91–102)

Peter Suchenwirt konterkariert hier die Königskritik durch die positive Figur des Vaters und damit den Vorgänger aus der eigenen Dynastie, der zum Maßstab erhoben wird. Dass im Namen Karl nicht nur der Luxemburger, sondern auch der Proto-Kaiser des Deutschen Reiches, Karl der Große, anklingt, wird der Dichter nicht ungern in Kauf genommen haben. Für das Genre der politischen Publizistik ist von Belang, dass der Dichter den Beginn des politischen Niedergangs mit der Jahreszahl 1387 fixiert und sich selbst mit vollem Namen Peter Suͦ chenwirt im vorletzten Vers (V. 115) nennt: Do dreytzehen hundert iar vil gar Nach Christ gepurt vergiengen, Darnach daz siben und achtzikist iar, Viel lewͮ ff sich anviengen, Chrumb und wunderleich gestalt In aller werlt gemaine, (Daz muͤ gt ir pruefen manigfalt) Scharff und gar unraine. „Als 1387 Jahre nach Christi Geburt vergangen waren, wurden die Zeitläufte krumm und launisch in der ganzen Welt, (das könnt ihr vielfach erkennen) rau und gänzlich unredlich.“ (V. 105–112)

Der Publizist enthält sich der Parteinahme für Städte oder Fürsten und erhebt auf diese Weise den Anspruch, vom großen Ganzen her zu blicken und das Reich und seine Herrschaft objektiv zu beurteilen. Wir können in diesem Falle auch etwas über die Adressaten der Kritik und ihre potentielle Wirkung sagen: Suchenwirt dichtete am österreichischen Herzogshof des Habsburgers Albrecht III. (gest. 1395).22 Dieser selbst wie auch andere Fürsten werden der Königskritik zustimmend gelauscht haben. Und durch die fehlende Parteilichkeit könnte sogar die andere Konfliktpartei, die Städte, diese Reimrede goutiert haben. In jedem Fall konnte Suchenwirt sich einige Jahre später, nach der Absetzung Wenzels im Jahre 1400, auf die Schulter klopfen und in der Vorstellung sonnen, dass seine meinungsbildende Tätigkeit zum Sturz des Königs beigetragen habe. 22 Vgl. Brinker 1987, 43–85.

204 2.4

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Lupold Hornburgs Herrscherschelte im Gewand der Totenklage

Es folgt nun eine Dichtung Lupold Hornburgs,23 die ich für eine literarische Form von Mimikry halte, eine verhüllte Herrscherschelte im Gewand einer Totenklage.24 Der Text ist in der einzigen Handschrift25 mit folgendem Rubrum überschrieben: Nu wil er vns hie sage Gar ein derbermeliche clage, Wie der von Sluzzelberg den tot Neme. fur den bite wir got! „Jetzt wird er uns hier vortragen eine stark Mitleid erregende Klage, wie der von Schlüsselberg den Tod fand. Wir bitten Gott für ihn.“ (fol. 234ra)26

Dieser Ankündigung einer Totenklage unter Nennung des Geschlechts des Verstorbenen folgt eine Dichtung von 70 Versen auf den Reichsfreiherrn Konrad II. von Schlüsselberg (gest. 1347). Der Dichter beteuert – erste Irritation – die Wahrheit, die er zu verkünden habe, wage aus Angst um sein Leben keiner außer ihm auszusprechen: SIt die warheit nieman tar Gekunden leider offenbar, e Er muzze des lıbes angest han, En gotes namen hebe ich an! „Weil leider niemand es wagt, die Wahrheit öffentlich zu verkünden, ohne Angst um sein Leben zu haben, beginne ich in Gottes Namen damit.“ (V. 1–4)

Eine Totenklage soll den Dichter in Gefahr bringen? Schauen wir auf den historischen Kontext. Der fränkische Adlige Konrad von Schlüsselberg war im Umfeld Kaiser Ludwig IV. des Bayern (gest. 1347) zu Besitz und Ansehen gekommen und stand in territorialen Streitigkeiten auf Seiten der Städte gegen eine 23 ‚Ein derbermeliche clage‘, in: The Poems of Lupold Hornburg, ed. Bell/Gudde, 249–254. Vgl. dazu Müller 1974, 183. 24 In meinem Aufsatz über die Reimreden Lupold Hornburgs bin ich bereits auf diese hybride Rede eingegangen: Kellermann 2017a, 199–219, hier 213–216. 25 Die Handschrift 2°Cod. ms. 731 liegt auch als Digitalisat der Universitätsbibliothek München vor: https://epub.ub.uni-muenchen.de/10638/ (19. 02. 2016). – Vollständiges Faksimile: Das Hausbuch des Michael de Leone (Würzburger Liederhandschrift) der Universitätsbibliothek München (2°Cod. ms. 731). In Abb. ed. Horst Brunner (Litterae 100), Göppingen 1983. 26 Text nach: The Poems of Lupold Hornburg, ed. Bell/Gudde, 249–254 (Übers. K. K.).

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Fürstenkoalition. Bei einer Fehde um Zoll- und Geleitrechte belagerten die Bischöfe von Würzburg und Bamberg gemeinsam mit den Burggrafen von Nürnberg seine Burg Neideck; am 14. 09. 1347 wurde er, auf der Burgmauer stehend, von dem Geschoss einer Wurfmaschine tödlich getroffen. Das beachtliche Territorium des letzten Schlüsselbergers fiel ans Reich zurück und wurde dann unter den Siegern aufgeteilt.27 Lupold Hornburg beginnt seine Totenklage als Ehrenrede. Mehr als zweimal habe dieser überaus tapfere und loyale Herr – Der was ein rehter pantyr helt („der war ein Held wie ein Panter“, V. 11) – das Reichsbanner geführt, sei mehrfach im Dienst des Reiches verwundet und schließlich bei Neideck getötet worden. Syntaktisch und semantisch ist von Bedeutung, dass der Dichter hier das Reich zur persona agentis werden lässt, das ihn, den Schlüsselberger, als Beschützer auserkoren hat; hier haben wir es also wieder einmal mit transpersonalem Denken zu tun, wenn das Reich unabhängig von der Person des Königs den Herrn von Schlüsselberg mit Schutzfunktionen beauftragt: e

Als in ein rıche het vz erwelt, Im sine ere hie bewarn, Den fanen mit dem adelarn Furt im der vnverdrozzen Vnd hoͣ t sin bluͦ t vergozzen e Wol uber zwir by dem Rıch. „Als ihn das Reich auserwählt hatte, ihm28 seine Ehre zu verteidigen, da führte er ihm unermüdlich die Fahne mit dem Adler29

27 Eine knappe historische Kontextualisierung findet sich in: The Poems of Lupold Hornburg, ed. Bell/Gudde, 158f. und bei Ursula Peters, Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 7), Tübingen 1983 (ND Berlin/Boston 2012), 153f. Eine detaillierte Darstellung des mächtigen fränkischen Adelsgeschlechts der Schlüsselberger und ihres letzten Repräsentanten Konrad II. auf der Basis landesgeschichtlicher Quellen bieten Rudolf Endres, Konrad von Schlüsselberg, in: Gerhard Pfeiffer (ed.), Fränkische Lebensbilder (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe 7 A 4), Würzburg 1971, 27–48 und Gustav Voit, Die Schlüsselberger. Geschichte eines fränkischen Adelsgeschlechtes (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft e. V. 37), Nürnberg 1988, 45–99. Voit fügt seiner Abhandlung den Abdruck des Textes ‚Ein derbermeliche clage‘ nebst Übersetzung bei (ebd., 89–91). Die Übersetzung ist fehlerhaft und die Etikettierung der Reimrede als „Nachruf“ (ebd., 89) bestenfalls die halbe Wahrheit, denn sie ignoriert die massive Herrscherkritik. 28 D. i. dem Reich. 29 D. i. die Reichsfahne.

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und hat mehr als zweimal sein Blut für das Reich vergossen.“ (V. 12–17)30

Die Wahrheit ist, so betont Lupold Hornburg mehrmals, dass der Schlüsselberger vmb sin eigen guͦ t (V. 29) durch den Stein einer Schleuder bei Neideck getötet wurde. Der Tathergang erinnert an den Kampf Davids gegen Goliath, aber in der Umkehrung: Der Redliche stirbt durch das Geschoss. vmb sin eigen guͦ t meint seine grundsätzliche Vortrefflichkeit, die im Folgenden expliziert wird: seine Unbestechlichkeit und Geradlinigkeit. Andere würden eher lügen und das Recht beugen, als dass sie Landbesitz verloren gäben, lässt der Dichter uns wissen. Der Reichsfreiherr Konrad von Schlüsselberg dagegen sagte allen, ohne Ansehen der Person, unverfälscht die Wahrheit: dem Kaiser wie dem Herrn, dem Reichen wie dem Armen. So sei der Ritter aufgrund seiner Gesinnung und Werke als marterere („Märtyrer“, V. 49) ins Himmelreich eingezogen, wo er ohne Leid und Schmerzen lebe. Der Schlachtentod des adligen Herrn ist nicht bloß ein Heldentod, er steht auch in der Nachfolge Christi. Diese Aussage ist höchst brisant, denn der Schlüsselberger war wie sein Lehnsherr seit 1324 im Kirchenbann. Dieses schwerwiegende Faktum verschweigt der Dichter; verschweigen, übertreiben oder verfälschen sind typische Strategien der Publizistik.31 Hier nun steht die bewusste Unterschlagung des Kirchenbanns in scharfem Kontrast zur Imagination Konrads als Streiter für Christus, der in seiner ritterlichen Tugendhaftigkeit alle überstrahlt: Tapferkeit, Aufrichtigkeit, Unbestechlichkeit, Gerechtigkeit sind ihm eigen. Sein Lehnsherr aber ehrt weder diese Tugenden des Schlüsselbergers noch erfüllt er seinen Part der Lehnsverpflichtung. Das ist der politische Skandal: Der Kaiser, der „seiner Schutzpflicht als Dienstherr nicht nachgekommen“32 ist, wird schuldig am Tode Konrads: Den lye ein keyser lesterlich Beliben in den noͤ ten, Vnd wider reht ertoͤ ten.

30 Voit 1988, 68: „Als Kriegsmann kämpfte er bei Mühldorf in der letzten Ritterschlacht des Mittelalters. Man findet ihn bei Gefechten im gesamten süddeutschen Raum, aber auch bei der Kaiserkrönung in Rom.“ 31 Diese rhetorische Technik ist natürlich keine Erfindung der Publizistik: Bereits Walther von der Vogelweide dichtet politische Sprüche mit Kreuzzugsmahnungen an Kaiser Otto IV. (gest. 1218) und erwähnt mit keinem Wort, dass der, den er zum heiligen Krieg auffordert, zu dem Zeitpunkt exkommuniziert ist und unter päpstlichem Bann steht (L 12,6 und L 12,18, in: Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, ed. Thomas Bein, 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearb. Ausgabe neu hg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen, Berlin/Boston 2013, 21f.). 32 Peters 1983, 153.

Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik

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„Den ließ ein Kaiser schimpflich im Kampf allein und rechtswidrig töten.“ (V. 18–20)

An dieser Stelle kippen Totenklage und Ehrenrede in eine Herrenschelte, und es kommt zu einer flammenden Anklage des Herrschers, Kaiser Ludwigs.33 Nun erhalten die kryptischen Anfangsverse des Dichters, aus Todesangst habe keiner gewagt, die Wahrheit zu berichten, einen Sinn. Neben der nicht eingelösten Gattungserwartung gibt es noch eine weitere Enttäuschung von Zuhörererwartungen. Totenklagen auf Adlige werden gern kombiniert mit einer kunstfertigen Schilderung des Wappens, die mit dem französischen Fachwort ‚Blason‘ bezeichnet wird, die rhetorische Tätigkeit als ‚Blasonierung‘. Es gab Sprecher, die sich auf das Blasonieren spezialisierten und mit ihren heraldischen Kenntnissen ein neues Genre schufen, die Wappenrede. Zweimal spielt Hornburg auf den Blason an, jeweils ohne das Muster zu erfüllen. Die erste Stelle befindet sich gleich zu Anfang und ist kombiniert mit einer Demutsformel des Dichters: Ey, kond ich von den woppen Gegriffen vnd getoͤ ppen Reht als ein blinder mit dem stabe, So wolt ich vngefuger knabe Ein rede kunden vnde sagen, Vnd einen biderwen herren clagen. „Ach, könnte ich die Wappen ertasten und erspüren gerade so wie ein Blinder mit seinem Stab, dann wollte ich unbeholfener Knappe eine Rede verkünden und vortragen und einen angesehenen Herren beklagen.“ (V. 5–10)

Die zweite Stelle ist besonders interessant. Nach dem krye („Schlachtruf“, V. 55) sollte regelgemäß die Wappenblasonierung erfolgen; Lupold Hornburg spart sie aus, markiert aber die Leerstelle: Sine woͣ ppen laz ich ligen, Sie sint im in sin grab gedygen „Seine Wappen lasse ich [ohne Blason] liegen, sie sind ihm mit ins Grab geraten.“ (V. 51f.)

33 Vgl. Peters 1983, 154, die das bereits konstatiert hat.

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Karina Kellermann

Vermutlich wurden dem Schlüsselberger als letztem männlichen Spross seiner Familie tatsächlich die Wappen mit ins Grab gegeben.34 Dieser Umstand würde den Dichter aber keinesfalls einer Blasonierung entheben, vielmehr wäre die Ehrung des Letzten eines Geschlechts durch eine Blasonierung geradezu Heroldspflicht. Nimmt man aber den Kontext in den Blick, dann versteht man, warum der Dichter hier das literarische Muster unterläuft. Hornburg wünscht dem Schlüsselberger, dass er als ewiger St. Georgsritter in göttlichem Sold stehen möge: „Ey sluzzelnberg!“ – die werde krye – Zu himel dort den selen bye, An sante yorgenritters schar, Da der himel adelar Dir gebe den eweclichen solt! Des bit ich, langer luppolt. „Ach, Schlüsselberger! – [so lautet dein] ehrenhafter Schlachtruf – im Himmel dort bei den Seelen, in der Schar der St. Georgsritter, dort gebe dir der Himmelsadler den ewigen Lohn! Darum bitte ich, langer Lupold.“ (V. 55–60)

Mit dem exzeptionellen Bild des Himmelsadlers gibt der Dichter Gott ein Wappentier und lässt bildhaft folgende Antithese aufscheinen: Kaiser Ludwig der Bayer, der höchste weltliche Herrscher, der den Reichsadler im Wappen führt, ließ seinen treuen Vasallen im Stich, während dieser als Ritter im Heer des Heiligen St. Georg ein himmlisches Wappen führt und göttlichen Lohn erhält. Damit ist der im Kampf gefallene Reichsritter definitiv zum Exemplum erhoben und als himmlischer St. Georgsritter in die höchste Form exemplarischer Existenz eingerückt. Die Totenklage schließt ab mit einer Autorreferenz (langer luppolt, V. 60) gepaart mit dem Bescheidenheitstopos: als kunstloser Dichter (V. 62) erheischt er vom Publikum Fürbittgebete nach seinem Tod. Doch so traditionell endet diese ungewöhnliche Reimrede nicht, sondern Lupold Hornburg nimmt die Klage auf den toten Reichsfreiherrn noch einmal auf und fordert alle, auch die, die den Schlüsselberger nicht kannten, zu einem gemeinsamen und dauerhaften Totengedenken auf. Das Scharnier ist die höchst konventionelle Fürbitte: Daz man

34 Die Grablege der Schlüsselberger war das um 1280 gegründete Zisterzienserinnenkloster Schlüsselau, dem sie reiche Zuwendungen machten, und in dem weibliche Familienmitglieder als Äbtissinnen regierten (vgl. Endres 1971, 32 und Voit 1988, 49f.). Dass auch Konrad II., obwohl unter päpstlichem Bann stehend, dort beigesetzt wurde, bestätigt eine Urkunde Bischof Albrechts II. von Würzburg vom Februar 1350 (vgl. Voit 1988, 91).

Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik

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spreche sunder spot: / „Nu gnade im vnser herregot!“ („Dass man ernsthaft bete: jetzt sei Gott ihm gnädig!“, V. 65f.), die zunächst allein auf den Dichter referiert, dann aber mit dem folgenden Modalsatz auf den Verstorbenen hinlenkt: Als man tuͦ t disem herren Die nehe vnd auch die ferren! Wer den herren nie gesach, Der klaget doch sin vngemach. „Wie man es für diesen Herren tut nah und fern! Selbst wer den Herrn nie gesehen hat, beklagt doch sein Unglück.“ (V. 67–70)

In Anbetracht des Kontextes ist ein solch nah und fern umfassender Appell zur Memoria nur als eine politische Anklage gegen Kaiser Ludwig zu verstehen und ein weiterer Mosaikstein der Herrscherkritik. Festzuhalten ist: Die Leerstelle Wappenbeschreibung indiziert einen Funktionswechsel; denn der Dichter ruft das Muster der „heraldischen Totenklage“35 auf, um es gezielt zu unterlaufen und stattdessen einen extravaganten Gattungshybrid zu schaffen: die Verbindung der Ehrenrede auf einen Toten mit einer Herrscherschelte. Dies geschieht in eindeutig publizistischem Interesse, denn folgende Kennzeichen der Publizistik weist diese kurze Reimrede auf: die Gefährdung der eigenen Person durch die Veröffentlichung unbequemer Wahrheiten, die Nennung von historischen Personen, Daten, Fakten und Terminen – hier des Herrn von Schlüsselberg, des Kaisers, der Burg Niedeck – und die Selbstreferenz des Autors in direkter oder indirekter Weise, hier über das Cognomen langer luppolt. Der Publizist Lupold Hornburg konstruiert außerdem implizit eine Nähe zwischen dem unerschrockenen Kämpfer des Reichs, dem Schlüsselberger, und seinen eigenen verbalen Attacken, denn beide agieren unbestechlich, geradlinig und im Dienste der Wahrheit. Wie Peter Suchenwirt im zuvor behandelten Textbeispiel hat auch Lupold Hornburg das große Ganze im Blick, wenn er den Adligen mit dem Reichsbanner in der Hand als defensor imperii feiert, den höchsten Repräsentanten des Reiches aber, den König, desavouiert. Dieser Fall ist sogar noch etwas raffinierter, weil mit der Totenklage auf den Schlüsselberger scheinbar ein partikulares Interesse bedient, nämlich das verdiente Mitglied einer Elite geehrt wird. Wenn aber die Totenklage in Herrscherschelte kippt, wird deutlich, dass der König der Verräter, der Adlige aber der treue Diener des Reichs ist, und der Dichter mit seinem unbestechlichen Blick diesen Skandal an die Öffentlichkeit bringen muss. 35 Brinker 1987, 274, führt diesen Terminus als Gattungsbezeichnung für die spezifischen Totenklagen mit Wappenschilderung ein, die das Œuvre Peter Suchenwirts kennzeichnen.

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3.

Karina Kellermann

Fazit

Die publizistischen Zeitklagen repräsentieren eine Diskursform, welche gezielt auf Aktuelles reagiert und die soziale und politische ‚Wirklichkeit‘ sehr viel direkter thematisiert als die stärker autonomen Felder von Kunst und Dichtung. Die enge Beziehung zum Rahmenthema des SFB 1167 wird an zwei Aspekten deutlich: 1. Diese Form der Herrschaftskritik eröffnet einen spezifischen Modus der Kommunikation mit den Herrschaftsträgern oder den Eliten: Indem die Publizistik besondere Ereignisse oder Zustände anklagt und kritisiert, stellt sie die Herrschaft selbst nicht generell in Frage, im Gegenteil: Sie bestätigt jedes Mal diejenigen Normen, an denen sie ein konkretes herrscherliches Verhalten misst. 2. Zur normativen Dimension gesellt sich die kommunikative: Die publizistische Zeitkritik erzwingt Antworten seitens der kritisierten Inhaber von Herrschaftspositionen. Diese Antworten mögen im Extremfall drastisch ausfallen, nämlich als Verfolgung; aber auch solche Akte von Repression vollziehen sich in spezifischen öffentlichen Räumen und werden wahrgenommen, interpretiert und kommentiert. Genauso wenig wie Herrschaft möglich ist ohne eine gewisse Fügungsbereitschaft der Beherrschten, genauso wenig funktioniert Herrschaft ohne eine gewisse Bereitschaft der Herrschenden zuzuhören oder aufzuhorchen. Diese wechselseitige Bezogenheit wird vermittelt nicht bloß durch symbolische Kommunikation, sondern durch unentwegtes und explizites Evozieren gemeinsamer Normen und Werte, welche die Herrschaft ‚binden‘ und legitimieren.

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Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik

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Karina Kellermann

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Andreas Rutz

Formen und Funktionen weiblicher Herrschaftspartizipation im Heiligen Römischen Reich am Beispiel der Herzoginnen von Kleve (1417–1609)

Abstract In medieval and early modern Europe, women participating in political power were no exception to the rule. Rather, their political activities constituted an integral part of the exertion of power in the dynastic system. For this new interpretation of the role of women in the public sphere not only the insights of gender history are crucial, but also a new understanding of ruling and power in pre-modern times. These are no longer considered as a one-man-show, but rather as a complex interaction of different stakeholders who participated on the institutional level, but also intervened informally in processes of political decision making. This is also true for women of the high nobility, for example the wife, mother, daughters or sisters of a ruler. Taking the duchy of Cleve on the lower Rhine in the 15th and 16th centuries as an example, the paper demonstrates the different possibilities women had to exert or influence politics. The discussion of women’s means of participating in political power is not only relevant for the territorial history of the duchy of Cleve and the region, but also for the political system of the Holy Roman Empire and the Western European monarchies.

Im vormodernen Europa war die Teilhabe adliger Frauen an dynastischer Herrschaft Teil des politischen Alltags. Diese Aussage wäre wohl noch vor einigen Jahren kaum im wissenschaftlichen Diskurs möglich gewesen.1 Das liegt aber 1 Die in den 1990er Jahren beginnende Diskussion findet sich zusammengefasst bei Heide Wunder, Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Ute Gerhard (ed.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 27–54; zuvor bereits dies., „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, 206–215; Anke Hufschmidt, Regentinnen und Hausmütter. Frauen des Hochadels in den protestantischen Territorien des Deutschen Reiches im 16. Jahrhundert, in: Antje Sander (ed.), Das Fräulein und die Renaissance. Maria von Jever 1500–1575. Herrschaft und Kultur in einer friesischen Residenz des 16. Jahrhunderts (Kataloge und Schriften des Schlossmuseums Jever 23), Oldenburg 2000, 53– 64; für den jüngeren Forschungsstand vgl. Matthias Schnettger, Weibliche Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Einige Beobachtungen aus verfassungs- und politikgeschichtlicher Sicht, in: zeitenblicke 8 (2009), Nr. 2 [30. 06. 2009], http://www.zeitenblicke.de/2009/2/schnettger (21. 08. 2018); Cordula Nolte, Frauen und Männer in der Gesellschaft des Mittelalters (Geschichte

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Andreas Rutz

nicht daran, dass sich die historische Forschung nicht für Frauen interessiert hätte und erst jetzt die ‚Politikerinnen‘ des Mittelalters und der Frühen Neuzeit entdecken würde. Im Gegenteil: Die Frauengeschichtsforschung hat seit den 1970er Jahren nach ‚vergessenen‘ Frauen gesucht und ist dabei auch auf verschiedene Königinnen und Fürstinnen gestoßen, die politisch tätig waren, also Herrschaftsrechte ausübten, Huldigungen entgegennahmen, Diplomatie betrieben, Armeen befehligten usw.2 Die Zahl dieser ‚großen‘ Frauen ist aber begrenzt und lässt sich auch durch noch so intensive Recherchen nicht einfach vermehren. Im Vergleich zum männlichen Spitzenpersonal erscheint die Rolle von Frauen im politischen Geschäft dann letztlich doch marginal. Dass die Forschung Frauen mittlerweile dennoch als Teil des politischen Alltags im vormodernen Europa ansieht, liegt nicht daran, dass sie mehr Frauen in herausgehobenen Positionen ermittelt hat. Vielmehr hat sich das Verständnis von Politik bzw. genauer das Verständnis davon, was Politik in Mittelalter und Früher Neuzeit ausmachte und wie sie betrieben wurde, grundlegend geändert. Das neue Verständnis politischer Prozesse in vormoderner Zeit kann an dieser Stelle nicht im Detail erörtert werden.3 Hinzuweisen ist aber auf drei Aspekte, die die jüngere Diskussion prägen: Erstens werden politische Prozesse und Entscheidungen nicht mehr im Sinne eines top down-Modells allein dem Fürsten zugeschrieben. Vielmehr agierte ein Fürst immer in einem Beziehungsgeflecht, das heißt, an politischen Entscheidungen waren immer auch verschiedene Berater, kooperierende oder konkurrierende Adlige, in späteren Zeiten die Landstände, gegebenenfalls Untertanen, auf deren Bedürfnisse man reagierte oder deren politischen Willen man einkalkulierte, sowie nicht zuletzt Mitglieder der Familie, der Dynastie beteiligt. Dieser weite Kreis von Entscheidungsträgern und politisch Beteiligten bedingte zweitens, dass sich vormoderne Politik nicht ausschließlich in Institutionen und nach formal geregelten Abläufen vollzog. Vielkompakt), Darmstadt 2011, 117–121; Heinz Duchhardt/Matthias Schnettger, Barock und Aufklärung (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 11), 5. Aufl., Berlin/Boston 2015, 187–192; Katrin Keller, Frauen und dynastische Herrschaft. Eine Einführung, in: Bettina Braun/ Katrin Keller/Matthias Schnettger (edd.), Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 64), Wien 2016, 13–26. 2 Vgl. als gleichsam paradigmatischen Titel Bea Lundt (ed.), Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörigen, Hausfrauen und Hexen 800–1800, Köln/Weimar/Wien 1992. Zur Thematisierung des Politischen in der ( jüngeren) Geschlechtergeschichte vgl. Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte (Historische Einführungen 8), 2. Aufl., Frankfurt a. Main/New York 2018, 146–154. 3 Vgl. in diesem Zusammenhang jüngst Andreas Rutz, Möglichkeiten und Grenzen fürstlicher Herrschaft im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Reich, in: Guido von Büren/Ralf-Peter Fuchs/Georg Mölich (edd.), Herrschaft, Hof und Humanismus. Wilhelm V. von JülichKleve-Berg und seine Zeit (Schriftenreihe der Niederrhein-Akademie/Academie Nederrijn 11), Bielefeld 2018, 97–125.

Formen und Funktionen weiblicher Herrschaftspartizipation

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mehr spielten informelle Wege der Entscheidungsfindung eine herausragende Rolle, waren die Gespräche im Hinterzimmer oder im Privatgemach, die Briefkommunikation mit dem persönlichen oder familiären Netzwerk, die Lancierung von Gerüchten usw. wirkmächtiger Teil des Geschehens. Damit lässt sich schließlich drittens vormoderne Politik als Aushandlungsprozess beschreiben, bei dem die diversen Akteure die von ihnen vertretenen Interessen auf unterschiedlichsten Wegen einzubringen und durchzusetzen versuchten. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, konnten adlige Frauen in diesem ‚System‘ in unterschiedlichen Rollen und Funktionen als politische Akteure mitwirken. Ich möchte mich dabei im Wesentlichen auf das Heilige Römische Reich konzentrieren, jenes mitteleuropäische Territorialgefüge, das seit dem 10. Jahrhundert bis in die napoleonische Zeit, genauer 1806, bestand und sich aus ca. 350 größeren und kleineren politischen Entitäten zusammensetzte.4 Dieses Reich war geeint durch die Idee des römischen Kaisertums und in einem komplizierten institutionellen Gefüge von Reichsinstitutionen organisiert. Und doch wies es eine Vielgestaltigkeit auf der lokalen und regionalen Ebene auf, die bei der Erforschung zur kleinräumigen Perspektive ebenso zwingt wie zur übergreifenden Synthese.5 Daher werde ich zunächst einen knappen systematischen Überblick über die politischen Handlungsmöglichkeiten von Frauen im Heiligen Römischen Reich geben, um anschließend anhand eines regionalen Beispiels das Geschilderte zu konkretisieren und aktuelle Fragestellungen zum Thema weiblicher Herrschaftspartizipation zu diskutieren. Im Mittelpunkt stehen die Herzoginnen von Kleve und ihre Rolle in der territorialen Politik im Heiligen Römischen Reich.

1.

Weibliche Herrschaftspartizipation im Heiligen Römischen Reich

Adlige Frauen partizipierten im Heiligen Römischen Reich auf vielfältige Weise an dynastischer Politik. Eine eher passive Rolle spielten sie auf dem europäischen Heiratsmarkt. Die erfolgreiche Verheiratung der eigenen Töchter an ebenbürtige oder sogar höher gestellte Fürsten und Könige eröffnete dem Vater und der 4 Einen Eindruck von der territorialen Vielfalt des Reiches bietet Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 7. Aufl., München 2007; als jüngste, monumentale Gesamtdarstellung vgl. Joachim Whaley, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien, 1493–1806, 2 Bde., Darmstadt 2014. 5 Vgl. Andreas Rutz, Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien, 1493– 1806. Joachim Whaleys Geschichte des Reiches in landeshistorischer Perspektive, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 81 (2017), 232–242.

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Dynastie zahlreiche politische Möglichkeiten, angefangen bei der Anbahnung politischer Beziehungen über die Bekräftigung bestehender Bündnisse bis hin zu Standeserhöhung, politischer Einflussnahme und möglicher Erbfolge für künftige Generationen.6 Erasmus von Rotterdam kommentierte 1515 die entsprechende Heiratspolitik der Habsburger, die ja bekanntermaßen im Weltreich Kaiser Karls V. kulminierte, folgendermaßen: „Die Ehe der Herrscher ist ihre persönliche Angelegenheit, und doch gilt sie offensichtlich als die weltbewegende Tatsache, so daß auch uns heute widerfährt, was den Griechen und Trojanern einst mit Helena passierte. […] Wenn die verwandtschaftliche Verbindung der Fürsten miteinander der Welt Friedensruhe verbürgen würde, möchte ich wünschen, sie wären alle sechshundertfach verwandtschaftlich verbunden.“7

Schaut man sich das dynastische Geflecht Europas in dieser Zeit genauer an, war es genauso, wie Erasmus es beschreibt: jeder war mit jedem – um wie viele Ecken auch immer – verwandt. ‚Ruhe‘ hat das der Welt allerdings nicht gebracht, im Gegenteil: Ein beträchtlicher Teil der Kriege des Mittelalters und der Frühen Neuzeit drehte sich um Erbfolgestreitigkeiten. Insbesondere nach der Heirat, zuweilen aber auch schon als fürstliche Töchter, konnten die jungen Fürstinnen durchaus eine aktive Rolle in der Politik einnehmen und ihre Handlungsspielräume vergrößern. In diesem Zusammenhang ist zunächst nicht an bestimmte Ämter oder Herrschaftstitel zu denken. Vielmehr hat sich die Forschung in den letzten Jahren einem Thema zugewandt, das jenseits institutionell greifbarer Partizipation von Frauen liegt, nämlich der informellen Teilhabe an Politik. Gemeint ist die Einflussnahme von Königinnen, Fürstinnen und Gräfinnen auf ihre regierenden Ehemänner oder Söhne und das politische Personal des Hofes. Sie wurden zu Maklerinnen für die Interessen ihrer väterlichen Familien, protegierten Geschwister, andere Verwandte oder Freunde und nutzten ihre Stellung, um selbst politische Interessen zu artikulieren und 6 Vgl. Heide Wunder (ed.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 28), Berlin 2002; sowie die jüngeren Überblicke von Heinz Duchhardt, Die dynastische Heirat [03. 12. 2010], in: Europäische Geschichte Online (EGO), ed. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz, http://www.ieg-ego.eu/duchhardth-2010-de (21. 08. 2018); Britta Kägler, Dynastische Ehen in der Frühen Neuzeit. Partnerwahl zwischen Sozialprestige und Außenpolitik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), 5–20; außerdem als umfangreiche Fallstudien in jüngerer Zeit Tobias Weller, Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert (Rheinisches Archiv 149), Köln/Weimar/Wien 2004; Anne-Simone Knöfel, Dynastie und Prestige. Die Heiratspolitik der Wettiner (Dresdner Historische Studien 9), Köln/ Weimar/Wien 2009; Daniel Schönpflug, Die Heiraten der Hohenzollern. Verwandtschaft, Politik und Ritual in Europa 1640–1918 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 207), Göttingen 2013. 7 Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten. Einführung, ed. und übers. v. Anton J. Gail, Paderborn 1968, 195, 197.

Formen und Funktionen weiblicher Herrschaftspartizipation

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umzusetzen.8 Eine wichtige Rolle kam dabei dem Netzwerk einer Fürstin zu. Zum einen waren dies die Kontakte zum väterlichen Hof sowie zu all den Höfen des Reiches und Europas, an die ihre Schwestern, Tanten, Cousinen, Nichten, aber auch männliche Verwandte verheiratet worden waren. Mit diesem Kreis unterhielten die Fürstinnen umfangreiche Korrespondenzen und bekamen auf diesem Wege nicht nur wichtige politische Informationen, sondern konnten auch gezielt Einfluss nehmen.9 Zum anderen bildete der Hofstaat der Fürstin eine wichtige Basis ihrer politischen Aktivitäten. Ihm gehörten häufig junge Frauen aus ihrem Herkunftsland an, die dann in die regionalen Eliten vor Ort einheirateten und so zur weiteren Vernetzung vor Ort beitrugen.10 Neben der informellen Herrschaftspartizipation, die im vormodernen Europa sicherlich zum politischen Alltag gehörte, hatten adlige Frauen im Reich auch die 8 Vgl. u. a. Clarissa C. Orr (ed.), Queenship in Europe 1660–1815. The Role of the Consort, Cambridge 2004; Corina Bastian et al. (edd.), Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert (Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 5), Köln/Weimar/Wien 2014; Frauensache. Wie Brandenburg Preußen wurde, ed. Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Dresden 2015; Daniel Gehrt/Vera von der Osten-Sacken (edd.), Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadliger Frauen zu Religionspolitik und Bekenntnisbildung (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 104), Göttingen 2015; Braun/Keller/Schnettger (edd.) 2016; Glenda Sluga/Carolyn James (edd.), Women, Diplomacy and International Politics since 1500 (Women’s and Gender History), London/New York 2016. 9 Vgl. insb. Katrin Keller, Kommunikationsraum Altes Reich. Zur Funktionalität der Korrespondenznetze von Fürstinnen im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 205–230; dies., Frauen in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. Amtsinhabe und Netzwerke am Wiener Hof, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3 [13. 12. 2005], http://www.zeitenblicke.de/2005/3/Keller/index_html (21. 08. 2018); dies., Mit den Mitteln einer Frau. Handlungsspielräume adliger Frauen in Politik und Diplomatie, in: Hillard von Thiessen/Christian Windler (edd.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 1), Köln/Weimar/Wien 2010, 219–244; sowie jüngst Corina Bastian, Verhandeln in Briefen. Frauen in der höfischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts (Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 4), Köln/Weimar/Wien 2013; außerdem das laufende Editionsprojekt des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde zu einer der politisch einflussreichsten Fürstinnen der Reformationszeit, bislang erschienen: Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen und ergänzende Quellen. Die Jahre 1505–1532, ed. André Thieme (Quellen und Materialien zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 3,1), Leipzig 2010; Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen und ergänzende Quellen. Die Jahre 1533 und 1534, ed. Jens Klingner (Quellen und Materialien zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 3,2), Leipzig 2017. 10 Katrin Keller, Hofdamen. Amtsträgerinnen am Wiener Hofstaat des 17. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2005; Britta Kägler, Frauen am Münchener Hof (1651–1756) (Münchener Historische Studien. Abteilung Bayerische Geschichte 18), Kallmünz 2011; Regina Schleuning, Hof, Macht, Geschlecht. Handlungsspielräume adeliger Amtsträgerinnen am Hof Ludwigs XIV. (Freunde – Gönner – Getreue. Studien zur Semantik und Praxis von Freundschaft und Patronage 11), Göttingen 2016.

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Möglichkeit, eigenständig Herrschaftspositionen einzunehmen. An erster Stelle zu nennen sind die Äbtissinnen der nicht wenigen reichsunmittelbaren Damenstifte und Frauenklöster. Sie waren, wie Matthias Schnettger formuliert, „die einzigen frühmodernen Staaten, in denen die Herrschaft von Frauen nicht nur eine ‚zweite Wahl‘ oder gar ‚Notlösung‘, sondern die unumstößliche Norm darstellte.“11 Diese geistlichen Institutionen übten in ihren Besitzungen die Landesherrschaft aus, die jeweilige Äbtissin hatte also eine fürstengleiche Stellung und verfügte über entsprechende Herrschaftsrechte in ihrem Territorium. Darüber hinaus hatten die Äbtissinnen gemeinsam mit den übrigen Prälaten Sitz und Stimme im Reichstag sowie in den jeweiligen Kreistagen.12 Herrscherinnen kraft eigenen Rechts, wie sie von den britischen Inseln, aus Schweden oder auch Russland bekannt sind, gab es im Heiligen Römischen Reich mit einer Ausnahme nicht.13 Lediglich Maria Theresia von Österreich gelangte aufgrund einer entsprechenden Erbfolgeregelung 1740 zu selbstständiger Herrschaft.14 Sie ist bekannt als ‚Kaiserin‘ und agierte auch als solche, allerdings war das eigentliche Haupt des Heiligen Römischen Reiches bekanntlich ihr Mann Franz I. von Lothringen und nach dessen Tod 1765 ihrer beider Sohn Joseph II.15 Kraft eigenen Rechts regierte sie dagegen die habsburgischen Erblande sowie die Länder der böhmischen und ungarischen Krone. Das am weitesten verbreitete Modell für Frauen, im Reich eigenständig eine Herrschaftsposition zu bekleiden, war die Regentschaft, also die vertretungsweise Ausübung der Herrschaft in einem

11 Schnettger 2009, Abs. 21. 12 Vgl. jetzt ausführlich Teresa Schröder-Stapper, Fürstäbtissinnen. Frühneuzeitliche Stiftsherrschaften zwischen Verwandtschaft, Lokalgewalten und Reichsverband (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Köln/Weimar/Wien 2015; zur Stellung der Abteien im Reich vgl. allg. Armgard von Reden-Dohna, Reichsstandschaft und Klosterherrschaft. Die schwäbischen Reichsprälaten im Zeitalter des Barock (Institut für Europäische Geschichte Mainz. Vorträge 78), Wiesbaden 1982; Franz Brendle, Die geistlichen Reichsstände Schwabens im System der Germania Sacra, in: Wolfgang Wüst/Georg Kreuzer/David Petry (edd.), Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 100), Augsburg 2008, 47–58. 13 Vgl. die Übersicht bei Maria T. Guerra Medici, Donne di governo nell’Europa moderna (Ius nostrum 32), Roma 2005, 217–270, die allerdings auch Regentinnen einbezieht. 14 Die lange Zeit defizitäre Forschung zu Maria Theresia ist im Zuge des 300. Geburtsjubiläums auf eine völlig neue Grundlage gestellt worden; vgl. Elisabeth Badinter, Le pouvoir au féminin. Marie-Thérèse d’Autriche, 1717–1780. L’impératrice reine, Paris 2016; Thomas Lau, Die Kaiserin. Maria Theresia, Wien/Köln/Weimar 2016; Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, München 2017; sowie jetzt die Bilanz von Katrin Keller, Herrscherin, Ausnahme, Mythos. Neue Publikationen zu Maria Theresia, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), 83–96. 15 Alois Schmid, Franz I. und Maria Theresia (1745–1765), in: Anton Schindling/Walter Ziegler (edd.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München 1990, 232–248; Peter Baumgart, Joseph II. und Maria Theresia (1765–1790), in: ebd., 249–276.

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Territorium.16 Eine Regentin oder ein Regent wurde bei Abwesenheit des Herrschers, bei dessen (meist psychischer) Regierungsunfähigkeit17 oder bei Minderjährigkeit des Erbfolgers eingesetzt, um die Regierungsgeschäfte zu führen. Insbesondere der letzte Fall, die vormundschaftliche Regentschaft, lässt sich in zahlreichen Territorien des Reiches nachweisen. Als Regentinnen fungierten häufig die Mütter und teilweise die Großmütter der erbberechtigten Prinzen. Ausschlaggebend hierfür war das Bestreben, das dynastische Erbe zu bewahren. Um dies zu erreichen, war es am sinnvollsten, ein Territorium auch in der Zeit einer Regentschaft innerhalb der Familie zu verwalten. Frauen waren in der Regel von der Thronfolge ausgeschlossen. Dementsprechend erschien es eher unwahrscheinlich, dass sie eine Regentschaft nutzen würden, um die Herrschaft dauerhaft an sich zu ziehen. Und so erwartete man von ihnen weit eher eine selbstlose Amtsführung im Sinne des erbberechtigten Prinzen als von männlichen Familienmitgliedern. Trotz der weit verbreiteten Praxis insbesondere der mütterlichen Regentschaft wurde diese Form der Herrschaftspartizipation von Frauen teilweise heftig kritisiert. So hielt etwa König Friedrich II. von Preußen in seinem Politischen Testament von 1752 fest: Die Regentschaft sollte niemals einer Frau, sondern un16 Vgl. zusammenfassend Armin Wolf, Regentschaft, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 4 (1990), 485–487; Caroline zum Kolk/Sebastian Kühn, Regent/in, in: Enzyklopädie der Neuzeit 10 (2009), 851–856. Trotz der weiten Verbreitung von Regentschaften und deren zentraler Bedeutung für die Geschichte der Territorien des Heiligen Römischen Reiches steht eine systematisch vergleichende Untersuchung des Phänomens insbesondere für die Frühe Neuzeit noch aus. Als grundlegende Fallstudie vgl. Pauline Puppel, Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500–1700 (Geschichte und Geschlechter 43), Frankfurt a. Main/New York 2004; dort auch ausführlich zum rechtlichen Hintergrund, 34–143. Die Überblicke zu den Regentschaften in Europa von André Corvisier, Les régences en Europe. Essai sur les délégations de pouvoirs souverains, Paris 2002, und Guerra Medici 2005 beziehen das Reich nur am Rande mit ein. Für die mittelalterlichen Reichsterritorien vgl. in vergleichender Perspektive Bettina Elpers, Regieren, Erziehen, Bewahren. Mütterliche Regentschaften im Hochmittelalter (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 166), Frankfurt a. Main 2003; Regina Schäfer, Handlungsspielräume hochadeliger Regentinnen im Spätmittelalter, in: Jörg Rogge (ed.), Fürstin und Fürst. Familienbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten von hochadeligen Frauen im Mittelalter (Mittelalter-Forschungen 15), Ostfildern 2004, 203–224; sowie für die Stellvertretung des Königs/Kaisers die grundlegenden Studien von Amalie Fössel, Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume (MittelalterForschungen 4), Stuttgart 2000, insb. 319–372; Marie-Luise Heckmann, Stellvertreter, Mitund Ersatzherrscher. Regenten, Generalstatthalter, Kurfürsten und Reichsvikare in Regnum und Imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 9), 2 Bde., Warendorf 2002. 17 Vgl. zur Problematik des kranken Fürsten die anregende Fallstudie von Cordula Nolte, Der kranke Fürst. Vergleichende Beobachtungen zu Dynastie- und Herrschaftskrisen um 1500, ausgehend von den Landgrafen von Hessen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), 1–36.

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bedingt männlichen Verwandten des Minderjährigen anvertraut werden, denn „ein Mann arbeitet gemeinhin mit mehr Überlegung als eine Frau, er ist mehr zur Arbeit geschaffen und daher mehr imstande, die eingeführte Ordnung in allen Bereichen der Regierung zu erhalten als eine Königin-Witwe, unbekannt in den Geschäften, geneigt, sich von den Ministern regieren zu lassen und unfähig, die Geschäfte, die sich auf die Armee beziehen, gut zu verwalten.“18 Friedrich reproduziert hier zeitgenössische Geschlechterstereotype, die sich so und teilweise noch schärfer formuliert auch im frühneuzeitlichen Diskurs um die Legitimität weiblicher Herrschaft finden. Zu verweisen wäre unter anderem auf den schottischen Reformator John Knox. Dieser publizierte 1558 die Schrift ‚The First Blast of the Trumpet against the Monstrous Regiment of Women‘, in der es heißt: To promote a woman to bear rule, superiority, dominion, or empire above any realm, nation, or city, is repugnant to nature, contumely to God, a thing most contrary to his revealed will and approved ordinance, and finally it is the subversion of good order, of all equity and justice.19

Ähnliche Ausführungen zur Widernatürlichkeit weiblicher Herrschaft und den schädlichen Folgen für Staat und Gesellschaft finden sich bei Jean Bodin, dem französischen Staatstheoretiker und Zeitgenossen von Knox, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen.20 Demgegenüber war etwa ein Thomas Hobbes in dieser Frage eher indifferent und schloss in seinem ‚Leviathan‘ von 1651 weder weibliche Thronfolge noch Regenschaft aus. Gleichwohl war er überzeugt, dass ein Monarch von seinen eigenen Kindern rather a male than a female als Nachfolger bevorzugen würde, because men, are naturally fitter than women, for actions of

18 Vgl. die Edition des Testaments in: Die politischen Testamente der Hohenzollern, ed. Richard Dietrich (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz 20), Köln/Wien 1986, 254–461; zur Vormundschaft ebd., 396–399, das Zitat 399. 19 John Knox, The First Blast of the Trumpet against the Monstrous Regiment of Women, in: ders., On Rebellion, ed. Roger A. Mason, Cambridge 1994, 3–47, hier 8f., zit. nach Anja V. Hartmann, Zwischen Geschlechterordnung und politischer Ordnung. Herrscherinnen und Regentinnen in der Frühen Neuzeit, in: Ronald G. Asch/Johannes Arndt/Matthias Schnettger (edd.), Die frühneuzeitliche Monarchie und ihr Erbe. Festschrift für Heinz Duchhardt zum 60. Geburtstag, Münster et al. 2003, 135–152, hier 141. Umfassend analysiert werden die Schriften von Knox und anderen zeitgenössischen Autoren zur Frage der Legitimität weiblicher Herrschaft im England des 16. Jh.s von Robert Valerius, Weibliche Herrschaft im 16. Jahrhundert. Die Regentschaft Elisabeths I. zwischen Realpolitik, Querelle des femmes und Kult der Virgin Queen (Reihe Geschichtswissenschaft 49), Herbolzheim 2002, 170–233. 20 Vgl. ausführlich Claudia Opitz-Belakhal, Das Universum des Jean Bodin. Staatsbildung, Macht und Geschlecht im 16. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter 53), Frankfurt a. Main/New York 2006; sowie allg. zum humanistischen Frauenbild Elisabeth Koch, Maior dignitas est in sexu virili. Das weibliche Geschlecht im Normensystem des 16. Jahrhunderts (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 57), Frankfurt a. Main 1991.

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labour and danger.21 Der tendenziell misogyne Geschlechterdiskurs der Frühen Neuzeit ist hier deutlich präsent, führt aber nicht zum prinzipiellen Ausschluss von Frauen von Herrschaft. Insgesamt ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Staatstheorie verständlich, dass Herrscherinnen und Regentinnen in der Frühen Neuzeit immer unter einem besonderen legitimatorischen Zwang standen und in Konfliktsituationen von den politischen Gegnern mit Leichtigkeit aufgrund ihres Geschlechts angegriffen werden konnten.22

2.

Das Beispiel der Herzoginnen von Kleve23

Als politische Handlungsräume von adligen Frauen im Heiligen Römischen Reich wurden drei Bereiche identifiziert: Heirat, informelle Teilhabe und eigenständige Herrschaft. Diese sollen nun anhand von Fallbeispielen aus der Dynastie des Hauses Kleve-Mark genauer in den Blick genommen werden. Der Schwerpunkt meiner exemplarischen Ausführungen liegt auf dem 15. und 16. Jahrhundert, genauer auf der Zeit von der Erhebung der Grafschaft Kleve zum Herzogtum im Jahre 1417 bis zum Aussterben des regierenden Herzogshauses im Mannesstamm im Jahre 1609.24 Eine Grafschaft Kleve bestand seit dem 11. Jahrhundert. Nach dem Tod des letzten Grafen aus dem Hause Kleve, Johann (reg. 1347–1368), konnte sich Graf Adolf III. von der Mark als Nachfolger in Kleve (Adolf I. von Kleve, reg. 1368–1394) durchsetzen.25 Unter seinem Sohn Adolf II. (reg. 1394–1448) wurde Kleve im Jahre 1417 zum Herzogtum erhoben. 21 Thomas Hobbes, Leviathan, ed. Richard Tuck, Cambridge 1991, Teil 2, Kap. 19, 137, zit. nach Hartmann 2003, 140. 22 Zu den diesbezüglichen Legitimationsstrategien der Frauen vgl. Hartmann 2003, 142–152; Schnettger 2009, Abs. 5–7, mit dem wichtigen Hinweis auf die legitimatorische Propaganda im Bereich der Hofkultur; außerdem als ausführliches Fallbeispiel die Studie von Lena Oetzel, ‚Gespräche‘ über Herrschaft. Herrscherkritik bei Elisabeth I. von England (1558– 1603) (Historische Studien 505), Husum 2014, die neben der Herrscherkritik auch die Reaktionen Elisabeths analysiert und so die enge Wechselbeziehung von Kritik und Legitimation verdeutlicht. 23 Angaben zu Regierungs- bzw. Lebensdaten werden im Folgenden nur für Angehörige des Hauses Kleve-Mark gemacht. 24 Zu der im Folgenden kurz referierten Territorialgeschichte vgl. überblicksartig Guido de Werd (ed.), Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg, 3. Aufl., Kleve 1985; Heribert Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (edd.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 3: Der Nordwesten (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 51), Münster 1991, 86–106; Wilhelm Janssen, Die Entwicklung des Territoriums Kleve (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande. Beiheft V/11–12; Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 12), Bonn 2007. 25 Manuel Hagemann, Der Klever Erbfall 1368, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 83 (2019), 80– 109.

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Die Herzöge aus dem Hause Mark, Adolf II. (reg. 1417–1448), Johann I. (reg. 1448–1481), Johann II. (reg. 1481–1521), Johann III. (reg. 1521–1539), Wilhelm V. (reg. 1539–1592) und Johann Wilhelm (reg. 1592–1609), regierten Kleve fast zwei Jahrhunderte.26 Mit dem Tod des letzten Herzogs aus dem Hause Mark im Jahre 1609 begann der Jülich-Klevische Erbfolgestreit, infolgedessen das Herzogtum Kleve schließlich an die brandenburgischen Hohenzollern fiel.

2.1

Heirat27

Schon am Beginn der Geschichte des Herzogtums Kleve steht eine dynastische Heirat. Denn für die Erhebung Kleves zum Herzogtum im Jahre 1417 spielte die Tatsache, dass Graf Adolf II. 1406 Maria von Burgund geheiratet und sich so mit einer der mächtigsten Dynastien des spätmittelalterlichen Europa verbunden hatte, eine kaum zu unterschätzende Rolle.28 Aus dieser Ehe gingen zehn Kinder hervor, darunter sieben Töchter, so dass in der Folge nicht nur die Beziehungen zu Burgund durch weitere Heiraten vertieft, sondern auch Verbindungen mit verschiedenen einflussreichen Fürstenhäusern des Reiches und Europas eingegangen werden konnten, unter anderem mit Bayern, Württemberg, Geldern und Braunschweig sowie mit Frankreich, Portugal und Spanien. Hervorzuheben ist unter diesen Verbindungen insbesondere die Vermählung der zweitjüngsten Tochter Maria (1426–1487) mit Karl von Valois, dem Herzog von Orléans; ihr Sohn gelangte 1496 als Ludwig XII. in Frankreich auf den Königsthron. Die Nachfolge im Herzogtum Kleve trat 1448 der älteste Sohn Herzog Adolfs, Johann I., an. Er heiratete 1455 Elisabeth von Burgund. Aus dieser Ehe gingen fünf 26 Sie finden sich dargestellt auf dem berühmten ‚Herzöge-Bild‘ aus der Mitte des 17. Jh.s, das in mehreren Kopien u. a. in Kleve existiert; vgl. Irmgard Hantsche, Das Bild der Herzöge von Kleve. Ein Beispiel für Kunst mit politischer Absicht? (Beiträge zur Geschichte der Stadt Emmerich 36), Emmerich 2008. 27 Zu den dynastischen Heiraten des Hauses Kleve-Mark vgl. die Überblicke von Heike Preuss, Politische Heiraten in Jülich-Kleve-Berg, in: de Werd (ed.) 1985, 133–146; Heike Preuss, Heiratspolitik der Grafen und Herzöge von Jülich, Kleve und Berg vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: Susanne Anna/Heike Preuss (edd.), Heiratspolitik (Schriftenreihe Stadtmuseum), Düsseldorf 2015, 10–47, hier 11–26; Stephanie Marra, Allianzen, Netzwerke und Heiratskreise. Zur Familienpolitik des Grafenhauses von der Mark im Spätmittelalter, in: Stefan Pätzold/Felicitas Schmieder (edd.), Die Grafen von der Mark. Neue Forschungen zur Sozial-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen N. F. 41), Münster 2018, 69–77; außerdem als Datengrundlage Detlev Schwennicke, Europäische Stammtafeln. N. F., Bd. 18: Zwischen Maas und Rhein, Frankfurt a. Main 1998, Taf. 17. 28 Manuel Hagemann, Adolf II. von Kleve (1373–1448). Der Graf, der Herzog wurde, in: Klevische Lebensbilder 1 (2013), 19–28; ders./Hiram Kümper, 1417: Kleve wird Herzogtum, mit der Erhebungsurkunde vom 28. April 1417 in Transkription, Übersetzung und Kommentar (Beiträge zur Klevischen Geschichte 2), Kleve 2017.

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Kinder hervor, allerdings heiratete nur eines, nämlich der Nachfolger auf dem Herzogsthron Johann II. Er ehelichte 1489 Mechthild von Hessen. Aus dieser Beziehung gingen zwei Söhne, der Erbprinz Johann III. und Adolf (1498–1525), sowie eine Tochter, Anna (1495–1567), hervor. Letztere sollte 1518 mit Karl von Egmond, dem Herzog von Geldern, verheiratet werden, um die Streitigkeiten zwischen Kleve und Geldern beizulegen und den klevischen Herzögen bei Gelegenheit die Erbfolge in Geldern zu ermöglichen.29 Entsprechende Vereinbarungen waren schon 1511 getroffen worden, allerdings scheiterte diese Eheanbahnung nicht nur am Widerstand Kaiser Maximilians I., der selbst Ansprüche auf Geldern vertrat. Vielmehr wehrte sich auch Anna selbst gegen die Vermählung und heiratete stattdessen 1518 eigenmächtig Graf Philipp III. von WaldeckEisenberg, wurde von ihrem Vater daraufhin festgesetzt und erst auf Intervention des Kaisers mit einer nur geringen Mitgift freigegeben. Das autonome Handeln Annas ist sicherlich eine Ausnahme, zeigt allerdings eindrücklich, was passierte, wenn Frauen die ihnen zugewiesene passive Rolle als Heiratsobjekt nicht spielten. Eine Allianz zwischen Geldern und Kleve kam vorerst nämlich nicht zustande. Entscheidend für die weitere Geschichte des Herzogtums Kleve war ein bereits 1496 geschlossenes Heiratsabkommen mit dem benachbarten Herzogtum JülichBerg über die Vermählung des sechsjährigen klevischen Erbfolgers Johann mit der fünfjährigen Maria von Jülich. Die Hochzeit erfolgte 1510, ein Jahr bevor Marias Vater Wilhelm von Jülich-Berg ohne männliche Erben starb. Sein Schwiegersohn Johann wurde nun Herzog von Jülich und Berg. 1521 trat er dann als Johann III. die Nachfolge seines Vaters Johann II. in Kleve an und vereinigte die drei niederrheinischen Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg. Der nunmehr mächtigste Fürst im Nordwesten des Reiches und sein Sohn Wilhelm V., der ihm 1539 nachfolgte,30 setzten die Heiratspolitik des Hauses Kleve auf der europäischen Bühne fort, waren dabei aber weniger erfolgreich als ihre Vorgänger: Die älteste Tochter Johanns III. Sibylle (1512–1554) wurde 1526 mit dem späteren

29 Vgl. ausführlich zur politischen Geschichte Gelderns im Spätmittelalter Matthias Böck, Herzöge und Konflikt. Das spätmittelalterliche Herzogtum Geldern im Spannungsfeld von Dynastie, ständischen Kräften und territorialer Konkurrenz (1339–1543) (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Geldern und Umgegend 110), Geldern 2013; zum Heiratsprojekt ebd., 630, 646. 30 Vgl. jetzt ausführlich Büren/Fuchs/Mölich (edd.) 2018; außerdem die biographischen Skizzen von Guido von Büren, Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg (1516–1592), in: Klevische Lebensbilder 1 (2013), 37–44; Olaf Richter, Wilhelm V. von Kleve. Herzog von Jülich-Kleve-Berg, Graf von der Mark und Ravensberg (1516–1592) [30. 09. 2010], in: Portal Rheinische Geschichte, ed. Landschaftsverband Rheinland (LVR), http://www.rheinischegeschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/w/Seiten/WilhelmVvonKleve.aspx (25. 07. 2019).

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Kurfürsten von Sachsen Johann Friedrich I. vermählt;31 für die zweitälteste Tochter Anna (1515–1557) wurde schon im Kindesalter ein Heiratsvertrag mit dem späteren Herzog Franz I. von Lothringen geschlossen, der allerdings nie umgesetzt worden ist. Stattdessen trat Wilhelm für seine Schwester in Heiratsverhandlungen mit dem englischen König Heinrich VIII. ein.32 Dieser ließ sich schließlich durch ein Porträt Hans Holbeins des Jüngeren und diverse Gesandtenberichte von den Vorzügen der Herzogstochter überzeugen.33 Der politische Hintergrund dieser Allianz war auf englischer Seite die Suche nach einem Verbündeten für die konfessionell motivierte Politik gegen Kaiser und Papst. Umgekehrt brauchte Wilhelm, der seit 1538 Herzog von Geldern war, Unterstützung, um seine Herrschaft in Geldern gegen Kaiser Karl V. zu behaupten.34 Heinrich war allerdings schon bei der Ankunft seiner Braut in England in jeder Hinsicht enttäuscht. Auch wenn die Hochzeit dennoch 1540 stattfand, wurde die Ehe nicht vollzogen und bereits nach sechs Monaten auf Betreiben Heinrichs annulliert. Die dritte Schwester Wilhelms, Amalia (1517–1586), sollte mit einem der Söhne des Markgrafen Ernst von Baden verheiratet werden. In die fünfjährigen, bis 1548 andauernden Verhandlungen wurde auch Anna einbezogen, am Ende kam es aber zu keiner Vermählung. Wilhelm selbst heiratete zunächst 1541 Jeanne d’Albret, eine Nichte des französischen Königs Franz I., von dem sich der Herzog ebenfalls Unterstützung gegen den Kaiser erhoffte.35 Ob die Ehe vollzogen wurde, 31 Knöfel 2009, 278–283; Siegfried Bräuer, „das ych doch den hertz allerliebsten mechte geseyn.“ Sibylle von Kleve in den 20 Ehejahren an der Seite Kurfürst Johann Friedrichs von Sachsen, in: Gehrt/Osten-Sacken (edd.) 2015, 125–149, hier 131–136; Marco Neumaier, Dynastische Politik und Inszenierung. Kurpfälzische und kursächsische Eheschließungen in der Reformationszeit, in: Jens Klingner/Benjamin Müsegades (edd.), (Un)gleiche Kurfürsten? Die Pfalzgrafen bei Rhein und die Herzöge von Sachsen im späten Mittelalter (1356– 1547) (Heidelberger Veröffentlichungen zur Landesgeschichte und Landeskunde 19), Heidelberg 2017, 139–158, hier 139–150; zur Biographie außerdem die populärwissenschaftliche Darstellung von Sylvia Weigelt, Sibylle von Kleve. Cranachs schönes Modell, Weimar/Eisenach 2012. 32 Vgl. zusammenfassend Jennifer Striewski, Anna von Kleve (1515–1557). Königin von England, in: Rheinische Lebensbilder 19 (2013), 67–89; Retha M. Warnicke, The Marrying of Anne of Cleves. Royal Protocol in Early Modern England, Cambridge/New York 2000. 33 John Cooper, Die Bedeutung der Bildnisse Annas von Kleve bei den Heiratsverhandlungen mit Heinrich VIII., in: de Werd (ed.) 1985, 155–158; vgl. auch ebd., 406f. 34 Emile Smit/Jan Zweers, Der Erwerb Gelderns als Beweggrund für die Heirat zwischen Anna von Kleve und Heinrich VIII. von England, in: de Werd (ed.) 1985, 147–152; sowie ausführlich zur klevisch-englischen Allianz Karl W. Bouterwek, Anna von Cleve, Gemahlin Heinrichs VIII., Königs von England, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 4 (1867), 337–413. Zu Wilhelm als Herzog von Geldern vgl. ausführlich Böck 2013, 655–673. 35 Zur Allianz zwischen Kleve und Frankreich vgl. Günter Bers, Die Allianz Frankreich-Kleve während des Geldrischen Krieges (Jülich’sche Fehde) (1539–1543). Urkunden und Korrespondenzen, Diss. Bonn 1969. Die Frankreichreise Wilhelms wird in einem zeitgenössischen Bericht ausführlich beschrieben, vgl. Kurt Hamburger, Die Hochzeit von Châtellerault (1541) Herzog Wilhelms von Kleve-Jülich-Berg. Ein politisches Heiratsabenteuer vor 450

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ist nicht zweifelsfrei zu klären. Sie wurde jedenfalls recht zügig aus politischen Gründen wieder aufgelöst, um ein anderes Heiratsprojekt zu ermöglichen. Denn Wilhelm unterlag 1543 im Geldrischen Erbfolgekrieg dem Kaiser und musste im Vertrag von Venlo nicht nur seine Ansprüche auf Geldern aufgeben, sondern sich auch eindeutig zum Katholizismus und zum Bündnis mit dem Kaiser bekennen.36 Besiegelt wurde diese Unterwerfung unter den Habsburger 1546 durch eine Heirat mit Maria von Österreich, einer Nichte Karls V. und Tochter des späteren Kaisers Ferdinand I.37 Die Reihe der klevischen Hochzeiten setzte sich auch bei den Kindern von Wilhelm und Maria fort. Um trotz der Katholizitätsklausel des Vertrags von Venlo weiterhin konfessionelle Neutralität zu demonstrieren, bemühte sich Wilhelm V. für seine Töchter um Heiratsallianzen mit protestantischen Häusern: Marie Eleonore (1550–1608), die älteste, wurde 1573 mit dem Lutheraner Herzog Albrecht Friedrich von Preußen, einem Spross des Hauses Brandenburg-Ansbach, vermählt.38 Die zweite und die dritte Tochter heirateten in die ebenfalls lutherische Linie der pfälzischen Wittelsbacher ein: Anna (1552–1632) wurde 1574 mit Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg vermählt39 und Magdalene (1553–

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Jahren, in: Neue Beiträge zur Jülicher Geschichte 10 (1999), 7–56; Guido von Büren, „Abitus principis in Galliam“. Die Reise Herzog Wilhelms V. von Jülich-Kleve-Berg nach Frankreich im Jahre 1541, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (edd.), Vorbild, Austausch, Konkurrenz. Höfe und Residenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung (Residenzenforschung 23), Ostfildern 2010, 317–330. Vgl. ausführlich zum Vertrag von Venlo Frank Keverling Buisman et al. (edd.), Verdrag en Tractaat van Venlo. Herdenkingsbundel, 1543–1993 (Werken Gelre 43), Hilversum 1993, für unseren Zusammenhang insb. den Beitrag von Wilhelm Janssen, Der Länderverbund JülichBerg-Kleve-Mark-Ravensberg im geldrischen Erbfolgestreit, 1537–1543, in: ebd., 13–40; außerdem Böck 2013, 671–673. Georg von Below, Verhandlungen über die Vermählung des Herzogs Wilhelm von JülichCleve mit einer Tochter König Ferdinands, in: Aus Westfalens Vergangenheit. Beiträge zur politischen, Kultur- und Kunstgeschichte Westfalens, Münster 1893, 1–16; Ferdinand Küch, Die Hochzeit des Herzogs Wilhelm III. von Jülich-Cleve-Berg 1546, in: Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 17 (1902), 98–115. Hans Goldschmidt, Die Heirat und Aussteuer der Herzogin Maria Leonore von JülichKleve, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 33 (1911), 119–158; Bernhard Vollmer, Die Reise Herzog Wilhelms des Reichen von Jülich-Kleve-Berg mit seiner Tochter Maria Leonora zu ihrer Hochzeit nach Preußen, in: Düsseldorfer Jahrbuch 42 (1940), 276–290; Rita Scheller, Die Frau am preußischen Herzogshof (1550–1625) (Studien zur Geschichte Preussens 13), Köln/Berlin 1966, 72–128; Helga Ullrich-Scheyda, Marie Eleonore von Jülich-Kleve-Berg (1550–1608). Die Herzogin, die Kleve mit Preußen verband, in: Klevische Lebensbilder 1 (2013), 45–52; sowie jüngst Christine Maes, Adelige Frauen auf der Suche nach Freundschaft und Liebe. Die Töchter Herzog Wilhelms V. von Jülich-Kleve-Berg im Briefwechsel mit Margaretha von der Marck-Arenberg (Jülicher Forschungen 10/Montanus – Schriftenreihe zur Lokal- und Regionalgeschichte in Leverkusen 15), Goch 2016, 44–48. Kurt Schöndorf, Fürstenhochzeit in Neuburg an der Donau im Jahre 1574, in: Neuburger Kollektaneenblatt 157 (2009), 155–188; Maes 2016, 48f. Das Dissertationsprojekt von Maximiliana Kocher zu ‚Anna von Jülich-Kleve Pfalzgräfin von Neuburg (1552–1632)‘, LMU

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1633) 1579 mit Pfalzgraf Johann I. von Zweibrücken.40 Die jüngste Tochter Sibylle (1557–1627) hätte eigentlich Mitte der 1570er Jahre eine Liebesheirat mit dem Katholiken Karl von Arenberg eingehen wollen, was aber zu dieser Zeit nicht opportun schien.41 Auch die intensive Heiratsdiplomatie, die Sibylle noch bis in die 1580er Jahre gemeinsam mit ihrer potenziellen Schwiegermutter Margaretha von Arenberg betrieb, konnte dies nicht ändern, obwohl sie nicht nur die beiden Familien, sondern auch den Kaiser, den König von Spanien und die bayerischen Wittelsbacher einbezog. 1586 wurde Sibylle mit dem ebenfalls katholischen Philipp von Baden verlobt, der jedoch schon vor der Hochzeit starb; 1601 heiratete sie schließlich den Markgrafen Karl von Burgau, einen unehelichen Sohn Erzherzog Ferdinands von Österreich. Ihr Fall erscheint mir ähnlich paradigmatisch zu sein wie der ihrer Großtante Anna zwei Generationen zuvor. Zwar waren Sibylles Versuche, die eigenen Heiratspläne gemeinsam mit Margaretha von Arenberg umzusetzen, nicht erfolgreich. Die umfangreiche Korrespondenz Sibylles in Heiratsangelegenheiten zeigt aber, dass eine Fürstentochter durchaus über Möglichkeiten verfügte, sich in die dynastische Heiratspolitik einzuschalten. Dass sie scheiterte, hat weniger damit zu tun, dass sie als Frau in dieser Sache keinen Einfluss hatte. Vielmehr riefen der Standesunterschied zwischen den beiden Häusern sowie konfessionelle Bedenken den Widerstand der beteiligten Parteien hervor, so dass Herzog Wilhelm V. sich letztlich nach langem Zögern gegen die Heirat aussprach. Wilhelm hatte vom Kaiser bereits 1546 im Zuge seiner Heirat mit Maria von Habsburg das Privileg der Erbgleichberechtigung für seine Töchter erwirkt, falls ein männlicher Erbe fehlen sollte, was die Attraktivität der Frauen auf dem Heiratsmarkt noch weiter erhöhte. Und tatsächlich waren mit den Heiraten der drei ältesten Töchter die Eheverbindungen entstanden, aus denen sich nach dem Tod des letzten Herzogs 1609 die Erbansprüche Brandenburgs und Pfalz-NeuMünchen, blieb aufgrund ihres tragischen Verkehrsunfalls unvollendet; vgl. aber Siegrid Westphal, Konversion und Bekenntnis. Konfessionelle Handlungsfelder der Fürstinwitwe Anna im Zuge der Rekatholisierung Pfalz-Neuburgs zwischen 1614 und 1632, in: Gehrt/ Osten-Sacken (edd.) 2015, 317–344, die auf Kochers Vorarbeiten zurückgreift. 40 August Brauner, Fürstenhochzeit in Bergzabern, Pfalz-Jülich 1579. Eine Studie zur Geschichte der Stadt und des Schlosses Bergzabern sowie der Fürstenhäuser Pfalz-Zweibrücken und Jülich-Cleve-Berg, Bad Bergzabern 1968; Volker Wittmütz, Hochzeit in Bergzabern. Herzog Wilhelm IV. von Jülich/Kleve/Berg verheiratet seine Tochter Magdalena mit Herzog Johann I. von Pfalz-Zweibrücken am 4. Oktober 1579, in: Romerike Berge 50,4 (2000), 3–11; Maes 2016, 53–58. 41 Hans Goldschmidt, Ein Heiratsplan zwischen der Herzogin Sibilla von Jülich-Cleve und dem Grafen Karl von Arenberg, in: Düsseldorfer Jahrbuch 24 (1911) [1912], 105–118; sowie jetzt ausführlich und mit vielfältigem neuen Material Maes 2016, 59–121; außerdem Mirella Marini, Dynastic Relations on an International Stage. Margaret de la Marck (1527–1599) and Arenberg Family Strategy during the Dutch Revolt, in: Sluga/James (edd.) 2016, 46–67, hier insb. 56–58.

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burgs sowie nachgeordnet auch Pfalz-Zweibrückens auf die Vereinigten Herzogtümer herleiteten.42 Denn Wilhelms erstgeborener Sohn Karl Friedrich (1555– 1575) verstarb unverheiratet und kinderlos in jugendlichem Alter.43 Sein Bruder Johann Wilhelm, der schließlich 1592 die Nachfolge seines Vaters als Herzog von Jülich-Kleve-Berg antrat, heiratete zweimal, zunächst 1585 Jakobe von Baden44 und dann 1599 Antoinette von Lothringen,45 hatte aber keine Nachkommen. Als Folge des daraufhin ausbrechenden Jülich-Klevischen Erbfolgestreits wurden die Vereinigten Herzogtümer geteilt. Kleve fiel an Brandenburg, Jülich und Berg gehörten künftig zu Pfalz-Neuburg, so dass sich am Niederrhein für die folgenden Jahrhunderte eine völlig neue politische Konstellation ergab. Der knappe Abriss der Heiratsverbindungen der Klever Herzöge und ihrer Kinder, der freilich noch zu ergänzen wäre um die dynastischen Verbindungen der Kindeskinder, deren Kinder usw., dürfte deutlich gemacht haben, welche große Bedeutung die herzoglichen Töchter in der Politik der klevischen Herzöge spielten. Ihre Verheiratung diente politischen Allianzen und vertiefte dynastische Beziehungen wie im Falle Burgunds, war Mittel der territorialen Politik gegen den Kaiser wie im Falle Englands oder folgte konfessionellen Überlegungen, wie im Falle Brandenburgs und der pfälzischen Wittelsbacher. Die entsprechenden Allianzen wurden von den männlichen Vormündern entsprechend der politischen Interessen arrangiert. Die Rolle der Frauen der betreffenden Familien sollte freilich nicht unterschätzt werden, auch wenn sie nicht in jedem Einzelfall dokumentiert ist. Die bislang bekannten Briefe von Fürstinnen des Reiches, die vermutlich nur einen Teil der Überlieferung ausmachen, zeigen jedenfalls, dass dynastische Heiraten in der Kommunikation der Frauen einen wichtigen Aspekt 42 Vgl. Alison D. Anderson, On the Verge of War. International Relations and the Jülich-Kleve Succession Crises (1609–1614) (Studies in Central European History), Boston 1999; Manfred Groten et al. (edd.), Der Jülich-Klevische Erbstreit 1609. Seine Voraussetzungen und Folgen (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Vorträge 36/Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen N. F. 1), Düsseldorf 2011; Sigrid Kleinbongartz (ed.), Fürsten, Macht und Krieg. Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit (Schriftenreihe Stadtmuseum), Düsseldorf 2014. 43 Wilhelm Crecelius, Letzte Tage und Begräbnis des Erbherzogs Karl Friedrich von Jülich, Berg und Cleve in Rom, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 23 (1887), 166–177; Wilhelm Diedenhofen, Die Italienreise des Prinzen Karl Friedrich von Jülich-Kleve-Berg 1574/75, Kleve 2008. 44 Max Lossen, Die Verheiratung der Markgräfin Jacobe von Baden mit Johann Wilhelm von Jülich-Cleve-Berg (1581–1585), in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 31 (1895), 1– 77; Else Rümmler, Die Düsseldorfer Hochzeit im Jahre 1585, in: de Werd (ed.) 1985, 167– 180; Guido von Büren, „… wie sich bei sulchem mechtigen fursten wol gezimt“. Die „Fürstlich Jülichsche etc. Hochzeit“ von 1585 und die Festkultur der Renaissance, in: Stephan Hoppe/Alexander Markschies/Norbert Nussbaum (edd.), Städte, Höfe und Kulturtransfer. Studien zur Renaissance am Rhein (3. Sigurd Greven-Kolloquium zur Renaissanceforschung), Regensburg 2010, 285–320. 45 Preuss 2015, 24–26.

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darstellten und sie bei der Anbahnung und Umsetzung entsprechender Projekte eine politische Schlüsselrolle spielen konnten. Ein Beispiel hierfür ist die Heiratspolitik der Marie Eleonore von Jülich-Kleve-Berg, die als Herzogin von Preußen ihre fünf Töchter – die beiden Söhne waren im Säuglingsalter gestorben – strategisch verheiratete, um einerseits ihren Anspruch auf die Vereinigten Herzogtümer zu behaupten und andererseits die Nachfolge im Herzogtum Preußen sinnvoll zu gestalten, wobei sie sich schließlich für eine Verbindung mit den brandenburgischen Hohenzollern entschied.46 Die Beispiele der Anna und der Sibylle von Jülich-Kleve-Berg belegen zudem, dass auch die Bräute selbst nicht nur Objekte auf dem europäischen Heiratsmarkt, „nur verkaufte Töchter“47 waren, sondern sich selbst in dieser Angelegenheit zu Wort meldeten.

2.2

Informelle Teilhabe

Eine weitergehende politische Rolle entwickelten die Frauen häufig nach ihrer Heirat, zuweilen aber auch bereits am Hof ihres Vaters. Sie konnten in direkter Kommunikation mit ihren Vätern, Männern oder Söhnen sowie weiteren männlichen Verwandten und nicht zuletzt dem politischen Personal des Hofes an der territorialen Politik teilhaben. Zumindest ansatzweise greifbar ist dies etwa bei Maria von Jülich, die – wie bereits erwähnt – 1510 mit dem Jungherzog Johann III. von Kleve vermählt worden war, um 1521 eine Vereinigung der niederrheinischen Herzogtümer zu erzielen. Das Paar hielt sich auch nach 1521 vor allem in 46 Zur Heiratspolitik Marie Eleonores vgl. Scheller 1966, 129–177; Ullrich-Scheyda 2013, 48–51; sowie mit Blick auf die Rolle Marie Eleonores im Jülich-Klevischen Erbfolgestreit Rouven Pons, Die faktische Kraft des Möglichen. Die preußisch-kurpfälzischen Heiratsverhandlungen und das jülich-klevische Erbe, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 74 (2010), 153– 192; ders., Das gefürchtete Erbe. Die jülich-klevische Erbfolge und das Haus Brandenburg, in: Groten et al. (edd.) 2011, 137–162. Zu Anna von Preußen, die 1594 mit dem späteren Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg verheiratet wurde, vgl. Michael Kaiser, Anna von Preußen und der Kampf um das Jülicher Erbe, in: Frauensache 2015, S. 230–239. Den Lebensweg der Tochter Magdalena Sibylla, die 1607 mit dem späteren Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen verheiratet wurde, analysiert detailliert Ute Essegern, Fürstinnen am kursächsischen Hof. Lebenskonzepte und Lebensläufe zwischen Familie, Hof und Politik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hedwig von Dänemark, Sibylla Elisabeth von Württemberg und Magdalena Sibylla von Preußen (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 19), Leipzig 2007, 253–413. Vor der Verheiratung ihrer Töchter hatte sich Marie Eleonore schon um eine Ehe ihrer Schwester Sibylle mit einem protestantischen Fürsten bemüht, Maes 2016, 118f. 47 Jörg Rogge, Nur verkaufte Töchter? Überlegungen zu Aufgaben, Quellen, Methoden und Perspektiven einer Sozial- und Kulturgeschichte hochadeliger Frauen und Fürstinnen im deutschen Reich während des späten Mittelalters und am Beginn der Neuzeit, in: Cordula Nolte/Karl-Heinz Spiess/Ralf-Gunnar Werlich (edd.), Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter (Residenzenforschung 14), Stuttgart 2002, 235–276.

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Marias Stammlanden auf und repräsentierte hier sowohl das alte als auch das neue Fürstengeschlecht, was als Akt symbolischer Kommunikation durchaus zur Akzeptanz des Dynastiewechsels in Jülich-Berg beigetragen haben mag.48 Im April 1537 wird von einem Zeitgenossen berichtet, dass Johanns Gattin Maria eine dominante Frau sei, die ihren Ehemann beherrsche. Johann selbst dagegen sei von eher geringem Verstand.49 Hierzu passt eine Charakterisierung des Herrscherpaares durch den päpstlichen Nuntius Pietro Paolo Vergerio vom 15. Oktober 1535: Johann wird von ihm als guter Mensch, aber doch einfältiger Herrscher bezeichnet. Seine Frau hingegen sei sehr viel energischer als er und habe den Ruf, sich um alle Angelegenheiten zu kümmern.50 Folgerichtig griff sie in die Finanzverwaltung ein51 und soll ihren Sohn Wilhelm V. zum militärischen Vorgehen gegen Kaiser Karl V. veranlasst haben, um – allerdings vergeblich – das 48 Zu den Aufenthaltsorten im Einzelnen vgl. Clemens von Looz-Corswarem, Wo residierte der Fürst? Überlegungen zu den Aufenthaltsorten der Herzöge von Jülich-Berg bzw. JülichKleve-Berg und ihres Hofes im 15. und 16. Jahrhundert, in: Klaus Flink/Wilhelm Janssen (edd.), Territorium und Residenz am Niederrhein (Klever Archiv 14), Kleve 1993, 189–209, hier 197f. 49 So der Bericht Cornelius Ettius’, der den Nuntius Petrus Vorstius an den klevischen Hof begleitete: Ipse autem dux non habet praestantiam corporis nec faciei, nam parum habe barbae, faciem tamen habet hilarem et rubicundam, biretum habet in capite magnum ex veluto obductum circumquaque albis plumis et medaliis aureis; itaque videbatur splendibus in vestibus, prae se ferens parum cerebri […] Uxor ejus est mulier crassa, quae assidebat viro a sinistris in mensa et descendens duxit secum XVI puellas sed paucas pulchras, uti nec ipsa est pulchra: dicitur gubernare maritum (M. de Ram, Documents relatifs à la nonciature de l’évêque d’Acqui, Pierre Vorstius, d’Anvers, en Allemagne et dans les Pays-Bas, en 1536 et 1537, tirés d’un manuscrit de la Bibliothèque Vaticane, et suivis d’un extrait du journal de Corneille Ettenius sur le séjour du nonce en Allemagne, in: Compte rendu des séances de la commission royale d’histoire ou Recueil de ses bulletins, 3. Serie, Bd. 6 (1864), 237–422, hier 420); vgl. Erwin Fuchs, Wilhelm V. Glück und Unglück des Herzogtums Jülich-Kleve-Berg (Veröffentlichungen des Jülicher Geschichtsvereins 14), Jülich 1993, 30; außerdem Elisabeth M. Kloosterhuis, Erasmusjünger als politische Reformer. Humanismusideal und Herrschaftspraxis am Niederrhein im 16. Jahrhundert (Rheinisches Archiv 148), Köln/Weimar/ Wien 2006, 379. 50 Sua Exzellentia è molto bouna persona et pare a me di que buoni duchi Tedeschi et semplici che solevano già essere. la duchessa ha molto più vigor d’animo et fama di agere essa ogni cosa, come quella che ha etiamdio portato in dote il ducato Juliacense et Montense, che il marito n’havea solo il Clivense (Nuntiaturberichte aus Deutschland nebst ergänzenden Actenstücken, ed. Walter Friedensburg, Abt. 1: 1533–1559, Bd. 1: Nuntiaturen des Vergerio 1533– 1536, Gotha 1892, 525f., Nr. 209, das Zitat 525); vgl. Fuchs 1993, 30. 51 Fuchs 1993, 28. Auch eine von Marias Vorfahrinnen, Herzogin Sophia von Jülich, befasste sich mit der Finanzverwaltung, beschränkte sich dabei allerdings auf die Finanzen ihrer Hofhaltung, die von der des Herzogs separiert war. Sie war zudem seit spätestens 1455 Regentin für ihren geisteskranken Mann, Herzog Gerhard, und für ihren minderjährigen Sohn Wilhelm; Brigitte Kasten, Residenzen und Hofhaltung der Herzöge von Jülich im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, in: Wilhelm G. Busse (ed.), Burg und Schloß als Lebensorte in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora. Düsseldorfer Studien zu Mittelalter und Renaissance 26), Düsseldorf 1995, 35–82, hier 37, 52–54.

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Herzogtum Geldern für die Vereinigten Herzogtümer zu sichern.52 Zudem strengte sie im Zuge des Geldrischen Erbfolgekrieges drei Prozesse vor dem Reichskammergericht wegen Landfriedensbruchs in ihren Wittumsgütern an.53 Eine zweite, weitaus besser dokumentierte Ebene der informellen Teilhabe war die briefliche Kommunikation. So äußerte sich etwa die älteste Tochter Wilhelms V., Marie Eleonore, in ihrer Korrespondenz sehr dezidiert zu Fragen der zeitgenössischen Politik. In einem Brief vom August 1572 an die Gräfin Maria von dem Bergh bekannte sie sich sogar als Parteigängerin der Aufständischen in den Niederlanden und wünschte ihnen den Sieg gegen die spanischen Truppen.54 Ihre Briefpartnerin, die ihr zuvor eine Nachricht über die Situation in den Niederlanden hatte zukommen lassen, war eine Schwester Wilhelms von Oranien, des niederländischen Statthalters und Führers der Aufstandsbewegung, und Ehefrau von dessen Vertrautem Wilhelm von den Bergh. Marie Eleonore konnte also davon ausgehen, dass ihre brisanten Äußerungen nicht nur von der Adressatin des Briefes gelesen wurden, sondern als Aussage politischen Gewichts auch an Wilhelm von Oranien und sein Umfeld gelangten. Dazu kam es allerdings nicht, denn der Brief wurde von der spanischen Seite abgefangen und gelangte so an den mit der Niederschlagung des niederländischen Aufstandes befassten Herzog von Alba. Dieser forderte daraufhin Ende Dezember 1573 als Genugtuung für seinen Herrn, König Philipp II. von Spanien, dass Wilhelm V. seine Tochter Marie Eleonore von den jüngeren Schwestern absondere, damit solicher Gift nit auch an sy kläbte. Außerdem sollte er die Personen, die umb die junge Furstinnen sein und daher vermuthlich sollicher Gift geflossen, vom Hof entfernen und sie mit katholischem Personal ersetzen, damit das junge Blut, ob es wol etzlichermassen mit inficirt, mochte widerumb uff den rechten Weg gebracht werden.55 Von klevischer Seite wurde in der Folge natürlich beteuert, dass der Herzog mit dem Schreiben seiner Tochter nichts zu tun habe. Ohnehin sei sie kürzlich mit dem Herzog von Preußen verlobt worden und würde dementsprechend bald außer Landes sein.56 Marie Eleonore sei eindringlich ermahnt wor52 Fuchs 1993, 28f., mit Verweis auf entsprechende Aussagen Kaiser Karls V. 53 Reichskammergericht, ed. Hugo Altmann et al. (Das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und seine Bestände 9), 10 Bde., Siegburg 1988–2003, hier Bd. 3, 514, Nr. 2109, ebd., 516, Nr. 2111; ebd., Bd. 9, 825, Nr. 6517. Diesen Hinweis verdanke ich Jessica Rosenthal M. A. (Bonn). 54 Die Gegenreformation in Westfalen und am Niederrhein. Actenstücke und Erläuterungen, ed. Ludwig Keller (Publicationen aus den Königl. Preußischen Staatsarchiven 9, 33, 62), 3 Bde., Leipzig 1881–1895, hier Bd. 1, 181f., Nr. 128; vgl. zu dem Brief und den daraus resultierenden Verwicklungen auch ebd., 49–51. 55 Keller 1881–1895, Bd. 1, 187f., Nr. 141, hier 187. 56 Die in der Forschung seit Keller 1881–1895, Bd. 2, 15, häufiger vertretene Auffassung, die Verheiratung sei auf Drängen Albas erfolgt, ist aufgrund der Chronologie der Ereignisse nicht plausibel, denn die Heiratsverhandlungen und der Abschluss eines Heiratsvertrags (14. 12. 1572) erfolgten bereits vor den zitierten Einlassungen Albas. Dem Herzog wurde allerdings

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den, sich solches und dergleichens Schreibens, also Briefen politischen Inhalts, gänzlich zu enthalten. Konfrontiert mit den Vorwürfen, hätte sie sich gegenüber den Räten bestürzt gezeigt, denn sie habe weder den König noch den Herzog von Alba gemeint, sondern allein das Kriegsfolck, das sich zweifellos ohne Befehl so unmenschlich gegen Weib und Kind gehalten hätte.57 Ob sich aber etwa die im Brief ausgedrückte Hoffnung, der almachtig gott werde deß Antechrists reich ainmal gantz zerstören und sein gotlich Wordt durch all bekhant machen, sowie die Aufforderung, wir alle mögen Gott bitten, daß die armen betrubte Christen auß der Tyrannei erloset mogen werden und die Niderlande zu geburlicher Freiheit wiederum gebracht mogen werden, tatsächlich nur auf die marodierende Soldateska und nicht auf die spanischen Regenten beziehen, scheint mir äußerst fraglich.58 Der Brief sei jedenfalls nicht, so die Argumentation der Räte, ex ulla malitia sed per virginalem incogitantiam, nicht aus Boshaftigkeit, sondern aufgrund jungfräulicher Unbedachtheit geschrieben worden.59 Der Herzog von Alba gab sich mit diesen Entschuldigungen zufrieden und verzichtete auf weitere Schritte.60 Auch die Forschung folgt bis heute der Argumentation der Räte und interpretiert Marie Eleonores Schreiben als unbedachten Fehltritt einer jungen Frau.61 Mit Blick auf die politische Bedeutung, die weiblichen Netzwerken und der Korrespondenz von Fürstinnen in der jüngeren Forschung zugesprochen wird, fragt sich allerdings, ob man den Vorgang nicht auch gänzlich anders interpretieren kann. Aufgrund der politischen und konfessionellen Komplexität des niederländischen Krieges und der Gefahr, die von diesem Konflikt für die Vereinigten Herzogtümer ausging, erscheint es doch eher unwahrscheinlich, dass Marie Eleonore mit einer so unmittelbar involvierten Frau wie Maria von dem Bergh korrespondieren konnte, ohne dass ihr Vater bzw. seine Räte hiervon Kenntnis hatten. Es würde auch dem Korrespondenzverhalten frühneuzeitlicher Fürstinnen (und Fürsten) widersprechen, das in den seltensten Fällen auf absolute Vertraulichkeit bedacht war. Briefe waren vielmehr ein für die Öffent-

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versichert, dass Marie Eleonore bereits im kommenden Sommer zur Hochzeit nach Preußen reisen sollte, ebd., Bd. 1, 189f., Nr. 143, hier 189; die Hochzeit erfolgte dann allerdings erst am 14. 10. 1573. Ebd., Bd. 1, 189f., Nr. 143, hier 189. Ebd., Bd. 1, 181f., Nr. 28, hier 181. Ebd., Bd. 1, 190f., Nr. 146, hier 191. Ebd., Bd. 1, 191f., Nr. 148. So bereits Willem A. van Spaen, Brief van Maria Eleonora, Prinsesse van Cleve, aan Maria Gravinne van den Berg, geboren Gravinne van Nassau, van den 4. Augustus 1572, in: ders., Proeven van Historie en Oudheidkunde, Kleve 1808, 96–116, hier 108–111; sowie in jüngerer Zeit Scheller 1966, 76; Ullrich-Scheyda 2013, 45; Susanne Becker, Zwischen Duldung und Dialog. Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg als Kirchenpolitiker (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 184), Bonn 2014, 337.

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lichkeit des Hofes bestimmtes Medium. Sie wurden vorgelesen und gegebenenfalls auch weitergegeben und so interessierten Dritten bekannt gemacht.62 Wenn man nun hypothetisch davon ausgeht, dass Wilhelm V. und seine Räte den Inhalt von Marie Eleonores Brief kannten und seine Versendung billigten, fragt sich, welches politische Kalkül dahinter gestanden haben könnte. Zu vermuten wäre, dass es sich bei dem Brief um ein bewusstes Signal an die aufständischen Niederlande handelte, um Schaden von den eigenen Territorien abzuwenden. Denn Wilhelm von Oranien agierte in diesen Jahren vor allem von Nassau-Dillenburg, dem Stammland seiner Familie, aus und rekrutierte sein Heer nicht zuletzt am Niederrhein, so dass die herzoglichen Lande zwangsläufig von niederländischen Truppendurchzügen mit allen dazugehörigen Konsequenzen betroffen waren.63 Eine direkte Briefkommunikation, wie sie zwischen Wilhelm V. und Wilhelm von Oranien von 1552 bis 1568, also bis in die Anfangszeit des niederländischen Aufstands und der ersten bewaffneten Auseinandersetzungen, gepflegt worden war, bestand nach Oktober 1568 nicht mehr.64 Auch persönliche Kontakte zwischen den beiden hat es danach nicht mehr gegeben.65 Vor dem Hintergrund der massiven Verfolgung der Aufständischen durch den Herzog von Alba wären solche Kontakte wohl kaum opportun gewesen, zumal Wilhelm sich in diesem Konflikt für neutral erklärt hatte, um seine Lande vor kriegerischen Einflüssen zu schützen.66 Die briefliche Korrespondenz der ältesten Tochter Marie Eleonore mit Maria von dem Bergh könnte eine Möglichkeit gewesen sein, den Kontakt zu

62 Bastian 2013, 80–83; Vera Fasshauer, Ernestinische Fürstinnenkorrespondenzen der Frühen Neuzeit. Protagonistinnen, Anlässe, Themen, Stil, in: Rosemarie Lühr et al. (edd.), Genderspezifik in thüringischen Fürstinnenkorrespondenzen der Frühen Neuzeit. Korpusphilologische Studien (Philologia. Sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse 233), Hamburg 2018, 25–86, hier 66–69. 63 Stefan Ehrenpreis, Das Herzogtum Berg im 16. Jahrhundert, in: Stefan Gorissen/Horst Sassin/Kurt Wesoly (edd.), Geschichte des Bergischen Landes, Bd. 1 (Bergische Forschungen. Quellen und Forschungen zur bergischen Geschichte, Kunst und Literatur 31), Bielefeld 2014, 213–357, hier 303f.; vgl. übergreifend auch Andreas Rutz (ed.), Krieg und Kriegserfahrung im Westen des Reiches 1568–1714 (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 20), Göttingen 2016. 64 Vgl. die in der Datenbank ‚Briefwisseling van Willem van Oranje‘ des Huygens Instituut voor Nederlandse Geschiedenis, Amsterdam, http://resources.huygens.knaw.nl/wvo (21. 08. 2018), nachgewiesenen Briefe. Die Korrespondenz wurde erst Mitte der 1570er Jahre, wenn auch nur noch mit vereinzelten Briefen, wieder aufgenommen. Vgl. zum Briefwechsel die Hinweise bei Ehrenpreis 2014, 301–303, der allerdings den auffälligen Bruch in der Kommunikation nach 1568 nicht kommentiert. Die enge Beziehung zwischen den beiden Fürsten zeigt sich auch darin, dass sie gegenseitig als Taufpaten für ihre Kinder fungierten, ebd., 301f.; Maes 2016, 42. 65 Ehrenpreis 2014, 302. 66 Ebd., 303f.; dort auch zu Spannungen zwischen den Vereinigten Herzogtümern und Alba wegen der Aufnahme von Religionsflüchtlingen und der taktierenden Haltung der Düsseldorfer Regierung.

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Wilhelm von Oranien nicht abbrechen zu lassen.67 Und eine weitere Dimension könnte hier eine Rolle gespielt haben: Wilhelm hatte sich nach seiner Niederlage im Geldrischen Erbfolgekrieg 1543 zwar zur Bewahrung der Katholizität verpflichten müssen, verfolgte aber gleichwohl seinen um konfessionellen Ausgleich bemühten Kurs weiter.68 Dazu gehörte nicht zuletzt, dass er enge Kontakte zu den protestantischen Reichsständen pflegte und seine evangelisch erzogenen Töchter, wie bereits erwähnt, in den protestantischen Reichsadel einheiraten ließ. Dass Marie Eleonore nur wenige Monate vor ihrer Verlobung mit Herzog Albrecht Friedrich von Preußen in dem hier diskutierten Brief ein dezidiertes Bekenntnis gegen die katholischen Spanier ablegte, könnte auch im Zusammenhang mit dieser Heiratspolitik und den entsprechenden Verhandlungen gestanden haben. Wie auch immer der Brief Marie Eleonores im Einzelnen zu interpretieren ist, lässt das Beispiel erahnen, welche Bedeutung den Fürstinnenkorrespondenzen in der vormodernen Politik zukam. Bei den Briefen und auch der mündlichen Kommunikation dieser Frauen handelte es sich nicht lediglich um gelegentliche Versuche, sich in eine männliche Domäne einzubringen. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass diese Kommunikation einen selbstverständlichen Teil der politischen resp. diplomatischen Aktivitäten eines Fürstenhauses darstellte, der nicht nur von den Frauen eingefordert, sondern auch von den männlichen Akteuren gewünscht und bewusst eingesetzt wurde. Über die Kommunikationsnetzwerke der Frauen ließen sich nicht nur Informationen gewinnen, sondern auch politische Aktivitäten abseits der offiziellen diplomatischen Kanäle entfalten. Macht man sich bewusst, dass Informalität ein zentraler Bestandteil frühneuzeitlicher Politik war, erscheint die Rolle der weiblichen Netzwerke umso bedeutsamer.69 Dabei sollte freilich nicht davon ausgegangen werden, dass die betreffenden Frauen lediglich Marionetten im männlichen Politikbetrieb waren. Vielmehr verfolgten sie auch eigene politische Agenden bzw. handelten in Abstimmung 67 Um diese Hypothese zu belegen, wäre es notwendig, weitere Briefe zwischen den beiden Fürstinnen ausfindig zu machen und zu analysieren. 68 Zum konfessionspolitischen Kurs der Vereinigten Herzogtümer nach 1543 vgl. in jüngerer Zeit Becker 2014; Ehrenpreis 2014, 296–301, 315–321; Susanne Becker, Theologie am jülich-klevischen Hof nach dem Epochenjahr 1555. Die hohe Bedeutung der Confessio Augustana, in: Büren/Fuchs/Mölich (edd.) 2018, 251–262; Antje Flüchter, Religionspolitik in Jülich-Kleve-Berg unter Herzog Wilhelm V. Tradition und Weiterentwicklung der via media, in: ebd., 263–285; sowie insb. den anregenden Beitrag von Ralf-Peter Fuchs, Bekenntnis und Ambiguität. Überlegungen zur religiösen Positionierung am Hof und in den Territorien Herzog Wilhelms V. seit den 1550er-Jahren, in: ebd., 287–305. 69 Vgl. in diesem Zusammenhang die Überlegungen von Dorothea Nolde, Was ist Diplomatie und wenn ja, wie viele? Herausforderungen und Perspektiven einer Geschlechtergeschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie, in: Historische Anthropologie 21 (2013), 179–198.

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oder Auseinandersetzung mit den männlichen Akteuren durchaus selbstständig. Ein Beispiel hierfür stellt Sibylla von Kleve, die Schwester Wilhelms V., dar, die 1526 mit Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen vermählt worden war. Nach der Schlacht bei Mühlberg am 24. April 1547, in der Kaiser Karl V. die Truppen des Schmalkaldischen Bundes besiegte und damit das Ende dieses protestantischen Verteidigungsbündnisses herbeiführte, wurde der Kurfürst als einer der Anführer des Bundes gefangengesetzt und zum Tode verurteilt. Mit der Wittenberger Kapitulation vom 19. Mai desselben Jahres musste er nicht nur die sächsische Kurwürde an seinen Cousin Herzog Moritz von Sachsen abtreten, sondern auch größere Teile der ernestinischen Erblande. Er wurde daraufhin begnadigt, blieb aber Gefangener des Kaisers.70 Sibylle entwickelte unmittelbar im Anschluss an die Niederlage in Mühlberg eine rege diplomatische Tätigkeit, um die Freilassung ihres Mannes zu erwirken.71 Diese Aktivitäten lassen sich anhand der Briefe nachvollziehen, die sie mit ihrem Mann, aber auch anderen Briefpartnern austauschte.72 Der wichtigste 70 Zur Schlacht und ihren Auswirkungen für Sachsen vgl. die Gesamtdarstellung von Wieland Held, 1547. Die Schlacht bei Mühlberg/Elbe. Entscheidung auf dem Wege zum albertinischen Kurfürstentum Sachsen, Beucha 1997. 71 Die ältere Forschung hat sich zumindest ansatzweise mit Sibylles politischer Rolle auseinandergesetzt, im Mittelpunkt stehen allerdings, trotz teilweise anders lautender Titel, die männlichen Protagonisten; vgl. insb. Carl A. H. Burkhardt, Die Gefangenschaft Johann Friedrichs des Grossmüthigen und das Schloß zur „Fröhlichen Wiederkunft“. Meist nach archivalischen Quellen, Weimar 1863, 51–58; Karl W. Bouterwek, Sibylla, Kurfürstin von Sachsen, geborene Herzogin von Jülich, Cleve, Berg etc., in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 7 (1871), 105–164; außerdem Georg Mentz, Johann Friedrich der Großmütige 1503–1554 (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens 1), Bd. 3, Jena 1908, 60, Anm. 5, 112, 285f.; vgl. jüngst auch die Hinweise bei Fasshauer 2018, 28–30. In dem wichtigen Tagungsband von Volker Leppin/Georg Schmidt/Sabine Wefers (edd.), Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 204), Gütersloh 2006, kommt Sibylle bis auf zwei Erwähnungen nicht vor. 72 Vgl. zur Überlieferung Fasshauer 2018, 30f. Der Briefwechsel mit Johann Friedrich I. sowie ausgewählte weitere Briefe wurden im Rahmen des DFG-Projekts ‚Frühneuzeitliche Fürstinnenkorrespondenz im mitteldeutschen Raum‘ transkribiert und online bereitgestellt: Fuerstinnenkorrespondenz (Version 1.1) [03. 06. 2017], ed. Rosemarie Lühr et al., http://hdl. handle.net/11022/0000-0002-5568-A (21. 08. 2018); vgl. auch Lühr et al. (edd.) 2018 mit einer umfassenden sprachhistorischen Auswertung. Hinzuweisen ist außerdem auf die ältere Edition der Sibylle-Briefe: Carl A. H. Burkhardt, Briefe der Herzogin Sybilla von JülichCleve-Berg an ihren Gemahl Johann Friedrich den Großmüthigen, Churfürsten von Sachsen, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 5 (1868), 1–184; Hinweise und (Teil-)Transkriptionen weiterer Briefe Sibylles finden sich bei Johannes Voigt, Die Kurfürstin Sibylle von Sachsen im Briefwechsel mit Herzog Albrecht von Preußen, in: Neue Jahrbücher der Geschichte und Politik 2 (1844), 193–217. Sie informieren über den Zustand des Gefangenen und der Briefschreiberin; konkrete politische Aktivitäten oder Versuche Sibylles, ihren Schwager in die Bemühungen zur Freilassung Johann Friedrichs einzubinden, lassen sich daraus aber nicht entnehmen, obwohl Albrecht diesen zuvor durchaus mit namhaften Summen im Krieg unterstützt hatte; vgl. hierzu ebd., 204.

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Ansprechpartner für Sibylle war in diesem Zusammenhang ihr Bruder Wilhelm V., den sie immer wieder bat, sich für ihren Mann einzusetzen. Wilhelm war zwar dem Schmalkaldischen Bund trotz eines persönlichen Treffens mit Johann Friedrich in Paderborn 1540 nicht beigetreten, hatte aber von seinem Schwager in der Auseinandersetzung mit dem Kaiser um die Geldrische Erbfolge militärische Unterstützung erhalten.73 Bereits Ende 1546, als Johann Friedrich mit seinen Truppen in Süddeutschland kämpfte und sich Herzog Moritz von Sachsen der kurfürstlichen Lande bemächtigt hatte, wandte sich Sibylle an ihren Bruder mit der Bitte, beim Kaiser zu vermitteln und den Rückzug des Herzogs zu veranlassen. Dieser schickte daraufhin tatsächlich seinen Rat Dr. Karl Harst zum Kaiser.74 Die Gesandtschaft verlief zwar ergebnislos, der klevische Herzog und seine Räte blieben aber in der Folge in die diplomatischen Bemühungen um die Schlichtung des Konflikts eingebunden. Insbesondere nach der Schlacht von Mühlberg spielten sie für Sibylle, ihre Söhne und ihren Mann eine zentrale Rolle als Vermittler gegenüber dem Kaiser.75 Sibylle wandte sich aber auch mit Schreiben direkt an Karl V.76 Eine persönliche Begegnung zwischen der Fürstin und dem Kaiser erfolgte am 24. Mai 1547. Sibylle zog in das kaiserliche Lager vor Wittenberg und kniete weinend vor ihm nieder. Am folgenden Tag wiederholte sich das Unterwerfungsritual beim Einzug des Kaisers in das Wittenberger Schloss.77 Der gewesene Kurfürst blieb gleichwohl in kaiserlicher Gefangenschaft, bis sich 1552 die politischen Konstellationen im Reich zugunsten der Protestanten geändert hatten. Ausschlaggebend für die andauernde Haft war letztlich, dass weder Johann Friedrich noch seine Söhne und seine Frau das 1548 erlassene kaiserliche Interim anerkannten, mit dem die konfessionellen Verhältnisse im Reich bis zu einem allgemeinen Konzil geordnet werden sollten.78 Den Jungherzögen und auch Sibylle wurde am 30. Juni 1548 vom Kaiser die Einführung des Interims befohlen. Nach Abstimmung mit den herzoglichen Theologen und den Landständen lehnten sie das Interim in getrennten Schreiben ab.79 Gegenüber 73 74 75 76 77

Bouterwek 1871, 129. Ebd., 134. Ebd., 140–155; Mentz 1908, passim; Fasshauer 2018, 31. Vgl. die Hinweise bei Bouterwek 1871, 142, 152f. Ebd., 146f.; vgl. auch Held 1997, 109, 157. Zur Bedeutung solcher Formen symbolischer Kommunikation für die vormoderne politische Praxis vgl. nur Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 489–527; dies./Tim Neu/ Christina Brauner (edd.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Köln/Weimar/Wien 2013. 78 Vgl. allg. Luise Schorn-Schütte (ed.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 203), Gütersloh 2005. 79 Mentz 1908, 285f.; Ernst Koch, Theologische Aspekte der ernestinischen Reaktion auf das Interim, in: Schorn-Schütte (ed.) 2005, 312–330, hier 314.

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dem Kaiser rechtfertigte Sibylle die Ablehnung mit ihrem Gewissen und erinnerte ihn „an die ihr vor Wittenberg gemachten Versprechungen wegen ihres gefangenen Herrn […], denselben loszugeben“, rekurrierte also noch einmal auf ihre Unterwerfung und bat erneut um Gnade.80 Eine diesbezügliche Rücksprache mit Johann Friedrich erfolgte aus Zeitgründen nicht, so dass sich hier, wie schon bei den diplomatischen Aktivitäten zuvor, deutlich zeigt, dass die Fürstin auch und gerade in der Zeit der Gefangenschaft ihres Mannes politisch agierte. Ganz offensichtlich wusste sie sehr genau, welche Mittel – Korrespondenzen, Supplikationen, symbolische Akte – ihr hierfür zur Verfügung standen und wie sie sie jeweils einzusetzen hatte.

2.3

Eigenständige Herrschaft

Mit den diplomatischen Bemühungen Sibylles von Kleve nach der Schlacht bei Mühlberg ist bereits ein Beispiel für die Übernahme von Regierungsverantwortung durch eine Fürstin gegeben, um die es nun abschließend gehen soll. Soweit ich sehe, hat keine Frau aus dem klevischen Herzogshaus die Position einer Reichsäbtissin vertreten, so dass diese Form der eigenständigen Herrschaft hier nicht weiter zu verfolgen ist. Gleiches gilt für die Herrschaft kraft eigenen Rechts als Erbin eines Fürstentums, die im Reich – wie schon erwähnt – lediglich von Maria Theresia von Österreich erlangt wurde. Für den dritten Fall eigenständiger Herrschaft von Frauen, die Regentschaft, lassen sich jedoch unter den klevischen Herzoginnen Beispiele finden: So regierte Katharina von Kleve (1417–1479), die 1430 mit Arnold von Egmond verheiratet und so zur Herzogin von Geldern geworden war, dieses Herzogtum von Ende 1450 bis Anfang 1452 während ihr Mann eine Pilgerreise nach Rom und Jerusalem unternahm. Sie agierte dabei, mit Unterstützung eines Regentschaftsrates, durchaus eigenständig und verfolgte in vielerlei Hinsicht eine andere Politik als ihr abwesender Mann es getan hatte, trat dann aber nach der Rückkehr Arnolds wieder in das zweite Glied zurück. Ihre politischen Ambitionen versuchte sie über ihren Sohn Adolf von Egmond zu erreichen, den sie bei der Rebellion gegen seinen Vater unterstützte. Adolf regierte in Geldern von 1465 bis 1472 und erneut im Jahre 1477.81 Die Tochter 80 Vgl. die Zusammenfassung des Schreibens in: Beiträge zur Reichsgeschichte 1546–1551, ed. August von Druffel (Briefe und Akten zur Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Bayerns Fürstenhaus 1), München 1873, 136, Nr. 187. 81 Bert Thissen, Catherine of Cleves (1417–1476), Duchess of Guelders and Countess of Zutphen. A Biographical Sketch, in: Rob Dückers/Ruud Priem (edd.), The Hours of Catherine of Cleves. Devotion, Demons and Daily Life in the Fifteenth Century, Antwerpen 2009, 101– 125; eine kürzere, niederländische Fassung des Aufsatzes in: Ruud Priem (ed.), Op reis en aan tafel met Katherina van Kleef (1417–1476), Antwerpen 2009, 8–37; vgl. außerdem Gerard J. M.

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Katharinas, Katharina von Egmond, regierte das Herzogtum nach dem Tod ihres Bruders Adolf von 1477 bis 1479 für dessen noch minderjährigen Sohn Karl, nun freilich in Konkurrenz zu dem Habsburger Maximilian, dem späteren Kaiser, der durch seine Heirat mit Maria von Burgund auch Ansprüche auf Geldern erworben hatte.82 Für die Vereinigten Herzogtümer selbst sind zwei Regentinnen zu nennen, die, wenn auch nicht die alleinige Regentschaft, so doch erheblichen Anteil an der stellvertretenden Regierung für den letzten Herzog von JülichKleve-Berg hatten: Jakobe von Baden (1558–1597) und Antoinette von Lothringen (1568–1610).83 Jakobe, die ich hier als Beispiel heranziehen möchte, war seit 1585 mit Johann Wilhelm, dem letzten Herzog von Jülich-Kleve-Berg, verheiratet.84 Da dessen Vater Wilhelm V. aufgrund zahlreicher Schlaganfälle in seinen letzten Regierungsjahren nur bedingt regierungsfähig war, wurden die Vereinigten Herzogtümer bis zu seinem Tod 1592 de facto von den katholischen Räten des Altherzogs regiert. Der designierte Nachfolger Johann Wilhelm erkrankte bereits in den Nijsten, In the Shadow of Burgundy. The Court of Guelders in the Late Middle Ages (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series 58), Cambridge 2004, passim; Böck 2013, 454–457, 469, 480–496. 82 Claudia Rotthoff-Kraus, Geldern und Habsburg zur Zeit Maximilians I. als Herzog von Burgund (1477–1492), in: Johannes Stinner/Karl-Heinz Tekath (edd.), Gelre – Geldern – Gelderland. Geschichte und Kultur des Herzogtums Geldern (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Geldern und Umgegend 100), Geldern 2001, 139–144; Böck 2013, 558– 574. 83 Eingehendere Forschungen zu Antoinettes politischem Wirken fehlen, wenngleich sie sich schon unmittelbar nach ihrer Hochzeit bemühte, gar starck, die regirung principaliter an sich zue bringen, zit. nach Olaf Richter, Die jülich-bergischen Räte und der Erbfolgestreit, in: Groten et al. (edd.) 2011, 111–136, hier 122; vgl. auch die wichtigen Hinweise auf die diesbezüglichen Streitigkeiten mit den Räten bei Dems., Niederrheinische Lebenswelten in der Frühen Neuzeit. Petrus Simonius Ritz (1562–1622) und seine Familie zwischen Bürgertum und Adel (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein N. F. 3), Köln/ Weimar/Wien 2015, 543, 546–548; sowie die bei Keller 1881–1895, Bd. 2, 64–68, versammelten Aktenstücke; zur Heirat mit Johann Wilhelm vgl. Preuss 2015, 24–26. 84 Felix Stieve, Zur Geschichte der Herzogin Jakobe von Jülich, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 13 (1877), 1–197; Karl Unkel, Jakobe, Herzogin von Jülich und der Jülicher Regimentsstreit. Nach römischen Archivalien, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 54 (1892), 96–174; Burkhard Roberg, Jakobe von Baden (1558–1597), in: Rheinische Lebensbilder 7 (1977), 43–62; Wilhelm Muschka, Opfergang einer Frau. Lebensbild der Herzogin Jakobe von Jülich-Kleve-Berg, geborene Markgräfin von Baden, 2. Aufl., Baden-Baden 1989; Monica Kurzel-Runtscheiner, Glanzvolles Elend. Die Inventare der Herzogin Jacobe von Jülich-Kleve-Berg (1558–1597) und die Bedeutung von Luxusgütern für die höfische Frau des 16. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 1993; sowie als knappe Überblicke Katharina Richter, Jakobe von Baden, Herzogin von Jülich-Kleve-Berg (1558–1597) [08. 03. 2013], in: Portal Rheinische Geschichte, ed. Landschaftsverband Rheinland (LVR), http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/J/Seiten/Jakobevon Baden.aspx (21. 08. 2018); Ehrenpreis 2014, 332f.; vgl. außerdem die in Anm. 44 genannte Literatur zur Heirat Jakobes mit Johann Wilhelm.

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späten 1580er Jahren psychisch, was die Frage der Regentschaft umso dringlicher machte.85 Jakobe hatte sich schon zu Lebzeiten Wilhelms V. um eine Regierungsbeteiligung bemüht und versucht, mithilfe der protestantischen Landstände die Regentschaft zu erlangen. Nach dem Tod Wilhelms verstärkte sie ihre Bemühungen und erreichte zumindest, dass die von den Räten entworfene Regimentsordnung zu ihren Gunsten abgeändert wurde.86 Zwar sollten die Räte die Regierung führen, die Herzogin war aber bei allen Entscheidungen hinzuzuziehen und sollte diese billigen. Die damit einhergehenden Möglichkeiten hat sie in der Folge auch tatsächlich genutzt. Sie überschritt aber wohl häufiger die ihr de iure zukommenden Kompetenzen, etwa durch die eigenmächtige Einberufung eines Landtags im September 1593,87 und versuchte durch wechselnde Allianzen, die innerklevischen Parteiungen und Streitigkeiten für sich zu nutzen. Nach einiger Zeit war sie im Lande selbst, aber auch auf der Bühne des Reiches mehr oder weniger isoliert. 1595 erklärte der Landtag ihre Absetzung von der Regierung und ließ sie verhaften. Der Kaiser suspendierte die Regimentsordnung und übertrug den Räten wiederum die alleinige Regierungsführung, nun allerdings unter Aufsicht seiner Kommissare. Zugleich erhoben Jakobes Schwägerin Sibylle und die herzoglichen Räte in einer detaillierten Beschwerdeschrift zahlreiche Vorwürfe gegen die Herzogin vor dem Kaiser. Die articuli denunciatoris betrafen unter anderem Verschwendungssucht, ‚Leichtfertigkeit‘ – also vorehelichen Geschlechtsverkehr –, Zauberei, Ehebruch sowie Anstiftung zum Mord.88 Die Anklagepunkte bezogen sich ganz offensichtlich nicht auf Jakobes herrschaftliches Agieren, sondern betrafen vielmehr vor allem ihre persönliche Lebensführung und ihr Geschlecht. Insbesondere ‚Leichtfertigkeit‘, Zauberei und Ehebruch wurden in der Frühen Neuzeit als typisch weibliche Vergehen angesehen; Frauen waren daher in diesbezüglichen Prozessen überproportional häufig als Angeklagte vertreten.89 Die Gegner Jakobes nutzten also sehr bewusst stereotype 85 H. C. Erik Midelfort, Mad Princes of Renaissance Germany (Studies in Early Modern German History), Charlottesville/London 1994, 98–124; Achim Landwehr, Der kranke Herzog. Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg und seine „melancholische Schwachheit“, in: Kleinbongartz (ed.) 2014, 32–41. 86 Karl W. Bouterwek, Die Regiments-Ordnung vom 11. December 1592, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 2 (1865), 212–243; vgl. hierzu auch: Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins, ed. Theodor J. Lacomblet, Bd. 4, Düsseldorf 1858, 738–741, Nr. 591; sowie Muschka 1989, 286–288, 302–305. 87 Muschka 1989, 318. 88 Vgl. ausführlich zum Prozess Eva Ortlieb, Eine Fürstin verteidigt sich vor dem Kaiser. Die Anzeige wegen Ehebruchs gegen Jakobe Herzogin von Jülich-Kleve-Berg, in: Siegrid Westphal (ed.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln/ Weimar/Wien 2005, 183–217. 89 Vgl. nur Isabel V. Hull, Sexualstrafrecht und geschlechtsspezifische Normen in den deutschen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ute Gerhard (ed.), Frauen in der Geschichte

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Anschuldigungen, um Jakobe zu verunglimpfen und höchstrichterlich aus dem Weg zu schaffen. Zu einer strafrechtlichen Verfolgung oder gar Verurteilung Jakobes kam es allerdings nicht. Seitens des Kaisers wurde die Sache dilatorisch behandelt, um die ohnehin schwierige Situation am Niederrhein nicht noch zu verschärfen. 1597 wurde Jakobe aus ungeklärten Gründen tot in ihrem Bett im Düsseldorfer Schloss aufgefunden. Ob es sich dabei um Selbstmord oder Mord gehandelt hat, ist nicht einwandfrei zu klären. Es ist aber recht wahrscheinlich, dass Jakobe auf Betreiben der konkurrierenden Räte ermordet wurde, um Johann Wilhelm die Möglichkeit zu geben, erneut zu heiraten und endlich den erhofften Erben für die Vereinigten Herzogtümer zu zeugen.90 Ansonsten drohte das Ende der Dynastie und die Übernahme der niederrheinischen Territorien durch auswärtige Mächte. Ohne hier auf Details eingehen zu können, zeigt das Beispiel Jakobes überdeutlich, wie konflikthaft, ja lebensbedrohlich sich die Situation einer Fürstin entwickeln konnte, die an Herrschaft zu partizipieren suchte und mit einigem Recht ihren Anspruch auf Regentschaft einforderte. Dabei scheinen mir die Bewertungen der Forschung, sie habe gleichsam den Bogen überspannt und sich zu viele Kompetenzen angemaßt sowie mit Blick auf die unterschiedlichen Parteiungen am Hof und die Akteure im Reich ungeschickt oder fehlerhaft agiert, problematisch, denn sie weisen der Herzogin selbst die ‚Schuld‘ an ihrem Schicksal zu. Hätte sie sich in ihre Rolle gefügt, so der unterschwellige Vorwurf, wäre es wohl nicht so weit gekommen.91 Bewertet man hingegen die Herrschaftsbeteiligung von Frauen in vormoderner Zeit nicht als Ausnahme oder gar Anmaßung, sondern erkennt, dass weibliche Regentschaften bzw. die Beteiligung von Frauen an Regentschaftskollektiven durchaus verbreitet und vielfach unproblematisch waren, lässt sich Jakobes Fall völlig anders interpretieren: Ihr Anspruch auf Beteiligung an der Regentschaft erscheint vor dem Hintergrund des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 221–234, hier 229–232; Ingrid Ahrendt-Schulte, Hexenprozesse, in: ebd., 198–220, insb. 213–217. 90 Vgl. jüngst zu dieser Frage mit neuen Quellenhinweisen Richter 2015, 484f., 509–512. 91 Vgl. die bei Roberg 1977, 43, zitierten, zumeist abschätzigen Bewertungen Jakobes in der Forschung. Trotz der Problematisierung des Forschungsstandes hält sich auch Roberg nicht mit einem entsprechenden Urteil zurück und reproduziert damit ein bestimmtes Weiblichkeitsideal, das Jakobe offenbar nicht verkörperte: „Aber nicht nur der ständige Frontwechsel im Kampf um die Macht hat Jakobe in die Isolierung geraten lassen. Es scheint, daß auch ihr persönliches Auftreten, die Art ihres Umgangs mit Verwandten, Ratgebern und Gesprächspartnern, ihre Behandlung der Stände, Räte und Gesandten ihr wenig Freunde schuf und ihr den Ruf der Überheblichkeit und Arroganz eintrug. Jedenfalls war ihr ganzes Wesen wohl wenig verbindlich und gewinnend, ihr Verhältnis zu den Mitarbeitern kühl, ihre Beziehungen auch zu ihrer engsten Umgebung kaum herzlich; anders ist das Maß an Gleichgültigkeit, Abstand und Gehässigkeit in den Jahren ihrer Demütigung nicht überzeugend zu erklären, wenn man die Schuld nicht allzu einseitig allein ihren Widersachern aufbürden will“ (ebd., 55).

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der geltenden Normen wie auch der vielfach geübten Praxis als legitim.92 Die politischen Fraktionskämpfe während der Regentschaftszeit waren notwendigerweise heftig, denn sie vollzogen sich einerseits vor dem Hintergrund einer zunehmenden konfessionellen Spaltung der Räte und der Landstände der Vereinigten Herzogtümer. Diese Konfliktsituation wurde andererseits durch das immer wahrscheinlicher werdende Aussterben des Herzoghauses im Mannesstamm noch verstärkt bzw. bekam hierdurch seine eigentliche Dynamik, wurden durch den aufziehenden Erbfolgestreit doch zahlreiche auswärtige Akteure in die Entwicklungen am Niederrhein involviert. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Jakobe in dieser äußerst komplexen Situation Schwierigkeiten hatte, sich als Regentin zu etablieren.93 Die Versuche der Herzogin zur Herstellung von Allianzen waren auch nicht so irrational bzw. ‚wankelmütig‘, wie es in der Forschung teilweise dargestellt wird. Vielmehr folgte Jakobe durchaus einer politischen Rationalität, indem sie versuchte, die Macht der katholischen Räte bei Hofe mithilfe der protestantischen Landstände zu brechen und gleichzeitig mit den auswärtigen katholischen Mächten, wie dem Kaiser, Köln oder Bayern, im Gespräch zu bleiben.94 Jakobes Scheitern als Regentin lässt sich also aus der politischen Situation erklären und war weniger ihrem persönlichen Unvermögen geschuldet.95 Da sie dem Land allerdings keinen Erben schenkte, wurde sie für den Fortbestand des Hauses, aber auch für die Zukunft der herzoglichen Räte sowie der Landstände zur Belastung. Es half freilich nichts, sie aus dem Weg zu räumen. Auch die zweite Frau des geisteskranken Johann Wilhelm, Antoinette von Lothringen, gebar keinen Nachfolger für die klevische Dynastie. 1609 starb Johann Wilhelm kinderlos. Die Herrschaft am Niederrhein übernahmen auswärtige Dynastien, in die zuvor klevische Herzogstöchter eingeheiratet hatten. Während die Geschichte der 92 Dementsprechend unterstützten etwa der Kölner Kurfürst Ernst von Bayern und der Kölner Nuntius Ottavio Frangipani unmittelbar nach Wilhelms Tod ihre Regentschaft; Stieve 1877, 49f.; Muschka 1989, 300; vgl. allg. zu Norm und Praxis weiblicher Regentschaft in der Frühen Neuzeit Puppel 2004. 93 Das konzediert etwa auch Roberg 1977, 53f., was Jakobe aber „nicht völlig von dem Vorwurf [entlaste], Verlauf und Ausgang des ungleichen Kampfes entscheidend mitverursacht und dabei Wege eingeschlagen zu haben, die in den Untergang führten.“ 94 Vgl. in diesem Zusammenhang den wichtigen Hinweis von Fuchs 2018, 304: „Letztlich ist bei aller zugestandenen Bedeutung von Parteidenken und Lagermentalität, die allgemein für diese Zeit nicht bestritten werden soll, zu berücksichtigen, dass die jeweilige Situation immer wieder Handlungen als notwendig erscheinen lassen konnte, die den eigenen religiösen Überzeugungen zuwiderliefen.“ 95 Eine nach aktuellen wissenschaftlichen Standards aus den Quellen gearbeitete Untersuchung der Regentschaftsjahre Jakobes müsste hier ansetzen, um die Bedingungen und Möglichkeiten ihres Handelns im Kontext frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis und Hofkultur zu eruieren. Sinnvollerweise müsste eine solche Studie auch Antoinette von Lothringen einbeziehen.

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Herzöge von Kleve aus dem Hause Mark somit 1609 an ein Ende kam, ging die Geschichte der Herzoginnen von Kleve auch nach diesem Datum weiter. Das Haus Kleve-Mark lebte über die weibliche Linie in anderen Dynastien fort.

3.

Fazit

Mit dem Hinweis auf das Fortleben der kleve-märkischen Dynastie nach 1609 über die weibliche Linie hat sich abschließend noch einmal die Bedeutung von Frauen im Rahmen der dynastischen Heiratspolitik gezeigt. Die Fürstinnen waren allerdings nicht nur als Heiratsobjekte Teil dynastischer Politik. Vielmehr konnten sie auch durch informelle Einflussnahme an Herrschaft partizipieren oder eigenständige Herrschaftspositionen erlangen, namentlich das Äbtissinnenamt, die Herrschaft kraft eigenen Rechts sowie die recht verbreitete Regentschaft, sei es für den abwesenden oder regierungsunfähigen Ehemann oder für den noch unmündigen Sohn. Die Formen und Funktionen weiblicher Herrschaftspartizipation im Heiligen Römischen Reich werden erst seit einigen Jahren intensiver erforscht, bislang ist dabei freilich nur ein Bruchteil der betreffenden Frauen in den Blick geraten. Umso wichtiger sind angesichts der territorialen Vielfalt des Reiches Untersuchungen zu einzelnen Territorien bzw. Dynastien, um deren vielfach bereits intensiv erforschte Geschichte unter Gendergesichtspunkten neu zu interpretieren. Zugleich können nur am konkreten Fallbeispiel die Gültigkeit abstrakter Thesen zur Herrschaftspartizipation von Frauen überprüft und bestimmte Mechanismen dieser politischen Partizipation aufgezeigt werden. Dazu gehört auch, die Fürstinnen nicht isoliert zu betrachten, sondern sie, nachdem die Frauen einmal sichtbar geworden sind, als Teil der allgemeinen Geschichte zu begreifen und ihr politisches Agieren in das System dynastischer Herrschaft und Politik einzuordnen. Dies ist im vorliegenden Aufsatz für das Herzogtum Kleve versucht worden, wobei freilich nur ein erster Überblick anhand ausgewählter Beispiele gegeben werden konnte. Neben der dynastischen und territorialen Geschichte im engeren Sinne beinhaltet das Fallbeispiel zahlreiche reichs- und europageschichtliche Perspektiven. Aufgrund der Verflechtung von Reich und Territorien sowie der einzelnen Territorien untereinander lässt sich eine solche Regionalstudie nicht losgelöst vom größeren Kontext des Reiches durchführen, wie auch umgekehrt eine übergreifende Studie zum Reich immer auf die Ebene der Territorien verwiesen ist. Als Reichsstand war das Herzogtum Kleve Teil des Reiches sowie durch zahlreiche dynastische Heiraten und politische Allianzen mit unterschiedlichen Reichsterritorien verbunden. Weibliche Herrschaftspartizipation in Kleve spielte sich also immer auf einer regionalen, einer interterritorialen sowie der Reichsebene ab. Zudem war natürlich die europäische Bühne im Nordwesten

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des Reiches, dieser „Wetterecke der europäischen Politik“ (Volker Press), ebenfalls immer gegeben. Die dynastischen Heiraten der zahlreichen herzoglichen Töchter und Söhne zeigen diese Verflochtenheit von Regional-, Reichs- und europäischer Geschichte überdeutlich, begegnen doch neben den Reichsständen selbstverständlich auch Angehörige der europäischen Dynastien (etwa aus Burgund, Frankreich, Portugal, Spanien, England) sowie das Kaiserhaus als Heiratskandidaten. Aber auch im politischen Geschehen wird diese Verflechtung unterschiedlicher Ebenen immer wieder deutlich, wie verschiedene Beispiele gezeigt haben. Ohne alle Ergebnisse hier noch einmal im Detail zusammenzufassen, sei ein Aspekt hervorgehoben, der sowohl mit Blick auf die klevischen Heiratsprojekte als auch die Korrespondenzen Marie Eleonores und Sibylles von Jülich-KleveBerg sowie die Regentschaftsbemühungen Jakobes von Baden deutlich geworden sein sollte: Die Frauen waren keine außergewöhnlichen, gleichsam heldenhaften Gestalten, die für die Emanzipation des weiblichen Geschlechts kämpften. Natürlich gab es im vormodernen Europa den zitierten misogynen Diskurs, der Frauen die politische Handlungsfähigkeit absprach. Zugleich waren die Fürstinnen aber in ein politisches System integriert, das ihnen auf dem Heiratsmarkt, in der höfischen Kommunikation und im Rahmen bestimmter Herrschaftspositionen politische Handlungsmöglichkeiten bot bzw. ihnen bestimmte Rollen zuwies, die sie dann auszufüllen hatten. Die Frauen waren durchaus eigenständige Akteure, aber sie handelten wie ihre männlichen Pendants in bestimmten Strukturen und institutionellen Zusammenhängen. Die Herrschaftsteilhabe von Frauen war also, wie bereits eingangs formuliert, Teil des politischen Alltags.

Quellen- und Literaturverzeichnis Ingrid Ahrendt-Schulte, Hexenprozesse, in: Ute Gerhard (ed.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 198– 220. Alison D. Anderson, On the Verge of War. International Relations and the Jülich-Kleve Succession Crises (1609–1614) (Studies in Central European Histories), Boston 1999. Elisabeth Badinter, Le pouvoir au féminin. Marie-Thérèse d’Autriche, 1717–1780. L’impératrice reine, Paris 2016. Corina Bastian, Verhandeln in Briefen. Frauen in der höfischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts (Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 4), Köln/Weimar/Wien 2013. Corina Bastian et al. (edd.), Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert (Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 5), Köln/Weimar/Wien 2014.

Formen und Funktionen weiblicher Herrschaftspartizipation

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Andreas Rutz

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Anna Kollatz

Transkulturalität als Strategie. Gedanken zur Integration von Eliten am Mogulhof

Abstract Ethnic and religious diversity were decisive factors shaping the development of the Mughal Empire on the Indian Subcontinent. As the Timurids ruled from a minority position, it was vital to develop integrating strategies to unite the élite as well as the people behind the Timurid rulers. To meet the challenges of both heterogeneity and the status as a minority, the Mughals developed a set of integrative and legitimating strategies. This paper sketches the development from Ba¯bur to Jaha¯ngı¯r, focusing on the audience (darba¯r) as a stage or microcosm of the empire. Both textual and visual sources show that besides the representation of the emperor as the center of both the empire and the world, transculturality was one of the Mughal answers to diversity. In the field of administration, the Mughal system seeked to create a homogeny group of mansabda¯rs out of the élite coming from diverse ˙ contexts and to unite them under a new identity as servants of the emperor. Both legitimation and religious policies used parts and portions coming from the religious as well as cultural backgrounds of the diverse groups prevalent in the population.

Schon in der Vorbereitung hat unser Teilprojekt1 den Ruf des buntesten im SFB erhalten – daran sind letztlich die Moguln selbst schuld, die wohl eine besondere Freude an Farbigkeit hatten. Wir haben das Glück, nicht nur auf einen reichen Textkorpus, sondern auch auf eine Fülle an bildlichen Darstellungen des Mogulhofes zurückgreifen zu können, die uns zu diesem Ruf verholfen haben. Der Unterschied zu den Europäern, besonders den schwarz gekleideten portugiesischen Jesuiten, wird tatsächlich schon in Mogul-Quellen behandelt. Als 1611 die ˇ aha¯ngı¯rs einen Jesuiten fragten, weshalb die Europäer sich denn Edlen am Hofe G der Farbigkeit enthielten, wusste der Jesuit keine rechte Antwort. Hingegen erläuterte der Mogulherrscher selbst: Dies sei der Tatsache geschuldet, dass die Europäer im Gegensatz zu den Indern eine weiße Hautfarbe hätten, die durch

1 ‚Herrschaftsrepräsentation und Zeremoniell am Moghulhof‘ (Leitung: Prof. Dr. Eva Orthmann).

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Anna Kollatz

bunte Farben weniger gut zur Geltung gebracht werde.2 Diese auf den ersten Blick amüsante Anekdote überliefert der Autor ʿAbd al-Satta¯r b. Qa¯sim La¯ho¯rı¯ in ˇ aha¯ngı¯rı¯‘, einem Text, der sich als Protokoll der Gespräche des seinen ‚Magˇa¯lis-i G Herrschers mit seinen Vertrauten präsentiert. Auf den ersten Blick bunt und amüsant, scheinen aber durch die Erzählung Hinweise auf zentrale Charakteristika des Mogulhofes und seiner Herrschaftslegitimation durch. Betrachtet man das Setting der Anekdote, ist zunächst festzustellen, dass in der Audienz, oder – ganz allgemein formuliert – in der Gesprächsrunde um den Herrscher, ein europäischer Jesuit anwesend ist.3 Neben diesem recht exotisch anmutenden Gast finden sich in den Audienzen des Mogulherrschers aber grundsätzlich Vertreter der unterschiedlichsten ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, und zwar nicht nur als Gesandte aus anderen Ländern, sondern als Angehörige des Hofes oder der Verwaltung bzw. des Militärs im Reich. Weiterhin treffen in der Anekdote zwei Seiten aufeinander, deren Zusammenspiel für das Funktionieren der Mogulherrschaft gleichzeitig Basis und Herausforderung darstellte: die Edlen, die Elite des Reiches – dazu zähle ich in einer vorläufigen Definition solche Personen, die in Verwaltung und Militär, in Gelehrsamkeit oder Kunst und Literatur sich soweit ausgezeichnet haben, dass sie als mansabda¯rs4 in mittlere bis ˙ hohe Ränge aufgestiegen sind – und der Herrscher selbst. Eine Gruppe steht einer einzelnen Person gegenüber, eine Menge von Menschen wendet sich mit einer Frage an einen Einzelnen: Die Personengruppe erscheint auf den Einzelnen als Gegenüber fokussiert. Zur Veranschaulichung dieser Gegenüberstellung können 2 Anna Kollatz, Inspiration und Tradition. Strategien zur Beherrschung von Diversität am ˇ aha¯ngı¯rı¯ (ca. 1608–11) von ʿAbd al-Satta¯r b. Mogulhof und ihre Darstellung in Magˇa¯lis-i G Qa¯sim La¯ho¯rı¯ (Narratio Aliena? Studien des Bonner Zentrums für Transkulturelle Narratologie 8), Berlin 2016, 176, 342f. 3 Dieser kann identifiziert werden als ein Mitglied der dritten jesuitischen Mission an den Mogulhof, die 1595 den Hof erreichte und auf Einladung des Herrschers Akbar (reg. 1556– 1605) gekommen war. Diese und die vorherigen zwei Missionen waren zum Hof geladen worden, um Religion und Lebensweise der portugiesischen ‚Nachbarn‘ in Goa kennenzulernen. Außerdem nutzte Akbar die Anwesenheit der Jesuiten auch für Religionsdispute, in denen er Jesuiten und muslimische Gelehrte gegeneinander antreten ließ und letztlich seine synˇ aha¯ngı¯r. kretistisch angelegte Weltsicht propagierte. Vgl. z. B. Heike Franke, Akbar und G Untersuchungen zur politischen und religiösen Legitimation in Text und Bild, Schenefeld/ Bonn 2005; Kollatz 2016. Es handelt sich bei dem Jesuiten vermutlich um Pater Jerôme Xavier (Geburtsname: Jerónimo de Ezpeleta y Goñi), 1549–1617. Er war ein portugiesischer Jesuit und Großneffe des Gründers der indischen Jesuiten-Mission, Francis Xavier. Jerôme Xavier kam 1595 als Superior der dritten Jesuitenmission an den Mogulhof, nachdem er zuvor für zwei Jahre Superior des St. Pauls-Kollegs in Goa gewesen war. Während seines Aufenthalts am Hof verfasste er zahlreiche Werke, sowohl als Auftragsarbeiten für den Hof, als auch als Hilfsmittel für die Mission im Reich. Vgl. z. B. Pedro de Moura Carvalho/Wheeler M. Thackston, Mir’a¯t al-quds. A Life of Christ for Emperor Akbar: A Commentary on Father Jerome Xavier’s Text and the Miniatures of Cleveland Museum of Art, Acc. no. 2005.145 (Studies and Sources in Islamic Art and Architecture 12), Leiden/Boston 2012. 4 Zum System des mansab siehe unten. ˙

Transkulturalität als Strategie

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bildliche Darstellungen des Mogulhofes herangezogen werden. Die Abbildung zeigt die Darstellung einer Mogulaudienz, sie ist im Company-Style gehalten, also schon im Indien unter britischem Einfluss entstanden und erscheint grobschlächtiger als 200 Jahre zuvor am Mogulhof entstandene Kunst. Vormals im Besitz des Prinzen Waldemar von Preußen, repräsentiert sie, wie auch der ‚Geburtstag des Mogulkaisers Aurangzeb‘ im Grünen Gewölbe in Dresden, die Faszination, die Indien in Europa lange auslöste.5

Abb. 1: Mogul-Audienz ‚auf dem Tablett‘, Indien, Company-Stil, ca. 1840 (Delhi); © Stiftung Preußischer Kulturbesitz/Staatliche Museen zu Berlin/Museum für Asiatische Kunst/Iris Papadopoulos.

Diese Figurengruppe wird dem Betrachter gleichsam ‚auf dem Tablett‘ serviert. Sie wird durch eine Begrenzung in Form eines Zäunchens auf ihrer Unterlage umfasst und so als in sich geschlossene Einheit präsentiert. Es handelt sich um eine bewusste Anordnung, eine I n s z e n i e r u n g der Figuren. Als solche, als bewusste Platzierung, In-Szene-Setzung von Personen zueinander und zu ihrer Umwelt, muss auch das lebendige Vorbild, die historische Mogulaudienz verstanden werden. Ebenso wie in Textquellen oder den zahlreich erhaltenen Mi5 Vgl. zum Indien- und insbesondere Mogul-Bild im Indien der frühen Neuzeit z. B. Antje Flüchter, Weighing the Mughal. German Perception of Governmental Structures and the Staging of Power in the Early Modern Indian Mughal Empire, in: dies./Susan Richter (edd.), Structures on the Move. Technologies of Governance in Transcultural Encounter (Transcultural Research – Heidelberg Studies on Asia and Europe in a Global Context), Berlin/Heidelberg 2012, 147–166.

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Anna Kollatz

niaturen der Mogulzeit handelt es sich um eine Abbildung der realen Audienz: Jemand, in diesem Fall ein figürlich arbeitender Künstler, hat sich Gedanken darüber gemacht, wie er sein lebendiges Vorbild darstellen will, welche Eigenschaften, Besonderheiten er in dieser Darstellung betonen, welche er auslassen möchte. Wir haben es also nicht mit ungefilterter ‚historischer Wirklichkeit‘ zu tun, sondern mit einem A b b i l d, vielleicht sogar einer I m a g i n a t i o n derselben. Der Künstler hat sich auch Gedanken darüber gemacht, für wen er diese Figurinen herstellt, wenn es eine Auftragsarbeit war vielleicht auch, was der Adressat gerne sehen wollte. Diese Positionalität und der Kontext jeglicher Quelle muss bei der Annäherung an das Thema Transkulturalität als Strategie von Integration beachtet werden. Zurück zur Darstellung der Audienz: Die anwesenden Besucher scharen sich in einem Kreis um den mittig thronenden Herrscher, hinter dem Standartenhalter die aufgerollten Flaggen des Herrschers präsentieren.6 Die Audienzteilnehmer gleichen sich in ihrer ehrfürchtigen Haltung, unterscheiden sich aber deutlich in ihrer Kleidung und ihren Gesichtszügen. Hier stehen unterschiedliche Personengruppen vor dem Herrscher, die sich durch Kopfbedeckung, Kleidung und Aussehen als verschiedenen ethnischen Kontexten entstammend auszeichnen. In ihrer Positionalität zum Herrscher unterscheiden sie sich aber eher weniger, vielmehr halten sie einen etwa gleichen Abstand zu ihm ein. Was könnte die unterschiedliche Kleidung und Gruppierung der Figuren nun bedeuten? Sie könnten unterschiedliche Funktionsgruppen oder ‚Ämter‘ am Hof repräsentieren, andererseits könnte darin – ohne dem Werk diese Aussage als e i g e n unterstellen zu wollen – ein Hinweis auf verschiedene, geradezu diverse Gruppen am Hof gesehen werden, die sich in ethnischer Herkunft, aber auch in der Religion unterscheiden. Die ethnische und religiöse Diversität des Mogulhofes sowie Beziehungen zwischen dem Hof, dem Herrscher und einzelnen Gruppen sind ein in der Mogulforschung häufig bearbeitetes Thema.7 Dieser Beitrag nähert sich dem Thema durch eine gemeinsame Betrachtung von Text- und Bild6 Diese aufgerollten Standarten finden sich auch in zahlreichen Miniaturen, die den Mogulhof oder auch den Tross des Herrschers zeigen. Die Standarten wurden nur zu besonderen Gelegenheiten entrollt. Vgl. Abu¯ al-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, ʿAin-i Akbarı¯, trans. by Henry Blochmann, 3 Bde., Calcutta 1873–1894, Bd. 1, 50 (ʿAin Nr. 19). 7 Vgl. z. B. Muzaffar Alam/Sanjay Subrahmanyam, Frank Disputations. Catholics and Muslims in the Court of Jahangir (1608–11), in: The Indian Economic & Social History Review 46 (2009), 457–511; Corinne Lefevre, Europe-Mughal India-Muslim Asia. Circulation of Political Ideas and Instruments in Early Modern Times, in: Antje Flüchter/Susan Richter (edd.), Structures on the Move. Technologies of Governance in Transcultural Encounter (Transcultural Research – Heidelberg Studies on Asia and Europe in a Global Context), Berlin/ Heidelberg 2012, 127–146; Rajeev Kinra, Handling Diversity with Absolute Civility. The Global Historical Legacy of Mughal Sulh-i Kull, in: The Medieval History Journal 16/2 (2013), ˙ ˙ 251–295.

Transkulturalität als Strategie

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quellen. Er darf als eine Bestandsaufnahme von bereits identifizierten ‚Integrationsstrategien‘ am Mogulhof verstanden werden. Nach einer kurzen Einführung des historischen Kontexts leiten zwei Fragen die folgenden Ausführungen: Über welche Personengruppen sprechen wir? Wie ging man im Mogulreich mit der Diversität der Elite (und der Bevölkerung) um? Obwohl es sich beim Mogulreich um eine der einflussreichsten Entitäten des vormodernen Asiens handelt, ist die Forschung bis heute erstaunlich lückenhaft. Es entstand über die letzten zwei Jahrhunderte hinweg eine Anzahl von häufig durch ideologische Tendenzen geprägten Forschungslinien, die sich allerdings nur wenigen Themen und Herrschern wirklich zugewandt haben.8 Vor diesem Hintergrund ist eine kurze Zusammenfassung der Mogulgeschichte unmöglich, will man auf Verallgemeinerungen verzichten. Das tradierte Forschungsnarrativ zeichnet das Bild eines Reiches, das von einem charismatischen Führer gegründet, von dessen schwachem Sohn wieder verloren und schließlich von Akbar ‚dem Großen‘ wieder aufgebaut und so konsolidiert wurde, dass es auch den ˇ aha¯ngı¯r und seinen mangels Erforschung Wein, Weib und Gesang verfallenen G außerhalb eines engen Expertenkreises nur als Erbauer des Taj Mahal bekannten ˇ aha¯n überdauern konnte. Die unter Akbar eingeführten ‚Reformen‘ des Sˇa¯h G Reiches und seiner Verwaltung wurden dabei gerne auch als Blaupause auf die weiteren Regierungszeiten übertragen. Schließlich, so endet das Narrativ, habe der skrupellose Aurangzeb, ein orthodoxer Muslim und Hindu-Hasser, das Reich zu Grunde gerichtet.9 Die Moguln sind eine Dynastie, die als islamisch bezeichnet wird, tatsächlich wäre das Mogulreich aber besser als Herrschaft mit islamischem Einfluss zu fassen. Der Gründer der Dynastie ist Zahir al-Dı¯n Ba¯bur (reg. 1527–1530), der als kaum Vierzehnjähriger eine kleine Herrschaft rund um Ferghana im heutigen Afghanistan erbte. Er konnte sein Erbe nicht halten, ebenso wenig wie die wichtige Stadt Samarkand, die er dreimal eroberte, aber immer wieder verlor. 8 Eine umfassende Diskussion dieser Forschungsproblematik haben Muzaffar Alam und Sanjay Subrahmanyam 2011 vorgelegt: Muzaffar Alam/Sanjay Subrahmanyam, Writing the Mughal World. Studies on Culture and Politics, New York 2011, 1–32. Eine Wiederholung ihrer Befunde erscheint an dieser Stelle nicht notwendig. 9 Gegen dieses Narrativ schreiben Alam/Subrahmanyam 2011 ebenso wie Stephan Conermann, Südasien und der Indische Ozean, in: Akira Iriye/Jürgen Osterhammel/Wolfgang Reinhard (edd.), Geschichte der Welt 1350–1750. Weltreiche und Weltmeere, München 2014, ˇ aha¯ngı¯r-Bildes vgl. Corinne Lefévre, Comment un „conquérant 385–426. Zur Revision des G du monde“ devint l’esclave d’une femme. L’historiographie de l’empereur moghol Jahangir (r. 1605–1627), in: Stéphane Benoist et al. (edd.), Mémoires partagées, mémoires disputées. Écriture et réécriture de l’histoire, Metz 2010, 93–118. Zur Revision der Geschichte Aurangzebs vgl. z. B. Audrey Truschke, Aurangzeb. The Man and the Myth, Haryana 2017, und demnächst die Arbeit von Tilmann Kulke, An Early 18th-Century Mughal Munsˇ¯ı at Work. Con¯ lamgı¯rı¯. A Narratological Investigation (in flicts and Emotions in Mustaʿidd Ha¯n’s Maʾa¯sir-i ʿA ˘ Vorbereitung).

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Anna Kollatz

Ba¯bur gehörte zu den Erben des Timur Lenk, die sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend von uzbekischen Stammesverbänden bedroht sahen, die in ihr Herrschaftsgebiet eindrangen und sich dort festsetzten. Ba¯bur scheint erkannt zu haben, dass mit seiner zerstrittenen Verwandtschaft keine Abwehr zu organisieren war: Er baute sich weiter östlich, zunächst in Kabul, ein stabiles Herrschaftsgebiet auf und expandierte von dort aus auf den indischen Subkontinent. Wie uns seine Tochter Gulbadan Bı¯gum (st. 1603) berichtet, tat er dies, um den in ihrem Stammland langsam heimatlos werdenden Timuriden eine neue Bleibe bieten zu können. Nachdem er sich in Nordindien festgesetzt hatte, lud er daher seine Verwandten ein, ihm zu folgen.10 Gulbadans Berichte sind nur ein Zeugnis der timuridischen Migration nach Indien, wo die Tanten und Verwandten am neu entstandenen Mogulhof aufgenommen und standesgemäß ausgestattet wurden. Auch Ba¯bur selbst berichtet in seiner selbst verfassten Herrschaftsgeschichte, dem ‚Ba¯bur-na¯ma‘, von seiner Begegnung mit der neuen Umgebung auf dem Subkontinent und den Herausforderungen, die diese für ihn, seine Verwandten und seine Gefolgschaft bedeutete. Auf Ba¯burs Herrschaft ˇ aha¯ngı¯r folgten mit Huma¯yu¯n (reg. 1530–40; 1555–56), Akbar (reg. 1556–1605), G ˇ ˇ (reg. 1606–1627), Sa¯h Gaha¯n (reg. 1627–1658) und schließlich Aurangzeb (reg. 1658–1707) fünf weitere Herrscher, die häufig als die ‚großen Moguln‘ bezeichnet werden. Die ungefähr 200 Jahre ihrer Herrschaft gelten als Blütezeit der Dynastie. Mit den eingewanderten Timuriden – Moguln ist eigentlich eine europäische Bezeichnung, die auf die zweite von den Moguln beanspruchte Ahnenlinie verweist, welche sich auf Cingiz Khan, also die Mongolen, zurückbezieht – ergreift eine Dynastie die Macht in Nordindien, die islamisch geprägt ist. Sie beruft sich zudem auf cˇagatay-türkische und mongolische Wurzeln und ist kulturell in iranischen Traditionen verankert. Damit stellt sie an sich schon ein transkulturell geprägtes Gebilde dar. Man errichtet über die Jahre einen Verwaltungs-, Hof- und Militärapparat, dessen Systematisierung insbesondere Akbar zugeschrieben wird. Der Grund dafür ist insbesondere in der monumentalen ‚Akbar-na¯ma‘, der von Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯ verfassten Historiographie zu suchen. Dieser Text, dessen dritter Band auch als ‚al ʿAı¯n-i Akbarı¯‘ (etwa: ‚die Regulatorien des Akbar‘) bekannt ist,11 wurde von der Mogulforschung häufig als normative Basis für die gesamte Herrschaftsdauer der Moguln aufgefasst. Darin niedergelegte Ideale wurden somit als historische Wirklichkeit auch in den Herrschaften nach Akbar angenommen, ohne dies zu überprüfen. Eine Erfor10 Gulbadan Bı¯gum, Ahva¯l-i Huma¯yu¯n Pa¯dsˇa¯h / Huma¯yu¯n-na¯ma, London, British Library, Or. 166, f. 11r: Bericht˙ über Ba¯burs Einladung an seine Verwandten, nach Indien zu kommen und dort ein neues Leben zu beginnen. 11 Vgl. Abu¯ al-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, ʿAin-i Akbarı¯, ed. Henry Blochmann, 3 Bde., Calcutta 1869–1872 und Abu¯ al-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, ʿAin-i Akbarı¯, trans. by Henry Blochmann, 3 Bde., Calcutta 1873– 1894.

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schung der tatsächlichen Funktionsweise des mogulischen Herrschaftsapparates kann aber nur aufgrund einer breit angelegten Quellenbasis erfolgen, die insbesondere auch die zahlreich erhaltenen Verwaltungsdokumente einschließt. Auch wenn verschiedene Residenzstädte wie Delhi, Lahore, Agra, für eine kurze Zeit unter Akbar Fathpur Sikri, und schließlich unter Aurangzeb Alla¯haba¯d regelmäßig aufgesucht wurden, fand doch ein großer Teil der Regierungsgeschäfte der Mogulherrschaft über die verschiedenen Regierungszeiten hinweg in einem mobilen Hofstaat statt. Mit diesem imperialen Camp, das in Form einer Zeltstadt sämtliche offiziellen Räumlichkeiten und Plätze ebenso enthielt wie die Wohnräume der herrscherlichen Familie und ihrer Gefolgschaft sowie Werkstätten und eine Münzprägerei, zog der Herrscher zentralasiatisch-nomadischen Traditionen folgend durch sein Reich und konnte somit die Peripherie zum Zentrum machen und umgekehrt. Ausgehend vom mobilen Hofstaat wurde das Reich verwaltet, Eroberungen und weitere militärische Aktionen geplant und ausgeführt. Der mobile Hof wurde dabei gleichsam zu einem Mikrokosmos des Reiches, in dem sich Vertreter der diversen ethnischen und religiösen Gruppen begegneten und ihre Positionen gegenüber der Herrschaft und untereinander verhandelten.12 Eine erste Gruppe von Migranten ist also in der Dynastie selbst zu finden. Unsere in Indien anlandenden Timuriden sind Muslime, sie sind tief von iranischen und cˇagatay-türkischen Traditionen geprägt. In Indien müssen sie nun lernen, über eine nicht vornehmlich islamische Bevölkerung Herrschaft auszuüben. Sie müssen sich des Weiteren mit denjenigen Gruppen auseinandersetzen, die zuvor die Region beherrschten. Dazu gehören z. B. auch afghanischstämmige Dynastien, wie die in Delhi von Ba¯bur abgelösten Lo¯dı¯s und Sˇ¯ır Ha¯n Afg˙a¯n, ˘ Huma¯yu¯ns Gegner. Besonders ist zu bemerken, dass die Mehrheitsbevölkerung, sowohl was die Elite als auch was das Volk angeht, einer Vielzahl hindureligiöser Glaubensrichtungen angehörte und damit den muslimisch geprägten Timuriden sehr fremd erschienen sein müssen – auch wenn islamische Gelehrte und Reisende wie al-Bı¯ru¯nı¯ oder Ibn Battu¯ta schon Jahrhunderte zuvor über hindu˙˙ religiösen Glauben geschrieben hatten. Der Subkontinent blickte zur Zeit der Entstehung des Mogulreiches auch schon auf eine lange Geschichte islamischer Minderheiten-Herrschaften zurück – etwa auf die Zeit der sogenannten DelhiSultanate, die im SFB durch ein weiteres islamwissenschaftliches Teilprojekt untersucht werden.13 Neben hindureligiösen Indern traf man also auch auf indische Muslime, einige Parsen, und schließlich, auf Communities eingewan12 Eine Beschreibung des Aufbaus des mobilen Hofes unter Akbar liefern wiederum die ‚ʿAı¯n-i Akbarı¯‘, trans. by Blochmann, Bd. 1, 41f. 13 ‚Macht und Herrschaft in indo-persischen historiographischen Texten aus der Zeit des Delhisultanates (1206–1526)‘ (Leitung: Prof. Dr. Stephan Conermann).

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derter Perser islamischen Glaubens und auf länger oder kürzer in Indien ansässige Angehörige verschiedener Turkvölker, z. B. der Uzbeken. Auch Europäer sind schon früh im Kontakt mit dem Mogulreich: Unter Akbar treffen nacheinander drei jesuitische Delegationen aus dem portugiesischen Goa am Hof ein, die der Herrscher eingeladen hatte, um politischen Kontakt zu den Portugiesen zu knüpfen, die für den Seehandel wichtige Partner waren,14 und um sich über das Christentum zu informieren. In der folgenden Zeit waren Europäer wie z. B. der Venezianer Niccolò Manucci15 und weitere Reisende, aber auch Handelsgesandte wie der Brite Nicolas Roe16 am Hof der verschiedenen Herrscher anwesend. Insgesamt haben wir also ein recht unübersichtliches Gemisch an ethnischer und religiöser Vielfalt, das die Moguln weiter fördern, indem sie Einwanderer z. B. aus dem safavidischen Iran nicht nur aufnehmen, sondern teils regelrecht anwerben.17 Ähnlich wie in der figürlichen Darstellung der Audienz (Abb. 1) zeigen auch Miniaturen die Diversität der Bevölkerung, wie etwa die Darstellung der ˇ aFeierlichkeiten zum ersten Neujahr (nawru¯z) nach der Thronbesteigung G 18 ha¯ngı¯rs. In der Menge vor den Mauern des roten Forts sind die Angehörigen der unterschiedlichen Gruppen durch ihre verschiedenen Kleidungsstile, besonders die Kopfbedeckungen, aber auch durch fein ausgearbeitete unterschiedliche Gesichtszüge kenntlich gemacht. Besonders ins Auge sticht z. B. der Jesuit in der linken oberen Bildhälfte. Wie kann man nun über eine solche Bevölkerung herrschen? Wie geht man mit größtmöglicher Diversität um? Rajeev Kinra hat es im Titel eines Artikels wunderbar auf den Punkt gebracht: „Handling Diversity with absolute Civility“19 könnte eine moderne Fassung eines mogulischen Herrschaftsprinzips sein – eine Fassung übrigens, die auch wir heute im Jahre 2017 uns vor Augen halten sollten. Anhand ausgewählter Quellenbeispiele sollen nun transkulturelle Ansätze in der Integration von Eliten am Mogulhof nachgezeichnet werden.

14 Zur Bedeutung der Europäer im Seehandel des indischen Ozeans vgl. Conermann 2014. 15 Manuccis umfangreicher Bericht über Indien enthält auch Informationen über seine Zeit am Mogulhof: Niccolò Manucci, Storia do Mogor or, Mogul India 1653–1708, übers. v. William Irvine, 4 Bde., London 1907; vgl. auch Sanjay Subrahmanyam, Three Ways to be Alien: Travails and Encounters in the Early Modern World, Brandeis 2012. 16 Auch von Thomas Roe sind ein Reisebericht und Korrespondenzen erhalten: The Embassy of Sir Thomas Roe to the Court of the Great Mogul 1615–19 as narrated in his Journal and Correspondence, ed. William Foster, 2 Bde., London 1894. ˇ aha¯ngı¯rı¯‘ berichten z. B. über die Entsendung eines Gesandten an den sa17 Die ‚Magˇa¯lis-i G favidischen Hof, dem der Herrscher explizit aufgab, einen guten Eindruck zu machen, um dem Mogulhof „einen guten Namen“ zu verschaffen. Vgl. Kollatz 2016, 483. 18 Vgl. z. B. Milo C. Beach, Aqa Riza and Abu’l-Hasan, in: Milo C. Beach/Eberhard Fischer/ B. N. Goswamy (edd.), Masters of Indian Painting, 2 Bde., Bd. 1: 1100–1650, Zürich 2011, 211–230, hier 225. 19 Kinra 2013.

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Wir kennen ein offizielles Testament Ba¯burs, weit weniger bekannt und nur in einer schwer zugänglichen Handschrift erhalten ist das „geheime“ oder „private“ Testament des Herrschers, das dieser vor seinem Tod an seinen Sohn und Thronfolger Huma¯yu¯n gerichtet verfasst hat.20 Er ruft ihn darin dazu auf, die Glaubensgrundsätze seiner Untertanen zu respektieren, insbesondere warnt er vor der Zerstörung heiliger Stätten und der Schlachtung von den Hindus heiligen Rindern. Der Islam, schreibt er, verbreite sich besser durch die Herzen als durch das Schwert: „For the stability of the Empire this is written. O my son! The realm of Hindustan is full of diverse creeds. Praise be to God, the Righteous […] that he hath granted unto thee the empire of it. It is but proper that thou, with heart cleansed of all religious bigotry, should dispense justice according to the tenets of each community. […] And bring together the subjects with different beliefs in the manner of the Four Elements, so that the bodypolitic may be immune from the various ailments. […]“21

Diversität und ihr schlimmster Feind, religiöse Bigotterie (taʿassub) werden hier in einem Atemzug genannt. Die Erkenntnis, dass ein von Diversität geprägtes Reich nur unter Vermeidung jeglicher (Religions)konflikte zwischen den zusammenlebenden Gruppen friedlich und stabil bleiben kann, ist somit nicht erst Akbar ‚dem Großen‘ gekommen, wie es die Mogulforschung gerne behauptet, sondern prägte das Bewusstsein der timuridischen Herrscher schon seit Beginn des Mogulreiches. Auch betont Ba¯bur hier schon die Rolle des Herrschers als zentrale Lenkungsinstanz, die jede Gemeinschaft und ihre Rechtsvorstellungen in Acht nehmen möge und dafür verantwortlich sei, Religionsfrieden zu stiften. Er vergleicht die Angehörigen der diversen Religions- und ethnischen Gruppen im Reich mit den Vier Elementen (Feuer, Wasser, Erde, Luft), die durch die Einwirkung des Herrschers in harmonisches Miteinander gebracht werden sollen. Hier klingt die Einbeziehung kosmologischer und astrologischer Ideen in die Herrschaftsphilosophie und -legitimation der Moguln an, die unter Huma¯yu¯n weiterentwickelt wurden. Wie Ebba Koch gezeigt hat, nahm Huma¯yu¯n die Mahnung seines Vaters an und begann, persische Ideen in die mogulische Herrschaftslegitimation, die auch eine Definition des Verhältnisses zwischen Herrscher und Beherrschten ein-

20 Die einzige bekannte Handschrift liegt in Bhopal/Indien. Vgl. N. C. Mehta, An Unpublished Testament of Babur, in: The Twentieth Century 01/1936, 339–344; Antony Black, The History of Islamic Political Thought. From the Prophet to the Present, 2. Aufl., Edinburgh 2011, 240f. 21 Zitiert nach S. M. Jaffar, The Mughal Empire from Babar to Aurangzeb, Peshawar 1936, 23f. Die Übersetzung weist einige Unklarheiten auf, so ist es z. B. nicht unproblematisch, einen Terminus wie body-politic ohne weitere Erläuterung auf einen außereuropäischen, vormodernen Kontext anzuwenden. Es war der Verfasserin jedoch nicht möglich, das in Indien erhaltene Manuskript des ‚Wası¯yat-na¯ma-yi mahfı¯‘ einzusehen. ˘

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schloss, zu integrieren.22 Die Forschung zeichnet bisher – leider und zu Unrecht – ein eher unschmeichelhaftes Bild des Huma¯yu¯n. Die Tatsache, dass er fast über seine gesamte Herrschaft hinweg in Konflikt mit seinen Brüdern lag und erst zum Schluss seiner Herrschaftszeit, nach einigen Jahren des Exils in Iran, das Mogulreich wieder stabil unter seine Herrschaft bringen konnte, hat ihm das Image des ‚schwachen Verlierers‘ unter den großen Moguln eingebracht. Es ist ein absolutes Desiderat, diese verkürzte Darstellung durch neue Forschung zu korrigieren. Huma¯yu¯n war es jedoch, der aus Iran Ideen mitbrachte, die für die Herrschaftskonzeption und -legitimation der Moguln zentral werden sollten: Er integrierte die altiranische Idee des farr-i ¯ızadı¯, des „Götterfunkens“, der den rechten Herrscher auszeichnet, in die mogulische Herrschaftsvorstellung und kombinierte sie mit einer Sonnen-Symbolik, die auch indische Vorbilder aufgreift.23 In seinem heute noch nicht erklärbaren ‚kosmologischen Teppich‘ finden wir erste Züge der Gleichsetzung des Herrschers mit der Sonne, um die die Planeten kreisen. Der Herrscher wird zum Zentrum der Welt und damit natürlich zum Zentrum seines Hofs und seiner Elite. „Back in India, Huma¯yu¯n must have thought of the legendary carpets and throne of the Sasanian Khusraus when he designed a large cosmological carpet of concentric rings in which his court had to sit according to origin and rank, with the emperor ‚like the Sun‘ in the circle in the middle of the planetary rings.“24 Huma¯yu¯ns Nachfolger auf dem Thron ist der wohl bekannteste unter den ˇ ala¯l al-Din Akbar. Ihm kommt das Verdienst zu, das von großen Moguln, G seinem Vater ererbte Territorium signifikant ausgeweitet zu haben. Für das Thema der Integration sind besonders zwei Dinge interessant, die auch nach Akbar die Strukturen des Reiches prägen sollten. Die häufig als ‚Reformen‘ seines Reiches bezeichneten Strukturmaßnahmen schlossen die Regulierung der Versorgung der Militär- und Verwaltungseliten ein. Im sogenannten mansab-System ˙ (häufig, aber nicht ganz treffend als „Lehen“ übersetzt) wurden Funktionsträger aus Verwaltung und Militär, aber auch ehemals unabhängige Regionalherrscher einheitlich in einem hierarchisch aufgebauten Versorgungssystem gefasst. Als zweiter zentraler Punkt sind religionspolitische Maßnahmen zu nennen, mit denen Akbar die bereits von Ba¯bur geforderte Harmonisierung der Gemeinschaften vorantrieb. In dieser Beziehung wirkten Herrschaftslegitimation, die

22 Ebba Koch, How the Mughals Referenced Iran in Their Visual Construction of Universal Rule, in: Peter F. Bang/Dariusz Kołodziejczyk (edd.), Universal Empire. A Comparative Approach to Imperial Culture and Representation in Eurasian history, Cambridge 2012, 194– 209. 23 Vgl. Franke 2005; Koch 2012; Kollatz 2016. 24 Koch 2012, 200; vgl. dort auch Anm. 16. Über den Teppich berichtet z. B. Hva¯ndamı¯r, Qa¯nu¯n-i ˘ Huma¯yu¯nı¯, übers. v. Bani Prashad. Calcutta 1940, 80.

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gerade beschriebene Elitenstrukturierung und religionspolitische Maßnahmen zusammen. Prinzipiell konnte ein Jeder mansabda¯r, also „Besitzer eines mansab“ werden ˙ ˙ und damit für die Ausführung eines bestimmten, ihm zugewiesenen Dienstes eine festgesetzte Vergütung erhalten. Die Vergütung wurde, ähnlich wie in anderen islamischen iqta¯ʾ-Systemen, als Anrecht zur Aushebung eines bestimmten Prozentsatzes an Steuern aus einer Region, einem Dorf oder einer Stadt vergeben. Sowohl die zugewiesenen Dienste als auch die dafür erhaltenen Vergütungsrechte wurden regelmäßig angepasst und verändert. Inhaltlich zeichnen sich die verschiedenen Hofhistoriographien, sei es das schon erwähnte ‚Akbar-na¯ma‘, ˇ aha¯ngı¯r selbst verfasste ‚G ˇ aha¯ngı¯r-na¯ma‘ oder verschiedene Historien das von G ˇ aha¯ns,25 durch überaus häufige und detailreiche Berichte über aus der Zeit Sˇa¯h G die Ein- und Versetzung von mansabda¯rs, bzw. über deren Beschenkung und die ˙ Erhöhung ihrer Bezugsansprüche aus. Diese fanden in direktem Austausch des einzelnen mansabda¯r mit dem Herrscher in einer Audienz statt. Nicht nur ˙ wurden unter dem Dach des mansab-Systems Eliten unterschiedlichen Glaubens ˙ und ethnischer Zugehörigkeit in eine gemeinsame Identität überführt, darüber hinaus wurde die Audienz vor dem Mogulherrscher zum zentralen Treffpunkt der in Entscheidung, Regierung und Verwaltung eingebundenen Eliten des Herrschaftsgebietes. Für die Betrachtung von Integration und Transkulturalität ist besonders interessant, dass (zumindest in der Theorie) durch das mansab˙ System ethnische und personale (z. B. kinship-) Loyalitäten aufgebrochen wurden und stattdessen die Eliten als ‚Diener des Pa¯disˇa¯hs‘ in eine Loyalitätsbindung zum Herrscher bzw. zur Mogul-Dynastie überführt wurden. Inwieweit diese theoretische Funktion in der Praxis ihre Wirkung entfaltete, ist noch zu erforschen. Klar ist, dass es insbesondere am Rand des Herrschaftsgebietes auch Provinzen gab, die weiter von dynastisch organisierten Familienverbänden beherrscht wurden, auch wenn sie nominell dem mansab-System inkorporiert ˙ waren. Darüber hinaus zeigen zahlreiche Quellenbefunde, dass auch Positionen bei Hof oder im Militär gerne an die Nachkommen eines verdienten mansabda¯rs ˙ weitergegeben wurden. Trotzdem bestand aber für die Nachkommen eines mansabda¯rs kein Rechtsanspruch auf Übernahme, vielmehr musste die Ver˙ bindung mit dem Herrscher für jede Person neu bestätigt werden. Dies ist durchaus als gegenseitiger Prozess zu verstehen, zu dem die Vorsprache des Dienstwilligen ebenso gehörte wie die Annahme durch den Herrscher. Beide Prozesse wurden von Gabentausch begleitet und fanden in Eliten-Audienzen statt. Audienzdarstellungen, sowohl auf textueller wie auf bildlicher Ebene, dienten dazu, das Loyalitätsverhältnis als übergeordnetes Kriterium zu repräˇ ala¯lı¯ Taba¯taba¯ʾı¯, Sˇa¯h 25 Als Beispiel sei hier eine relativ frühe Quelle genannt: Muhammad G ˙ ˙ ˙ ˇ aha¯n-na¯ma, ed. Syed M. Y. G ˇ a’farı¯, New Delhi 2009. G

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sentieren. Herrscher und Elite waren also in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, das kurz als „Dienst (das beinhaltet Dienstleistungen in den genannten Bereichen, aber auch Beratung und Unterhaltung) gegen Recht auf Wohltun (Unterhalt, Schutz etc.)“ bezeichnet werden kann.26 Das Eingehen einer solchen Beziehung war offensichtlich nicht durch ethnische oder religiöse Begrenzungen reglementiert. Die relativ hohe Ausformung der Verwaltung des mansab-Systems garantierte beiden Seiten, dem Herrscher wie auch den man˙ sabda¯rs, dass die jeweils aus der Bindung hervorgehenden Ansprüche auch ˙ eingefordert werden konnten. Dazu dienten u. A. die regelmäßigen Treffen des Herrschers und der mansabda¯rs am Hof. Es wurde erwartet, dass ein mansabda¯r ˙ ˙ regelmäßig zur Audienz erschien, dies war aber gleichzeitig auch als Recht desselben auf Anwesenheit in der Audienz zu verstehen. Bei Verfehlungen konnte dieses Recht verwehrt werden, was eine große Herabsetzung der jeweiligen Person bedeutete. Am Hof, in der Audienz, trafen somit auch die Eliten aufeinander, die den unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppierungen entstammten. Verschiedene Audienzformate, die von eher öffentlichen Veranstaltungen mit breitem Publikum bis hin zu privaten Gesprächsrunden reichten, prägten den Alltag am Mogulhof. Hier sollen nur einige wenige beispielhaft angerissen werden. Wir verlassen dabei den chronologischen Überblick und betrachten die ˇ aha¯ngı¯rs anhand ausgewählter Situation in den Regierungszeiten Akbars und G Quellenbeispiele. Audienzen stellten nicht nur das Setting der Begegnungen zwischen Herrscher und Elite (und Volk) dar, sondern trugen außerdem durch ihr Zeremoniell und ihre Prozesshaftigkeit zur permanenten Aushandlung der Herrscher-Eliten-Bevölkerungsbeziehung bei. Der Tag eines Mogulherrschers begann mit einer Art allgemeiner Audienz, die Großen und Niederen offenstand und zum Sonnenaufgang abgehalten wurde. Dazu zeigte der Herrscher sich in einem fensterartigen Balkon ( jharo¯ka), der über einen offenen Platz blickte. Dort versammelten sich – nach Rängen abgestuft – Eliten und einfaches Volk. Während dieser Morgenaudienz wurden auch, durch einen damit betrauten „Petitionsverwalter“ geordnet, Bittschriften, Beschwerden und andere Vorbringungen auch einfacher Bewohner des Herrschaftsgebietes verhandelt. Bereits in einem engeren Rahmen fand mehrmals täglich eine Audienz für die Eliten statt, bei der ebenfalls nach Rängen geordnet, die am Hof anwesenden Mitglieder der Verwaltung, des Militärs, aber auch der Hofwerkstätten anwesend waren. In diesem 26 Für den Iran des 12. Jh.s hat Jürgen Paul eine ähnliche, auf Dienst (hidma) gegen Wohltun ˘ und imperiale Herr(niʿma) basierende soziale Ordnung beschrieben: Jürgen Paul, Lokale schaft im Iran des 12. Jahrhunderts. Herrschaftspraxis und Konzepte (Iran – Turan 13), Wiesbaden 2016. Die Wirkungsweise dieser hidma-niʿma-Beziehungen zwischen Herrscher ˘ Bedeutung für die Herrschaftsausübung zu und Elite im Mogulreich zu verfolgen und ihre untersuchen, ist ein Desiderat, dem im SFB 1167 nachgegangen werden soll.

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Rahmen wurden z. B. Berichte und Gaben von Provinzgouverneuren angenommen und verhandelt, wenn diese zu Hofe kamen, oder die oben beschrieˇ aha¯ngı¯rı¯‘ benen mansab-Ränge vergeben oder geändert. In seinen ‚Magˇa¯lis-i G ˙ 27 ˇ aha¯ngı¯r beschreibt ʿAbd al-Satta¯r b. Qa¯sim La¯ho¯rı¯ eine solche Audienz unter G wie folgt: „Ich sah, dass der Herrscher der Religion und der Welt auf dem Thron von Reichtum und Glück saß und von der Erde bis zum Himmel sein gesegneter Scheitel von einem Schleier glänzenden Lichts umflossen war. Prinzen höchsten Standes und Befehlshaber über große Angelegenheiten, deren jeder über Provinzgouverneure Befehlsgewalt hat, standen Kreis um Kreis rings um den Thron herum, die Hand auf der Brust. Gelehrte der Wissenschaften, jeder Konfession und jeder Rechtsschule – Mohammedaner [sic!], Christen und indische Brahmanen, sowie die bis ins letzte Detail bewanderten Gelehrten der Theologie, der Naturwissenschaften, der Mathematik und der Ingenieurskunst – ein jeder stand gemäß seines Standes und Ranges zusammen [mit seinesgleichen].“28

Ähnliche Strategien der Darstellung wie in diesem Textbeispiel sind auch aus anderen Regierungszeiten bekannt. So berichtet z. B. Chandra Bha¯n Brahma¯n in ˇ aha¯r C ˇ aman‘ vom Hof Sˇa¯h G ˇ aha¯ns auf sehr ähnliche Weise.29 In beiden seinen ‚C Textbeispielen finden sich diejenigen Charakteristika, die auch an der eingangs vorgestellten Figurengruppe sowie in unzähligen Miniaturen beobachtet werden können, die eine Mogul-Audienz darstellen. Der Herrscher ist zentral, häufig erhöht (in der jharo¯ka oder einem erhöhten Thron mit Baldachin) platziert. In den bildlichen wie textuellen Darstellungen fällt die Lichtsymbolik ins Auge: Der „Schleier glänzenden Lichts“, den ʿAbd al-Satta¯r uns beschreibt, findet sich spätestens seit der Akbarzeit auf Miniaturen als Auszeichnung des Herrschers in Form eines Nimbus. Auch Prinzen werden gelegentlich mit kleineren Lichtkreisen bezeichnet. Die Audienzteilnehmer scharen sich in Kreisen um den Thron. In den Textquellen fällt die wiederkehrende Verwendung von Wortˇ andra Bha¯n dopplungen in der Darstellung auf. Sowohl ʿAbd al-Satta¯r als auch C berichten, die Teilnehmer stünden „Kreis um Kreis“ (pers.: gird-gird) und strikt

27 Vgl. Kollatz 2016 (narratologische Analyse und Übersetzung ins Deutsche); ʿAbd al-Satta¯r ˇ aha¯ngı¯rı¯, ed. ʿArif Nausˇa¯hı¯/Moʿı¯n Niza¯mı¯, Teheran 2006 b. Qa¯sim La¯ho¯rı¯, Magˇa¯lis-i G (Edition der inzwischen verschollenen einzig bekannten Handschrift). Vgl. auch Corinne Lefevre, The Magˇa¯lis-i Jaha¯ngı¯rı¯ (1608–11). Dialogue and Asiatic Otherness at the Mughal Court, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 55/2–3 (2012), S. 255–286; Alam/Subrahmanyam 2009. ˇ aha¯ngı¯rı¯, 29 (Übers. A. K.). 28 ʿAbd al-Satta¯r b. Qa¯sim La¯ho¯rı¯, Magˇa¯lis-i G 29 Vgl. dazu Rajeev Kinra, Writing Self, Writing Empire. Chandar Bhan Brahman and the Cultural World of the Indo-Persian State Secretary, Oakland, CA 2015. Eine ausführliche ˇ aha¯r C ˇ aman, ed. Beschreibung einer Audienz am jharo¯ka-Fenster beschreibt Chandra Bha¯n, C Syed M. Y. Gaʿfarı¯, Delhi 2007, 89f.

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nach ihrer Zugehörigkeit zu Funktionsgruppen und Rängen geordnet.30 Im oben zitierten Textbeispiel fällt weiterhin die Aufzählung der diversen ‚Rechtsschulen‘ auf, gemeint sind Religionsgruppen, die hier unter anderen Funktionsgruppen erscheinen. Die religiöse Zuordnung der Teilnehmer erscheint damit wenig zentral, sondern geht in der Gruppe der am Hof versammelten Spezialisten jeglicher Couleur auf. Die Audienz fungiert als Mikrokosmos des Reiches, in dem alle Fragen thematisiert werden, die das Reich und seine Vielfalt aufwerfen. Dies geschieht auf textueller Ebene durch Wiedergabe von Diskussionen, Erzählung und Besprechung von Anekdoten etc. Abgesehen von dieser bereits exklusiveren Audienz waren sowohl in den Forts der Residenzstädte, aber auch im Aufbau des mobilen Hofs Räumlichkeiten für weit privatere Gespräche vorgesehen, in denen sich der Herrscher z. B. mit dem engsten Kreis seiner Eliten beraten, aber auch unterhalten konnte. Die ‚Magˇa¯lis-i ˇ aha¯ngı¯rı¯‘ zeigen, dass sich im Anschluss an die Eliten-Audienz jeweils kleinere G Gruppen ausgewählter Teilnehmer mit dem Herrscher in privatere Räume zurückzogen, in denen ungestörte Gespräche möglich waren. Manche gehörten offenbar zu einem festen Kreis, andere kamen nur manchmal hinzu. Darüber hinaus haben wir auch Text- und Bildzeugnisse von nochmals exklusiveren Zusammentreffen im Bereich der Privaträume des Herrschers oder in seinen Gärten, die zum Harem und damit eigentlich zum von der Öffentlichkeit abgetrennten Bereich gehörten. Hier fanden auch Audienzen für und mit den weiblichen wie männlichen Mitgliedern der Herrscherfamilie statt, über die uns z. B. Ba¯burs bereits erwähnte Tochter Gulbadan berichtet. Auch Treffen der Familienmitglieder mit dem Herrscher waren von einem gewissen Zeremoniell geprägt. Sie sind insofern zumindest als audienzähnliche Gelegenheiten zu verstehen. Gulbadan berichtet etwa von einem Treffen mit ihrem Vater. Sie benutzt hierbei das gleiche persische Wort, das auch offizielle Audienzen (mula¯zama) sowie die Ehrerbietung und den Herrschergruß eines Einzelnen in der Audienz bezeichnet (mula¯zamat kardan). Ihre Ziehmutter weist sie etwa an: „Wenn es tagt, sollt Ihr der Majestät (dem Pa¯disˇa¯h) Eure Ehre erweisen (mula¯zamat kunı¯d).“31 Das Treffen oder die Audienz selbst findet in unterschiedlichen räumlichen Kontexten statt. Zunächst steht der Tochter des Herrschers als Prinzessin eine Eskorte aus mehreren (Elefanten)sänften, Pferden und fast hundert berittenen Dienern zu, die sie an ihrem aktuellen Aufenthaltsort abholt und in einen Garten bringt, wo sie von einem Stellvertreter ihres Vaters (halı¯fa-yi ba¯bam) in einem ˘ Gastmahl unterhalten wird. Auch hierbei gilt ein strenge Etikette, die der Prinzessin durch den Stellvertreter erläutert wird. So hat sie ihn in seiner Funktion ˇ andra Bha¯n, C ˇ aha¯r C ˇ aman, 89, 90f.; Vgl. auch Kinra 2007, 112f. 30 C 31 Gulbadan, Huma¯yu¯n-na¯ma, MS London Or. 116, f. 14r-v (Übers. A. K.).

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durch Aufstehen zu grüßen, während seine Frau, die keine offizielle Funktion im Zusammenhang mit dem Herrscher trägt, sich der Prinzessin gegenüber ehrerbietig erweisen muss.32 Sowohl der Stellvertreter als auch seine Frau bringen sodann separate Geschenke (pı¯ˇskasˇ) vor die Prinzessin und laden sie zum Mahl. Erst danach zieht die Prinzessin, nun in Begleitung auch des Stellvertreters, weiter zum Aufenthaltsort ihres Vaters. Das Setting und der Ablauf dieses Zusammentreffens werden leider nicht beschrieben. Gulbadan beschränkt sich auf die Aussage: „Nachdem wir gegessen hatten und ich die Sänfte bestiegen hatte, zogen wir zur Audienz seiner Majestät meines Vaters, des Pa¯disˇa¯hs (dar mula¯zamat-i haz˙rat-i pa¯disˇa¯h-i ˙ ba¯bam). Ich erwies ihm die Ehre (mula¯zamt kardam) und fiel zu seinen Füßen. Majestät stellte mir viele Fragen und er hielt mich lange in seinem Arm. Da war diese Niedrigste so glücklich, wie man glücklicher nicht sein kann.“33

Das hier beschriebene Zusammentreffen vereinigt sowohl ‚offizielle‘ als auch ‚private‘ Elemente. Während bei der Anreise der Prinzessin dem Zeremoniell genüge getan wird, erscheint das eigentliche Zusammentreffen mit dem Herrscher eher informell und vertraut. Ähnliches gilt auch für größere Gesellschaften im Bereich der zana¯na, also dem Bereich der Frauen. Bei einem Fest zur Einweihung der tilsim-ha¯na existiert zwar eine strikte, nach dynastischer Zugehö˘ rigkeit und Abstammung ausgerichtete Sitzordnung. Im Verlaufe des Festes werden zudem performative Elemente wie verschiedene Formen des Gabentauschs aus dem höfischen Zeremoniell aufgenommen. Die Feier wandelt sich im Verlauf dann in ein Vergnügungsfest.34 All diese Audienz-Formate dienten dem Austausch, der Diskussion (dies in den privateren Formaten), aber auch der Repräsentation von Herrschaft und ihrem Verhältnis zu Dynastie, Eliten und Volk. Die Rangordnung in den Audienzen war explizit nicht an ethnischen oder religiösen Kriterien ausgerichtet. Vielmehr wurden die Anwesenden ihrem Verwandtschaftsgrad, ihrer Funktion, bzw. ihrem Rang im mansab-System nach geordnet. ˙ Der Hof als Mikrokosmos des Reiches bot auch Raum für transkulturelle Bemühungen auf kultureller Ebene. Schon früh wurden z. B. Übersetzungen von Sanskrit-Texten gefördert, die technisches, medizinisches und naturwissenschaftliches Wissen für Persisch-Sprachige erschließen sollten. Dabei blieb es aber nicht – vielmehr wurden auch epische Texte wie z. B. Heldenerzählungen übersetzt, die die Ideen und Normvorstellungen indischer Kulturen in das

32 Vgl. ebd., f. 14v. 33 Ebd., f. 15r (Übers. A. K.). 34 Vgl. ebd., f. 24r–26r.

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geistige Archiv der Moguln und ihrer Elite übertragen sollten.35 Auch auf religiöser Ebene finden sich integrative Strategien, die sich als transkulturell bezeichnen lassen. Bereits in seiner nur kurz bewohnten Residenzstadt Fathpur Sikri hatte Akbar eine sogenannte ʿiba¯dat-ha¯na, ein „Haus des Gottesdienstes“ ˘ errichten lassen. Diese Räumlichkeit, die auch im mobilen Hofstaat der Akbarˇ aha¯ngı¯rzeit integriert war, stellte einen weiteren der räumlichen Kontexte und G dar, in denen Interaktion des Herrschers mit seinen Eliten oder dem Volk stattfand. In der ʿiba¯dat-ha¯na traf der Herrscher mit Vertretern der unter˘ schiedlichen am Hof und im Reich vorhandenen Religionen zusammen. Hatte Akbar hier zunächst Streitgespräche zwischen Vertretern der islamischen Glaubensrichtung abgehalten, kamen bald auch Brahmanen dazu, sowie die von Akbar eigens angeforderten Jesuiten aus dem portugiesischen Goa.36 In den Disputen, die zum Teil erhalten sind, nahm der Herrscher eine neutrale, auf ‚rationale‘ Argumentation bedachte Position ein. Dogmatische Argumente jeglicher Religionsvertreter wurden abgelehnt und für nichtig erklärt. Insbesondere wurde jegliche Form von Verurteilungen der anderen Glaubensgemeinschaften getadelt. Aus dieser Form der Auseinandersetzung mit Diversität erwuchsen eine Reihe von Idealen, die fortan den Umgang mit Religionsgruppen im Reich prägen sollte. Unter dem sulh-i kull, einem allgemeinen Religionsfrieden, wurde jeder ˙ ˙ Religionsgruppe im Reich die Ausübung ihres Glaubens garantiert. ʿAbd alSatta¯r legt seinem Herrscher folgendes Gebet in den Mund, das die Bedeutung des Religionsfriedens, zusammen mit der Abwehr von Intoleranz, unterstreicht: „Gott der Höchste möge alle seine Diener vor der Krankheit des religiösen Eifers bewahren. Insbesondere möge er uns, den Beschützer Aller [bewahren], denn so wie der Schöpfer mit all’ seinen Geschöpfen seinen gnädigen und leitenden Blick von niemandem abwendet, genau so haben wir unseren Blick vor Rechtsschulen und Volksgruppen verschlossen und sehen auf alle Geschöpfe Gottes mit gnädigem und schützendem Blick. Ein jeder hat durch uns Arbeit und Lohn, denn wir lassen niemanden fallen, [auch wenn] er den Fuß außerhalb der Grenzen der Gerechtigkeit und des Rechts gesetzt hat.“37

35 Vgl. z. B. Audrey Truschke, Culture of Encounters. Sanskrit at the Mughal Court, New York 2016. Die Translation indischer Texte und ihre Inkorporation in den indo-persischen Korpus untersucht das Projekt Perso-Indica: http://www.perso-indica.net/ (10. 07. 2019). 36 Vgl. Franke 2005; Alam/Subrahmanyam 2009; zur jesuitischen Mission auch Jorge Flores, The Mughal Padshah. A Jesuit Treatise on Emperor Jahangir’s Court and Household, Leiden 2015; ders., Dois retratos portugueses da Índia de Jahangir. Jerónimo Xavier e Manuel Godinho de Erédia, in: Jorge Flores/Nuno Vassalo e silva (edd.), Goa e o GrãoMogol, Lissabon 2004, 44–66; Arnulf Camps, Jerôme Xavier S. J., and the Muslims of the Mogul Empire. Controversial and Missionary Activity, Schöneck/Beckenried 1957. ˇ aha¯ngı¯rı¯, 78 (Übers. A. K.). Vgl. auch Kollatz 37 ʿAbd al-Satta¯r b. Qa¯sim La¯ho¯rı¯, Magˇa¯lis-i G 2016, 259ff.

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Gleichzeitig wird hier auch die Schutz- und Fürsorgefunktion des Herrschers gegenüber all seinen Untertanen betont. Zur zusätzlichen Bindung der Elite an dieses Ideal diente das, was von der älteren Forschung als ‚Akbars Gottesreligion‘ bezeichnet und zum Teil als Religionsgründung missverstanden wurde. Es erscheint aber wesentlich plausibler, den in den Quellen als dı¯n ilahı¯ bezeichnete h ö f i s c h e n Orden als eine Art zusätzlicher Maßnahme zur Bindung der Elite an den Herrscher einerseits und zur Verpflichtung derselben auf die genannten Ideale zu verstehen. Die Kernbestandteile dieses ‚Ordens‘ wurden aus verschiedensten Quellen zusammengestellt: Wir treffen wieder auf die Gleichsetzung des Herrschers mit der Sonne und finden in der Akbarzeit eine Form der Sonnenund Feuerverehrung, die an hindu-religiöse und zoroastrische Vorbilder anknüpft. Als weiterer ‚indischer‘ Bestandteil ist der Aufruf zum Vegetarismus zu sehen: Das Schlachten und Verzehren von Tieren war so z. B. an den Geburtstagen ˇ aha¯ngı¯r beschreibt, welche Beder Herrscher sowie an Sonntagen verboten. G lehrungen sein Vater neuen Anhängern auf den Weg mitzugeben pflegte: „Sie sollen ihr Leben nicht durch Feindschaften zwischen den (Religions)gruppen verdüstern, sondern mit den Mitgliedern aller Gruppen in absoluter Friedfertigkeit (sulh-i kull) zusammenleben. Sie dürfen kein Tier mit der eigenen Hand töten und die ˙ ˙ Natur nicht verunreinigen, es sei denn im Kampf oder auf der Jagd. […]“38

Über den drei Säulen Identitätsstiftung, allgemeiner Religionsfriede und Öffnung der normativen Basis durch Translation und der Kombination ‚islamischer‘ und ‚indischer‘ Vorstellungen stand als übergreifendes Dach der Herrscher. Er wurde nicht nur als Zentrum seines Hofes oder seines Herrschaftsgebietes, sondern als Zentrum und ‚Gebetsrichtung‘ der dieseitigen und jenseitigen Welt dargestellt.39 Als zentraler ‚typisch Mogulischer‘ Wert wird in den ‚Magˇa¯lis-i ˇ aha¯ngı¯rı¯‘ die Toleranz (bı¯-taʿassubı¯) propagiert, die eng in Verbindung mit dem G ˙˙ universellen Religionsfrieden steht. An unzähligen Beispielen, bei denen sowohl Gelehrte, als auch andere Herrscher oder Religionsvertreter als Kontrastfolie ˇ aha¯ngı¯rı¯‘ die Toleranz des genutzt werden, wird dem Leser in den ‚Magˇa¯lis-i G Herrschers vorgeführt, an dessen Beispiel der Leser sich orientieren soll. Darüber hinaus wird der „gesunde Menschenverstand“ (aql) des Herrschers vorgeführt, der sämtlichen Gelehrten überlegen ist. Dies geschieht in vielfältigen Themenfeldern, so Religionsdiskussionen, naturwissenschaftlichen Betrachtungen, aber auch bei der Darstellung der unfehlbaren Spürnase des Herrschers bei der Lösung von Kriminalfällen. Kraft dieser imperialen Ratio ist der Herrscher fähig, die den verschiedenen Religionsgruppen eigenen Kulte zu durchdringen und deren eigentlichen, verborgenen Sinn zu erkennen.40 Dies soll ein letztes Text38 39 40

ˇ aha¯ngı¯r, G ˇ aha¯ngı¯r-na¯ma, ed. Muhammad Ha¯sˇim, Teheran 1980, 36 (Übers. A. K.). G ˙ Vgl. Kollatz 2016, 186–196. Vgl. ebd., 246–258.

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ˇ aha¯ngı¯rs wieder, in beispiel veranschaulichen. Wir finden uns in der Audienz G 41 der einige muslimische Gelehrte die Rituale der ‚Inder‘ kritisieren, die diese anlässlich einer Mondfinsternis ausführen. Der Erzähler zitiert die muslimischen Gelehrten: „Diese Dekkaner Leute sind an sich in Ordnung, dies hat [ jedoch] keinen Nutzen und ist unbegründet.“42 Daraufhin beginnt der Herrscher eine Argumentationskette, die zunächst hindu-religiöse und muslimische Rituale gleichsetzt: Beide führen rituelle Waschungen aus und geben Almosen, um sich vor den negativen Einflüssen der Mondfinsternis zu schützen. Im zweiten Schritt verknüpft der Herrscher diese Rituale mit einem gemeinsamen Ziel, welches er aus dem mystischen Kontext entlehnt: Die Rituale seien eigentlich Ausdruck des Wunsches, sich vom Weltlichen zu befreien und rein wie die „Himmelsbewohner“ (a¯simaniya¯n) zu werden. Nachdem die dogmatische Argumentation der Religionsgelehrten als nicht überzeugend zurückgewiesen und die verstandesgemäße Durchdringung von Sachverhalten zum Maß der Dinge erklärt wurde, werden die Rituale der einzelnen Gruppen gleichsam als ‚Folklore‘ akzeptiert, aber mit einem neuen, gemeinsamen Kern verbunden. Dies geht so weit, dass auch Darstellungen von Hochfesten der jeweiligen Religionen (so das islamische Opferfest und das hinduistische Diwali) mit einem neuen Sinn überblendet ˇ aha¯ngı¯rı¯‘ werden die Rituale von ihrem religiösen werden. In den ‚Magˇa¯lis-i G Gehalt getrennt und als Feierlichkeiten zu Ehren des Herrschers uminterpretiert, unter dessen toleranter und durch den Verstand geleiteten Hand sich alle Untertanen sicher fühlen können. Diese Befunde dürfen nicht als allgemeingültig für das gesamte Mogulreich verstanden werden. Die hier präsentierten Beispiele beziehen sich schwerˇ aha¯ngı¯rs. In dieser Zeit finden sich punktmäßig auf die Zeiten Akbars und G Strategien der Integration am Hof, die sich auf personale und transpersonale, verwaltungstechnische, kulturelle, religiöse und schließlich herrschaftsphilosophische Grundlagen stützen. Transkulturalität im Sinne einer Kombination und Verschmelzung unterschiedlicher Einflüsse spielt hierbei eine große Rolle. Ob und in welchem Maße solche Strategien von den späteren Mogulherrschern weiterverfolgt, verändert oder umgebaut wurden, ist bis heute eine unbeantwortete Frage. Die Mogulforschung ist hier noch auf dem Stand der britischen Kolonialzeit, vielfach sind Quellen nur sehr selektiv und interessengeleitet gelesen worden. Es liegt also viel Arbeit vor uns.

41 Der Text verwendet den Terminus hindu¯/hindı¯ sowohl im Kontext religiöser als auch ethnischer Bezeichnung. ˇ aha¯ngı¯rı¯, 13 (Übers. A. K.); vgl. auch Kollatz 42 ʿAbd al-Satta¯r b. Qa¯sim La¯ho¯rı¯, Magˇa¯lis-i G 2016, 241f., 306.

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Diana Ordubadi / Dittmar Dahlmann

Die ‚Zeit der Wirren‘ und die Moskauer Selbstherrscher (1598–1613) aus russischer Perspektive und in zeitgenössischen ausländischen Berichten

Abstract In Russian history, the period between the death of Fedor Ivanovitch, the last male family member of the House of Rjurik, in 1598 and the vocation to the throne of Michail Fedorovitch, founder of the Romanov dynasty in 1613, is called ‘the time of troubles’. The extinction of the old ruling dynasty led to a deep crisis of power and society. This crisis even called into question the Russian model of autocracy (samoderzhavie). With regard to the interior policy, successions in Moscow had to be legitimized as well by the Russian church as by the state assembly (so called zemskie sobory). This article deals with the accession to the throne by Boris Godunov, Fedor Godunov, False Dmitriy I, Vasilij Shuiskiy and Michail Romanov. Special attention is devoted to the question whether the respective rulers could claim the legitimization of the old Russian traditional principles of starina or rather depended on personal factors and the acclamation to power by the state assemblies. The principle of the selection of the ruler by God’s grace (bogoizbrannost’) also played an important role and contributed amongst other factors to the strictly ceremonial theatricalization of the rule of the Russian Czars. Since the 15th century, more and more foreigners came to the Moscow empire, including merchants, diplomats, doctors, pharmacists and soldiers. Their number grew more and more in the following decades due to the increased demand of specialists of all kinds and the more intensive relations to Western and Central Europe. Even in the ‘time of troubles’, there were still numerous foreigners in Muscovy. Among them were mercenaries, as there was an increased demand for trained and combat-driven soldiers due to the interior disorders. One of them was Conrad Bussow who wrote a detailed account of the tragic and bloody events at the turn of the 16th to the 17th century. It was not printed before the middle of the 19th century, but several copies were known. Bussow served both Boris Godunov and the first false Dmitriy and for a short time Vasilij Shuiskiy. He did not regard any of them as a legitimate ruler. Even Boris Godunov only came to power by “clever wisdom”. Like some other foreign witnesses, Bussow saw the bloody events as a punishment of God, because all rulers lacked divine legitimation.

Als ‚Zeit der Wirren‘ (smuta oder smutnoe vremja) wird in der russischen Geschichte eine Zeitspanne zwischen dem Tod des letzten Zaren aus der RjurikidenFamilie Fedor Ioannovicˇ 1598 und dem Jahr 1613 bezeichnet, als Michail Fedo-

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rovicˇ, der Gründer der Romanov-Dynastie, auf den Thron berufen wurde. In der kurzen Periode von 15 Jahren erlebte Russland den Wechsel von fünf Herrschern: Boris Godunov, sein Sohn Fedor Godunov, Pseudodemetrius, Vasilij Sˇujskij und Michail Romanov selbst. Nach dem Aussterben des alten Herrscherhauses mussten die Herrschaftsübergänge in Moskau neu definiert werden und der gesellschaftliche Prozess der Durchsetzung von einschlägigen Legitimationsstrategien für die Thronkandidaten setzte ein. Diese einzigartige Periode der russischen Geschichte wurde bereits von den Zeitgenossen als sehr „verwirrend“ bzw. als „verworren“ empfunden. Der Interregnum-Zustand (mezˇduvlastie) war ungewöhnlich und wirkte somit beängstigend auf die einfache Bevölkerung. Die dadurch ausgelöste Macht- und Gesellschaftskrise erforderte von den Herrschaftseliten die Suche nach neuen Regierungsformen und stellte sogar das russische Modell der Selbstherrschaft (samoderzˇavie) zwischenzeitlich in Frage. Während die obersten Schichten in Moskau damit beschäftigt waren, den russischen Staat und ihren Platz darin zu begreifen und zu definieren, gestaltete sich das Bild des kulturell in sich ziemlich abgeschlossenen Moskowiens im Ausland und für die ausländischen Reisenden in Moskau noch unübersichtlicher.

1.

Die Smuta aus russischer Sicht

Der Ausbruch der smuta, einer tiefen Herrschaftskrise in Moskowien, wird in der Literatur oft auch auf die Herrschaftsjahre von Ivan IV.,1 besser bekannt als Groznyj („der Schreckliche“) sowie auf die Terrorpolitik innerhalb seines Zartums zurückgeführt und mitunter auf seinen Tod 1584 datiert. Dieser Auffassung zum Beginn der ‚Zeit der Wirren‘ muss nicht zwingend zugestimmt werden, doch sie trägt eindeutig zum besseren Verständnis dieser Epoche bei. Auch die Wahl von Michail Romanov 1613 zum Herrscher beendete nicht über Nacht eine tiefe politische und gesellschaftliche Krise im Lande. Das Datum ist eher symbolisch von der russischen Geschichtschreibung als Zäsur gewählt, um zu suggerieren, dass eine erfolgreiche Begründung einer neuen Dynastie von Selbstherrschern für die Wiederherstellung der politischen Stabilität in Russland sorgen konnte.2 Die Manifestierung des russischen Begriffs samoderzˇec („Selbstherrscher“) als Teil des offiziellen Titels des Zaren wird auf die Mitte des 16. Jahrhunderts datiert. Nachdem Ivan IV. sich als erster Moskauer Herrscher mit dem Titel „Zar von ganz Russland“ (und nicht nur als „Großfürst von Moskau“) hatte krönen 1 Vgl. unter anderem Ruslan G. Skrynnikov, Ivan der Schreckliche und seine Zeit, Augsburg 1997; Ian Grey, Ivan der Schreckliche. 1530–1584. Eine Biographie, Tübingen 1988. 2 Vgl. Sergej F. Platonov, Ocˇerki po istorii Smuty, Izdanie tret’e, Sankt-Peterburg 1910, 531– 534.

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lassen, beginnt von Moskowien aus auch die Benutzung des Status-Titels samoderzˇec, z. B. in der Korrespondenz mit Polen oder mit dem Heiligen Römischen Reich. Die Verwendung trug damals aber noch sporadische, nicht reguläre Züge. Fest etabliert hat sich dieser Titel des Zaren erst in der Herrschaftszeit von Ivans Sohn Fedor.3 Dennoch beschäftigte sich Ivan der Schreckliche intensiv mit dem Sinn des Phänomens samoderzˇavie. Dabei stützte er sich auf die Lehre von Agapetos, einem oströmischen Kleriker des späten 6. Jahrhunderts, dessen Schriften großen Einfluss auf das theosophische Verständnis der zarischen Macht in Moskau hatten. Besonders wichtig erscheint hier die These über die doppelte Natur eines Herrschers, die sterbliche und die unsterbliche.4 Die Kernaussage von Agapetos dazu in Bezug auf Kaiser Justinian den Großen (527–565) lautet: „Seinem Wesen nach ist der Kaiser allen anderen Menschen gleich, in seiner Macht ist er aber wie Gott.“5 Das erinnert nicht nur an die Kernaussage des Werkes ‚Die zwei Körper des Königs‘ von Ernst Kantorowicz,6 es handelt sich um das gleiche Prinzip, denn schließlich verweist Kantorowicz selbst unter anderem auch auf Agapetos. Somit setzt das russische Phänomen von samoderzˇavie im Sinne der Selbstherrschaft die Transpersonalität der russischen Herrscher voraus. Am besten trifft es der Satz „Der König stirbt nie“7. Der Begriff samoderzˇec, also „Selbstherrscher“, wird zudem in der russisch-orthodoxen Tradition eng mit dem Begriff vsederzˇitel’, also „Pantokrator“ nach dem Vorbild Jesu im Sinne von All- und Weltenherrscher verknüpft.8 Und genauso wie es nur einen einzigen wahren Gott gebe, könne es nach dieser Vorstellung nur einen wahren Herrscher geben, der die ganze Macht in seinen Händen vereint und diese nicht mit einfachen unmündigen Sterblichen teilen darf. Religiöse und gleichzeitig herrschaftslegitimierende Bedeutung hatte unter anderem die Idee vom byzantinischen Erbe der russischen Zaren.9 Die Vorstel3 Aleksandr Filjusˇkin, Tituly russkich gosudarej, Moskva/Sankt-Peterburg 2006, 63. 4 Vgl. David Khunchukashvili, Der imaginierte und historische Zar. Die Herrschaft Ivans IV. und das theologisch-semiotische Bild des Zaren, Masterarbeit, unveröffentlichtes Manuskript, München 2017, 14. 5 Vgl. Ihor Sˇevcˇenko, A Neglected Byzantine Source of Muscovite Political Ideology, in: Michael Cherniavsky (ed.), The Structure of Russian History. Interpretative Essays, New York 1970, 80–107, zit. nach Khunchukashvili 2017, 14. 6 Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. The King’s Two Bodies. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 2. Aufl., München 1994. 7 Ebd., 317. 8 Vgl. Nikolaj Rozˇdestvenskij Nikon, Samoderzˇavie po obrazu vsederzˇitel’stva, Moskva 1906. 9 Vgl. dazu ausführlicher unter anderem Peter Nitsche, Moskau – das dritte Rom?, in: Jutta Frings (ed.), Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht, München 2004, 101–109; Heinz Setzer, Moskau – das Dritte Rom, in: Rolf-Dieter Kluge/Heinz Setzer (edd.), Tausend Jahre Russische Kirche. 988–1988. Geschichte, Wirkungen, Perspektiven (Studium Generale), Tü-

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lung von ‚Moskau als Drittem Rom‘ basierte auf dem Gedanken der göttlichen Fügung und der Auserwähltheit von Moskau als direktem Erben von Byzanz und somit zum Hüter der christlichen Orthodoxie weltweit. Die russischen Zaren begriffen sich dadurch als weltliche Alleinherrscher von Gottes Gnaden bzw. folgten dieser Argumentation bei der Legitimation ihrer Macht. Außenpolitisch drückte natürlich die Doktrin über ‚Moskau als Drittes Rom‘ vor allem den Wunsch aus, die schwache Stellung der Moskauer Kirche unter den übrigen Zentren der Orthodoxie zu verbessern, aber innenpolitisch spiegelte sie die wachsende Bedeutung der sich manifestierenden Autokratie in Moskau wider.10 Wichtig ist jedoch anzumerken, dass die Vorstellung von einer absoluten Macht im heutigen Sinne im Mittelalter in Moskowien noch nicht existierte. Somit war mit der Bezeichnung samoderzˇec zu der Zeit nur ein Herrscher gemeint, der seine Macht nicht mit Verwandten oder Mitregenten teilen musste bzw. wollte.11 Den Einfluss der Bojaren, der altrussischen Aristokratie, auf den Herrscher zu beschränken, gehörte seit Ivan IV. mehr oder weniger konstant zu den Hauptintentionen der russischen Herrscher noch während der smuta, aber auch danach. Die ‚Zeit der Wirren‘ war daher durch Kämpfe um die Macht nicht nur zwischen unterschiedlichen Thronanwärtern, sondern auch zwischen den Herrschern und ihren Staatseliten gekennzeichnet. In der offiziellen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die sich sehr loyal zu dem Herrscherhaus der Romanovy verhalten zu müssen glaubte, erscheint die Frage nach der einzig passenden Regierungsform in Russland eindeutig geklärt. Hier werden der Ausgang und die Geschehnisse während der ‚Zeit der Wirren‘ als eindeutige Argumente für die zentralistischen Alleinherrschaftsansprüche der russischen Zaren benutzt. So postulierte Nikolaj Karamzin z. B. Folgendes: „Russland […] litt unter der Mehrherrschaft und wurde nur durch das weise samoderzˇavie gerettet.“12 An anderer Stelle vertiefte er die Idee mit folgenden Worten: „Russland ist nicht England, nicht einmal das Zartum Polen, Russland hat sein eigenes – großes, beachtliches – staatliches Schicksal […] Das Samoderzˇavie ist seine Seele, sein Leben, genauso wie die republikanische Regierung das Leben im Alten Rom darstellte.“13

10 11 12

13

bingen 1989, 43–61; Andrej N. Sacharov, Drevnjaja Rus’ na putjach k „Tret’emu Rimu“, Moskva 2006; Al’bert Kazˇarov, Vizantija i Rus’, Moskva 2009. Vgl. Ruslan G. Skrynnikov, Boris Godunov, Moskva 1978, 60. Filjusˇkin 2006, 55. Nikolaj M. Karamzin, Zapiska o drevnej i novoj Rossii v ejo politicˇeskom i grazˇdanskom otnosˇenijach, in: Russkaja social’no-politicˇeskaja mysl’ XIX–XX vekov: N. M. Karamzin, Moskva 2001, 84. Zit. in eigener Übersetzung nach Aleksandr Bochanov, Samoderzˇavie. Ideja carskoj vlasti, Moskva 2002, 32. Nikolaj M. Karamzin, Istorija Gosudarstva Rossijskogo, Tom 1, Moskva 1989, 500. Zit. in eigener Übersetzung nach Bochanov 2002, 32.

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Im Bedeutungswörterbuch von Vladimir Dal’ findet man zwei Definitionen. Der Begriff samoderzˇavie wird definiert als „vollmächtige, uneingeschränkte Regierung, abhängig weder von Staatsinstitutionen oder Länderversammlungen noch von Wahlmännern aus dem Zemstvo bzw. von anderen Staatsrängen“14. Diese Beschreibung entspricht der bereits erläuterten Deutung von samoderzˇavie im Sinne von alleiniger, uneingeschränkter Herrschaft. Dal’ geht aber in seiner Definition noch weiter: Nach seiner Umschreibung setzt er ein großes Oder und fasst das Ganze zusammen als samaja vlast’ e˙ta. Russische Selbstherrschaft als samoderzˇavie wird dadurch mit ‚Macht allgemein‘ gleichgesetzt.15 Eng verbunden mit der Durchsetzung dieser Vorstellung über die russische Selbstherrschaft war auch eine fortschreitende Zentralisierung des Reichs mit der Konzentration der ganzen Staatsmacht in den Händen des Zaren mit dem Sitz in Moskau. Jeder der Moskauer Herrscher während der ‚Zeit der Wirren‘ war allein schon im Interesse seiner politischen Unantastbarkeit und rein körperlichen Unversehrtheit außerordentlich darum bemüht, diesen Prozess voranzutreiben und dabei die eigene Legitimation gegenüber den Herrschaftseliten zu festigen. Nach dem Tod Ivans des Schrecklichen folgte ihm auf dem Thron sein Sohn Fedor Ioannovicˇ. Der Herrschaftsübergang 1584 verlief völlig reibungslos, da die Krönung Fedors genau dem moskowitischen Prinzip von starina entsprach, d. h. der alten russischen traditionellen Ordnung, wonach die Thronfolge normalerweise im Rahmen der Herrscherfamilie selbst geklärt und geregelt wurde.16 Das dynastische Prinzip oder im äußersten Fall das altaristokratische Abstammungsprinzip spielten dabei eine herausragende Rolle. Seit dem 14. Jahrhundert setzte sich bei der Bestimmung des Thronfolgers langsam die Primogenitur gegenüber dem Senioratsprinzip durch.17 In krisenhaften Zeiten konnte aber auch ein anderer männlicher Verwandter des Zaren oder sogar eine Frau, wie z. B. die Ehegattin18 – dies aber erst im äußersten Ausnahmefall – für die Herrschaft bestimmt werden. Bei fehlenden eindeutigen Thronfolgern fiel die Aufgabe, einen neuen Herrscher auszurufen, der Institution des sogenannten zemskij sobor zu, einer „Landes- oder Reichsversammlung“, die formal aus Vertretern des ganzen russischen Landes bestehen und somit für das ganze Volk sprechen 14 Eigene Übersetzung aus Tolkovyj slovar‘ Vladimira Dalja, http://gufo.me/content_dal/samo derzhavie-37305.html (31. 03. 2017). 15 Vgl. Bochanov 2002, 25. 16 Zu Besonderheiten und dem Wandel des russischen Thronfolgeprinzips in der alten Rus’ vgl. ausführlicher Peter Nitsche, Großfürst und Thronfolger. Die Nachfolgepolitik der Moskauer Herrscher bis zum Ende des Rjurikidenhauses (Kölner historische Abhandlungen 21), Köln/ Wien 1972. 17 Ebd., 334ff. 18 Vgl. den Fall von Irina Godunova, Ehefrau des letzten herrschenden Rjurikiden Fedor, die zwischenzeitlich zur Zarin ausgerufen wurde, danach jedoch abdankte, aber für eine zusätzliche Legitimität ihres Bruders Boris Godunov bei seiner Thronbesteigung sorgte.

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sollte.19 Die Landesversammlungen hatten in Moskowien eine lange Tradition und wurden regelmäßig zur Klärung verschiedener Staatsfragen in der Hauptstadt einberufen. Obwohl zemskie sobory jedes Mal zu verschiedenen Anlässen einberufen wurden und somit kein stetiges Machtgremium darstellten, bildeten sie zur damaligen Zeit die einzige reguläre Form der Ständerepräsentation im Moskauer Staat, wobei die Vertreter unterschiedlicher Stände und sozialer Schichten einen gewissen Einfluss auf die Machtausübung des Zentrums nehmen konnten. Sie zeichneten sich auch durch eine sehr flexible personelle Zusammensetzung aus, die abhängig von aktuellen politischen Interessen des Zentrums jedes Mal neu zusammengewürfelt zu sein schien. Meistens bestanden sie aber vornehmlich aus den Vertretern der obersten Schichten – der Bojaren, der Kirchenvertreter und des Dienstadels, wobei auch niedrigere Schichten unbedingt vertreten waren, allerdings in einer deutlich geringeren Zahl. Im Falle von Boris Godunov, der sich nach dem Tode Fedors einem solchen zemskij sobor stellen musste, handelte es sich um einen Kandidaten, der sich kaum durch eine altaristokratische Abstammung profilieren konnte, sondern seine Durchsetzung auf seinen persönlichen Qualitäten aufbaute. Laut den überlieferten Bestätigungsurkunden wurde Boris eben als einziger „gottgesegneter“ und auch aufgrund seiner Verdienste in den vorigen Regierungsjahren als äußerst „vorbildlicher“ Kandidat von der Landesversammlung als neuer Zar gewählt.20 Boris’ Sohn Fedor bevorzugte es allerdings, sich erneut auf das dynastische Prinzip zu stützen sowie auf den allgemeinen Treueschwur des Volkes vor der Krönung seines Vaters, der nicht nur Boris Godunov galt, sondern auch seiner Ehefrau und seinen Kindern, dem Sohn Fedor und der Tochter Ksenija.21 Nach dem Tode des Zaren Boris wurde sein Sohn Fedor zum rechtmäßigen Zaren vom russischen Patriarchen erklärt. Da die Herrschaft von Fedor Godunov nur sieben 19 Zu zemskie sobory vgl. unter anderem Hans-Joachim Torke, Konzil, Reichsversammlung und Reichsrat. Zur Bedeutung der Begriffe „sobor“ und „sovet“ in der Smuta, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 50 (1995), 363–373; E˙l’vira Sokolova, E˙voljucija soslovnopredstavitel’skoj vlasti v Rossii s serediny XVI do serediny XVII vv. Na osnove kandidatskoj ˇ erepnin, Zemskie sobory Russkogo gosudarstva v XVI– dissertacii, Moskva 2013; Lev V. C XVII vv., Moskva 1978. 20 Vgl. dazu ausführlicher Diana Ordubadi, Die Berufung zur Herrschaft 1598 und die Legitimation des Zaren Boris Godunov, in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613 (Studien zu Macht und Herrschaft 2), Göttingen 2019, 179–197, hier 181. 21 Vgl. Okruzˇnaja Gramota vdovstvujusˇcˇej Caricy Marii Grigor’evny i Carja Feodora Borisovicˇa […] o koncˇine Carja Borisa Feodorovicˇa, o vstuplenii na Rossijskij prestol zakonnogo naslednika ego Carevicˇa Feodora Borisovicˇa […], in: Sobranie Gosudarstvennych Gramot i Dogovorov, Bd. 2, Moskva 1819, 187–188; Okruzˇnaja Gramota Patriarcha Vserossijskogo Iova k Voevodam Sibirskich gorodov: […] i o Patriarsˇem ego blagoslovenii na ucˇinenie vsjakogo zvanija ljudjam prosjagi v vernosti Carice materi, Carju i Carevne, in: ebd., 189–190.

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Wochen dauerte, bevor er von den Anhängern des Pseudodemetrius gestürzt und ermordet wurde, kam es in seinem Fall nicht einmal zur offiziellen Krönung. Der nächste Herrscher, der nicht als Pseudodemetrius, sondern als der jüngste Sohn Ivans des Schrecklichen Dmitrij und somit als rechtmäßiger Zar aus der Rjurikiden-Familie gekrönt wurde, baute bei seiner Legitimation auf dem alten russischen Traditionsprinzip der starina auf. Der echte jüngste Sohn von Ivan dem Schrecklichen und der junge Bruder des letzten offiziellen Zaren aus der Rjurikiden-Familie Dmitrij starb in einem jungen Alter noch während der Herrschaft seines älteren Bruders Fedor an einem epileptischen Anfall. Von Beginn an kursierten allerdings Gerüchte, dass der carevicˇ („Prinz“) von Boris Godunov bzw. auf seinen Befehl hin ermordet wurde. Diese Gerüchte gaben viele Jahre später den Anlass für einige Betrüger, sich für den wie durch ein Wunder geretteten Prinzen auszugeben und ihren Anspruch auf den russischen Thron geltend zu machen. Der erste Pseudodemetrius22 konnte die Protektion von Zygmunt III., dem damaligen König von Polen-Litauen, gewinnen. Insgeheim zum römisch-katholischen Glauben übergetreten und mit der polnischen Adligen Maryna Mniszech verlobt, erhielt er auch die finanzielle und strategische Unterstützung, um sich als Dmitrij auszugeben, einen massiven Widerstand gegen die Herrschaft Godunovs in Russland anzuzetteln und als rechtmäßiger Zar in den Kreml einzuziehen. Daher legte er großen Wert auf die Betonung seiner Abstammung von dem alten Herrscher-Haus, weil dies in der Wahrnehmung der Bevölkerung auf seine sog. bogoizbrannost‘, d. h. seine Auserwähltheit von Gottes Gnaden, hinwies. Dieser Pseudodemetrius durchlief deswegen alle mit der Thronbesteigung verbundenen Rituale in großem Stil. Dazu gehörten stets zwei Schritte: die allgemeine Volksvereidigung für den neuen Zaren noch vor seiner Krönung und die Krönung selbst in der wichtigsten Kathedrale des Landes, in der Maria-Entschlafens-Kathedrale im Moskauer Kreml. All das rettete den falschen Zaren aber nicht. Rund ein Jahr nach seiner Thronbesteigung wurde auch er infolge einer Bojarenverschwörung gestürzt, beim Fluchtversuch aus dem Kreml ermordet, seine Leiche als die eines Betrügers dem Volk präsentiert und danach verbrannt, und die Asche nicht einmal christlich beerdigt, sondern aus einer Kanone über der Stadt zerstreut. Der nächste Zar Vasilij Sˇujskij23 erhielt ebenfalls die Vereidigung des Volkes sowie eine ordnungsgemäße Krönung. Eine starke zeremonielle Theatralisierung

22 Vgl. unter anderem Hans Baumann, Dimitri und die falschen Zaren, München 1970; Jan Kusber, Demetrius, der falsche Zar, in: Christine Strobl/Michael Neumann (edd.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Bd. 4, Regensburg 2006, 175–195; Michail A. Goldenkov, Mify smutnogo vremeni. Proekt „Lzˇedmitrij“, Minsk 2013. 23 Vgl. unter anderem Helmut Neubauer, Vasilij Sˇujskij 1606–1610, in: Hans-Joachim Torke (ed.), Die russischen Zaren 1547–1917, 2. Aufl., München 1999, 81–89; Ruslan G. Skrynni-

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jeglichen zarischen Auftretens bildete eben ein wichtiges Charakteristikum der russischen Herrschaft. Vasilij Sˇuiskijs russische, altaristokratische Familie gehörte zwar nicht direkt zum Rjurikiden-Stamm, war aber mit diesem eng verwandt und durfte auf eine genauso lange und nicht weniger verdienstvolle Familiengeschichte zurückblicken. Seine Kandidatur und Krönung entsprach also immer noch der alten russischen Tradition. Die entscheidende Schwachstelle seines Berufungsverfahrens bestand aber darin, dass er nicht durch den zemskij sobor, also durch eine Landesversammlung und somit stellvertretend vom ganzen russischen Volk gewählt wurde, sondern nur von der Bojarenduma. Trotz aller Bemühungen Ivans des Schrecklichen wurde die Bojarenduma24 nach seinem Tod erneut zu einem einflussreichen und starken Regierungsorgan, dem in Abwesenheit oder beim zwischenzeitlichen Fehlen eines Herrschers die oberste Macht im Staate zufiel. Die Bojaren wählten Vasilij Sˇujskij zum Zaren und schworen in einem offiziellen Vereidigungsakt ihm als dem neuen Herrscher ihre Treue. Danach wurde Vasilij gekrönt. Der neue Zar erfreute sich aber keiner besonderen Beliebtheit, zumal es ihm in der öffentlichen Wahrnehmung sowohl an „durch Gott gegebener“ Legitimation als auch an der durch das russische Volk fehlte. Mit anderen Worten überzeugte er weder persönlich, noch war es ersichtlich, warum ausgerechnet er den Thron besteigen sollte und nicht ein anderer Vertreter der altrussischen Aristokratie. Nach drei Herrschaftsjahren, in denen im Moskauer Staat nicht nur ein Bürgerkrieg ausbrach, sondern das Land sich einer militärischen Intervention seitens des Königreichs Polen-Litauen stellen musste, wurde Zar Vasilij von der Bojarenduma abgesetzt und unter Arrest gestellt. Die Macht im Kreml ging für zwei Jahre an den sog. SiebenerBojarenrat über,25 eine Art vorläufige bzw. vorübergehende Regierung, die sich 1613 um die Berufung einer schichtübergreifenden und vielköpfigen Landesversammlung kümmerte, um einen neuen Zaren auszuwählen. Michail Romanov wurde somit von einem wohldurchdachten, über einige Wochen tagenden zemskij sobor ausgewählt, an dem Vertreter tatsächlich fast

kov, Vasilij Sˇujskij, Moskva 2002; Izvestitel’naja gramota Carja Vasilija Ioannovicˇa, in: Sobranie Gosudarstvennych Gramot i Dogovorov, Bd. 2, Moskva 1819, 308–315. 24 Vgl. zur Bojarenduma unter anderem Hans-Joachim Torke, Oligarchie in der Autokratie. Der Machtverfall der Bojarenduma im 17. Jahrhundert, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 24 (1978), 179–201; Anna L. Chorosˇkevicˇ, Die Bojarenduma und der Zar in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts, in: Eckhard Hübner/Ekkehard Klug/Jan Kusber (edd.), Zwischen Christianisierung und Europäisierung. Beiträge zur Geschichte Osteuropas in Mittelalter und früher Neuzeit (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 51), Stuttgart 1998, 129–137; Vasilij Kljucˇevskij, Bojarskaja duma v drevnej Rusi, 5 izd., Sankt-Peterburg 1919. 25 Vgl. Vitalij G. Anan’ev, Semibojarsˇcˇina (1610–1612 gg.). Sostav i politicˇeskaja sud’ba. Avtoreferat dissertacii, Sankt-Peterburg 2007; Neubauer 1999, 87.

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aller Sozialschichten des Landes teilnahmen.26 Die krisenhaften Jahre zuvor zeigten ganz deutlich, dass ein solches Verfahren bitter nötig war, damit der neue Zar tatsächlich in allen Regionen des zerrütteten Landes akzeptiert wurde. Bei Michail handelte es sich schließlich nicht um die persönlich charakterstärkste oder überzeugendste Kandidatur auf den Posten des russischen Selbstherrschers, sondern gezielt um die jüngste und neutralste. Beim fünften Herrscherwahlverfahren innerhalb von 15 Jahren setzte sich schließlich die Vorstellung durch, dass nur die altbewährten Traditionen der starina und das damit verbundene tiefe Vertrauen in Gottes Willen die sichersten Wege aus der Krise bieten würden. Das Hinzuziehen des göttlichen Elements bietet auch eine notwendige Erklärung für den scheinbaren Widerspruch zwischen der Auserwähltheit des Herrschers von Gottes Gnaden und seiner gleichzeitigen Auswahl durch das Volk, stellvertretend durch den zemskij sobor. Denn die Auswahl des Zaren durch Menschen war schließlich für Ivan den Schrecklichen noch völlig undenkbar gewesen. So warf er in einem der Briefe an den polnischen König Stefan Bathory diesem vor, lediglich durch Menschen auserwählt sein Königtum zu regieren, während Ivan IV. über sein Zarentum frei verfügte, weil er durch Gott selbst auserwählt wurde und deswegen seinen Untertanen keinerlei Rechenschaft schuldig wäre, geschweige denn sich um die Vorgaben dieser Untertanen kümmern müsste.27 Während der ‚Zeit der Wirren‘ vollzieht sich auf den ersten Blick ein scheinbarer Wandel im Verständnis der zarischen Herrschaftsbegründung, da das Hinzuziehen der Landesversammlung, also eben der Entscheidung solcher vermeintlichen Untertanen, für die Auswahl eines neuen Herrschers zuerst von Godunov benutzt wird und dann bei der Berufung von Michail Romanov sogar als ein wichtiges Legitimationsinstrument ohne jegliche Frage allgemein akzeptiert wird. Bei einer genaueren Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext der Epoche wird allerdings klar, dass hier im Gegenteil die alten russischen Traditionsprinzipien mit neuer Kraft untermauert werden. Das Prinzip der bogoizbrannost‘, also die Auserwähltheit von Gottes Gnaden, spielt weiterhin eine bedeutende Rolle. Nur die Landesversammlung wird anders bewertet, als man heute vermuten würde. Und zwar: Während einem einzelnen einfachen Menschen weiterhin jegliches Mitspracherecht bei der Wahl eines Herrschers gänzlich 26 Vgl. Hans-Joachim Torke, Michail Fedorovicˇ 1613–1645, in: ders. (ed.), Die russischen Zaren 1547–1917, 2. Aufl., München 1999, 91–107; Erwin Bauer, Die Wahl Michail Feodorowitsch Romanow’s zum Zaren von Russland, in: Historische Zeitschrift 56 (1886), 1–39; Gramota utverzˇdennaja o izbranii na Rossijskij prestol Carem i Samoderzˇcem Michaila Feodorovicˇa Romanova-Jur’evych, in: Sobranie Gosudarstvennych Gramot i Dogovorov, Bd. 1, Moskva 1813, 599–643. 27 Vgl. Khunchukashvili 2017, 38.

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abgesprochen wird, wird bei der allgemeinen Stimme des Volkes eine gewisse Verselbstständigung angenommen, ähnlich wie bei einer Naturgewalt, die wiederum als ein Zeichen Gottes gedeutet und somit zur Stimme Gottes proklamiert wird. Gottes Wille bleibe dadurch bei einem Herrscherwahlverfahren absolut durchschlagend und die Entscheidung einer Landesversammlung nur ein Werkzeug Gottes, um seinen Willen auf Erden zu verkünden.28 Eng mit der Idee der „Auserwähltheit“ (izbrannicˇestvo) im religiösen Sinne war auch das russische mittelalterliche Verständnis des geografischen Raumes verbunden. Die Erde als geografischer Begriff wurde grundsätzlich als Gegenpol zum Himmel definiert und enthielt dadurch eine für moderne Vorstellungen gänzlich untypische religiös-moralische Bedeutung.29 Die Idee leitete sich von der mentalen Vorstellung ab, dass alle Länder auf der Erde in die „gerechten“ (pravednye) und „sündhaften“ (gresˇnye) aufgeteilt wurden.30 Ausgehend von der Theorie über ‚Moskau als Drittes Rom‘ und bedingt durch die Bestrebung des Moskauer Staates, sich im Mittelalter kulturell in sich selbst stark zu verschließen, begriff sich die Moskauer Herrschaftselite stets als im Zentrum eines „gerechten“ Landes stehend. Problematisch blieb dabei die Tatsache, dass die Gegenpole das Eigene und das Fremde – in diesem Wertesystem mit den Begriffspaaren ‚gerecht – sündhaft‘ bzw. ‚gut – böse‘ gleichgesetzt wurden.31 Das erschwerte das ohnehin komplizierte Verhältnis des durch die Krise zerrütteten Russlands mit den westeuropäischen Nachbarn und förderte keinesfalls das gegenseitige Verständnis von kulturellen Besonderheiten bzw. politischen Modellen. Gegenüber den reisenden Ausländern präsentierten sich alle russischen Herrscher in der ‚Zeit der Wirren‘ stets als ihrer Macht mehr als sicher. Vor allem im Zeremoniellen wurde großer Wert darauf gelegt, den Zaren für ‚einfache Sterbliche‘ als ziemlich unerreichbar und abgehoben zu präsentieren.

2.

Ausländische Berichte über die ‚Zeit der Wirren‘

Mit Reisenden nach und aus Russland beschäftigen sich die Geschichts- sowie die slavistische Literatur- und Sprachwissenschaft seit langem.32 Die Spuren dieser Reisenden sind sehr unterschiedlicher Art, manche haben keine persönlichen 28 Vgl. dazu auch Ordubadi 2019, 191. 29 Vgl. Jurij M. Lotman, O ponjatii geograficˇeskogo prostranstva v russkich srednevekovych tekstach, in: ders., O russkoj literature. Stat’i i issledovanija 1958–1993, Sankt-Peterburg 1997, 112–117, hier 112. 30 Ebd., 115. 31 Ebd., 115. 32 Friedrich von Adelung, Kritisch-literärische Übersicht der Reisenden in Russland bis 1700, deren Berichte bekannt sind, 2 Bde., St. Petersburg 1846 (ND Amsterdam 1960); die Biblio-

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Aufzeichnungen oder Berichte verfasst und bleiben somit weitgehend im Dunkel der Geschichte. Eine ganze Reihe von Ausländern, die Russland seit den Anfängen der Rus’ im 10. Jahrhundert bereisten, hinterließen Aufzeichnungen, einige davon sind hervorzuheben und lohnen eine ausführlichere Beschäftigung. Für die Zeit zwischen etwa 900 und 1700 verzeichnete der in russischen Diensten stehende deutschstämmige Jurist, Historiker und Sprachwissenschaftler Friedrich von Adelung (1768–1843) in seiner ‚Kritisch-literärischen Übersicht der Reisenden in Russland bis 1700, deren Berichte bekannt sind‘, 1846 zweibändig erschienen, immerhin 266 Reisende. Sicherlich einer der berühmtesten Berichte ist der des Kaiserlichen Diplomaten Sigismund von Herberstein, der das Land zweimal, 1517 und 1526, bereiste und mehr als zwanzig Jahre später, 1549, auf Latein seinen Bericht ‚Rerum Moscoviticarum Commentarii‘ veröffentlichte, dem 1557 eine vom Autor persönlich übertragene deutsche Übersetzung folgte, die danach immer wieder neu aufgelegt wurde; später auch in modernisierten Fassungen. Zeitgenössisch war das Buch ein Bestseller, denn bis zum Ende des 16. Jahrhunderts erschienen neun lateinische, sieben deutsche, zwei italienische und zwei englische Ausgaben. Heute gibt es im Internet eine synoptische Ausgabe der lateinischen und deutschen Fassung letzter Hand mit erläuternden Kommentaren.33 Zur ‚Zeit der Wirren‘, einer kurzen, aber sehr wichtigen und entscheidenden Phase der russischen Geschichte, liegen eine ganze Reihe ausländischer Berichte vor.34 Hervorzuheben sind fünf überlieferte Texte. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen stehen die Aufzeichnungen des deutschen Söldners Conrad Bussow, dessen von der bisherigen Forschung behauptete Lebensdaten, 1552/53 bis 1617, sich in den Quellen nicht belegen lassen.35 graphie von Hans Halm/Gert Robel/Hergard Robel (edd.), Alieni de Russia. Russlandberichte von den ältesten Zeiten bis zum Jahr 1855, München 1978–1999, blieb unvollendet und umfasst nur einige Jahrzehnte des 18. und des 19. Jh.s; Marshall Poe, Foreign Descriptions of Muscovy. An Analytic Bibliography of Primary and Secondary Sources, Columbus, OH 1995. 33 Vgl. dazu ausführlicher Dittmar Dahlmann, „Not much was eaten, but they were rowdy drinkers“. Reports by Foreigners on Receptions and Audiences at the Tsar’s Court in the 16th and 17th Centuries, in: Eva Orthmann/Anna Kollatz (edd.), The Ceremonial of Audience. Transcultural Approaches (Macht und Herrschaft 2), Göttingen 2019, 63–91 (= Dahlmann 2019a). 34 Frank Kämpfer, Deutsche Augenzeugenberichte über die „Zeit der Wirren“, in: Friedhelm B. Kaiser/Bernhard Stasiewski (edd.), Reiseberichte von Deutschen über Russland und von Russen über Deutschland (Studien zum Deutschtum im Osten 15), Köln/Wien 1980, 24–42; veränderte Fassung: Facetten eines deutschen „Rußlandbildes“ um 1600, in: Mechthild Keller/Ursula Dettbarn/Karl-Heinz Korn (edd.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert (West-östliche Spiegelungen. Reihe A 1), 2. Aufl., München 1988, 206–222. 35 Vgl. dazu ausführlich: Dittmar Dahlmann, „Waß nun weitter darauß wirt werden eröfnet die Zeit“. Deutschsprachige Zeitzeugenberichte in der ‚Zeit der Wirren‘ (1598–1613), in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren‘ 1598–1613 (Studien zu Macht und Herrschaft 2), Göttingen 2019, 13–55

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Hinzuweisen ist aber auch auf vier wichtige weitere Texte von Augenzeugen über die ‚Zeit der Wirren‘. Die umfassendste Darstellung lieferte der schwedische Diplomat Peter Petrejus de Erlesunda oder Peer Persson (1570–1622), der mehrere Russlandaufenthalte nutzte, um eine Geschichte des Landes bis zur ‚Zeit der Wirren‘ zu verfassen. Sein Werk erschien zunächst 1615 in einer schwedischen Fassung und 1620 in einer erweiterten deutschen Fassung ‚Historien und Bericht von dem Großfürstenthumb Muschkow‘. Petrejus studierte in Marburg (= Dahlmann 2019b). Bussow erwähnt auf der Titelseite eines der sechs überlieferten Manuskripte, er sei des Lüne-Burgischen Fürstenthums in den Freyen bürtig; auf einer anderen Titelseite findet sich der Hinweis aus der Statt Lüneburg bürtig. Conrad Bussow (Konrad Bussov), Moskovskaja Chronika 1584–1613, ed. Ivan I. Smirnov, Moskva/Leningrad 1961, 69, Faksimile 65 und 66, Anm. 4. Dieser verdienstvolle, aber fehlerhafte Band enthält sowohl eine deutsche Fassung des Bussowschen Textes als auch eine russische Übersetzung mit textkritischen sowie erläuternden Kommentaren und legt die Überlieferungsgeschichte der Bussowschen Schrift dar. Offensichtlich ist eine Reihe von Lesefehlern. Die Bezeichnung in den Freyen bezieht sich auf „Das Große und das Kleine Freie“, eigenständige Siedlungsräume im Städtedreieck von Hannover, Hildesheim und Peine. Vgl. dazu Manfred von Bötticher, Freigrafschaften im mittleren Niedersachsen (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 108), Hannover 1992. Die Annahme, dass Bussow aus dem Ort Ilten stammen könne, geht zurück auf den deutsch-russischen Historiker Arist A. (Ernst-Eduard) Kunik (Kunick). Arist A. Kunik, Aufklärungen über Konrad Bussow und die verschiedenen Redactionen seiner moskowischen Chronik (Analectes Historique 9), Sankt-Peterburg 1851b, 34–37. Auf eine Anfrage an den Regionalhistoriker F. W. Volger nach der Bedeutung der Bezeichnung „in den Freyen“ hin erhielt Kunik die aus heutiger Sicht fehlerhafte Mitteilung, dass damit das Amt Ilten gemeint sei. Fast alle Historiker, die sich mit Bussow beschäftigten, haben diese Angabe ohne weitere Prüfung übernommen. In der oben genannten längeren Fassung dieses Aufsatzes hat sich der Verfasser ausführlicher mit den in der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek, dem Niedersächsischen Landesarchiv Wolfenbüttel und der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden liegenden Manuskripten von Bussow und Peyerle und deren Überlieferungs- und Editionsgeschichte befasst. Entgegen allen Behauptungen der bisherigen Forschung, dass das in der Dresdener Bibliothek befindliche Manuskript am Ende des Zweiten Weltkrieges verbrannt sei, hat es die Kriegswirren unbeschadet überstanden. Es ist erstaunlich, dass es bisher keine historisch-kritische Edition dieser beiden Berichte gibt. Eine vollständige Fassung des Bussowschen Textes publizierte Arist A. Kunik, Relatio: Das ist summarische Erzehlung vom eigentlichen Ursprung dieses itzigen blutigen Kriegs-Wesens in Moscowiter-Land oder Reussland […] (Skazanija inostrannych pisatelej o Rossii: Rerum Rossicarum Scriptores Exteri 1: Moskovskija letopisi Konrada Busova i Petra Petreja), Sankt-Peterburg 1851a. Der Band war uns bisher noch nicht zugänglich. Zu Bussow vgl. außer Adelung 1846, Bd. 2, 46–111 vor allem Conrad Bussow, The Disturbed State of the Russian Realm, ed. and trans. by G. Edward Orchard, Montreal et al. 1994. Es handelt sich dabei um eine englische Übersetzung des überlieferten Manuskripts mit Kommentaren des Herausgebers. Anzumerken ist hier, dass keine der hier und im Folgenden genannten Editionen und Übersetzungen der Texte von Bussow, Peyerle, Margeret und Massa überzeugt. Die Reihe der Fehler bzw. Auslassungen beginnt schon mit fehlenden oder falschen Signaturen der Archivbestände und endet mit teils gravierenden Lesefehlern. Eine ins Neuhochdeutsche übertragene und kommentierte Version erschien 1991: Conrad Bussow, Zeit der Wirren. Moskowitische Chronik der Jahre 1584 bis 1613, ed. Jutta Harney/ Gottfried Sturm, aus dem Frühneuhochdeutschen übertragen von Marie-Elisabeth Fritze, Berlin/Leipzig 1991.

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und stand seit 1595 in Diensten des schwedischen Staates. Zwischen 1601 und 1612 hielt er sich mehrfach für längere oder kürzere Zeit in Russland auf, in den Jahren 1607/08 und 1612 in diplomatischer Mission für König Karl IX. von Schweden. Er kannte wohl auch Conrad Bussow und dessen Manuskript, das er für sein Buch umfassend benutzte, also große Teile abschrieb. Petrejus plagiierte unter anderem auch das Werk von Sigismund von Herberstein.36 Überliefert ist auch der Bericht des Augsburger Juweliers Hanns Georg Peyerle (1584?–1649). Von seiner ‚Beschreibung der moßcouiterrischen Rayß‘ sind zwei Manuskriptfassungen in der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek überliefert.37 Peyerles Text blieb den Zeitgenossen unbekannt und wurde erstmals in Auszügen und einer modernisierten Fassung 1773 von dem Juristen, Archivar und Bibliothekar, zeitweise auch in der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek, Christoph von Schmidt-Phiseldeck (auch Christoph Schmidt, genannt Phiseldek) veröffentlicht, und dann vier Jahre später vollständig in der von Johann Georg Meusel herausgegebenen Zeitschrift ‚Der Geschichtforscher‘.38 Eine 36 Petrus Petrejus de Erlesunda, Historien vnd Bericht von dem Grossfürstenthumb Muschkow, mit dero schönen fruchtbaren Provincien und Herrschafften […], Mit der Muschowiter Gesetzen, Statuten, Sitten, Geberden, Leben, Policey vnd Kriegswesen: wie auch, was es mit jhrer Religion vnd Ceremonien vor eine Beschaffenheit hat, kürtzlich vnd deutlich in sechs Theilen zusammen gefasset, beschrieben vnd publiciret, Leipzig 1620. Sowohl die schwedische als auch die deutsche Fassung sind als Digitalisate online verfügbar. Vgl. auch Adelung 1846, Bd. 2, 238–258; Bussow 1994, XXX–XXXV, 189–193. 37 Hans G. Peyerle, Journey to Moscow. Beschreibung der moßcouitterischen Rayß, welche ich Hanns Georg Peyerle von Augspurg mit herrn Andreasen Nathan und Matheo Bernhardt Manlichen dem Jüngeren, Ady 19 Marty Ao 1606 von Crachaw aus, angefangen, und was wir wahrhafftiges gehört, gesehen, und erfahren, alles aufs khürzest beschriben, bis zue unserer Gott lob wider dahin ankunft den 15 Decembris Anno 1608, ed., trans. and annotated by G. Edward Orchard (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 5), Münster 1997. Orchard druckt eines der beiden Wolfenbütteler Manuskripte, (Codex Guelf 41 Extravagantes), das er für die zuverlässigere und ältere Version hält, und eine englische Übersetzung. Die Edition ist fehlerhaft, die Angaben zur Person Peyerles sind völlig unzutreffend. Vgl. dazu Dahlmann 2019b; vgl. auch Adelung 1846, 184–198; Helmut Neubauer, Ein Augsburger Bericht über die Moskauer „Wirren“, in: Studien zur älteren Geschichte Osteuropas, Teil 3: Gedenkband für Heinrich Felix Schmid (Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas 5), Graz/Köln 1966, 130–140. 38 Christoph Schmidt, genannt Phiseldek, Versuch einer neuen Einleitung in die russische Geschichte. Nach bewährten Schriftstellern, Riga 1773, 317–389; Johann G. Meusel (ed.), Der Geschichtforscher 5 (1777), 150–193 und 6 (1778), 131–245. Dem Abdruck ist unter der Überschrift ‚Beyträge zu der Russischen Geschichte aus den Handschriften der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel‘ eine kurze Vorrede von Schmidt, gen. Phiseldek vorangestellt. Er sei, so heißt es dort, erst durch August Ludwig von Schlözer auf diesen Text aufmerksam gemacht worden und habe daraufhin die Idee entwickelt, alle in der herzoglichen Bibliothek befindlichen Manuskripte, die sich auf Russland bezögen, in einem Band zu publizieren. Dies habe sich jedoch nicht realisieren lassen, so dass er nun die Gelegenheit ergreife, Peyerles Text in der von Meusel herausgegebenen Zeitschrift ‚Der Geschichtforscher‘ zu veröffentlichen. Unter dem Originaltitel, den Orchard nicht ganz korrekt wiedergibt, finden sich die Signaturen der Bestände, in denen die Manuskripte aufbewahrt werden. Sie sind mit kleinen

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russische Übersetzung erschien erstmals 1832 in St. Petersburg.39 Die von dem Heidelberger Osteuropahistoriker Helmut Neubauer in den 1970er Jahren begonnene kritische Neuedition des Textes konnte er nicht mehr vollenden. Den deutschen Text und eine Übersetzung ins moderne Englisch veröffentlichte 1997 auf der Grundlage der Vorarbeiten Neubauers der britisch-kanadische Historiker G. Edward Orchard. Seiner Fassung liegen die Wolfenbütteler Manuskripte zugrunde. Peyerle reiste mit zwei anderen Augsburger Kaufleuten auf Einladung des sog. Ersten Pseudodemetrius nach Russland, um dort seine Waren für die geplante Hochzeit des Thronprätendenten anzubieten. Sein Bericht beruht für die Zeit vor 1606 weitgehend auf Hörensagen und für die Zeit seines Aufenthaltes auf Informationen von polnischer Seite, die die Herrschaftsansprüche ‚Dmitrijs‘ unterstützte. Peyerle verbrachte seinen gesamten Aufenthalt bei ‚Ausländern‘; zunächst auf dem Hof des ‚Sekretärs‘ des Pseudodemetrius Jan Buczyn´ski, dann in der Residenz des polnischen Gesandten.40 Es ist die Perspektive eines eingeschlossenen Ausländers, dessen einzige Kontakte zur russischen Bevölkerung die Wachmannschaften waren. Frank Kämpfer hat ihm, meines Erachtens unberechtigterweise, eine „Scheuklappenperspektive“ und „unvorbereitete Ahnungslosigkeit“ attestiert.41 Dennoch ist es eine lohnende Lektüre, der Verarbeitung von Gerüchten und Halbwissen durch einen landes- und sprachunkundigen Ausländer zu folgen. Zeitgenössisch veröffentlicht wurde das Buch des französischen Söldners Jacques Margeret, (1565–1619), ‚Estat de L’Empire de Russie, et Grande Duché des Moscouie […]‘ erstmals 1607. Margeret, hugenottischer Herkunft, widmete sein Buch König Henri IV. Eine kommentierte englische Übersetzung brachte der amerikanische Historiker Chester S. L. Dunning, ein Spezialist für die ‚Zeit der Wirren‘, 1983 heraus.42 Margeret kämpfte zunächst für Henri IV. bis zu dessen Übertritt zum Katholizismus, dann für den Kaiser in Ungarn gegen die ‚Türken‘, schließlich für Boris Godunov, dann für die beiden falschen Dmitrijs und auch für Vasilij Sˇujskij sowie für den polnischen König Sigismund. Zwischendurch war

39 40 41 42

Veränderungen noch heute gültig. Schmidt, gen. Phiseldek bezieht sich auf August L. von Schlözer, Auszug eines Rapports des Herrn Prof. Schlözers an die Petersburger Akademie, Braunschweig, den 16. May 1768, in: Johann C. Gatterer (ed.), Allgemeine historische Bibliothek von Mitgliedern des königlichen Instituts der historischen Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 8, Halle 1768, 283–284. Peyerle 1997, 167. Kämpfer 1988, 210f. Kämpfer 1980, 31; ders. 1988, 214. Jacques Margeret, The Russian Empire and Grand Duchy of Muscovy. A 17th-Century Account, ed. and trans. by Chester S. L. Dunning, Pittsburgh 1983; Original: Estat de L’Empire de Russie, et Grande Duché de Moscouie. Avec ce qui s’y passé de plus mémorable et tragique, pendant la règne de quatre Empereur: á sçavoir depuis l’an 1590 jusques an l’an 1606 en Septembre par le Capitaine Margeret, Paris 1607; danach zahlreiche Neuauflagen, die alle nicht gänzlich zuverlässig sind.

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er zwischen 1606 und 1608 oder 1609 in Frankreich, wo er König Henri IV. traf, der ihn dazu brachte, seine Geschichte zu erzählen, und der sowohl für Margerets Lebensunterhalt als auch für den Druck des Buches sorgte.43 Danach war er wieder in Russland, schließlich verlieren sich seine Spuren 1619, allgemein als sein Todesjahr genannt. Margeret konnte wohl einigermaßen Russisch, war durchaus gebildet und verfügte über gute Beziehungen. Allerdings hielt er zumindest den ersten falschen Dmitrij für ‚echt‘, also für den 1591 auf welche Art und Weise auch immer verstorbenen letzten, aber illegitimen Sohn Ivans IV.; was nicht so sehr verwundert, da er der Kommandant von dessen Leibwache war.44 Dmitrij stammte aus der siebten Ehe Ivans IV.; die orthodoxe Kirche akzeptierte drei Eheschließungen und nannte alles, was darüber hinausging, „viehisch“.45 Schließlich ist noch der niederländische Kaufmann Isaac Massa (1586–1635 oder 1643) zu nennen, der sich zwischen 1601, also erstmals als 15-Jähriger, und 1633/34 mehrmals für kürzere oder längere Zeit in Russland aufhielt, und dem wir die erste Karte der russisch-sibirischen Nordküste aus dem Jahr 1612 verdanken sowie einige weitere Karten und Stadtpläne.46 Neben einem Bericht über die Tungusen (heute Evenken) schrieb er 1610 auch als Augenzeuge und Zeitgenosse eine Geschichte der ‚Zeit der Wirren‘ auf Niederländisch für den Statthalter Fürst Moritz von Oranien, die allerdings erst im Laufe des 19. Jahrhunderts im Original und in einer französischen Übersetzung und 1981 in einer englischen Fassung erschien, ebenfalls herausgegeben von G. Edward Orchard.47 Die Übersetzung basiert auf den russischen und französischen Übersetzungen, denn, wie Orchard schreibt, waren seine Kenntnisse des Niederländischen „rather elementary“. Er nahm dafür die Hilfe eines niederländischen Kollegen in Anspruch.48 Massa verfügte offensichtlich über ausgezeichnete Beziehungen zu einigen sehr gut informierten Russen, deren Namen er jedoch nicht nennt, und galt und gilt als ein äußerst sachverständiger Kenner des Moskauer Reiches in jeder Hinsicht. Die ‚Zeit der Wirren‘ betrachtete er als eine Strafe Gottes für die sündigen Herrscher und die sündigen Russen insgesamt. So glaubte er, dass Boris Godunov sowohl Fedor als auch den richtigen Dmitrij ermordet hätte.49 Massa 43 Margeret 1983, XV–XXV. 44 Ebd., XVIII. 45 Frank Kämpfer, Ivan (IV.) der Schreckliche, in: Hans-Joachim Torke (ed.), Die russischen Zaren 1547–1917, 2. Aufl., München 1999, 27–49, hier 48. 46 Dittmar Dahlmann, Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn et al. 2009, 55, 106f., 110 und 318. 47 Isaac Massa, A Short History of the Beginnings and Origins of These Present Wars in Moscow under the Reign of Various Sovereigns down to the Year 1610, trans. by G. Edward Orchard, Toronto/Buffalo/London 1982. 48 Ebd., XXIV. 49 Ebd., 93–96, 180f.

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war intensiv in Handelsgeschäfte mit Russland engagiert und durchaus wohlhabend. Seine Bekanntschaft mit dem Maler Frans Hals führte dazu, dass es von ihm als einzigem dieser Reisenden sogar mehrere Porträts sowie ein Bild mit seiner Frau gibt.50 Die Aufzeichnungen des Berufssoldaten Conrad Bussow gelten als eine zentrale Quelle eines ausländischen Beobachters über die ‚Zeit der Wirren‘, da er längere Zeit in Russland verbrachte, die meisten Akteure persönlich kannte und sehr viele Ereignisse aus unmittelbarer Nähe erlebte. Über Bussows Leben ist nicht viel bekannt. Die Angaben in der neueren Sekundärliteratur bzw. den Übersetzungen zu seiner Herkunft und seinen letzten Lebensjahren basieren im Wesentlichen auf den Forschungen von Arist A. Kunik (deutsch: Ernst-Eduard Kunick) aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und lassen sich nicht verifizieren. Kaum einer der bisherigen Historiker, die sich mit ihm und seinen Aufzeichnungen beschäftigt haben, teilt mit, woher sie denn ihre Kenntnisse gewonnen haben. Generell nimmt die Forschung an, er sei der Sohn eines lutherischen Pfarrers gewesen und habe im Alter von 16 oder 17 Jahren sein Elternhaus verlassen.51 Für die Annahme, er sei ein Pfarrerssohn, spricht seine gute Kenntnis der Bibel, teilweise zitiert er Bibelstellen in lateinischer Fassung, darüber hinaus auch einige lateinische Schriftsteller wie Cicero oder Flavius Josephus.52 Seinen eigenen Worten nach, in einem Brief vom 28. November 1613 aus Hannover an Herzog Friedrich-Ulrich von Braunschweig-Lüneburg, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel, trat er 1569 in fremde Dienste und diente anfangs dem polnischen König Stefan Bathory (regierte von 1575 bis 1586), danach war er in schwedischem Dienst unter Herzog Karl von Södermanland, dem späteren schwedischen König Karl IX.53 In den 1590er Jahren war er im damals schwedischen Riga, wo er wohl auch heiratete. Über seine Frau wissen wir nichts, aber er hatte mindestens zwei Kinder, einen Sohn, der auch Conrad hieß, und eine Tochter, deren Namen wir nicht kennen, von der wir aber wissen, dass sie mit einem deutschen Pfarrer namens Martin Beer verheiratet war.54 Seit 1599 stand er mit einiger Wahrscheinlichkeit insgeheim mit Spionen von Boris Godunov in Kontakt, denen er zusicherte, Riga bei passender Gelegenheit an die russische Seite zu übergeben. Als dies 1601 entdeckt wurde, musste Bussow nach Moskau 50 Ebd., Abbildungen nach der Einleitung. 51 Bussow 1994, XXIX. Kämpfer 1988, 215 meint, ebenfalls ohne Beleg, Bussow stamme aus einer Familie von Geistlichen aus dem Lüneburgischen. Adelung 1846, 46, hält ihn für einen „Niedersachsen“, der einen guten Schulunterricht erhalten habe. 52 Bussow 1994, XXIX. 53 Bussow 1991, 237; Bussow 1994, 171. In deutscher Fassung abgedruckt in Bussow 1961, 328–330; engl. Übersetzung: Bussow 1994, 171–173; Original in: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Handschriftenabteilung Cod. Guelf 56, Extravagantes, Bl. 339–342. 54 Bussow 1994, XXIXf.

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flüchten. Diesen Sachverhalt machte der eingangs erwähnte schwedische Diplomat Peter Petrejus in seinem Werk über Russland 1615 bzw. 1620 öffentlich.55 Zudem war er, auf welche Weise auch immer, offensichtlich in den Besitz von Bussows Manuskript gelangt, aus dem er vieles wortwörtlich übernahm, ebenso wie von Herberstein und anderen Autoren. Kontakte hatte Bussow auch mit dem eingangs genannten französischen Söldner Jacques Margeret, den er mehrmals erwähnt und dessen 1607 erschienenes Werk er zitiert.56 Bussow stand dann in Diensten von Boris Godunov, nach dessen Tod wechselte er die Seiten und der erste falsche Dmitrij wurde sein neuer Dienstherr. Vasilij Sˇujskij entließ ihn dann aus dem aktiven Dienst und Bussow zog sich auf seine Güter in oder bei Kaluga, die er von Boris Godunov erhalten hatte, zurück.57 Dort wurde er 1606/07 Zeuge des Aufstandes unter der Führung des entlaufenen militärischen Dienstknechts Ivan I. Bolotnikov, an dem auch sein Sohn Conrad teilnahm, der nach der Niederschlagung nach Sibirien verbannt wurde.58 In jedem Falle war Bussow ein erster und direkter Chronist dieses Aufstandes, den er keineswegs, wie späterhin häufig, als Bauernaufstand schilderte. 1611 finden wir ihn auf der Seite der Armee des polnischen Königs Sigismund III. bei der Belagerung Moskaus, noch im selben Jahr war er jedoch wieder in Riga, von wo aus er 1612 oder 1613 nach Deutschland zurückkehrte.59 In seinem Brief an Herzog Friedrich-Ulrich vom November 1613 verweist er auf ein vorheriges Treffen mit dem Herzog in Wolfenbüttel.60 Sein Schreiben an Friedrich-Ulrichs Kanzler Johannes Peparinus ist datiert auf den 3. Februar 1614 in Wolfenbüttel.61 Lübeck war offensichtlich sein letzter Aufenthaltsort, wo er angeblich 1617 verstarb.62 Die von Bussows Text überlieferten Fassungen tragen alle einen der damals üblichen langen Titel, die sich über eine ganze Seite erstrecken. Die von Smirnov und Orchard zugrunde gelegte Version trägt den Titel: ‚Verwirrter Zustand des Russischen Reichs unter Regierung derer Zaren Fedor Iwanowitz, Boris Gudenow und sonderlich derer Demetriorum auch Basilii Zuski und des hierauf er55 56 57 58

59 60 61 62

Adelung 1846, 47. Bussow 1961, 228, 238 und 322f. Adelung 1846, 47–49. Ebd., 48. Zu diesem Aufstand vgl. Martin Krispin, Der Bolotnikov-Aufstand 1606–1607, in: Heinz-Dietrich Löwe (ed.), Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur ‚Grünen Revolution‘ gegen die Sowjetherrschaft (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 65), Wiesbaden 2006, 27–67. Bussow 1994, XXX. Vgl. oben, Anm. 53. Bussow 1994, 174f. (engl. Übersetzung); Bussow 1961, 331 (teilweise faksimiliert 329); Original in: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Handschriftenabteilung Cod. Guelf 56 Extravagantes, Bl. 343f. Bussow 1961, 65 (Faksimile). Beide Schreiben in neuhochdeutscher Fassung in Bussow 1991, 237–239.

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wehlten König Polnischen Printzen Uladislai von Ao. 1584 biß 1613 […]‘.63 Es gibt keine im deutschsprachigen Raum erschienene historisch-kritische Edition des Bussowschen Werkes, sondern nur die von dem 1965 verstorbenen russischen Historiker Ivan I. Smirnov edierte historisch-kritische Edition aus dem Jahre 1961, die er zusammen mit einer russischen Übersetzung publizierte.64 Smirnov korrespondierte zwar mit dem Direktor der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek und besuchte sogar die Bibliothek, hatte aber, wie Orchard berichtet, nicht genügend Zeit, um die dortigen Manuskripte umfassend zu studieren und musste sich stattdessen mit Mikrofilmkopien begnügen.65 Schon ein flüchtiger Vergleich der Titelseite im Original und in der Wiedergabe zeigt eine Reihe von Ungenauigkeiten.66 1991 erschien eine deutsche Fassung, die die Herausgeber, beide Slavisten, Jutta Harney und Gottfried Sturm, ehemals Redaktionssekretär der ‚Zeitschrift für Slawistik‘, als „Übertragung aus dem Frühneuhochdeutschen“ (übertragen von Marie-Elisabeth Fritze) bezeichnen. Der Text ist also völlig modernisiert und taugt nicht als Quelle, wurde aber immerhin, wenn auch noch in deutlicher DDR-Diktion, kommentiert.67 Die Bussowschen Manuskripte in Wolfenbüttel konnten die Herausgeber und die ‚Überträgerin‘, Marie-Elisabeth Fritze, erst nach 1989 einsehen, als der Band schon im satzreifen Manuskript vorlag. Die Überlieferungslage des Bussowschen Textes wäre eine längere Darstellung und Erörterung wert, die hier unterbleiben muss.68 Bussow selbst hat offensichtlich mit Hilfe seines Schwiegersohnes Martin Beer mindestens fünf Fassungen erstellt. Die erste datiert aus dem März 1612, ist aber nur als Abschrift vorhanden, die letzte aus dem Jahre 1617, die vermutlich dem Drucker vorlag, aber aufgrund von Bussows Tod nicht mehr gedruckt wurde. Auch sie liegt nur als Abschrift vor. Bisher hat keiner der Herausgeber oder Übersetzer überzeugend begründet, warum er seinem Text eine bestimmte Version zugrunde legte. Mindestens zwei Manuskriptfassungen (in der bisherigen Forschung als Wolfenbüttel I und II bezeichnet) befinden sich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, eine weitere Version liegt im Niedersächsischen Landesarchiv Wolfenbüttel unter der Signatur 1 Alt Nr. 205. Dies ist jene Fassung, die Bussow im November 1613 Herzog Friedrich Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel 63 Bussow 1961, 61 (Faksimile), Wiedergabe 199 mit einigen Lesefehlern, so statt Czaren bei Smirnov Szaren; statt von Jahr zu Jahren bei Smirnov von Jahren zu Jahren. 64 Vgl. oben, Anm. 35. 65 Bussow 1994, XXXVIf.; Bussow 1961, 66f. 66 Vgl. oben, Anm. 63. 67 Bussow 1991. Erstaunlich, dass Orchard in seiner drei Jahre später erschienenen Übersetzung des Bussowschen Textes als Erscheinungsjahr dieser Ausgabe 1989 angibt, den Band also nicht eingesehen hat. 68 Vgl. oben, Anm. 35.

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übersandte. Auch die Version in der Sächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, die angeblich im Februar 1945 verbrannte, existiert noch.69 Abschriften gibt es in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg sowie in den Handschriftenabteilungen der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg und der Russischen Staatsbibliothek in Moskau (früher Lenin-Bibliothek). Wir haben leider bisher keine dieser Versionen einsehen können.70 Bussow war ein durchaus parteiischer Chronist, aber dennoch aufmerksam und mitteilsam. Zunächst ist festzuhalten, dass er offensichtlich Russisch nur sprechen, aber nicht lesen konnte, denn schon seine Wiedergabe russischer Namen beruht wohl auf dem, was er hörte.71 So erscheint Godunov als Gudenow und Sˇujskij als Suski oder Zuski sowie Bolotnikov als Polutnik, der Ort Putivl‘ als Puthimel.72 Eine solch schlechte Sprachkenntnis ist für jemanden, der sich rund zehn Jahre in Russland aufhielt, gelinde gesagt erstaunlich. Bussows Text beginnt mit dem Tode Ivans IV. 1584, und die ersten Kapitel bis zum Jahr 1601, als er nach Russland kam, beruhen eindeutig auf Hörensagen. Die russischen Zaren bezeichnet Bussow nach der Thronbesteigung durchgängig als Kayser, wie sie [die Russen] dann ihren Herrn also wollen tituliret und genennet haben, was im übrigen Europa zeitgenössisch eher selten vorkam.73 Wenig Positives hat er über Boris Godunov zu sagen, auch wenn er ihn zunächst als Herrscher lobt, der mit Fürsichtigkeit und Fleiss sein Amt verwaltet und viel Verstand gehabt habe. Zudem verdankte er Godunov wohl die Güter, die er in Russland besaß, hatte von ihm Geld für seinen Verrat erhalten und vier Jahre in seinen Diensten gestanden.74 Godunov, so Bussow, sei aber nur durch Lug und Trug zum Gubernator und Kayser aufgestiegen und habe sich seinen Aufstieg weitgehend erkauft. Auch habe er die Mörder des Zarensohnes Dmitrij gedungen; dies alles aus Machtgier, Verstocktheit und Verblendung. Ähnliches berichtete auch Isaac Massa über Godunov, obwohl auch er von ihm durchaus freundlich und interessiert empfangen worden war. Beide schreiben zudem, dass Godunov sich angesichts der Übermacht der Truppen des ersten falschen Dmitrij vergiftet habe und geben damit ein unter den Zeitgenossen weit verbreitetes, aber wohl unzutreffendes Gerücht wieder. Den falschen Prätendenten Dmitrij hielten beide für einen Lügner. Bussow widmete diesem Tatbestand sein achtes Kapitel ‚Eigentlicher Bericht, dass Demetrius primus nicht des Tyrannen Sohn, sondern ein Frembd69 Vgl. ebd. 70 Adelung 1846, 50f.; ausführlich Kunik 1851b, bes. 13–32 und 73–79; Bussow 1961, 33–72; Bussow 1994, XXXIII–XXXVII und 227–229. 71 So schon Adelung 1846, 46; Kunik 1851b, 37–39. 72 Bussow 1961, 199–202. 73 Ebd., 68. 74 Bussow 1994, XXXf.

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ling gewesen‘. Mit ‚Tyrann‘ ist selbstverständlich Ivan IV. gemeint. Auch der zweite falsche Dmitrij war für ihn ein Lügner, denn er hatte, wie er schreibt, mehrere Augenzeugen getroffen, die die Leiche des ersten Dmitrij gesehen hatten.75 Weit zuverlässiger als die Ausführungen über Godunov sind Bussows Berichte über die große Hungersnot in den Jahren von 1601 bis 1603. Die Forschung ist sich bis heute nicht sicher, wie viele Menschen dieser Katastrophe zum Opfer fielen. In jedem Falle lag die Zahl weit über Hunderttausend.76 Den Aufstand unter Bolotnikov, den er aus unmittelbarer Nähe in Kaluga miterlebte, missverstand er als Teil einer militärischen Operation des Fürsten Sˇachovskoj und wusste über die soziale Zusammensetzung der Rebellierenden wenig zu sagen, wie er denn über das russische Volk generell eine denkbar schlechte Meinung hatte. Er sprach vom Herrn Omnis, also „Herrn Jedermann“, oder vom Pöbel und stellte vor allem die beobachteten Grausamkeiten in aller Deutlichkeit heraus,77 wohingegen er die Untaten der zahlreichen deutschen Söldner, die in russischen Diensten standen, stets klein redete und von seinen ‚Landsleuten‘ fast nur Gutes zu berichten wusste. Über Militärisches war er stets bestens informiert und schilderte dies, wie kaum anders zu erwarten, mit großer Sachkenntnis. Das Feld der Politik war ihm hingegen eher unbekannt. Seine Mitteilungen für die Zeit von 1611 bis 1613 sind spärlich. Von diesen letzten zwei Jahren der ‚Zeit der Wirren‘ berichtet er im Wesentlichen nur über die polnischen und schwedischen Interventionen in Moskowien, denen er mehr Chancen für die Zukunft einräumte, als dem 1613 zum Zaren gewählten Michail Fedorovicˇ, über den er außer seiner Herkunft nur zu sagen weiß, dass die Russen mit ihm nicht sonderlich zufrieden seyn, weil er sich nur des Gesoffs befleissige und die Herrschaft anderen überlasse. In der modernisierten deutschen Fassung heißt es: Michail gebe sich „der Trinkerei“ hin.78 Bei der Nennung von Jahreszahlen bringt Bussow bisweilen den westeuropäischen und den russischen Kalender durcheinander, denn noch zählte man in Moskowien die Zeit seit der Erschaffung der Welt, die am 1. September 5508 v. Chr. erfolgt war, zudem begann das Kalenderjahr am 1. September; erst unter Peter I. folgte auf den 1. August 7208 der 1. Januar 1700. Auch die Orthodoxie missfiel Bussow und der gute Protestant hielt alle Heiligen für Abgötter, so etwa auch den Hl. Sergij von Radonezˇ, zu dessen Kloster Troice Sergieva lavra Zar Vasilij Sˇujskij eine Wallfahrt unternahm.79

75 76 77 78 79

Massa 1982, 93–96; Bussow 1961, 261–263. Bussow 1961, 221–226; vgl. den Kommentar von Orchard: Bussow 1994, 199. Vgl. Bussow 1961, 233. Ebd., 327; Bussow 1991, 228. Bussow 1961, 278; Bussow 1991, 147.

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Bussows Text ist trotz oder eher gerade wegen seiner offensichtlichen Mängel, Irrtümer und Auslassungen für die Forschung von grundlegender Bedeutung. Er war spätestens seit dem Plagiat des Peter Petrejus bekannt, was allerdings erst im 19. Jahrhundert verbreitet wurde.80 Bussows Text wurde zunächst seinem Schwiegersohn Martin Beer zugeschrieben und war seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Auszügen bekannt.81 In den 1770er Jahren gab es dann die längeren Veröffentlichungen in der Schrift des zeitweiligen Wolfenbütteler Bibliothekars Christoph von Schmidt-Phiseldeck in dessen ‚Einleitung in die russische Geschichte‘, Teil 1, von 1773.82 Bekannt wurde Bussows Text vor allem durch den russischen Schriftsteller und Hofhistoriker Nikolaj Karamzin, der ihn als Quelle für seine ‚Geschichte des russischen Staates‘ (‚Istorija gosudarstva rossijskogo‘) in den 1810er Jahren ausführlich zitierte, allerdings die Verfasserschaft Martin Beer zuschrieb.83 Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war die ‚Zeit der Wirren‘, vor allem die Figur des falschen Dmitirj, im deutschsprachigen Bildungsbürgertum recht gut bekannt. In Friedrich von Schillers Nachlass fand sich das Dramenfragment ‚Demetrius oder Die Bluthochzeit zu Moskau‘, uraufgeführt in Weimar 1857. Auch die Deutschbalten August von Kotzebue und Jacob Michael Reinhold Lenz verfassten Theaterstücke über den falschen Dmitrij ebenso wie Friedrich Hebbel, in dessen Nachlass sich gleichfalls das Fragment einer Tragödie ‚Demetrius‘ fand.84 Für den Historiker und Schriftsteller Schiller stand bei seiner Beschäftigung mit der Figur des Pseudodemetrius das Problem von Macht und Herrschaft eindeutig im Vordergrund. Was, abschließend bemerkt, das Problem von Macht und Herrschaft für die Zeitgenossen der Smuta anbetrifft, so liegt es, Bussow zufolge, in Gottes Hand. Der getreue Gott, in desselben Gewalt alles stehet, schaffe doch einmahl diesem langwierigen blutigen Kriegs-Wesen ein gnädiges Ende.85 Ebenso sah es Isaac Massa, für den der erste falsche Dmitrij allerdings ein Instrument papistischer Machinationen, von den Jesuiten geplant, war, die durch Gottes Eingreifen ver80 81 82 83

Bussow 1994, XXXIVf. Ebd., XXXVf. und 227–229. Siehe oben, Anm. 38. Bussow 1994, XXXVf.; ausführlich Kunik 1851b, 13–32. Die erste vollständige russische Übersetzung erschien 1831. Nikolaj G. Ustrjalov, Skazanija sovremennikov o Dmitrii Saˇ ast‘ I: Berova Letopis‘ Moskovskaja, Sankt-Peterburg 1831, 2. Aufl., Sanktmozvance. C Peterburg 1837 und 3. Aufl., Sankt-Peterburg 1859. 84 Bussow 1991, 9. Über diese Theaterstücke und die zugrunde liegenden Quellen wird der Verfasser demnächst den Artikel ‚Die Figur des Pseudodemetrius in deutschsprachigen Texten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert‘ in dem von der Verfasserin und ihm vorbereiteten Band „Die ‚Alleinherrschaft‘ der russischen Zaren in der ‚Zeit der Wirren‘ in transkultureller Perspektive“, geplant für 2020, publizieren. 85 Bussow 1961, 327; Bussow 1994, 228.

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hindert werden konnten.86 Beide sahen allerdings sehr klar, dass es sich bei den Ereignissen in Moskowien um einen erbitterten Kampf um die Herrschaft handelte, der von inneren und äußeren Kräften geführt wurde. Als legitimen Herrscher sahen sie keine der in ihren Chroniken beschriebenen Personen an.

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86 Massa 1982, 145.

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Peter Schwieger

Tibet im 18. Jahrhundert. Wo lag die Macht und wer war der Herrscher?1

Abstract In 1642, the Khoshot Mongols helped the Geluk School of Tibetan Buddhism to establish a central Tibetan government with the Dalai Lama at its head. For more than 300 years, this government secured the primacy of religion over politics in Tibet. In the period in question, rule in Tibet was based on a pyramid-shaped social structure, at the top of which was clearly the Dalai Lama, but which always distributed power and domination over several shoulders. As a result of changes in society and in its environment, the structure of governance had to be repeatedly fundamentally modified and rebalanced in the 18th century. Nevertheless, during the entire period, it was always the Dalai Lama who embodied Tibet as a premodern state and could not be separated from it. He stabilized the rule by presenting in his person a whole series of more or less conflictual but ultimately unresolvable differences as unity. The difference in time between before and after became a unity in the person of the sacral ruler, in that the ruling Dalai Lama was regarded as the reincarnation of his predecessor and as an earthly emanation of Avalokites´vara, a timeless figure of salvation. The establishment of the large central Tibetan monasteries as central study locations for the elites of all Geluk Monasteries was one of the links that held together the centre and the periphery. For the general population, particularly the prominent pilgrimage sites in and around Lhasa represented the unity of centre and periphery. Moreover, from the Potala Palace the Bodhisattva Avalokites´vara carried out in person his mission of salvation for the benefit of Tibet. The rule was not tied to family relationships. Rather, the establishment of the central Tibetan government placed political rule on an abstract basis. The prominent status of supremacy was legitimized not only by a religious-ideological construct, but also by a salvation mission aimed at society as a whole. Its fulfillment was to be ensured by a hierocratic organization. As political action was primarily motivated by the task of salvation, political and religious functions were connected by role. On the one hand, this resulted in the unquestioned

1 Der Aufsatz fasst Grundzüge der Herrschaft in Tibet zur Zeit der Dalai Lamas zusammen, die der Verfasser ausführlich in einem Kapitel des Buches ‚Tibet under the Dalai Lamas: Dealing with Conflict in a Buddhist Society‘ dargelegt hat, das der University of Hawai’i Press zur Publikation eingereicht wurde.

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acceptance of domination by the ruled. On the other hand, it inevitably led to conflict, because in practice the moral principles of Buddhism were not always reconcilable with the needs and means of political action. Moreover, the religious functions of the ruler or the moral principles of Buddhism, which claimed validity throughout society, conflicted with Tibetan law and its unconditional enforcement, which was expected by political rule. This difference could only be concealed by a narrative in a rough-and-ready way. The difference between nobility and clergy could finally be represented as a unity in 1751 by establishing a largely stable double structure beneath the person of the Dalai Lama. It meant consolidating a clear primacy of the clergy. As the sacral ruler of Tibet indiscriminately acted as a timeless figure of salvation for the members of all social classes, his person also united the various strata of society into one unity. In that way he did not contribute to the dissolution of social differences, but to their acceptance and thus to a stabilization of the rule. In order to represent the difference between Tibetan sacral rule and foreign, secular claims to sovereignty as a unity, Tibetan Buddhism provided above all the idea of priest and patron. Thus, even foreign rule legitimacy was granted, as long as it presented itself as a protector and promoter of Buddhist teachings. This construction not only enabled a peculiar symbiosis of sacral Tibetan rule and foreign secular rule but made sacral rule in Tibet possible in the first place.

1.

Einführung

Im Jahr 1642 verhalf Gushri Khan, der Anführer der Khoshot-Mongolen, der Geluk-Schule (Dge lugs) des tibetischen Buddhismus zur Etablierung der unter dem Namen Ganden Podrang (Dga‘ ldan pho brang) bekannten Regierung mit dem Dalai Lama an ihrer Spitze. Für etwas mehr als 300 Jahre sicherte diese Regierung in Tibet den Primat der Religion gegenüber der Politik. Doch um was für eine Herrschaft handelte es sich überhaupt? Wo lag die Macht und wer war der Herrscher? Wenn wir im Sinne von Max Webers klassischer Definition von Herrschaft danach fragen, wer grundsätzlich die Chance hatte, „für einen Befehl bestimmten Inhalts“ in der tibetischen Gesellschaft zur Zeit des Ganden Podrangs „Gehorsam zu finden“,2 so enthüllen tibetischsprachige Herrscherurkunden, dass sich Herrschaft in Tibet in der fraglichen Epoche auf ein pyramidenförmiges gesellschaftliches Gefüge stützte, an dessen Spitze zwar deutlich hervorgehoben der Dalai Lama stand, das aber Macht und Herrschaftsausübung stets auf mehrere Schultern verteilte. Veränderungen in der Gesellschaft und in ihrer Umwelt 2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, ed. Johannes Winckelmann (Studienausgabe), 5. Aufl., Tübingen 1972 (ND Tübingen 1980, Originalausg. 1922), 28.

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hatten zur Folge, dass das Herrschaftsgefüge darüber hinaus im 18. Jahrhundert wiederholt grundlegend modifiziert und neu ausbalanciert werden musste, sodass beim näheren Hinschauen Herrschaft zur Zeit des Ganden Podrang keineswegs als eine statische Größe erscheint. Dennoch war es während der gesamten, etwas mehr als dreihundertjährigen Periode des Ganden Podrang stets der Dalai Lama, der Tibet als vormodernen Staat verkörperte und nicht von ihm zu trennen war. Er stabilisierte die Herrschaft, indem in seiner Person eine ganze Reihe mehr oder weniger konfliktträchtiger, aber letztlich nicht aufhebbarer Differenzen als Einheit dargestellt wurde: die zeitliche Differenz des Vorher und Nachher, die räumliche Differenz von Zentrum und Peripherie, die Differenzen von Religion und Politik, Moral und Politik, Moral und Recht, die soziale Differenz von oben und unten, die Differenz von Adel und Klerus sowie die Differenz von tibetischer sakraler Herrschaft und fremder säkularer Herrschaft. Die Einheit all dieser elementaren Differenzen sollte durch den Dalai Lama sichergestellt werden.

2.

Zeitliche und räumliche Differenz

Die zeitliche Differenz von Vorher und Nachher wurde in der Person des sakralen Herrschers zur Einheit, indem der jeweils regierende Dalai Lama zum einen als Wiederverkörperung seines Vorgängers und zum anderen als irdische Emanation einer überzeitlichen Heilsgestalt angesehen wurde, die die Geschichte Tibets von ihren Anfängen an begleitet hat und die Herrscherrolle in der tibetischen Gesellschaft immer wieder aufs Neue zur Erfüllung und Fortführung eines selbstgewählten, speziell auf die tibetische Gesellschaft zielenden Heilsauftrags annimmt.3 Durch diese Institution kann man den Herrscher als denselben wiedererkennen, auch wenn die Personen wechseln. Die auf diese Weise vorgenommene Überbrückung der zeitlichen Differenz schützte allerdings nicht vor möglichen Konflikten in den Phasen des Übergangs von einem Herrscher zum nächsten. Suche und Identifikation der Reinkarnation sowie Minderjährigkeit eines Rolleninhabers waren natürliche Schwachstellen, die bei unterschiedlichen Interessenlagen regelmäßig Konfliktchancen eröffneten. Niklas Luhmann zufolge ist es die Einheit von Zentrum und Peripherie und die mit ihr verbundene Territorialisierung der Herrschaft, die die Bezeichnung ‚früher Staat‘ rechtfertigt.4 Administrativ sollte die räumliche Differenz von 3 Siehe Peter Schwieger, History as Myth: On the Appropriation of the Past in Tibetan Culture. An Essay in Cultural Studies, in: Gray Tuttle/Kurtis R. Schaeffer (edd.), The Tibetan History Reader, New York 2013, 64–86, hier 74–78. 4 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik (Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 3), Frankfurt a. Main 1993, 145f. Vgl. dazu auch ebd., 109–112.

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Zentrum und Peripherie durch die Einrichtung von Distrikten und die Ernennung von Distriktbeauftragten überbrückt werden. Die Etablierung der großen zentraltibetischen Klöster als zentrale Studienorte für die Eliten sämtlicher Klöster der Geluk-Schule wirkte zusätzlich als Klammer, die Zentrum und Peripherie zusammenhielt. Für die allgemeine Bevölkerung repräsentierten insbesondere die herausgehobenen Pilgerstätten in und um Lhasa die Einheit von Zentrum und Peripherie, allen voran der Jokhang (Jo khang), der älteste buddhistische Tempel Tibets, und der Potala, der Sitz des Dalai Lama. Vom Potala-Palast aus, eindrucksvoll und weithin sichtbar vor den Toren des alten Lhasa gelegen und nach der mythischen Residenz des Bodhisattva Avalokites´vara benannt, führte der leibhaftig präsente Avalokites´vara seinen Heilsauftrag zum Wohle Tibets aus. Auch die Auffindung eines neuen Dalai Lama konnte ein strategisches Mittel sein, die Peripherie an das Zentrum zu binden. So festigte die Geburt des sechsten Dalai Lama in einem Gebiet unmittelbar südlich der heutigen Grenze zu Indien die Einbeziehung dieses Grenzgebietes in den Herrschaftsbereich der tibetischen Regierung. Und die Auffindung einer ganzen Reihe von Dalai Lamas in Osttibet während des 18. und 19. Jahrhunderts stärkte die Anbindung dieser Region an das Zentrum. Aus dieser okkasionellen Praxis entwickelte sich jedoch keine strukturelle Beteiligung der Peripherie an den politischen Entscheidungen des Zentrums.

3.

Differenzen von Religion und Politik, von Moral und Politik und von Moral und Recht

Die Herrschaft des Ganden Podrang war nicht an Verwandtschaftszusammenhänge gebunden. Das unterschied sie von anderen Herrschaftssystemen, wie sie auch zu Zeiten des Ganden Podrang in der Peripherie des tibetischen Siedlungsgebietes fortbestanden. Die Etablierung des Ganden Podrang in Zentraltibet stellte dagegen politische Herrschaft auf eine abstrakte Grundlage. Dabei wurde der prominente Status der höchsten Herrschaftsrolle nicht allein durch ein religiös-weltanschauliches Konstrukt legitimiert, sondern darüber hinaus durch eine auf die gesamte Gesellschaft zielende Heilsmission, deren Erfüllung durch einen hierokratischen Verband sichergestellt werden sollte. Das Ausmaß, in dem der Ämterapparat hierokratisch geleitet war, variierte im Verlauf der Ganden Podrang-Herrschaft beträchtlich. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beruhte die Herrschaft sogar nur noch nominell auf Hierokratie. Dennoch sprechen wir in Bezug auf die gesamte Epoche von Hierokratie, weil dieses

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Herrschaftsprinzip auch zu jener Zeit nie offen als die alle Differenzen einigende Klammer in Frage gestellt wurde und der Form nach bestehen blieb. Indem politisches Handeln in erster Linie durch den Heilsauftrag motiviert war, wurden Entscheidungen im politischen System im Großen und Ganzen unabhängig von persönlichen Motiven getroffen. Auf diese Weise wurden jedoch politische und religiöse Funktionen rollenmäßig miteinander verbunden. Die Verbindung sollte die Tugendhaftigkeit des Herrschers sicherstellen, galt sie doch – wie Luhmann es ausdrückt – „als Rezept für schwierige Lagen“, „als primäres Staatsmittel in der Annahme, daß die Untertanen sich dadurch zu Nachahmung und Gehorsam verleiten lassen würden“.5 Dies brachte auf der einen Seite den Vorteil fragloser Akzeptanz der Herrschaft und der politischen Entscheidungen durch die Beherrschten mit sich, führte aber auf der anderen Seite unweigerlich zu Konflikten, weil die moralischen Prinzipien und Tugendkataloge des Buddhismus in der Praxis nicht immer mit den Erfordernissen und Mitteln politischen Handelns in Einklang zu bringen waren. Zwar versuchte der sakrale Herrscher Tibets bereits zu Beginn der Ganden Podrang-Herrschaft diesem Dilemma zu entkommen, indem er die politischen Geschäfte weitgehend einem Regenten übertrug, doch ließ sich auf diese Weise das ethische Problem der Verantwortlichkeit für die zu treffenden politischen Entscheidungen nicht grundlegend lösen, da Herrschaft und Religion eng aneinander gebunden blieben: Die Herrschaft setzte die Religion voraus, indem sie durch Religion legitimiert wurde. Und umgekehrt setzte die Religion die Herrschaft voraus, indem sie ihr die bestmöglichen Bedingungen zur Erfüllung ihres Heilsauftrags ermöglichen sollte. Die religiösen Funktionen des Herrschers bzw. die in der gesamten Gesellschaft Geltung beanspruchenden moralischen Prinzipien des Buddhismus gerieten darüber hinaus in Widerspruch zum tibetischen Recht und seiner von der politischen Herrschaft erwarteten bedingungslosen Durchsetzung. Bereit zu sein, das Recht in jedem Fall durchzusetzen, implizierte nicht allein die bloße Androhung von Gewalt, sondern auch die Bereitschaft, sie gegebenenfalls anzuwenden. Die Differenz von Moral und Recht konnte lediglich notdürftig durch eine von der buddhistischen Geschichtsschreibung vorgenommene narrative Rahmung sowie einen allgemeinen Verweis auf die moralischen Prinzipien des Buddhismus kaschiert werden.6

5 Ebd., 104. 6 Bsod nams tshe ring (ed.), Snga rabs bod kyi srid khrims, Beijing 2004, 223–232, 255f. Siehe auch Dieter Schuh, Recht und Gesetz in Tibet, in: Louis Ligeti (ed.), Tibetan and Buddhist Studies. Commemorating the 200th Anniversary of the Birth of Alexander Csoma de Ko˝ro˝s, Budapest 1984, 291–311, hier 298–301.

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4.

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Soziale Differenz und Differenz zwischen Adel und Klerus

Folgt eine Gesellschaft in ihrer Ordnung einem hierarchischen Modell mit einem eindeutigen Machtgefälle, so kommt es – in den Worten Luhmanns formuliert – zu „einer v e r t i k a l e n A u s d i f f e r e n z i e r u n g s p e z i f i s c h e r H e r r s c h a f t s r o l l e n und damit zur A u s b i l d u n g e i n e s p o l i t i s c h e n S y s t e m s ü b e r d e n F a m i l i e n“.7 In den Herrschaftsrollen werden Kompetenzen für Entscheidungen zentralisiert, die für die gesamte Gesellschaft verbindlich sind. Dies impliziert, dass die Herrschaftsrollen über die Macht verfügen, die Entscheidungen durchzusetzen. Indem die Zustimmung für die Entscheidungen „gleichsam pauschal vorweg erteilt“ wird und zudem gewährleistet wird, „daß entschieden werden kann, nicht aber was entschieden wird“, ist das politische System in der Lage, verhältnismäßig schnell und flexibel auf Unvorhergesehenes zu reagieren und so mit einer „zeitlich und sachlich komplexen Umwelt“ kompatibel zu bleiben.8 Inwiefern waren in Bezug auf die tibetische Gesellschaft wesentliche Kriterien erfüllt, die es erlauben würden, von der Ausbildung eines politischen Systems zu sprechen? Am Anfang der Geschichte der Ganden Podrang-Regierung stand eine Konzentrierung von Machtressourcen, insbesondere die Erlangung der Kontrolle über die Ausübung physischer Gewalt als dem wichtigsten Machtmittel. Sie ermöglichte die Errichtung einer zentralistischen Herrschaft, durch die wiederum Landnutzung, Steuereinziehung, Nutzung der Arbeitskraft der Landbevölkerung und anderes mehr vom Zentrum her organisiert werden konnten. Wie effektiv dies bereits in den ersten Jahren dieser Regierung gelungen war, zeigen beispielhaft Organisation und Bau des Potala-Palastes. Bemerkenswert und außergewöhnlich aber ist, dass die Organisation der Kriegsführung von Beginn der Ganden Podrang-Herrschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den Händen fremder Herrscher blieb und dennoch erfolgreich zur Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse auf wenige Herrschaftsrollen innerhalb der tibetischen Gesellschaft genutzt werden konnte.9 Erst im 19. Jahrhundert nahm die tibetische Regierung dann notgedrungen auch die Organisation der Kriegsführung selbst in die Hand.

7 Niklas Luhmann, Politische Soziologie, ed. André Kieserling, Berlin 2015, 58 (Hervorhebung im Original). 8 Ebd., 62–64. 9 Zur Ausbildung einer Zentralinstanz als Voraussetzung für die Ausdifferenzierung eines politischen Systems siehe Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, ed. André Kieserling, Frankfurt a. Main 2000, 71f.

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Eine weitere Voraussetzung dafür, dass es zur Ausdifferenzierung eines politischen Systems kommt, liegt – wenn wir bereit sind Luhmann zu folgen – in der Verwendung von Macht als Medium. Es geht darum, „Macht, ähnlich wie Geld, als Mittel für noch undefinierte Zwecke anzusehen. Drohung mit physischer Gewalt kann so viel Verschiedenes bewirken, daß man einen Erzwingungsapparat aufbauen kann, ohne sich im voraus schon auf die Politik festzulegen, die man damit im einzelnen durchsetzen will. Macht in diesem Sinne ist ein generalisiertes Potential, ein generalisiertes Medium, und dieser Zuwachs an Möglichkeiten und an Bedarf für interne Einschränkung ihres Gebrauchs fällt im politischen System an. In diesem Sinne ist Macht ein politischer Begriff, und die Frage bleibt nur, ob und wieweit die Politik in der Lage ist, den Machtgebrauch politisch zu kontrollieren.“10

Als Medium symbolisiert Macht die Einheit der Differenz von Gehorsam als präferierter Alternative und Sanktion als der zu vermeidenden Alternative. Wird die Gewalt tatsächlich ausgeübt, hat die Macht versagt. Damit Macht auf Dauer bestehen bleibt, muss demnach die Anwendung des Sanktionsmittels physische Gewalt weitgehend auf ihre Möglichkeit beschränkt bleiben, darf sie nicht mehr als eine Drohung sein. Darin liegt die Paradoxie des Mediums Macht.11 Ferner muss Macht in irgendeiner Form sichtbar bleiben, um als Medium erfolgreich zu sein, und das heißt: damit an sie geglaubt und vorausgreifend gehorcht wird. Dies geschieht vor allem in der Form von Ämtern. Sie üben Macht im Auftrag der Herrschaft aus. Sie sind „eine andere, im Vergleich zum Kampf oder zur bloßen Demonstration von Stärke funktional äquivalente Form des Erscheinens von Macht. An Ämtern wird politische Macht sichtbar, ohne daß sie ihre Machtmittel laufend riskieren muß. Ämter sind eine friedliche Form der Präsentation und Ausübung von Macht.“12

Politische Ämter erlauben es, Macht situationsunabhängig zu identifizieren, nicht an wechselnden Personen, sondern an den von wechselnden Personen besetzten Stellen. Indem sie Macht unter den Bedingungen der Ausübung politischer Ämter zur Verfügung stellen, erleichtern sie die Akzeptanz von Entscheidungen auch in solchen Fällen, in denen zunächst eine Ablehnung wahrscheinlicher ist.13 Die Stellen verwalten die Macht.14 Bereits die frühe Ganden Podrang-Regierung des 17. Jahrhunderts trieb die Einrichtung einer Verwaltung mit ausdifferenzierten Stellen voran, die von verschiedenen Personen besetzt wurden. Zwar blieb führenden Familien der tibe10 Ebd., 56. 11 Claudio Baraldi/Giancarlo Corsi/Elena Esposito, GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a. Main 1997, 113–115. Siehe auch Luhmann 2000, 35. 12 Luhmann 2000, 91. 13 Ebd., 59f. Vgl. auch ebd., 38, 52. 14 Ebd., 86.

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tischen Oberschicht ein großer politischer Einfluss erhalten, doch wurde die „p o l i t i s c h e H e r r s c h a f t u n a b h ä n g i g v o n Ve r w a n d t s c h a f t s b e z i e h u n g e n“ stabilisiert.15 Sie lehnte sich an die als natürliche Ordnung ausgegebene Differenz von oben und unten an und stellte die Differenz von oben und unten als Einheit dar. Es erfolgte eine Aufgabenteilung entlang der vertikalen Achse verbunden mit einer einseitigen Befehlsgewalt von oben nach unten. Nach der Errichtung der Ganden Podrang-Regierung wurde eine Reihe neuer Dienststellen und Ämter geschaffen, denen genau umrissene Aufgabenbereiche innerhalb der Verwaltung zugeordnet wurden: General, Richter, Beauftragter für das Handwerk, Chef der Abteilung für die Steuereinnahmen, Lagerhausverwalter, Bürgermeister der Hauptstadt Lhasa, Verantwortliche für Futterheu und Brennholz, Kaufleute, Boten, Steuereintreiber, Vorratsverwalter, Distriktgouverneure und Verwalter der Regierungsgüter.16 Eingerichtet wurde auch das Amt des Ministers, wobei unklar ist, welche Aufgaben ihm in der Anfangszeit der Ganden Podrang-Regierung genau zugewiesen wurden. Der letzte Regent unter dem fünften Dalai Lama, Sangyé Gyatso (Sangs rgyas rgya mtsho), verfasste 1681 eine Abhandlung über die Aufgaben und Pflichten der einzelnen Amtsträger der Regierung, angefangen mit denjenigen des Regenten selbst. Das Werk hebt jedoch in Bezug auf das Ministeramt vor allem allgemeine Fertigkeiten, Charaktereigenschaften und moralische Qualifikationen als Voraussetzung für gute Amtsführung hervor, gewährt aber keinen Einblick in die mit dem Amt verbundenen spezifischen Aufgabenfelder und Routinen.17 Nach der Vertreibung der Dsungaren aus Zentraltibet durch die vom KangxiKaiser entsandten Truppen installierte dann die Qing-Regierung 1721 einen Ministerrat als oberstes tibetisches Regierungsorgan in Lhasa. Das Amt des Regenten, so wie es unter dem fünften Dalai Lama geschaffen worden war und wie es vor allem nach seinem über viele Jahre geheim gehaltenen Tod mit großer Machtfülle ausgestattet gewesen war, wurde abgeschafft. Stattdessen lag die Macht nun in den Händen des Ministerrates, der aus zunächst drei und bald fünf Mitgliedern des segmentären Adels zusammengesetzt war. Den einzelnen Ministerposten waren keine abgegrenzten Ressorts zugeordnet. Khangchenné (Khang chen nas), der im Ministerrat Westtibet vertrat, sollte die schwach ausgeprägte Rolle eines primus inter pares ausfüllen. Ansonsten sollten Entscheidungen gemeinsam getroffen und Herrschaft kollegial ausgeübt werden. Der Dalai Lama bildete weiterhin die für unverzichtbar gehaltene einigende Spitze 15 Luhmann 2015, 59 (Hervorhebung im Original). 16 Dung dkar Blo bzang ’phrin las, Bod kyi chos srid zung ’brel skor bshad pa, Beijing 2004, 73, 101. 17 Sangs rgyas rgya mtsho, Blang dor gsal bar ston pa’i drang thig dwangs shel me long nyer gcig pa, in: Rdo sbis Tshe ring rgyal/Rdo sbis Tshe ring rdo rje (edd.), Bod kyi khrims srol skor gyi lo rgyus yig tshags phyogs sgrig: zhal lce phyogs sgrig, Lhasa 2016, 364–457, hier 388–392.

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dieser Herrschaft, doch beschränkte sich seine Funktion nun vorwiegend auf ihre Repräsentation. Der Pendelausschlag hin zu einer erneuten Stärkung der tibetischen Aristokratie im Verhältnis zum buddhistischen Klerus setzte sich auch nach dem tibetischen Bürgerkrieg von 1727 bis 1728 fort, wurde allerdings nun auf Veranlassung des Kaiserhofes auf eine Konzentration der Macht in den Händen eines einzigen Vertreters des tibetischen Adels zugespitzt. Die Etablierung einer weitgehend stabilen Doppelstruktur von Adel und Klerus gelang erst 1751. Sie bedeutete zugleich die erneute eindeutige Vorrangstellung des Klerus. Installiert wurde sie durch abermaliges Eingreifen des QingKaisers und seiner Regierung. Mit einigen Modifikationen existierte sie bis zum Ende der Ganden Podrang-Herrschaft in Tibet. Der Dalai Lama stand jetzt nicht mehr nur nominell der tibetischen Regierung vor, sondern war mit höherer Entscheidungsbefugnis ausgestattet, sah seine Macht aber bis zum Ende der Qing-Dynastie in China durch die Kontrolle der ihm zur Seite gestellten beiden ständigen Repräsentanten des Kaisers in Lhasa eingeschränkt. Ihre Zustimmung war beispielsweise bei der Ernennung von Ministern und Distriktbeauftragten erforderlich.18 Nach dem Tod des siebten Dalai Lama im Jahr 1757 wurde erneut das Amt eines Regenten eingeführt. Dabei hatte man jedoch einen Regenten neuen Typs im Sinn, der sich in Funktion und Befugnis deutlich von den unter dem fünften Dalai Lama agierenden Regenten unterscheiden sollte. Daher wurde er auch mit einem neuen Terminus bezeichnet, der unterstreicht, dass der Regent nur ein Stellvertreter sein sollte und die Stelle lediglich der Überbrückung der Vakanz und der Minderjährigkeit des Dalai Lama diente.19 Doch bereits die Regierungszeit des achten Dalai Lama bildete eine Ausnahme. Weder zeigte er ein besonderes Interesse an politischen Angelegenheiten, noch bewies er diesbezüglich großes Geschick. So willigte der Kaiser ein, dass der achte Dalai Lama nahezu während seiner gesamten Regierungszeit von einem Regenten unterstützt wurde. Im Unterschied zu den Regenten alten Typs wurden die neuen Regenten jeweils aus einem eng begrenzten Reservoir hoher Reinkarnationen der buddhistischen Geluk-Schule ausgewählt. Die letzte Entscheidung über die Ernennung eines Regenten traf der Kaiser. Lediglich in der letzten Phase der QingDynastie scheint die Entscheidungsbefugnis des Kaisers zu einer bloßen Formsache geworden zu sein. Den Reinkarnationsstatus hatten die Regenten mit dem sakralen Herrscher Tibets gemein. Doch war in ihrem Fall das Amt nicht an eine einzige Reinkarnationslinie gekoppelt, sondern wechselte zwischen verschiede18 Siehe Peter Schwieger, The Dalai Lama and the Emperor of China. A Political History of the Tibetan Institution of Reincarnation, New York 2015, 146, 150, 158, 159, 161. 19 Der alte, bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts verwendete Terminus war desi (sde srid). Nach 1757 wurde dann für den Regenten neuen Typs der Terminus gyeltsap (rgyal tshab) verwendet.

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nen Reinkarnationslinien. So sollte möglicher Rivalität um die höchste Herrschaftsrolle in der tibetischen Gesellschaft vorgebeugt werden. Unterhalb des Herrschers übte ein kollektiv beratender und agierender vierköpfiger Ministerrat die Regierungsgeschäfte aus. Drei seiner Mitglieder entstammten der zentraltibetischen Aristokratie. Ein Mitglied stellte der Klerus der Geluk-Schule. Der Ministerrat verteilte die anstehenden Aufgaben auf die verschiedenen untergeordneten Amtsstellen, nahm später deren Berichte und Empfehlungen für Entscheidungen entgegen, prüfte sie, korrigierte sie gegebenenfalls und leitete sie dann zur Entscheidung an den Herrscher weiter. Aus dieser Schlüsselstellung erwuchs dem Ministerrat die Möglichkeit, auf die politischen Entscheidungen des Herrschers Einfluss zu nehmen.20 Neben dem Ministerrat wurde zur Zeit des achten Dalai Lama das Amt eines obersten Abtes geschaffen.21 Er trug nicht nur die Verantwortung für die private Schatzkammer und den Haushalt des Dalai Lama, sondern fungierte auch als Bindeglied zwischen dem Dalai Lama und der Yiktsang (Yig tshang) genannten Kanzlei, die für alle administrativen und rechtlichen Belange der Klöster Tibets zuständig war. Geleitet wurde sie von vier Sekretären, die aus dem Klerus rekrutiert wurden. Der oberste Abt und die für monastische Angelegenheiten zuständige Kanzlei garantierten darüber hinaus gemeinsam die sichere Verwahrung der Amtssiegel des Dalai Lama bzw. des Regenten.22 Dem Ministerrat unterstand eine ganze Reihe von Ämtern mit spezifischen Aufgaben.23 Das wichtigste Amt war das Rechnungsamt. Seine Geschichte geht bis in die Anfangsphase der Ganden Podrang-Regierung zurück. Es war zuständig für die Registrierung des Land- und Viehbesitzes der in den verschiedenen Distrikten gelegenen Ländereien und für die Berechnung von Steuer- und Pachteinnahmen. Auch wurde es vom Ministerrat mit der Behandlung von Rechtsstreitigkeiten über Landnutzung und Steuern betraut. Geleitet wurde es von drei Laienbeamten. In den 1930er Jahren kam ein vierter leitender Beamter hinzu.24 Alle wurden aus dem Adel rekrutiert. Ihnen unterstanden drei, später vier jüngere Kollegen sowie ein Archivar, der im Bedarfsfall den übrigen Beamten die jeweils benötigten Urkunden und Akten heraussuchte.

20 Melvyn C. Goldstein, An Anthropological Study of the Tibetan Political System, Diss. University of Washington, Seattle 1968, 173–180. 21 Dung dkar Blo bzang ’phrin las, Dung dkar tshig mdzod chen mo, Beijing 2002, 1305. 22 Dieter Schuh, Grundlagen tibetischer Siegelkunde. Eine Untersuchung über tibetische Siegelaufschriften in ’Phags-pa-Schrift (Monumenta Tibetica Historica III/5), Sankt Augustin 1981, 16. 23 Zu Auflistungen von Ämtern siehe Goldstein 1968, 172; Tshe ring don grub/O rgyan chos ’phel (edd.), Bod ljongs spyi bshad, 2 Bde., Bd. 1, Lhasa 1991, 667. 24 Gling dpon Padma skal bzang, De snga’i bod sa gnas srid gzhung gi gzhung yig thog gi tha snyad spyod srol dang ’brel yod phyogs bsdus gsal ’grel, Beijing 2011, 162.

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Bemerkenswert ist, dass der Dalai Lama bzw. der Regent weder die Kontrolle über die Auswahl der Aristokratensöhne für die Beamtenausbildung noch eine wirkliche Entscheidungsgewalt über ihre generelle Aufnahme in den Beamtendienst hatte. Er konnte den Eintritt von Söhnen der tibetischen Aristokratie in die Beamtenschaft allenfalls hinauszögern; verhindern konnte er ihn aber letztlich nicht. Daher war die aristokratische Beamtenschaft Tibets weitgehend autonom in der Rekrutierung ihres Nachwuchses.25 Bei allen Modifikationen der Ämterhierarchie innerhalb der tibetischen Regierung und Verwaltung blieb die Position des Dalai Lama an ihrer Spitze unangetastet. In mancher Hinsicht ähnelte diese Position derjenigen eines Monarchen, in anderer Hinsicht unterschieden sich beide deutlich voneinander. Ebenso wie bei einem Monarchen wurde auch beim Dalai Lama nicht zwischen Amt und Person unterschieden. Ähnlich einem Monarchen und sogar noch in weitaus größerem Maße repräsentierte der Dalai Lama überirdische Mächte. Zwar war er kein Herrscher ‚von Gottes Gnaden‘, doch galt er als unmittelbare Verkörperung einer überirdischen Heilsgestalt. Und ähnlich einem Monarchen repräsentierte der Dalai Lama die Einheit aller Untertanen. Dies trifft auf ihn sogar in weit höherem Maße zu: Indem der sakrale Herrscher Tibets unterschiedslos für die Mitglieder aller sozialen Schichten als Heilsgestalt fungierte, band seine Person die verschiedenen Schichten zu einer Einheit zusammen. Damit trug er keineswegs zu einer Auflösung sozialer Differenzen bei, sondern zu ihrer Akzeptanz und damit zu einer Stabilisierung der Herrschaft. Doch in einem wesentlichen Punkt unterschied sich die Position des Dalai Lama von derjenigen eines Monarchen. Während ein Monarch „durch Herkunft, also dynastisch legitimiert wurde“,26 wurde ein Dalai Lama durch Verfahren legitimiert. Wie Luhmann hervorhebt, müssen Verfahren „mit ehrlicher Ungewißheit über den Ausgang eingeleitet werden. Die sogenannte ‚Prozeduralisierung‘ der Legitimität heißt im wesentlichen: Einstellung auf eine unbekannte Zukunft, in der entgegengesetzte Wertungen zum Zuge kommen können.“27 Suche, Auffindung und Identifikation eines Dalai Lama waren ein offener Prozess. Zwar war das Verfahren – wie die Geschichte zeigt – nicht immun gegen Manipulation und Einflussnahme, doch weist die Einsetzung unterschiedlicher Verfahrensbestandteile – Divination, Befragung verschiedener Orakel, Visionen, Prüfung mehrerer als Kandidaten in Frage kommender Kinder und nicht zuletzt die vom Qianlong-Kaiser Ende des 18. Jahrhunderts angeordnete Einführung eines Losverfahrens – auf das grundsätzliche Bemühen um ein offenes Verfahren hin. Ohne Zweifel ließ das Verfahren Raum, strategischen Überlegungen bei der 25 Goldstein 1968, 151f. 26 Luhmann 2000, 74. 27 Ebd., 124.

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Suche nach einem neuen Dalai Lama Rechnung zu tragen. Man denke nur an die Auffindung des vierten Dalai Lama unter den Mongolen oder die Auffindung des sechsten Dalai Lama in einer mit Bhutan umkämpften Grenzregion. Doch das änderte nichts daran, dass das Verfahren aus der Sicht der Gesellschaft prinzipiell ein offenes war. Allerdings war es mit der Annahme verbunden, dass der Ausgang des Verfahrens – solange es denn korrekt durchgeführt wurde – aus der Perspektive der überzeitlichen Heilsgestalt des Avalokites´vara bereits feststand. Ab dem 19. Jahrhundert blieb die Offenheit des Verfahrens nicht auf die Mitglieder der tibetischen Oberschicht beschränkt, sodass Dalai Lamas jetzt auch in Familien der Unterschicht gefunden wurden. Anschließend wurden die Familien jedoch mit großen Ländereien ausgestattet und in die Oberschicht aufgenommen. Trotz dieses markanten Unterschieds zwischen der Position eines Monarchen und derjenigen eines Dalai Lama stellt sich die Frage, ob wir es bei der tibetischen Ämterhierarchie nicht dennoch ebenfalls mit einem Hierarchiemodell zu tun haben, „bei dem die Spitze wie von außen regieren könnte.“28 Doch in der tibetischen Gesellschaft konnte der Herrscher nicht willkürlich, also ohne Rücksichtnahme auf das Recht und seine Verfahren, entscheiden, auch wenn er selbst über dem Recht stand. Dass auch der sakrale Herrscher einem Rechtsverfahren unterworfen werden könnte, ohne dass zugleich auch sein Status infrage gestellt worden wäre, war innerhalb der tibetischen Gesellschaft unvorstellbar. Nichtsdestotrotz wurden er und seine Regierung nach dem tibetischen Bürgerkrieg zunehmend durch die Repräsentanten des Qing-Kaisers und seine Regierung kontrolliert. Er selbst konnte zwar nicht offen zur Rechenschaft gezogen werden, doch indem seine Berater und Minister ebenso wie die Regenten verantwortlich gemacht werden konnten, war ein pragmatischer Ausweg gefunden. Die Möglichkeit eines offenen Dissens zwischen dem Dalai Lama selbst und dem Kaiser war dabei nicht vorgesehen, wurden doch beide als weit fortgeschrittene Bodhisattvas konzipiert, die aufgrund ihrer Weisheit und Tugenden in ihren auf das Wohl der Lebewesen und der buddhistischen Lehre zielenden Absichten übereinstimmen sollten. Entscheidungen mussten daher immer den Eindruck des Einvernehmens erwecken.

28 Ebd., 84f.

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5.

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Differenz von tibetischer sakraler Herrschaft und fremder säkularer Herrschaft

Das führt uns zu der abschließenden Frage, wie sich die Differenz von tibetischer sakraler Herrschaft und fremden, auch die tibetische Gesellschaft einbeziehenden säkularen Herrschaftsansprüchen als Einheit darstellen ließ. Dazu stellte der tibetische Buddhismus vor allem die Idee von Opferpriester und Gabenherr bzw. Priester und Patron bereit, durch die auch fremder Herrschaft Legitimation eingeräumt werden konnte, solange sie sich als Beschützer und Förderer der buddhistischen Lehre präsentierte. Diese Konstruktion ermöglichte nicht nur eine eigentümliche Symbiose von sakraler tibetischer Herrschaft und fremder säkularer Herrschaft. Durch sie war sakrale Herrschaft in Tibet überhaupt erst möglich geworden. Ohne fremde Machtressourcen wäre weder die Errichtung der Ganden Podrang-Herrschaft im 17. Jahrhundert möglich gewesen, noch hätte sie sich im 18. Jahrhundert behaupten können. Doch welchen Platz der Kaiser letztlich im tibetischen Hierarchiemodell einnahm, wurde keinesfalls von beiden Seiten in gleicher Weise interpretiert. Zwar war bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine nicht mehr anzuzweifelnde Abhängigkeit der Ganden Podrang-Regierung vom Qing-Kaiser geschaffen worden, doch entwickelte sich die Beantwortung der Frage, welche Stelle dem Kaiser zukam, zu einem zähen Aushandlungsprozess, der sich im Grunde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hinzog. Ungelöst wurde er im 19. Jahrhundert stillschweigend ad acta gelegt, um dann im 20. Jahrhundert als Zündstoff für neue Konflikte bereitzuliegen.

Quellen- und Literaturverzeichnis Claudio Baraldi/Giancarlo Corsi/Elena Esposito, GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a. Main 1997. Bsod nams tshe ring (ed.), Snga rabs bod kyi srid khrims, Beijing 2004. Dung dkar Blo bzang ’phrin las, Dung dkar tshig mdzod chen mo, Beijing 2002. Dung dkar Blo bzang ’phrin las, Bod kyi chos srid zung ’brel skor bshad pa, Beijing 2004. Gling dpon Padma skal bzang, De snga’i bod sa gnas srid gzhung gi gzhung yig thog gi tha snyad spyod srol dang ’brel yod phyogs bsdus gsal ’grel, Beijing 2011. Melvyn C. Goldstein, An Anthropological Study of the Tibetan Political System, Diss. University of Washington, Seattle 1968. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik (Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 3), Frankfurt a. Main 1993. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, ed. André Kieserling, Frankfurt a. Main 2000. Niklas Luhmann, Politische Soziologie, ed. André Kieserling, Berlin 2015.

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Sangs rgyas rgya mtsho, Blang dor gsal bar ston pa’i drang thig dwangs shel me long nyer gcig pa, in: Rdo sbis Tshe ring rgyal/Rdo sbis Tshe ring rdo rje (edd.), Bod kyi khrims srol skor gyi lo rgyus yig tshags phyogs sgrig: zhal lce phyogs sgrig, Lhasa 2016, 364–457. Dieter Schuh, Recht und Gesetz in Tibet, in: Louis Ligeti (ed.), Tibetan and Buddhist Studies. Commemorating the 200th Anniversary of the Birth of Alexander Csoma de Ko˝ro˝s, Budapest 1984. Dieter Schuh, Grundlagen tibetischer Siegelkunde. Eine Untersuchung über tibetische Siegelaufschriften in ’Phags-pa-Schrift (Monumenta Tibetica Historica III/5), Sankt Augustin 1981. Peter Schwieger, History as Myth: On the Appropriation of the Past in Tibetan Culture. An Essay in Cultural Studies, in: Gray Tuttle/Kurtis R. Schaeffer (edd.), The Tibetan History Reader, New York 2013, 64–86. Peter Schwieger, The Dalai Lama and the Emperor of China. A Political History of the Tibetan Institution of Reincarnation, New York 2015. Tshe ring don grub/O rgyan chos ’phel (edd.), Bod ljongs spyi bshad, 2 Bde., Lhasa 1991. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, ed. Johannes Winckelmann (Studienausgabe), 5. Aufl., Tübingen 1972 (ND Tübingen 1980, Originalausg. 1922).

Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Mechthild Albert Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Klassische und Romanische Philologie Abteilung für Romanistik Am Hof 1 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Matthias Becher Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Elke Brüggen Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Abteilung für Germanistische Mediävistik Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected]

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Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Dittmar Dahlmann Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Osteuropäische Geschichte Adenauerallee 4–6 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Karina Kellermann Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Abteilung für Germanistische Mediävistik Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Konrad Klaus Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Südasienstudien Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] Dr. Anna Kollatz Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn SFB 1167 ‚Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘ Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] Dr. Diana Ordubadi Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn SFB 1167 ‚Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘ Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected]

Liste der Autorinnen und Autoren

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PD Dr. Alheydis Plassmann Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte Am Hofgarten 22 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Andreas Rutz Technische Universität Dresden Institut für Geschichte Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte Zellescher Weg 17 01069 Dresden [email protected] Prof. Dr. Christian Schwermann Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Ostasienwissenschaften Sektion Sprache und Literatur Chinas Universitätsstraße 134 44780 Bochum [email protected] Prof. Dr. Peter Schwieger Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Mongolistik und Tibetstudien Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] Prof. Dr. Andrea Stieldorf Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Historische Grundwissenschaften und Archivkunde Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected]

Personenregister Lebende Personen wurden nicht aufgenommen. Kaschmirische Königinnen und Könige sind mit tiefgestellten Ziffern versehen, die ihre Reihenfolge angeben.

ʿAbd al-Satta¯r b. Qa¯sim La¯ho¯rı¯ 254, 265 154 54Abhimanyu I. 150f., 168 125Abhimanyu II. Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯ 258 Adelger [Kaiserchronik] 127, 133–139 Adelheid von Maurienne 66, 78 Adelheid von Turin 66 Adeliza von Löwen 65, 68 Adelung, Friedrich von 283 Adolf von Egmond 236f. Adolf I. von Kleve [= Adolf III. von der Mark] 221 Adolf II. von Kleve 221f. Aegidius Romanus 174 Agapetos 275 Agnes von Poitou 64 Agobard von Lyon 85 ¯pı¯da 153, 168 105Ajita ˙ Akbar 254, 257, 259f., 262, 264, 268–270 148, 156 71Aksa ˙ Albertano da Brescia 187 al-Bı¯ru¯nı¯ 259 Albrecht I. von Österreich 198 Albrecht II. von Würzburg 208 Albrecht III. von Österreich 203 Albrecht Friedrich von Preußen 225, 233 Alexander (der Große) 40, 52, 174, 189 Alfons I. von Aragon 65 Alfons X. von Kastilien (der Weise) 173– 175, 177, 180, 188 Alfons XI. von Kastilien 188 Amalia [Schwester Wilhelms V. von JülichKleve-Berg] 224 ˙ ga¯pı¯da 153, 168 106Anan ˙

Ananta 163, 167, 169 Anna [Schwester Johanns III. von JülichKleve-Berg] 223, 226, 228 Anna von Preußen 228 Anselm von Canterbury 99, 101f., 108 Antoinette von Lothringen 227, 237, 240 Aristoteles 174 Arnold von Egmond 236 ´oka 153f. 48As Augustinus von Hippo 131 Aurangzeb 255, 257–259 150, 153, 155, 158, 165 108Avantivarman 132

Ba¯bur 253, 257f., 261f., 266f. 148, 164 67Baka ¯la¯ditya 149, 155 91Ba Baldemann, Otto 195, 200 Ban Gu 班固 48, 52f. 163, 165, 167 98Bappiya Barnwell Chronicler 112 Bathory, Stefan 281, 288 Beatrix von Burgund 66 Beatrix von Canossa 66 Beatrix von Schwaben 186 Becket, Thomas 108, 118 Beer, Martin 288, 290, 293 Benoît de Sainte-Maure 100 Berenguela von Kastilien 186 Bergh, Maria von dem 230–232 Bergh, Wilhelm von den 230 Bertrada von Montfort 64, 66, 70, 74, 78 ¯ cara 153, 166 140Bhiksa ˙ Bhı ¯ magupta 151, 154, 168f. 128 Blanche von Kastilien 74, 81

318 Blanche von Namur 72 Bodin, Jean 220 Bois, Guy 16 Bolotnikov, Ivan I. 289, 291f. Brant, Sebastian 193 Brunner, Otto 16 Buczyn´ski, Jan 286 Bussow, Conrad 273, 283–285, 288–294 Caesar, Gaius Iulius 102, 132 115Cakravarman 148, 150, 152f., 155, 157f., 168 ¯ pı¯da 165 94Candra ˙ Cellarius, Christoph 15 Chandra Bha¯n Brahma¯n 265 Chaucer, Geoffrey 187 Christus 76, 83, 103, 206 Chudda 161 ˙˙ Cicero 288 Cingiz Khan 258 ¯ pı¯da 152, 162, 168 104Cippatajaya ˙ ˙ Dal’, Vladimir 277 ¯ modara I. 150, 154 2Da ¯ modara II. 154 50Da Daniel 131 David 83, 206 Deng Xiaoping 鄧小平 12, 55 Devakalas´a 151 Dhammata 162 ˙ ¯ 149f., 154f., 169 129Didda Dmitrij 279, 287, 291 Dopsch, Alfons 15 Dou Yifang 竇猗房 44–46 Droysen, Johann Gustav 14 155 92Durlabhavardhana Eadmer 99–103 Edward der Bekenner 64, 77 Edward I. von England 79 Edward II. von England 80 Edward III. von England 80 Eisenstadt, Shmuel N. 18 Eleanor von der Provence 84 Eleonore von Aquitanien 66, 77–79, 84 Eleonore von Kastilien 79–81, 84

Personenregister

Elias, Norbert 21 Elisabeth I. von England 221 Elisabeth von Bayern 75 Elisabeth von Burgund 222 Elisabeth von Kärnten, Görz und Tirol 198 Elisabeth von Österreich 71 Erasmus von Rotterdam 216 Erik von Pomeranien 72 Ernst von Baden 224 Ernst von Bayern 240 Esther 75 Eustachius [Sohn Stephens von Blois] 111, 113 Fadrique [Bruder Alfons X. von Kastilien] 185 Fedorovicˇ, Michail 273f., 292 Ferdinand I. von Kastilien und León 186 Ferdinand I. [röm.-dt. Kaiser] 225 Ferdinand II. von Österreich 226 Ferdinand III. von Kastilien und Léon 185 Ferdinand IV. von Kastilien und Léon 187f. Fernando Álvarez de Toledo [Herzog von Alba] 230–232 Flavius Josephus 288 Frangipani, Ottavio 240 Franz I. von Frankreich 224 Franz I. von Lothringen 224 Franz I. Stephan [röm.-dt. Kaiser] 218 Franz II. von Frankreich 74 Friedrich (der Schöne) 77 Friedrich I. (Barbarossa) 69, 95f. Friedrich II. 69, 129f., 196 Friedrich II. von Preußen 219f. Friedrich II. von Österreich (der Streitbare) 196 Friedrich-Ulrich von BraunschweigLüneburg 288–290 ˇ aha¯ngı¯r 253f., 257f., 262, 264f., 268–270 G ˇ ala¯l al-Din Akbar 262 G Gargacandra 169 Geffrei Gaimar 99f. Geoffrey von Mandeville 67 Gerald von Wales 109

319

Personenregister

Gerhard von Jülich-Berg 229 Gervasius von Canterbury 108f. 154 44Godara Godunov, Boris 273f., 277–279, 286–289, 291f. Godunov, Fedor 273f., 278f. Godunova, Irina 277 Godunova, Ksenija 278 156 73Gokarna ˙ Goliath 206 154 1Gonanda I. 153 4Gonanda II. 154, 156 55Gonanda III. Gopa ¯ ditya 148, 156 72 ¯ lavarman 150, 156–158, 167 110Gopa Gottfried von Anjou 67, 109 Gulbadan Bı¯gum 258, 266f. Gundulf von Rochester 102 Guo Moruo 郭沫若 36 Gushri Khan 300 Hals, Frans 288 Han Gaozu 漢高祖 [= Liu Bang 劉邦] 45, 48 Han Guangwudi 漢光武帝 [= Liu Xiu 劉 秀] 50, 53 Han Jingdi 漢景帝 [= Liu Qi 劉啟] 44, 52 Han Wendi 漢武帝 [= Liu Heng 劉恆] 41, 44f., 52 Han Wudi 漢武帝 [= Liu Che 劉徹] 33, 37, 40–55 Han Zhaodi 漢昭帝 [= Liu Fuling 劉弗陵] 43, 47f., 52, 55 ¯ ja 149, 163, 167, 169 131Harira Harold II. 113 153, 160–163, 166, 168 135Harsa ˙ Harst, Karl 235 Hebbel, Friedrich 293 Heinrich I. von England 65, 67f., 77, 99, 104f., 107–110, 112f., 116f. Heinrich II. [röm.-dt. Kaiser] 64 Heinrich II. von England 78, 84, 100, 105, 108, 111, 118 Heinrich III. [röm.-dt. Kaiser] 64 Heinrich III. von England 84 Heinrich IV. [röm.-dt. Kaiser] 97

Heinrich V. [röm.-dt. Kaiser] 64, 66–68 Heinrich VI. [röm.-dt. Kaiser] 97 Heinrich VIII. von England 224 Heinrich von Huntingdon 103f., 109, 113, 116 Helena 216 Henri IV. 286f. Herberstein, Sigismund von 283, 285, 289 Hinkmar von Reims 85 153, 164 84Hiranya ˙ Hobbes, Thomas 220 Holbein, Hans (der Jüngere) 224 Honorius Augustodunensis 127 Horn, Georg 15 Hornburg, Lupold 195, 200, 204–209 Huan Tan 桓譚 53, 55 Hugh the Chanter 100 Hugo von Sankt Viktor 185 Hulsewé, Anthony F.P. 51 Huma¯yu¯n 258f., 261f. 148, 154 51Huska ˙ Ibn al-Muqaffa‘ 174, 177 Ibn Battu¯ta 259 ˙˙ 156 57Indrajit Ioannovicˇ, Fedor 273, 275, 277f., 287 Irmentrud [Gemahlin Karls des Kahlen] 75 Isabella von Angoulême 76, 78, 81, 84 Isabella von Aragon 77 Isabella [= Isabeau] von Bayern 74, 76 Isabella von Brienne 69 Isabella von Frankreich 80 Isabella von Hennegau 76 Ivan IV. (der Schreckliche) 274–277, 280f., 287, 291f. Jakobe von Baden 227, 237–240, 242 149 77Jalaukas Jan von Wien 131 149 46Janaka Jaya¯devı¯ 162, 168 ¯ pı¯da 153, 163, 167 101Jaya ˙ Jayara¯ja 160, 162 168 141Jayasimha ˙ 155 80Jayendra

320 Jeanne d’Albret 224 Jia Yi 賈誼 53 Johann von Kleve [Graf] 221 Johann I. (Ohneland) 79, 84, 105, 113, 117f. Johann I. von Kleve 222 Johann I. von Zweibrücken 226 Johann II. von Kleve 222f. Johann III. von Jülich-Kleve-Berg 222f., 228f. Johann Friedrich I. von Sachsen 224, 234– 236 Johann Georg I. von Sachsen 228 Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg 222, 227, 237, 239f. Johanna I. von Navarra 72f., 81, 84 Johanna II. von Navarra 72f., 84 Johanna von Burgund 81f. Johannes Hispalensis 174 Johannes von Worcester 103, 107, 117 Joseph II. 218 Juan de Osma 185f. Judith [Tochter Karls des Kahlen] 75 148, 154 52Juska ˙ Justinian I. 275 Kalas´a 150, 162f., 166–168 Kalhana 145–151, 154–159, 161–165, 168f. ˙ Kamalavardhana 159f. Kämpfer, Frank 286 Kangxi 康熙 37, 306 148, 154 53Kaniska ˙ Kantorowicz, Ernst 84, 275 Karamzin, Nikolaj 276, 293 Karl I. (der Große) 63, 136, 203 Karl II. (der Kahle) 75 Karl IV. 71, 82, 202 Karl V. 82, 216, 224f., 229f., 234f. Karl VI. von Frankreich 74 Karl IX. von Schweden [= Karl von Södermanland] 285, 288 Karl von Arenberg 226 Karl von Burgau 226 Karl von Egmond 223 Karl von Valois 222 Karnapa 165 ˙ 133

Personenregister

Katharina von Egmond 237 Katharina von Kleve 236 Kayya¯ 162 Khangchenné [= Khang chen nas] 306 ˙ khila-Narendra¯ditya 156 74Khin Khusrau 262 Knox, John 220 Kolumbus, Christoph 15 Konfuzius 37f. Konrad II. von Schlüsselberg 204, 206, 208 Konrad III. 129, 132 Konrad IV. 75 Konstantin (der Große) 15 Konstanze von Kastilien 76, 79 Konstanze von Sizilien 69 Kotzebue, August von 293 150 124Ksemagupta ˙ 148 68Ksitinanda ˙ Kunigunde [Gemahlin Heinrichs II.] 64 Kunik, Arist A. [= Ernst-Eduard Kunick] 284, 288 ´a 149 41Kus ¯pı¯da 152, 165, 167 97Kuvalaya ˙ Lalita¯ditya-Mukta¯pı¯da 167 ˙ ¯pı¯da¯ 152, 162, 168 102Lalita ˙ Lanfranc 102 149, 154 40Lava Lenz, Jacob Michael Reinhold 293 Li Guangli 李廣利 50 Liu Ju 劉據 47, 54 Liu Quli 劉屈氂 47, 50 Lucas von Tuy 185 Ludwig IV. (der Bayer) 77, 204, 207–209 Ludwig VI. von Frankreich 78, 105 Ludwig VII. von Frankreich 78f. Ludwig VIII. von Frankreich 74, 81 Ludwig IX. von Frankreich 74 Ludwig X. von Frankreich [= Ludwig I. von Navarra] 72f. Ludwig XII. von Frankreich 222 Luhmann, Niklas 301, 304f., 309 96

Maestro Pedro 187 Magdalene [Tochter Wilhelms V. von Jülich-Kleve-Berg] 225

321

Personenregister

Magnus von Schweden 72 Manucci, Niccolò 260 Mao Zedong 毛澤東 12f., 20f., 55 Margarete von Frankreich 80 Margarete von Holland-Hennegau 77 Margarete von der Provence 74, 81 Margaretha von Arenberg 226 Margeret, Jacques 284, 286f., 289 Maria 69, 75f., 102 Maria von Brabant 74, 81 Maria von Burgund 86, 222, 237 Maria von Jülich 223, 228f. María de Molina 187f. Maria von Schottland 74 Maria Theresia von Österreich 218, 236 Maria von Österreich 225f. Marie Eleonore von Jülich-Kleve-Berg 225, 228, 230–233, 242 Martin von Troppau 131 Marx, Karl 13 Massa, Isaac 284, 287f., 291, 293f. Mathilde von Boulogne 67, 69, 78 Mathilde von Canossa 66 Mathilde von England 64, 66–69, 77, 111 Mathilde von Flandern 70 Mathilde von Schottland 65, 67–70, 77 ¯ trgupta 152, 154, 164 85Ma ˙ Maximilian I. 86, 223, 237 Mechthild von Hessen 223 ¯hana 154, 164 82Meghava Megha¯valı¯ 163 Meruvardhana 155 Meusel, Johann Georg 285 164 66Mihirakula Mniszech, Maryna 279 Moritz von Oranien 287 Moritz von Sachsen 234f. Muskatblut 200 Nandigupta 151, 168 150, 156 60Nara I. 148 70Nara II. Neubauer, Helmut 316 153, 157f., 168 114Nirjitavarman 126

Ohly, Friedrich

135

Ordericus Vitalis 101–103, 108, 114f. Otto IV. 206 Otto von Freising 131 Pa¯rtha 148, 152f., 155, 157f., 160, 168 Parvagupta 150, 155, 158, 160 Peparinus, Johannes 289 Peter I. (der Große) 292 Petrejus de Erlesunda, Peter [= Peer Persson] 284f., 289, 293 Petrus Alfonsi 174 Petrus von Eboli 95 Peyerle, Hanns Georg 284–286 Philipp I. von Frankreich 64, 105f. Philipp II. von Frankreich 76 Philipp II. von Spanien 230 Philipp III. von Frankreich 74, 81 Philipp III. von Waldeck-Eisenberg 223 Philipp IV. von Frankreich 72f. Philipp VI. von Frankreich 81 Philipp von Baden 226 Philipp von Evreux 72 Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg 225 Philippa von England 72 Philippa von Holland-Hennegau 80 Pirenne, Henri 16 Prabha¯karadeva 156 ¯ pa¯ditya I. 154 76Prata 152f., 164 86Pravarasena II. Press, Volker 242 ¯ pı¯da 153, 163, 165 99Prthivya ˙ ˙ Pseudodemetrius I. 273f., 279, 286–289, 291–293 Pseudodemetrius II. 286, 292 113

123

Qin shi huangdi 秦始皇帝 [= Ying Zheng 嬴政 bzw. Zhao Zheng 趙政] 49 Qianlong 乾隆 309 Radda-S´an˙khara¯ja 153, 155, 161, 166 ˙˙ Radulf von Diceto 112 Ranke, Leopold von 14 Ratnavardhana 165 ¯ vana 156 58Ra ˙ Reinmar von Zweter 191, 195, 197 Richard I. (Löwenherz) 84, 105, 108f., 118 137

322 Richard [Sohn Wilhelms des Eroberers] 107f. Robert Kurzhose 110 Rodrigo von Toledo 185f. Roe, Nicolas 260 Roe, Thomas 260 Roger von Howden 112 Roger von Montgomery 104 Romanov, Michail 273f., 280f. Rudolf I. 198 Rudolf von Ems 131 Rudolf von Rheinfelden 97 Sˇachovskoj 292 ´ ¯nara 153 47Sacı ˇSa¯h G ˇ aha¯n 257f., 262, 265 153, 166, 169 138Salhana ˙ ´ 153, 155, 157f. 117Sambhuvardhana 151, 154f., 164 81Samdhimat ˙ ¯ madeva 153, 167 122Samgra ˙ Sam gra ¯ ma¯pı¯da I. 153, 163, 165 100 ˙ ˙ Sam gra ¯ ma¯pı¯da II. 152f. 103 ˙ ˙ ¯ mara¯ja 149, 153–155, 167, 169 130Samgra ˙ ´ 109Samkaravarman 150, 156–158, 165–167 ˙ 153f., 156, 158 111Samkata ˙ ˙ Sancha von Kastilien 65 Sancha [Gemahlin Ferdinands I. von León] 186 Sancho IV. 187 Sang Hongyang 桑弘羊 46f., 50–52 Sangyé Gyatso [= Sangs rgyas rgya mtsho] 306 Schieffer, Rudolf 25 Schiller, Friedrich von 293 Schlözer, August Ludwig von 285 Schmidt-Phiseldeck, Christoph von [= Christoph Schmidt, genannt Phiseldek] 285f., 293 Schramm, Percy Ernst 62 Sebbi 116 Sedulius Scottus 85 Septimius Severus 133 Sergij von Radonezˇ 292 Severus [Kaiserchronik] 127, 133, 135–139 Severus Alexander 133

Personenregister

Sibylle [Schwester Wilhelms V. von JülichKleve-Berg] 223, 234–236 Sibylle [Tochter Wilhelms V. von JülichKleve-Berg] 226, 228, 238, 242 Sigismund [= Zygmunt] III. 279, 286, 289 Sima Qian 司馬遷 42 Sˇ¯ır Ha¯n Afg˙a¯n 259 ˘ Smirnov, Ivan I. 289f. Sophia von Jülich 229 ´ 149 83Sresthasena ˙˙ ´Srı¯lekha ¯ 169 Stein, Marc Aurel 147 Stephen von Blois 67f., 111, 113 Suchenwirt, Peter 191, 201–203, 209 ¯ 153f., 156–158, 167f. 112Sugandha Sˇujskij, Vasilij 273f., 279f., 286, 289, 291f. S´u¯ra 155 ´ ¯ ravarman I. 153, 157f., 168 116Su ´ ¯ ravarman II. 157–160, 167 S 119 u Su¯ryamatı¯ 167 148, 153, 160, 163, 166, 168 139Sussala 149 45Suvarna ˙ Ta¯ra¯pı¯da 165 ˙ Tassilo III. 136 Theodo 138 Theoderich (der Große) 138 Theophanu 64 Theresia von Portugal 174 Timur Lenk 258 151, 168 127Tribhuvana Tribhuvana¯pı¯da 163 ˙ 95

Uccala 153f., 160f., 163, 166, 169 Unmatta¯vanti 150, 152, 157–160, 167 Uppa 155, 158 163, 166, 168 134Utkarsa ˙ Utpala 158 ¯ pı¯da 153, 168 107Utpala ˙ 136

118

Vajra¯ditya 150 Varnata 153, 161, 167 ˙ ˙ 148 69Vasunanda Vibhı ¯ s an a I. 156 56 ˙ ˙ Vibhı ¯ s an a II. 156 59 ˙ ˙ Vigrahara¯ja 163, 169 98

121

323

Personenregister

149, 154 79Vijaya Vijayamalla 160 Vikrama¯ditya [Herrscher von Ujjayinı¯] 152, 154 Vikrama ¯ditya 149 90 Vincenz von Beauvais 185 Vinnapa 166 Vergerio, Pietro Paolo 229 Volger, F. W. 284 Vyadda 161 ˙˙ Waldemar von Preußen 255 Walter Map 109 Walter von Coventry 107 Walther von der Vogelweide 206 Wang Mang 王莽 49f. Wang Zang 王臧 46 Weber, Max 19, 34, 37, 300 Wei 衛 47, 54 Wenzel IV. 201–203 Wilhelm I. von England (der Eroberer) 70, 99, 102, 104, 107, 109, 112, 114f.

Wilhelm II. von England (Rufus) 95, 99– 105, 107–110, 112–114, 118 Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg 222– 227, 229f., 232–235, 237f. Wilhelm Aetheling 108–110, 112 Wilhelm von Jülich-Berg 223, 229 Wilhelm von Jumièges 107 Wilhelm von Malmesbury 101–103 Wilhelm von Newburgh 112 Wilhelm von Oranien 230, 232f. Wittfogel, Karl August 34 Xavier, Francis 254 Xavier, Jerôme 254 Xunzi 荀子 55 Yas´askara 150, 153, 155, 159–161, 167 Yas´ovatı¯ 153f. 151, 154, 156, 164 75Yudhisthira I. ˙˙ 120

3

Zhang Qian 張騫 46 Zhao Wan 趙綰 46 Zhufu Yan 主父偃 48, 49