Textualität von Macht und Herrschaft: Literarische Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen [1 ed.] 9783737011105, 9783847111108

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Textualität von Macht und Herrschaft: Literarische Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen [1 ed.]
 9783737011105, 9783847111108

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Macht und Herrschaft Schriftenreihe des SFB 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“

Band 7

Herausgegeben von Matthias Becher, Elke Brüggen und Stephan Conermann

Mechthild Albert / Ulrike Becker / Elke Brüggen / Karina Kellermann (Hg.)

Textualität von Macht und Herrschaft Literarische Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen

Mit 5 Abbildungen

V&R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Bayeux Tapestry – Scene 57: the death of King Harold at the Battle of Hastings. Titulus: HIC HAROLD REX INTERFECTUS EST, Author: Myrabella, CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2511-0004 ISBN 978-3-7370-1110-5

Inhalt

Vorwort zur Schriftenreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mechthild Albert / Ulrike Becker / Elke Brüggen / Karina Kellermann Textualität von Macht und Herrschaft. Literarische Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Herrschaft illustrieren: die Macht der Erzählinstanz Sophie Quander Des Kaisers neue Schreiber – oder: Der Erzähler bin ich. Erzählkompetenz als Herrschaftslegitimation in Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seraina Plotke Die Macht des Erzählens. Autorschaft und Autorität im ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anna Kollatz Ägypten kurzgefasst: Wissensordnung und die Darstellung islamischer Herrschaft in Ibn Iya¯s’ ‚Nuzhat al-umam fı¯ l-ʿagˇa¯ʾib wa l-hikam‘ . . . . . ˙

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Alheydis Plassmann Bedas Geschichtssicht bei Heinrich von Huntingdon und Wilhelm von Malmesbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Hugo O. Bizzarri Hunde im Krieg: ein Bild der Macht im mittelalterlichen Kastilien

. . . . 129

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Inhalt

Herrschaft kritisieren: Perspektiven des Erzählens Ludwig D. Morenz ‚Höfliche‘ Wahrheit – von ethisch fundierter Freiheit eines ‚Kleinen‘ vor Pharao . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Rebecca Hardie Words, Wealth and Women in Two Anonymous Old English Homilies . . 175 Emily A. Winkler King Alfred and the Danish Wars in Anglo-Norman Histories . . . . . . . 201 María Luzdivina Cuesta Torre Gefährdete Herrschaft im ‚Libro del caballero Zifar‘

. . . . . . . . . . . . 227

Lena Ringen …perdedes en mí un rrey et un sennor – vom Ende einer Herrschaft in Don Juan Manuels ‚Libro de las armas‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Liste der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Vorwort zur Schriftenreihe

Im Bonner Sonderforschungsbereich 1167 ‚Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘ werden die beiden namengebenden Vergesellschaftungsphänomene vergleichend untersucht. Sie prägen das menschliche Zusammenleben in allen Epochen und Räumen und stellen damit einen grundlegenden Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften dar. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des disziplinär breit angelegten Forschungsverbundes, die Kompetenzen der beteiligten Fächer in einer interdisziplinären Zusammenarbeit zu bündeln und einen transkulturellen Ansatz zum Verständnis von Macht und Herrschaft zu erarbeiten. Hierbei kann der SFB 1167 auf Fallbeispiele aus unterschiedlichsten Regionen zurückgreifen, die es erlauben, den Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu schärfen. Die Reihe ‚Macht und Herrschaft‘ enthält Beiträge, die den interdisziplinären Zugriff auf das Thema und die transkulturelle Perspektivierung abbilden. Die Arbeit des Bonner Forschungsverbundes ist von vier Zugängen zu Phänomenen von Macht und Herrschaft geprägt, die auch den Projektbereichen des SFB 1167 zugrunde liegen: Die Themen der Spannungsfelder ‚Konflikt und Konsens‘, ‚Personalität und Transpersonalität‘, ‚Zentrum und Peripherie‘ sowie ‚Kritik und Idealisierung‘ stehen im Zentrum zahlreicher internationaler Tagungen und Workshops, die dem Dialog mit ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland dienen. Dieser wichtige Austausch, dessen Erträge in der vorliegenden Reihe nachzulesen sind, wäre ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und das kontinuierliche Engagement der Universität Bonn zur Bereitstellung der notwendigen Forschungsinfrastruktur nicht möglich, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Matthias Becher – Elke Brüggen – Stephan Conermann

Mechthild Albert / Ulrike Becker / Elke Brüggen / Karina Kellermann

Textualität von Macht und Herrschaft. Literarische Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen

Der SFB 1167 ‚Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘ untersucht verschiedenartige Konfigurationen von ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ in der Vormoderne und setzt dabei auf eine breit gefächerte wissenschaftliche Expertise von Kolleginnen und Kollegen aus den Europa- und den Asienwissenschaften. Vertreten sind dabei sowohl die Textwissenschaften als auch die Bild- und Objektwissenschaften, und es ist gerade die Präsenz der unterschiedlichen Ausrichtungen, die den erwünschten transkulturellen Mehrwert erbringt. Gleichwohl bedarf es einer Reflexion darauf, welchen spezifischen Beitrag die Auswertung der jeweiligen Quellenbereiche leisten kann, wo deren Stärken und ‚blinde Flecken‘ liegen. Diesem Desiderat will der vorliegende Band Rechnung tragen und die interdisziplinären Überlegungen vonseiten der im SFB 1167 zusammengeschlossenen textwissenschaftlichen Teilprojekte befördern, indem er aus der Perspektive der jeweiligen Einzeldisziplinen verfasste Fallstudien präsentiert und so die Vielgestaltigkeit und den Facettenreichtum textueller Inszenierungen und Verhandlungen von Macht und Herrschaft beleuchtet. Es ist ein Anliegen des Bandes, den Akzent auf die narrativen Instanzen und Verfahren zu legen, welche in den untersuchten Texten bzw. Textpassagen zum Einsatz kommen. Dabei wird der jeweilige methodische Zugriff vom gewählten Text resp. Textauszug gesteuert und kann auf unterschiedlichste Konzepte der Erzählforschung rekurrieren, muss also nicht zwingend an die neuere und neueste narratologische Diskussion rückgebunden werden; allerdings besteht die Gelegenheit, grundsätzliche Fragen einer historischen bzw. transkulturellen Narratologie anzusprechen. Priorität besitzt auf alle Fälle das Anliegen, historisch und kulturell spezifische Erscheinungsformen einer Literarisierung von Macht und Herrschaft mit einem für das jeweilige Material geeigneten und intersubjektiv nachvollziehbaren Analyseverfahren zu erschließen. Die hier versammelten Beiträge stammen aus verschiedenen Disziplinen – der Germanistik, Anglistik und Romanistik als europäischen Philologien, der Geschichtswissenschaft sowie der Islamwissenschaft und Ägyptologie –, wobei als

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Verfasserinnen und Verfasser zum einen Mitglieder der ‚junior‘ wie der ‚senior faculty‘ des SFB 1167 gewonnen werden konnten, zum anderen externe Kolleginnen und Kollegen. Die exemplarischen Analysen fokussieren ein breites Spektrum an Textsorten, das neben fiktionalen und faktualen Erzähltexten wie Chronik, Roman, Legendenerzählung und Tierfabel auch Predigten, Traktate und enzyklopädische Texte umfasst; gemeinsam ist allen Texten die Befassung mit der Thematik von Macht und Herrschaft. Das Material war mit einem von den Herausgeberinnen vorgegebenen Frageraster zu erschließen, welches die methodische Repräsentativität, die sachbezogene Homogenität und transkulturelle Vergleichbarkeit der Einzelstudien und deren Relevanz als Reflexionsbeitrag zur Textualität von Macht und Herrschaft gewährleisten sollte; dieses wird im Folgenden kurz erläutert, bevor anschließend die inhaltliche Strukturierung des Bandes dargelegt wird. Primär ist die Kontextualisierung des behandelten Textes resp. Textauszugs von Bedeutung, welche außer- wie innerliterarisch erfolgen kann. Der historische Kontext des Textes ist dabei ebenso von Belang wie die Positionierung der ausgewählten Passage innerhalb des jeweiligen Textes selbst – hierbei ist beispielsweise von Interesse, ob und inwieweit der Text mit unterschiedlichen Gliederungsebenen arbeitet, ob es etwa Kapitel, Abschnitte, Episoden, Einschübe, Exkurse etc. gibt, und welcher dieser Ebenen sich die betreffende Textpassage zuordnen lässt. Aufschlussreich können darüber hinaus auch eventuelle Bezüge zu präexistentem ‚Material‘ sein, das durch Bearbeitung „geordnet und modelliert wird“.1 Für alle hier publizierten Beiträge ist die historische wie narrative Kontextualisierung (im Unterschied zur textuellen Positionierung) ein überaus aufschlussreicher Analyseschritt, und auch die Aufdeckung der intertextuellen Bezugnahme auf vorausgehendes Material erweist sich vielfach als signifikant. Im Rahmen der Textanalyse sind die Techniken der Rezeptionssteuerung von besonderer Bedeutung für die Sinnstiftung des Textes; sie können etwa mittels Rahmung oder sonstiger Strukturierung erfolgen. Diesbezüglich gilt das Interesse zunächst dem Einsatz von Schwellen-Elementen mit rahmender Funktion zu Beginn und am Ende von Texten; zu nennen wären hier etwa paratextuelle Gegebenheiten, Einleitungen, Schlussbemerkungen, auktoriale Kommentare, Überschriften von Textpassagen und anderes mehr. Von besonderer Relevanz im Hinblick auf die Darstellung von Macht bzw. sozialer Ordnung sind weiterhin die explizite Thematisierung von Kompilation, Autorschaft oder Übersetzung in Kombination mit oder im Verzicht auf Quellen(-Fiktionen) sowie Verweise auf vorgängig Erzähltes, Imaginiertes, Vorlagen oder auf mündlich Tradiertes. Derlei Signale, die dazu beitragen, den Text im kulturellen Feld zu situieren, werden 1 Vgl. Stephan Conermann, Einleitung, in: Ders. (ed.), Modi des Erzählens in nicht-abendländischen Texten, Berlin 2009, 7–14, hier 7.

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etwa in den Beiträgen von Anna Kollatz, Hugo O. Bizzarri, Alheydis Plassmann und Emily A. Winkler herausgestellt. Interne Strukturelemente, die der Segmentierung und Sinnstiftung der Texte dienen, sind Binnenerzählungen und andere Verfahren, welche die Erzählinstanz besonders hervorheben, wie etwa die inquit-Formeln im ‚Barlaam und Josaphat‘ (Sophie Quander) oder das Referieren auf Quellen in dem von Anna Kollatz analysierten Werk ‚Nuzhat al-umam‘ („Es wird berichtet, gesagt“). Solche Aspekte, bei denen es sich gelegentlich auch um transkulturelle Übernahmen handelt, können Aufschluss geben über die Rezeptionserwartung, auf die der Text reagiert, und so eventuell an intendierte Zielgruppen heranführen. Die Analysekategorien Erzählinstanz, Figurenkonfiguration, Perspektivierung und Fokalisierung ermöglichen Fragen nach den Ebenen der Diegese (extra-, intra- oder heterodiegetische Erzählstruktur), nach story/plot/histoire sowie nach dem Modus – bei Genette etwa in der Unterscheidung zwischen „qui voit?“ und „qui parle?“.2 Darüber hinaus nehmen sie auch die Aktanten in ihren Rollen und Funktionen und ihren elementaren Handlungen in den Blick.3 Die an den jeweiligen Text gerichtete Frage nach programmatischen Aussagen zum Selbstverständnis des Autors und speziell die Frage danach, in welchem Verhältnis historischer Autor, Autorfiguration und Erzählinstanz(en) zueinander stehen, erweisen sich als besonders erhellend für die Identifikation der jeweiligen Textintention, wie dies in beispielhafter Weise die Beiträge von Sophie Quander, Seraina Plotke, Alheydis Plassmann, Ludwig D. Morenz und Lena Ringen demonstrieren. Spezielles Interesse verdient der Fragenkomplex: Wie legitimiert der Autor/Sprecher/Erzähler sein Projekt? Nimmt er auf mündliche Traditionen oder auf Schriftlichkeit Bezug? Nennt er konkrete Quellen oder Gewährsleute? Bezieht er sich auf Autoritäten? Wenn ja, auf welche? Gibt es den Gedanken einer Inspiration oder einer besonderen Begabung oder Kompetenz? Kommen Wahrheitsbeteuerungen vor? Das Potenzial dieser Fragen wird in den Beiträgen von Seraina Plotke, Emily A. Winkler und Alheydis Plassmann offenkundig. Die Untersuchung fokaler Figuren als ‚Zeit- und Raumfilter‘ in Relation zur Aktantenstruktur4 ist, abgesehen von der Frage nach der textuellen Inszenierung von Macht und Herrschaft, auch im Hinblick auf die Raumimagination aufschlussreich. Dies zeigen etwa Sophie Quander und Lena Ringen, wenn sie erzählte Räume und Räume des Erzählens fokussieren.

2 Gérard Genette, Nouveau discours du récit, Paris 1983, 43–48. Vgl. im Anschluss an Genette auch Monika Fludernik, Erzähltheorie, 3. Aufl., Darmstadt 2010, 176. 3 Vgl. Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, ed. Manuel Braun/Alexandra Dunkel/Jan-Dirk Müller, 2. Aufl., Berlin/München/Boston 2015, 171. 4 Vgl. Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman, Tübingen/Basel 2003, 126 bzw. 122.

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Gemäß den Überlegungen von Gert Hübner ist nicht nur jede einzelne Kategorie für sich, sondern auch ihr Beziehungsverhältnis untereinander von Interesse, denn die „dreipolige Relation zwischen Erzählerrede, dargestelltem Figurenbewußtsein und erzählter Welt ist der Kern des Begriffs ‚Fokalisierung‘“,5 wie vor allem die literaturwissenschaftlichen Beiträge von Hugo O. Bizzarri, Sophie Quander, Lena Ringen und María Luzdivina Cuesta Torre veranschaulichen. Insbesondere die in Schwellenpassagen (einleitende wie ausleitende Partien) eines Textes zur Anwendung kommenden textuellen Verfahren sollten daraufhin befragt werden, ob sie erkennen lassen, welche Interessen und Funktionen der Text bei der Thematisierung von Macht und Herrschaft verfolgt. Von zentraler Bedeutung sind dabei folgende Aspekte, an denen sich die Gliederung des vorliegenden Bandes orientiert: Geht es darum, die Installation eines Herrschers oder einer Herrscherin zu befördern? Soll eine bestehende Herrschaft legitimiert werden? Wie verfährt der Text mit Idealisierung und Kritik? In der Tat kristallisieren sich in den Einzelstudien bestimmte Phasen bzw. Aspekte von Macht und Herrschaft heraus, wie Gründung, Etablierung und Krise, bzw. Darstellung, Beschreibung und Kritik. Eine weitere Leitfrage, auf die die folgenden Beiträge jeweils konkrete Antworten liefern, richtet sich darauf, was sich aus der Analyse von Makrostrukturen, Erzählschemata, Erzählinstanz(en), Figurenkonfiguration, Perspektivierung und Fokalisierung für die Auffassung von Macht und Herrschaft ableiten lässt. In welchem Verhältnis stehen die Aussagen von rahmenden Passagen und Hauptteil zueinander? Sind sie konkordant oder widersprechen sie sich? Auch das Verhältnis zwischen fiktionalen und faktualen Elementen, der Wahrheitsanspruch bzw. die Glaubwürdigkeit des Erzählers sowie mögliche Erkenntnisse über „kulturelle Narrative“6 und die „Rationalität der Argumentation“7 können, über die Frage nach den Gründen für den Einsatz der jeweiligen Elemente und deren Funktionen, Aufschluss über das spezifische Verständnis von Macht und Herrschaft geben. Nicht zuletzt geben die Einzelstudien Anlass, die Möglichkeiten und Grenzen einer historischen bzw. transkulturellen Narratologie zu erörtern, wie dies etwa in den Beiträgen von Anna Kollatz und Sophie Quander geschieht. Ausgehend von diesem narratologischen Instrumentarium und mit Bezug auf das Leitthema des SFB 1167 sind die Beiträge des Bandes ‚Textualität von Macht und Herrschaft: Literarische Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen‘, die sich den vier Zugängen des Sonderforschungsbereiches zu Phänomenen 5 Hübner 2003, 398. 6 Schulz 2015, 188. 7 Conermann 2009, 7.

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von Macht und Herrschaft – ‚Konflikt und Konsens‘, ‚Personalität und Transpersonalität‘, ‚Zentrum und Peripherie‘ sowie ‚Kritik und Idealisierung‘ – zuordnen lassen, inhaltlich folgendermaßen zu strukturieren. Die vier genannten Spannungsfelder übergreifend, kristallisieren sich zwei thematische Schwerpunkte heraus, die als Gliederungsmerkmal fungieren: zum einen die in den Darstellungen von Herrschaft manifeste Macht der Erzählinstanz und zum anderen das den Erzählperspektiven innewohnende Potenzial zur Kritik an Herrschaft. Dass sich dies in unterschiedlichen Epochen und Räumen nachweisen lässt, ist ein zentrales Ergebnis des vorliegenden Sammelbandes, weshalb bewusst auf eine entsprechende kulturgeographische oder chronologische Ordnung der Beiträge verzichtet wurde. Vielmehr erwies sich der Verlauf von Herrschaft – angefangen bei der Etablierung von Herrschaft über Unordnung und Krisen bis zu deren Ende, unter Berücksichtigung der jeweiligen thematischen Fragestellung und textuellen Repräsentation – als adäquates strukturierendes Moment der gewählten transkulturellen Perspektive. Am Anfang des ersten Teils, ‚Herrschaft illustrieren: die Macht der Erzählinstanz‘, der den Sammelband eröffnet, stehen zwei Beiträge zur Verwendung und Konstruktion der Erzählinstanz im Rahmen repräsentativer mittelhochdeutscher Versepen des 12. und 13. Jahrhunderts orientalischer bzw. antiker Provenienz. In beiden Fällen wird die besondere Bedeutung hervorgehoben, die der Erzählstimme durch ihre Glaubwürdigkeit und auctoritas zukommt. In ihrem Beitrag ‚Des Kaisers neue Schreiber – oder: Der Erzähler bin ich‘ untersucht Sophie Quander (Bonn) ‚Erzählkompetenz als Herrschaftslegitimation in Rudolfs von Ems „Barlaam und Josaphat“‘. Dieses Werk deckt laut Quander die textuelle Dimension von Herrschaft als narratives Geflecht legitimierender Erzählungen auf. Die unterschiedlichen Herrschaftskonzepte in Rudolfs Legendenerzählung konkurrieren demnach weniger um den Anspruch tatsächlicher Legitimität, sondern diskutieren vielmehr die Parameter überzeugenden Erzählens. Das Fazit ihrer Analyse lautet daher: Legitim ist jene Herrschaft, die glaubwürdig(er) erzählt. Der aus einer solchen Glaubwürdigkeit resultierenden ‚Macht des Erzählens‘ widmet sich Seraina Plotke (Bamberg) am Beispiel von ‚Autorschaft und Autorität im „Eneasroman“ Heinrichs von Veldeke‘. In ihrer nuancierten Untersuchung differenziert sie zwischen Sprecher und Verfasser, die allerdings in ihrem Autoritätsbezug auf den kanonischen auctor Vergil, Schöpfer des ersten Epos um den mythischen Gründer Roms und somit dritte Größe in dieser Konstellation, gewissermaßen in eins fallen. Zugleich wird dem mittelalterlichen Autor/Verfasser erstmals eine neue Autorität zugemessen, wenn er im Epilog, d. h. dem abschließenden Schwellentext des ‚Eneasromans‘, meister Heinrîch genannt wird. Darauf folgt eine Gruppe von Studien zur Darstellung von Herrschaft und sozialer Ordnung, wobei die zugrundeliegenden Texte eine narratologisch

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überaus aufschlussreiche Bandbreite zwischen Intertextualität – Kompilation und Adaption – und bildlichem Schreiben aufweisen. Unter dem Titel ‚Ägypten kurzgefasst: Wissensordnung und die Darstellung islamischer Herrschaft in Ibn Iya¯s’ „Nuzhat al-umam fı¯ l-ʿagˇa¯ʾib wa l-hikam“‘ befasst sich die Islamwissen˙ schaftlerin Anna Kollatz (Bonn) mit einem bislang kaum erforschten enzyklopädischen Text, der für den vorliegenden Zusammenhang ein zweifaches Interesse besitzt: Zum einen weist die Kompilation aufgrund der impliziten und expliziten Quellenverweise eine äußerst komplexe Textstruktur auf, die trotz ihres Zitatcharakters eine eindeutige Agenda hinter der narrativen Gestaltung verrät; zum anderen berichtet er in den beiden von Kollatz übersetzten und durch close reading erschlossenen Kapiteln von der Etablierung islamischer Herrschaft in Ägypten und leitet auf die Beschreibung der technischen Umsetzung dieser Herrschaft hin, die sich in den folgenden Kapiteln anschließt. Mit seinem ‚Digest‘ präsentiert er der intendierten Leserschaft ein bestimmtes Ägyptenbild mit einer ebenso klar erkennbaren Imagination islamischer Herrschaft. Einen weiteren Fall von intertextueller Geschichtskonstruktion erörtert Alheydis Plassmann (Bonn) in ihrem Beitrag ‚Bedas Geschichtssicht bei Heinrich von Huntingdon und Wilhelm von Malmesbury‘. Die Rezeption des angelsächsischen Historikers Beda durch die beiden anglo-normannischen Chronisten veranschaulicht anhand der Wiedererzählung bzw. Neuerzählung von Geschichte, inwieweit Textualität als Instrument einer Herrschaft legitimierenden Geschichtsdeutung dient. Heinrich und Wilhelm repräsentieren dabei zwei mögliche Methoden, die Tradition der angelsächsischen Vergangenheit zu bearbeiten und die angelsächsischen Könige mit den anglo-normannischen Königen in eine Traditionslinie zu stellen. Heinrich von Huntingdon hielt sich buchstabengetreu an Bedas ‚Historia Ecclesiastica‘, änderte jedoch deren ‚Geist‘, um Geschichte anders und einfacher zu deuten, während Wilhelm von Beda zwar die Komplexität der angelsächsischen Vergangenheit und die Idee von Gottes Eingreifen in die Geschichte der Angli übernahm, die Ereignisse jedoch zugleich in seine ganz eigenen Worte goss. Hugo O. Bizzarri (Fribourg) schließlich erläutert in seinem Essay ‚Hunde im Krieg: ein Bild der Macht im mittelalterlichen Kastilien‘ die bildliche Bedeutung des Hundes am Schnittpunkt zwischen Literaturgeschichte und Animal Studies, Fakten und Fiktion, Orient und Okzident, geistlicher und politischer Allegorese. Ausgehend von der erhellenden Bedeutungsgeschichte des Hundes bei Äsop und in der orientalischen Tradition (‚Calila e Dimna‘ und ‚Sendebar‘), fokussiert er die Funktion des Hundes als Kämpfer und Krieger, um dessen politische Projektion in zwei Texten des 15. Jahrhunderts zu untersuchen, welche die Herrschaftskonflikte des spanischen Spätmittelalters reflektieren: Gómez Manriques ‚Esclamaçión e querella de la gouernaçion‘ und Alfonso de Palencias ‚Batalla campal de los perros contra los lobos‘.

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Den zweiten Teil, ‚Herrschaft kritisieren: Perspektiven des Erzählens‘, eröffnen zwei Beiträge, der eine aus der Ägyptologie, der andere aus der anglistischen Mediävistik, die sich mit der Kritik an der sozialen Ordnung und dem Machtmissbrauch der Eliten befassen. Zu Beginn seiner Studie ‚„Höfliche“ Wahrheit – von ethisch fundierter Freiheit eines „Kleinen“ vor Pharao‘ verweist Ludwig D. Morenz (Bonn) auf den engen Zusammenhang von Gesellschaftsordnung und Sprache in Gestalt der ausgeprägten Höflichkeitskonventionen, welche die soziale Praxis der pharaonenzeitlichen Gesellschaft und ihre medialen Inszenierungen bestimmten. Dabei galten insbesondere elitär-aristokratische Sprachniveaus im Sinne der Inszenierungen kulturellen Kapitals in der ägyptischen Kultur als sozial distinguierend. Als Ausnahme von dieser hierarchischen Ordnung existierte jedoch auch eine gewisse Freiheit vor dem Thron, welche Belehrung und Kritik duldete, deren Form und Inhalt der Verfasser anhand einer am Hof des Königs Cheops spielenden Erzählung aus dem Zyklus der Wundererzählungen des Papyrus Westcar analysiert. Artikuliert sich die Kritik in diesem Fall vom unteren Rand der Gesellschaft aus, so äußert sie sich in den beiden von Rebecca Hardie (Bonn) untersuchten angelsächsischen Predigten mit der Autorität der Geistlichkeit. In ‚Words, Wealth and Women in Two Anonymous English Homilies‘ expliziert sie anhand der Manuskripte Vercelli VII und X die im Südostengland des 10. Jahrhunderts virulente Sorge um den möglichen Machtmissbrauch hochrangiger Männer und Frauen in Bezug auf Reichtum und Sprache, der als Störung einer auf Gerechtigkeit basierenden sozialen Ordnung verstanden wurde. Die drei letzten Beiträge der Sektion ‚Herrschaft kritisieren: Perspektiven des Erzählens‘ widmen sich der Gefährdung von Herrschaft in Krisensituationen und beim Tod des Herrschers als Anlass zur Herrscherkritik, wobei stets auch die jeweilige Erzählperspektive und Sprecherintention eine zentrale Rolle spielen. Im Mittelpunkt der Studie ‚King Alfred and the Danish Wars in Anglo-Norman Histories‘ von Emily A. Winkler (Oxford) steht die Rolle König Alfreds (849–899) im Rahmen der Dänenkriege aus der Sicht anglo-normannischer Chronisten des 12. Jahrhunderts, die im Abstand von 200–250 Jahren die kollektive Erfahrung von Ordnungsverlust thematisieren. Die differenzierte Analyse der Texte und ihrer Quellen als Geschichtskonstruktion im Spannungsfeld zwischen den Zeitebenen des Geschehens und seiner narrativen Deutung verbindet in exemplarischer Weise historische und narratologische Methodik. Die beiden hispanistischen Beiträge, welche den Band beschließen, befassen sich mit Textzeugnissen – einem fiktionalen und einem pragmatischen –, deren Entstehungs- und Deutungshorizont die Umbruchszeit an der Wende zum 14. Jahrhundert ist, als mit dem Tod König Sanchos IV. (1258–1295) und der Regentschaft seiner Witwe, María de Molina (ca. 1264–1321), ein langes Interregnum einsetzt. Unter dem Titel ‚Gefährdete Herrschaft‘ untersucht María Luzdivina Cuesta Torre (León)

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das zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstandene ‚Buch vom Ritter Zifar‘, den ersten spanischen Ritterroman, im Kontext dieser krisenhaften Epoche. Gestützt auf die Analyse signifikanter Episoden und Exempla sowie insbesondere des Prologs, deutet sie das Werk, im Zusammenspiel von ficta und facta, als komplexe Stellungnahme angesichts der historischen Gemengelage. Die Rezeptionslenkung macht deutlich, dass der Verfasser aus dem Umfeld Marías im Gewand der Fiktion eine unmissverständliche Botschaft an alle Konfliktparteien bereithält: an Marías eigene Gefolgsleute, an den Infanten Ferdinand IV. sowie seine Anhänger und Gegner. Lena Ringen (Bonn) befasst sich in ihrem Beitrag ‚…perdedes en mí un rrey et un sennor – vom Ende einer Herrschaft in Don Juan Manuels „Libro de las armas“‘ mit einem der Akteure dieses Konflikts, Don Juan Manuel (1282–1348), Cousin König Sanchos und Autor des apologetischen Traktats ‚Libro de las armas‘. Vermittels einer dreischrittigen Erzählstrategie der Visualisierung, Territorialisierung und Figuralisierung von Macht konstruiert der Autor den Herrschaftsanspruch seiner eigenen Linie. Zunächst gestützt auf Heraldik und Raumgestaltung, kulminiert die dynastische ‚Kampfschrift‘ in der interessegeleiteten Evokation des sterbenden Monarchen Sancho IV., dessen körperlicher und geistig-moralischer Zustand als hinfälliger Kranker und armer Sünder Anlass zu einer grundsätzlichen Herrscherkritik gibt – aus Sicht des Augenzeugen und Familienangehörigen, auf Augenhöhe sozusagen. Die Vielfalt der im vorliegenden Band verhandelten Ausprägungen, Möglichkeiten und Phänomene einer ‚Textualität von Macht und Herrschaft‘ verdeutlicht in erhellender Weise das Potenzial der literarischen Verfahren im Horizont und im Interesse transkultureller Forschungen. Die Herausgeberinnen bedanken sich zuvörderst bei den Autorinnen und Autoren, die bereit waren, sich auf diese transkulturellen Fragestellungen sowie das methodische Instrumentarium einzulassen und die mit ihren facettenreichen Untersuchungen im Rahmen des SFB 1167 ‚Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‘ einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Reflexion textueller Herrschaftsentwürfe geleistet haben. Darüber hinaus mag dieser Band auch der Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen transkultureller und/bzw. historischer Narratologie aktuelle Impulse verleihen. An dieser Stelle sei ebenfalls Katharina Marpe, Dr. Elmar Schmidt und Álvaro Arango für Einrichtung, Korrektur und Übersetzung der Texte sehr herzlich gedankt. Verantwortlicher Reihenherausgeber war Herr Professor Dr. Stephan Conermann; ihm und der Geschäftsführerin des SFB 1167, Frau Dr. Katharina Gahbler, danken wir für die abschließende Durchsicht des Manuskripts. Schließlich gebührt unser herzlicher Dank der DFG für die Übernahme der Druckkosten. Bonn, im September 2019

Mechthild Albert, Ulrike Becker, Elke Brüggen und Karina Kellermann

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Literaturverzeichnis Stephan Conermann, Einleitung, in: Ders. (ed.), Modi des Erzählens in nicht-abendländischen Texten, Berlin 2009, 7–14. Monika Fludernik, Erzähltheorie, 3. Aufl., Darmstadt 2010. Gérard Genette, Nouveau discours du récit, Paris 1983. Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman, Tübingen/Basel 2003. Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, ed. Manuel Braun/Alexandra Dunkel/Jan-Dirk Müller, 2. Aufl., Berlin/München/Boston 2015.

Herrschaft illustrieren: die Macht der Erzählinstanz

Sophie Quander

Des Kaisers neue Schreiber – oder: Der Erzähler bin ich. Erzählkompetenz als Herrschaftslegitimation in Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘

Abstract In his groundbreaking definition, Max Weber implicitly attributes an element of fiction to all manifestations of ‘Herrschaft’: regardless of its actual legitimacy, ‘Herrschaft’ seeks to portray itself as trustworthy in order to stabilize its claim to rule. ‘Herrschaft’, hence, features an intrinsic moment of self-fashioning, i. e. (narrated) fiction. Based on Rudolf von Ems’ Middle High German tale ‘Barlaam und Josaphat’ the present article follows this ‘fictionality of power’ by conflating sociological and narratological approaches exemplarily. Different strategies of staging ‘Herrschaft’ characterize Rudolf ’s text: 1. The narrator develops Josaphat’s rising kingdom against the backdrop of the Genesis. The hermit Barlaam recounts the tales of the Old and New Testament in great detail, hence advising his student Josaphat both in Christianity and legitimate rulership. The auratic narrative pattern of creation and salvation establishes both universality and continuity while legitimizing the fiction of a global Christian realm at the same time; 2. Metaphors of birth, growth and blooming support the narration even further because they dynamize and naturalize Josaphat’s ‘Herrschaft’ to an organic force; 3. In a large-scale competition of different narrators, Rudolf ’s text furthermore silences other concepts of ‘Herrschaft’, portraying Josaphat’s kingdom as the only audible, i. e. legitimate entity; 4. In the end, God and his narrators dominate the other voices in Rudolf ’s text due to their competence to produce and receive truth via language. In a broader sense, the analysis poses questions on how narrators constitute and semanticize ‘Herrschaft’; to what extent narrative patterns legitimize or deconstruct constellations of power; how narrators and characters demand authority via voicing; and how discourses on power and discourses on narration interrelate with one another.

Der Kaiser einer großen Stadt beauftragt zwei durchreisende Webmeister, ihm ein kostbares Textil anzufertigen. Sie versprechen ihm ein Gewand von unvergleichlicher Schönheit, das noch dazu eine wundersame Eigenschaft entfalten soll: Nur jener könne den prachtvollen Schmuck sehen, der verständig sei und sein Amt rechtmäßig ausübe. Vorfreudig überreicht der Kaiser den beiden Webern die kostbarsten Materialien; diese aber behalten Seide und Gold für sich und geben lediglich vor, an den großen Webstühlen zu arbeiten. Als sie kurze Zeit

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darauf die fertigen Kleider vor den Augen des Hofes enthüllen, können weder Kaiser noch Hofstaat das Beschriebene sehen. Aus Angst um die eigene Stellung spricht jedoch niemand das Offensichtliche aus und so schreitet der Kaiser schließlich in seinen neuen unsichtbaren Kleidern durch die Straßen seiner Stadt. Weithin bekannt ist die Geschichte um jenen leichtfertigen Herrscher, der aus Eitelkeit und Blindheit heraus den Betrügereien zweier Webmeister erliegt. Don Juan Manuel überträgt den orientalischen Stoff in seiner Exempelsammlung ‚El Conde Lucanor‘ ins Kastilische, Karl Eduard von Bülow übersetzt die mittelalterliche Vorlage in seinem ‚Novellenbuch‘, Hans Christian Andersen schließlich hebt die Erzählung mit seinem Kunstmärchen ‚Des Kaisers neue Kleider‘ in den Kanon europäischer Kinderliteratur.1 Auf konzentriertem Raum diskutiert das kleine Exempel die Interdependenzen von Herrschaftslegitimation und -repräsentation: In seinem Drang nach Prachtentfaltung riskiert der gefallsüchtige Kaiser seine eigene autoritative Glaubwürdigkeit. Damit legt die Erzählung spielerisch jene Kehrseite der Herrschaftslegitimation offen, die Max Weber in seiner grundlegenden idealtypologischen Definition impliziert hat: „Jede [Herrschaft] sucht […] den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen.“2 Entscheidend sei also nicht die tatsächliche Legitimität einer Herrschaft, sondern lediglich deren (narrativierte) Glaubwürdigkeit. Jede Herrschaft muss folglich ein Narrativ entwerfen, in dem sich die eigene Selbstbehauptung ein- und fortschreibt, indem die Fiktion anerkannt, als gesetzte Realität akzeptiert wird. Tritt dieses intrinsische Fiktionsmoment dagegen zu deutlich zu Tage, mag sich das Legitimationsnarrativ selbst unterlaufen und die Herrschaft entgegen der Intention des Narrativs destabilisieren. Diesem intrikaten Wechselspiel von Herrschaft und legitimierendem Narrativ möchte der folgende Beitrag im Kontext mittelalterlicher fiktionaler Literatur nachgehen und also versuchen, Fragen der Herrschaftssoziologie exemplarisch mit dem Begriffs- und Erkenntnisinstrumentarium der Narratologie zu verschränken.3 Mit welchen nar1 Vgl. Werner Sundermann, The Emperor’s New Clothes, in: Bulletin of the Asia Institute 19 (2005), 211–214. 2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, ed. Johannes Winckelmann, Tübingen 1956 (ND Köln/Berlin 1964), 157. Weber definiert ‚Herrschaft‘ in Abgrenzung zu dem amorphen Konzept der ‚Macht‘ als Chance, „für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“ (ebd.). 3 Seit ihren prästrukturalistischen Anfängen sucht die allgemeine Narratologie heterogene Modelle zu entwickeln, um Formen und Funktionen narrativer Erscheinungen systematisch beschreiben und erforschen zu können. In der Unterscheidung zwischen historischem Autor und fiktiver Erzählinstanz wurzelnd, hat die Narratologie mittlerweile eine Metasprache ausgebildet, die zwar Universalität und Systematik beansprucht, dabei aber ebenso ausufernd wie uneinheitlich geworden ist, vgl. Nine Miedema, Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse, in: Harald Haferland/Matthias Meyer (edd.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin/New York 2010, 35–67,

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rativen Verfahren (literarisierte) Herrschaft konstituiert und semantisiert werden kann, inwiefern etablierte Erzählmuster spezifische Herrschaftsentwürfe legitimieren bzw. ausgrenzen, wie Erzähler und Figur (Herrschafts-)Autorität über Stimmhoheit einfordern und welche Wechselwirkungen Herrschafts- und Erzählkonzepte miteinander eingehen, soll vor dem Hintergrund der (historischen) Narratologie zur Diskussion stehen.4 Als Grundlage dient dabei ein Erzählstoff, der sich für Fragen der Herrschaftskonstitution und -rechtfertigung in besonderem Maße eignet: die Legendenerzählung von ‚Barlaam und Josaphat‘ in der Bearbeitung Rudolfs von Ems.5 hier 35. Den Philologien längst entwachsen, findet sie mittlerweile Anwendung in Psychoanalyse und Philosophie, in Medien- und Kulturwissenschaften. Somit ist das ‚Narrativ‘ bzw. das ‚Erzählen‘ nicht nur „zu einem der Schlüsselbegriffe der Kulturwissenschaften avanciert“, sondern dominiert zunehmend auch die populärwissenschaftliche, journalistische und alltagssprachliche Kommunikation, Ansgar Nünning, Erzähltheorien, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (5. Auflage 2013), 187–191, hier 190; ähnlich auch Hartmut Bleumer, Historische Narratologie, in: Christiane Ackermann/Michael Egerding (edd.), Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2015, 213–274, hier 213f. 4 Seit Gert Hübners Studien zur Fokalisierung (Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im ‚Iwein‘ und im ‚Tristan‘, Tübingen 2003) diskutiert die germanistisch-mediävistische Literaturwissenschaft z. T. kritisch distanziert das Projekt einer ‚Historischen Narratologie‘: So notwendig es auf der einen Seite scheint, jene Begriffe zu historisieren, die vornehmlich an Erzähltexten des 18. und 19. Jh. entwickelt wurden, stehen proklamierte Universalität des Analyseapparats und notwendige Historisierung der Untersuchungsgegenstände doch in einem offenkundigen Widerspruch (vgl. Bleumer 2015, 214). Wiederholt hat man sich deshalb dafür ausgesprochen, die Konzepte nicht unreflektiert zu übernehmen, um vormoderne Texte nicht mit modernen Erwartungshaltungen zu messen und dabei die ‚Vormoderne‘ als vermeintlich defizitär gegenüber den avancierteren Erzähltechniken der ‚Moderne‘ zu konzeptualisieren, vgl. u. a. Ursula Kocher, „Schreib nie einen Roman aus der Perspektive einer Türklinke!“ Möglichkeiten und Grenzen einer historischen Narratologie, in: Harald Haferland/Matthias Meyer (edd.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin/New York 2010, 415–427, hier 419; ähnlich auch Miedema 2010, 36, Anm. 6; vgl. auch Sonja Glauch, An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens (Studien zur historischen Poetik 1), Heidelberg 2009, 81. In ihrer Einleitung zum Band ‚Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven‘ sensibilisieren die Herausgeber Harald Haferland und Matthias Meyer für Chancen und Risiken einer ‚Historischen Narratologie‘, halten jedoch an dem Begriff fest, Harald Haferland/Matthias Meyer, Einleitung, in: Dies. (edd.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin/New York 2010, 3–15, hier 7. Für Bleumer stellt die ‚Historische Narratologie‘ indes ein „paradoxes, poststrukturalistisches Projekt“ dar (Bleumer 2015, 215). 5 Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, dass der Stoff mit seinem Protagonisten ein „Idealbild des mittelalterlichen Herrschers“ zeichne und also diskursiv die Erscheinungsformen legitimer Herrschaft verhandle, Wilfried Schouwink, Bî wem sol ich senden dar / mîn guot, swenne ich hinnan var. Barlaams Jahreskönig bei Rudolf von Ems und in Jakob Bidermans ‚Cosmarchia‘, in: Gisela Vollmann–Profe et al. (edd.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen 2007, 245– 264, hier 256; ähnlich auch Gottfried Kerscher, ‚Barlaam und Josaphat‘. Überlegungen zur

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Dieser „regelrechte[] Bestseller des europäischen Mittelalters“6 beeindruckt allein schon durch seine Stoffgenese: Der ursprünglich indische Erzählstoff um Leben und Lehren Buddhas gelangt über das Mittelpersische und Arabische in den europäischen Kulturraum; der in über 200 Handschriften überlieferte griechisch-byzantinische Roman des Johannes Damascenus integriert die Erzählung in einen christlichen Erzählkontext. Die drei lateinischen, z. T. gekürzten Bearbeitungen in der ‚Legenda Aurea‘ des Jacobus de Voragine, im ‚Speculum historiale‘ des Vincent de Beauvais und in der Vulgata vermitteln die Legendenerzählung an die europäischen Volkssprachen. Von hier ausgehend findet der Stoff Eingang ins Französische, Provenzalische, Italienische, Spanische, Englische, Altnordische, Isländische, Schwedische, Norwegische, Portugiesische, Altjiddische und Altrussische – so widmet sich u. a. auch der kastilische Autor Don Juan Manuel, dessen Kurzerzählung Andersens Kunstmärchen ‚Des Kaisers neue Kleider‘ inspiriert hat, dem Legendenstoff in seinem ‚Libro de los estados‘.7 Im deutschsprachigen Raum entstehen der auf Wunsch von Bischof Otto II. von Freising gefertigte ‚Laubacher Barlaam‘ (vor 1220), der fragmentarische ‚Zürcher Barlaam‘ sowie die gut 16.000 Verse umfassende Reimpaardichtung Rudolfs von Ems.8 Wie beliebt Rudolfs Version des indischen Erzählstoffs gewesen ist, belegt Bildwürdigkeit der Askese im Mittelalter, in: Das Mittelalter 15/1 (2010), 66–81, hier 70; sowie Johannes Traulsen, Diesseitige und jenseitige rîchheit in Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘, in: Jutta Eming et al. (edd.), Fremde – Luxus – Räume. Konzeptionen von Luxus in Vormoderne und Moderne (Literaturwissenschaft 43), Berlin 2015a, 43–62, hier 54. Zuweilen wurde die mittelhochdeutsche Bearbeitung Rudolfs von Ems deshalb auch als ‚Fürstenspiegel‘ klassifiziert, so etwa Kerscher 2010, 69; Regine Weber, Die ‚Heiligen‘ Barlaam und Josaphat, Alexander, Georg und Karl der Große als Integrationsfiguren im monastischen, dynastischen und städtischen Europa, in: Ina Karg (ed.), Europäisches Erbe des Mittelalters. Kulturelle Integration und Sinnvermittlung einst und jetzt. Ausgewählte Beiträge der Sektion II ‚Europäisches Erbe‘ des Deutschen Germanistentages 2010 in Freiburg i. Br., Göttingen 2011, 31–49, hier 35. Josaphats Rückzug in die Einsiedelei stehe hierzu nicht im Widerspruch, da er zuvor die Herrschaftsfolge sichere, Corinna Biesterfeldt, Das Schlußkonzept moniage in mittelhochdeutscher Epik als Ja zu Gott und der Welt, in: Wolfram–Studien 18 (2004), 211–231, hier 228. 6 Constanza Cordoni, O favole o parole o istorie. Zum Parabelkorpus in der Barlaam-Legende, in: Fabula 52/3/4 (2011), 207–227, hier 208, Anm. 3; vgl. auch Johannes Traulsen, Rezension zu: Constanza Cordoni, Barlaam und Josaphat in der europäischen Literatur des Mittelalters. Darstellung der Stofftradition – Bibliografie – Studien, Berlin/Boston 2014, und Constanza Cordoni/Matthias Meyer (edd.), Barlaam und Josaphat. Neue Perspektiven auf ein europäisches Problem, Berlin/München/Boston 2015, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 144 (2015b), 527–532, hier 527. 7 Albrecht Classen, Kulturelle und religiöse Kontakte zwischen dem christlichen Europa und dem buddhistischen Indien im Mittelalter: Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘ im europäischen Kontext, in: Fabula 41/3/4 (2000), 203–228, hier 213. 8 Zur Stoffgenese s. Norbert H. Ott, Anmerkungen zur Barlaam-Ikonographie: Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘ in Malibu und die Bildtradition des Barlaam-Stoffs, in: Odilo Engels/Peter Schreiner (edd.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todestages der

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allein die Zahl der Textzeugen: In 14 nahezu vollständigen Handschriften, 31 Fragmenten und diversen Drucken überliefert, zählt Rudolfs Bearbeitung zu den erfolgreichsten Texten der nachklassischen mittelhochdeutschen Großepik.9 Kaiserin Theophanu, Sigmaringen 1993, 365–385, hier 365–368; Classen 2000, 209–214; Volker Mertens, The European Reception of Buddhism in the Middle Ages, in: Pornsan Watanangura/Heinrich Detering (edd.), On the Reception of Buddhism in German Philosophy and Literature: An Intercultural Dialogue, 2. Aufl., Bangkok 2009, 9–22, hier 16; Kerscher 2010, 67–70; Cordoni 2011, 208, Anm. 3; Christian Seebald, ‚Hermeneutischer Dialog‘. Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘ und die Lehre von der bezeichenunge, in: Nine Miedema/Angela Schrott/Monika Unzeitig (edd.), Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende (Historische Dialogforschung 2), Berlin 2012, 285–303, hier 286f.; Mateusz Cwik, Poetik des Leibes. Leibkonzeption und ihre poetische Inszenierung in der Legende ‚Barlaam und Josaphat‘ von Rudolf von Ems, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 143 (2014), 333–348, hier 333, Anm. 5 sowie Traulsen 2015b, 528–532. Häufig im Verbund mit Reiseliteratur überliefert, dient die Legende bereits früh als „Medium kulturellen Transfers“ (Traulsen 2015b, 532). Im 16. Jh. setzten die Jesuiten den Stoff in Form von Schuldramen während ihrer Missionstätigkeit im Orient ein, „womit sich der Kreislauf in der Rezeptionsgeschichte schloß“ (Classen 2000, 213f.). 9 Hartmut Beckers, Ein mittelfränkisch getöntes Bruchstück von Rudolfs ‚Barlaam und Josaphat‘ aus dem 13. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 120/3 (1991), 314–322, hier 314; Klaus Klein, Ein ‚Barlaam‘-Fragment in Herdringen, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 120/2 (1991), 202–209, hier 202; Classen 2000, 214; Mertens 2009, 16; Kerscher 2010, 69; Cordoni 2011, 209, Anm. 6; Volker Mertens, Langweilige Heilige – heilige Langeweile?, in: Constanza Cordoni/Matthias Meyer (edd.), Barlaam und Josaphat. Neue Perspektiven auf ein europäisches Phänomen. Unter Mitarbeit von Nina Hable, Berlin/München/Boston 2015, 247–270, hier 248. Rudolf von Ems ist nicht urkundlich bezeugt, seinen Namen konservieren allerdings – z. T. in Form von Akrosticha in den Epilogen – seine überlieferten Werke: ‚Der guote Gêrhart‘, ‚Barlaam und Josaphat‘, ‚Alexander I‘, ‚Willehalm von Orlens‘, ‚Alexander II‘, ‚Weltchronik‘. Den ‚Barlaam und Josaphat‘ verfasst er vermutlich in den 1220er Jahren auf Grundlage der lateinischen Vulgata-Version, die ihm – so berichtet der Prolog – Wido von Kappel, Abt eines Zisterzienserklosters, zur Verfügung gestellt hat, vgl. Wolfgang Walliczek, Rudolf von Ems, in: Verfasserlexikon 8 (1992), 322–345, hier 322f.; Kerscher 2010, 69; Weber 2011, 33, Anm. 8. Dem Versuch einer Gattungszuordnung widmet sich ausführlich Ulrich Wyss: Indem der Roman zwischen Typisierung und Problematisierung changiere, zeige er eine „Ambivalenz der Motivation“, die letztlich keine genaue Zuschreibung erlaube – die für mittelalterliche Texte sowieso schwierig zu treffen sind, Ulrich Wyss, Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘ zwischen Legende und Roman, in: Peter F. Ganz/Werner Schröder (edd.), Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969 (Publications of the Institute of Germanic Studies 13), Berlin 1972, 214–238, hier 231; ähnlich auch Ott 1993, 368; Constanze Geisthardt, Nichts als Worte: Die Problematik sprachlicher Vermittlung von Heil in Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘, in: Constanza Cordoni/Matthias Meyer (edd.), Barlaam und Josaphat. Neue Perspektiven auf ein europäisches Phänomen. Unter Mitarbeit von Nina Hable, Berlin/München/Boston 2015, 101–140, hier 102f. An die Gattungsfrage knüpfen sich Überlegungen zu möglichen Adressaten, die wohl gleichermaßen zwischen höfischem und klerikalem Publikum zu identifizieren sind (Wyss 1972, 221; Weber 2011, 33f.). Inwiefern Rudolfs Bearbeitung nun eher als höfisch oder legendarisch zu gelten habe, soll hier nicht weiter interessieren (für eine ausführliche Diskussion der unterschiedlichen Positionen s. Walliczek 1992, 331f.).

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Als der indische König Avenier bei der Geburt seines Sohnes Josaphat erfährt, dass dieser laut einer Prophezeiung den landesüblichen Glauben ablegen und das indische Großreich christianisieren werde, verbirgt der Vater seinen Sohn in einem eigens für ihn errichteten Palast. Ausgewählte Diener und Vorsteher bewachen fortan den Prinzen, der zu einem klugen jungen Mann heranwächst und eines Tages um die Erlaubnis bittet, in die Welt heraustreten zu dürfen. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen willigt Avenier schließlich in die Bitten des Sohnes ein; auf seinen Ausritten trifft der junge Prinz auf einen Aussätzigen, einen Blinden und einen Alten und erfährt somit von Krankheit und Tod in der Welt. Vom irdischen Leid überwältigt, stürzt der Prinz in eine tiefe Sinnkrise. Antwort auf seine existenziellen Fragen sendet ihm schließlich Gott in Gestalt des Eremiten Barlaam: Als Kaufmann verkleidet, reist dieser nach Indien und wird dank einer List zum Prinzen vorgelassen. In ausführlichen Lehrgesprächen bekehrt der Eremit seinen Schüler und verlässt diesen schließlich wieder. Entsetzt bemerkt Avenier den neuen Glauben Josaphats und versucht seinen Sohn mithilfe seiner Ratgeber zu überlisten; nacheinander scheitern diese jedoch mit ihren Intrigen, so dass der König schließlich einlenkt und seinem Sohn das halbe Königreich überlässt. Durch sein Vorbild inspiriert, nimmt auch er schließlich den christlichen Glauben an und übergibt seinem Sohn die Herrschaft. Nach dem Tod des Vaters bestimmt Josaphat den Landesfürsten Barachias zum neuen König und bricht zur Insel Senaar auf, um gemeinsam mit Barlaam in gottesfürchtiger Einsamkeit und Armut zu leben. Nach dem Tod der beiden Heiligen lässt Barachias deren Leichname nach Indien bringen und dort aufwändig bestatten.

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Barlaam ist der beste Erzähler

Im Moment tiefster Verunsicherung sendet Gott dem mit der Welt hadernden Prinzen Josaphat einen Lehrmeister, der seine Fragen zu beantworten und seine Zweifel mit Sinn zu überschreiben versteht. In beeindruckender Detailfülle präsentiert Barlaam seinem Schüler die christlichen Ursprungserzählungen des Alten und Neuen Testaments: Er berichtet von Gottes Schöpfungswerk und der Vertreibung aus dem Paradies, von der Ermordung Abels und der Opferung Isaaks, von Josephs Träumen und den Zehn Geboten; er vergegenwärtigt, wie Maria den Heiland geboren und dieser die Händler aus dem Tempel vertrieben habe; wie Johannes den Gottessohn getauft und die Juden ihn gekreuzigt haben; wie dieser schließlich für die Menschheit gestorben und wieder auferstanden sei, um am Tag des Jüngsten Gerichts Recht zu sprechen. Mit seinen 5132 Versen bietet das Bekehrungsgespräch die umfangreichste Erzähleinheit und damit das

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Kernstück von Rudolfs ‚Barlaam und Josaphat‘.10 Josaphats Herrschaft nimmt in diesem Gespräch über die Erschaffung der Welt und die Menschwerdung Gottes dezidiert ihren Anfang: Nach seiner Taufe wird er das indische Herrschaftsgebiet christianisieren und einen neuen christlichen Herrscher bestimmen. Bewusst bedient sich die Erzählinstanz11 des bekannten biblischen Erzählmusters, um ihre eigene Ursprungserzählung zu entwickeln – Welt- und Herrschaftsbeginn fallen erzählerisch ineinander, die Genesis mediatisiert die Genese von (Josaphats) Herrschaft. Ein Bildprogramm um Geburt und Wachstum semantisiert diese ineinander verschränkten Schöpfungsnarrative: swer geloubet, so erklärt Barlaam seinem Schüler Josaphat, der ist geborn / in daz gotes rîche (BuJ V. 3174f.; „Wer glaubt, der wird in das Reich Gottes hineingeboren“).12 Deshalb gibt der Eremit, der biologisch bereits das 70. Lebensjahr überschritten hat, auf Josaphats Nachfrage an, 45 Jahre alt zu sein: Der wahre Christ zähle seine Lebensjahre erst mit der Taufe (BuJ V. 6247–6290). Barlaam bezeichnet seinen Schüler nach dessen Taufe als neugeborenes Kind (BuJ V. 6949), während Josaphat seinen Lehrmeister als Vater anspricht (BuJ V. 7271). Beziehungsreich verkehrt der Text zudem genealogische Erzählmuster, wenn Avenier durch Josaphat zum christlichen Glauben findet und somit den ‚Vater‘ im Sohn erkennt: dô wart ze vater im [Avenier] erkorn / sîn kint, daz von im was geborn (BuJ V. 14159f.; „sein Kind, das von ihm abstammte, wurde so sein Vater“).13 10 Rudolf vervierfacht den Versanteil des griechisch-byzantinischen Romans, vgl. Roy Wisbey, Zum ‚Barlaam und Josaphat‘ Rudolfs von Ems, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 86/4 (1955/1956), 293–301, hier 294; Helmut Brackert, Rudolf von Ems. Dichtung und Geschichte (Germanische Bibliothek Dritte Reihe), Heidelberg 1968, 161. Das Lehrgespräch nimmt bei Rudolf somit „fast ein Drittel des ganzen Textes“ ein und ist damit „eigentlich ‚dysfunktional‘“ (Wyss 1972, 224), erhält „erzählerischen Selbstwert“ (Brackert 1968, 162, Anm. 19), während „die Narration zur Nebensache zu werden scheint“ (Mertens 2015, 248). 11 Mit Erzählinstanz soll im Folgenden in Abgrenzung zum textexternen historischen Autor „die (textinterne) Vermittlungsinstanz von Erzählungen“ beschrieben sein, Werner Wolf, Erzähler, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (5. Auflage 2013), 184f., hier 184. Untersuchungen zur Erzählinstanz haben in der Narratologie seit der ersten Stunde Konjunktur; kritisch äußert sich u. a. Kocher zu diesem Primat der Erzählerstimme: „Die Tatsache, dass ein Fokalisierungstyp allein dadurch bestimmbar wird, wie sich das Wissen eines Erzählers zu seinen Figuren verhält, ob er mehr oder gleich viel wie seine Figuren weiß, rückt die Narrationsinstanz derart in den Mittelpunkt der Theorie, dass sie von einem Autor teilweise kaum noch zu trennen ist. […] Somit schaut der vom Strukturalismus einst für tot erklärte Autor, dem man herkömmlich Entscheidungen für Gattungen, Stil und Erzählweise zuspricht, hinter dem Rücken des Erzählers wieder hervor. Die saubere theoretische Trennung wird in der praktischen Analyse, und vor allem in der Beschreibung derselben, zu einem nicht unerheblichen Problem“ (Kocher 2010, 421). 12 Im Folgenden zitiert nach Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat, ed. Franz Pfeiffer (Dichtungen des deutschen Mittelalters 3), Leipzig 1843 (ND Berlin 1965). 13 Vgl. Traulsen 2015a, 55.

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Das enigmatische Bild der Menschwerdung Gottes setzt diese genealogische Verkehrungsdynamik frei: Die Mutter Gottes habe demjenigen das Leben geschenkt, der ir kint ist, ir schepher was (BuJ V. 6744; „der ihr Kind ist, ihr Schöpfer war“). Und so nährt denn auch nicht die leibliche Mutter ihren Sohn Josaphat, sondern die glaubensspendende Christenheit: dîn vater ist der reine Krist, diu kristenheit dîn muoter ist, ûz der brüsten sol dîn jugent sûgen die milch rehter tugent. BuJ V. 6953–6956

„Dein Vater ist der sündenfreie Christus, die Christenheit ist deine Mutter, aus ihren Brüsten sollst du in jungen Jahren die Milch wahrhafter Tugend saugen.“

Über die genealogischen Metaphern konkretisiert die Erzählinstanz ihre Schöpfungsgeschichte – Josaphats Glaube und Herrschaft durchlaufen eine narrative Geburt. Indem die Erzählinstanz die Geschichte außerdem mit einem vegetabilen Bildprogramm unterlegt, naturalisiert sie den entworfenen Wachstumsprozess zusätzlich: Barlaam möchte mit seiner Lehre in Josaphat den göttlichen Samen säen (BuJ V. 1625–1627).14 Was die Rede vom Samen bezeichne, erklärt Barlaam, der worte saejer (BuJ V. 7168; „der Wortesäer“), mit Rückgriff auf ein Christuszitat: der sâme ist daz gotes wort (BuJ V. 1604; „der Samen ist das Wort Gottes“). Wenn Josaphat in der Schlusssequenz des Romans seinen Vater Avenier bekehrt, sendet Gott auch ihm den lebensspendenden sâmen (BuJ V. 14056; „Samen“). Die Samen schlagen schließlich Wurzeln und bringen Frucht und Blüte zum Sprießen – so rechtfertigt sich etwa ein zum Christentum konvertierter Ratgeber Aveniers im Anblick des wütenden Königs damit, dass das Gotteswort in ihm Wurzeln geschlagen habe (BuJ V. 348f.). Kurz darauf erblüht auch der Ratgeber Barachias im Glauben an den christlichen Gott (BuJ V. 449f.). Josaphat adressiert Barlaam als aller tugende bluomenschîn (BuJ V. 3135; „Blumenglanz aller Tugend“), der ‚Heide‘ Nachor stilisiert die Christenheit zur vollkommenen Blüte (BuJ V. 10927), in Aveniers Herzen wächst dank Josaphats Reden lebensspendendes Obst (BuJ V. 14073), in ihm sprießen Zweige (BuJ V. 14076) reich an süßen Früchten (BuJ V. 14078). Das programmatische süeze („süß“) umspannt dabei die gesamte Erzählung: süez sind sowohl die Blüte als auch das Obst in Aveniers Herzen, Barlaams honicmaeziu zunge habe Josaphat die christliche Lehre gezeigt (BuJ V. 4176; „honiggleiche Zunge“), die süeze von Josaphats Lehre seinen Vater Avenier befreit (BuJ V. 14059–14061 und 14071– 14075). Der Leitbegriff süez verbindet so die unterschiedlichen Bedeutungsebenen: Synästhetisch klammert der Begriff Figuren aneinander und auratisiert

14 Die Wendung vom sâmen tritt in dieser Passage sehr häufig auf (BuJ V. 1633, 1636; vgl. auch 6435).

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Worte – Barlaams Erzählungen sind ebenso süez wie die Quelle, die Rudolf übersetzt; Josaphats Lehre und Gottes Worte sind süez.15 Besonders deutlich kommt die Blütenmetaphorik zum Einsatz, um den Protagonisten Josaphat vor der christlichen Erzählfolie als Heiland zu stilisieren: Christus habe, so führt die Erzählinstanz den titelgebenden Prinzen in die Geschichte ein, von dornen rôsen springen (BuJ V. 747; „aus Dornen Rosen sprießen“) lassen, denn der dorn Avenier (BuJ V. 757) habe der komenden rôsen blüete Josaphat (BuJ V. 760; „die Blüte der künftigen Rose“) hervorgebracht. Dass der ungeborene Thronfolger dereinst zur kristen bluome (BuJ V. 851; „Blume der Christen“) heranwachsen werde, prophezeien kurz darauf die königlichen Sterndeuter. Erzähler- wie Figurenrede verarbeiten in der programmatischen Floralmetaphorik ein alttestamentarisches Bild, das Barlaam in seiner Lehrrede expliziert: Aus der Wurzel Jesse werde einst eine süße Blüte hervorspringen (BuJ V. 2532–2534). Das Jesaja-Zitat deutet der Meister Barlaam seiner allegoretischen Rhetorik folgend aus: Maria sei jener Zweig, an dem Christus erblüht sei (BuJ V. 2555–2557). Die christliche Schöpfungsgeschichte bietet die Schablone, ‚vom Anfang zu erzählen‘ und damit Universalität und Kontinuität für die eigene Erzählung zu beanspruchen; über die Bildbereiche der Geburt und des Wachstums dynamisiert und naturalisiert die Erzählinstanz diesen Ursprung. Das Christus-Narrativ transportiert schließlich eine implizite Überlegenheit: Dem Heiland gleich wird Josaphats Herrschaft wachsen und schließlich triumphieren.16 Eben jenen Triumph deutet die Erzählung nun aber nicht nur motivisch an, sondern inszeniert ihn kurz darauf szenisch.

15 Als süez apostrophieren Erzählinstanz und Figuren zunächst Gott in seiner Trinität (BuJ V. 117, 5869, 6646, 7363, 8115, 8339, 8415, 12001, 12013, 12096, 12922, 12943, 13089, 13176, 13215, 13893, 13937, 13944, 14709, 15626, 15675) und Maria (BuJ V. 2550, 6742), des Weiteren Josaphat (BuJ V. 1142, 1382, 1384, 1575, 3156, 4185, 6723, 7114, 7359, 7399, 7824, 8169, 11945, 13332, 13719, 13909, 14604, 14639, 15818, 15832) und seinen Lehrmeister Barlaam (BuJ V. 3815, 6229, 7382). süez sind Himmelreich (BuJ V. 6505, 7354, 8316) und Christenheit (BuJ V. 13218), sind gebot (BuJ V. 3014, 7442) und rât Gottes bzw. seines Mittlers Josaphat (BuJ V. 5877, 6114, 7195, 14091). süeze eint die lêre Gottes, Barlaams und der auf Rudolf gekommenen Quelle des ‚Barlaam‘-Stoffes (BuJ V. 5299, 5674, 6188, 7366, 13480, 13542, 13787, 16071). Barlaam erzählt süeze[…] maere (BuJ V. 6330, 7184), süez sind die worte Gottes und Josaphats (BuJ V. 2728, 13183, 13500). In der Traumvision des Paradieses häuft sich das programmatische süez: boume (BuJ V. 12359f.), winde (BuJ V. 12372f.), klanc (BuJ V. 12374), gesanc (BuJ V. 12417), dône (BuJ V. 12421) und wazzer (BuJ V. 12386) sind süez. 16 Der Text verdichtet die Bezüge zwischen Protagonist und Christus auch durch raumzeitliche Parallelisierung (Classen 2000, 218) und strukturelle Analogiebildung (Wisbey 1955/1956, 301).

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Sophie Quander

Der von Gott Inspirierte ist der beste Erzähler

Hilfesuchend wendet sich Avenier an seinen Ratgeber Arachis, nachdem er den Sinneswandel seines Sohnes bemerkt hat. Dieser ersinnt eine List: In einer öffentlichen Gerichtsszene soll Barlaam seine Irrlehren vor Vertretern anderer Glaubensrichtungen verteidigen und im Streitgespräch schließlich unterliegen, so dass Josaphat die Fehlbarkeit seines Lehrmeisters erkennen und zum heimischen Glauben zurückkehren werde. Falls sie Barlaam nicht antreffen, möchte Arachis den ‚heidnischen‘ Einsiedler Nachor bitten, an seiner statt am Gerichtstag teilzunehmen – die beiden Männer ähneln sich so auffallend, dass niemand den Unterschied bemerken wird. Es kommt, wie es kommen muss: Barlaam bleibt unauffindbar, und so begibt sich Arachis schließlich in einen nahegelegenen Wald, um Nachor seinen Alternativplan zu unterbreiten. Der ‚Heide‘ willigt ein, als Barlaam verkleidet vor Gericht zu erscheinen, und man inszeniert eine Verfolgung, in der man den vermeintlichen Christen gefangen setzt. Tief betroffen erfährt Josaphat vom Schicksal seines Meisters und fleht Gott um Beistand an (BuJ V. 8115–8130). Zwei Tage darauf sucht Avenier seinen Sohn erstmals in seinem Palast auf und ermahnt ihn, Gehorsam zu leisten und den christlichen Glauben abzulegen; Josaphat jedoch tritt standhaft für seine Überzeugungen ein (BuJ V. 8144–8539). Nach erneuter Rücksprache mit seinen Ratgebern stellt Avenier den jungen Prinzen ein weiteres Mal zur Rede; da aber auch die Appelle an Lebensweisheit und Vaterliebe Josaphat nicht zur Umkehr bewegen können, einigen sich die beiden schließlich auf einen Wettstreit (BuJ V. 8590–8910). Der Tag des Kampfes (BuJ V. 8944) bricht an. Avenier und Josaphat nehmen als Schiedsrichter Platz und richten das Wort an ihre Mitstreiter: Zunächst adressiert Avenier die ‚heidnischen‘ Lehrmeister und ihre wîsheit (BuJ V. 8967; „Weisheit“) und meisterschaft (BuJ V. 8971; „Gelehrsamkeit“), lobt […] sin, red unde vernunft (BuJ V. 8969; „Verstand, Redegewandtheit und Klugheit“) und ihre kunst, die sie nâch witzerîcher lêre einzusetzen verstehen (BuJ V. 8970; „Kunstfertigkeit einer klugen Lehre entsprechend“). Ihre Schlagfertigkeit möchte er im Falle ihres Sieges mit Gaben entlohnen, sollten sie jedoch unterliegen, so schließt Avenier seine Rede, erwartet sie die Todesstrafe. Josaphat eröffnet seine darauffolgende Ansprache mit einer Frage an den als Barlaam verkleideten Nachor: Bist du mein Meister Barlaam, dessen […] zunge mir vorlas (BuJ V. 9024; „Zunge mir vorgelesen hat“), wie Gott niht wan mit eines wortes kraft (BuJ V. 9048; „mit nichts als der Macht eines Wortes“) die Welt geschaffen hat? Der vermeintliche Barlaam solle seine Grundsätze vor allen Verleumdungen beschirmen und sich damit des Prinzen als würdig erweisen; sollte das Streitgespräch seine lêre (BuJ V. 9057; „Lehre“) jedoch als lüge (BuJ V. 9078; „Lüge“) entlarven, so kündigt auch

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Josaphat Bestrafung an: Er werde dem Lügenredner die Zunge herausschneiden und sein Herz den Hunden vorwerfen (BuJ V. 9085–9098). Die beiden Mahnreden, mit denen Avenier und Josaphat ihre jeweiligen Wortführer in die Pflicht rufen, führen über die zitierten Leitbegriffe in das poetologische Potenzial dieses Erzählerwettstreits ein: Nachor und seine Kontrahenten konkurrieren nicht einfach nur um die Vorherrschaft der ein oder anderen Schöpfungserzählung, sondern um Glaubwürdigkeit und Kunstfertigkeit der sie vermittelnden Narration. Zur Diskussion stehen meisterschaft und wortes kraft, wîsheit und kunst von meister-Erzählern, die eine ‚Wahrheit‘ vorlesen.17 Nachor erbleicht, als er die Konsequenzen seines Verkleidungsspiels und die existenzielle Dimension dieses Wettstreits überblickt; in diesem Moment greift der Heilige Geist ein: der geist der wîslîchen vernunft, der lêrer redelîcher kunst in Nachores herze dranc, sîne zungen er betwanc, daz si vil anders rette gar, danne er waere komen dar. sînen sin, an witzen kranc, der selbe geist ze wîsheit twanc, der Balââmes esele dort gap sin und menschlîchiu wort, der hiez in dem herzen sîn wahsen sîner sunnen schîn, daz er dar zuo gesaehe, wie er aldâ verjaehe der rehten wârheit, die sîn munt von gote solte machen kunt. BuJ V. 9143–9158

„Der Geist der verständigen Vernunft, der Lehrer beredter Kenntnis drang in Nachors Herz, bezwang seine Zunge, so dass sie ganz anders sprach, als er es ursprünglich geplant hatte. Seinen Verstand, bar jeden Wissens, zwang derselbe Geist, der dem Esel Barlaam dort Verstand und menschliche Worte verlieh, zur Weisheit; er ließ in seinem Herzen seinen Sonnenschein erstrahlen, so dass er erkannte, wie er dort die gerechte Wahrheit sprechen sollte, von der sein Mund durch Gott künden sollte.“

Wieder stellt Gott sein Wirken über ein vegetabiles Moment unter Beweis: Dank seiner vernunft und kunst wahsen in Nachors Herz witz, wîsheit, wort und wârheit und damit jene alliterativen Leitbegriffe, die Avenier in seiner Anrede an die ‚heidnischen‘ Meister programmatisch vorgestellt hat.18 Der ‚Heide‘ wird Medium christlicher ‚Wahrheit‘: Gott inspiriert den Ungläubigen und stellt damit deutlich aus, wer den erfolgreichen Erzähler letzten Endes legitimiert. Dem tat17 Die Kampfmetaphorik dramatisiert diesen Wortstreit: Im kamph (BuJ V. 8944, 9134, 9141, 9159, 10376, 10388, 11009; „Kampf“), im strît (BuJ V. 8955, 8976, 9648, 9663, 10376, 10394, 10665, 10672, 11009; „Streit“) treten die kemphen (BuJ V. 8979, 9124, 9128, 9142; „Kämpfer“) gegeneinander an, um entweder zu sigen (BuJ V. 8983, 8988, 9137, 9658, 10387, 11007; „siegen“) oder sich sigelôs (BuJ V. 8984, 8987, 9076, 9138, 9662, 10375, 10385, 10406, 10418, 11003, 11011; „sieglos“) zu ergeben. 18 Jene Begriffe fallen bereits im Prolog (BuJ V. 76f.).

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sächlichen Barlaam gleich kann nun auch Nachor als Fürsprecher des christlichen Glaubens in den Ring treten.19 Der eigentliche Disput beginnt.20 Zunächst stellt ein Meister dem vermeintlichen Barlaam eine Reihe kritischer Fragen, in denen er den Kreuzestod Christi mit der Präsenz seiner Götter kontrastiert. Die Einwände gegen Christus wehrt Nachor mit dem Konzept der unsterblichen Seele und der Unendlichkeit Gottes ab; die vermeintliche Wirkmacht der ‚heidnischen‘ Götzenbilder bricht er dagegen ironisch, indem er selbst eine Nachfrage formuliert: nû weder dunket bezzer dich, des soltû bewîsen mich: ein dinc, daz alle sîne kraft von eines meisters meisterschaft hât, oder des meisters kraft, der es geschuof mit meisterschaft? BuJ V. 9213–9218

„Was Dir nun also besser scheint, sollst Du mir sagen: Ein Ding, das seine gesamte Kraft der Kunstfertigkeit seines Schöpfers zu verdanken hat, oder die Kraft des Meisters, der es mit Kunstfertigkeit erschaffen hat?“

Als sein Gesprächspartner nichtsahnend bestätigt, dass in der Tat der Schöpfer über dem Geschöpf zu preisen sei, kann Nachor zum entscheidenden Schlag ansetzen: Die ‚Heiden‘ verehren in ihren Götzendarstellungen etwas von meister Hand Geschaffenes, ein dinc, das keine kraft besitze. Der rhythmisch wiederkehrende Doppelreim kraft/meisterschaft verschränkt die Schlüsselbegriffe hierbei zu einer konzeptuellen Einheit, die dem poetologischen Programm eine implizite Wertung einschreibt: Lob verdiene der Schöpfer, nicht (nur) seine Schöpfung. Das heißt aber auch: Lob verdiene der Künstler, nicht (nur) sein Kunstwerk.21 Nachors Dialogpartner können auf seine Wortgewandtheit nichts erwidern (BuJ V. 9240f.). In ihrer Folge aus These und Antithese entwickelt die kurze Eingangsszene eine Dialogdynamik, die zum strukturgebenden Schema aufsteigen soll: Im folgenden Religionsdisput präsentieren zunächst die ‚heidnischen‘ Gesprächspartner ihre Glaubenssätze, die der vermeintliche Barlaam dann jeweils argumentativ zu widerlegen versteht.22 19 Wyss wundert sich über dieses Inspirationsmoment, unterlaufe es doch die narrative Dramatik: „Eher werden die Heiden um ihrer selbst willen widerlegt; die Auseinandersetzung hat primär einen theologischen Sinn.“ (Wyss 1972, 226) Dass hinter dem Religions- auch ein Erzähldisput aufscheint, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Im Übrigen bittet auch die Erzählinstanz im Prolog um göttliche Inspiration (Mertens 2015, 257). 20 Welchen literarhistorischen Stellenwert dieser Disput besitzt, betont Wyss: „Es handelt sich um das neben dem großen sent in der Silvesterlegende imposanteste Beispiel einer großen Disputation, in welcher das Christentum als allen anderen Religionen überlegen nachgewiesen wird.“ (Wyss 1972, 225). 21 Der Doppelreim wiederholt sich noch sieben Mal im Religionsdisput (BuJ V. 9291f., 9521f., 9593f., 9671f., 9681f., 10257f., 10301f.). 22 Vgl. Geisthardt 2015, 119.

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1. Als erstes stellen sich die meister von Kaldêâ (BuJ V. 9277; „Meister der Chaldäer“) der Auseinandersetzung, indem sie ihre Abbilder von himel (BuJ V. 9286; „Himmel“), erde (BuJ V. 9298; „Erde“), wazzer (BuJ V. 9313; „Wasser“), viure[] (BuJ V. 9332; „Feuer“), winden (BuJ V. 9343; „Winden“), von sunne[] (BuJ V. 9354; „Sonne“) und mâne[] (BuJ V. 9368; „Mond“) sowie die Götzenbilder von manic werder man (BuJ V. 9373; „einigen würdigen Männern“) verteidigen. All dies jedoch, so erwidert Nachor, sei letztlich ein geschaft / von eines schephaeres kraft (BuJ V. 9427f.; „Schöpfung eines mächtigen Schöpfers“). 2. Als nächstes treten die Kriechen (BuJ V. 9680; „Griechen“) hervor, die auf Nachors Aufforderung hin ihre Götter aufzählen: Saturnus (BuJ V. 9708), Jupiter (BuJ V. 9714), Vulkânus (BuJ V. 9721), Mercûrîus (BuJ V. 9729), Asclêpîus (BuJ V. 9730), Mars (BuJ V. 9739), Bachus (BuJ V. 9741), Hercules (BuJ V. 9747), Apollô (BuJ V. 9750), Êolus (BuJ V. 9757), Phêbus (BuJ V. 9758), Pollux unde Perseus / Kastor unde Zîtus (BuJ Vv. 9761f.), Adônides und Actêôn (BuJ V. 9765), Diânâ (BuJ V. 9783), Medûsâ (BuJ V. 9784), Pallas (BuJ V. 9787), Jûnô (BuJ V. 9792), Vênus (BuJ V. 9797), Thêtis (BuJ V. 9806) und schließlich Neptûnus (BuJ V. 9810). Nachor unterzieht die genannten Götter einer eingehenden Prüfung: Saturn verspeise seine Kinder, werde dann aber von seinem eigenen Sohn Jupiter besiegt (BuJ V. 9891–9944); dieser wiederum müsse sich in die unterschiedlichsten Tier- und Naturformen verwandeln, um Frauen zu verführen (so etwa Eurôpâ [BuJ V. 9975], Dânâê [BuJ V. 9981], Lîdâ [BuJ V. 9988], Antîopê [BuJ V. 9995], Sêmelê [BuJ V. 9996], Alcmênâ [BuJ V. 10000] und Gêtâ [BuJ V. 10004]); Vulkanus sei lahm (BuJ V. 10060) und müsse den Gott Mars fesseln, als er diesen mit seiner Frau Venus im Ehebett antrifft (BuJ V. 10105–10116); Bacchus sei stets betrunken und sterbe schließlich durch die Titanen (BuJ V. 10131f.). Herkules erschlage die Seinen (BuJ V. 10143–10146) und verbrenne im Feuer, ein Eber töte Adonides (BuJ V. 10190), ein Blitz treffe Asklepios (BuJ V. 10089), Akteon werde zum Hirsch (BuJ V. 10198f.) und Neptun sei lediglich ein Fährmann (BuJ V. 10210), den man zum Gott erklärt habe. Der Sonnengott Phöbus und der Windgott Aiolos sterben zwar, die Elemente Sonne und Wind existieren aber bekanntlich weiterhin (BuJ V. 10217–10240). Die Göttinnen schließlich verhandelt Nachor nur im Vorbeigehen, denn von wîbe ist selten worden schîn / gotlîchiu meisterschaft / oder helfîchiu kraft. (BuJ V. 10256–10258; „von Frauen ist nie göttliche Überlegenheit oder hilfreiche Kraft zu Tage getreten“). 3. Die von Egyptô (BuJ V. 10419; „die Ägypter“) kommen nur bis zu Typhôn unde Îsis, / Ôrus unde ouch Ôsiris (BuJ V. 10425f.), bevor Nachor ihnen mit einer Geste zu schweigen gebietet (BuJ V. 10457–10459). Auch die ägyptischen Mythen prüft er nun eingehend: Isis und Osiris sind zugleich Eheleute und Geschwister (BuJ V. 10469); Typhon erschlage seinen Bruder Osiris (BuJ

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V. 10470f.), Horus erschlage daraufhin seinen Onkel Typhon (BuJ V. 10480f.). Von swîn (BuJ V. 10545; „Schwein“) über kalp (BuJ V. 10547; „Kalb“) hin zu ziebollen, krût und knobelouch (BuJ V. 10562; „Zwiebel, Kraut und Knoblauch“) habe der Mensch alles verehrt, was doch kein Gott sei. 4. Schließlich wendet sich Nachor den Juden zu und erwähnt Moysê (BuJ V. 10689; „Moses“), die Zehn Gebote und die 40 Jahre in der Wüste (BuJ V. 10691f.), wie die Juden ein Rind angebetet haben (BuJ V. 10710), wie sie der wîssagen wârheit (BuJ V. 10742; „der Wahrheit der Propheten“) nicht folgen und Christus nicht anerkennen. 5. Abschließend reaktualisiert Nachor die von Barlaam ausführlich präsentierten christlichen Glaubenssätze in kondensierter Form (BuJ V. 10791–10980). In seinen weitschweifigen Widerreden stellt Nachor seine tiefe Kenntnis der ‚fremden‘ Erzählstoffe selbstbewusst aus: Er weiß, dass Jupiter seinen Vater Saturn und Horus seinen Onkel Thypon erschlagen hat, dass Mars und Osiris jeweils ihre Schwester zur Geliebten gewählt, dass die Chaldäer die Sonne und die Juden ein Kalb zur Gottheit erklärt haben. Er kenne, so betont der Eremit wiederholt, iuwer maere (BuJ V. 9900; „eure Geschichte“), iuwer schrift (BuJ V. 9957, 102001, 10289; „eure Schrift“), iuwer buoch voller maere, diu sint trügelich (BuJ V. 9970f.; „euer Buch voller trügerischer Geschichten“) und weist sich somit über die Berufung auf die Quellen als Stoffexperte aus: wan swaz er hâte aldâ geseit, / daz nam er von ir wârheit (BuJ V. 10379f.; „Denn was er ihnen dort erzählt hatte, / das nahm er von ihrer eigenen Wahrheit“). Geschickt setzt der Eremit sein Stoffwissen ein, um seine Dialogpartner mit ihren eigenen Waffen zu schlagen – denn er negiert die ‚fremden‘ Erzählungen nicht einfach nur, sondern sucht diese aus sich selbst heraus aufzulösen: Eingehend möchte er nachzeichnen, inwiefern sich die anderen Gottheiten als vorbilde (BuJ V. 9855, 9887, 10042; „Vorbild“) eignen. Verdient Jupiter, der erst eine Tiergestalt annehmen muss, um eine Frau für sich zu gewinnen, wirklich als Gott verehrt zu werden? Darf Osiris, der seine Schwester ehelicht und von seinem eigenen Bruder erschlagen wird, als Gott gelten? Der wütende Vulkanus, die inzestuöse Isis, Kalb, Katze und Knoblauch – sollen das ernsthaft Götter sein? Nachors Urteil fällt vernichtend aus: sol daz, was man von den anderen Göttern liest, sîn bezeichenlich, / so spellent disiu maere sich, / so sint ez wort und anders niht. (BuJ V. 10649–10651; „Soll das wirklich allegorisch bedeutsam sein, so sind die Geschichten bloßes Geschwätz, es sind nur Worte und nichts Anderes.“) Die Geschichten bieten nur Worte, keine ‚Wahrheit‘ – oder aber, so hält Nachor den Juden vor (BuJ V. 10757f.; ähnlich auch 10779f.), man lese zwar die ‚richtige‘ schrift, erkenne aber deren wârheit nicht. Die Kompetenz, ‚Wahrheit‘ zu verschriftlichen und auszudeuten, bleibt christliches Privileg – so lege die Stimmlosigkeit der Abgötter offen, dass sie dem christlichen Gott stets unterliegen müssen. Häufig wiederholt der Text, dass die

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‚fremden‘ Götter nicht sprechen können bzw. stumm und toub („stumm“, „taub“) sind (so etwa BuJ V. 8371f.). Da der ‚Barlaam und Josaphat‘ ein Gottesbild impliziert, das sich wesentlich über Sprachmacht konstituiert, demaskiert die Stummheit der anderen Götter ihre Fehlbarkeit. Dass Nachor die Gründungsmythen um Geschwisterliebe, Vatermord und Naturapotheose nicht nur kennt, sondern besser kennt als ihre eigentlichen Glaubensvertreter, belegt allein die Verteilung von direkter Rede: Im Dialog mit den Chaldäern erhält Nachor den doppelten (241 zu 123 Versen), im Gespräch mit den Griechen den vierfachen (537 zu 137 Versen), in der Begegnung mit den Ägyptern sogar knapp den sechsfachen Redeanteil (196 zu 35 Versen). Die Juden kommen gar nicht erst zu Wort, so dass kein verbales Gegengewicht Nachors Kritik am jüdischen Glauben (BuJ V. 10678–10790) auszubalancieren vermag. Dass Rudolf von Ems die Szene ganz bewusst als Kampf um Sprech- und Deutungshoheit inszeniert, in der verschiedene Erzähler gegeneinander ausgespielt werden sollen, belegt ein Vergleich mit der lateinischen Vorlage: In der Vulgata hält lediglich der falsche Barlaam eine ausführliche Rede; erst Rudolf spannt den Verteidigungsmonolog zu einem Dialog der Weltreligionen auf, in dem die anderen Erzähler zunehmend von Nachor zurückgedrängt werden.23 So überzeugend entlarvt er ihre Geschichten als unglaubwürdig, dass die anderen Meister an ihren eigenen Lehren zu zweifeln beginnen (BuJ V. 11040–11042). Das rhythmisch wiederkehrende Verstummen fängt dieses Moment der Verdrängung metonymisch ein: Wiederholt weist die Erzählinstanz darauf hin, dass die anderen Meister dem Eremiten Nachor nichts entgegensetzen können und also – ihren Göttern vergleichbar – schweigen (BuJ V. 9647, 9656, 9657, 10373, 10391). So verbietet Nachor den ‚fremden‘ Erzählern in seinem an den König Avenier adressierten Schlussplädoyer denn auch jedes weitere Wort: Heiz dîne trügenaere, […] swîgen ir verworhten gote, mit den sie verkêret sint und iemer sint der helle kint. ir sult gelouben alle an Krist, sît er mit rehter wârheit ist ein got mit gotlîcher kraft und ein schepher aller geschaft. BuJ V. 10951–10960

„Fordere deine Betrüger dazu auf, […] von ihren verdorbenen Göttern zu schweigen, mit denen sie vom rechten Weg abgekommen sind und immer Höllenkinder bleiben. Ihr sollt alle an Christus glauben, da er rechtmäßig und wahrhaftig ein Gott mit göttlicher Allmacht und ein Schöpfer aller Geschöpfe ist.“

Die Szene endet mit einem kollektiv gesprochenen âmen der Christen (BuJ V. 10981, „Amen“). Während die anderen Götter und ihre Glaubensanhänger zunehmend verstummen, bringt die Akklamationsformel den Triumph der 23 Vgl. Wisbey 1955/1956, 298; siehe auch Wyss 1972, 225.

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Christen akustisch zum Ausdruck. Letztlich können die ‚fremden‘ Narrative dem Literaturkritiker Nachor nicht Stand halten. Er entscheidet das Wortgefecht zu seinen Gunsten und legt dadurch einen wesentlichen Grundstein für Josaphats spätere Herrschaft. Hat der tatsächliche Barlaam den künftigen Herrscher von innen heraus zur ‚Wahrheit‘ geführt, so hat der falsche Barlaam diese ‚Wahrheit‘ nach außen verteidigt. Diese Verteidigung gelingt ihm, weil er die Erzählungen der anderen meister zu destruieren versteht: Während die anderen Götter tihtaere schädelîcher lüge (BuJ V. 10040; „Dichter schadensbringender Lüge“) sind, ist Christus – und jede ihn vermittelnde Narration – das wahre vorbilde (BuJ V. 2730, 10881; „Vorbild“). Auch Josaphat gilt den Seinen als vorbilde (BuJ V. 13643, 13681), weshalb sein Nachfolger Barachias seine Lebensgeschichte im Sinne eines vorbilde[s] aufschreiben lässt (BuJ V. 16025);24 und so hofft denn auch die Erzählinstanz, dass das maere von Barlaam und Josaphat seinen Rezipienten ein vorbilde biete (BuJ V. 140, 16082).25

3.

‚Rudolf‘ ist der beste Erzähler

Mit großer Sorgfalt entwickelt Rudolfs Text die Vorherrschaft der intradiegetischen Erzähler-Figuren Barlaam und Nachor; die eigentliche Erzählinstanz zieht sich dabei in beiden Szenen auffallend aus der Erzählung zurück. Im Bekehrungsdialog etwa kommen die beiden Dialogpartner Barlaam und Josaphat in ausufernden Figurenreden selbst zu Wort, die Erzählinstanz scheint dagegen nur in wenigen inquit-Formeln auf.26 Dass trotz scheinbarer Distanz der Erzählstimme hier dennoch das hochpoetologische Profil des ‚Barlaam und Josaphat‘ 24 Indem Barachias als neuer indischer Herrscher die Verschriftlichung der Legende in Auftrag gibt, weist Rudolf zumindest narrativ auf den indischen Ursprung des Erzählstoffes hin (Classen 2000, 216; Geisthardt 2015, 138). 25 Vorbildcharakter evoziert der Text vor allem durch seine Dialogstruktur: Dank ihrer Unmittelbarkeit erhalten Redeszenen „Vorbildfunktion für den extradiegetischen Rezipienten“, Monika Unzeitig/Nine Miedema/Franz Hundsnurscher, Einleitung, in: Dies. (edd.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven (Historische Dialogforschung 1), Berlin 2011, 1–14, hier 13. In besonderem Maße gilt dies für die „literarisierten Stimmen der Heiligen“ in hagiographischen Textzeugnissen, Monika Unzeitig/ Angela Schrott/Nine Miedema, Einleitung, in: Dies. (edd.), Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur (Historische Dialogforschung 3), Berlin/Boston 2017, 1–12, hier 8. Die Historische Dialogforschung, die sich für eine Analyse des dialogisch organisierten ‚Barlaam und Josaphat‘ in besonderem Maße eignet, hat sich als Teildisziplin der Historischen Narratologie in den letzten Jahren als eigener Untersuchungszweig an der Schnittstelle von Sprach- und Literaturwissenschaften entwickelt und untersucht vornehmlich Formen und Funktionen der literarisierten Rede. 26 In allen Bearbeitungen zeichnet sich der Stoff durch diese bemerkenswerte ‚dialogische Struktur‘ aus (Kerscher 2010, 67).

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durchscheint, legen Unmittelbarkeit und Präsenz der dialogischen Begegnung zwischen Erzähler Barlaam und Zuhörer Josaphat offen: Wortreich (be)schreibt Barlaam (christliche) Geschichte, während Josaphat eben jene Geschichte rezipiert: disiu maere und sînen rât / enphie der junge Jôsaphât (BuJ V. 3127f.; „der junge Josaphat empfing diese Kunde und Barlaams Weisung“).27 Dezidiert nimmt sein neues, christlich fundiertes Weltreich in diesem Lehrdialog über die maere28 und ihre eingeschriebene Bedeutung ihren Anfang, Barlaam erzieht seinen Schüler gleichermaßen zum Rezipienten wie zum Herrscher. Als Idealtypus des Erzählers gewinnt Barlaam dabei entscheidendes Gewicht: „Figurenrede kann narrative Funktionen übernehmen, so dass die Figuren die gleiche Funktion, Autorität und Redekompetenz wie der Erzähler erhalten.“29 Von Beginn an impliziert der Text derart ein produktives Wechselspiel aus Herrschen und Erzählen: Derjenige herrscht rechtmäßig, der die wahre Geschichte erkennen, erzählen und auszulegen vermag.30 Die Verschränkung von Herrscher- und Erzähldiskurs leistet der Text, indem er Herrschergewalt wiederholt über die Kompetenz metaphorisiert, schrift zu produzieren und zu rezipieren. Gott habe die Welt in einem Moment der Sprachsetzung erschaffen: dô geschuof diu gotes kunst / niht wan mit des wortes kraft / gar dirre welte geschaft. (BuJ V. 2014–2016, die Wendung wiederholt sich BuJ V. 9046–9049; „daraufhin erschuf Gottes Weisheit mit nichts mehr als der Macht eines einzelnen Wortes alle Geschöpfe dieser Welt“), sîn eines kunst, sîn eines wort (BuJ V. 8345; „seine alleinige Weisheit, sein alleiniges Wort“) habe allen dingen (BuJ V. 8343; „allen Dingen“) Namen verliehen; selbst wenn Himmel und Erde einstürzen, verspricht Gott: mîniu wort diu gestânt (BuJ V. 13096; „meine 27 Wiederholt sind Barlaam als Erzähler (so etwa Cordoni 2011, 208) und Josaphat als prototypischer Leser bezeichnet worden (u. a. Kerscher 2010, 81; Seebald 2012, 297f.). Geisthardt hinterfragt diese Lesart insofern, als dass der ‚heidnische‘ Josaphat kaum für einen christlichen Rezipienten als Vorbild dienen könne (Geisthardt 2015, 107). 28 So sehr das Szenenprofil auch dazu einlädt, Barlaam und Josaphat mit den Rollen Erzähler und Rezipient zu besetzen, trennt der Text terminologisch doch zwischen der eigenen Erzählung und Barlaams Monolog: Während die Neutrumform von maere auf den Text selbst und seine Quellen verweist (so etwa: ze trôste uns sündaeren/ wil ich diz maere tihten, BuJ V. 154f.; „uns Sündern zum Trost will ich diese Geschichte dichten“), stellt das Femininum Barlaams Worte gerade nicht als Dichtung, sondern als ‚Kunde‘, ‚Nachricht‘ aus (vgl. auch BuJ V. 988, 1373, 7791, 8043, 11376, 13535. 15903, 15905, 15915). Der Text wahrt damit zumindest subtil eine Differenz zwischen didaktischer und poetischer Vermittlung, zwischen göttlicher und literarischer Botschaft. 29 Unzeitig/Miedema/Hundsnurscher 2011, 12. 30 Nine Miedemas Konzept ‚dialogisierter Narratologie‘, das sie im Kontext des ‚Parzival‘ einführt, ließe sich hier übertragen (Miedema 2010, 66). Ihre Beobachtungen zur sparsamen Anwendung direkter Rede im Raum legendarischen Erzählens müssen dagegen perspektiviert werden: Zumindest für den ‚Barlaam und Josaphat‘ Rudolfs von Ems lässt sich „eine gewisse Scheu vor der Darstellung göttlich legitimierter Rede“ nicht nachweisen (ebd., 49, Anm. 48).

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Worte bleiben bestehen“). daz wort ist Krist (BuJ V. 13177; vgl. auch 13170; „das Wort ist Christus“) und als daz gotes wort (BuJ V. 13174; „das Wort Gottes“) habe der Heiland den Himmel gefestigt, der sich am Tag des Jüngsten Gerichts alsam ein buoch (BuJ V. 3752, 9447; „einem Buch gleich“) falten werde. An der Bahre des verstorbenen Vaters betet Josaphat um dessen Erlösung: swâ sîn sünde sî geschriben und daz buoch noch ganz beliben, die schrift heiz alle tilgen abe, daz im dehein buochstabe vor dir gebe der sünde vluoch. heiz in an der lebenden buoch den rehten schrîber künden. BuJ V. 14389–14395

„Wo auch immer seine Sünde aufgeschrieben und das Buch noch intakt geblieben ist, lasse die Schrift im Ganzen tilgen, so dass kein Buchstabe vor dir den Fluch der Sünde über ihn ausspreche. Lass ihn den wahrhaften Schreiber durch das lebende Buch künden.“

Gott als der rehte schrîber schreibt das lebende buoch – und entsprechend liest Christus des vater lêre (BuJ V. 3352; „die Lehre des Vaters“), Moses verliest dem Volk Israel die Gebote (BuJ V. 2242f.); Barlaam begunde […] im [Josaphat] lesen (BuJ V. 7142; vgl. auch 9024; „begann ihm zu lesen“), Josaphat lâs in Barlaams Worten (BuJ V. 3805; „las“) und soll in seinem Herzen lesen / diu wort der reinen kristenheit (BuJ V. 7348f.; „die Worte der makellosen Christenheit lesen“). Josaphats Gebete sind Momente des Lesens (BuJ V. 7456f., 15793f.), ein Erzbischof soll in Josaphats Reich die gotes lêre lesen (BuJ V. 13556; „die Lehre Gottes lesen“), während Avenier durch dasjenige zum Christentum findet, swaz Jôsaphât im [Avenier] vorgelas / der kristenlîchen lêre. (BuJ V. 14060f.; „was Josaphat ihm von der christlichen Lehre vorlas“). Deutlich werden die Sinnbereiche lêre und schrift hier miteinander verzahnt.31 Herrschaft über die Kompetenz zu sta31 Rudolfs Text zentriert die lêre gleichermaßen als Erzählgegenstand wie als Intention der Dichtung (Brackert 1968, 208; Geisthardt 2015, 105). Damit einher gehen sprachtheoretische Fragen: Françoise Salvan-Renucci arbeitet für den Roman eine dichotomische Struktur heraus, die sich im Gegensatz von Erkennen und Verkennen aufspanne und vor dem Hintergrund christlicher und ‚heidnischer‘ Begegnung wesentlich im Raum der Sprache entfalte, Françoise Salvan-Renucci, Heidentum und christliche Theologie im ‚Barlaam und Josaphat‘ Rudolfs von Ems, in: Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok (edd.), Orient und Okzident in der Kultur des Mittelalters. Monde oriental et monde occidental dans la culture médiévale. 31. Jahrestagung des Arbeitskreises ‚Deutsche Literatur des Mittelalters‘ (Wodan 68/Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 39), Greifswald 1997, 125–135, hier 125; ähnlich auch Geisthardt 2015, 109. Cordoni liest Barlaams lêre zugleich als Lehre über den „Umgang mit Sprache“ (Cordoni 2011, 213), in der Barlaam in einer imitatio Christi seinen ‚Jünger‘ Josaphat durch Gleichnisse unterweise. Seebald erkennt hier „eine ‚historische‘ Kontinuitätsund Legitimationslinie“ (Seebald 2012, 297), die sich von Christus über Barlaam bis zum Erzähler strecke; er folgt dem programmatischen Begriff bezeichenunge und identifiziert Rudolfs Epos folglich nicht nur „als ein Kompendium christlich-theologischer Lehrinhalte, es scheint zugleich – auf höherer Ebene – die hermeneutischen Prämissen und sprachtheoretischen Implikate dieses theologischen Systems zu reflektieren, insofern die semiotischen Voraussetzungen göttlicher Offenbarung im Rahmen der ausgreifenden Redeszenen offen-

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bilisieren, die wâre lêre aufschreiben und rezipieren zu können, bleibt dabei Gott und seinen Erzählern vorbehalten. Dass ihre Geschichten nicht einfach nur ‚besser‘, sondern schlichtweg ‚anders‘ sind, begründet der Rudolfsche Text letztlich über sein antithetisches Gottesbild: Wiederholt prononciert der Text, dass Gott ân endes tac und âne anegenge (BuJ V. 1985f.; „ohne Ende und ohne Anfang“), ân anegenge und âne drum (BuJ V. 7409; „ohne Anfang und Ende“), ân urhap unde ân ende sei (BuJ V. 14000; „ohne Anfang und Ende“), dass er daz urhap und daz ort verkörpere (BuJ V. 8346; „Ursprung und Schluss“) und daz urhap und daz ende […] / al der dinge (BuJ V. 12866f.; „Anfang und Ende aller Dinge“) in sich trage. Nachor erklärt den Chaldäern, dass der Himmel kein Gott sein könne, da er anegenge und ende […] hât (BuJ V. 9429; „Anfang und Schluss hat“), das Himmelreich dagegen verspreche ein rîche, daz niemêr zergât unde ân ende vreude hât, des urhap zallen zîten wert, der vreuden kraft niht endes gert. dâ lebet diu gots essentiâ per infinîtâ seculâ. BuJ V. 10975–10980

„ein Reich, das niemals vergeht und endlos Freuden bringt, dessen Anfang zu allen Zeiten besteht, dessen Freuden kein Ende kennen. Dort lebt Gott per infinita secula (= in himmlischer Unendlichkeit).“

Während Christus den Tod besiegt hat (BuJ V. 8321–8324; vgl. auch 10747, 10834– 10836, 10938), verspricht das ewige Leben endlose Freuden, hât endelôsen anevanc (BuJ V. 7867; „hat einen unendlichen Anfang“). Gott und sein Himmelreich sind endelôs, da sie Anfang und Ende und doch beides nicht sind.32 Diese

gelegt werden. Es ist die Lehre von der bezeichenunge, die als spezifisch christliches Deutungskonzept profiliert wird und deren Funktionsweisen der poetische Text in vielfältiger Weise diskursiv vermittelt, ja systematisch evolviert.“ (Ebd., 288f.; zuvor bereits Salvan– Renucci 1997, 126). Geisthardt widerspricht dem insofern, als dass die sprachlich vermittelten Lehren nur durch Gottes Eingreifen wirken – lediglich Gott handle allein durch seine performative Kraft, so dass der Text die defizitäre menschliche Kommunikation mit dem transzendenten Gotteswort kontrastiere (Geisthardt 2015, 139). 32 Vergleichbares konstatiert bereits Walter Haug: „Gott umschließt den Anfang und das Ende, aber er selbst ist anfangslos, und sein Wirken kommt nie zu einem Abschluß.“, Walter Haug, Wolframs ‚Willehalm‘-Prolog im Lichte seiner Bearbeitung durch Rudolf von Ems, in: Ernst-Joachim Schmidt (ed.), Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Werner Schröder zum 60. Geburtstag, Berlin 1974, 298–327, hier 305. Mertens betont die poetologische Dimension dieses Gottesbildes: „Dieses [!] Kreisschluss ist performativ: Gott ist Anfang (Alphâ) und Ende (Ô) von Rudolfs Werk. Das bedeutet, dass die Kommunikation mit Gott gelungen ist: Das Gebet am Anfang steht für die Hinwendung des Menschen zu Gott, das Erzählen von heiligen Dingen fu¨ r die erfolgte Hinwendung Gottes zum Autor, sie wird besiegelt durch das Namensgebet.“ Mertens 2015, 263; ähnlich bereits Ders., Sprechen mit Gott – Sprechen über Gott. Predigt und Legendendichtung im frühen 13. Jahrhundert (Rudolf von Ems, ‚Barlaam und Josaphat‘), in: Nine Miedema/Angela Schrott/Monika Unzeitig (edd.), Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bi-

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produktive Spannung aus Identität und Differenz wurzelt im enigmatischen Charakter Gottes, der Gegensätze in sich vereint (vgl. 2. Unterkapitel ‚Barlaam ist der beste Erzähler‘). Mottoartig setzt die Erzählinstanz Gottes Identität im Un-Gleichen an den Anfang des Prologs: Alphâ et Ô, künec Sâbâôt (BuJ V. 1; „Alpha et O, König Sabaoth“) und steigt also über das Bild der Johannesoffenbarung (Joh 22,13) in die Erzählung ein. Josaphat lehrt Vater und Volk das Wort Gottes von anegenge unz an daz ort (BuJ V. 13484, 14042; „von Anfang bis Ende“). In der Wendung von anegenge unz an daz ort33 fällt die Formel vom Anfang (anegenge) und Ende (ort) mit der Klangwirkung der Gottesvokale A und O zusammen, Anfang und Ende verschränken sich akustisch. Ohne die lexikalischen Beobachtungen überstrapazieren zu wollen, lassen sich doch narrative Verfahren nachzeichnen, die ein zirkuläres Erzählen favorisieren – so kehrt der Programmvers im Schlusssatz noch einmal wieder: Alphâ et Ô, künec Sâbâôt (BuJ V. 16164). Die Erzählung vollzieht damit eine Kreisbewegung, in der Beginn und Schluss miteinander identifiziert werden – im Kreis als der vollkommenen geometrischen Form fallen Anfang und Ende ineinander. Damit reaktualisiert der ‚Barlaam und Josaphat‘ Mechanismen mythischen Erzählens, wie sie Hartmut Bleumer herausgearbeitet hat: „Der Mythos ist protonarrativ, er ist keine Geschichte mit Anfang und Ende, er erscheint vielmehr als ein syntagmatisch gestreckter metaphorischer Prozess, der Anfang und Ende semantisch miteinander identifiziert und darum zu zyklischen Bewegungen führt. […] Das Wort wird Fleisch, Gott wird Mensch, Jesu Tod bedeutet ein ewiges Leben, Transzendenz ist Immanenz – in jeder dieser mythischen Relationen liegt die Struktur der Metapher vor: Es gibt zwei unterschiedliche Terme (A≠B) mit einer gemeinsamen Bedeutungsidentität (A=B), die gegenüber der äußerlich wahrnehmbaren Differenz als vorrangige innere und unmittelbare Beziehung gedacht wird (A ist B).“34 Diese Polarität aus linearen und zyklischen Prozessen wurzelt letztlich in der programmatischen Zeitstruktur der Heilsgeschichte selbst: Zielgerichtet auf das Reich Gottes zuschreitend manifestiert sich Zeit in den wiederkehrenden Rhythmen des Jahres doch zugleich als zyklische Struktur.35 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen biegt die Linearität der Narration um die beiden Heiligen Barlaam und Josaphat schließlich zu einem Kreis. Ebenso schließe Gott die Welt beldichtung und Legende (Historische Dialogforschung 2), Berlin 2012, 269–283, hier 280; vgl. auch Geisthardt 2015, 135f. 33 Hervorhebungen der Verfasserin. 34 Bleumer 2015, 244. Geisthardt spricht im Kontext des Eingangs- und Schlussverses Alphâ et Ô, künec Sâbâôt im Übrigen auch von einer Metapher: „Die in der Nennung der Buchstaben gefasste Metapher von Anfang und Ende bezieht sich in einem selbstreferentiellen Akt auf die Position der Stellen im Text, rückt diesen also in seiner Materialität und Gemachtheit und über die Doppelung zudem in seiner Ganzheit in den Fokus.“ (Geisthardt 2015, 136). 35 Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, ed. Manuel Braun/Alexandra Dunkel/Jan–Dirk Müller, Berlin/Boston 2012, 162–164.

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laut Nachor zu einem umfassenden Kosmos zusammen: […] sîn gotheit / slôz himels und der erde treit. (BuJ V. 9211f.; „Seine Göttlichkeit schloss Himmel und Erdkreis in sich ein.“) Gott vergleichbar präsentiert sich damit auch der Text als in sich geschlossener, endloser Kosmos – und weist in dieser stabilen Endlosigkeit subtil seine Überlegenheit aus, ebenso wie der christliche Gott in seiner Unendlichkeit im Erzählerwettstreit über die ‚endlichen‘ Götter der Griechen und Ägypter triumphiert.36 Die Linearität des Lebens/der Geschichte, die Josaphat eingangs so erschreckt und in eine Sinnkrise gestürzt hat, wird durch die Zirkularität Gottes/der Erzählung aufgehoben und überschrieben.37

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Fazit

Der Kaiser in Hans Christian Andersens Märchen muss entblößt durch die Straßen seiner Stadt schreiten, weil er auf die List mit dem Text(il) hereingefallen ist. Dass er sich in den Fäden der beiden Webmeister verliert, stellt seine Herrschaft auf eine empfindliche Probe. Der indische Prinz Josaphat dagegen lernt, unter den Erzählungen verschiedener meister eben jene auszumachen, die eine ‚narrative Vorherrschaft‘ versprechen: Die christlichen Gründungserzählungen gewinnen den erzählerischen Wettkampf. Mit Max Weber gesprochen triumphiert damit das (Herrschafts-) Narrativ, das seinen Selbstanspruch glaubwürdig inszeniert. Mit welchen narrativen Verfahren diese Glaubwürdigkeit konstituiert werden kann, hat die Analyse im Raum vormoderner fiktionaler Literatur38 exemplarisch und in aller Kürze aufzuzeigen versucht: 1. Um die Utopie einer christlichen Weltherrschaft erzählerisch zu bewältigen, setzt der mittelhochdeutsche ‚Barlaam und Josaphat‘ mit dem Anfang allen 36 Ähnlich bereits Mertens: „Rudolf […] leitet aus dem Preis des Schöpfertums Gottes letztlich die daraus resultierende Autorität des Erzählers ab“ (Mertens 2015, 259; vgl. auch Geisthardt 2015, 137). Hiermit im Zusammenhang stehe auch der Versuch der Erzählinstanz, ihre Legitimität in Analogie zu einem Prediger zu entwerfen (Mertens 2012, 277 und Ders. 2015, 250). 37 Zur Differenz von Geschichte als Handlungsablauf (ordo naturalis) und Erzählung als Ausgestaltung (ordo artificialis) vgl. Bleumer 2015, 234. In diesen Umkehrmechanismus fügen sich im Übrigen auch jene narrativen Strategien ein, die bekannte Erzählmuster verschieben (so biegt der Text etwa die genealogische Linearität ebenfalls in einen Kreislauf, in dem der Sohn zum Vater wird). 38 Dass sich Überlegungen zu Herrschernarrativen vor allem im Raum vormoderner Literatur anbieten, hat Armin Schulz nachgewiesen: Mittelalterliche Texte „erzählen von Gründungsakten; […] sie erzählen davon, wie Herrschaft gefährdet, aber auch, wie sie auf Dauer stabilisiert werden kann.“ (Schulz 2012, 186). Heiligenfiguren eignen sich für solche Gründungserzählungen insbesondere, da sie soziale Gruppen konstituieren: „Mit den auf diese Weise profanierten Heiligen oder heilig gesprochenen Imperatoren kann […] ‚Staat gemacht‘ oder gar eine neue korporative Identität konstruiert werden.“ (Weber 2011, 45).

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Seins an: Nach Prolog und Vorgeschichte beginnt die eigentliche Handlung mit der ausufernden Nacherzählung der Schöpfungsgeschichte, die über ein Drittel des gesamten Textes umspannt. Es überrascht nicht weiter, dass sich ein christlicher Erzähltext des europäischen Mittelalters auf die Genesis als Anfangsnarrativ stützt. Auf welche kulturell codierten Erzählschemata Herrschernarrative zur Selbstlegitimation zurückgreifen, welche Ursprungserzählungen Herrschaft(en) konstituieren und stabilisieren und welche wiederum eingesetzt werden, um eine etablierte Herrschaft zu unterlaufen, mag vor allem der transkulturelle Vergleich offenlegen.39 2. Da das Fiktionsmoment, das jedem Narrativ inhärent ist, die Glaubwürdigkeit einer Herrschaft zu gefährden droht, suchen Erzähler dieses möglichst zu reduzieren. Die Erzählinstanz des ‚Barlaam und Josaphat‘ etwa naturalisiert die beschriebene Herrschaft über das semantische Feld von Geburt und Wachstum (Herrschaft als blühende Frucht, als treibender Samen, als nährende Mutter). 3. Die Überlegenheit eines Herrschaftsnarrativs mag über Stimmhoheit und das Sprechen/Schweigen von Figuren inszeniert werden. Hier bieten sich Anknüpfungspunkte zu Darstellungsmodi in historiographischen Quellen. 4. Herrschaftsdiskurse sind Erzähldiskurse, Erzähldiskurse ihrerseits Diskurse um die (Vor-) Herrschaft eines Narrativs. Barlaams beeindruckender Bekehrungsmonolog, der Wettstreit um Deutungshoheit zwischen Nachor und den unterschiedlichen meister-Erzählern, die Selbstinszenierung des Textes als gottgleiches, in sich geschlossenes Kontinuum – Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘ stellt sein hohes Reflexionspotenzial selbstbewusst aus. Dass die Erzählung das Erzählen dergestalt narrativiert und dabei bestimmte Erzähltypen gegeneinander ausspielt, bietet jedoch nicht nur Einblicke in die poetische Dimension des Textes, sondern legt Mechanismen der Herrschaftskonstitution und -legitimation frei. Dieser Text um Herrschaft deckt Herrschaft als Text, als narratives Geflecht legitimierender Erzählungen auf. Die unterschiedlichen Herrschaftskonzepte in Rudolfs Legendenerzählung konkurrieren demnach weniger um den Anspruch tatsächlicher Legitimität, sondern diskutieren vielmehr die Parameter überzeugenden Erzählens: Legitim ist jene Herrschaft, die glaubwürdig(er) erzählt.

39 Aufgrund seiner interreligiösen Rezeptionsgeschichte eignet sich der Barlaamstoff insbesondere für einen solchen transkulturellen Vergleich: Der ursprünglich buddhistische Erzählstoff wird von den großen Weltreligionen für sich beansprucht und je unter eigenem Vorzeichen (wieder) erzählt. Die unterschiedlichen Religionen treten damit nicht nur innerhalb des Textes, sondern tatsächlich in ihrer Auseinandersetzung mit dem Stoff in Dialog (vgl. Classen 2000, 226).

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Seraina Plotke

Die Macht des Erzählens. Autorschaft und Autorität im ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke

Abstract Heinrich von Veldeke’s ‘Eneit’ is a text whose models position it within the distinctive tension between Latin and the vernacular. The positioning of the Middle High German literary text was influenced by the authority ascribed to the author of the antique sources in the High Medieval educational tradition. The following paper highlights the ways in which the relationship between antique poet-authority, vernacular text producer, and narrative voice are negotiated in the German version. It is striking that the narrative voice in Veldeke’s ‘Eneit’ attempts to legitimise its own narration, aligning itself with Virgil, without, however, taking into consideration written literary poeticity. Only in the epilogue is the issue of vernacular authorship broached, relating it to the name Veldeke while simultaneously referencing the antique epicist in order to accredit the text. Because of this bipartite reference to Virgil, narrative voice and author coincide semantically, even though the text’s propositional logic draws a distinction between the two entities.

Fragen der dichterischen Positionierung, ja der textuellen Einschreibung des verspoetischen Artefakts in den größeren Kontext literarischer Traditionen lassen sich besonders eindrücklich am Beispiel des ‚Eneasromans‘ Heinrichs von Veldeke ergründen, ist dieser Text doch untrennbar verknüpft einerseits mit dem wirkmächtigen Epos Vergils und andererseits mit der altfranzösischen Stoffbearbeitung, die die unmittelbare Vorlage der mittelhochdeutschen Erzählversion darstellt.1 So befindet sich Heinrichs Verstext in einem markanten Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, wobei die Problematik der adaptation courtoise2 ebenfalls eine Rolle spielt, da die anonyme französische Übertragung das 1 Der vorliegende Beitrag gründet im Wesentlichen auf dem betreffenden Kapitel der Monographie: Seraina Plotke, Die Stimme des Erzählens. Mittelalterliche Buchkultur und moderne Narratologie, Göttingen 2017, 127–161. 2 Siehe zur kritischen Einordnung dieses umstrittenen Begriffs etwa Monika Unzeitig, tihten – diuten – tiutschen. Autor und Translator. Textinterne Aussagen zu Autorschaft und Translation in der mittelhochdeutschen Epik, in: Bodo Plachta/Winfried Woesler (edd.), Edition und Übersetzung. Zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition,

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antike Dichtwerk einer bemerkenswerten Höfisierung unterzogen hat. Nicht irrelevant für die Positionierung des mittelhochdeutschen literarischen Kommunikats ist der Umstand, dass es sich beim Urheber der antiken Quelle um einen in der hochmittelalterlichen Bildungstradition als große Autorität anerkannten Dichter handelt, was in Veldekes Bearbeitung bezüglich der Konstituierung von Textherstellungs- und Vermittlungsinstanzen in auffälliger Weise zu Buche schlägt. Ziel des Beitrags ist es daher, herauszuarbeiten, wie die Relation von antiker Dichter-Autorität, volkssprachigen Textproduzenten und narrativer Vermittlerinstanz in der deutschen Stoffversion gestaltet ist. Analysiert werden die Strategien der Positionierung der eigenen Dichtung, die Veldeke wählt, um sich in das literarische Feld lateinischer und volkssprachiger Manuskriptkultur gleichsam einzuschreiben.3 Wie bereits erwähnt, ist der um 1160 entstandene ‚Roman d’Enéas‘ ohne Verfassername überliefert: So gibt die Manuskripttradition weder peri- noch epitextuelle Hinweise4 auf die Person des Dichters, auch wird textintern kein Autorname genannt.5 Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass im Rahmen der französischen Versdichtung keinerlei Überlegungen zur Gemachtheit des verspoetischen Artefakts angestellt werden, ja sich weder Verweise auf eine Buchform des Werks finden, noch Andeutungen hinsichtlich des unbekannten Verfassers greifbar sind. Ebensowenig ist Vergils ‚Aeneis‘ als Quelle der Dichtung erwähnt. Die Position des Autors im Sinne des Urhebers eines Dichtwerks stellt im ‚Roman d’Enéas‘ gleichsam einen blinden Fleck dar, scheint als Kategorie keine Relevanz 8. bis 11. März 2000 (Editio 18, Beiheft), Tübingen 2002, 55–69, hier 56f.; Ricarda Bauschke, adaptation courtoise als ‚Schreibweise‘. Rekonstruktion einer Bearbeitungstechnik am Beispiel von Hartmanns ‚Iwein‘, in: Elizabeth Andersen/Manfred Eikelmann/Anne Simon (edd.), Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters (Trends in medieval philology 7), Berlin/New York 2005, 65–84. 3 Auch wenn Pierre Bourdieu seine Theorie des literarischen Felds im Wesentlichen hinsichtlich der sozioökonomischen Bedingungen der französischen Literaturproduktion im 19. Jh. entwickelt hat, lassen sich eine Reihe der von ihm als relevant herausgearbeiteten Parameter auch mit Blick auf andere Epochen und Gesellschaftsformationen fruchtbar machen. Siehe dazu etwa Joseph Jurt, Bourdieus Analyse des literarischen Feldes oder der Universalita¨ tsanspruch des sozialwissenschaftlichen Ansatzes, in: Internationales Archiv fu¨ r Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22 (1997), 152–180. 4 Gérard Genette unterteilt sämtliche Paratexte in die zwei Grobkategorien der Peritexte, die sich am Textträger selbst befinden, ja Teil des Buches sind, wie es sich präsentiert, und der Epitexte, die die Wahrnehmung eines Texts von anderen medialen Trägern her beeinflussen, vgl. Gérard Genette, Paratexte, übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. Main 1989 (frz. Originalausg. Paris 1987), 12f. 5 Der ‚Roman d’Enéas‘ ist in neun – im Wortlaut teilweise stark differierenden – Handschriften überliefert, von denen keine Angaben zum Verfasser des Werks enthält; auch sonst gibt es keine Anhaltspunkte zur Autorschaft. Eine Übersicht über die Manuskripte findet sich in: Le Roman d’Enéas, Édition critique d’après le manuscrit B. N. fr. 60, ed. u. übers. v. Aimé Petit, Paris 1997, 22f.

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zu haben, obwohl mit Vergil als Schöpfer der Vorlage eine dichterische Größe mit auctor-Status zur Verfügung gestanden hätte.6 Ein anderes Bild zeigt sich in Heinrichs Bearbeitung des antiken Stoffs, wie sich anhand exemplarisch ausgewählter Textstellen erhellen lässt. Bereits mit den Auftaktversen wird im ‚Eneasroman‘ eine Sprecherinstanz etabliert, die nicht nur unmittelbar auf den Trojastoff rekurriert und auf die Kennerschaft des Publikums anspielt, sondern auch Vergil als zentralen Gewährsmann für die zu erzählenden Ereignisse nennt: Ir habet wol vernomen daz, wi der kunich Menelaus besaz Troien die rîchen vil gewaldechlîchen. […] In der borch an einem ende, entgegen dem sundern winde, dâ wonete ein rîche man, den ich genennen wole kan: daz was der hêre Ênêas, der dâ herzoge was. des kuneges tochter was sîn wîb. der generete sînen lîb. Virgilîûs der mâre, der saget uns, daz her wâre von der gote geslehte geboren mit rehte […] „Ihr habt sicher schon davon gehört, wie der König Menelaus die mächtige Stadt Troja in schärfster Weise belagerte. […] In der Stadt in einer Gegend, die südlich gelegen war, wohnte ein mächtiger Mann, den ich unschwer nennen kann: Das war der Herr Eneas, der dort Herzog war. Die Tochter des Königs war seine Frau. Dieser konnte sein Leben retten. Der berühmte Vergil berichtet uns, dass er wahrhaftig aus dem Geschlecht der Götter stammte […].“ (Eneasroman, V. 1–4, 33–44) 7

Mit dem Beginn der Dichtung liefert ein lediglich im Pronomen der ersten Person Singular zu fassender Sprecher, der sich ausdrücklich an eine mutmaßlich kundige Zuhörerschaft wendet, wesentliche Informationen, die auf das Folgende einstimmen. Hinweise auf den volkssprachigen Autor des Werks, das unmittelbar 6 Siehe dazu mehr unten, insbesondere in Anmerkung 8. 7 Mittelhochdeutscher Text hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text v. Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachwort v. Dieter Kartschoke, Stuttgart 1997. Die Übersetzungen ins Neuhochdeutsche stammen von der Verfasserin.

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darauf mit Eneas’ Flucht aus Troja seinen Lauf nimmt, sucht man zum Auftakt der Dichtung jedoch vergebens: Weder wird Heinrich von Veldeke als Verfasser erwähnt, noch ist ersichtlich, in welchem Verhältnis der Dichter des Verstexts zum Sprecher steht, der das Publikum adressiert, da die Redeinstanz ausschließlich auf die mündliche Erzählsituation verweist und sich zum literarischen Produkt als solchem nicht äußert. Prominent sticht allerdings die Nennung Vergils heraus, der als Autorität für das Erzählte ins Feld geführt wird. Mit dem Verweis auf Vergil als Quelle werden die mittelhochdeutschen Verse nicht nur implizit in die Nähe der antiken Dichtkunst gerückt, sondern auch sanktioniert: Vergil zählte zu den sogenannten auctores, also zu denjenigen Schriftstellern, die durch die Kanonisierungsprozesse der Spa¨ tantike und des Fru¨ hmittelalters herausgehoben und bestätigt worden waren. Er war damit eine in der klerikalen Schriftkultur anerkannte Größe dichterischen Schaffens.8 Diejenigen unter den zeitgenössischen Rezipienten, die Schulbildung genossen hatten, kannten seine Werke aus dem Unterricht.9 Aber auch dem illiteraten 8 Richtungsweisend zum lateinischen Autorbegriff bzw. zum Autorverständnis, wie es die mittellateinische Literatur spiegelt: Alastair Minnis, Medieval theory of authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages (Middle Ages series), 2. Aufl., Philadelphia 2010. Des Weiteren etwa auch Edwin A. Quain, The Medieval Accessus ad Auctores, in: Traditio 3 (1945), 215–264; Jan-Dirk Müller, Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters, in: Felix Philipp Ingold/Werner Wunderlich (edd.), Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft, Sankt Gallen 1995, 17–31; Almut Suerbaum, ‚Accessus ad Auctores‘. Autorkonzeptionen in mittelalterlichen Kommentartexten, in: Elizabeth Andersen et al. (edd.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, 29–37; Meta Niederkorn-Bruck, Accessus ad auctores. Text als Weg zum Wissen, in: Analecta Cisterciensia 59 (2009), 355–370; Pascale Bourgain, Les auteurs dans les ‚Accessus ad auctores‘, in: Edoardo D’Angelo/Jan Ziolkowski (edd.), Auctor et auctoritas in Latinis Medii Aevi litteris / Author and Authorship in Medieval Latin Literature. Proceedings of the VIth Congress of the International Medieval Latin Committee: Benevento-Naples, November 9–13, 2010 (MediEVI 4), Florenz 2014, 119–132; Stephen M. Wheeler, Accessus ad auctores. Medieval Introductions to the Authors (Codex latinus monacensis 19475) (TEAMS Secular Commentary Series), Kalamazoo 2014. 9 Bis ins Hochmittelalter gehörte Lesefähigkeit zu den Privilegien des Klerus, so dass mitunter sogar hohe Adlige des Lesens unkundig waren. Siehe etwa Nathalie Kruppa, Zur Bildung von Adligen im nord- und mitteldeutschen Raum vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. Ein Überblick, in: Dies./Jürgen Wilke (edd.), Kloster und Bildung im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 218; Studien zur Germania Sacra 28), Göttingen 2006, 155–176; Joachim Bumke, Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 114 (1992), 413–492, hier 454; des Weiteren auch die Beiträge in den Sammelbänden: Martin Kintzinger/Sönke Lorenz/Michael Walther (edd.), Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts (Archiv für Kulturgeschichte 42, Beiheft), Köln 1996; Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (edd.), Erziehung und Bildung bei Hofe. 7. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften Göttingen, veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Celle und dem Deutschen Historischen

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Publikum des ‚Eneasromans‘ signalisierte das Attribut der mâre (V. 41) die Bedeutung des Autors. Vergil wird hier über die betreffende Formulierung als Autorität installiert, die als Bezugspunkt für die Sprechinstanz fungiert. Angaben zum Verfasser der mittelhochdeutschen Dichtung werden an dieser Stelle allerdings keine gemacht, und auch der weitere Verlauf der Narration liefert weder Hinweise auf den Urheber des volkssprachigen, verspoetischen Artefakts noch Überlegungen zu dessen Gemachtheit. Wo die Sprechinstanz metanarrative Äußerungen von sich gibt, betreffen diese entweder den prozessualen Akt mündlicher Erzählung oder dann die Quellen derselben. Immer wieder wird auf das Erzählen als solches rekurriert, indem die Situation gesprochener Narration und deren Ablauf ausgestellt wird, mit Formulierungen wie: nû hôret, wie ez dar zû quam („Hört jetzt, wie es dazu kam“, V. 754); vernemet seltsâniu dink („Vernehmt merkwürdige Dinge“, V. 823),10 ich sag û, wes si frô was („ich sage euch, worüber sie froh war“, V. 1877).11 Dabei verweist die

Institut Paris, Celle, 23. bis 26. Sept. 2000 (Residenzenforschung 13), Stuttgart 2002. Einschlägig zur Thematik: Herbert Grundmann, Litteratus – illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), 1–65. 10 Weitere Beispiele dieser Art sind: Nû hôret wie der jungelink („Nun hört, wie der Jüngling“, V. 4561); Vernemet scône hovescheit („Hört von dem höfischen Glanz“, V. 5241); vernemet wie si tâten („Hört, was sie machten“, V. 6558); Nû vernemet von der bâren („Hört also von der Bahre“, V. 7983); Vernemet wie der wîse man („Hört, wie der gelehrte Mann“, V. 9413); Nû hôret eine ander rede („Nun hört etwas anderes“, V. 9991); Nû hôret wie siz ane vienk („Nun hört, was sie machte“, V. 10823). Mit Betonung der Richtigkeit des Erzählten: daz vernemet vor wâr ungelogen („hört die unverfälschte Wahrheit“, V. 1732); Vernemet diz vor ungelogen („Vernehmt das Folgende wahrheitsgetreu“, V. 4585). Nicht imperativisch formuliert, aber ebenfalls mit Pointierung der akustischen Rezeptionsweise: als ir wole moget hôren („wie ihr genau hören könnt“, V. 3214); als ir wole habet vernomen („wie ihr genau gehört habt“, V. 5315, V. 6034); Welt ir hôren vore baz / sô mogen wir û sagen daz („Wenn ihr weiter zuhören wollt, so können wir euch berichten“, V. 6639/40); welt ir nû hôren / waz sie screip („wollt ihr nun hören, was sie schrieb“, V. 10792). Breiter ausformuliert: Welt ir nû rehte verstân / eine rede alsô getân, / die ir ê selden habet gehôrt, / so merket rehte miniu wort / bescheidenlîche sunder, / sô moget ir hôren wunder („Wenn ihr nun in allen Einzelheiten eine Erzählung vernehmen wollt, die ihr noch nie gehört habt, so achtet aufmerksam und verständig auf jedes meiner Worte, dann könnt ihr Wunderdinge hören“, V. 9385–9390). 11 Ähnlich auch: ich sage û daz der sark was / ein prasem grûne alse ein gras („ich versichere euch, dass der Sarg aus einem Edelstein war, grün wie Gras“, V. 2509–2510); umb daz ich û sagen mach („deswegen kann ich euch sagen“, V. 2692); als ich û sagen sal („wie ich euch erzählen werde“, V. 3225); ich wil û sagen wer dâ was („ich will euch sagen, wer da war“, V. 3344); ich sage û wie diu hiez („ich erzähle euch, wie diese hieß“, V. 3584); ich sage û wes her mêre phlach („ich sage euch, was er noch machte“, V. 4604); ich sage û wes si nahtes phlach („ich sage euch, was sie nachts machte“, V. 5230); den ich û wol sagen kan („von dem ich euch unschwer berichten kann“, V. 5623); als ich û sagen mach („wie ich euch berichten kann“, V. 5637, V. 8276); ich sage û wes her gût was („ich erzähle euch von ihren Vorzügen“, V. 5803); Welt ir hôren vore baz, / sô mogen wir û sagen daz („Wenn ihr weiter zuhören wollt, so können wir euch berichten“, V. 6639–6640); ich wil û sagen wie ez quam („ich werde euch sagen, wie das vor sich ging“, V. 6815); waz mach ich û mê sagen („Was kann ich mehr darüber berichten?“,

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Redeinstanz gelegentlich nachdrücklich auf die Richtigkeit des Berichteten: als ich û sagen mach / vore wâr und ungelogen („wie ich euch wahrheitsgemäß und ohne zu lügen berichten kann“, V. 5270f.). Für sämtliche dieser phatischen Prononcierungen gilt, dass sie expressis verbis auf eine oral-akustische Erzählsituation rekurrieren. Dabei nimmt der nur über das Personalpronomen der ersten Person Singular fassliche Sprecher bisweilen die Sicht des Publikums ein und zählt sich selbst zu den Zuhörern: als wir ê vernâmen („wie wir vorher vernommen haben“, V. 3276). Besonders virulent wird dieses Eingemeinden der Redeinstanz in das Kollektiv der Rezipienten in Formulierungen, die das Berichtete mit unbestimmtem Hören-Sagen begründen: man saget uns („man berichtet uns“, V. 686);12 mitunter auch in der formelhaften Wendung, die sich ausdrücklich auf Gedichtetes bezieht: alsus saget uns daz liet („so erzählt uns das Gedicht“, V. 1256).13 Damit wird die Redeinstanz wiederum den Zuhörern zugeschlagen und derjenigen Gruppe zugerechnet, der die Geschichte vermittelt wird. Doch macht sich der Sprecher mit dem Verweis auf mündliche Quellen bisweilen auch selbst zum Zeugen: als ich es wol habe vernomen / und ich û wol gesagen kan („wie ich es genau erfahren habe und euch genau berichten kann“, V. 296f.).14 Diese Form der Quellenberufung zeichnet sich dadurch aus, dass der Sprecher gewissermaßen selbst zum Gewährsmann wird, indem er die Richtigkeit des Gehörten persönlich verbürgt. In Heinrichs ‚Eneasroman‘ findet sich jedoch nicht nur die Pointierung von Hören-Sagen, sondern werden auch verschiedentlich Bezugnahmen auf schriftliche Quellen realisiert, allerdings nicht, wie nahe läge, mit Blick auf die V. 9093); als ich û wol sagen mach („wie ich euch unschwer beschreiben kann“, V. 9213); als ich û wol gesagen kan („wie ich euch genau zu berichten weiß“, V. 9541). 12 Wörtlich gleich auch V. 5050. Derartige Formulierungen gibt es auch in Verbindung mit expliziter Beglaubigung: daz saget man uns vor ungelogen („so wird uns wahrheitsgemäß berichtet“, V. 9425). Grundsätzlich sind Wahrheitsbeteuerungen in der mittelhochdeutschen Epik in den unterschiedlichsten Formen omnipräsent, siehe umfassend Stefanie Schmitt, Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 129), Tübingen 2005; des Weiteren auch Uwe Pörksen, Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs Willehalm und in den ‚Spielmannsepen‘ (Philologische Studien und Quellen 58), Berlin 1971, 75–83. 13 Identisch auch V. 3740, V. 7914, V. 10392, V. 13306. 14 Ähnlich: alsô hôrde ich sprechen, / daz ez wâr wâre („so hörte ich erzählen, dass es wahr sei“, V. 8418–8419); ich hôrde sagen daz der tach / dâ von wâre worden lieht: / vor wâr ne weiz ich des nieht („ich habe erzählen hören, dass der Tag davon noch heller wurde; ich weiß aber nicht, ob das stimmt“, V. 12832–12834). Weniger pointiert hingegen: sô ich die rede hân vernomen („wie ich die Erzählung gehört habe“, V. 253); als ich die rede hân vernomen („wie ich die Erzählung gehört habe“, V. 6929, V. 11604); als ich sagen hôrde („wie ich erzählen hörte“, V. 8809); des hôrte ich in zien („das hörte ich von ihm rühmen“, V. 9410); danen abe ich ie gehôrde („von denen ich je gehört habe“, V. 9563).

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Verfertigung des dichterischen Produkts, sondern wiederum hinsichtlich der Redeinstanz, die sich selbst zu den Rezipienten zählt. So beruft sich diese wiederholt auf ein Buch oder auch auf Bücher im Plural, auf welchen ihr Berichten gründe: als uns daz bûch kunt tût („wie uns das Buch erzählt“, V. 9293); manchmal auch in Kombination mit dem expliziten Hinweis auf die Wahrheit des Erzählten: diu bûch sagent uns vor wâr („die Bücher berichten uns wahrheitsgemäß“, V. 177).15 Signifikant ist auch für derartige Formulierungen, dass sich die Redeinstanz auf die Seite des Publikums schlägt. Wie bei der Berufung auf mündliche Quellen gibt es jedoch auch hier den Wortlaut, der den Sprecher zum individuellen Garanten macht: als ich ez an den bûchen las („wie ich in den Büchern gelesen habe“, V. 5015). Mitunter geht der Sprecher von der Mitwisserschaft der litterati aus, denen die schriftlichen Quellen ebenfalls bekannt sind. Einerseits vereinnahmt er diese als Zeugen für die Richtigkeit der Darstellung, andererseits verdeutlicht er, dass diese die Korrektheit der Schilderungen zu überprüfen vermögen: nû wizzen wir daz wol vor wâr / die wir diu bûch hân gelesen („nun wissen wir dies genau, die wir die Bücher gelesen haben“, V. 5116f.).16 Tatsächlich findet sich im Verlauf der Narration nicht nur der unspezifische Rekurs auf Bücher, die als Quellen für den Sprecher fungieren, sondern wird gelegentlich Vergil selbst als Gewährsmann für das Berichtete genannt, auffälligerweise jedoch gerade nicht als Autor der schriftlichen Vorlage, sondern in Betonung seiner Eigenschaft als Erzähler: daz saget uns Virgilîûs („so erzählt uns Vergil“, V. 165); als uns saget Virgiliûs / von ir al vor wâr („wie uns Vergil glaubwürdig von ihr berichtet“, V. 2706f.); auch mit der Variante der formelhaften Infragestellung der Quelle: ob uns Virgiljûs niht enlouch („wenn uns Vergil nicht angelogen hat“, V. 4581). Der Sprecher positioniert sich hier in der Vermittlerrolle, rechnet sich hinsichtlich des von Vergil Erzählten wiederum selbst den Rezipienten zu. Wie bei den anderen Formen der Quellenberufung steht die Bezeugung der Richtigkeit der Schilderungen im Vordergrund, für die der antike Autor garantieren soll.

15 Weitere Beispiele: als uns daz bûch saget vor wâr („wie uns das Buch wahrheitsgetreu berichtet“, V. 5199); oder nuanciert: ob uns daz bûch niene louch („wenn uns das Buch nicht belügt“, V. 8103). 16 Vergleichbar: des wil ich an die lûte jehen / die daz bûch hânt gelesen („das will ich mit Blick auf diejenigen sagen, die das Buch gelesen haben“, V. 2700–2701); nû wir ez sagen mûzen / wande wirz an den bûchen lesen („wir müssen es so wiedergeben, weil wir es in den Büchern lesen“, V. 3232–3233); daz ich erzûgen wole mach / mit den diez bûch hânt gelesen („das kann ich unschwer bezeugen mit denen, die das Buch gelesen haben“, V. 5034–5035); daz welnt die wîsen vor wâr, / die ez von den bûchen sagent („so wollen es die Gelehrten wahrheitsgetreu, die es aus den Büchern berichten“, V. 5100–5101).

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Indes findet sich bereits nach wenigen hundert Versen auch die Konstellation, dass Vergil explizit als Verfasser von schriftlichen Quellen Erwähnung findet, und zwar unter Verwendung der brevitas-Formel17 ez wâre ze sagene alze lank: ez wâre ze sagene alze lank umbe die borch mâre, wie si gebûwet wâre. des Virgilîûs der helt in sînen bûchen dar von zelt, des scholen wir vil lâzen unde nâch der mâzen die rede harde korten. „Es würde allzu lange dauern, von der berühmten Stadt zu berichten, wie sie gebaut war. Was der Held Vergil in seinen Büchern davon erzählt, davon wollen wir viel weglassen und die Erzählung auf das rechte Maß stark verkürzen.“ (Eneasroman, V. 354–361)

Wie im Prolog wird Vergil auch bei dieser Nennung in einer Weise charakterisiert, die dessen Bedeutung akzentuiert und Autorität hervorhebt: So wird der antike Dichter zum helt (V. 357), möglicherweise deshalb, weil Veldeke kein volkssprachiges Äquivalent für auctor parat hatte. Was die Position der Redeinstanz angeht, wird jedoch ausdrücklich auf Mündlichkeit rekurriert: Detailliert vom Aufbau der Stadt zu berichten, wäre ze sagene alze lank (V. 354), weshalb der Sprecher die rede harde korten (V. 361) will. In Pointierung des oralen Vermittlungsakts wird hier der Redeinstanz durchaus Gestaltungsmacht zugewiesen, zumindest legt dies der Hinweis auf den Kürzungsvorgang nahe.18 Nur wenige Verse später wird ausdrücklich die ‚Aeneis‘ als Buchvorlage für das Berichten des Sprechers genannt, auch wenn Vergil in diesem Zusammenhang gerade nicht noch einmal erwähnt wird: swen sô des wundert, wil her ez versûchen, her kome zu den bûchen diu dâ heizent Êneide. nâch der wârheide,

17 Zum Verhältnis von brevitas-Formel und descriptio bei Veldeke, wie es hinsichtlich der zitierten Textstelle relevant ist, siehe Silvia Schmitz, Die Poetik der Adaptation. Literarische ‚inventio‘ im ‚Eneas‘ Heinrichs von Veldeke (Hermaea, N. F. 113), Tübingen 2007, 122f. 18 Mit Berufung auf moralisch-ästhetische Prämissen begründet die Erzählinstanz die Auslassung in folgendem Beispiel: wâre ez niht unzuht, / ich gedûtez wole baz: / nû lâze ich ez umbe daz, / daz ich beschône dar mite („wäre es nicht unfein, würde ich es genauer erklären; ich unterlasse es, damit ich die Schönheit [meiner Erzählung] nicht beeinträchtige“, V. 5108– 5111).

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als ez dar ane gescriben is, sô mach hers wol sîn gewis. „Wer immer sich darüber wundert, der komme, wenn er es überprüfen will, zu den Büchern, die ‚Eneide‘ heißen. Der Wahrheit gemäß, wie es darin geschrieben steht, kann er sich dessen genau versichern.“ (Eneasroman, V. 376–382)

Wie die Sprechinstanz betont, kann derjenige, der schriftkundig ist, in der ‚Aeneis‘ nachlesen, was hier berichtet wird; insofern verbürgt das antike Werk die Wahrheit des Geschilderten.19 Dies ist aber gerade kein Exklusivrecht der explizit erwähnten römischen Schriftquelle, wie oben bereits deutlich wurde: Nicht nur können auch Bücher ganz allgemein die Wahrheit des Erzählten bezeugen, sondern sogar der mündliche Diskurs.20 Wie kaum eine andere Materie der mittelalterlichen, volkssprachigen Epik ist der Eneasstoff unmittelbar mit einem in der lateinischen Schultradition etablierten auctor verknüpft. Im Gegensatz zur altfranzösischen Version zollt die Erzählinstanz in der mittelhochdeutschen Bearbeitung diesem Diskurssystem ausdrücklichen Tribut: So lassen sich der Rekurs auf Vergil sowie die wiederholten Wahrheitsbeteuerungen als Formen des Entgelts für die Bemächtigung des antiken Stoffkomplexes verstehen. Damit verbunden wird das mehrfach explizit gemachte Wissen um den Umstand, dass Vergils Epos einer Gruppe von Rezipienten durchaus zugänglich war. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Autoritätsbezug immer wieder von der Redeinstanz aus und ausschließlich aus ihrer Perspektive erfolgt, ohne dass Aspekte volkssprachiger Verfasserschaft thematisiert würden. Alles in allem zeichnet sich Veldekes ‚Eneasroman‘ bis unmittelbar vor dem Ende der Dichtung dadurch aus, dass ein Sprecher auftritt, der die mündliche Vermittlungsleistung realisiert, mehrfach auf die Wahrheit seines Erzählens verweist, dieses Berichten jedoch nirgends auf ein volkssprachiges, verspoetisches Artefakt zurückführt21 und entsprechend auch keinerlei Angaben zum 19 Dazu Dennis Howard Green, Medieval listening and reading. The primary reception of German literature 800–1300, Cambridge 1994, 124. 20 Dass die Berufung auf mündliche Quellen gleichwertig neben derjenigen auf schriftliche Vorlagen steht, zeigt sich so auch in anderen mittelhochdeutschen Versromanen, so z. B. in Ulrichs von Zazikhoven ‚Lanzelet‘, vgl. dazu Jessica Quinlan, dise nôt nam an sich / von Zatzichoven Uolrich, / daz er tihten begunde (v. 9343–45): Darstellungen dichterischen Selbstbewußtseins bei Ulrich von Zatzikhoven, in: Renate Schlesier/Beatrice Trînca (edd.), Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft (Spolia Berolinensia 29), Hildesheim 2008, 57–72, hier 59. 21 Vgl. Christian Kiening, Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), 405–449, hier 442f.

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Verfasser der Dichtung macht. Dies ändert sich erst mit dem Epilog, der mit fast 100 Versen überdurchschnittlich lang ist und folgendermaßen anhebt: Nû solen wir enden diz bûch. ez dûht den meister genûch, derz ûz der welsche kêrde, ze dûte herz uns lêrde: daz was von Veldeke Heinrîch. daz is gnûgen wizzenlîch, daz herz tihten kunde. „Nun müssen wir dieses Buch beenden. Es schien dem gelehrten Mann genug, der es aus dem Französischen übersetzte und es uns auf deutsch sagen lehrte. Das war Heinrich von Veldeke. Viele wissen, dass er es zu dichten verstand.“ (Eneasroman, V. 13429–13435)

Nicht nur wird Heinrich von Veldeke hier erstmals erwähnt. Auch die Kategorie volkssprachiger Autorschaft kommt mit diesen Versen überhaupt erst richtig in den Blick: Der Sprecher, der sich während des gesamten Textverlaufs als diejenige Instanz präsentiert hat, die für den Akt der Narration und die kommunikative Vermittlung an das Publikum zuständig ist, stellt mit Veldeke den Urheber der Dichtung – als schriftliterarisches Produkt22 – vor, der als meister bezeichnet und dessen Tätigkeit mit tihten charakterisiert wird.23 Ebenfalls im Sinne einer metatextuellen Erklärung wird festgehalten, dass das in Buchform gefasste deutsche Werk auf einer französischen Vorlage basiert. Mit dem Fortgang des Epilogs gibt der Sprecher zusätzliche Hintergrundinformationen zur Entstehung des vorliegenden Werks, indem er ausführt, dass der Verfasser aufgrund des Diebstahls des Dichtermanuskripts neun Jahre lang 22 So kann man die Formulierung Nû solen wir enden diz bûch (V. 13429) als Beendigung der Rezitation deuten, die sich auf das Vorlesen einer schriftlichen Vorlage (diz bûch) bezieht. Der prozessuale Akt der Narration kommt mit dem Ende des Schrifttexts seinerseits zum Schluss. 23 Nicht zufällig ist für die Bezeichnung der schöpferisch-poetischen Tätigkeit das Wort tihten gewählt: In epischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts kommt das Verb häufig gerade in Kombination mit der expliziten Nennung eines Verfassernamens vor. Siehe dazu Monika Unzeitig, Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 139), Berlin 2010, 173–183, 292–342 u. passim; des Weiteren etwa Joachim Bumke, Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift Gδ), in: Helmut Tervooren/Horst Wenzel (edd.), Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte (Zeitschrift für deutsche Philologie 116, Sonderheft), Berlin 1997, 87–114, hier 108– 111. Zur Wort- und Bedeutungsgeschichte des Verbs siehe Kurt Gärtner, tihten/dichten. Zur Geschichte einer Wortfamilie im älteren Deutsch, in: Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/ Burkhard Hasebrink (edd.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter (Trends in medieval philology 10), Berlin/ New York 2006, 67–81.

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daran gehindert worden sei, das Werk fertigzustellen.24 Die Angaben, die hierbei gemacht werden, haben keinen inhaltlichen Bezug zum ‚Eneasroman‘; offensichtlich vermittelt sie die Redeinstanz nur deshalb textintern, weil Buch- und Bildungswesen – zumindest im Bereich der Volkssprache – keine anderen Textgefäße kannten, um den Rezipienten derartige Hinweise zum dichterischen Produkt zu liefern.25 Mit dem Epilog ist derjenige Ort für diese Ausführungen gewählt, der unter der Bedingung des mündlichen Vortrags eine ähnliche Schwellenfunktion wahrnimmt wie die Parerga im frühen Buchdruck oder die Klappentexte beim modernen Buch – mit der wesentlichen Differenz, dass das Erfassen der betreffenden Erklärungen nicht von der Lesefähigkeit der Rezipienten abhängt, sondern die jeweiligen Hinweise im Zuge einer Rezitation der Versdichtung akustisch aufgenommen werden. Die Erläuterungen zum Diebstahl des Dichtermanuskripts decken insofern Diskursfunktionen ab, als sie Informationen zum zeitgenössischen Literaturbetrieb liefern, wobei deren Wahrheitsgehalt letzten Endes irrelevant ist: Ob sich der beschriebene Raub effektiv so zugetragen hat oder nicht, macht hinsichtlich des Stellenwerts der Bekundung als Diskursinformation keinen Unterschied.26 Auch im modernen Literaturbetrieb lassen sich immer wieder Inszenierungen von Autorschaft, Fundlegenden, Pseudonymität und andere fingierte Angaben beobachten, die über Paratexte lanciert werden.27 Dass im Rahmen der Aus24 Was es mit der Schilderung des betreffenden Abhandenkommens der Verfasserhandschrift auf sich hat, wurde in der mediävistischen Forschung eingehend diskutiert, siehe etwa als jüngere Beiträge: Bernd Bastert, Dô si der lantrâve nam. Zur ‚Klever Hochzeit‘ und der Genese des Eneas-Romans, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 123/ 3 (1994), 253–273; Reinhard Hahn, unz her quam ze Doringen in daz lant. Zum Epilog von Veldekes Eneasroman und den Anfängen der höfischen Dichtung am Thüringer Landgrafenhof, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 152 [237] (2000), 241–266; Tina Sabine Weicker, Dô wart daz bûch ze Cleve verstolen. Neue Überlegungen zur Entstehung von Veldekes ‚Eneas‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 130/1 (2001), 1–18; Friedrich Michael Dimpel, Der Verlust der ‚Eneas‘-Handschrift als Fiktion. Eine computergestützte, textstatistische Untersuchung, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 61 (2006), 87–102; Timo Reuvekamp-Felber, Genealogische Strukturprinzipien als Schnittstelle zwischen Antike und Mittelalter. Dynastische Tableaus in Vergils ‚Aeneis‘, dem ‚Roman d’Eneas‘ und Veldekes ‚Eneasroman‘, in: Manfred Eikelmann/ Udo Friedrich (edd.), Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos, Berlin 2013, 57–74, hier 65–74. 25 Siehe dazu weiterführend: Plotke 2017, 63–72. 26 Insofern fällt letzten Endes auch nicht ins Gewicht, ob der Epilog von Heinrich selbst stammt oder ob es sich – wie in der Forschung auch schon erwogen wurde – um einen späteren Zusatz handelt. 27 Derartige Mechanismen lassen sich zu allen Zeiten beobachten, in denen es einen schriftmedial entwickelten Literaturdiskurs gibt, berühmte Beispiele der Literaturgeschichte sind etwa der ursprünglich unter dem Autornamen Robinson Crusoe erschienene Erzähltext Daniel Defoes oder im gegenwärtigen Literaturbetrieb die Romane von Elena Ferrante. Dass Elena Ferrante nicht die empirische Autorin der betreffenden Texte ist, ja dieser Autorname

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führungen zum betreffenden Diebstahl der Verfassername Heinrich dreimal sowie ein weiteres Mal wiederum in der Kombination meister Heinrîch (V. 13465) genannt wird, bekräftigt den Status der umrissenen Befunde als Diskursinformationen. Der Epilog endet damit, dass Heinrich als Schöpfer des vorliegenden dichterischen Artefakts noch einmal profiliert wird: daz is genûgen kuntlîch, als ez dâ tihte Heinrîch, derz ûzer welschen bûchen las, da ez von latîne getihtet was als nâch der wârheide. diu bûch heizent Êneide, diu Virgiljûs dâ von screib, von dem uns diu rede bleib, der tôt is uber manech jâr. ne louch her niht, sô is ez wâr, daz Heinrîch gemachet hât dernâch. im ne was zer rede niht sô gach, daz her von sîner scholde, den sin verderben wolde, sint daz her sichs underwant. wand als herz dâ gescriben vant, alsô hât herz vor gezogen, daz her anders niht hât gelogen, wand als herz an den bûchen las. ob daz gelogen niene was, sô wil her unscholdich sîn: als is ze welsch und latîn âne missewende. hie sî der rede ein ende. „Das ist vielen bekannt, wie es Heinrich verfasste, der es aus französischen Büchern hatte, in denen es aus dem Lateinischen wahrheitsgetreu gedichtet stand. ‚Eneide‘ heißen die Bücher, die Virgilius darüber geschrieben hat, von dem uns die Erzählung gar nicht einer real existierenden Person zugehört, spielt für den Stellenwert als Diskursinformation – zumal zum aktuellen Zeitpunkt – keine Rolle: Die systematisierenden Ordnungsraster listen die Bücher unter dem Autornamen ‚Elena Ferrante‘. Sehr fruchtbar ist in dieser Hinsicht Gérard Genettes Unterscheidung zwischen ‚explizitem Autor‘ und ‚realem Autor‘, vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, ed. Jürgen Vogt, übers. v. Andreas Knop, München 1994 (frz. Originalausg. Paris 1972), 164. Dass sich der Stellenwert einer derartigen Diskursinformation im Lauf der Entwicklungen (und Enthüllungen) verändern kann, zeigt gerade das Beispiel von Defoes ‚Robinson Crusoe‘: Charakteristisch ist, dass sich in den betreffenden Fällen auch die Paratexte verändern (und sollten die Romane von Elena Ferrante in fünfzig Jahren noch gedruckt werden, werden sie vielleicht auch kategoriell unter einem anderen Autornamen erscheinen).

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überliefert ist und der schon seit vielen Jahren tot ist. Wenn er nicht gelogen hat, so ist wahr, was Heinrich danach verfasst hat. Er war nicht so schnell mit dem Wort, da er nicht von sich aus die Bedeutung verfälschen wollte, als er sich ans Werk gemacht hatte. Denn so, wie er es geschrieben fand, so hat er es ausgeführt, dass er es anders nicht drehte, als wie er es in den Büchern schon vorfand. Wenn das nicht gelogen war, so will er ohne Schuld sein. Genau so lautet es französisch und lateinisch, ohne jede Abweichung. Hiermit sei die Erzählung zu Ende.“ (Eneasroman, V. 13505–13028)

Eingeholt werden hiermit die Fakten der Quellensituation: Heinrichs ‚Eneasroman‘ gründet auf einer französischen Vorlage, die wiederum auf Vergils ‚Aeneis‘ basiert – die textgeschichtlichen Informationen, die hier gegeben werden, entsprechen den Abhängigkeitsverhältnissen, wie sie von der mediävistischen Forschung nachgezeichnet werden konnten.28 Bemerkenswert ist allerdings: Wurde Vergil im Lauf der Narration als Gewährsmann für den Erzählvorgang bemüht, fungiert er hier als Garant für das dichterische Werk. So wird dem Verfasser Heinrich von Veldeke vom Sprecher attestiert, den ‚Eneasroman‘ quellengetreu geschaffen zu haben. Letzten Endes stellt sich die zentrale Frage nach dem Verhältnis der immer wieder über das Pronomen der ersten Person Singular etablierten Sprechinstanz zum Verfasser der Dichtung, der im Epilog endlich als solcher erwähnt und mit Namen genannt ist. Anders als im antiken Epos Vergils, das den Dichter selbst als Sänger konstituiert,29 differenziert Veldeke im ‚Eneasroman‘ die Aufgaben einer Redeinstanz einerseits, welche die Dichtung im Akt des Erzählens einer immer wieder unmittelbar adressierten Zuhörerschaft vermittelt (was in der Vortragssituation eine performative Dimension erhält), und des Dichters andererseits, der als Urheber des kodikal gefassten Werks angeführt wird. Diese Separierung der Instanzen prägt nicht nur den Epilog, sondern wird auch im Verlauf der Narration insofern exponiert, als die mittelhochdeutsche Dichtung als verspoetisches Artefakt keine Relevanz gewinnt und nur auf den Erzählprozess als solchen Bezug genommen wird.

28 Siehe weiterführend Rodney W. Fisher, Heinrich von Veldeke, ‚Eneas‘. A comparison with the ‚Roman d’Enéas‘, and a translation into English (Australian and New Zealand studies in German language and literature 17), Bern et al. 1992; Nikolaus Henkel, Vergils ‚Aeneis‘ und die mittelalterlichen Eneas-Romane, in: Claudio Leonardi/Birger Munk Olsen (edd.), The classical tradition in the Middle Ages and the Renaissance. Proceedings of the first European Science Foundation Workshop on ‚The reception of classical texts‘ (Florence, Certosa del Galluzzo, 26–27 June 1992) (Biblioteca di medioevo latino 15), Spoleto 1995, 123–141; Peter Kern, Beobachtungen zum Adaptationsprozess von Vergils ‚Aeneis‘ im Mittelalter, in: Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe (edd.), Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994 (Wolfram-Studien 14), Berlin 1996, 109–133. 29 Siehe dazu auch die Überlegungen in: Plotke 2017, 77–82.

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Intrikat ist die betreffende Konfiguration deshalb, weil Vergil in Veldekes ‚Eneasroman‘ nicht erst im Epilog als Zeuge für die Korrektheit des dichterischen Wortlauts in Anspruch genommen wird, sondern auch der Sprecher von Anfang an auf den antiken Epiker als Garanten des quellengetreuen Erzählens rekurriert, indem er sich wiederholt auf Vergil beruft, der zur zentralen Größe der Autorität stilisiert wird. So schafft die Redeinstanz dadurch eine Bezugsquelle für den Narrationsvorgang, dass sie ihr Berichten (unter anderem) auf Vergil zurückführt, während der Epilog die ‚Aeneis‘ zur Grundlage von Veldekes Dichtwerk macht. Genau genommen laufen sich diese parallelen Formen der Bezugnahme auf den antiken Epiker zuwider. Obwohl nämlich der Sprecher aussagelogisch zweifelsfrei vom Verfasser differenziert wird, kommen die beiden Instanzen über den Autoritätsbezug gleichsam zur Deckung. Entsprechend lässt sich folgendes Fazit ziehen: Der Umstand, dass der Eneasstoff mit dem in der schriftliterarischen Bildungstradition des Hochmittelalters als auctor anerkannten antiken Dichter Vergil verknüpft ist, wird in Veldekes Text vom Sprecher in der Weise ausgestellt, dass die mittelhochdeutsche Erzählung dank des Bezugs auf den römischen Epiker gleichsam nobilitiert wird. Damit ist aber die Position der Autorschaft bereits mit einer namhaften Größe ausgefüllt, weshalb die Möglichkeit, dem volkssprachigen Verfasser neben dem antiken Dichter Geltung zu verschaffen, zunächst versperrt ist. Die schöpferische Leistung Heinrichs von Veldeke wird bis zum Epilog vollständig ausgeklammert, weil die eigentliche Urheberschaft am Text von Beginn an Vergil zuerkannt wird. Erst im Epilog wird die Kategorie des volkssprachigen Produzenten des verspoetischen Artefakts eingeführt, wobei über die Geschichte vom Diebstahl des Dichtermanuskripts weitere Informationen zum Werk geliefert werden, die Diskursfunktionen bedienen. So verschafft sich der mittelhochdeutsche Verfasser zu guter Letzt buchstäblich selbst Gehör dadurch, dass er sich über die Methode der textinternen Autorsignatur so in den Verstext einwebt, dass sein Name auch beim Vortrag der Dichtung zum Abschluss vom Sprecher kundgetan wird. Was das Verhältnis von Urheber, Sprecher und Verfasser anbelangt, ergibt sich eine Art Dreieckskonstellation, die nicht systematisch ausdifferenziert werden kann. Veldeke installiert sich im Epilog zwar als namentlich genannter Schöpfer des mittelhochdeutschen Werks, überlässt die Autorposition ansonsten aber Vergil, den er bereits im Prolog als Autorität einführt, zu der er sich nicht in Konkurrenz setzt. Doch auch die Sprecherposition nimmt er nicht für sich in Anspruch und adressiert nirgendwo selbst das Publikum. Indes bleibt angesichts der vielfältigen Beteuerungen der Richtigkeit des Erzählten, wie sie sowohl von der Sprechinstanz als auch mit Blick auf den volkssprachigen Dichter vorgebracht werden, vom Sinn her nichts anderes übrig, als Veldeke mit dem Subjekt der Erzählung zu identifizieren.

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Sowohl das mittelalterliche Buchwesen mit seinen wenig entwickelten periund epitextuellen Diskursstrukturen als auch der Bildungsgrad eines Teils der Adressaten legten es nahe, volkssprachigen Erzähltexten auf der Gestaltungsebene eine im Pronomen der ersten Person Singular gefasste Vermittlungsposition einzuweben, die in der Vortragssituation vom Deklamator ausgefüllt werden konnte, so dass die Medialität der Handschrift gleichsam ergänzt wurde, um das Publikum zu erreichen. Darüber hinaus machten es die genannten Gegebenheiten für einen zeitgenössischen Epiker nötig, seinen Namen textintern bekannt zu geben, wenn er als Urheber seines Werks Geltung beanspruchen wollte. Als dritte Besonderheit des damaligen Literaturbetriebs kommt hinzu, dass es einen im Schriftdiskurs etablierten Kanon von Autoren gab, die in der Wertehierarchie höher standen als andere. Alle diese Faktoren können als Ursachen dafür genannt werden, dass sich in Veldekes ‚Eneasroman‘ werkintern und gerade in der narrativen Stimme unterschiedliche Text- und Diskursfunktionen kreuzen und überlappen: So handelt es sich beim Sprecher um eine Art Autor-Erzähler, wenn man die Bekundungen der Beglaubigung konsequent liest, doch steht dieser Befund im Widerspruch zur klaren Differenzierung von Sprecher und Verfasser auf der Gestaltungsebene. Die Nennung Heinrichs im Epilog durch die Sprecherposition scheint dem Umstand geschuldet, dass systematisch organisierende Paratexte im volkssprachigen Literaturbetrieb der Zeit nicht etabliert waren, so dass es der Redeinstanz zukam, dem Publikum die den Verfasser betreffenden Informationen zu vermitteln. Zugleich hat die als Bezugspunkt aufgebaute Autorität Vergils offenbar verhindert, dass sich Veldeke selbstbewusst als Dichter-Sänger seines Werks konstituierte. Letzten Endes suchte der mittelhochdeutsche Verfasser das Sprachrohr der kommunikativen Mittlerfunktion, um sich seiner Zuhörerschaft nicht über schöpferische, sondern über prozessuale Autorität näherzubringen, um den Preis, sich namentlich und argumentativ so auszugliedern, dass die eigene Geltung erst mit dem Epilog zum Tragen kommen konnte.

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Anna Kollatz

Ägypten kurzgefasst: Wissensordnung und die Darstellung islamischer Herrschaft in Ibn Iya¯s’ ‚Nuzhat al-umam fı¯ l-ʿagˇa¯ʾib wa l-hikam‘ ˙

Abstract ‘Nuzhat al-umam’ is the oldest work from the pen of Muhammad b. Iya¯s al-Hanafı¯ (Ibn ˙ ˙ Iya¯s) that has been passed down to us. The author’s universal chronicle ‘Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r’ is the only contemporary Arabic historiography to report on the Ottoman conquest of Egypt (1516–1517) and therefore a well-established source for historians working on material from the period. However, Ibn Iya¯s’ ‘minor’ works like the ‘Nuzhat al-umam’ have largely been exempt from scholarly interest. To get a comprehensive perspective of the narrative technique of an author, however, it is important to consider his work in its entirety. This article is a first step towards a more comprehensive understanding of Ibn Iya¯’s narrative authority. It approaches the order of knowledge in the earliest work of the author. Taking an analysis of the macrostructure of the text as a starting point, this paper examines which knowledge elements are presented in this text as contributing to a comprehensive understanding of Egypt. A particular focus is on the representation of Islamic rule. On the basis of an exemplary passage, dealing in an anecdotal form with the Muslims’ assumption of power in Egypt and their interaction with the Coptic population, the paper examines the narrative representation as well as the characterization of rulers, the ruled, and their interactions. „Ich beschloss, ein angenehm [zu lesendes] Buch zu verfassen, in dem ich die merkwürdigsten Dinge festhalte, die ich gehört habe, und die wunderlichsten, die ich gesehen habe. Ich beschloss, mich kurz zu fassen, damit es nicht zu lang werde …“1

So leitet Muhammad b. Ahmad Ibn Iya¯s al-Hanafı¯ (1448– nach 1524)2 seine ˙ ˙ ˙ Schrift ‚Nuzhat al-umam fı¯ l-ʿagˇa¯ʾib wa l-hikam‘ ein. Der arabische Titel ver˙ spricht wörtlich einen „vergnüglichen Streifzug durch die Wunder und Herrschaften der Welt“, während sich der Text in der Hauptsache mit Ägypten befasst. In den wenigen oben zitierten Worten klingen bereits zwei der Konzepte an, die 1 Muhammad Ibn Iya¯s, Nuzhat al-umam fı¯ l-ʿagˇa¯ʾib wa l-hikam, ed. Muhammad Zaynahum, ˙ 1995. Im Folgenden wird der Titel als ‚Nuzhat al-umam‘ ˙ ˙ Alle Übersetzungen Kairo abgekürzt. in diesem Beitrag, soweit nicht anders gekennzeichnet, sind die der Verfasserin. 2 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde in diesem Beitrag auf eine durchgehende Angabe von Daten der islamischen Ära (higˇrı¯) verzichtet. Nur an relevanten Stellen wurden die higˇrı¯-Daten den Datumsangaben nach christlicher Zeitrechnung vorangestellt.

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Anna Kollatz

den Text in Gestalt und Inhalt prägen: Es ist dies zunächst das Interesse, ein kurzweiliges und darüber hinaus auch im Wortsinne kurzes Buch zu verfassen. Durch die Sammlung und Neuzusammenstellung von wissenswerten und wunderbaren Informationen über Ägypten ermöglicht der Autor seinen Lesern schnellen Zugang zu Wissenselementen, die sonst nur durch Lektüre oder Hören der Inhalte verschiedenster Abhandlungen erlangt werden können. Ganz bewusst beschäftigt sich dieser Beitrag mit ‚Nuzhat al-umam‘, einem Text, der bisher kaum das Interesse der Wissenschaft geweckt hat. Wenn überhaupt, wurde er als wenig interessante, lediglich bekannte Informationen repetierende Schrift kritisiert, wie etwa von Li Guo: „And after all, since the work itself does not furnish much original material other than quotations from some well-known sources of the khitat (historical topography) genre, one might question the de˙ ˙ sirability of publishing a work of such minor importance, even if it is of some interest, before a thorough source-critical study.“3 Im Wissen um die schwierige Quellenlage und den spezifischen Charakter des Textes wendet sich dieser Beitrag gerade nicht den Inhalten im Sinne von historischen Informationen oder ‚Fakten‘ zu, die die Schrift enthält. Vielmehr geht es darum, die Ordnung und Präsentation dieser Inhalte zu betrachten, die in ihrer Zeit wohlbekannt waren und zudem stark von Genrekonventionen geprägt sind. Gerade eine Sammlung bekannter Wissenselemente und insbesondere eine Kurzfassung eröffnet die Möglichkeit, Ordnung, Bewertung und Präsentation solchen ‚Allgemeinwissens‘ durch einen bestimmten Autor zu untersuchen. Obwohl ‚Nuzhat al-umam‘ aus kompilierten und zitierten Textbausteinen besteht, bleiben doch zwei nicht zu unterschätzende Punkte, an denen der Autor Ibn Iya¯s Einfluss auf sein Narrativ nehmen konnte. Es sind dies die Auswahl der präsentierten Wissenselemente, ihre Gewichtung und Anordnung, sowie die Präsentation des gesammelten Wissens. Gewichtung und Anordnung können untersucht werden, indem die dem Werk zugrunde gelegte Wissensordnung anhand des Inhaltsverzeichnisses betrachtet wird: Welche Themen erscheinen an erster Stelle? Wird den behandelten Themen gleichmäßig Raum gegeben, oder sind bestimmte Themen dominant und andere eher am Rande behandelt? Begründet der Autor seine Gliederung? Die Präsentation des gesammelten Wissens kann weiterhin von den Leser leitenden Kommentaren der Erzählinstanz be3 Li Guo, Mamluk Historiographic Studies: The State of the Art, in: Mamluk Studies Review 1 (1997), 15–43, 21. Die hier zitierte Passage folgt unmittelbar auf die sehr berechtigte Kritik der bisher einzigen Edition des Textes (Zaynahum 1995), die in der Tat jegliche historisch-kritische Beschäftigung mit dem Text vermissen lässt. Da ‚Nuzhat al-umam‘ unserer Kenntnis nach nur in einer einzigen Handschrift erhalten ist, bleibt allerdings die Frage zu stellen, wie eine textkritische Edition eines solchen Textes aussehen kann. Die vorliegende Edition hat klare Schwächen, ihr sollte jedoch nicht vorgeworfen werden, dass sie auf einem Handschriften-Unikat basiert.

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einflusst werden. Hier ist gerade bei einem kompilierten Werk interessant zu untersuchen, ob und wie der Autor die präsentierten Wissenselemente einordnet und gegebenenfalls bewertet, z. B. durch Quellenangaben. Schließlich ist auch die Wahl der Wissensinhalte selbst aussagekräftig. Im Rahmen dieses Beitrags soll exemplarisch untersucht werden, welche Art von Wissensinhalten und -bausteinen der Autor gewählt hat, um islamische Herrschaft in Ägypten zu repräsentieren. Dabei sind sowohl die inhaltliche Ebene der entsprechenden Kapitel als auch formale Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Welche Ereignisse und Personen stellt der Text in den Vordergrund? In welcher Form oder welchen Formen präsentiert er diese? Dabei muss klar sein, dass die hier angestellte Analyse allein keine umfassenden Antworten liefern kann. Vielmehr handelt es sich um ein Experiment, das im besten Fall Anknüpfungspunkte für eine weitere Beschäftigung mit dem Text liefern wird, im schlechtesten Fall einige Erkenntnisse zur Erzählstruktur eines Textes, der in der Hauptsache aus mehr oder weniger kontextualisierten Kompilationen besteht.4 Um den Text, und insbesondere seine Inhalte, weitergehend einordnen zu können, wäre ein intertextueller Vergleich mit dem Korpus anzustellen, aus dem der Autor seine Informationen bezieht. Eine ähnliche Untersuchung von Ibn Iya¯s’ Quellenkorpus ist, am Beispiel seiner Chronik ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r fı¯ waqa¯ʾiʿ ad-duhu¯r‘5 (‚Die schönsten Blüten über das, was das Schicksal an Ereignissen brachte‘) bereits unternommen worden6 und wäre ebenfalls interessant, um die intertextuelle Anbindung des Autors an sein intellektuelles 4 Zur Kompilation als Arbeitstechnik vormoderner Autoren siehe Stephan Conermann (ed.), Mamluk historiography revisited. Narratological perspectives (Mamluk Studies 15), Göttingen 2018, für die Mamlukenzeit; Stephan Conermann, Wie arbeitet ein vormoderner Historiker?, in: Ders. (ed.), Innovation oder Plagiat? Kompilationstechniken in der Vormoderne (Narratio aliena? 4), Berlin 2015, 7–22, für eine transkulturelle Betrachtung, und Anna Kollatz, Tracing Ibn Iyäs’ Narrative: Intertextual compilation from Jawähir as-sulük and ʿUqüd al-juman to Badäʾiʿ az-zuhür, in: Stephan Conermann/Toru Miura (edd.), Studies on the History and Culture of the Mamluk Sultanate (1250–1517). Proceedings of the First German-Japanese Workshop (Tokyo, November 5–6, 2016) (Mamluk Studies 21), Göttingen [im Druck], für eine exemplarische Kompilationsanalyse innerhalb des Werks von Ibn Iya¯s. 5 Im Folgenden abgekürzt als ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r.‘ Der Text liegt in mehreren Editionen vor, deren umfassendste für diesen Beitrag genutzt wurde: Muhammad Ibn Iya¯s, Die Chronik des Ibn Ijas, ed. Paul Kahle/Muhammad Mustafa¯ (Bibliotheca˙ islamica 5), 9 Bde., Wiesbaden 1960–1992. ˙ Zur Handschriftensituation siehe˙ ˙Michael Winter, Ibn Iya¯s, in: Historians of the Ottoman Empire (2007), https://ottomanhistorians.uchicago.edu/sites/ottomanhistorians.uchicago. edu/files/ibniyas_en.pdf (19. 02. 2019). Eine Teilübersetzung ins Deutsche findet sich in Muhammad Ibn Iya¯s, Alltagsnotizen eines ägyptischen Bürgers, ed. und übers. v. Annemarie ˙ Schimmel (Bibliothek arabischer Klassiker), Lenningen 2004. Der Text ist außerdem ins Französische übersetzt worden: Muhammad Ibn Iya¯s, Journal d’un bourgeois du Caire: ˙ Gaston Wiet, Paris 1955. chronique d’Ibn Iyâs, ed. und übers. v. 6 Vgl. Ahmad Al Amer, Matériaux, mentalités et usage des sources chez Ibn Iya¯s. Mise au point du discours historique dans les Bada¯’i‘ al-zuhu¯r fi waqa¯’i‘ al-duhu¯r, Saarbrücken 2016, 375– 409.

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Umfeld zu erforschen. Dies kann im Umfang dieses Beitrags nicht erfolgen, der sich, der Fragestellung des Sammelbandes folgend, auf die Narrativität und Leserleitung in Ibn Iya¯s’ ‚Nuzhat al-umam‘ mit besonderem Blick auf die Darstellung von islamischer Herrschaft beschränkt. Vor der textinternen Analyse soll jedoch zunächst der Kontext von Autor und Werk in historischer und sozialer Perspektive beleuchtet werden. Darüber hinaus werden Genres oder Schreibtraditionen thematisiert, mit denen ‚Nuzhat al-umam‘ in Verbindung steht. Im Anschluss daran widmet sich der Beitrag einer exemplarischen Analyse der Kapitel über den Beginn der islamischen Herrschaft in Ägypten, wobei die oben genannten Forschungsfragen im Mittelpunkt stehen.

1.

Ibn Iya¯s: Leben und Werk

Um durch die Worte eines Textes in dessen Welten vorzustoßen, wie es Ansätze der kulturwissenschaftlichen Narratologie vorschlagen,7 bedarf es stets auch einer sorgfältigen Kontextualisierung des historischen Autors und seiner Lebensbedingungen. Dies stellt uns im Falle von Ibn Iya¯s vor einige Probleme. Obwohl eine der wichtigsten ägyptischen Stimmen, die aus der mamlukisch-osmanischen Umbruchszeit des 16. Jahrhunderts auf uns gekommen ist, ist Muhammad b. Ahmad Ibn Iya¯s al-Hanafı¯ (kurz Ibn Iya¯s) auch den meisten ˙ ˙ ˙ Mamlukenforschern nur als Verfasser seiner Chronik ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ bekannt. Dieses als höchst vertrauenswürdig eingeschätzte Werk bildet die Grundlage für zahlreiche Studien, die den Text als einzigen Augenzeugenbericht der Umbruchszeit und der osmanischen Eroberung aus ägyptischer Sicht auch dann vollumfänglich als Quelle nutzen, wenn sie die schwierige Kontextualisierung des Autors bemerken.8 Weder Ibn Iya¯s’ weitere historiographische Schriften, noch seine geographisch-landeskundlichen Texte sind bisher tiefergehend erforscht worden; ein Großteil liegt nach wie vor nur in Manuskriptform oder in unkri7 Siehe z. B. Astrid Erll/Simone Roggendorf, Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative, in: Ansgar Nünning (ed.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, 73–114; Ansgar Nünning/Vera Nünning (edd.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart/Weimar 2003; Doris Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Rowohlts Enzyklopädie 55675), Reinbek bei Hamburg 2007. 8 Vgl. die Nutzung der ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ von Ibn Iya¯s etwa durch Carl F. Petry, Twilight of majesty. The reigns of the Mamlu¯k sultans al-Ashra¯f Qa¯ytba¯y and Qa¯nsu¯h al-Ghawrı¯ in Egypt (Occasional paper/Middle East Center, Jackson School of International˙Studies 4) Seattle 1993; Michael Winter, Egyptian society under Ottoman rule, 1517–1798, London et al. 1992, und aktuell die jüngst mit dem Malcom H. Kerr Dissertation Award der MESA ausgezeichnete Dissertation von Christian Mauder, In the Sultan’s Salon: Learning, Religion, and Rulership at the Mamluk Court of Qa¯nisawh al-Ghawrı¯ (r. 1501–1516), unveröff. Diss., Göttingen 2017. ˙

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tischen Editionen vor.9 Ein Teil des Geschichtsnarrativs von Ibn Iya¯s hat also formativen Einfluss auf unser heutiges Bild der Mamlukensultanate in Ägypten und Syrien ausgeübt, insbesondere was die transition period im 15. Jahrhundert angeht. Jedoch gründet dieses Vertrauen in den einzig verfügbaren Augenzeugen der 1520er Jahre nicht etwa auf einer guten Kenntnis des sozialen und intellektuellen Kontexts des Ibn Iya¯s. Im Gegenteil sind uns nur äußerst spärliche Informationen zu seiner Person bekannt, die sich in der Hauptsache auf seine wenigen Selbstzeugnisse in den ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ und auffällig wenigen Erwähnungen seiner Person in späteren Biographiesammlungen stützen.10 Aus dem ansonsten so reichen Fundus zeitgenössischer bio-bibliographischer Nachschlagewerke ist keine Erwähnung des Ibn Iya¯s bekannt. Neben der enzyklopädischen Sammlung der verfügbaren Daten zu Ibn Iya¯s und seinem durchaus weitgreifenden Werk, das insgesamt mindestens sieben unterschiedliche Schriften umfasst11 und einem ersten Versuch, die Arbeitsweise des Ibn Iya¯s bei der Abfassung der ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ in einer strukturalistisch anmutenden Analyse nachzuzeichnen,12 existieren nur ältere Auseinandersetzungen mit dem Handschriftenbestand13 sowie die kritische Edition der ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ mit ausführlicher Handschriftenkritik.14 Auch jüngste Monographien und Beiträge, die sich zur Rekonstruktion des historischen Kontexts ihres Forschungsgegenstandes in weiten Teilen auf Ibn Iya¯s stützen, bleiben bei den ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ als einziger Quelle.15 Gleiches gilt für die Untersuchung der prosimetrischen Gestalt Ibn Iya¯s‘ Narrativs.16 Diese Zurückhaltung in der Beschäftigung mit Ibn Iya¯s’ sozialem und historischem Kontext hat zwei Gründe. Zum einen ist der Autor selbst sehr sparsam mit Informationen über seine Familie oder seine persönlichen Lebensumstände. 9 Eine vollständige Übersicht über das Werk, den Handschriftenbestand sowie Editionen gibt Winter 2007. 10 Winter 2007, 1; Al Amer 2016, 7f.; zur Problematisierung der Zuschreibung von Manuskripten und zur Identifikation des Ibn Iya¯s: David J. Wasserstein, Tradition manuscrite, authenticité, chronologie et développement de l’œuvre litteraire d’Ibn Iya¯s, in: Journal Asiatique 280/1–2 (1992), 81–113. 11 So Winter 2007. 12 Al Amer 2016, besonders 375–429. 13 Wie z. B. Wasserstein 1992; Charles Vollers, La Chronique Égyptienne d’Ibn Iya¯s, in: Revue d’Égypte 2/9 (1896), 545–573. 14 Kahle/Mustafa¯ 1960–1992. ˙ ˙ erwähnte Diss. Mauder 2017, Winter 2017. 15 Vgl. die schon 16 Li Guo, Ibn Iya¯s, the Poet: The Literary Profile of a Mamluk Historian, in: Stephan Conermann (ed.), Mamluk historiography revisited. Narratological perspectives (Mamluk Studies 15), Göttingen 2018, 77–90; Kais Naouali, La poésie enchâssée dans la chronique d’Ibn Iya¯s, in: Annales islamologiques 49 (2016), 81–97. Zum Prosimetrum in transkultureller Perspektive siehe Joseph Harris (ed.), Prosimetrum. Crosscultural perspectives on narrative in prose and verse, Cambridge 1997.

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Obwohl Historiographen vor allem in der späten Mamlukenzeit eine bemerkenswerte Menge an Details über sich selbst, ihre Familien oder das Leben in ihrer Nachbarschaft zu berichten begannen,17 sind solche Informationen in Ibn Iya¯s’ Texten selten. Diese auffällige Stille hat dazu geführt, dass aus den wenigen Informationen, die Ibn Iya¯s selbst gibt, ein biographisches Narrativ entstanden ist, das auf Annahmen beruht, ohne dass diese durch direkte Belege unterfüttert werden könnten.18 Ibn Iya¯s wurde und wird als ein Historiograph mit engen Beziehungen zum Sultanshof dargestellt; so konstruiert Al Amer aus der Funktion eines Bruders des Ibn Iya¯s am Sultanshof eine enge Bindung des Autors an denselben.19 Betrachtet man hingegen Ibn Iya¯s’ Bericht darüber, wie er gegenüber dem Sultan al-G˙awrı¯ gegen die Einziehung seines ‚Lehens‘ (iqta¯ʾ) protestierte,20 ˙ seine Bezüge restituiert wurden und er sich dafür mit einem Gedicht beim Sultan bedankte, so fällt auf, dass diese Interaktionen mitnichten in einem höfischen Kontext stattfinden, wie es für einen dem Hof nahestehenden Gelehrten zu erwarten wäre. Vielmehr bringt Ibn Iya¯s seine Beschwerde im öffentlichen Raum vor, während der Sultan bei einem Ausritt an ihm vorbeikommt. Das Dankgedicht kann Ibn Iya¯s nicht persönlich übergeben, sondern überlässt es „einem Vertrauten des Sultans“.21 Ein direkter Zugang zum Hof kann daraus nicht abgeleitet werden. Die Selbstdarstellung des Ibn Iya¯s erwähnt darüber hinaus keine Tätigkeit oder Anbindung an eine Lehrinstitution (madrasa) oder an administrative oder religiöse Funktionen, etwa im Kontext einer Moschee oder einer 17 Amina Elbendary, Crowds and sultans. Urban protest in late medieval Egypt and Syria, Kairo 2017, 104–106. 18 Winter 2007, 1 gibt eine kurze und vollständige Übersicht über die Informationen, die Ibn Iya¯s uns in seinen eigenen Schriften überliefert. Vgl. auch William M. Brinner, Ibn Iya¯s, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_ SIM_3225 (21. 02. 2019) und Al Amer 2016, 7–21. 19 Al Amer 2016, 21. Es ist anzumerken, dass Ibn Iya¯s selbst diesen Bruder nie im Zusammenhang mit dem Hof oder dem Sultan al-G˙awrı¯ erwähnt. 20 Obwohl häufig, jedoch fälschlicherweise als „Lehen“ oder „fief“ übersetzt, kann das ägyptische iqta¯ʾ-System nicht mit europäischen Feudalstrukturen verglichen werden. Das ägypti˙ sche System beruhte auf einer starken administrativen Kontrolle, in deren Zuge die Einkünfte eines iqta¯ʾ-Inhabers unter Zuhilfenahme einer abstrakten Größe (dem sog. dı¯na¯r gˇaysˇ¯ı oder ˙ Heeresdinar) berechnet wurden, die sich aus Geld- und Naturalienanteilen zusammensetzte. Die iqta¯ʾs wurden dezentral vergeben, sodass die einzelnen Inhaber nur selten zusammen˙ hängende Landstriche ‚besaßen‘, was die Ausbildung regionaler Hausmächte verhinderte (Claude Cahen, Ikta¯ʾ, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi.org/ ˙˙ 10.1163/1573-3912_islam_SIM_3522 (22. 02. 2019). Um dieses Ein-Generationen-System zu umgehen und die Einkünfte auch für die Nachkommen zu sichern, wurde häufig die Einrichtung einer frommen Stiftung (waqf) durch die iqta¯ʾ-Inhaber betrieben. Somit konnte ˙ Einziehung geschützt werden, vgl. zumindest teilweise der Besitz vor staatlichem Zugriff und Ulrich Haarmann, The Sons of Mamluks as Fief-holders in Late Medieval Egypt, in: Tarif Khalidi (ed.), Land Tenure and Social Transformation in the Middle East, Beirut 1984, 141– 170, dort 145. 21 Kahle/Mustafa¯ 1960–1992, Bd. 4, 173. ˙˙

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frommen Stiftung (waqf). Auch eine erste prosopographische Annäherung an Lehrer und ‚Freunde‘ des Ibn Iya¯s hat zu dieser Frage noch keine belastbaren Aussagen gebracht, verdient es aber, vertieft zu werden.22 Zweifelsohne ist es berechtigt, aus Ibn Iya¯s’ auf uns gekommenen Schriften auf einen höheren Bildungsstand unseres Autors zu schließen, wie es etwa Li Guo tut: „Ibn Iya¯s received an elitist education, the curriculum of which privileged poetry and rhetoric, as his writing would later testify. Of the class of awla¯d al-na¯s, or sons of Mamluks, with no prospects for military glory, he seems to have frequented literary gatherings, writing poetry, and later, history. From the beginning, his sights were set high and his eyes watchful.“23 Jedoch erscheint es zu spekulativ, auf eine bestimmte Form der Ausbildung zu schließen. Sicher hingegen kann der Autor als walad an-na¯s, also Nachkomme von Mamluken in der dritten bzw. vierten Generation identifiziert werden.24 Darüber hinaus erwähnt Al Amer einen Bruder des Autors, der als zardka¯ˇs (Waffenmeister) unter Sultan al-G˙awrı¯ gedient haben soll. Dieser Bruder wird von Ibn Iya¯s selbst jedoch nicht erwähnt.25 Diese Informationen belegen eine familiäre Bindung an die herrschende Klasse der Mamluken, geben aber keine Auskunft über Ibn Iya¯s’ eigene soziale und wirtschaftliche Lage. Nur aus der oben erwähnten Anekdote geht hervor, dass der Autor offenbar Einkünfte aus einem iqta¯ʾ der Familie erhalten hatte, also einer ˙ Landzuweisung, die ursprünglich Mamluken die Unterhaltung des eigenen Haushalts und der ihnen unterstehenden Truppen ermöglichen sollte.26 Als walad an-na¯s (‚Sohn der Elite‘) der dritten bzw. vierten Generation hatte Ibn Iya¯s formal keine Möglichkeit, ein Verwaltungs- oder Militäramt zu übernehmen. Dank der Anbindung seiner Familie an die mamlukische Elite hatte er aber vermutlich ebenso Einblick in politische Prozesse seiner Zeit,27 wie er durch die Anbindung an seine nicht-mamlukischen Verwandten auch und insbesondere im städtischen Milieu Kairos integriert gewesen sein muss. Für die Analyse der Erzählinstanz Ibn Iya¯s’ ist festzuhalten, dass der Autor offenbar ausschließlich seine familiäre Verbindung zur Schicht der Mamluken als so relevante Infor22 Al Amer 2016, 15–21. 23 Guo 2018, 77. 24 Ibn Iya¯s berichtet über die Karrieren seines Großvaters und Urgroßvaters väterlicherseits. Beide waren Mitglieder der Verwaltungs- und Militärelite und konnten ihre Position während der Herrschaft mehrerer Sultane halten. Informationen über den Urgroßvater sind über verschiedene Stellen der ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ verteilt: Kahle/Mustafa¯ 1960–1992, Bd. 1b, 58, ˙ ˙ 2016, 8–15. 73, 78. Zum Großvater vgl. ebd., Bd. 2, 271f. Vgl. auch Al Amer 25 Al Amer 2016, 12. 26 Kahle/Mustafa¯ 1960–1992, Bd. 4, 173. Vgl. zum Umverteilungskonflikt mit besonderem ˙ ˙ awla¯d an-na¯s Haarmann 1984, insbesondere 162f. Fokus auf den 27 Dies sollte aber nicht dahingehend überinterpretiert werden, er habe engen Kontakt zu den höchsten Entscheidungsträgern und freien Zugang zur Kairoer Zitadelle gehabt, dem Machtzentrum der Mamluken.

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mation ansieht, dass er sie überhaupt in sein Werk aufnimmt. Sowohl seine eigene Person als auch der Vater werden über die Stellung des Groß- bzw. Urgroßvaters definiert.28 Die Zugehörigkeit der Vorfahren zum Haushalt eines bestimmten Sultans erscheint dabei wichtiger als etwa die eigene Anbindung an intellektuelle Zirkel zu kommunizieren. Zwar erwähnt Ibn Iya¯s in den ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ an wenigen Stellen die Namen von Lehrern, jedoch so beiläufig, dass darin keine narrative Strategie erkannt werden kann.29 Aus dem Text der ‚Nuzhat al-umam‘ sind keine Aussagen über den Autor bekannt, das restliche Werk ist unter diesem Gesichtspunkt noch nicht erschlossen worden. Mit Sicherheit kann jedoch festgehalten werden, dass keine der Schriften eine zusammenhängende Selbstrepräsentation des Autors enthält.

2.

Genre: Hitat,ʿAgˇ¯aʾib, Fad¯aʾil, Ihtis¯ar ˙ ˘ ˙ ˙ ˘ ˙

Die einzige auf uns gekommene Kopie von ‚Nuzhat al-umam‘30 ist laut Kolophon der Handschrift eine 1486 in Kairo entstandene Abschrift, die auf Grundlage eines Autographs verfertigt wurde.31 Das Datum der Abschrift lässt den Schluss zu, dass der Text der ‚Nuzhat al-umam‘ als früheste überlieferte Schrift des Autors gelten kann.32 Trotzdem liegt der Text in relativer zeitlicher Nähe zu vielen anderen Schriften des Ibn Iya¯s, der offenbar parallel an mehreren Schreibprojekten gearbeitet hat.33 ‚Nuzhat al-umam‘ präsentiert sich, wie die eingangs zitierten Worte aus der Einleitung zeigen, als eine kurze Zusammenfassung der 28 Dem Vater widmet Ibn Iya¯s nur eine knappe Erwähnung, in der er als Sohn des Großvaters vorgestellt und die Anzahl seiner Kinder genannt wird. Kahle/Mustafa¯ 1960–1992, Bd. 4, ˙˙ 47. 29 Ibn Iya¯s erwähnt seine Lehrer nur knapp. Seine persönliche Beziehung zu ihnen wird nicht thematisiert, vielmehr beschränkt er sich darauf, allgemeinen Informationen eine kurze Bemerkung hinzuzufügen, die die jeweilige Person als seinen Lehrer identifiziert. Vgl. Kahle/Mustafa¯ 1960–1992, Bd. 3, 376; Bd. 4, 83, 374. ˙ ˙ Ayasofya 3500. 30 Ms. Istanbul, 31 Felix Tauer, Geographisches aus den Stambuler Bibliotheken (Arabische Handschriften), Archiv Orientalni 6 (1934), 95–111, hier 103–105; vgl. auch Wasserstein 1992, 98; Carl Brockelmann, Geschichte der arabischen Litteratur, 2 Bde., Bd. 2, Leiden 1996, 295. 32 Die mir vorliegende Edition hat jedoch das Datum 901/1496, eine Überprüfung am Manuskript steht noch aus. Diese einzig verfügbare Edition von Muhammad ʿAzab kritisiert Guo 1997, 21 vollkommen zu Recht ob des Fehlens eines kritischen Apparates und einer historischen Kontextualisierung. Die hier gezogenen Schlüsse werden jedoch von der beschriebenen Datumsdiskrepanz zwischen Edition und Handschrift nicht tangiert. Zur Einordnung der ‚Nuzhat al-umam‘ in das Gesamtwerk siehe auch Wasserstein 1992, 98. 33 Das erste erhaltene Autograph der ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ ist 1496 fertiggestellt worden, die weiteren Bände sind in der Folge bis zur Beendigung des elften Bandes 928/1522 entstanden. Weitere historiographische Schriften sind ebenfalls im letzten Jahrzehnt des 15. bzw. zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden.

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wichtigsten und interessantesten Daten und Fakten über Ägypten, die der Autor als wissenswert einstuft. Schon der Titel deutet zwei Hauptinhalte an, verspricht er doch einerseits geographisches Wissen und andererseits einen Überblick über die ‚Herrschaften‘ (hikam) der Welt. Damit reiht sich die Schrift in eine lange ˙ Tradition geographisch-historiographischer Schriften ein. Mit ihrem tatsächlichen Fokus auf Ägypten ist die Schrift als regionalgeographisch zu bezeichnen und entspricht damit einem der acht Typen geographischer Literatur, die für die „konsolidierende Phase“ der arabischen Geographie unterschieden werden, die vom 12.–16. Jahrhundert angesetzt wird.34 Die Kombination von geographischer Beschreibung, historischer Abhandlung und der Schilderung von Besonderheiten der Regionen rückt die Schrift nahe an das insbesondere in Ägypten entwickelte Genre der hitat-Literatur,35 dessen (rückwirkend) namensgebender ˘˙ ˙ Hauptvertreter, die ‚Hitat‘ des al-Maqrı¯zı¯ (1364–1442), eine höchst umfassende ˘ ˙ ˙ Geschichte und Beschreibung Ägyptens und Kairos ist.36 Auch die geographische Literatur des 12.–16. Jahrhunderts ist dem oben thematisierten Niedergangsnarrativ nicht entgangen, so urteilt etwa die ‚Encyclopaedia of Islam‘: „From the 6th/12th to the 10th/16th century Arab geography displayed continuous signs of decline. The process was chequered and with some exceptions like the works of al-Idrı¯sı¯ and Abu ’l-Fida¯ʾ the general standard of works produced was low compared to those of the earlier period. The scientific and critical attitude towards the subject and emphasis on authenticity of information that was the mark of the earlier writers gave place to mere recapitulations and résumés of the 34 S. Maqbul Ahmad/ Franz Taeschner, D̲j̲ug̲h̲ra¯fiya¯, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_COM_0194 (25. 01. 2019). Auch diese Periodisierung ist wiederum beeinflusst von einem latenten Niedergangsgedanken, der der geographischen Literatur der genannten Zeit keine eigenständigen Produkte mehr zugesteht, sondern sie bis auf wenige Ausnahmen als bloße Repetition früherer Glanzleistungen versteht. 35 Hatt, pl. hitat bezeichnet wörtlich ein abgegrenztes Stück Land, ein Grundstück, oder die ˘ ˙˙ ˘ ˙ ˙ Distrikte eines Landes (Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftabgegrenzten sprache der Gegenwart. Arabisch-Deutsch, Wiesbaden 1985, 343 s. r. htt). Der Plural bürgerte ˘˙˙ sich als Genrebezeichnung für Schriften ein, die sich mit der Geographie, Verwaltung etc. verschiedener Länder und ihrer Regionen befassen. 36 Zu al-Maqrı¯zı¯ und seiner Arbeitsweise als Historiker forscht insbesondere Frédéric Bauden, vgl. seine Veröffentlichungen der Serie ‚Maqriziana‘, z. B. Frédéric Bauden, Maqriziana I: Discovery of an Autograph Manuscript of al-Maqrı¯zı¯. Towards a Better Understanding of His Working Method, Description: Section 2, Mamluk Studies Review 10/2 (2006), 81–139; Ders., Maqriziana II: Discovery of an Autograph Manuscript of al-Maqrı¯zı¯. Towards a Better Understanding of His Working Method, Analysis, Mamluk Studies Review 12 (2008), 51–118; Ders., Maqriziana IX: Should al-Maqrizi Be Thrown Out with the Bath Water? The Question of His Plagiarism of al-Awhadi’s Khitat and the Documentary Evidence, Mamluk Studies Review 14 (2010), 159–232; und zuletzt Ders., Maqriziana XIV: Al-Maqrı¯zı¯’s Last Opus (Al-Habar ʿan al-Basˇar) and Its Significance for the History of Islam. Journal of the Royal ˘ Society [im Druck]; Ders., Trusting the Source as Far as It Can Be Trusted: Al-Maqrı¯zı¯ Asiatic and the Mongol Book of Laws (Maqriziana VII), Berlin [im Druck].

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traditional and theoretical knowledge found in the works of earlier writers.“37 Dementsprechend werden auch die gerade in Ägypten und Syrien unter ayyubidischer und mamlukischer Herrschaft blühenden Genres der hitat-Lite˘˙ ˙ ratur als tendenziell minderwertig eingestuft. Dies wird begründet mit einer Amalgamierung von Geographie und ʿagˇa¯ʾib-Literatur. ʿAgˇa¯ʾib („Wunder“) meint ursprünglich die Wunder der Antike. Darüber hinaus umfasst der Begriff aber auch die Wunder der Schöpfung Gottes und wird damit zu einem breiten Sammelterminus für Wissen und Geschichten aller Art, die sich mit außergewöhnlichen Monumenten ebenso befassen können wie mit Naturphänomenen, meteorologischen Besonderheiten oder auch übersinnlichen oder widernatürlichen Erscheinungen.38 In dem gleichnamigen, schon früh in der islamischen Geschichte entstehenden Genre treffen somit häufig detailliert aufgearbeitete Beschreibungen von z. B. besonderen Tieren oder Pflanzen auf solche Inhalte, die aus der Sicht einer von der europäischen Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts beeinflussten Wissenschaft nur als fantastische, also fiktionale Anteile der Narrative betrachtet werden konnten. Ibn Iya¯s greift in ‚Nuzhat al-umam‘ stark auf das Konzeptʿagˇa¯ʾib zurück, das der Autor auch in seine historiographischen Schriften integriert. Gleiches gilt für ein weiteres Genre der arabischen Literatur, das ähnlich wie die ʿagˇa¯ʾib-Literatur schon früh entstanden ist und sich in äußerst vielfältige Subgenres entwickelt hat. Auch die fada¯ʾil-Literatur gehört zum ˙ weiten und schwer definierbaren Feld des arabischen adab. Texte dieser Gruppe befassen sich mit Inhalten, die im Wortsinn der Genrebezeichnung wissenswerte Inhalte verbreiteten, die zu kennen als einer umfassenden Bildung förderlich angesehen wurden. Die fada¯ʾil-Literatur thematisiert die guten Eigenschaften ˙ (arab. fad¯ıla, pl. fada¯ʾil) aller nur denkbarer Gegenstände, Personen, Regionen ˙ ˙ etc.39 Ihren Ursprung nahm diese Gattung in Lobreden über die guten Eigenschaften des Koran und wurde dann auf den Propheten Muhammad, seine Ge˙ fährten und, von diesem religiösen Kern ausgehend, auf immer mehr Themen ausgeweitet. So finden sich neben fada¯ʾil-Werken über bestimmte Personen, ˙ Regionen oder Städte auch Werke eher profanen Inhalts, etwa über die guten Eigenschaften der Wochentage, des Basilikums oder des Kaffees.40 Dass ‚Nuzhat al-umam‘ Elemente verschiedener Genres in sich vereint, ist ebenso wenig ein Alleinstellungsmerkmal wie die Wahl der Kurzform (ihtisa¯r). ˘ ˙ Kürzungen und Neuzusammenstellungen, unter verschiedenen arabischen Begriffen wie ihtisa¯r, mulahhas etc. bekannt, haben schon in früher islamischer Zeit ˘ ˙ ˘˘ ˙ 37 Ahmad/Taeschner 2012. 38 Cesar E. Dubler, ʿAd̲j̲a¯ʾib, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi. org/10.1163/1573–3912_islam_SIM_0319 (06. 02. 2019). 39 Rudolf Sellheim, Fad¯ıla, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi. ˙ org/10.1163/1573-3912_islam_COM_0204 (25. 01. 2019). 40 Ebd.

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eine nicht unerhebliche Funktion in der Wissensvermittlung und -verbreitung eingenommen.41 Über den Kontext religiöser Gelehrsamkeit und der Wissensverbreitung in Gelehrtenkreisen hinaus dienten solche Kurzfassungen durchaus auch dazu, Wissensinhalte einer interessierten breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sei es durch eigene Lektüre oder das Hören von Vorträgen aus solchen Schriften. Trotz dieser wichtigen Funktion sind Kurzfassungen, Analekten oder Zitatensammlungen häufig als Quellen sekundärer Qualität beurteilt worden, da man ihnen aufgrund ihres hohen Anteils an zitiertem oder kompiliertem Material die Originalität absprach.42 Kompilation, also das bewusste Auswählen und Neuarrangieren von Textbestandteilen aus einem oder mehreren Quellentexten, stellte auch in der Zeit des hier betrachteten Texts eine weithin anerkannte Arbeitstechnik vormoderner islamischer Historiographen dar und galt mitnichten als Plagiat.43 Im Gegensatz zum Kompilat zeichnet sich die Kurzfassung dadurch aus, dass weitaus häufiger Quellenangaben gemacht werden, also der Name oder der in den Kreisen der intendierten Leserschaft geläufige Kurztitel eines kanonischen Werkes genannt werden. Dieser Praxis folgt auch Ibn Iya¯s in seinem hier im Zentrum stehenden Werk. Er kompiliert Wissensinhalte aus einer breiten Quellenbasis, wobei nur eine gründliche Untersuchung derselben aufdecken könnte, welche der zitierten Autoren Ibn Iya¯s tatsächlich vorlagen, und welche er seinerseits aus Anthologien oder kompilierten Werken zitierte. Die für das Schrifttum dieser Zeit durchaus typische Amalgamierung geographischer oder chronikaler Genrekonzepte mit solchen wie der ʿagˇa¯ʾib- oder fada¯ʾil-Literatur hat ebenfalls die Kritik post-aufklärerischer ˙ westlicher Wissenschaften auf sich gezogen, brachten diese neuen Anteile doch „phantastische Berichte und Geschichten“44 in ein Genre ein, das so urteilende Wissenschaftler bis heute als Quelle positivistischer Geschichtsforschung nutzen wollen, wobei oft die emischen Schreibtraditionen und das Geschichtsverständnis der Zeit außer Acht gelassen werden. Betrachtet man diese Entwicklung jedoch aus literaturwissenschaftlicher Sicht, so stellen diese an verschiedene 41 Albert Arazi/Haggai Ben-S̲h̲ammay, Muk̲h̲tasar, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edi˙ tion (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_COM_0792 (31. 01. 2019). 42 Zur Entwertung von Quellen, die sich auf kompilierte Inhalte stützen, siehe Conermann 2015, 7–22, dort 7f. und Anm. 1. 43 Auch hierzu Conermann 2015, 8. Dieser Beitrag folgt der Definition von Kurt Franz, nach der Kompilation als individueller Text zu bewerten ist, „der gemäß der Tätigkeit des Kompilators als Bearbeiter, Verfasser, Sammler oder Überlieferer, eine Neubearbeitung oder Analekten darstellt oder einer Abschrift gleichkommt.“ Abhängig von „Stoffauswahl, Anordnung und Textgestalt“ entsteht eine „mehr oder weniger selbstständige Überlieferung.“ Kurt Franz, Kompilation in arabischen Chroniken. Die Überlieferung vom Aufstand der Zangˇ zwischen Geschichtlichkeit und Intertextualität vom 9. bis ins 15. Jahrhundert (Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients N. F. 15), Berlin et al. 2004, 274. 44 Sellheim 2012.

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Genres angelehnten Schriften an sich einen hochinteressanten Gegenstand dar und bieten darüber hinaus auch die Möglichkeit, durch eine kombinierte Untersuchung von Narrativ, Leserleitung und intendierter Zielgruppe die Anbindung dieser Entwicklungen an das gesellschaftliche Leben, den ‚Sitz im Leben‘ dieser Texte zu untersuchen.

3.

Schreibmotivation und intendierte Leserschaft

An wen richtet Ibn Iya¯s also sein geographisch-landeskundliches Werk? Aufgrund der Überlieferungssituation muss von einer geringen Verbreitung des Textes ausgegangen werden, wenn auch die Istanbuler Handschrift belegt, dass zumindest ein gewisses Interesse zu Lebzeiten des Autors bestand. Kann die Rezeptionsgeschichte des Werkes auf dieser Basis nicht verfolgt werden, so erlaubt es uns das Werk jedoch auf intratextueller Ebene, die Schreibmotivation und die intendierte Leserschaft zu ergründen. Es lohnt sich hierzu, das Vorwort der ‚Nuzhat al-umam‘ näher zu betrachten. Nicht jede Schrift des Ibn Iya¯s beinhaltet ein Vorwort, bzw. ist uns im Fall der ‚ʿUqu¯d al-gˇuman‘ nur der zweite Band erhalten, das möglicherweise ehemals existente Vorwort somit verloren. Umso wichtiger für eine Annäherung an die Erzählinstanz Ibn Iya¯s ist daher die Untersuchung der hier vorliegenden Einleitung. Nach einem ausführlichen Lob Allahs und der Schöpfung zu Beginn der Einleitung folgt, nach arabischer Schreibtradition mit wa baʿd (etwa: „und nun zum Thema“) eingeleitet, ein Absatz über die Schreibmotivation des Autors und über die Zusammenstellung des Werkes: „Als ich Bücher über die Geschichte vergangener Gesellschaften studierte und feststellte, was alles darin zu finden ist an Wundern (ʿagˇa¯ʾib), beschloss ich, ein angenehm [zu lesendes] Buch (kita¯ban lat¯ıfan) zu verfassen, in dem ich die merkwürdigsten ˙ (ag˙rab) Dinge festhalte, die ich gehört habe, und die wunderlichsten (aʿgˇab) Dinge, die ich gesehen habe. Dabei wollte ich mich kurzfassen, damit es nicht zu lang wird. Ich habe darin die Wunder Ägyptens und seine Werke bedacht und was die Weisen (hu˙ kama¯ʾ) dort an gelehrten Schriftzeichen [3a], Tempeln, Pyramiden und dergleichen erschaffen haben. Ich habe etwas über die Geschichte (yası¯ra) ihrer (Ägyptens) Könige (mulu¯k) aufgenommen und etwas über die Wunder des Nil, etwas über ihre Regionen (hitat) und ihre Altertümer, etwas über die Ausdehnung ihrer Klimata und Gegenden. ˘˙ ˙ Ich habe in meinem Buch die wichtigsten Dinge aufgenommen, die es wert sind niedergeschrieben und weitergegeben zu werden. Dabei habe ich mich, wie schon bemerkt, um Kürze bemüht. Ich habe es ‚Nuzhat al-umam fı¯ l-ʿagˇa¯ʾib wa l-hikam‘ genannt und ˙ erbitte Allahs Unterstützung bei diesem Unterfangen.

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Hier beginnen wir nun mit der Rede darüber, wie die Schöpfung der Erde in der Urewigkeit begann, und welche Wunder Gott der Erhabene erschaffen hat.“45

Bereits die ersten Zeilen dieser Einleitung enthalten gleich drei Hinweise auf die Absicht des Textes: Wie bereits beschrieben, geht es um Merkwürdigkeiten und wunderliche Dinge. Ferner soll das Buch kurz und angenehm zu lesen sein. Implizit kündigt der Autor auch die Textgestalt an, die zu einem großen Teil aus der Aneinanderreihung von Zitaten teils wohlbekannter geographischer und historiographischer Werke besteht. In Anbetracht dieser Tatsache kommen als Zweck des Buches zwei Dinge in Frage. Es kann als an eine breite Leserschaft gerichtete Synopse der wichtigsten Informationen zu Ägyptens Gestalt und Geschichte gedacht sein – diese Möglichkeit unterstreicht auch der Anspruch, ein „angenehm zu lesendes Buch“ zu verfassen. Darin korrespondiert die Einleitung der ‚Nuzhat al-umam‘ mit ähnlichen Aussagen z. B. in der Einleitung der ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r baʿd al-halq wa sı¯rat ˘ al-anbiya¯ʾ‘ (‚Die schönsten Blüten über das, was nach der Schöpfung geschah und 46 über das Leben der Propheten‘), einer Sammlung von Anekdoten über die Schöpfung und die vorislamischen Propheten. In der Einleitung zu diesem Text, der in der Textgestalt als Synopse und Kompilation den ‚Nuzhat al-umam‘ recht ähnlich ist, aber eine andere Thematik abdeckt, lässt der Autor wissen, er habe die besten Anekdoten aus zahlreichen Quellen ausgewählt, damit „die Gelehrten damit zufrieden sind und Enthusiasten daran höchstes Vergnügen finden“,47 also sowohl Spezialisten als auch die breitere des Lesens kundige Öffentlichkeit angesprochen werden. Ähnlich selbstverständlich und selbstbewusst thematisiert Ibn Iya¯s die Nutzung von Geschichtswerken als Quellen für seine Schrift in ‚Margˇ az-zuhu¯r fı¯ l-waqa¯ʾiʿ wa d-duhu¯r‘ (‚Blumenwiesen über das, was das Schicksal an Ereignissen brachte‘).48 Dort preist er sein Werk als Zusammenstellung der besten Inhalte aller seiner Quellen und schließt: „Dies ist ein Buch, das über allem steht, was bisher geschrieben wurde.“49 Aus dieser Aussage ist abzulesen, wie selbstverständlich und allgemein anerkannt kompilatorische Praxis im Bewusstsein des Autors war. Andererseits könnte ‚Nuzhat al-umam‘ auch als eine Materialsammlung gesehen werden, die der Autor zur Ausformulierung seiner 45 Ms. Istanbul, f.2b–3a; ed. Zaynahum 1995, 10. 46 Dieser Text ist nicht zu verwechseln mit der Chronik fast identischen Titels. 47 Leider lag bei Beendigung dieses Beitrags nur die französische Übersetzung der ‚Margˇ az-zuhu¯r‘ vor, aus der hier in Übersetzung durch die Autorin des Beitrags zitiert wird. Muhammad Ibn Iya¯s, Les Meilleures Roses sur les Événements Grandioses, übers. v. Jamal Asri, ˙ Beirut 1995, 9. 48 Das Werk ist nicht ediert oder übersetzt. Die beiden mir vorliegenden Handschriften unterscheiden sich im Wortlaut der ersten Seiten recht stark. Hier beziehe ich mich auf den Text der Ms. Paris, BNF, Arabe 1554. Man beachte die Nähe zum Titel der Universalgeschichte des Autors. 49 Ms. Paris, BNF, Arabe 1554, 2r.

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wesentlich eigenständigeren Geschichtsnarrative in den Chroniken ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ und ‚ʿUqu¯d al-gˇuman‘ verwendet und daher nicht weiter verbreitet hat. Ähnlich argumentiert Wasserstein, der Ibn Iya¯s’ erstaunliche Schreibpraxis, über die Jahre immer länger, ausführlicher und sprachlich ausgefeilter werdende Schriften zur Geschichte und Geographie Ägyptens zu verfassen und dabei seine älteren Schriften als Quellenmaterial zu benutzen,50 als eine Art ungeplante Kettenreaktion im Schreibprozess interpretiert: „Il semble bien qu’Ibn Iya¯s ait copié et recopié de livre en livre, et même (ou presque) que toute sa production littéraire soit un seul livre: il a commencé peut-être avec l’intention d’écrire un petit livre sur les Nuzhat al-umam fı¯ l-ʿagˇa¯ʾib wa l-hikam, mais en cours de route, ˙ son projet s’est modifié de façon un peu inattendue: il en est ressorti un livre sur l’Égypte. Et de là, il aurait conçu l’ambition de créer un livre plus grand sur l’Égypte même; quoi de plus simple que d’y incorporer ce corpus de matière déjà prête?“51 Abseits dieser Überlegungen, die letztlich Spekulation bleiben müssen, gibt die Einleitung aber auch Auskunft über die in der Schrift enthaltenen Themen. Nimmt man an, der Autor habe die wichtigsten Inhalte zuerst genannt, so wäre seine Gewichtung: 1. ‚Wunder‘ Ägyptens, wobei es sich hier umʿagˇa¯ʾib im Sinne von altägyptischen Altertümern sowie weiteren Bauwerken oder ‚Sehenswürdigkeiten‘ wie z. B. Naturschauspielen zu handeln scheint; 2. Geschichte und insbesondere Herrschaftsgeschichte Ägyptens; 3. Bemerkenswerte Eigenschaften des Nils; 4. Regionen Ägyptens, inklusive Beschreibungen ihrer Altertümer, ihrer Geographie und ihres Klimas. Mit diesen Themen bewegt sich Ibn Iya¯s nicht außerhalb der weit gesteckten Grenzen der hitat- und ʿagˇa¯ʾib-Literatur, was ˘˙ ˙ seiner Kompilation wohl den Ruf einer nachrangigen Abschrift eingetragen hat.

4.

Wissensordnung, oder: Das Inhaltsverzeichnis der ‚Nuzhat al-umam‘

Die Wissensordnung durch den Autor ist in der einleitenden Aufzählung bereits angeklungen. Der tatsächliche Aufbau der Schrift erscheint jedoch komplexer als die dort aufgeführte Gliederung in vier große Themenblöcke und verdient eine genauere Betrachtung, verspricht ihre Analyse doch einen detaillierteren Einblick in die vom Autor vorgenommene Gewichtung seiner Themen, die weit komplexer ist, als die oben zitierte Einleitung es vermuten lässt. Das Werk beginnt mit einer geographischen Eingrenzung seines Gegenstands. In der Einleitung erläutert und diskutiert der Autor das seiner Betrachtung zugrundeliegende islamische Weltbild, 50 Vgl. zur intertextuellen Kompilation zwischen verschiedenen Schriften des Ibn Iya¯s Kollatz 2019. 51 Wasserstein 1992, 99.

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das die Erde als eine Kugel kennt, sowie eine Einordnung von sechs ‚Himmelsrichtungen‘, die zusätzlich zu den vier uns bekannten auch „Himmel/Oben“ und „Erde/Unten“ umfasst. Zu jeder der vier Himmelsrichtungen wird zudem eine Eigenschaft angegeben, die wie eine Merkhilfe anmutet: Im Osten geht die Sonne auf, im Westen unter, im Norden steht der Polarstern, im Süden findet man Wüsten.52 Die Kugelform der Erde wird in einfachen Worten veranschaulicht: „Die Erde ist kugelförmig, wobei es heißt (wa qı¯la), sie habe nicht (exakt) das Aussehen einer Kugel. Sie schwebt in der Luft, mit all ihren Bergen und Meeren, all ihren Gebäuden und freien Flächen. Die Luft umgibt sie völlig, wie der Dotter das Eigelb.“53 Dieses kurze Zitat kann bereits als Beispiel für die minimalistische, aber durchgehend vorhandene Leserleitung in den ‚Nuzhat al-umam‘ dienen. Mit dem unscheinbaren Einschub wa qı¯la („es wurde gesagt“) markiert der Autor das präsentierte Wissen als eine Information, die er aus einer nicht näher benannten Quelle übernommen hat. Dies differenziert den Inhalt von solchen Informationen, die mit einer genaueren Quellenangabe versehen präsentiert werden. Nach dieser recht einfachen und plakativen Einführung in den Worten der Erzählinstanz folgen nun direkte und indirekte Zitate aus verschiedenen geographischen Schriften, die sich mit der Position der Erde im Himmelsmodell befassen sowie mit verschiedenen Modellen zur Einteilung der Erdoberfläche. Schließlich kommt der Erzähler auf die im islamischen Kontext verbreitete Vorstellung, die Erdoberfläche sei in sieben Regionen, genannt ‚Klimata‘ (arab. iqlı¯m, pl. aqa¯lı¯m), aufgeteilt.54 Es folgen grob überblicksartige Angaben zur geographischen und meteorologischen Beschaffenheit der einzelnen Regionen sowie zu ihrer Besiedlung mit Städten und Dörfern. Aus dieser weiten Vogelperspektive ‚zoomt‘ der Text sodann auf seinen eigentlichen Gegenstand Ägypten und grenzt ihn geographisch ein, indem er auf angrenzende Meere (Mittelmeer, Rotes Meer) und die Abgrenzung des ägyptischen Territoriums am Westrand des Sinai eingeht. Auf diese geographische Definition der Außengestalt des Territoriums folgt ein Kapitel zu seiner inneren Gestalt, in dem die verschiedenen Regionen Ägyptens und ihre Grenzen erläutert werden. Das gesamte Narrativ wird durch diese Anfangsrahmung, die den Leser gleichsam aus dem All bis nach Ägypten führt, auf den Hauptgegenstand enggeführt. Der Leser erhält nicht nur ein präzises Verständnis vom Gegenstand der Schrift, sondern auch ‚kontextualisierende‘ Informationen. So wird durch die einleitende Diskussion der Gestalt, Geographie und Erschließung der verschiedenen Klimata durch den Menschen implizit verdeutlicht, dass andere Weltgegenden nach ähnlichen Kategorien betrachtet werden können, wie es der folgende 52 Zaynahum 1995, 10. 53 Ebd., 11. 54 Einen Überblick über den Ursprung und die Verbreitung dieser Theorie gibt André Miquel, Iklı¯m, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573˙ 3912_islam_SIM_3519 (29. 01. 2019).

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Text für Ägypten anbietet. Der Haupttext erscheint als vertiefte Beschreibung einer Weltgegend, die den Gegenstand mit anderen Gegenden vergleichbar macht. Obwohl dies nicht expliziert wird, präsentiert der Text Ägypten allerdings als ein besonders bemerkenswertes Land, das sich durch eine charakteristische Natur und Geographie, Vorzüge und ‚Wunder‘ sowie eine spezifische Besiedlung und Beherrschung durch den Menschen vor den anderen Weltgegenden auszeichnet. Dieser impliziten Argumentation folgend schließen sich drei einführende Kapitel zu den Vorzügen (fada¯ʾil) Ägyptens, zur Charakteristik der ägyptischen Bevölke˙ rung, sowie zu den Wundern (ʿagˇa¯ʾib) Ägyptens an. Mit diesen drei überblicksartigen Abschnitten werden drei Hauptthemen der Abhandlung aufgegriffen. Nach diesem ersten Teil, der gewissermaßen als einleitender Überblick aufgefasst werden kann, folgen wiederum drei Kapitel über die ʿagˇa¯ʾib Ägyptens, wobei der Terminus hier ausschließlich die aus altägyptischer Zeit erhaltenen Altertümer meint. Dieser Abschnitt korrespondiert also mit Kategorie 1 aus der einleitenden Aufzählung. Es folgen dreizehn Kapitel über den Nil, entsprechend Kategorie 3 in der Einleitung. Nach einer Einführung, die seine guten Eigenschaften (fada¯ʾil) ausführt, folgt eine Mischung aus geographisch-potamologi˙ schen Kapiteln, etwa über die jährliche Nilflut, die Pegelmessung oder über den Einfluss besonderer Wetterlagen. Dazwischen finden sich aber auch eine Sammlung von Versen, die die Rolle des Nils beim Jüngsten Gericht thematisieren, sowie ein Thema „Lob und Tadel des Nilwassers“55 und schließlich ein Kapitel über die Besonderheiten (ʿagˇa¯ʾib) des Nils, wobei der Terminus hier bemerkenswerte Eigenschaften im Allgemeinen bezeichnet. Hier sehen wir, abgesehen von den einleitenden Abschnitten zur Eingrenzung des Territoriums, eine erste Abweichung von der in der Einleitung gegebenen Systematik. Die Interessenkategorie 2, die Geschichte und Herrschaftsgeschichte Ägyptens betrifft, bleibt hier zunächst im Hintergrund. Es folgt nämlich eine Sammlung von Versen verschiedener Dichter, die Ägyptens Gestalt, Namen oder Vorzüge thematisieren, bevor eine Gruppe von drei Kapiteln sich mit der Geschichte und Wirtschaft Ägyptens „am Anfang der Zeit“ befasst, womit das pharaonische Ägypten gemeint ist. Von der pharaonischen Herrschaft springt der Text zu einer Gruppe von zehn Kapiteln, die sich mit der islamischen Eroberung Ägyptens, der Ansiedlung arabischer Stämme, der Landwirtschaft und ihren Erträgen in dieser Zeit sowie detailliert mit Verwaltungsorganen, Steuererhebung und dem Heer unter der frühen islamischen Herrschaft befasst. Dieser Teil, der im Fokus des vorliegenden Beitrags steht, schließt mit einem recht ausführlichen Kapitel über die Steuererhebung in Ägypten. Das System wird als islamische Erfindung präsentiert, die

55 Zaynahum 1995, 101–104.

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der Kalif ʿUmar b. al-Hatta¯b in Ägypten eingeführt haben soll.56 Neben der ˘ ˙˙ Darstellung von Entstehung und Funktion des Systems werden, nach Herrschern geordnet, auch das jährliche Steueraufkommen und gelegentlich weitere Informationen in anekdotischer Form zusammengetragen. Je näher diese Aufstellung der Lebenszeit des Autors kommt, desto detaillierter werden die Angaben. Die dreizehn vorgenannten Kapitel stellen somit den ersten Bezug zu Kategorie 2 dar. Mit 16 von 282 Seiten der Edition nimmt diese Darstellung der islamischen Administration Ägyptens jedoch vergleichsweise wenig Raum ein. Es folgt wiederum eine Gruppe von drei Kapiteln, die sich erneut den Pyramiden und der Sphinx widmen (Kategorie 1). Auch hier ist die Sammlung von Aussprüchen und Gedichten zum Thema Teil der Abhandlung. Es folgt ein Kapitel über Gebirge. Die nun folgende Gruppierung ist die längste thematisch zusammenhängende Folge von Kapiteln in ‚Nuzhat al-umam‘, die dem Werk die Charakterisierung als „geographical and administrative dictionary“ eingetragen hat.57 Nach einem allgemeinen Kapitel „über die Städte Ägyptens“58 folgen über fünfzig Kapitel auf 54 Seiten der Edition, die sich mit der Beschreibung einzelner Städte und Regionen sowie prägnanter Bauwerke oder Naturformationen befassen (Kategorie 4). Die Aufmerksamkeit gilt dabei besonders zentralen Orten oder Regionen, die wirtschaftlich und für die Herrschaftsausübung wichtig oder für besondere Sehenswürdigkeiten (ʿagˇa¯ʾib) bekannt sind. So erhält die Stadt Alexandria acht Kapitel, die von Beschreibungen verschiedener Monumente (Leuchtturm, Stadion) über eine Sammlung von Versen zum Thema Alexandria bis hin zu einer Darstellung der muslimischen Eroberung der Stadt und schließlich der umliegenden Gewässer reicht. Im Gegensatz dazu steht die Abhandlung von Orten, zu denen der Autor nur wenige Informationen mitzuteilen hat, sodass mehrere solcher ‚Kapitel‘ auf einer Editionsseite Platz finden. An zwei Stellen innerhalb dieser Gruppierung wird nochmals auf Herrschaftshandeln Bezug genommen; dort finden sich zusätzlich zur allgemeinen Beschreibung der Städte und ihrer Charakteristika auch Angaben von ein bis zwei Seiten Länge zur muslimischen Eroberung.59 Die letzte thematische Gruppe von sieben umfänglichen Kapiteln befasst sich mit dem koptischen Kalendersystem, das für die ägyptische Landwirtschaft von besonderer Bedeutung ist. Das Thema wird zunächst historisch 56 ʿUmar ibn al-Hatta¯b (r. 634–644) ist der zweite Kalif des Islam. In seiner Regierungszeit ˘ ˙˙ wurde die frühislamische Eroberung vorangetrieben, auch gilt er als treibende und strukturierende Kraft hinter der Etablierung der frühen islamischen Herrschaft. Informationen über ʿUmar b. al-Hatta¯b sind vornehmlich in Form von Legenden auf uns ge˙ ˘ ˙widersprechen kommen, die Überlieferungen sich zum Teil. Giorgio Levi Della Vida/ Michael Bonner, ʿUmar (I) b. al-K̲h̲atta¯b, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition ˙ ˙ (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_7707 (22. 02. 2019). 57 Guo 1997, 21. 58 Zaynahum 1995, 162f. 59 ‚Nuzhat al-umam‘ Ms. Istanbul, f. 212b.213a; f. 157a–159a; Zaynahum 1995, 232, 179f.

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beleuchtet, beginnend mit dem Verhältnis der römischen Kaiser Diokletian und Konstantin zu den Kopten und ihrem Kalender.60 Zwei Kapitel erläutern die Struktur von Wochen und Monaten, beziehungsweise die Jahresfeste der koptischen Christen in Ägypten. Ein weiteres Kapitel legt die Zusammenhänge zwischen koptischem Kalender und Landwirtschaft dar und erläutert das mit dem Kalender überlieferte traditionelle Wissen und den Nutzen dieses althergebrachten Systems. Zwei Kapitel gehen schließlich auf das Verhältnis zwischen koptischem Kalender und Islam ein, wobei ein Kapitel die Äußerungen islamischer Gelehrter (ʿulama¯ʾ) zu dem Thema sammelt und ein weiteres sich mit der Umrechnung ins islamische Kalendersystem befasst. Am Ende dieses Kapitels schließt sich nahtlos der Kolophon an. Die Betrachtung der Makrostruktur des Textes zeigt, dass der Autor sich zwar grob an den vier in der Einleitung angesprochenen Themenfeldern orientiert, diese in der Kapitelorganisation aber verschieden kombiniert. Das Werk folgt keinem einheitlichen Ordnungssystem, sondern springt relativ frei zwischen den Themen. 60 Qibt ist die arabische Bezeichnung für die der koptischen Kirche angehörigen ägyptischen ˙ Christen. Zur Herkunft des Terminus existieren verschiedene Ansichten, so wird er auf das Griechische aigyptos zurückgeführt, wodurch ‚koptisch‘ in seiner ursprünglichen Bedeutung als synonym zu ‚ägyptisch‘ verstanden werden muss. Semitische Quellen und auch die meisten arabischen Schreiber führen den Begriff auf Kuftaim, einen Enkel Noahs zurück, der als Erster das Niltal besiedelt haben und seinen Namen in der Stadt Quft oder Guft nahe dem ˙ heutigen Luxor verewigt haben soll. Kopten waren wohl schon den vorislamischen Arabern als Handelspartner bekannt. In der Geschichte des Propheten Muhammad sind sie durch die Mutter seines einzigen, als Kind verstobenen Sohns, Maryam ˙(oder Ma¯rı¯ya) al-Qubt¯ıya ˙ ¯ s und den späteren vertreten. Den arabisch-muslimischen Eroberern unter ʿAmr ibn al-ʿA ˙ muslimischen Herrschern Ägyptens galten die Kopten durch ihren monotheistischen Glauben legitimiert als Schutzbefohlene (ahl ad-dimma), die gegen Zahlung der Kopfsteuer ¯ ¯ (gˇizya) Schutz und (relativ) freie Religionsausübung unter muslimischer Herrschaft erwarten konnten. Hierin ist auch der Grund für die koptische Offenheit für die muslimischen Eroberer zu sehen. Während unter byzantinischer Herrschaft die Durchsetzung des byzantinisch-chalcedonischen Bekenntnisses und die byzantinische Steuerpolitik als Unterdrückung aufgefasst wurden, boten die muslimischen Eroberer eine weitaus liberalere Haltung gegenüber der Bevölkerung. Trotzdem kam es in der Geschichte muslimischer Herrschaft in Ägypten immer wieder zu Diskriminierung und Verfolgung von Kopten. Die Geschichte der Kopten hat Eingang in viele arabische Historiographien der Mamlukenzeit gefunden. Vgl. für eine deutsche Übersetzung der Kopten-Geschichte des al-Maqrı¯zı¯: Taqı¯ ad-Dı¯n al-Maqrı¯zı¯, Ahba¯r Qibt Misr. Macrizi’s Geschichte der Copten, ed. und übers. v. Ferdinand Wüstenfeld, ˙1896. ˙ Siehe auch Aziz S. Atiya, Kibt, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition ˘ Göttingen ˙ ˙ (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_4358 (05. 03. 2019) und für einen Überblick über die Geschichte der orientalischen Nationalkirchen Caspar D. G. Müller, Geschichte der Orientalischen Nationalkirchen: Ein Handbuch, Göttingen 1981. Der Koptische Kalender geht auf altägyptische Kalendersysteme zurück, die schon in altägyptischer Zeit essenziell für die Bestimmung der jährlichen Nilflut und damit für die Organisation der Landwirtschaft waren. Er folgt der diokletianischen Ära (n. Chr.) mit der Epoche 29. August 248. Zum Koptischen Kalender siehe Wolfgang Kosack, Der koptische Heiligenkalender. Deutsch-Koptisch-Arabisch, mit Index Sanctorum koptischer Heiliger, Index der Namen auf Koptisch, koptischer Patriarchenliste, geografischer Liste, Basel/Berlin 2015.

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Daraus ergibt sich eine eher unruhige Struktur, die durch die lose Abfolge thematisch zusammenhängender Kapitelgruppen dominiert wird. Der erste Teil des Werkes (bis zur Städteaufzählung) erscheint chronologisch geordnet, wobei der eingeschobene Block aus Kapiteln zum Thema Nil die chronologische Folge durchbricht. Darüber hinaus bietet der Text keineswegs eine erschöpfende Darstellung der Geschichte Ägyptens, sondern setzt den Schwerpunkt auf zwei Epochen, nämlich das alte Ägypten einerseits und die Zeit nach der islamischen Eroberung andererseits. Daneben fallen besonders der recht weit vorn im Text erscheinende Block zum Thema Nil sowie der aufgrund seines Umfangs dominante, geographisch geordnete Block zu Städten und Regionen ins Auge. Die restlichen Themenkategorien gruppieren sich um diese großen Blöcke herum, bzw. durchdringen sie zum Teil, etwa in Form eines Kapitels über dieʿagˇa¯ʾib einer Stadt, die guten Eigenschaften des Nils, etc. Der abschließende Themenblock zum koptischen Kalender wirkt wenig in das Gesamtwerk eingebunden. Angesichts dieser thematisch verflochtenen Makrostruktur erscheint es schwierig, Aussagen über die Gewichtung der Themen zu treffen; die Reihenfolge ihres Erscheinens im Text ist als Kriterium jedenfalls nicht geeignet. Hilfreich kann es daher sein, das Verhältnis der Themen untereinander anhand des Raumes zu analysieren, der ihnen insgesamt im Werk eingeräumt wird. Die folgende Tabelle zeigt die Themengewichtung nach Anzahl der vom jeweiligen Thema eingenommen Seiten im gesamten Text an. Dabei muss beachtet werden, dass durch Kombination von Themen und/oder Strukturmerkmalen (z. B. dicta über den Nil) Überschneidungen entstehen können. Außerdem enthalten die beiden großen Blöcke zu den Städten und zu den Kopten jeweils thematische Anteile der anderen Kategorien, so dass auch der Umfang nur Näherungswerte liefern kann. So enthält der Städte-Block in weiten Teilen geographische Informationen und auch innerhalb der Kapitel findet sich Material zu anderen Kategorien, etwa zu ʿagˇa¯ʾib einzelner Städte. Der Block zu den Kopten und ihrem Kalendersystem enthält zwei Kapitel zur Herrschaft der römischen Kaiser Diokletian und Konstantin, die mit der Entstehung des koptischen Kalenders in Verbindung gebracht werden. Darüber hinaus enthält ein Kapitel dicta zum Kalendersystem. Städte 54 Kopten, Kalendersystem 49 Geographie 48 ʿAgˇa¯ʾib 44 Herrschaft/Administration 23 Dicta/Verssammlungen 14 Sonstige 10 Geschichte allgemein 7 Fada¯ʾil 5 ˙ Abb. 1: Addierter Seitenumfang der Kategorien

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Der Vergleich zeigt aber recht deutlich einen Schwerpunkt auf unter geographischen Aspekten geordneter Wissenspräsentation. Zwischen den vier umfangreichsten Themen und den weiteren ist ein deutlicher Abstand zu erkennen. So stehen die im Titel des Werkes angekündigtenʿagˇa¯ʾib mit 43 Seiten an vierter Stelle. Die Thematisierung von Herrschaft und Administration an fünfter Stelle erhält dagegen nur halb so viel Raum. Damit steht ‚Nuzhat al-umam‘ im deutlichen Gegensatz zu den historiographischen Werken des Ibn Iya¯s, in denen Herrschaft und ihre Interaktion mit der Gesellschaft andere Themen dominieren und auch als ordnende Elemente die Makrostruktur der Texte prägen.61

5.

Auszug aus ‚Nuzhat al-umam‘

Die folgende Übersetzung umfasst die beiden einleitenden Kapitel des Textblocks zur islamischen Herrschaft in Ägypten. Der hier präsentierte Ausschnitt befasst sich mit der Etablierung islamischer Herrschaft in Ägypten und leitet auf die Beschreibung der technischen Umsetzung dieser Herrschaft hin, die sich in den folgenden Kapiteln anschließt.62 „[129] Bericht darüber, was die Muslime bei der Eroberung Ägyptens taten Ha¯ˇsim ibn Abı¯ Ruqaya63 berichtet: ¯ s64 Ägypten eroberte, sagte er zu den ägyptischen Kopten: ‚Wenn Als ʿAmr ibn al-ʿA ˙ 61 Ibn Iya¯s legt seine Chroniken zwar primär chronologisch an. Parallel gliedert er sowohl in ˇ awa¯hir as-sulu¯k fı¯ amr al-hulafa¯ʾ wa l-mulu¯k,‘ (‚Edelsteine über die Sitten und seinen Werken ‚G ˘ in ‚ʿUqu¯d al-gˇuman fı¯ waqa¯ʾiʿ al-azman‘ (‚PerGebräuche der Kalifen und Könige‘) als auch lenketten über die Ereignisse der Geschichte‘) sowie ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ nach Dynastien und, eine Gliederungsebene darunter, auch nach einzelnen Sultanen. Eine Übersicht über die Ibn Iya¯s zugeschriebenen Werke sowie bekannte Handschriften, Editionen und ggf. Übersetzungen gibt Winter 2007. Zwei der hier genannten Texte sind ediert, während ‚ʿUqu¯d al-gˇuman‘ als unediertes Manuskript vorliegt. Die ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ sind zudem teilweise übersetzt. Für die ˇ awa¯hir as-sulu¯k fı¯ amr al-hulafa¯ʾ wa l-mulu¯k, erstgenannten Texte vgl. Muhammad Ibn Iya¯s, G ˘ ˇuman fı¯ waqa¯ʾiʿ ed. Muhammad Zaynahum,˙ Kairo 2006; Muhammad Ibn Iya¯s, ʿUqu¯d al-g ˙ Ms. Istanbul, Süleymaniye Kütüphanesi, ˙ al-azman, Ayasofya 3311. 62 Die hier präsentierte Übersetzung ist meine eigene. Sie basiert auf dem arabischen Text in Zaynahum 1995, 129–132. An die beiden Kapitel schließen sich im Text acht weitere Kapitel zur islamischen Herrschaft an. Vgl. Zaynahum 1995, 132–145. 63 Nicht identifiziert. ¯ s (st. 662 oder 664) wird zu den Gefährten des Propheten gezählt, auch wird ihm 64 ʿAmr b. al-ʿA ˙ die Übermittlung einiger Überlieferungen von Aussprüchen des Propheten (hadı¯t) zuge¯ schrieben. Er war an der Eroberung von Syrien beteiligt und nahm an der ˙Schlacht am Yarmu¯k 636 teil, mit der die islamische Herrschaft über die Region gefestigt wurde. ʿAmr war maßgeblich für die Eroberung und Unterwerfung Ägyptens von 19/640 bis 21/642 unter dem Kalifen ʿUmar (r. 634–44) verantwortlich. Er regierte Ägypten als erster Statthalter, bis der Kalif ʿUtma¯n (r. 644–56) ihn von der Position entfernte. Er gründete die Stadt al-Fusta¯t ¯ (Alt-Kairo) und baute dort eine Moschee, die noch heute seinen Namen trägt. Khaled M. ˙G.˙

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¯s einer einen Schatz bei sich (versteckt), so wird er getötet.‘ Da trug man ʿAmr ibn al-ʿA ˙ zu, ein Kopte aus Alexandria namens Butrus65 besäße einen Schatz. Daraufhin schickte ˙ er nach ihm und sagte zu ihm: ‚Mir wurde zugetragen, dass du einen Schatz hast!‘ Er leugnete und stritt es ab, darum warf (ʿAmr) ihn ins Gefängnis. Er fragte seine Aufseher: ‚Habt ihr ihn einmal nach einem seiner Freunde fragen hören?‘ Sie antworteten: ‚Nein, aber wir hörten, wie er nach einem Mönch aus Tu¯r verlangte.‘ Da schickte ʿAmr nach ˙ Butrus und befahl ihm, seinen Siegelring abzuziehen. Er zog ihn ab und gab ihn ʿAmr. ˙ Da schickte ʿAmr eine Nachricht in Butrus’ Namen an jenen Mönch in Tu¯r. (Die ˙ ˙ Nachricht) lautete wie folgt: ‚Schicke mir das, [130] was ich dir anvertraut habe!‘ Da schickte der besagte Mönch ein verplombtes Döschen. ʿAmr öffnete es und fand darin ein Blatt, auf dem geschrieben stand: ‚Euer Besitz ist unter dem großen Brunnen.‘ Da ließ er das Wasser ab und riss die großen Steinplatten heraus, die den Grund befestigten und fand darunter 52 irdabb66 ägyptische Goldmünzen. Da ließ ʿAmr den Butrus vor˙ führen und am Tor der Moschee hinrichten. Danach fürchteten alle Kopten um ihr Leben, weshalb jeder, der einen Schatz besaß, ihn ʿAmr übergab. Wer das nicht tat, dem erging es so wie Butrus.67 ˙ Bericht darüber, wie die Araber sich in Unterägypten ansiedelten und wie sie die Landwirtschaft aufnahmen Al-Kindı¯68 berichtet: Als al-Walı¯d b. Rifa¯ʿa al-Fahmı¯ Statthalter (walı¯) von Ägypten war,69 zog der Stamm der Banu Qais nach Ägypten, und zwar im Jahr 108/726–727. Vorher hatte noch niemand von ihnen Ägypten betreten.

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¯ s, in: Encyclopaedia of Islam, THREE (2010), http://dx.doi.org/10.1163/ Keshk, ʿAmr b. al-ʿA ˙ 1573-3912_ei3_COM_23067 (15. 02. 2019). Butrus ist die arabische Form von Petrus. Die Figur ist ein fiktionaler Charakter, der exem˙ plarisch für die als reich charakterisierten Kopten steht. Ein in Ägypten übliches Trockenhohlmaß. Die genaue Bestimmung des Volumens ist schwierig und variiert, für das 15. Jhd. hält Hinz jedoch ein Volumen von ca. 90 l bzw. 69,6 kg Weizen für wahrscheinlich. Walter Hinz, Islamische Maße und Gewichte umgerechnet ins metrische System (Handbuch der Orientalistik 1), Leiden 1970, 39f. Die hier überlieferte Anekdote zitiert auch Ferdinand Wüstenfeld, Die Statthalter von Ägypten zur Zeit der Chalifen, 4 Bde., Göttingen 1875–1876, Bd. 1, 13f., Anm. 2, allerdings ohne eine Quellenangabe. Während der koptischen Bevölkerung, nachdem diese sich nach anfänglichen Kämpfen freiwillig unterworfen hatte, der Status von ahl al-dimma (Schutz¯ befohlenen, die gegen Zahlung einer jährlichen Kopfsteuer ihren Glauben weiter praktizieren durften) gewährt worden war, stand die Unterschlagung großer Vermögen zur Vermeidung einer Besteuerung unter Strafe, Wüstenfeld 1875–1876, Bd. 1, 13. Der ägyptische Historiograph, geb. 10 Du ’l-Higˇgˇa 283/18.1.897, gest. 3 Ramada¯n 350/ ¯ ˙ ˙ Werk 16.10.961. Erhalten sind seine Geschichte der Statthalter und Richter Ägyptens, sein wurde in der Mamlukenzeit noch breit rezipiert. Franz Rosenthal, al-Kindı¯, Abu¯ ʿUmar Muhammad, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition: Brill (2012), http://referenceworks. ˙ brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/al-kindi-abu-umar-muhammad-SIM_4 379 (08. 02. 2019). Für seine weiteren Schriften siehe GAL I, 155f., Supplement I, 229f.; Fuat Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, Frankfurt am Main 1967–2000, I, 358. Ebenfalls auf al-Kindı¯ verweisend nennt Cooper al-Walı¯d als Statthalter von Ägypten in den Jahren 727–735. John P. Cooper, The medieval Nile. Route, navigation, and landscape in Islamic Egypt, Kairo 2014, 232. Siehe auch Wüstenfeld 1875–1876, Bd. 1, 40f.

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Es heißt (wa qı¯la): Als Abu¯ Isha¯q b. ar-Rasˇ¯ıd70 aus dem Irak nach Ägypten zog und sich ˙ dort im al-hauf 71 niederließ, schickte er nach den Ortsansässigen. Sie verweigerten aber ˙ den Gehorsam (die Unterwerfung), weshalb er sie bekämpfte. Jedoch konnte er sie nicht besiegen und kehrte in den Irak zurück. Im (Monat) Muharram des Jahres 215/830 ˙ wurde das Land vollständig erschüttert durch die Beduinen und Kopten. Sie erhoben sich gemeinsam, ließen die Arbeit liegen und rebellierten wegen der schlechten Behandlung, die sie durch den Sultan erfahren hatten. Die Kämpfe zwischen ihnen und der Armee von al-Fusta¯t hielten an, bis der Kalif al-Maʾmu¯n72 im Jahr 217/832 nach Ägypten ˙ ˙ einrückte. Er war wütend auf ʿI¯sa¯ b. Mansu¯r ar-Rifa¯ʿı¯, den amtierenden Emir von ˙ Ägypten, und befahl, dessen Banner einzurollen.73 Er sagte zu ihm: ‚Diese großen Probleme sind nur auf dein Handeln zurückzuführen, und dein Handeln ist dafür der Auslöser, dass sie (das Heer) Leute angegriffen haben, denen sie nicht gewachsen waren. Dann hast du mir die Nachricht vorenthalten, bis die Sache richtig ungemütlich wurde und das Land in Aufruhr geriet!‘ Dann zog er das Heer zusammen und schickte es mit ihm (dem Statthalter) nach Alexandria, während er selbst nach Saha¯74 zog und (den ˘ Emir) Afsˇ¯ın75 gegen die Kopten entsandte. Diese hatten sich gerade in Rebellion er76 ˇ hoben. Er griff sie in der Nähe von Basru¯d an und ließ nicht von ihnen ab, bis er sie besiegt und gefangengenommen hatte. Als (die Kopten) vor al-Maʾmu¯n gebracht worden waren, ließ er die Männer töten und die Frauen und Kinder (in die Sklaverei) 70 Abu¯ Isha¯q Muhammad b. ar-Rasˇ¯ıd (796–842) folgte seinem Bruder al-Maʾmu¯n als achter ˙ Abbasiden ˙ Kalif der unter dem Thronnamen al-Muʿtasim bi-lla¯h und hielt dieses Amt von ˙ 833–842. Zuvor war er 828 von al-Maʾmu¯n zum Statthalter von Ägypten ernannt worden. Während seines Gouvernorats kam es zu Rebellionen aufgrund von Steuererhebungen, die Abu¯ Isha¯q schließlich dazu zwangen, nach Bagdad zurückzukehren. Clifford E. Bosworth, ˙ im Bi ’lla¯h, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi.org/10. al-Muʿtas ˙ 1163/1573-3912_islam_SIM_5656 (06. 03. 2019). 71 Flachland östlich der Stadt al-Fusta¯t (Alt-Kairo, die damalige Hauptstadt des Gouvernorats. ˙ ˙ Das dem modernen Kairo den Namen gebende al-Qa¯hira wurde erst 969 von dem fatimiˇ dischen Feldherrn Gauhar as-Siqillı¯ neben al-Fusta¯t gegründet). ˙ ˙ 72 Al-Maʾmu¯n (r. 813–833), der siebte Kalif der Abbasiden. 73 Über die Affäre um die erfolglose Politik des Statthalters ʿI¯sa¯ b. Mansu¯r, die den Kalifen dazu ˙ bewog, selbst nach Ägypten zu ziehen und die Ordnung wiederherzustellen, berichtet Wüstenfeld 1875–1876, Bd. 2, 40f. 74 Stadt im Nildelta südlich von Kafr asˇ-Sˇaih, der heutigen Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernorats. Saha¯ ist als die altägyptische ˘Stadt Khaset oder Xois identifiziert worden, die ˘ möglicherweise schon zur Zeit des Alten Reichs besiedelt war. Karl Jansen-Winkeln, Xois, in: Der Neue Pauly, Stuttgart 2002, Bd. 12/2, Sp. 650f. 75 Wüstenfeld identifiziert den Emir als al-Afsˇ¯ın Haidar ibn Qawu¯s (Wüstenfeld 1875– ˙ 1876, Bd. 2, 40f.). Unter dem griechischen Namen Abuzachar hat er Eingang in byzantinische Quellen gefunden, vgl. al-Afsˇ¯ın Haidar ibn Ka¯wu¯s, in: Prosopographie der mittelbyzanti˙ https://www.degruyter.com/view/PMBZ/PMBZ11189 nischen Zeit. Berlin/Boston (2013), (06. 03. 2019). 76 Basˇru¯d (koptisch Pisharot) war eine Stadt im zentralen Nildelta, sie ist in Steuerlisten des 3.– 9. Jh. belegt. Wilson lokalisiert die Stadt ungefähr 15 km südlich der modernen Stadt Kafr asˇ-Sˇaih. Penelope Wilson, Landscapes of the Bashmur. Settlements and Monasteries in the ˘ Egyptian Delta from the Seventh to the Ninth Century, in: Harco Willems/ Northern Jan-Michael Dahms (edd.), The Nile. Natural and Cultural Landscape in Egypt, Bielefeld 2017, 345–368, hier 352.

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verkaufen. So hatte er erreicht, was er beabsichtigt hatte, und kehrte im (Monat) Safar ˙ nach Kairo zurück. Dann drang er nach Halwa¯n (am Mokattam) vor und kehrte zurück. ˙ Im Monat Safar zog er achtzehn Nachtlagerplätze weit und hielt sich insgesamt 49 Tage ˙ in al-Fusta¯t, Saha¯ und Halwa¯n auf. Die Steuererträge aus Ägypten betrugen in seiner ˙ ˙ ˙ ˘ Zeit 4.257.000 Dinar. Es heißt (wa qı¯la), dass als al-Maʾmu¯n in Ägypten über Land zog, [131] für ihn in jedem Dorf eine ebene Fläche bereitet wurde, auf der ringsherum die großen Zelte seines Heeres aufgeschlagen wurden. Er hielt sich Tag und Nacht in dem Zeltlager auf. Da kam er auch an ein Dorf, das wurde Ta¯ʾ an-naml77 genannt. Er betrat es nicht, weil es so arm ˙ war. Als al-Maʾmu¯n an dem Dorf vorbeizog, kam eine Greisin78 laut schreiend hinter ihm her, die unter dem Namen Ma¯rı¯ya al-Qubt¯ıya79 bekannt war, und die die Dorfobere ˙ war. (Weil sie so schrie), dachte al-Maʾmu¯n, sie bitte verzweifelt um Hilfe. Deshalb hielt er für sie an. Er war stets von Übersetzern aller Völker umgeben, wenn er unterwegs war. Diese erläuterten ihm, die Koptin sage: ‚Der Befehlshaber der Gläubigen (amı¯r al-muʾminı¯n)80 steigt in jedem Weiler ab und zieht an meinem vorbei, und die Kopten beschimpfen mich deswegen! Ich erbitte deshalb die Gnade des Befehlshabers der Gläubigen, er möge meinen Weiler beehren, indem er ihn betritt, damit mir Ehre und (keine) Strafe sei, und die Feinde mich nicht angehen!‘ Weil sie ganz fürchterlich weinte, hielt al-Maʾmu¯n für sie an, wendete sein Pferd und stieg bei ihr ab. Da kam ihr Sohn zum Küchenmeister (al-Maʾmu¯ns) und fragte, wieviel er an Hammel, Hühnchen, Geflügel und Fisch bräuchte, und wieviel an Koriander, Zucker, Honig, Moschus, an Kerzen, Früchten, Beeren und anderen Dingen, wie es sonst auch üblich war. Dann brachte er all das, und noch mehr. Mit al-Maʾmu¯n zusammen waren sein Bruder al-Muʿtasim und ˙ sein Sohn al-ʿAbba¯s sowie die Kinder seiner Brüder al-Wa¯tiq und al-Mutawakkil, au¯81 ßerdem Yahya¯ ibn Aktam und der Qad¯ı Ahmad b. Da¯wu¯d. Sie ließ jeden von ihnen ˙ ˙ ˙ 77 Der Ort ist nicht mehr lokalisierbar und vermutlich fiktiv. 78 Die Edition hat statt ʿagˇu¯z (Greisin, alte Frau) ʿagˇgˇu¯r (koll. für eine Melonenart), was allerdings im Textzusammenhang keinen Sinn ergibt und entweder auf einen Kopierfehler in der Edition oder dem Manuskript zurückzuführen ist. Das Motiv der reichen Frau oder Herrscherin, die dem Reisenden zunächst als arme alte Frau erscheint, ist z. B. auch aus Erzählungen wie Tausendundeine Nacht bekannt. 79 Auffällig ist die Namensgebung dieser fiktiven Figur, die stark an die koptische Konkubine des Propheten Muhammad, Maryam (oder Ma¯rı¯ya) al-Qubt¯ıya erinnert. Letztere wird in ˙ verschiedenen arabischen Quellen zum Leben des Propheten˙ erwähnt, so etwa in der Geˇ aʿfar at-Tabarı¯, The History of al-Tabari, 40 Bde., Bd. 9: The Last schichte des at-Tabarı¯: Abu¯ G ˙ ˙ ˙ ˙K. Poonawala, Albany 1990, 39 (Geburt ihres Sohnes Years of the Prophet, übers. v. Ismail Ibrah¯ım, der der einzige Sohn des Propheten war), 137, 141, 147 (Konkubine des Propheten). ˙ 80 Ehrentitel und Beiname der Kalifen. 81 Interessanterweise nennt Ibn Iya¯s die Brüder bzw. Neffen des zur Zeit der berichteten Ereignisse amtierenden Kalifen al-Maʿmu¯n nun bei ihren späteren Thronnamen. Al-Muʿtasim ˙ ist der achte Kalif der Abbasiden. Sein Sohn al-ʿAbba¯s konnte sich gegen seine Brüder nicht ˇ durchsetzen, sein Halbbruder Abu¯r Gaʿfar Ha¯ru¯n wurde unter dem Thronnamen al-Wa¯tiq ¯ (r. 842–847) der Nachfolger ihres Vaters al-Muʿtasim. Ein weiterer Halbbruder, Abu¯ l-Fadl ˙ ˙ Jaʿfar folgte ihm unter dem Thronnamen al-Mutawakkil ʿala¯ lla¯h (r. 847–861). Hugh Kennedy, al-Mutawakkil ʿAla¯ ’lla¯h, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx. doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_5658 (06. 03. 2019); Karl V. Zetterstéen/Clifford E. Bosworth/Emeri van Donzel, al-Wa¯t̲h̲ik Bi ’lla¯h, in: Encyclopaedia of Islam, Second ˙

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einzeln bewirten, und alle Anführer und sonstigen Leute (von den Gastgebern) waren unermüdlich dabei. Danach brachte sie al-Maʾmu¯n ein prächtiges Mahl und viele wohlschmeckende Dinge, bis es mehr als genug (für ihn) war (i. e. er nichts mehr essen konnte). Als es tagte und er schon zum Aufbruch geblasen hatte, wartete sie ihm (noch einmal) auf. Da hatte sie zehn Dienerinnen bei sich, deren jede einen Teller trug. Als al-Maʾmu¯n sie erblickte, sagte er zu denen, die bei ihm standen: ‚Die Koptin hat euch schon reich beschenkt mit dem kämpferischen, weiten (sahna¯h?) und geduldigen Un˙ ˙ terägypten.‘ Als sie ihm die Teller vorlegte, da war auf jedem Gold aufgehäuft. Das fand er von ihr so freundlich, dass er sie bat, (das Geschenk) zurück zu nehmen. Da sagte sie: ‚Nein, bei Gott! Das mache ich nicht!‘ Al-Maʾmu¯n betrachtete das Gold, und siehe, alle Münzen waren in ein und demselben Jahr geprägt worden. Er sagte: ‚Bei Gott, das ist sehr merkwürdig. Vermutlich wird unsere Schatzkammer gar nicht dazu in der Lage sein (das aufzunehmen).‘ Sie antwortete: ‚Oh, Beherrscher der Gläubigen! Das betrübt unsere Herzen, beleidige uns nicht!‘ Er erwiderte: ‚Vieles von dem, was du für uns getan hast, hätte auch alleine schon ausgereicht! Gott segne dich und deine Höflichkeit!‘ [132] Sie antwortete: ‚Oh, Beherrscher der Gläubigen! Dieses Gold ist wahrlich vom Boden und von deiner Gerechtigkeit genommen und ich habe noch sehr viel davon. Liefere mich meinen Feinden nicht aus, indem du es ablehnst!‘ Da nahm al-Maʾmu¯n es von ihr an, gab ihr eine Anzahl von Ländereien als iqta¯ʾ und schenkte ihr zweihundert Kamel˙ ladungen der Steuereinkünfte aus ihrem Dorf Ta¯ʾ an-naml (d. h. er gewährte ihr einen ˙ Steuernachlass im Wert von zweihundert Kamelladungen). Als er schließlich davonzog, war er höchst erstaunt ob ihrer großen Höflichkeit und ihres großen Wohlstands. Es heißt (wa qı¯la), al-Maʾmu¯n habe all dieses Gold persönlich mit vollen Händen an sein Heer verteilt. Möge Gott diesen reinen Seelen gnädig sein!“

6.

Erzählstruktur und Herrschaftsdarstellung

Die folgende Analyse konzentriert sich auf die zehn Kapitel, die sich mit der islamischen Herrschaft in Ägypten befassen.82 Auch für diesen Ausschnitt soll zunächst die Makrostruktur genauer betrachtet werden, bevor sich die Analyse schließlich auf den oben präsentierten Textauszug konzentrieren wird. Als Edition (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_7894 (06. 03. 2019). Yahya¯ ˙ ibn Aktam (st. 857) war als Rechtsgelehrter oberster Richter von Bagdad und gehörte zu den Vertrauten des Kalifen al-Maʾmu¯n. Clifford E. Bosworth, Yahya¯ b. Akt̲h̲am, in: Encyclo˙ paedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_ 7950 (06. 03. 2019). Ahmad b. Dawu¯d kann als der Gelehrte Abu¯ Hanı¯fa Ahmad b. Dawu¯d ˙ ˙ ist nicht viel ad-Dı¯nawarı¯ (st. 894–895 oder vor 902) identifiziert werden. Über˙ sein Leben bekannt. Es ist allerdings interessant zu bemerken, dass er in seiner Schrift ‚Ahba¯r at-tiwa¯l‘ (Nachrichten über die Großen) berichtet, al-Muʿtasim habe eigentlich seinen˘ später˙ ˙nicht ˙ berücksichtigten Sohn al-ʿAbba¯s zum Thronfolger ernannt. Andrew Marsham, Rituals of Islamic Monarchy. Accession and Succession in the First Muslim Empire, Edinburgh 2009, 266f.; vgl. auch Bernhard Lewin, al-Dı¯nawarı¯, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_1868 (06. 03. 2019). 82 Zaynahum 1995, 129–144.

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Hauptthemen können das Zusammentreffen und die Auseinandersetzung mit der koptischen ägyptischen Bevölkerung sowie die finanzielle Verwaltung der ägyptischen Provinzen isoliert werden. Der Großteil der betrachteten Kapitel setzt sich aus Erläuterungen der Herkunft, Benennung und Funktion verschiedener Verwaltungseinheiten, insbesondere der Steuerverwaltung und der Heeresbesoldung sowie Angaben zum Steueraufkommen unter den verschiedenen islamischen Herrschern zusammen. Der Text liefert allerdings keine erschöpfende Übersicht, sondern präsentiert auszugsweise Daten, die dichter und detaillierter werden, je näher die Regierungszeit des jeweiligen Herrschers an der Lebenszeit des Autors liegt. Die Übersichtskapitel beginnen mit Erläuterungen oder Definitionen der jeweils betrachteten Verwaltungseinheit, darauf folgt eine chronologische Abhandlung ihrer Geschichte. In allen Kapiteln werden weite Teile der Geschichte islamischer Herrschaft ausgelassen, dies allerdings nicht weiter thematisiert.83 In der Erläuterung der Herkunft und Funktion von Verwaltungseinheiten legt der Text Wert darauf, diese mit der islamischen Geschichte zu verknüpfen. Dazu wird jeweils in kurzer Beschreibung, selten durch knappe Anekdoten ergänzt, die Einführung der jeweiligen Verwaltungseinheit durch den Propheten Muhammad oder einen der ersten Kalifen beschrieben. ˙ Interessanter als diese Datensammlung erscheinen aus narratologischer Sicht allerdings die beiden Kopfkapitel der hier betrachteten Kapitelfolge. Der „Bericht darüber, was die Muslime bei der Eroberung Ägyptens taten“,84 und der „Bericht darüber, wie die Araber sich in Unterägypten ansiedelten und wie sie die Landwirtschaft aufnahmen“,85 etablieren die Anwesenheit der islamischen Herrschaft in Ägypten, über deren verwaltungstechnische Eigenheiten der Text im weiteren Verlauf Auskunft gibt. Charakteristisch für den gesamten Text ist seine Zusammensetzung aus Zitaten und Kompilaten, die durch teils nur aus wenigen Worten bestehende Überleitungspassagen verbunden werden. Dies gilt auch für die unten präsentierte Beispielpassage. Die überwiegende Zahl der Kapitel beginnt daher mit einer Quellenangabe, die den Namen des jeweiligen Quellenautors nennt. Im oben übersetzten Textauszug finden wir also etwa qa¯la al-Kindı¯ („al-Kindı¯ hat be-

83 So beginnt Ibn Iya¯s im Kapitel über die Steuereinteilung in Ägypten (Zaynahum 1995, 141– 145) mit einer Bemerkung zur Einführung des Systems durch ʿUmar b. al-Hatta¯b, springt ˘ ˙˙ dann über Ahmad b. Tu¯lu¯n (r. 868–884), dem Begründer der ersten vom abbasidischen Kalifat ˙ ˙ unabhängigen Dynastie in Ägypten, und dann weiter zu Sala¯h ad-Dı¯n b. Ayyu¯b (Saladin, ˙ in˙Ägypten und Syrien, die der r. 1171–1193), dem Begründer der ayyubidischen Herrschaft Mamlukenherrschaft unmittelbar vorausging. Auch zwischen den im Kapitel erwähnten Mamlukensultanen liegen nicht thematisierte Zeitsprünge. 84 Zaynahum 1995, 129f. 85 Ebd., 130–132.

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richtet/ w.: gesagt“); der Titel des zitierten Werks fehlt jedoch in fast allen Fällen.86 Diese Zitationspraxis ist für die Zeit üblich, ebenso wie die Tatsache, dass wörtliches Zitat und Paraphrasierung nicht voneinander abgegrenzt werden. Im Kapitel „Über die iqta¯s“87 wird die Einführung des Systems mit Überlieferungen ˙ aus der Zeit des Propheten Muhammad und der ersten Kalifen unterfüttert. Diese ˙ Überlieferungen (hadı¯t) werden mit den dafür charakteristischen Überlieferer˙ ¯ ketten (isna¯d) belegt, die jeweils dem eigentlichen Text voranstehen. Die drei zu Anfang des Kapitels zitierten Überlieferungen sind allerdings die einzigen in den hier betrachteten zehn Kapiteln. Häufig bleibt es bei einer namentlichen Erwähnung einer Quelle am Kapitelanfang. Im Zuge einer narratologischen Analyse, die auf die intratextuelle Erzählinstanz und die von ihr intendierte Leserleitung abzielt, ist die Frage nach Originalität jedoch sekundär. Vielmehr werden Zitate, Kompilate und eigene Formulierungen des Autors insgesamt als sein eigenes Narrativ betrachtet. Im weiteren Verlauf der Texte folgen weitere Einschübe der Erzählinstanz, die die überlieferten Informationen hinsichtlich ihrer Provenienz einordnen. Am häufigsten erscheint hier die Passivkonstruktion (wa) qı¯la („es heißt“; bzw. „[und] es wurde gesagt“).88 Diese Konstruktion kann als Rückbezug auf die anfängliche Quellenangabe interpretiert werden. Im Abgleich mit der Zitierweise, die Ibn Iya¯s in seinen anderen Werken anwendet, liegt es jedoch nahe, sie als Ankündigung eines nicht belegten Zitats oder als Einleitung einer oral tradierten Nachricht zu interpretieren.89 Abgesehen von Ein- und Überleitungen finden sich im hier betrachteten Auszug zwei direkte Leseransprachen, die auf besonders wichtige Wissensinhalte hinweisen und den Leser mit dem Imperativ iʿlam 86 Ein Beispiel für die Quellenangabe mit Titel des zitierten Werkes findet sich zu Beginn des Kapitels „Über die Arten, die in Ägypten angebaut werden“ (Zaynahum 1995, 138). 87 Vgl. Zaynahum 1995, 135. Hier: Die Einteilung des Landes in Steuereinheiten. Iqta¯ʿ (Zu˙ teilung) bezeichnet die Vergabe von Konzessionen, die den jeweils Begünstigten dazu ermächtigten, in dem ihm zugeteilten Landstrich Steuern, Abgaben und Zölle auf eigene Rechnung einzutreiben. Darüber hinaus bezeichnet iqta¯ʾ auch die jeweils zugeteilte Steuer˙ kleiner ausfiel. Das System wurde einheit, die je nach Position des Begünstigten größer oder im 9. Jhd. zunächst für das abbasidische Heer eingeführt und fand später im Irak, Syrien und Ägypten Anwendung. Ähnliche Systeme der Militärbesoldung finden sich unter anderen Namen auch in der persophonen islamischen Welt, bis nach Indien (z. B. das mansab-System im Mogulreich). Begünstigte der iqta¯ʾ in Ägypten waren Militärangehörige, die˙ als Gegenleistung für die Gewährung des iqta˙¯ ʾ eine bestimmte Anzahl an Soldaten zu stellen hatten. ˙ Nicht nur in der Mamlukenzeit, sondern auch in ähnlich gebauten Besoldungssystemen ging die Tendenz dahin, dass bei schlechter werdenden Erträgen die zunächst temporär vergebenen Landzuweisungen in den Besitz der Begünstigten übergingen. In der Mamlukenzeit führte dies schließlich sogar zur Einrichtung einer speziellen Verwaltungsabteilung, die für den Verkauf von iqta¯ʾ-Land zuständig war. Vgl. Cahen 2012. ˙ 88 Vgl. die relativ häufige Einleitung von Abschnitten im Textauszug unten; mit wa qı¯la eingeleitete Passagen sind zur Verdeutlichung als eigene Abschnitte abgesetzt. 89 Zur Zitierweise in ‚Bada¯ʾiʿ az-zuhu¯r‘ vgl. Al-Amer 2016, 376–431, besonders 418–421.

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(„wisse; merke“) dazu auffordern, diese zu memorieren. So endet das Kapitel „Über den diwa¯n“90 mit einer Art Merksatz: „Merke: Die Verwaltung (kita¯ba) des diwa¯n ist in drei Abteilungen unterteilt, nämlich den Heeres-diwa¯n, den Steuerdiwa¯n und den diwa¯n für Briefe und Urkunden. Keine Herrschaft der Welt kann auf diese Dreiteilung verzichten.“91 Trotz dieser Hinweise auf instruktive Leserleitung muss die Erzählinstanz der ‚Nuzhat al-umam‘ als sehr distanziert beschrieben werden. Direkte Leseransprachen oder den Leser leitende Kommentare fehlen fast völlig, so wertet die Erzählinstanz an keiner Stelle offen die Handlungen von Figuren oder die Bedeutung von Ereignissen. Auch flicht der Autor keine intratextuellen Querverweise ein, wie er es in späteren Schriften tut. Die beiden hier in Übersetzung präsentierten Kapitel unterscheiden sich von den folgenden acht deutlich in ihrer Erzählstruktur. Während letztere knappe Vermittlung von Daten und Fakten betreiben und damit weite Zeiträume abdecken – wenn auch lückenhaft – richtet sich der Fokus des Narrativs in den hier übersetzten Kapiteln auf Momentaufnahmen der Geschichte der islamischen Herrschaft über Ägypten. Aufzählungen fehlen fast völlig, es sei denn, sie erfüllen eine narrative Funktion. Daten und Zahlen werden zwar in das Narrativ eingeflochten, jedoch zusammengefasst und eher am Rande erwähnt. Der Fokus beider Kapitel liegt auf exemplifizierenden Anekdoten, die die erste Begegnung und Interaktion der islamischen Herrscher und ihrer Stellvertreter mit den ägyptischen Kopten dem Leser lebendig vor Augen führen. Dabei nähern sich Erzählzeit und erzählte Zeit relativ weit aneinander an. Dialogische Szenengestaltung und zum Teil sehr detaillierte Handlungsbeschreibungen dienen dazu, die Interaktion der Figuren plastisch herauszuarbeiten. Dabei zeichnet sich insbesondere die letzte Anekdote über al-Maʾmu¯n und die Koptin Ma¯rı¯ya durch eine lebendige und detailreiche Erzählstruktur aus, während die Anekdote im ersten Kapitel sowie der eher historiographisch anmutende Beginn des zweiten in knapperer Form erzählen. Thematisch wie auch formal ähneln sich beide Kapitel stark. Der Kontakt islamischer Herrschaftsträger mit der ägyptischen Bevölkerung erscheint als Eroberungsgeschichte, allerdings fokussiert der Text nicht etwa militärische Handlungen oder diplomatische Aushandlung, sondern die direkte Auseinandersetzung der islamischen Herrschaftsträger mit der eroberten Bevölkerung. Dementsprechend weist die Figurenkonstellation in allen Anekdoten ein Prestige- und Machtgefälle zwischen den Figuren auf. Sowohl der vom Kalifen ent¯ s als auch der Kalif al-Maʾmu¯n müssen als sandte Heerführer ʿAmr ibn al-ʿA ˙ höchste Repräsentanten islamischer Herrschaft interpretiert werden. Insbeson90 Zaynahum 1995, 132. 91 Ebd. Die zweite Verwendung des Imperativs iʿlam steht zu Anfang des Kapitels „Über den Heeres-Diwan“, Ebd., 133.

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dere wird dies in der letzten Anekdote an der Figur des Kalifen sichtbar, die mit einem umfänglichen Tross ausgestattet und hoch zu Ross inszeniert wird. Nicht nur der tägliche Aufbau des mobilen Heerlagers, sondern auch die Erwähnung zahlreicher Übersetzer, die den Kalifen stets begleiten, verdeutlichen seinen Status. Die koptische Seite wird hingegen durch Figuren repräsentiert, die eher aus dem einfachen Volk stammen. So bleibt die Charakterisierung des einen Schatz verbergenden Kopten Butrus zwar recht blass, er wird aber nicht als ˙ hochstehende Persönlichkeit oder gar Herrschaftsträger beschrieben. Anders die Figur der Dorfchefin Ma¯rı¯ya. Hier steht ihre relativ hervorgehobene Position als Vorsteherin einer Gemeinde, die sich durch unsagbaren Reichtum auszeichnet, ihrem Erscheinungsbild konträr gegenüber. Ihre Einführung ins Narrativ als schwache alte Frau, deren Erscheinungsbild und Auftreten auch den Kalifen zunächst über ihre tatsächliche Funktion und Ausstattung täuscht, weist den Leser deutlich auf ein Hauptthema der beiden Kapitel hin. Gerade solche Figuren unterstreichen den sagenhaften Reichtum der ägyptischen Bevölkerung wirksamer, als dies eine Erzählung über einen reichen koptischen Herrscher könnte. Es wird mithin der Anschein erweckt, das Land Ägypten verberge unter seiner durchaus ärmlichen Schale größten Reichtum. Während diese Zeichnung der koptischen Bevölkerung in beiden Kapiteln konstant ist, weist die Darstellung des Verhaltens gegenüber der islamischen Herrschaft einen deutlichen Unterschied auf. Sowohl im ersten Kapitel als auch in der einführenden Passage des zweiten erscheinen die Kopten als widerständiges Gegenüber, das sich islamischem Herrschaftshandeln widersetzt und durch List und Gewaltanwendung zur ¯s Räson gebracht werden muss. So präsentiert die erste Anekdote ʿAmr ibn al-ʿA ˙ als einen entschlossen durchgreifenden, seine Position mit Geschick und List, aber auch mit Gewalt durchsetzenden Feldherrn. Der Fokus liegt hier auf dem Umgang mit widersetzlichen Untertanen, wobei die Ermittlung von Ungehorsam (Befragung der Gefängniswärter, Falle für den Hüter des Schatzes) und die Anwendung von Gewalt (Einkerkerung, Hinrichtung) im Vordergrund stehen. Zu Beginn des zweiten Kapitels erscheinen ‚die Kopten‘ gemeinsam mit den rebellischen Arabern nur im Kollektiv, als bedrohliche Masse, die sich der islamischen Herrschaft nicht unterwerfen will und nur mit einiger Mühe unter Kontrolle gebracht werden kann. Allerdings ändert sich nun die Position der islamischen Herrschaft gegenüber diesen Unruhestiftern: Während zu Beginn des Kapitels die gewaltsame Niederschlagung der Feinde im Vordergrund steht – die Männer werden getötet, die Frauen und Kinder versklavt, die rebellische Bevölkerung damit vernichtet –, wird gleichzeitig eine Abkehr von gewaltsamer Eroberung vorbereitet. Der nach Ägypten eilende Kalif setzt seinen Statthalter ab, der durch schlechte Behandlung der Bevölkerung die Rebellion erst provoziert hat. Diese Sequenz wird nicht nur durch wörtliche Rede des Kalifen betont, sondern auch durch die Erwähnung von Emotionen: Der Kalif ist „wütend“ auf seinen Statt-

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halter. Zudem weist der Text auf die Aberkennung von Herrschaftszeichen hin, wenn es heißt, die „Banner“ des Statthalters seien eingezogen worden. Mithin postuliert das Narrativ hier eine Herrschaftsausübung, die Konsens über die Durchsetzung mit Gewalt stellt und letztere nur dann zur Anwendung bringt, wenn die Situation anders nicht mehr lösbar ist. Konsens mit der Bevölkerung und deren Kooperationswillen sind schließlich das Thema der letzten Anekdote. Hier tritt die Dorfvorsteherin Ma¯rı¯ya als Personifikation der koptischen Bevölkerung dem Kalifen gegenüber und legt ihm, eindrucksvoll durch die detaillierte Beschreibung des Festmahls und der reichen Geschenke illustriert, ihren Besitz zu Füßen. Als Handlungsanreiz für den freiwilligen Anschluss an die islamische Herrschaft werden zwei Gründe vorgetragen: Erstens werden Gastfreundschaft und Interaktion mit dem islamischen Herrschaftsträger als ehrenvolle Handlungen präsentiert, die zu unterlassen die Dorfvorsteherin diskreditieren würde. Zweitens wird hier mehrfach darauf verwiesen, dass der Anschluss an die islamische Herrschaft den Kopten Schutz gegen nicht näher spezifizierte „Feinde“ bietet. Dementsprechend wird auch der Kalif hier nicht als durchsetzungsstarker Krieger, sondern als milder und den Untertanen zugewandter Herrscher vorgestellt: Er reagiert mit Barmherzigkeit auf die vermeintlich um Hilfe flehende Alte; seine Zuwendung wird plastisch vorgeführt, indem das Narrativ gleich zweimal darauf verweist, er habe sein Pferd angehalten, gewendet und sei sogar abgestiegen, um mit der Frau zu kommunizieren. Wir sehen hier also die Entwicklung von einer gewaltsam und schlagkräftig dargestellten Herrschaft hin zu einer konsens- und kommunikationsorientierten Herrschaftsrepräsentation. Diese findet schließlich ihren Höhepunkt im Abschluss der Anekdote. Nachdem die koptische Dorfvorsteherin dem Kalifen ihre Gaben mehrfach aufgenötigt hat und damit eine freiwillige Unterordnung der Kopten unter islamische Oberherrschaft suggeriert wird, geht der Kalif auf dieses Angebot der Unterordnung ein. Indem der Text nun über eine offizielle Verleihung eines iqta¯s und die ˙ Festsetzung eines großzügigen Steuernachlasses berichtet, wird die koptische Dorfobere offiziell in die Hierarchie des islamischen Herrschaftssystems inkorporiert. Die beiden Kapitel schließen somit mit einem konsensualen Ausgleich der konfliktgeladenen Ausgangslage.

7.

Schluss

‚Nuzhat al-umam‘ trägt als Werk, das signifikante Anteile kompilierten Wissens beinhaltet, nicht die Handschrift nur eines Autors. Trotzdem spricht sowohl aus der Gesamtkonzeption als auch aus den hier übersetzten Textbeispielen eine individuelle Erzählinstanz, deren Charakter so sehr mit denen in anderen Werken des Ibn Iya¯s übereinstimmt, dass sie als ihm eigene singuläre Erzählstimme

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interpretiert werden kann. Die Untersuchung der Textaussagen zur intendierten Leserschaft und zur Schreibabsicht des Autors sowie die Betrachtung der Makrostruktur haben gezeigt, dass sich das Werk an bereits im Vorwort klar kommunizierten Kriterien orientiert. Daraus folgt die Wahl der Form, die an eine Reihe bekannter Genres der Zeit anschließt. Die Erzählinstanz kann als relativ zurückhaltend beschrieben werden. Abseits von häufigen Anmerkungen zur Herkunft der präsentierten Wissensinhalte finden sich kaum bewertende oder leserleitende Einwürfe. Die wenigen vorhandenen Leseransprachen lassen auf einen für die Zeit typischen instruktiven Anspruch schließen. Dies korrespondiert mit der bewusst gewählten Form der Kurzfassung (ihtisa¯r). Die Analyse der ˘ ˙ Makrostruktur zeigt weiterhin die deutliche Ausrichtung des Werkes auf geographische und landeskundliche Besonderheiten Ägyptens, die explizit ‚Wunder‘ des Landes einschließt. Macht und Herrschaft stehen als ein Thema unter vielen eher am Rande. Dem Genre und der thematischen Ausrichtung des Werks entsprechend, liegt der Fokus in diesem Bereich auf verwaltungstechnischen Themen, insbesondere auf der Erhebung von Steuern und der Organisation des Heeres. Beide werden offenbar als zentrale Faktoren von Herrschaft aufgefasst. Insgesamt nimmt die narrativ beschreibende Darstellung der islamischen Herrschaft in Ägypten in Ibn Iya¯s’ geographisch-landeskundlichem Überblickswerk einen untergeordneten Stellenwert ein. Die Charakterisierung von Herrschaft und Beherrschten sowie die Interaktion zwischen beiden Seiten bleiben skizzenhaft. Trotzdem treten grundlegende Darstellungsabsichten deutlich aus den hier untersuchten Anekdoten hervor. Diese sind implizit auch mit den übergeordneten Themen der Schrift verbunden. So liegt ein Fokus auf dem vermuteten Reichtum des Landes, der in der letzten Anekdote des zweiten Kapitels auf wunderbare Weise überzeichnet repräsentiert wird. Hier ist ein Anklang an das Themaʿagˇa¯ʾib und fada¯ʾil des Landes ebenso zu sehen wie in der ˙ plakativen Darstellung der Gastfreundschaft durch die Figur der Dorfoberen. In beiden Kapiteln ist das Narrativ darüber hinaus mit kleinen Bemerkungen durchsetzt, die dem geographisch-landeskundlichen Anspruch des Werkes Rechnung tragen. So werden genaue Ortsangaben ebenso eingestreut wie Daten und Marschzeiten. Es sei noch angemerkt, dass der Religionsunterschied an keiner Stelle der beiden hier untersuchten Kapitel thematisiert wird. Erst im letzten Teil der Schrift setzt der Autor sich mit der Benutzung des koptischen Kalenders unter muslimischer Herrschaft auseinander.92 Auch und gerade in diesem letzten Teil der Schrift steht allerdings die besonders für die Landwirtschaft und die Bewirtschaftung des Nils notwendige Nutzung althergebrachten Wissens im Vordergrund und nicht der Umgang mit Andersgläubigen.

92 Zaynahum 1995, 251–282.

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Aus der fernen Rückschau betrachtend, rückt Ibn Iya¯s’ Auswahl der Anekdoten, die in seiner Kurzfassung der wissenswerten Dinge über Ägypten den ersten Kontakt zwischen koptischer Bevölkerung und islamischer Herrschaft repräsentieren, eine harmonisierende Darstellung in den Vordergrund. Zwar kommen ausgeprägte Rebellionen und deren blutige Niederschlagung im Text zur Sprache, das Narrativ löst jedoch schnell die anfangs adversative Haltung beider Parteien in einen Konsens auf und suggeriert damit die Etablierung von Harmonie zwischen den beiden Parteien. Vergleicht man den Raum, den die anekdotischen Erzählanteile erhalten, so ist die Harmonie kommunizierende Anekdote über Marı¯ya al-Qubt¯ıya und den Kalifen al-Maʾmu¯n wesentlich pro˙ minenter als die anfängliche Darstellung des rebellischen bzw. verschlossenen Charakters der Kopten. Beide ‚Parteien‘ werden subtil über exemplifizierende Figurengruppen charakterisiert, die als Personifikationen oder Stellvertreterfiguren für Muslime und Christen gedeutet werden können. Der Text enthält keinerlei plakative Zuschreibungen von Charaktereigenschaften und vermeidet es, den Leser auf bestimmte Inhalte oder mögliche Schlussfolgerungen hinzuweisen. Vielmehr vertraut er auf die Wirkung der Exempla. Darin erscheinen die Kopten als mit einem gut verborgenen Reichtum ausgestattet, der nach anfänglicher Weigerung den islamischen Eroberern in vielfacher Potenz zu Füßen gelegt wird. Die Eroberer werden mit Eigenschaften verknüpft, die erfolgreiche Herrschaft versprechen: So sind sie in der Lage, Widerstand zu brechen, ziehen aber den konsensualen Weg der Herrschaftsausübung vor und zeigen sich gegenüber Schwachen ebenso großzügig wie gegenüber willigen Untertanen. Die Auswahl der Figuren legt ein deutliches Machtgefälle zwischen den beiden Gruppen fest. So steht der Kalif als höchste politische und religiöse Instanz auf muslimischer Seite dem nicht näher charakterisierten Kopten Butrus, respektive ˙ der Dorfchefin Marı¯ya gegenüber, die zunächst als zerlumpte Greisin erscheint und damit den verborgenen Reichtum Ägyptens aufs Deutlichste veranschaulicht. Ihre Begegnung mit dem Kalifen endet mit der konsensualen Festsetzung der in der Figurenkonstellation schon angelegten Hierarchie: Die Koptin bietet ihren Reichtum dem Kalifen aus freien Stücken an, der Kalif akzeptiert sie nicht nur als seine Statthalterin, sondern stattet sie auch großzügig mit (Steuer)privilegien aus. In den folgenden Kapiteln, die verwaltungstechnische Fragen der islamischen Herrschaft und damit ihr ‚Getriebe‘ thematisieren, werden Konflikte zwischen Herrschaft und Beherrschten nicht mehr thematisiert. Gleiches gilt für die Hierarchisierung der Herrschaft: Der zwischen Marı¯ya al-Qubt¯ıya und ˙ al-Maʾmu¯n exemplarisch hergestellte Konsens wird nicht hinterfragt, Konflikte 93 werden nicht thematisiert. Den lebhaft-illustrativen Anekdoten der Einlei93 Zur koptischen Präsenz im mamlukischen Kairo liegt eine umfassende Studie vor, die auch die Lebenszeit unseres Autors abdeckt: Tamer El-Leithy, Coptic Culture and Conversion in

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tungskapitel folgt eine unpersönliche Aneinanderreihung von Sachinformationen. Sie verändert die Grundkonstellation bzw. den Hintergrund, der durch die narrativ wesentlich aufwendiger gestaltete Einleitung erzeugt wurde, nicht mehr substanziell. Damit wird der Eindruck erzeugt, die anfänglichen Konflikte seien in einen dauerhaft harmonischen Konsens übergeleitet worden, der über die gesamte Herrschaftszeit anhielt. Während der Text keine expliziten Anstrengungen unternimmt, islamische Herrschaft in Ägypten zu legitimieren, so ist doch der gesamte Abschnitt darauf ausgerichtet, sie letztlich als breit akzeptierte, ja sogar erwünschte Herrschaftsform darzustellen. Die anekdotische Illustration des Konsenses zwischen Herrschern und Beherrschten dient indirekt auch zur Legitimation. Abschließend soll noch einmal betont werden, dass die hier angestellte narratologische Untersuchung den Text dezidiert als mit einer bestimmten Absicht verfasstes Werk eines Autors ansieht, auch wenn er in großen Teilen aus kompilierten und zitierten Versatzstücken zusammengestellt worden ist. Nichtsdestotrotz zeigt sich in der Darstellung der islamischen Herrschaft und ihres Verhältnisses zur ägyptischen Bevölkerung eine eindeutige Agenda hinter der narrativen Gestaltung. Selbst wenn die hier angeführten Stilmittel aus anderen Texten übernommen sein sollten, hat der Autor sich doch entschieden, sie genau in dieser Form in seine Kurzfassung einzubringen und damit der intendierten Leserschaft ein bestimmtes Ägyptenbild mit einem ebenso klar erkennbaren Bild islamischer Herrschaft zu präsentieren. Für eine weitergehende Untersuchung der Erzählinstanz Ibn Iya¯s’ kann es von großem Interesse sein, die Entwicklung der hier in der frühesten Schrift des Autors angelegten Erzählstränge und Agenden durch seine weiteren Werke zu verfolgen. Für den Moment kann festgehalten werden, dass Herrschaft aus Ibn Iya¯s ‚Nuzhat al-umam‘ insbesondere als verwaltungstechnisches Phänomen hervortritt, das auf einem sehr positiv-konsensual gestalteten Bild der Interaktion von islamischer Herrschaft und koptischen Beherrschten fußt.

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Alheydis Plassmann

Bedas Geschichtssicht bei Heinrich von Huntingdon und Wilhelm von Malmesbury

Abstract In the first half of the 12th century the writing of history in England was revived and the rich tradition of Anglo-Saxon England was continued by Anglo-Norman historians in Latin. Two of these historians understood their history not only as a continuation of the already extant sources, but actually as a remolding of the tale of England and English history: William of Malmesbury and Henry of Huntingdon. Both had a well thought-out concept of history, which differed considerably as can be exemplified by their use of Bede’s ‘Ecclesiastical History of the English’. Although it is interesting to see which parts of Bede they used or in which case they differed from his wording, the survey is primarily limited to the question of what they did with Bede’s concept of history. One interesting case of an idea both historians found in Bede and revisited in variations throughout their work is the idea of a hegemony of one king over other kings and how this was connected to providential history. William and Henry handle Bede in very different ways and in a manner quite specific for their interpretation of the Anglo-Saxon past of their present time. While William quotes Bede very little, he is far closer to Bede’s idea of history than Henry is. For William, history is of course destined by God, but while it might be quite clear to God, it is no clear-cut story for William. Henry, on the other hand, quoted almost the entire ‘Historia Ecclesiastica’, but when re-telling Bede’s tales and using the patterns of hegemony he subordinated everything to his own idea that history foremost is meant to show the vanity of worldly affairs. Henry and William represent two possible methods of handling the cultural tradition of the Anglo-Saxon past and incorporating Anglo-Saxon kings into a line leading up to their Norman kings.

In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erfuhr die Geschichtsschreibung in England eine Wiederbelebung und die ohnehin reiche Tradition des angelsächsischen England wurde von anglo-normannischen Historikern auf Latein wieder aufgenommen.1 Zwei dieser Historiker verstanden ihre eigenen Werke 1 Vgl. Elisabeth van Houts, Historical Writing, in: Christopher Harper-Bill/Elisabeth van Houts (edd.), A Companion to the Anglo-Norman World, Woodbridge 2003, 103–121; John Gillingham, Henry of Huntingdon and the Twelfth-Century Revival of the English Nation, in: Ders. (ed.), The English in the Twelfth Century. Imperialism, National Identity and Poli-

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Alheydis Plassmann

nicht nur als eine Fortsetzung bereits vorhandener Quellen, sondern machten es sich zur Aufgabe, die Geschichte Englands und die englische Geschichte neu zu fassen und zu verbreiten. Beide bezogen sich auf Quellen zur angelsächsischen Geschichte vor der normannischen Eroberung von 1066 und vereinten so angelsächsische und anglo-normannische Geschichte zu einer gemeinsamen Historie des Königreiches England unter den anglo-normannischen Herrschern. Auf diese Art und Weise schufen sie eine Kontinuität englischer Geschichte, die uns heutzutage selbstverständlich vorkommen mag, dies aber keinesfalls war. Es gibt weitere Beispiele für diese Verschmelzung von angelsächsischer und anglo-normannischer Geschichte zu einer englischen Geschichtsschreibung, wie etwa die französischsprachige Chronik von Geoffrey Gaimar,2 es gab aber ebenso Historiker, die einen anderen Ansatz verfolgten. Geoffrey von Monmouth etwa stellte die Geschichte der Briten in den Mittelpunkt. Auch wenn Geoffreys Werk lange vor seiner eigenen Zeit endet, hat die Forschung schon oft darauf hingewiesen, dass er durchaus seine Gegenwart kommentieren wollte und dass die von ihm erzählte britische Geschichte auf seine eigene Zeit vorausdeutet.3 In der Normandie stellten Historiker die Könige von England in eine Traditionslinie mit den normannischen Herzögen: Robert von Torigni arbeitete an einer Fortsetzung der ‚Gesta Normannorum Ducum‘ und sogar noch zur Zeit Heinrichs II. (1154–1189) konnte man auf Rollo, den ersten der normannischen Herzöge, als Anfangspunkt einer Geschichte der Könige Englands verweisen.4 Die anglonormannische als die Fortsetzung der angelsächsischen Geschichte zu begreifen, war eine Idee, die für Historiker gerade in England naheliegend erscheinen mochte, es war aber keinesfalls die einzige Möglichkeit, mit dem Traditionsbruch umzugehen, der durch die normannische Eroberung hervorgerufen worden war. tical Values, Woodbridge 2000, 123–144; David Bates, The Normans and Empire, Oxford 2013, 51–63. Der vorliegende Beitrag wurde bereits in folgender englischer Fassung publiziert: Alheydis Plassmann, Bede’s Legacy in William of Malmesbury and Henry of Huntingdon, in: David Bates/Edoardo d’Angelo/Elisabeth van Houts (edd.), People, Texts, and Artefacts. Cultural Transmission in the Medieval Norman Worlds, London 2018, 171–192. 2 Zu Geoffrey Gaimar vgl. John Gillingham, Kingship, Chivalry and Love. Political and Cultural Values in the Earliest History written in French: Geoffrey Gaimar’s ‚Estoire des Engleis‘, in: Charles W. Hollister (ed.), Anglo-Norman Political Culture and the Twelfth-Century Renaissance, Woodbridge 1997, 33–58; Paul Dalton, Geffrei Gaimar’s ‚Estoire des Engleis‘. Peacemaking, and the ‚Twelfth Century Revival of the English Nation‘, in: Studies in Philology 104 (2007), 427–454. 3 Zu Geoffrey von Monmouth vgl. John Gillingham, The Context and Purposes of Geoffrey of Monmouth’s ‚History of the Kings of Britain‘, in: Anglo-Norman Studies 13 (1991), 99–118; Martin Aurell, Geoffrey of Monmouth’s ‚History of the Kings of Britain‘ and the TwelfthCentury Renaissance, in: Haskins Society Journal 18 (2007), 1–18. 4 Zu den normannischen Geschichtsschreibern siehe van Houts 2003; Leah Shopkow, History and Community. Norman Historical Writing in the Eleventh and Twelfth Centuries, Washington D.C. 1997; Bates 2013.

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Aus diesem Grund ist die Blüte der Geschichtsschreibung im England des 12. Jahrhunderts ein sehr weites Feld. Im Rahmen von Überlegungen zu Macht und Herrschaft sollen daher nur zwei Geschichtsschreiber als Beispiel dienen für die Verwendung von historiographischer Tradition und ihrer Einpassung in das eigene Werk: Wilhelm von Malmesbury5 und Heinrich von Huntingdon.6 Beide verfügten über ein wohldurchdachtes Konzept von Geschichte, das unterschiedlicher kaum sein könnte, wie man am Umgang mit ihrem Vorbild Beda erkennen kann.7 Im Folgenden soll der Umgang der beiden Geschichtsschreiber mit Bedas Geschichtskonzept im Mittelpunkt stehen. Auf welche Art sie Bedas Erzählmuster verstanden und wiedergaben, lässt auf ihr eigenes Verständnis von Geschichte und ihre Vorstellung von der Sinnhaftigkeit historischer Ereignisse rückschließen. Natürlich gilt es nicht nur, unterschiedliche Rezeptionsformen von Bedas Konzept in den Texten von Wilhelm und Heinrich herauszuarbeiten, sondern auch den Irrtum zu vermeiden, dass Wilhelm oder Heinrich Beda so rezipierten, wie wir dies heute vermögen. Die Frage danach, wie Bedas Ver5 Zu Wilhelm von Malmesbury vgl. Rodney Thomson/Emily Dolmans/Emily Winkler (edd.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017; sowie ausführlich Sigbjørn O. Sønnesyn, Ad bonae uitae institutum. William of Malmesbury and the Ethics of History, Bergen 2007; zudem die überarbeitete Version seiner Dissertation: Sigbjørn O. Sønnesyn, William of Malmesbury and the Ethics of History, Woodbridge 2012; sowie weitere Studien von Rodney Thomson, z. B. William of Malmesbury, 2. Aufl., Woodbridge 2003; vgl. auch Björn Weiler, William of Malmesbury, King Henry I, and the ‚Gesta Regum Anglorum‘, in: AngloNorman Studies 31 (2009), 157–176; Ders., William of Malmesbury on Kingship, in: History 90 (2005b), 3–22; Ders., Royal Justice and Royal Virtue in William of Malmesbury’s ‚Historia Novella‘ and Walter Map’s ‚De Nugis Curialium‘, in: István P. Bejczy/Richard Newhauser (edd.), Virtue and Ethics in the Twelfth Century, Leiden/Boston 2005a, 317–339. 6 Zu Heinrich von Huntingdon vgl. vor allem die Einleitung der Herausgeberin in Henry of Huntingdon, Historia Anglorum. The History of the English People, ed. und übers. v. Diana Greenway (Oxford Medieval Texts), Oxford 1996, xxiii–clxv; John Gillingham 2000; Bernhard Roling, Der Historiker als Apologet der Weltverachtung. Die ‚Historia Anglorum‘ des Heinrich von Huntingdon, in: Frühmittelalterliche Studien 33 (1999), 125–168. Zu beiden Autoren vgl. auch Alheydis Plassmann, Bedingungen und Strukturen von Machtausübung bei Wilhelm von Malmesbury und Heinrich von Huntingdon, in: Nobert Kersken/Grischa Vercamer (edd.), Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien 27), Wiesbaden 2013, 145–171; sowie Jaakko Tahkokallio, Re-writing English History for a High-Medieval Republic of Letters. Henry of Huntingdon, William of Malmesbury, and the Renaissance of the Twelfth Century, in: Chris Lewis/Emily Winkler (edd.), Rewriting History (im Druck); und im gleichen Band Alheydis Plassmann, Æthelred the Unready and Edward the Confessor in William of Malmesbury and Henry of Huntingdon – Two Sides of the Same Coin? (im Druck). 7 Zur Verwendung von Beda bei Wilhelm und Heinrich vgl. Rodney Thomson/Michael Winterbottom, William of Malmesbury, Gesta Regum Anglorum. General Introduction and Commentary, Oxford 1999, 14f.; Sønnesyn 2012, 125–128; Diana Greenway, Henry of Huntingdon and Bede, in: Jean-Philippe Genet (ed.), L’historiographie médiévale en Europe, Paris 1991, 43–50.

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ständnis von Geschichte aussah, ist für die Frage, wie Wilhelm und Heinrich mit den Geschichtserzählungen bei Beda umgingen, unwichtig. Ob sie Beda so verstanden, wie er verstanden werden wollte, ist für die Rezeption unerheblich. Welche Muster sie bei der Darstellung der anglo-normannischen Geschichte aufnahmen, weist uns jedoch deutlich auf ihr eigenes Geschichtsverständnis hin. Als Wilhelm von Malmesbury seine ‚Gesta Regum Anglorum‘ in den 1120er Jahren begann, bezog er sich explizit auf Beda als eines der Vorbilder für sein Werk. Er wollte eine Tradition aufnehmen, die seit den Zeiten des angelsächsischen Mönches aus Jarrow in Vergessenheit geraten war: „Die Taten der Engländer von ihrer Ankunft in Britannien bis hin zu seiner eigenen Zeit sind mit klarer und gefälliger Sprache von Beda, einem sehr gelehrten und wenig überheblichen Mann, erzählt worden. Nach ihm findet man meiner Meinung nach nicht leicht einen, der sich damit beschäftigt hat, die Geschichte jenes Volkes auf Latein niederzuschreiben. […] Zum Teil aus Liebe zu meinem Vaterland, zum Teil wegen der Bedeutsamkeit derer, die mich ermutigten, war es mir ein Anliegen, die abgebrochene Reihe unserer Geschichte neu aufzunehmen und was in grober barbarischer Sprache ausgeführt wurde mit römischem Glanz zu versehen.“8

Wilhelm behauptet, dass es seine halb-englische Herkunft sei, die ihn zu dem Versuch veranlasst habe, bei den bedauernswerten Missständen in der englischen Geschichtsschreibung Abhilfe zu schaffen. Wilhelm sieht sein Werk als eine Art ‚neuer Beda‘ und dies führt dazu, dass er Beda als Quelle sehr frei nutzt und ihn selten direkt zitiert, zumal er nur im ersten Buch den gleichen Zeitraum wie Beda abdeckt. In der ihm eigenen Art von zur Schau gestellter Bescheidenheit spricht Wilhelm davon, dass er denjenigen, welchen „das reiche Angebot [Bedas] zu viel wird, die Krumen [Wilhelms] zur Erholung reichen könne“.9 Am Ende der ‚Gesta Regum‘ bezieht sich Wilhelm erneut auf Beda, indem er darauf hinweist, dass er sich dem vera lex historiae verpflichtet fühle, ein Gesetz, das das Nennen von

8 William of Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, ed. Roger A. B. Mynors/Rodney Thomson/ Michael Winterbottom (Oxford Medieval Texts), Oxford 1998, I, Prolog, 14: Res anglorum gestas Beda, uir maxime doctus et minime superbus, ab aduentu eorum in Britanniam usque ad suos dies plano et suaui sermone absoluit; post eum non facile, ut arbitror, reperies qui historiis illius gentis Latina oratione texendis animum dederit. […] Vnde michi cum propter patriae caritatem, tum propter adhortantium auctoritatem uoluntati fuit interruptam temporum seriem sarcire et exarata barbarice Romano sale condire. Beda wird erneut gelobt in I, c. 51, 80; I, c. 54, 82 und 84; I, c. 59, 88: er wird nach Rom eingeladen; I, c. 66, 98: er wird mit Alcuin verglichen; I, c. 57–61, 86–94 bietet ein noch ausführlicheres Lob Bedas und I, c. 62 beklagt den Verfall der Historiographie nach Beda. Die hier und im Folgenden verwendeten deutschen Übersetzungen der ‚Gesta Regum Anglorum‘ wurden von der Verfasserin angefertigt. 9 Ebd., I, c. 47, 64: Ne quis sane michi uitio uertat quod tam diffusa in arctum contrahitur historia, nouerit factum consilio, ut qui nausiauerint in illis obsoniis, in his mendicantes respirent reliquiis.

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Augenzeugen und Dokumenten beinhaltet, so wie es schon Beda getan hatte.10 Die ‚Gesta Regum‘ sind also von der Nennung des Vorbildes Beda gewissermaßen eingerahmt. Wilhelm setzt die Ereignisabläufe, die er bei Beda vorfindet, in ein ganz neues Arrangement. Die wichtigste Umstrukturierung ist wohl die, dass er die politische und die kirchliche Geschichte voneinander trennt. Die ‚große Politik‘ handelt er in den ‚Gesta Regum‘ ab, während er die Kirchengeschichte oder zumindest die der kirchlichen Amtsträger in den ‚Gesta Pontificum‘ beschreibt; allerdings geht er mit dieser Trennung noch weiter, indem er die angelsächsischen Heiligen separat am Ende von Buch zwei behandelt. Auf diese Weise wird das dichte Gewebe von Religion und Politik, das so charakteristisch für Beda ist, von Wilhelm in den ‚Gesta Regum‘ getrennt. Das bedeutet natürlich nicht, dass Gott und der Glaube an Gott in der ‚weltlichen‘ Geschichte Wilhelms keine Rolle mehr spielen. Zudem kulminiert in Wilhelms Verständnis die Geschichte des angelsächsischen England in der Vorherrschaft der Könige von Wessex, eine Perspektive die Beda noch fremd sein musste, da Wessex’ Aufstieg erst nach seiner Zeit begann. Folglich reduziert Wilhelm die Zahl der frühen angelsächsischen Königreiche auf vier: Northumbria, Kent, Wessex und Mercia.11 Diese spezielle Sicht auf den Aufstieg Wessex’ entnimmt Wilhelm den volkssprachlichen Chroniken, deren übliche Bezeichnung ‚Angelsächsische Chronik‘ lautet, und die er in seinem Vorwort mit erheblicher Kritik bedenkt.12 Darüber hinaus versteht Wilhelm, wie die angelsächsischen Chroniken vor ihm, die Geschichte Englands als eine Geschichte der Angli, eine Gesamtbezeichnung für die ‚Engländer‘, die Beda in dieser Art noch nicht hätte verwenden können. Wilhelm ist bemüht ein Werk schreiben, das sprachlich an Bedas Meisterwerk heranreicht und zugleich die Geschichte bis zu seiner eigenen Zeit fortführt. Auf der anderen Seite ist es offensichtlich, dass Wilhelm sein Geschichtsbild keinesfalls von Beda übernimmt. Das bedeutet weder, dass er nicht von den Erzählmustern, die Beda verwendet, beeinflusst worden wäre, noch heißt es, dass 10 Ebd., V, c. 445, 796: ego enim, ueram legem secutus historiae, nichil umquam posui nisi quod a fidelibus relatoribus uel scriptoribus addidici. Porro, quoque modo haec se habeant, priuatim ipse michi sub ope Christi gratulor, quod continuam Anglorum historiam ordinauerim post Bedam uel solus uel primus. Wilhelm erwähnt indes nicht, dass die vera lex historiae ein Begriff von Beda ist, vgl. Beda der Ehrwürdige, Kirchengeschichte des englischen Volkes, ed. u. übers. v. Günter Spitzbart, 2 Bde., Bd. 1, 2. Aufl., Darmstadt 1997, Prefatio, 6; zur vera lex bei Beda vgl. Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in frühund hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (Orbis mediaevalis – Vorstellungswelten des Mittelalters 7), Berlin 2006, 108f. und Dies., Beda Venerabilis – Verax historicus. Bedas Vera lex historiae, in: Matthias Becher/Yitzhak Hen (edd.), Wilhelm Levison. Ein jüdisches Forscherleben zwischen wissenschaftlicher Anerkennung und politischem Exil (Bonner Historische Forschungen 63), Siegburg 2010, 123–143. 11 Mynors/ Thomson/Winterbottom 1998, Prolog, 16. 12 Siehe Anmerkung 8.

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er Bedas Methode von Geschichte nicht für nachahmenswert befunden hätte. Wilhelm aber erschließt sich seinen eigenen Zugang zur Geschichtserklärung. Im Folgenden soll eines der Erzählmuster, die er bei Beda findet, und das er in den ‚Gesta Regum‘ immer wieder aufgreift, untersucht werden: die Idee der Vorherrschaft eines Königs über andere. Im zweiten Buch seiner ‚Historia Ecclesiastica‘ erwähnt Beda an sehr prominenter Stelle, dass einige der Könige in England imperium über andere Könige hielten: „Æthelbert der König der Kenter [stieg] nach dem irdischen Reich, das er sechsundfünfzig Jahre überaus ruhmreich beherrscht hatte, zu den ewigen Freuden des himmlischen Reiches auf. Er herrschte zwar als dritter unter den Königen des Volkes der Engländer über all ihre südlichen Provinzen, die von den nördlichen durch den Fluß Humber und die an ihn grenzenden Gebiete getrennt werden; aber als erster von allen stieg er zu den Reichen des Himmels auf. Denn als erster erlangte die Herrschaft dieser Art Ælle, der König der Südsachsen; als zweiter Caelin, der König der Westsachsen, […]; als dritter, wie wir gesagt haben, Æthelbert, der König der Kenter; als vierter Raedwald, der König der Ostangeln […]; als fünfter stand Edwin, der König des Stammes der Nordhumbrier, […] mit größerer Macht an der Spitze aller Völker, die Britannien bewohnen, denen der Engländer und Briten gleichermaßen, mit Ausnahme nur der Kenter; und auch die Menavischen Inseln der Briten, die zwischen Irland und Britannien liegen, unterwarf er der Herrschaft der Engländer; als sechster herrschte Oswald, ebenfalls ein sehr christlicher König der Nordhumbrier, das Reich in diesen Grenzen; als siebter sein Bruder Oswiu, der ziemlich lange Zeit das Reich in fast gleichen Grenzen zusammenhielt und die Stämme der Picten und auch der Scoten, welche die nördlichen Gebiete Britanniens innehaben, zum größten Teil unterwarf und tributpflichtig machte.“13

Diese Passage und der Ausdruck imperium, sowie auch die spätere Ergänzung des Begriffs bretwalda für diese hegemonial herrschenden Könige durch einen der Autoren der angelsächsischen Chronik, wurde von der Forschung zum angelsächsischen England wiederholt untersucht. Konsens der Forschung ist, dass 13 Beda, Historia Ecclesiastica, ed. Bertram Colgrave/Roger A. B. Mynors (Oxford Medieval Texts), Oxford 1969, II, c. 5, 148–151: Aedilberct rex Cantuariorum post regnum temporale, quod L et sex annis gloriosissime tenuerat, aeterna caelestis regni gaudia subiit. Qui tertius quidem in regibus gentis Anglorum cunctis australibus eorum prouinciis, quae Humbrae fluuio et contiguis ei terminis sequestrantur a borealibus, imperauit; sed primus omnium caeli regna conscendit. Nam primus imperium huiusmodi Aelli rex Australium Saxonum; secundus Caelin rex Occidentalium Saxonum […] tertius, ut diximus, Aedilberct rex Cantuariorum; quartus Reduald rex Orientalium Anglorum, […]. Quintus Aeduini rex Nordanhymbrorum gentis […] maiore potentia cunctis qui Britanniam incolunt, Anglorum pariter et Brettonum, populis praefuit, praeter Cantuariiis tantum, necnon et Meuanias Brettonum insulas, […], Anglorum subiecit imperio; sextus Osuald, et ipse Nordanhymbrorum rex Christianissimus, hisdem finibus regnum tenuit; septimus Osuiu frater eius, aequalibus pene terminis regnum nonnullo tempore cohercens, Pictorum quoque atque Scottorum gentes, quae septentrionales Brittaniae fines tenent, maxima ex parte perdomuit ac tributaries fecit. Deutsche Übersetzung von Spitzbart 1997, 149.

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der in seiner genauen Übersetzung unklare Begriff bretwalda weder als ‚Britenherrscher‘ noch als ‚Oberherrscher‘ (‚der in der Breite waltet‘) oder ‚Imperiumsträger‘ zu verstehen ist und dass es niemals in angelsächsischer Zeit ein so bezeichnetes Amt oder auch nur einen solchen Titel gab.14 Für Beda stand die Liste der sieben Imperiumsträger für den Aufstieg des Christentums. Jeder der Sieben spielte in der Geschichte der Bekehrung der Angelsachsen eine tragende Rolle: Ælle von Sussex and Ceawlin von Wessex stehen für die heidnische Vergangenheit, während Æthelbert von Kent den heiligen Augustinus und die Missionare empfing. Rædwald von Ostanglien rettete dem fünften König Edwin das Leben, dem König Northumbrias, der aufgrund seiner Verbindungen zu Kent bekehrt wurde. Oswald stellte das Christentum im Norden auf feste Standbeine, und Oswiu sorgte auf der Synode von Whitby dafür, dass das Christentum in der römisch-katholischen Version akzeptiert wurde.15 Für Beda ist die Vorherrschaft der Sieben kein Zweck an sich, sondern nur das Instrument der Vorsehung im Prozess der Bekehrung. Dass er mehrere Könige auslässt, deren Macht sie an sich für eine solche Liste von Hegemonen qualifiziert hätte, ist seit Langem anerkannt. Zur Zeit Wilhelms von Malmesbury war diese Liste und ihre Erweiterung um König Egbert von Wessex, den die angelsächsischen Chroniken hinzugefügt hatten, allgemein bekannt.16 Das Konzept war Wilhelm also vertraut und es ist aufschlussreich, wie Wilhelm mit dieser Liste umgeht und welche weiteren Imperiumsträger er jenseits der angelsächsischen Vergangenheit ausmacht. Wilhelm übernimmt nicht die Liste selbst, aber er erwähnt alle aus Beda bekannten Imperiumsträger. Die Idee einer Vorherrschaft über andere gentes der britischen Inseln greift er immer wieder auf. Wilhelm spricht nicht über Ælle von Sussex, da er Sussex als ein unwichtiges Königreich insgesamt übergeht. Wilhelm erwähnt indes Ælle von Deira, weil Papst Gregor die angelsächsischen Sklaven, die ihn zu seiner Mission anregen sollten, zu dessen Herrschaftszeit in Rom traf.17 Die Tatsache, dass er die besonderen Verdienste des Ælle hervorhebt, könnte bedeuten, dass er Beda entweder missversteht oder absichtlich verändert, denn der Ælle in Bedas Geschichte ist nicht identisch mit dem König von Sussex, der einer der Imperiumsträger war. Ceawlin von Wessex war laut Wilhelm tapfer in der

14 Zur verwirrenden Diskussion um das bretwalda-Amt vgl. Barbara Yorke, The ‚Bretwaldas‘ and the Origins of Overlordship in Anglo-Saxon England, in: Stephen Baxter et al. (edd.), Early Medieval Studies in Memory of Patrick Wormald, Aldershot 2009, 81–95, mit einem guten Überblick über die Forschungsgeschichte. 15 Dazu vgl. Plassmann 2006, 78–80. 16 Siehe dazu auch Simon Keynes, Bretwalda, in: The Wiley Blackwell Encyclopedia of Anglo-Saxon England, (2. Aufl., 2014), 76f. 17 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, I, c. 45, 60 und 62.

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Schlacht, aber starb verhasst und im Exil, ein Schicksal, das Beda nicht erwähnt.18 Möglicherweise geschah ihm dies, weil er ein Ungläubiger war, wenn dies auch von Wilhelm nicht explizit erwähnt wird. Dies kann man daraus schließen, dass bekehrte Könige üblicherweise ein besseres Schicksal erwartet.19 Auch Æthelbert erfährt bei Wilhelm eine andere Behandlung als bei Beda: Wilhelm betont den fränkischen Einfluss auf Æthelbert, der bei Beda noch nicht so hervorsticht. Er erklärt, dass Æthelbert die anderen Könige nicht nur an Ehre übertraf, sondern auch an honestas, weil er nicht nur ein Christ wurde, sondern auch Tugenden aufwies.20 Ein tugendhafter und frommer König hatte also verdientermaßen die Vorherrschaft über andere Könige inne, eine Vorstellung, die sich gelegentlich auch schon bei Beda findet, z. B. bei Edwin von Northumbria. In Bezug auf Edwin, Oswald und Oswiu verknüpft Wilhelm ebenfalls deren Macht und Herrschaft mit der Gunst Gottes.21 Edwin wurde im Exil von dem zuverlässigen Rædwald von Ostanglien gerettet, dessen Vorbehalte gegen seinen Gast, die Beda seinen Lesern nicht vorenthält, von Wilhelm ausgelassen werden. Wilhelm zufolge erfüllt Edwin nach seiner Krönung alle Völker auf der Insel Britannien mit Ehrfurcht und wird so zum Garanten für außergewöhnlich friedliche Zeiten.22 Auf der anderen Seite gesteht Wilhelm auch ein, dass Edwin und Oswald von Northumbria beide von Penda von Mercia besiegt wurden, der dann wiederum selber von Oswiu geschlagen wurde – und so seine gerechte Strafe für die Verweigerung des christlichen Glaubens erhielt.23 Bereits im zweiten Buch lässt Wilhelm Bedas Vorlage hinter sich, greift das Thema der Vorherrschaft jedoch immer wieder auf: Wilhelm gibt zu, dass Offa von Mercia ein sehr mächtiger König war, aber seine Meinung über Offa ist nicht eindeutig.24 Er erklärt seinen Lesern, dass Offa nur deshalb ein langes Leben hatte, weil er von Karl dem Großen unterstützt wurde – ein weiteres Beispiel für 18 Ebd., I, c. 17, 40. 19 Zum Beispiel ebd., I, c. 19, 42. 20 Ebd, I, c. 9, 28: (Æthelbert von Kent) Postmodum, cum adultiori aetati consultior etiam militiae accessisset peritia, breui omnes nationes Anglorum preter Northanimbros continuis uictoriis domitas sub iugum traxit, et, ut exterorum quoque familiaritatem ascisceret, regis Francorum affinitatem filiae eius nuptiis sibi conciliauit. Tum uero Francorum contubernio gens eatenus barbara ad unas consuetudines confederats siluestres animos in dies exuere et ad leniores mores declinare. […] Haec est profecto clara nobilitas, haec superba uirtus, honestates uincere quos honore uincas. Zu Æthelbert bei Wilhelm vgl. auch Sønnesyn 2012, 155f. 21 Mynors/ Thomson/Winterbottom 1998, I, c. 48, c. 49f., 66–78. 22 Ebd., I, c. 48, 68: (Edwin von Northumbria) Itaque imperii sui ad eos limites incrementa perducta sunt ut iustitia et pax libenter in mutuos amplexus concurrerent, osculorum gratiam grata uicissitudine libantes, et feliciter tunc Anglorum respublica procedere potuisset, nisi mors immatura temporalis beatitudinis nouerca turpi Fortunae ludo uirum abstulisset patriae. Zu Edwin vgl. auch Sønnesyn 2012, 162–164. 23 Ebd., GRA, I, c. 74, 110. 24 Ebd., GRA, I, c. 86, 120 und 122.

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fränkischen Einfluss in England. Der unvermeidliche Niedergang von Mercia geschah erst nach Offas Tod: Sein Sohn war aufgrund der Sünden des Vaters verdammt – eine Auslegung der Ereignisse, die Wilhelm von Alkuin, dem Zeitgenossen Offas, übernahm.25 Offa ist ein gutes Beispiel für Wilhelms Vorstellung einer komplexen Geschichte. Für Wilhelm gibt es keine direkte Verbindung zwischen persönlicher Tugendhaftigkeit des Königs und der Qualität seiner Herrschaft oder zwischen persönlicher Lasterhaftigkeit und dem Schicksal eines Reiches.26 Ein König, der sowohl Tugenden als auch Laster aufwies, vermochte trotzdem ein erfolgreicher König zu sein und seine Laster wurden nicht notwendigerweise von Gott bestraft, jedenfalls nicht unbedingt im diesseitigen Leben. Dennoch konnten in einigen Fällen Tugenden, erfolgreiche Herrschaft und göttliche Gnade zusammenfallen. Der nächste König, der Herr über die gentes in Britannien wurde, war Egbert von Wessex. Wie Edwin wurde er ins Exil gezwungen, und da er keinen so treuen Verbündeten wie Rædwald hatte, suchte er Zuflucht am Hof Karls des Großen im Frankenreich. Das Motiv des günstigen Einflusses der Franken, das bereits bei Æthelbert von Kent erwähnt worden war, wird hier wieder aufgegriffen. Wilhelm erklärt die Franken als die gens, die an Mut, Tugend und Verhalten unter den anderen hervorsticht.27 Dass Egbert die Gelegenheit hatte, von der größeren Erfahrung der Franken zu profitieren, ist in Wilhelms Interpretation eine Fügung Gottes. Dass er nach seiner Rückkehr aus dem Exil die Vorherrschaft errang, verdankt er laut Wilhelm seinen Tugenden.28 In Egberts Fall führt Wilhelm Bedas Sicht einer Vorherrschaft als Ergebnis göttlicher Fügung mit seinen eigenen Ideen über kontinentale und möglicherweise sogar französische Erfahrung sowie seiner Vorstellung eines erfolgreichen Königs zusammen. Diese Muster für Erfolg werden in derselben Art für die folgenden Könige von Wessex und England aufgegriffen. Alfreds Bruder siegte in der Schlacht von 25 Ebd., GRA, I, c. 94, 136–139: (Offa von Mercia) Haec saltuatim uerba epistolae decerpens idcirco apposui, ut posteris elucescat amicitia Offae et Karoli; cuius familiaritate fretus, licet multorum impeteretur odio, dulci tamen uitam consumpsit otio, et Egferthum filium, ante mortem suam in regem inunctum, successorem dimisit. Ille, sedulo paternae immanitatis uestigia declinans, priuilegia omnium aecclesiarum quae seculo suo genitor attenuauerat prona deuotione reuocauit. […] Itaque cum spes egregiae indolis primis annis Egferthi adoleret, seua mors uernantis aetatis florem messuit, unde Osberto patritio Albinus: ‚Non arbitror quod nobilissimus iuuenis Egferthus propter peccata sua mortuus sit, sed quia pater suus pro confirmatione regni eius multum sanguinem effudit.‘ 26 Siehe hierzu Plassmann 2013. 27 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, II, c. 106, 152: (Egbert von Wessex) Ita Offa, qui bellicis minis non cederet, ad blanditias coniuente, Egbirhtus transnauigato mari Frantiam uenit. Quod Dei consilio factum intelligo, ut uir ille, ad tantum regnum electus, regnandi disciplinam a Francis acciperet. Est enim gens illa et exercitatione uirium et comitate morum cunctarum occidentalium facile princeps. Vgl. auch Sønnesyn 2012, 164–166. 28 Mynors/ Thomson/Winterbottom 1998, II, c. 106, 152: clementia and mansuetudo.

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Ashdown, weil er darauf bestanden hatte, vor Schlachtbeginn die Messe zu Ende zu hören.29 Alfred selbst erhielt klare Zeichen, dass er in der Gnade des heiligen Cuthbert stand und konnte nach langen Mühen die Vorherrschaft über England erlangen.30 Unter seinem Sohn Edward wurde diese Suprematie etabliert, auch wenn es Wilhelm zufolge so scheint, als ob dieser seinen Erfolg zumindest zur Hälfte den nachhaltigen Bemühungen seines Vaters und der Unterstützung seiner Schwester verdankte.31 Alfreds Enkel Æthelstan, dessen Mut und Frömmigkeit Wilhelm betont, erweiterte die Vorherrschaft von Wessex sogar über die keltischen Länder Wales und Schottland, in denen er, wenn wir Wilhelm glauben wollen, Herrscher nach seinem Gutdünken einsetzte.32 Æthelstan war Wilhelm zufolge zu Großem bestimmt, da schon Alfred das Potential seines Enkels erkannt und seine Mutter den zukünftigen Ruhm ihres Sohnes in einem prophetischen Traum gesehen hatte.33 Dass auch der nächste König, Edward, der Northumbria, Wales und Schottland unterwarf, in Gottes Gunst stand, wurde durch den Umstand belegt, dass dessen friedlicher Tod dem Erzbischof Dunstan von Canterbury von einer himmlischen Stimme angekündigt wurde.34 Dunstan von Canterbury war es auch, dem eine Prophezeiung über die Regierungszeit Edgars, dessen Herrschaft den Höhepunkt der Suprematie von Wessex darstellte, zuteil wurde: England sollte es wohl ergehen, solange Edgar und Dunstan lebten. Wilhelm erzählt seinem Publikum, wie jeder der Unterkönige Edgar in Chester aufsuchte und seine Vorherrschaft öffentlich bestätigt wurde, indem alle Unterkönige gemeinsam König Edgar auf dem Fluss Dee in einem Boot ruderten, während Edgar symbolisch das Steuer übernahm.35 Die 29 Ebd., II, c. 119, 178. 30 Ebd., II, c. 121, 182: (Alfred) ‚Ego sum Cuthbertus, si audisti. Misit me Dominus ut tibi prospera annuntiem: quia enim Anglia iam dudum peccatorum penas enormiter luit, modo tandem, indigenarum sanctorum meritis, super eam misericordiae suae oculo respicit. Tu quoque, tam miserabiliter regno extorris, gloriose post paucum tempus in solio reponeris, atque adeo signum eximium tibi dabo […].‘ Siehe auch 186. 31 Ebd., II, c. 125, 198: De his licet merito Eduardus laudetur, palma tamen potissima debetur patri per meum arbitrium, qui tantae potentiae fecit auspitium. Inter haec non praetermittatur soror regis Ethelfleda, Etheredi relicta, non mediocre momentum partium, fauor ciuium, pauor hostium; dazu auch Sønnesyn 2012, 166–170. 32 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, II, c. 131–138, II, c. 131, 206: (Æthelstan) Occasio contradictionis, ut ferunt, quod Ethelstanus ex concubina natus esset; sed ipse preter hanc notam, si tamen uera est, nichil ignobile habens omnes antecessores deuotione mentis, omnes eorum adoreas triumphorum suorum splendore obscurauit. 33 Ebd., II, c. 133 and 139, 210–212 und 224–226; dazu auch Sønnesyn 2012, 170f. 34 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, II, c. 146, 234, 236. 35 Ebd., II, c. 148, 238: (Edgar) Nullas insidias domesticorum, nullum exterminium alienorum sensit. Regem Scottorum Kinadium, Cumbrorum Malcolmum, archipiratam Mascusium omnesque reges Walensium, quorum nomina fuere Dufnal Giferth Huual Iacob Iudethil, ad curiam coactos uno et perpetuo sacramento sibi obligauit, adeo ut apud Ciuitatem Legionum sibi occurrentes in pompam triumphi per fluuium De illos deduceret. Vna enim naui impositos

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Quelle Wilhelms für dieses aufschlussreiche Bild von Edgars Oberkönigtum kennen wir nicht,36 aber dieser punktuelle Höhepunkt der Vorherrschaft passt durchaus in das allgemeine Bild, da die Suprematie nicht andauerte. Als letztes Zeichen göttlicher Gunst für Edgar empfängt dieser einen prophetischen Traum, der ihm die Zukunft und damit den Niedergang der Herrschaft der westsächsischen Königslinie zeigt.37 Erst unter dem Dänenkönig Knut (1016/18–1035) konnte die Macht der englischen Könige erneuert werden. Wilhelm beschreibt Knut als guten König und fasst seine Herrschaft folgendermaßen zusammen: „er kam nicht rechtmäßig zum Thron, aber er verhielt sich mit großer Geschicklichkeit und Mut.“38 „Seine Herrschaft war friedlich und Engländer, Dänen und Schotten unterwarfen sich ihm.“39 Der Erfolg seiner Herrschaft erklärt sich laut Wilhelm nicht zuletzt daher, dass er den Verräter Eadric, der Æthelred und Edmund Eisenseite geschadet hatte, beseitigte,40 und dass er versuchte, die dänischen Verbrechen wiedergutzumachen. In den Augen der Zeitgenossen rehabilitierte er sich damit und, wie Wilhelm anmerkt, möglicherweise sogar ‚vor Gott‘.41 Darüber hinaus – und dies ist vielleicht der wichtigste Aspekt an der Erzählung über Knut – folgte Knut dem Rat von Æthelnoth, dem Erzbischof von Canterbury. Sich von den Erzbischöfen von Canterbury beraten zu lassen, war eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Herrschaft. Wie Wilhelm explizit anmerkt, war Æthelnoth der siebte Abt von Glastonbury, der Erzbischof von Canterbury wurde.42 Dass Wilhelm gerade in diesem Kontext eine Liste von Sieben nennt und damit auf die Zahl der Imperiumsträger bei Beda und sicher auch auf die biblische Bedeutung anspielt, zeigt, dass diese guten Erzbischöfe wohl auch als ein Segen für England verstanden werden sollten.

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ipse ad proram sedens remigare cogebat, per hoc ostendans regale magnificentiam, qui subiectam haberet tot regum potentiam. Zum historischen Hintergrund dieses Treffens vgl. Ann Williams, An Outing on the Dee. King Edgar at Chester, A.D. 973, in: Mediaeval Scandinavia. A Journal Devoted to the Study of Mediaeval Civilization in Scandinavia and Iceland 14 (2004), 229–243. Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, II, c. 154, 250–254. Ebd., II, c. 181, 320: (Knut) Anno incarnationis Dominicae millesimo septimo decimo Cnuto regnare cepit, et uiginti annis regnauit, iniuste quidem regnum ingressus sed magna ciuilitate et fortitudine uitam componens. […] Ita cum omnis Anglia pararet uni, ille ingenti studio Anglos sibi conciliare, aequum illis ius cum Danis suis in consessu in concilio in prelio concedere […]. Ita omnia quae ipse et antecessores sui deliquerant corrigere satagens, prioris iniustitiae neuum apud Deum fortasis, apud homines certe abstersit. Ebd., II, c. 181 und 182, 320–324. Ebd., II, c. 181, 320. Ebd., II, c. 181, 322: Ita omnia quae ipse et antecessores sui deliquerant corrigere satagens, prioris iniustitiae neuum apud Deum fortassis apud homines certe abstersit. Ebd., II, c. 184, 330: (Knut) Astabat regio lateri supradictus Egelnodus, qui septimus ex monachis Glastoniensis cenobii presidebat cathedrae Cantuariensi.

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Der nächste König, der die Vorherrschaft über Waliser und Schotten errang, war Edward der Bekenner – auf den ersten Blick ein überraschender Hinweis von Wilhelm. Es ist außerordentlich interessant, wie Wilhelm die Herrschaft dieses Königs darstellt, den er für einen nicht besonders fähigen Herrscher hält: „Ein Mann, der wegen der Einfachheit seines Gemütes zur Herrschaft kaum geeignet schien, der aber Gott ergeben war und daher von ihm geführt wurde.“43 Im Gegensatz zu Knut, von dem nicht klar ist, ob er in Gottes Gunst stand, steht es außer Frage, dass Edward der Bekenner von Gott begünstigt wurde. Aus diesem Grund handelten die Entscheidungsträger Englands in seiner Zeit zum Besten des Reiches, insbesondere indem sie ihm beim Erhalt der Vorherrschaft über die Schotten und Waliser halfen: „Wenn er auch für müßig oder harmlos gehalten wurde, hatte er doch Gefolgsleute, die ihn in seinem Bestreben nach Höherem unterstützen konnten. Siward, der Earl von Northumbria, griff auf seine Anweisung hin Macbeth, den König der Schotten an, beraubte ihn seines Lebens und seines Thrones, und setze Malcolm an seiner Stelle ein, den Sohn des Königs von Cumbria. […] Harold, Earl von Wessex, Godwinson, brachte mit seinem (militärischen) Geschick zwei Brüder zu Fall, die Könige in Wales waren, Rhys und Gruffydd, und er erniedrigte dieses ganze barbarische Land zu einer Provinz, die dem König Gefolgschaft schuldete.“44

Derselbe Harold, der sich übernahm, als er nach Edwards Tod den Thron usurpierte, hatte während Edwards Regierung eine der göttlichen Vorsehung entsprechende Rolle zu spielen, als er nicht für sich, sondern für Edward agierte. Diese letzte Blüte der westsächsischen Königslinie wurde sogar im Traum eines Bischofs vorhergesagt.45 Edward selbst erhielt eine trostlose Vision von Englands Zukunft, als er von einem Baum träumte, der gefällt wurde. Dieses Traumbild übernimmt Wilhelm aus der ‚Vita Edwardi‘.46 Für Wilhelm von Malmesbury steht

43 Ebd., II, c. 196, 348 und 350: (Edward der Bekenner) Anno ab incarnatione Domini millesimo quadragesimo secundo Eduardus filius Egelredi suscepit regnum, mansitque in eo annis uiginti quattuor non plenis, uir propter morum simplicitatem parum imperio idoneus, sed Deo deuotus ideoque ab eo directus. 44 Ebd., II, c. 196, 348 und 350: Sed quanuis uel deses uel simplex putaretur, habebat comites qui eum ex humili in altum conantem erigerent: Siwardum Northimbrensium, qui iussu eius cum Scottorum rege Macbetha congressus uita regnoque spoliauit, ibidem Malcolmum filium regis Cumbrorum regem institutit; […] Haroldum Westsaxonum filium Goduini, qui duos fratres reges Walensium Ris et Griffinum sollertia sua in mortem egerit, omnemque illam barbariem ad statum prouintiae sub regis fide redegerit. 45 Ebd., II, c. 221, 406. 46 Ebd., II, c. 226. Später wurde dieser Traum anders ausgelegt: Heinrich II. wurde als die Person angesehen, die von der angelsächsischen Königslinie abstammte und daher den symbolischen Baum der Königsdynastie wieder ‚heilen‘ konnte. Vgl. Ailred of Rievaulx, Vita S. Edwardi regis et confessoris, ed. Jacques-Paul Migne (Patrologia latina 195), Paris 1855, cols. 737–790, hier c. 195, 774. Vgl. Alheydis Plassmann, Prophezeiungen in der englischen

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es außer Frage, dass die normannische Eroberung nach Gottes Willen stattgefunden hatte, wie es Edward im Traum prophezeit worden war: „Das englische Reich ist in den Händen Gottes und nach dir hat Er einen König nach seinem Gefallen bestimmt.“47 Anlässlich von Edwards Tod resümiert Wilhelm, dass die westsächsische Linie zu einem Ende gekommen sei und äußert sich verächtlich über die letzten männlichen Mitglieder der Wessexlinie, insbesondere über Edgar Ætheling, den Großneffen Edwards.48 Als Edgar im Exil am schottischen Hof verweilte, deutet Wilhelm an, dass auch sein Schwager Malcolm ihn nicht für der Krone würdig erachtete: Wilhelm behauptet, Malcolm habe nicht für Edgar gegen England Krieg geführt, sondern weil er Wilhelm I. dem Eroberer eine Lektion erteilen wollte.49 Zusammen mit Gottes Gunst war auch das Geschick zur Herrschaft auf den nächsten und rechtmäßigen Herrscher Wilhelm den Eroberer übergegangen, der von Edward designiert worden war, nachdem ihm das Versagen seiner Linie bewusst geworden war.50 Für die nächsten drei Könige aus anglo-normannischer Linie spiegelte der Erhalt der Vorherrschaft über Schottland und Wales Gottes Gunst wider. Weder Wilhelm der Eroberer noch seine Söhne Wilhelm Rufus und Heinrich I. kamen Edward dem Bekenner auch nur annähernd an Frömmigkeit gleich, aber Gottes Wirken unterstützte zumindest den Eroberer und Heinrich I. Wilhelm der Eroberer besiegte die Schotten51 und unterwarf die Waliser,52 während Rufus, der als Feind der Kirche galt, zahlreiche walisische Aufstände bekämpfen musste und sich mit den Schotten äußerst schwer tat.53 Heinrich I. hingegen gelang es, nach

47 48

49 50 51 52 53

Historiographie des 12. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008), 19–49, hier 35. Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, II, c. 221, 406: (Edward) ‚Regnum Anglorum est Dei; post te prouidit regem ad placitum sui.‘. Ebd., II, c. 228, 416: (Edward) Rex Eduardus pronus in senium, quod ipse non susceperat liberos et Goduini uideret inualescere filios, misit ad regem Hunorum ut filium fratris Edmundi Eduardum cum omni familia sua mitteret: futurum ut aut ille aut filii sui succecant regno hereditario Angliae .. Ita uenit Eduardus, sed continuo apud Sanctum Paulum Lundoniae fato functus est, tribus liberis superstitibus, uir neque promptus manu neque probus ingenio. Edgaro, qui post occisionem Haroldi a quibusdam in regem electus et uario lusu Fortunae rotatus pene decrepitum diem ignobilis ruri agit […] Rex itaque defuncto cognato, quia spes prioris erat soluta suffragii, Willelmo comiti Normanniae successionem Angliae dedit. Erat ille hoc munere dignus, prestans animi iuuenis et qui in supremum fastigium alacri robore excreuerat. Mathilda, die Gemahlin Heinrichs I. wurde von Wilhelm mit wesentlich größerem Respekt geschildert, vgl. V, c. 418, 754–758. Dies trifft auch auf Margarete von Schottland, die Schwester Edgars, zu: IV, c. 554, 311. Zu Edgar Ætheling in späteren Quellen siehe Emily Winkler, 1074 in the Twelfth Century, in: Anglo-Norman Studies 35 (2013), 241–258. Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, III, c. 249, 462. Ebd., II, c. 228, 416: quia spes prioris erat soluta suffraggii. Ebd., III, c. 249 und 250, 462 und 464. Ebd., III, c. 258, 476. Ebd., IV, c. 310 und 327, 552, 554 und 570.

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einigen Unstimmigkeiten54 die Waliser in den Griff zu bekommen,55 sich mit den schottischen Königen zu verbünden56 und den Respekt der Iren zu gewinnen. „Muirteach, König der Iren und seine Nachfolger, deren Namen nicht bekannt sind, begegneten unserem König Heinrich mit so viel Respekt, dass sie nichts schrieben außer dem, was ihm gefallen würde und nichts taten außer dem, was er ihnen angeordnet hatte“,57 so drückt Wilhelm es aus und deutet die durchaus freundlichen Beziehungen zu Irland wohl etwas stark in Richtung Hegemonie um. Sogar der König von Norwegen, so berichtet Wilhelm, habe sich zurückgehalten, als er während Heinrichs Regierungszeit einmal in England überwinterte.58 Man könnte gegen dieses Bild natürlich einwenden, dass Rufus’ Feldzüge gegen Wales tatsächlich scheiterten, aber es ist doch auffällig, dass Wilhelm im Kontext von Rufus’ Vorgehen gegen die Waliser den späteren Erfolg Heinrichs bereits vorwegnimmt.59 Das Konzept von Vorherrschaft unterscheidet sich also in Wilhelms ‚Gesta Regum‘ nicht signifikant von dem Bedas. Vorherrschaft wird gemäß der göttlichen Vorsehung möglich, ist aber kein untrügliches Zeichen dafür, dass der betreffende König von Gott begünstigt ist. So wie Beda in seine Liste von Imperiumsträgern Könige von zweifelhafter Tugend aufgenommen hatte, wie etwa Ælle, Ceawlin und Rædwald, stellt Wilhelm die Könige Englands, die eine Vorherrschaft ausübten, nicht als notwendigerweise tugendhaft dar. In einigen Fällen, wie Egbert (der im Frankenreich geschult worden war), Edgar (der dem Rat Dunstans von Canterbury folgte) und anderen steht die Macht des Königs durchaus in einer gewissen Beziehung zur persönlichen Frömmigkeit und Herrschaftsfähigkeit. Dennoch erscheint Vorherrschaft nicht als untrügliches Indiz für persönliche Tugendhaftigkeit. Es ist aufschlussreich, dass Wilhelm die Güte König Edwards des Bekenners, der göttliche Hilfe erhielt, detailreich erläutert, sich in anderen Fällen aber sträubt, ähnlich belastbare Aussagen zu Wilhelm dem Eroberer, Wilhelm Rufus oder Heinrich I. zu machen. Am nächsten kommt er einer Beschreibung göttlicher Unterstützung für den Eroberer, wenn er erwähnt, dass widrige Winde eine Invasion des dänischen Königs vereitelt hät-

54 55 56 57

Ebd., V, c. 396, 718. Ebd., V, c. 401, 726. Bereits vorausgedeutet in IV, c. 311, 554. Heirat mit Mathilda, ebd., V, c. 400, 724, 726. Ebd., V, c. 409, 738: (Heinrich I.) Hibernensium regem Murcardum et successors eius, quorum nomina fama non extulit, ita deuotus habuit noster Henricus ut nichil nisi quod eum palparet scriberent, nichil nisi quod iuberet agerent; […]. 58 Ebd., V, c. 410, 740: Denique Siwardus rex Noricorum primo aeui processu fortissimis conferendus, incepto itinere Ierosolimitano rogataque regis pace in Anglia tota resedit hieme […]. 59 Ebd., IV, c. 311, 554. Zu Rufus’ walisischen Kriegszügen vgl. Frank Barlow, William Rufus, New Haven/London 2000, 318–324, 336–338, 369–371.

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ten.60 Und wenn er auch üblicherweise die Ergebnisse der Herrschaft Heinrichs I. lobt, ist dies doch nicht das Gleiche wie die Feststellung, ein König sei fromm oder stünde persönlich in der Gunst Gottes. Für Wilhelm von Malmesbury muss ein erfolgreicher Herrscher nicht fromm sein, Erfolg und Tugendhaftigkeit gingen für ihn nicht Hand in Hand. Wenden wir uns nun Heinrich von Huntingdon zu, einem Säkularkleriker, der für den Bischof von Lincoln tätig war. Heinrich begann die Arbeit an seiner ‚Historia Anglorum‘ etwa zur gleichen Zeit wie Wilhelm, überarbeitete sein Werk jedoch mehrmals bis in die 1150er Jahre. Wie Wilhelm kannte und schätzte er Beda,61 wollte aber keinen ‚neuen Beda‘ schreiben. Er bevorzugte eine Fortsetzung von Bedas Geschichte bis in seine eigene Zeit hinein und strebte nicht nach einer Neuinterpretation. Er bekräftigt, er sei aufgefordert worden, eine Kompilation der englischen Geschichte zu erstellen, und hat offenbar keinen Ehrgeiz, der Arbeit den Stempel seines eigenen Stils aufzudrücken.62 Wie im Falle Wilhelms ist es seine halb-englische Herkunft, die das Interesse an englischer Geschichte weckt. Im Gegensatz zu Wilhelm versucht er jedoch, mehrere Quellen zur Geschichte der britischen Insel, wie die ‚Historia Brittonum‘ und sogar Gottfried von Monmouth, mit Beda und den angelsächsischen Quellen zu einer Gesamtdarstellung zu verweben.63 Heinrich ist, was seine Quellen angeht, wesentlich unkritischer als Wilhelm, nennt sie sämtlich und zitiert sehr ausführlich und direkt aus ihnen. Bis auf einige Kapitel, die nicht von England handeln, 60 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, III, c. 258, 476, 478: At uero rex Willelmus in subiectos leniter, turbide in rebelles agens feliciter omni Anglia potiebatur, Walenses omnes tributaries habens. […] Solus eius maiestatem concutiebat Cnuto rex Danorum, qui et affinitate Rotberti Frisonis et suapte potentia in immensum extollebatur, rumore in populo sato quod Angliam inuaderet, debitum sibi pro affinitate antique Cnutonis solum; et profecto fecisset, nisi Deus eius audatiam uento contrario infirmasset. 61 Henry of Huntingdon, Historia Anglorum. The History of the English People, ed. und übers. v. Diana Greenway (Oxford Medieval Texts), Oxford 1996, Prolog, 6: Tuo quidem consilio Bede uenerabilis ecclesiasticam qua potui secutus historiam […]. I, c. 10, 28: venerabilis Beda; IV, c. 11, 230: uir sanctus et uenerabilis, uir ingenii florentis et Christi philosophus; IV, c. 12, 230: Anno eodem uenerabilis Beda, semper mente inhabitata, celi conscendit palacia. Qui regia uirtute sua et aliorum uicia compescens, cum regibus ipsis inferior non sit, dignissime regum in ordine quasi rex ponatur; IX, c. 13 und 14 sind ganz Bedas Leistungen gewidmet; IX, c. 1, 622: In hoc siquidem libello, exceptis miraculis, que uir Domini Beda uenerabilis, cuius auctoritas firmissima est, in historia sua conscripsit, null uel fere nulla apposuimus. Quia quamuis succedentium temproum uiri mirabiles et magnifici fuerint, tamen eorum gesta uel auctore carent certo, uel quantum seruus Dei Beda probate; IX, c. 4, 626: sanctus Beda; IX, c. 27, 652: sapientissimus Beda; IX, c. 39, 674: Dei famulus (ein Ausdruck, den Beda selbst für sich verwendet hatte, vgl. Beda, V, c. 24, 566: famulus Christi); IX, c. 51, 686: magnus auctor. Zur Verwendung Bedas vgl. Greenway 1991. 62 Greenway 1996, I, c. 9, 6: Tuo quidem consilio Bede uenerabilis ecclesiasticam qua potui secutus historiam. 63 Ebd., I, c. 9, 24: Quod in Beda non inuentum in aliis auctoribus repperi; zu Heinrichs Quellen siehe auch ebd., lxxxv-cii.

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übernimmt er Bedas ‚Historia ecclesiastica‘ fast vollständig in die ‚Historia Anglorum‘. Indes schreibt Heinrich Beda nicht einfach nur ab. Zunächst einmal – und darin ist er Wilhelm nicht unähnlich – arrangiert er das bei Beda vorgefundene Material um. Die Geschichte der angelsächsischen Könige, einschließlich ihrer Bekehrung, handelt Heinrich im zweiten und dritten Buch ab, während den angelsächsischen und englischen Heiligen ein eigenes Buch gewidmet wird (Buch 9). Wie Wilhelm löst Heinrich so die bei Beda vorhandene Einheit von weltlicher und kirchlicher Geschichte. Weiterhin kopiert Heinrich Beda mit Bedacht und lässt Sätze wie „er lebt noch in dieser unserer Zeit“ aus oder formuliert sie um. Die wenigen Fälle, in denen Heinrich seine Vorlage Beda nicht auf den Stand seiner Zeit bringt, gehen wahrscheinlich auf das Werk eines Kopisten zurück, der Heinrich Teile der mühsamen Abschreibearbeit abnehmen sollte.64 Im Allgemeinen findet sich bei Heinrich also nicht die exakt gleiche Formulierung wie bei Beda. Zudem versteht Heinrich – wie Wilhelm – die englische Geschichte als eine zweckgerichtete, die auf die Hegemonie und die Alleinherrschaft der Könige von Wessex hinausläuft und benutzt dementsprechend die Regierungszeiten der westsächsischen Könige als Datierungsgerüst.65 Darüber hinaus ordnet er wie Wilhelm das frühe Material neu an, gemäß den angelsächsischen Reichen Kent, Wessex und Northumbria. Hier geht er sogar weiter als Wilhelm, wenn er die Vermutung formuliert, es habe sieben angelsächsische Königreiche gegeben, eine Struktur, die er selbst ‚Heptarchie‘ nennt. Diese ‚Heptarchie‘ war eine gewisse Zeit lang eine einflussreiche Vorstellung in der Forschung zu den Angelsachsen, gilt heute jedoch als zu simpel.66 Die Siebenzahl der Reiche war Heinrich möglicherweise bei der Beschäftigung mit Bedas Liste von Imperiumsträgern in den Sinn gekommen. Das führt uns zu einem weiteren und vielleicht wichtigsten Punkt: Heinrich übernimmt mit Vorliebe bedeutungsschwangere Zahlen von Beda. Dieser erwähnt die fünf in Britannien gesprochenen Sprachen,67 und Heinrich richtet die fünf Plagen, die Britannien heimsuchten, an dieser Fünfzahl aus: Römer, Schotten/Pikten sowie Angelsachsen findet er bei Beda. Er fügt Dänen und Normannen zu dieser Tradition hinzu. Heinrich ist nicht der Erste, der Dänen und Normannen als Geißel Gottes und Bestrafung für die Sünden der Engländer versteht.68 Aber er ist der Erste, der eine solche Liste von Plagen erstellt, die mit den Normannen zu einem Ende 64 Gemäß seiner Editorin Diana Greenway, ebd., lxxxvii. 65 Ebd., II, c. 16, 96. 66 Vgl. dazu knapp Simon Keynes, Heptarchy, in: The Wiley Blackwell Encyclopedia of Anglo-Saxon England (2. Aufl., 2014), 238. 67 Colgrave/Mynors 1969, I, c. 1, 14. Wiederholt bei Heinrich von Huntingdon, vgl. Greenway 1996, I, c. 8, 24. 68 Colgrave/Mynors 1969, I, c. 14, 84 und I, c. 15, 52. Beda selbst hat dies wiederum von Gildas übernommen, vgl. Plassmann 2006, 68; Greenway 1996, II, c. 2, 82.

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kommt.69 Wenn wir jetzt also in den Blick nehmen, was Heinrich mit Bedas bretwalda-Liste macht, müssen wir bedenken, dass Heinrich eben nicht gedankenlos bei Beda abschreibt. Mehr noch als Wilhelm nutzt er die Muster und symbolischen Zahlen, die er bei Beda vorfindet, und gleicht sie seinen eigenen Vorstellungen zum Verlauf und Zweck von Geschichte an. Den idealen Leser, den Heinrich dabei vor Augen hat, können wir sogar identifizieren: Heinrich sieht Ceolwulf von Northumbria, der sich die Geschichte Bedas zu Herzen nahm, als den idealen Rezipienten: „Ceolwulf sprach oft mit Beda, als er noch lebte, und vor und nach Bedas Tod zog er oft mit eigenen Augen die ihm gewidmete Geschichte zu Rate und untersuchte die Taten und Tode eines jeden Königs aufmerksam für sich. Er sah in einem klaren Licht, dass irdische Königreiche und menschliche Besitzungen mit Mühe erworben werden, mit Furcht behalten werden und mit Trauer verloren werden. […] Also wies er freiwillig, als ein Herr über den Besitz und nicht dessen Diener, wie ein großer Mann, das von sich, was wertlos war. […] Seine Vorbilder nahm er aus der genannten Geschichte des gesegneten Mannes; dieser standfeste Mann folgte wahrhaftig den anderen standhaften Männern [die abgedankt hatten]. […] Als Ceolwulf die Mönchskutte anlegte, erhöhte er die Zahl der vollendeten Könige auf Sieben, und eine Krone von wertvollem Geschmeide wurde vom Herrn auf sein Haupt gesetzt.“70

Es ist kein Zufall, dass die Liste der sieben Imperiumsträger von einer Liste von sieben Herrschern, die auf die Krone verzichteten und ihr eigenes Seelenheil in den Vordergrund stellten, ausbalanciert wird. Ceolwulf, der durch Bedas Geschichte dazu veranlasst wurde, war ausgerechnet derjenige, der die Siebenzahl komplettierte. Da Heinrich seine Übersicht über die Geschichte der angelsächsischen Reiche mit Sussex beginnt, ist Ælle der erste Imperiumsträger, den er erwähnt. Im Gegensatz zu Wilhelm identifiziert er ihn korrekt.71 Heinrich behauptet, dass Ælle omnia iura regni Anglorum […] tenebat – eine interessante Formulierung, die wahrscheinlich die Bedeutung königlicher Rechte unterstreichen soll. Diese werden in Heinrichs Werk von Beginn an immer wieder erwähnt. Schon am 69 Greenway 1996, I, c. 4, 14–16. 70 Ebd., IV, c. 16, 236 und 238: (Ceolwulf von Northumbria) Ceolwlfus igitur cum sepe uiuenti Bede colloqueretur, et sepe ante mortem eius et post mortem historiam eius ad se scriptam oculis adhiberet, cepit diligenter regum singulorum facta et finem secum discutere. Viditque luce clarius regna terrena et res humanos cum labore perquiri, cum timore possideri, cum dolore amitti […] Sponte igitur diuiciarum non seruus sed dominus, quasi magnus uiles abiecit […] Exemplumque assumens ex historia beati uiri predicta, sex reges fortissimos uir uere fortissimus prosecutes est […] Compleuit ergo Ceolwulfus ebdomadam regum perfectorum et habitu monachali susecpto, capiti eius corona de lapide pretioso inposita est a Domino. Die hier und im Folgenden verwendeten deutschen Übersetzungen der ‚Historia Anglorum‘ wurden von der Verfasserin angefertigt. 71 Ebd., II, c. 15, 96. Dies findet sich interessanterweise im Bericht über seinen Tod, Ælle wird erstmals in II, c. 8, 90, erwähnt.

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Anfang, im Rahmen der Darlegungen zur Geographie Britanniens, kommt Heinrich auf die vier Hauptstraßen zu sprechen, die von königlichen Gesetzen und Edikten geschützt wurden.72 Im Gegensatz zu Wilhelm zitiert Heinrich die bei Beda vorgefundene Liste vollständig,73 aber sie wird – sicher mit Absicht – an einer anderen Stelle im Text platziert. Beda nennt die Imperiumsträger, wenn er Æthelbert von Kent, den ersten bekehrten König, erwähnt,74 Heinrich zitiert die Liste, wenn er seinen Lesern von der Herrschaft des Ceawlin von Wessex berichtet, einem der Imperiumsträger, den er andernorts nicht als Oberherrscher nennt.75 Heinrich verschiebt die Liste der Oberherrscher, weil er die englische Geschichte auf den Aufstieg von Wessex ausrichtet und Ceawlin eben der einzige Herrscher von Wessex in der Liste war. Heinrich fügt nicht nur den schon in der Liste der angelsächsischen Chronik präsenten westsächsischen Egbert hinzu, sondern auch die Könige Alfred und Edgar pacificus. Deren Vorherrschaft über die Schotten wird zudem an dieser Stelle bereits erwähnt. Es muss betont werden, dass diese Erweiterung der Liste allein Heinrich zu eigen ist. Die hegemoniale Stellung des halben Heiden Rædwald wird, ebenso wie die von Ceawlin and Ælle, außerhalb der Liste nicht noch einmal angesprochen, und Heinrich übernimmt von Beda auch die Erzählung, dass Rædwald in Versuchung war, Edwin zu töten,76 und wie er wieder vom christlichen Glauben abfiel.77 Der Christ Edwin wird deutlich besser behandelt, denn Heinrich zitiert Bedas Stilisierung der außerordentlichen Friedensherrschaft, die Edwin geglückt sei,78 und wiederholt Bedas Zusammenfassung seiner Vorherrschaft über Angli und Britones.79 Als Heinrich zur Herrschaft von Oswald gelangt, des Nächsten in der Liste, zitiert er wieder Beda, wenn er die Suprematie über Angli, Britones, Scoti und Picti ausführt, macht aber die bedeutungsvolle Ergänzung, dass Oswald nicht nur in regno, sondern auch in mente seine Vorgänger übertroffen habe.80 Diana Greenway, die Editorin der ‚Historia Anglorum‘, übersetzt mens als ‚Seele‘ und es ist ihr darin zuzustimmen, dass die Wortwahl sicherlich die Verbesserung Oswalds aufgrund seiner Frömmigkeit unterstreicht. Obwohl Oswald auch schon 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Ebd., I, c. 7, 22. Ebd., II, c. 23, 104–106. Colgrave/Mynors 1969, I, c. 5, 148. Greenway 1996, II, c. 23, 104: (Ceawlin von Wessex) Cheulingo sexto anno regnante super Westsexe, cepit Aedelberch rex magnus regnare super Chent, tempore Iustini imperatoris […]. Hier folgt dann eine genau Übernahme von Beda II, c. 5. Ebd., III, c. 26, 174. Ebd., III, c. 30, 180. Ebd., II, c. 30, 114. Ebd., III, c. 24, 172. Ebd., III, c. 26, 190: (Oswald von Northumbria) Cuius institutione formatus rex Oswaldus ut mente proficiebat ita et regno plusquam omnes maiores eius. Omnes igitur gentes Britanniae, scilicet Britones, Anglos, Pictos, Scottos, in dicionem accepit.

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bei Beda ausführlich gelobt wird, betont Heinrich dessen spirituellen Ehrgeiz noch etwas mehr. Dies wird von Heinrich im neunten Buch sogar ein weiteres Mal aufgegriffen. Das Thema ist nun Oswald als Heiliger: „Ungerechtigkeit als Ergebnis von Faulheit hatte bei ihm keine Gelegenheit, sondern seine Demut wuchs, als er erhoben wurde.“81 Als Oswald durch die Hand Pendas von Mercia stirbt, fühlt sich Heinrich verpflichtet, Bedas Erzählung die folgende Erklärung hinzuzufügen: „Durch Gottes verborgenen Ratschluss können die Heiden, die Gott verhasst sind, seine geliebten Kinder töten und sie zu Aas für Vögel machen.“82 Heinrich neigt zu einer recht stringenten Interpretation der Geschichte, in der die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden. Oswalds Tod in der Schlacht ist ihm daher ein Rätsel, während die spätere Niederlage Pendas durch Oswalds Bruder Oswiu sich dann gut mit Gottes Hilfe erklären lässt, die Oswiu nach vielen frommen Handlungen verdient hatte – Handlungen, die Heinrich der Erzählung von Beda hinzufügt.83 Obwohl Heinrich seine bretwalda-Liste nur mit Königen von Wessex fortsetzt, erwähnt er doch zumindest auch andere Könige, die eine Vorherrschaft ausübten. Æthelbald von Mercia strebte nach Hegemonie bis hinaus an den Fluss Humber, die er auch erlangte, so dass er in Heinrichs Worten ein rex regum wurde.84 Gott griff allerdings in den Ablauf der Geschichte ein und verursachte Æthelbalds Fall: „Nachdem er 41 Jahre regiert hatte, zahlte dieser mächtige König den Preis für seinen unermesslichen Hochmut. Von diesem Zeitpunkt an hörte das Königreich Wessex, das ja schon gut begründet war, nicht auf zu wachsen, bis es vollendet war.“85 Das Beispiel von Æthelbald ist für Heinrich recht typisch. Es ist bezeichnend, dass die Könige Alfred und Edgar, die Heinrich Bedas Liste hinzufügt, eher mit Oswald als mit Æthelbald zu vergleichen sind, der der Aufnahme in die Liste nicht würdig war: „Gottes Gerechtigkeit gleicht die Untaten eines Mannes aus, nicht nur in der künftigen Welt, sondern auch in der diesseitigen! Er wählt schlechte Könige aus, um seine Untertanen verdientermaßen zu demütigen und erlaubt etwa einem solchen, eine lange Zeit zu rasen, so dass das schlechte Volk für lange Zeit bestraft wird und auch dass, je

81 Ebd., IX, c. 9, 630: (Oswald) […] non prodiit illi ‚ex adipe iniquitas‘, sed creuit in exaltatione humilitas. Die Formulierung stammt von Ps. 72, 7 und Jes. I, 9. Oswald als Heiliger in IX, c. 8– 15. 82 Ebd., III, c. 39, 194: (Oswald) Occulto autem Dei iudicio inuisi Deo pagani dilectos eius mactauerunt, et escas uolatilibus celi dederunt. 83 Ebd., III, c. 41, 198. 84 Ebd., IV, c. 14, 234: maximus omnium und IV, c. 19, 240: rex regum. 85 Ebd., IV, c. 19, 244: (Æthelbald von Mercia) Sic itaque rex ualidissimus, cum quadragesimo primo anno regnasset, superbie inmoderate penas exsoluit. Regnum uero Westsexe, ex hoc tempore ualde roboratum, crescere usque in perfectum non destitit.

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schlechter der König ist, er selbst umso mehr in der Ewigkeit bestraft wird, gerade so wie Æthelbald, der genannte König von Mercia.“86

Egbert von Wessex wird für seine militärischen Erfolge bei der Eroberung eines Königreiches nach dem anderen, sei es mit Gewalt oder durch Überredung, gelobt, bis er schließlich den Humber erreichte und auch die Waliser unterwarf.87 Über Egberts Seelenzustand lässt sich Heinrich nicht aus, betont aber bezeichnenderweise, dass der Erfolg von Wessex Teil von Gottes Plan und deshalb vorherbestimmt war, und weniger als ein Ergebnis der individuellen Verdienste Egberts zu betrachten ist. Alfred ist der nächste König, der Heinrichs Version der bretwalda-Liste hinzugefügt wird. Verglichen mit dem, was Heinrich über Æthelbald von Mercias Macht schreibt, wirkt die Formulierung, die er für Alfreds Macht wählt, etwas zurückgenommener: „[Alfred] herrschte über ganz England mit Ausnahme der Gegenden, die den Dänen unterworfen waren.“88 Er führt aus, dass Alfreds Herrschaft schwierig und mühsam war – nicht gerade eine Formulierung, die man bei einem mächtigen König erwarten würde. Erst bei Edgar, dem zehnten in der Liste, fallen Frömmigkeit und Macht wieder zusammen. Edgars Macht wird durch seinen Eifer für kirchliche Dinge ausgeglichen und Heinrich bestätigt ihm, dass „er wusste, wie man das wahre [himmlische] Königreich durch das falsche, das mächtige durch das kleine, das ewige durch das flüchtige suchen könne.“89 Obwohl Heinrich also die militärischen Erfolge von Edgars Vorgängern (Æthelstan, Edmund und Eadwig) gegen die Dänen, Schotten und Northumbrier erwähnt und lobt, schweigt er sich doch über die Frömmigkeit dieser Könige aus.90 In seiner Version antizipieren sie lediglich die friedliche Zeit

86 Ebd., IV, c. 20, 246: (Æthelbald) Dei iusticia non solum futuro in seculo, uerum etiam in isto, digna meritis recompensat! Eligens namque reges improbos ad contricionem promeritam subiectorum, alium diu insanire permittit, ut et populus prauuus diu uexetur, et rex prauior in eternum acrius crucietur, ueluti Aedelboldum regem Merce prefatum […]. 87 Ebd., IV, c. 28–30, 260–264. 88 Ebd., V, c. 13, 296: (Alfred) Alfredus rex, cum regnasset uiginti octo annis et dimidio super totam Angliam, preter illas partes que subdite errant Dacis mortis sensit aculeum. De cuius regimine laborioso et inextracabili uexatione uersifice proloqui dignum duximus. 89 Ebd., V, c. 26, 322: (Edgar) Edgarus pacificus, rex magnificus, Salomon secundus, cuius tempore numquam exercitus aduenarum uenit in Angliam, cuius dominio reges et principes Anglie sunt subiecti, cuius potentie Scot etiam collam dedere, cum regnasset sedecim annis et duobus mensibus, feliciter uiuencs, feliciter obiit. Nec potuit male mori qui bene uixerat. […] De cuius laude musam aliquantulum dicere pro meritis promouimus: […] Nouit enim regno uerum peruquirere falso/ Inmensum modico perpetuumque breui. 90 Ebd., V, c. 18, 308 und 310 über Æthelstan und seine Siege über Dänen und Schotten, in V, c. 19, 310–314, stellt er sogar eine lateinische Übersetzung des englischen Liedes von der Schlacht von Brunanburh zur Verfügung, V, c. 20 und 21, 314 und 316, berichten über Edmund; V, c. 22, 316 und 318, behandelt Eadred, und in V, c. 23, 318, geht es um die kurze Herrschaft von Eadwig, dessen vielversprechende Herrschaft laut Heinrich abgekürzt wurde.

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von Edgar, als einzigem Nachfolger Alfreds, den Heinrich der Liste Bedas für würdig hält. Für Heinrichs Vorstellung von der Vorherrschaft als Zeichen göttlicher Vorsehung ist es aufschlussreich, wie die Könige, die nach Edgar die Vorherrschaft ausübten, dargestellt werden. Ganz ähnlich wie Wilhelm von Malmesbury erzählt Heinrich seinen Lesern, wie Knut einige der angelsächsischen Adeligen wie Eadric von seinem Hof entfernte, aber während Wilhelm der Meinung ist, dass diese Maßnahme Knuts Herrschaft gestärkt habe, sieht Heinrich darin eine passende Vergeltung für die Schlechtigkeit der Engländer.91 Knut war „Herr über ganz Dänemark, England, Norwegen und Schottland“,92 aber eine zentrale Handlung, die die Erlösung seiner Seele sicherstellte, war seine Einsicht in die Eitelkeit der eigenen Macht. Heinrich zufolge versuchte Knut der steigenden Flut zu verbieten, die Grenzen seines Königreiches zu berühren, aber als sein Befehl keine Wirkung zeigte, verkündete er: „Lasst die ganze Welt wissen, dass die Macht von Königen leer und nichtig ist, und dass es keinen König gibt, der den Namen wirklich wert ist, als bis auf den, dessen ewigen Gesetzen sich Himmel, Erde und See beugen.“93 Knut erkannte die höhere Macht Gottes an und steigerte auf diese Art seine eigenen Chancen auf Erlösung. An das Beispiel von Edgar, der das himmlische Königreich aktiv erstrebte, reichte er allerdings nicht heran. Als Heinrich die Regierungszeit Wilhelms des Eroberers zusammenfasst und erklärt, dass dieser der mächtigste aller englischen Königen gewesen sei, ermahnt er jedoch seine Leser, dass sie nur die Tugenden Wilhelms nachahmen und die Laster vermeiden sollten.94 Über den Seelenzustand des Eroberers will Heinrich nicht mehr sagen, als dass Gott Erbarmen mit Wilhelms Seele haben solle95 – ein starker Kontrast zu seiner Überzeugung, dass diejenigen angelsächsischen Könige, die abgedankt hatten, die Krone des Himmels erlangt hätten. Der Tod des Wilhelm Rufus wird von Heinrich im Einklang mit anderen historiographischen Werken der Zeit zur gerechten Strafe für ein verbrecherisches Leben stilisiert.96 Während Heinrich die Hegemonie Wilhelms des Eroberers über Britannien erwähnt und anerkennt, spielt er Rufus’ Leistungen in

91 Ebd., VI, c. 15, 362; auch bei Wilhelm von Malmesbury, GRA, II, c. 181, 320; vgl. auch Anmerkung 40. 92 Ebd., VI, c. 17, 366. 93 Ebd., VI, c. 17, 368: (Knut) Sciant omnes habitantes orbem, uanam et friuolam regum esse potentiam, nec regis quempiam nomine dignum, preter eum cuius nutui celum, terra, mare, legibus obediunt eternis. 94 Ebd., VI, c. 38, 404: De cuius regis potentissimi uita, bona perstringenda sunt et mala, ut a bonis sumantur exempla, et a malis discatur cautela. 95 Ebd., VI, c. 39, 406 (Wilhelm der Eroberer und seine Frau Mathilda) Quorum animabus misereatur qui solus post mortem medetur. 96 Ebd., VII, c. 22, 446 und 448.

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Schottland herunter und bestreitet jedwede Erfolge in Wales.97 Für Heinrichs Vorstellung des Zusammenhangs von Königsherrschaft und persönlicher Erlösung ist es bezeichnend, dass er resümiert, Rufus sei zwar schlecht für sein Volk, am schlimmsten aber für sich selbst gewesen.98 Es ist bekannt, dass Heinrich von Huntingdon seine Einschätzung von Heinrich I. nach dessen Tod stark ändert, ja sogar offen betont, dass er erst nach Heinrichs Tod frei sei, seine Meinung zu äußern.99 Indes kann man im Lichte dessen, was Heinrich über die Vorgänger Heinrichs I. schreibt, durchaus Hinweise auf eine negative Beurteilung Heinrichs I. entdecken – so auch in den frühesten Redaktionen der ‚Historia‘. Heinrich von Huntingdon gibt seinen Lesern vielfältige Informationen über Heinrichs I. Erfolge im Krieg gegen seinen Bruder Robert,100 gegen die Waliser,101 sowie bei seinen Verhandlungen mit den Schotten102 und betont, dass Heinrich I. all seine Vorgänger übertroffen habe.103 Im Gegensatz zu seiner Schilderung der normannischen Eroberung Englands, wo der normannische Sieg mit Gottes Willen, die Engländer zu bestrafen, erklärt wird, nimmt Heinrich von Huntingdon für Heinrich I. ebenfalls göttliches Eingreifen in Anspruch, aber nicht dergestalt, dass das Schicksal ganzer Völker zum Spielball göttlichen Willens wird, sondern in der Art, dass Gott zwischen zwei möglichen Kandidaten für den englischen Thron, zwischen Robert Kurzhose und Heinrich I., wählen muss: „Aber Gott, der ganz anders urteilt als die Söhne der Menschen, der die Demütigen erhebt und die Mächtigen niederwirft, entzog Robert die Gunst aller und veranlasste ein Erstrahlen des Ruhmes des bis dato verachteten Heinrich in der ganzen Welt.“104

Es scheint also, als ob hier ein günstiges Urteil über Heinrich I. gefällt würde. Indes wird man einwenden können, dass Heinrich von Huntingdon zahlreiche Beispiele von mächtigen Königen in angelsächsischer Zeit nennt, zu deren 97 Ebd., VII, c. 2, 414 und 416 über die Auseinandersetzung mit dem schottischen König Malcolm; VII, c. 3, 418 über die Erhebung von Duncan; VII, c. 19, 444 über die Erhebung von Edgar; VII, c. 4, 420 parum proficiens uel nihil (über den Zug gegen die Waliser), VII, c. 19, 444. Insgesamt hat Heinrich im siebten Buch wesentlich mehr über den Ersten Kreuzzug zu sagen als über Wilhelm Rufus. 98 Ebd., VII, c. 22, 446 und 448: (Wilhelm II. Rufus) Iure autem in medio iniusticie sue prereptus ext. Ipse namque ultra hominem erat, et consilio pessimorum quod semper eligebat, suis nequam, sibi nequissimus […]. 99 Ebd., X, c. 1, 698, 700. 100 Ebd., VII, c. 26, 454. 101 Ebd., VII, c. 28, 460 und VII, c. 33, 468. 102 Ebd., VII, c. 26, 456: Nachfolge Alexanders auf Betreiben König Heinrichs I. 103 Ebd., VII, c. 26, 456: […] omnes suos antecessores precessit […]. 104 Ebd., VII, c. 26, 454 und 456: (Heinrich I.) Sed Deus qui longe aliter iudicat quam filii hominum, qui exaltat humiles et deprimit potentes, Robertum omnium fauore celeberrimum deposuit, et Henrici despecti famam per orbem terrarum clarescere iussit.

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Chancen auf Erlösung er schweigt. Man könnte auch darauf hinweisen, dass der Erfolg Heinrichs I. in erster Linie eine Bestrafung Robert Kurzhoses bedeutete,105 geradeso wie der Sieg des Eroberers zunächst eine Bestrafung der Engländer war. Wenn man darüber hinaus noch einbezieht, wie Robert beschrieben wird, könnte Gottes Urteil als Ablehnung Roberts und nicht notwendigerweise als Befürwortung Heinrichs I. verstanden werden. Und schließlich lässt sich anmerken, dass Heinrich von Huntingdon an keiner Stelle in der ‚Historia Anglorum‘ erwähnt, dass Heinrich I. überhaupt irgendeine Anstrengung unternommen habe, um die himmlische Krone zu erhalten. Heinrich von Huntingdon vermerkt sogar, dass die von ihm angeführten historischen exempla explizit dafür gedacht waren, König Heinrich I. die Eitelkeit der Welt zu zeigen und in ihm das Verständnis dafür zu wecken, dass es keinen Sinn habe, weltlichen Ruhm zu sammeln.106 König Heinrich hätte Ceolwulf nachahmen sollen. Stattdessen fuhr er fort wie zuvor, was zu seinem schrecklichen Tod und noch schrecklicheren Begräbnis führte und seine mögliche Verdammnis belegt.107 Dass die Liste der Imperiumsträger nicht über Edgar hinaus verlängert wird, ist also nicht nur eine Frage des Bruchs, den die Eroberung von 1066 mit sich brachte, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass es nach Edgar keine Könige mehr gab, die der Liste würdig gewesen wären. Dies lässt sich noch zusätzlich untermauern, wenn wir uns die zweite Königsliste von Heinrich von Huntingdon ansehen. Er benutzt nämlich nicht nur Bedas bretwalda-Liste, sondern stellt auch, wie bereits kurz erwähnt, eine weitere Liste mit sieben Königen zusammen, die abdankten, um das Himmelreich zu erlangen. Interessanterweise wird diese Liste der Könige in die Zeit nach Beda fortgeführt. Heinrich nennt Eadbert von Northumbria als den achten König, der abgedankt und sich einem religiösen Leben gewidmet habe.108 Die Parallele zur bretwalda-Liste führt Heinrich, der hier keinen neunten und zehnten König hinzufügt, nicht aus. Dennoch ist es aufschlussreich, mögliche Kandidaten für eine solche Fortführung der Liste auszumachen und ihre Darstellung bei Heinrich zu betrachten: Hier wäre etwa Edgar der Ætheling zu nennen, den Heinrich nach dem Tod Edwards des Bekenners als möglichen Königskandidaten anführt.109 Edgar erfährt durch Heinrich eine bessere Behandlung als durch Wil105 Ebd., VII, c. 25, 454: Reddiditque Dominus uicem duci Roberto. Quia cum gloriosum reddidisset eum in actibus Ierosolimitanis, regnum Ierosolim oblatum sibi renuit, magis eligens quieti et desidie in Normannia deseruire, quam Domino regum in sancta ciuitate desudare. Dampnauit igitur eum Deus desidia perhenni, et carcere sempiterno. 106 Greenway 1996, Letter to Warin, 558–582, und Letter to Henry (nach dem Tod des Königs geschrieben!), 502–556. 107 Ausführliche Schilderung bei Huntingdon, Greenway 1996, X, c. 1 und 2, 698–805. 108 Ebd., IV, c. 21, 248. 109 Ebd., VI, c. 27, 384.

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helm von Malmesbury, für den er das letzte unfähige Mitglied einer einst stolzen Familie ist.110 Die Formulierungen, die Heinrich benutzt, deuten nie an, dass Edgar jemals Ambitionen auf das Königtum gehabt hätte – vielmehr schreibt er ihm eine eher passive Rolle zu. Edgar ergriff nur einmal die Initiative, als er sich für die Heirat seiner Schwester Margret mit Malcolm einsetzte. Nach 1074, so Heinrich, lebte er zufrieden am Hof des Eroberers und half sogar Wilhelm Rufus bei einem Feldzug in Schottland.111 Heinrich lässt Vorkommnisse, bei denen Edgar mit den anglo-normannischen Königen in Streit geriet, in seiner Erzählung ganz aus.112 Edgars Verbindung zur Linie der ruhmreichen angelsächsischen Könige wird von Heinrich von Huntingdon jedenfalls nicht in den Vordergrund gestellt. Da Heinrich ehrgeizige, machthungrige Personen stets verurteilt, könnte man annehmen, dass er Edgar in ein positives Licht rücken will. Ein weiterer Kandidat, der eine Krone ablehnte, ist Robert Kurzhose – jedoch ist er eindeutig ein schlechtes Beispiel. Robert Kurzhose wurde die Krone von Jerusalem angeboten als er auf Kreuzzug war, aber es widerstrebte ihm, „sich für den Herrn der Herren in seiner Stadt zu mühen“.113 Es ist offensichtlich, dass Robert die Krone nicht deshalb zurückwies, weil es ihm um sein eigenes Seelenheil ging, sondern aufgrund seiner Faulheit, was laut Heinrich genau die falsche Wahl war. Die Liste der abdankenden Könige kann also nicht fortgeführt werden, weil sich genau wie im Fall der bretwalda-Liste keine Könige finden, die der Liste würdig wären. Heinrich von Huntingdon nutzt Beda viel ausführlicher und häufiger und zitiert ihn in extenso, aber seine Auslegung von Geschichte ist schlichter als die von Beda: Weltliche Herrschaft ist nichtig im Angesicht der Ewigkeit und so können mächtige Könige wie Wilhelm der Eroberer oder sogar Wilhelm Rufus zwar Instrumente Gottes sein, sie können jedoch niemals in Gottes Gunst stehen. Diese wird nur denjenigen zuteil, die nach dem Himmelreich streben. Obwohl Beda Könige, die sich um ihr eigenes Seelenheil bemühten, zu schätzen weiß, propagiert er doch nicht, dass dies der einzig mögliche Weg zum Himmel sei. In Heinrichs Augen können alle Könige, die über andere Vorherrschaft ausübten, den Lesern seiner Geschichte als Beispiel dienen und je mächtiger der König erscheint, umso tiefer gestalten sich sein Fall und seine Verdammnis.

110 Vgl. auch Anmerkung 48. 111 Greenway 1996, VI, c. 24, 380, wird Edgar kurz als Verwandter Edwards des Bekenners genannt, VI, c. 27, 384, wird er als möglicher Nachfolger gehandelt, VI, c. 31, 396, verlobt er seine Schwester mit König Malcolm, und VI, c. 33, 398: Edgar versöhnt sich mit dem Eroberer. 112 Greenway 1996, Anmerkungen 416n., 418 n. und 454n. 113 Greenway 1996, VII, c. 25, 454: magis eligens quieti et desidie in Normannia deseruire quam Domino regum in sancta ciuitate desudare; vgl. auch Anmerkung 104.

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Insgesamt behandeln Wilhelm und Heinrich Beda also sehr unterschiedlich und in einer Art und Weise, die für ihre jeweilige Interpretation der angelsächsischen Vergangenheit spezifisch ist. Während Wilhelm Beda nur selten wörtlich zitiert, ist er Bedas Geschichtsvorstellung doch deutlich näher. Für Wilhelm wird Geschichte natürlich von Gott bestimmt, aber was für Gott eindeutig sein mag, bleibt für ihn bisweilen undurchschaubar. Das Zusammenspiel von Lastern, Tugenden, Macht, Herrschaftsfähigkeit, Beteiligung der Adeligen und der Bischöfe, göttlicher Gunst und göttlicher Vorherbestimmung kann in fast allen möglichen Varianten auftauchen und ist daher überaus komplex, sei es nun bei den Angelsachsen oder den Anglo-Normannen. Einen Konnex zwischen einem moralisch guten Herrscher und guter Herrschaft im Sinne einer vor allem für die Untertanen nützlichen Herrschaft stellt Wilhelm von Malmesbury keinesfalls her. Heinrich indes zitiert fast die gesamte ‚Historia Ecclesiastica‘ bei der Nacherzählung der angelsächsischen Geschichte, aber bei der Wiedergabe von Bedas Erzählungen und seiner Muster von Hegemonie ordnet er alles seiner Vorstellung unter, dass Geschichte in allererster Linie die Eitelkeit der Welt aufzeigen soll. Für Heinrich besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den moralischen und den Herrscherqualitäten eines Königs. Heinrich und Wilhelm repräsentieren zwei mögliche Methoden, die Tradition der angelsächsischen Vergangenheit zu handhaben und die angelsächsischen Könige mit den anglonormannischen Königen in eine Traditionslinie zu stellen. Heinrich von Huntingdon hält sich an den Wortlaut von Bedas ‚Historia Ecclesiastica‘, aber ändert deren Geist, um Geschichte anders und einfacher zu deuten. Wilhelm hingegen findet in Bedas Meisterwerk eine verwandte Seele und lässt sich von der Komplexität der angelsächsischen Vergangenheit und von Gottes Eingreifen in die Geschichte der Angli inspirieren, während er gleichzeitig die Ereignisse in seine ganz eigenen Worte gießt.

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Hugo O. Bizzarri

Hunde im Krieg: ein Bild der Macht im mittelalterlichen Kastilien

Abstract The literary representation of the dog in the Middle Ages offers three portrayals of this animal: as a domestic animal, a companion to the ladies of the court, and a guardian of the home; furthermore, it is described as an indispensable hunting aid; finally, it can be presented as the natural enemy of the wolf, with whom it carries out an ancestral war. The Castilian Middle Ages offer the first two images in encyclopaedias and hunting treaties; the third is fundamentally developed in the tradition of the fable. Stories from ‘Calila and Dimna’ and ‘Sendebar’ present the oldest examples in which dogs are portrayed as fighters and warriors. Nevertheless, this image was fundamentally exploited in the 15th century, especially in two texts: Gómez Manrique’s ‘Esclamaçión e querella de la gouernaçion’ and Alfonso de Palencia’s ‘Batalla campal de los perros contra los lobos’. These stories are a perfect representation of the conflictive power relations of the Castilian Middle Ages.

Aristoteles weist darauf hin, dass die Tiere miteinander im Streit liegen, wenn sie das gleiche Territorium und die gleichen Subsistenzmittel teilen. Darüber hinaus hebt er hervor, dass alle Tiere – als deren potentielle Beute – auch gegen die fleischfressenden Tiere im Krieg stehen. Im Rahmen dieses Überlebenskampfs erwähnt er unter anderem die Feindschaft zwischen dem Adler und der Schlange, dem Milan und der Krähe, dem Esel und der Eidechse, dem Löwen und dem Schakal.1 Fabeln, Erzählungen und Metaphern, die von Tieren handeln, spiegeln diese konfliktreichen Beziehungen wider. Dies habe ich an anderer Stelle als das literarische Motiv der batalla animal („Tierschlacht“) bezeichnet.2 In zahlreichen 1 Aristote, Histoire des animaux, Livres VIII–X, ed. Pierre Louis, 3 Bde., Bd. 3, Paris 1969, 65–69. 2 Hugo O. Bizzarri, El motivo de la batalla animal en Castilla (siglos XIII–XV), in: Gabriela Cordone/Marco Kunz (edd.), Ficciones animales y animales de ficción en las literaturas hispánicas, Wien 2015, 39–53; Ders., El motivo de la batalla animal: ensayo de definición, in: Leonardo Funes (ed.), Hispanismos del mundo. Diálogos y debates en (y desde) el Sur, Buenos Aires 2016, 21–28. Vgl. zusätzlich Rolf Wilhelm Brednich, Krieg der Tiere, in: Ders. (ed.), Enzyklopädie des Märchens, 15 Bde., Bd. 8, Berlin/New York 1996, 430–436.

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Geschichten wird diese als ein Konflikt von besonderer Tragweite dargestellt: ‚Calila e Dimna‘ stellt den Krieg zwischen Krähen und Eulen vor (Kapitel 6); die griechische und lateinische Fabeltradition zeigt einige Beispiele, in denen sich verschiedene Tierarten feindlich gegenüberstehen; im 14. Jahrhundert erscheinen karnevaleske Darstellungen, welche Armeen von Tieren miteinander konfrontieren. Tierfabeln und -erzählungen stellen die Welt insofern als einen ständigen Konflikt dar.

Abb. 1: Mariano Danielo di Jacopo Taccola, De rebus militaris, Paris, BNF, ms. fr. 619, fol. 28v. (Christian Heck/Remy Cordonnier, Le bestiaire médiéval, Paris 2018, 210).

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Innerhalb dieses Motivs spielen Kampfhunde eine besondere Rolle. Es ist bekannt, dass bereits in der Antike mit der Kreuzung verschiedener Hunderassen oder sogar mit der Kreuzung von Hund und Wolf experimentiert wurde, um immer kräftigere und im Kampf aggressivere Exemplare zu züchten.3 Die Ausbildung der Tiere für ihren Einsatz im Krieg ist so alt wie ihre Zucht als Haustier. Diese Taktik wurde während der Kolonisierung Amerikas und sogar in zeitgenössischen Kriegen weitergeführt.4 Im Mittelalter verweist auch die Ikonografie auf diese Verwendung, wie es zahlreiche Manuskripte von Militärtraktaten bezeugen. Angesichts der reichhaltigen Ikonografie der Jagd soll hier nicht näher darauf eingegangen werden. Aufgrund meiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Motiv der Tierschlacht kann ich festhalten, dass in vielen Geschichten des kastilischen Mittelalters Kampfhunde vorkommen. Um diesen Aspekt weiter zu vertiefen, möchte ich mich im Folgenden auf Erzählungen konzentrieren, in denen sie als Protagonisten auftreten. Kampfhunde stellen die hochempfindlichen Machtverhältnisse des Mittelalters wie keine andere Tierart dar.

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Der Hund, ein treues und häusliches Tier

Mittelalterliche Vorstellungen des Hundes vermischen folkloristische Elemente mit denen einer langen literarischen Tradition.5 Sie betonen die extreme Treue des Tieres zum Menschen – beispielsweise durch Geschichten von Hunden, die neben dem Grab ihrer Herren ausharren oder sogar mit ihnen begraben werden. Der außergewöhnlichste Fall ist der Kult Saint Guineforts, eines die Kinder heilenden Windhundes aus der Nähe von Lyon, den Étienne de Bourbon in der Mitte des 13. Jahrhunderts dokumentiert.6 Zugleich wird aber auch von den schlechten Eigenschaften, ja Lastern des Tieres berichtet, wie Wollust, Gier und Undankbarkeit. 3 Robert Delort, Les animaux ont une histoire, Paris 1984, 461–463. 4 Vgl. Martin Monestier, Les chiens de guerre. Trente siècles de services, in: Ders., Les animaux-soldats. Histoire militaire des animaux des origines à nos jours, Paris 1996, 29–74, sowie Frederick Forsyth, Les chiens de guerre, Paris 1975. 5 Für allgemeine Erläuterungen vgl. Delort 1984, 449–474; Rudolf Schenda, Hund, in: Rolf Wilhelm Brednich (ed.), Enzyklopädie des Märchens, 15 Bde., Bd. 6, Berlin/New York 1990, 1318–1340; Michel Pastoureau, Le chien, in: Ders., Bestiaires du Moyen Âge, Paris 2011, 123–125; René Cintré, Le chien et le chat: à chacun son dû, in: Ders., Bestiaire médiéval des animaux familiers, Paris 2013, 92–99; Christian Heck/Remy Cordonnier, Canis. Le chien, in: Dies., Le bestiaire médiéval. L’animal dans les manuscrits enluminés, Paris 2018, 202–211. 6 Diese Erzählung ist eng mit der Geschichte von Llewellyn und seinem Hund verknüpft, vgl. Jean-Claude Schmitt, Le saint lévrier, Guinefort, guérisseur d’enfants depuis le XIIIe siècle, Paris 1979.

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Spanien hat immer eine eher hundefreundliche Haltung gezeigt. Alle Handbücher, die die Eigenschaften des Hundes beschreiben, heben seine positiven Eigenschaften hervor, wie etwa Isidor von Sevilla in seinen ‚Etymologiae‘: Nihil autem sagacius canibus; plus enim sensui ceteris animalibus habent. Namque soli sua nomina recognoscunt; dominos suos diligunt; dominorum tecta defendunt; pro dominis suis se morti obiciunt; uoluntarie cum domino ad praedam corrunt; corpus domini sui etiam mortuum non rilinquunt. Quorum postremo naturae est extra homines esse non posse. In canibus duo sunt: aut fortitudo, aut velocitas.7 „Nichts aber wittert schärfer als Hunde, sie haben nämlich mehr Sinne als die übrigen Lebewesen. Denn sie alleine kennen ihre Namen; sie lieben ihre Herren, sie verteidigen die Häuser ihrer Herren, sie geben sich für ihre Herren dem Tod hin; freiwillig gehen sie mit dem Herrn auf die Jagd. Den Körper ihres Herren verlassen sie nicht, auch wenn er tot ist. Schließlich kann deren Wesen ohne den Menschen nicht existieren. Bei den Hunden gibt es zwei [mögliche Stärken]: entweder Tapferkeit oder Schnelligkeit.“

Isidor betont Tugenden wie das Gedächtnis, die Intelligenz, die Kraft, die Schnelligkeit, aber vor allem die Treue, die den Hund im Laufe der Zeit zum Symbol der ehelichen Liebe machte. Er verschweigt hingegen die vielen negativen Implikationen, an die uns die Sprichwörter des spanischen Mittelalters immer wieder erinnern: por dinero bayla el perro (‚Seniloquium‘ Nr. 344; „Für Geld tanzt der Hund“, sinngemäß: „Geld regiert die Welt“) und el perro del ortelano, ni come las verças ni las dexa comer (Santillana, ‚Refranes‘ Nr. 261; „Der Hund des Gärtners frisst keinen Blattkohl und erlaubt auch anderen nicht, ihn zu fressen“, sinngemäß: „Was ich nicht haben kann, soll auch kein anderer haben“) deuten seine Gier an; quien con perros se echa con pulgas se levanta (‚Libro del caballero Zifar‘; „Wer mit Hunden zu Bett geht, wacht mit Flöhen wieder auf“) warnt vor schlechter Gesellschaft; los perros de Çorita: pocos y mal avenidos (Santillana, ‚Refranes‘ Nr. 387; „Die Hunde von Zorita: wenige und zerstritten“) symbolisiert Zwietracht; el can con ravia, a su dueño traba (‚Seniloquium‘ Nr. 138; „Der tollwütige Hund beißt auch seinen Herrn“) verweist auf haltlosen Zorn.8 Zum größten Teil basiert die breit gefächerte symbolische Bedeutung des Hundes im kastilischen Mittelalter auf der ‚Historia naturalis‘ des Plinius. Der Enzyklopädiker fasst eine ganze Reihe positiver Eigenschaften des Hundes zusammen: seine Treue, seine Intelligenz, seine Nützlichkeit für den Krieg und vor 7 Isidore de Séville, Étymologies. Livre: XII. Des animaux, ed. Jacques André, Paris 1986, 110– 112. Deutsche Übersetzung aus Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, ed. u. übers. v. Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, 459f. 8 Beispiele aus Eleanor O’Kane, Refranes y frases proverbiales españolas de la Edad Media, Madrid 1959, s. v. can y perro. Einige Sprichwörter – insbesondere arabischer Herkunft – sind von Fernando de la Granja, Del perro de Olías y otros perros, in: Al-Andalus, 37, 2 (1972), 463–482, untersucht worden. Sofern nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen der Beispiele hier und im Folgenden von Mechthild Albert.

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allem für die Jagd: Plurima alia in his Cotidie uita inuenit, sed in uenatu sollertia et sagacitas praecipua est („Noch viele andere schätzbare Eigenschaften hat man an ihnen nach und nach entdeckt. Aber ganz vorzüglich zeigt sich ihre Geschicklichkeit und Klugheit auf der Jagd.“).9 Von der Tradition des Plinius wird Alfons X. inspiriert, als er in seiner ‚General Estoria‘ ein kleines Traktat über Tierkreuzungen einarbeitet.10 Da der weise König seine Quellen nicht wortgetreu nahm – besonders die heidnischen –, entwickelt er in seiner Chronik eine Geschichte, die sich durch die Kombination biblischer und antiker Quellen auszeichnet. Plinius wird von Alfons aus einer biblischen Perspektive ausgelegt. Wie der König selbst andeutet, verbietet Moses in Levitikus 19, 19 – „Meine Ordnungen sollt ihr halten. Dein Vieh von zweierlei Art sollst du sich nicht begatten lassen; dein Feld sollst du nicht mit zweierlei Samen besäen, und ein Kleid, aus zweierlei Stoff gewebt, soll nicht auf dich kommen“ – die Veränderung der von Gott geschaffenen Natur: […] que non bolviessen en uno animalias de señas naturas departidas pora fazer fijos d’otra natura tercera, si non como las el fiziera pares una pora otra a cadaunas en sus naturas, nin sembrassen semientes de dos naturas nin de mas en uno, nin vestiessen paños fechos de dos cosas, como de lana e de lino.11 „damit sie nicht Tiere zweierlei Art miteinander verbinden, um Kinder einer anderen, dritten Art hervorzubringen, da er sie ja zu Paaren geschaffen und aufgrund ihrer Natur füreinander bestimmt hat, damit sie nicht zweierlei oder mehr Samen säen noch Kleider aus zweierlei Stoff tragen, wie etwa Wolle und Leinen.“

Dieser aufkeimende Tierschutz von Seiten Alfons’ entsteht nicht aus seinem Interesse am Artenschutz, sondern aus seinem Wunsch, das Werk Gottes zu bewahren, denn jede Kreuzung von Tierarten verändert die Natur und insofern das Werk Gottes. Er versäumt es dennoch nicht, seine Bewunderung für bestimmte Tierkreuzungen zu bekunden. So sollen die Hindus ausgezeichnete Jagdhunde durch die Kreuzung von Hunden und Tigern züchten: e d’aquellos fazen muy buenos canes. E a estos canes d’esta guisa mezclados coñocen todos los otros avantaja en la caça12 („und aus diesen machen sie sehr gute Hunde. Und diese solchermaßen gekreuzten Hunde sind für ihre alle anderen übertreffende 9 Pline l’Ancien, Histoire naturelle, ed. Alfred Ernout/Jean Beaujeu, 37 Bde., Bd. 8, Paris 1952, 61, 40, 74. Deutsche Übersetzung aus Die Naturgeschichte des Cajus Plinius Secundus, übers. v. Georg Christoph Wittstein (1881/1882), ed. Lenelotte Möller/Manuel Vogel, 2 Bde., Bd. 1, Wiesbaden 2007, 469. 10 Alfonso X El Sabio, General estoria. Primera Parte, ed. Pedro Sánchez Prieto-Borja, 2 Bde. , Bd. 2, Madrid 2001, 546–584. 11 Ebd., 546. 12 Ebd., 561. Aristoteles wies schon darauf hin, dass die Kreuzung von Molossern mit Hunden aus Lakonien zu Tieren führte, die sich durch Mut und Wildheit auszeichneten; vgl. Louis 1969, IX, 1. In IX, 20 beschäftigt sich Aristoteles wiederum mit der Hundezucht.

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Eignung für die Jagd bekannt“). In Frankreich werden Hunde mit Wölfen gekreuzt, um die bestmöglichen Exemplare zu erreichen: E d’esta mezcla se fazen los mas fuertes e mejores que los franceses an13 („Und aus dieser Kreuzung schaffen sie die Kräftigsten und Besten, über die die Franzosen verfügen“). Von Plinius übernimmt er die Anekdote des Königs von Albanien, der Alexander einen so tapferen Hund schenkte, dass dieser nur mit gleichrangigen Tieren kämpfte. Alfons drückt seine Begeisterung für diese Hunde aus, die trotz der Veränderung ihrer Natur zur Jagd geeignet sind. Auch Brunetto Latini verweist auf Plinius in seiner Enzyklopädie ‚Li livres dou tresor‘, die Sancho IV., Sohn von Alfons X., ins Spanische übersetzen lässt. Latini spricht von einer Kreuzung aus Hund, Wolf und Tiger, jedoch ohne das biblische Substrat, das die gesamte Erzählung des weisen Königs durchzieht. Da die Enzyklopädie Latinis für ein adliges Publikum bestimmt ist, bezieht er sich zwar häufig auf Hunde, die als Begleitung für Damen geeignet sind (buenos para [en camara] de las dueñas),14 widmet jedoch auch einen großen Teil den Jagdhunden, den man als eine Art Jagdtraktat en miniature betrachten kann: E sabet que de canes & de lobos quando se ayuntan en uno, nasçen una manera de canes que son muy crueles, e que los muy crueles nasçen del ayuntamiento de los canes & de los tigres, que son muy ligeros; estos son a muy grant maravilla fuertes & muy crueles […] Los otros son podencos & sabuesos, que conosçen por el olor las bestias & las aves, & por ende son buenos para en caça. & quien ama la caça develos mucho amar & guardar que se non ayunten a los otros canes quando ovieren de engendrar, ca los canes an la conoçençia [de las aves & de las bestias] por linage & non por olor, et por ende dize el proverbio de los labradores que can caça por natura. Otros ay que son lebreros, & llamanlos algunos seguidores, por que siguen las bestias en pos que van fasta que las matan. Et ay otros canes que caçan çiervos, & otros que caçan bestias monteses, & otros que caçan nutrias & otras bestias que andan por las aguas. Et ay otros que son [galgos], mas ligeros para correr, & toman liebres & otras [bestias], & otros que son alanos & mastines, & son muy grandes & muy fuertes, & syguen bien los venados asi commo osos & javalis & lobos & otras grandes bestias, & algunas vegadas lidan con los onbres.15 „Und ihr sollt wissen, dass der Paarung von Hund und Wolf eine sehr grausame Hunderasse entspringt, und dass besonders grausame Tiere der Paarung von Hunden und Tigern entstammen, die sehr leichtfüßig sind; diese sind erstaunlich stark und sehr grausam […]. Die anderen sind Wind- und Spürhunde, die die Tiere und Vögel am Geruch erkennen und daher gut zur Jagd geeignet sind, und jeder, der die Jagd liebt, sollte sie ebenfalls lieben und darauf achten, dass sie sich zur Paarung nicht mit anderen Hunden zusammentun, da diese Hunde das Gespür [für die Vögel und die Tiere, d. h. ihre Jagdbeute] dank ihrer genetischen Herkunft, nicht aufgrund ihres Geruchsinns 13 Sánchez Prieto-Borja 2001, 561. 14 Brunetto Latini, Libro del tesoro: versión castellana de Li livres dou tresor, ed. Spurgeon Baldwin, Madison 1989, 87. 15 Ebd., 87.

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besitzen, und daher sagt das Sprichwort der Bauern, dass der Hund aufgrund seiner Natur jagt. Wieder andere sind die Jagdhunde für die Hasenjagd, die auch Verfolger genannt werden, da sie die Beutetiere verfolgen, bis sie sie töten. Andere wiederum jagen Hirsche oder Bergwild, andere Nutrias und sonstiges Wasserwild. Dann gibt es Windhunde, die schneller laufen und Hasen und andere Tiere fangen und wiederum andere, Doggen und Mastiffs, die sehr groß und sehr stark sind und das Rotwild sowie Bären und Wildschweine und Wölfe und anderes Großwild jagen und gelegentlich sogar gegen Menschen kämpfen.“

Latini spricht über die Eigenschaften jeder Hunderasse bezüglich der Jagd. Wichtig sei, die Reinheit der Rassen durch das Vermeiden von Kreuzungen zu bewahren, da der Jagdinstinkt vererbt und nicht durch Mischungen erzeugt wird. Latini beendet diesen Abschnitt mit einem Hinweis auf einige alte Geschichten, die die Teilnahme von Hunden am Krieg bezeugen: Et fallamos en las viejas estorias que fue [un] rey priso de sus enemigos, & los canes de aquel rey ayuntaron a otros muchos canes & lidiaron con aquellos que tenian priso a su señor, en guisa quel libraron de aquella prision. Et non a grant tienpo que […] ayuntaron todos los canes de una tierra en un lugar do lidiaron los unos con los otros asi fuerte e asi reziamente que non escapo ninguno dellos, que todos morieron en el canpo.16 „Und wir finden in den alten Geschichten, dass ein König von seinen Feinden gefangen genommen wurde und dass die Hunde dieses Königs zahlreiche weitere Hunde versammelten und gegen diejenigen kämpften, die ihren Herrn gefangen hielten, so dass sie ihn aus dieser Gefangenschaft befreiten. Und vor nicht allzu langer Zeit […] versammelten sich die Hunde eines Landstrichs an einem Ort, wo sie so heftig gegeneinander kämpften, dass keiner von ihnen entkam und alle auf der Walstatt verstarben.“

Als wesentliches Element der Falknerei wird dem Hund in Handbüchern zu diesem Thema häufig viel Platz gewidmet. Beispiel dafür ist das König Alfons XI. zugeschriebene ‚Libro de montería‘. In diesem Werk wird erklärt, wie sich ein Ritter auf die Jagd vorbereiten sollte und wie die Zucht von Hunden zu erfolgen hat; ein spezieller Abschnitt ist der Pflege von Hunden gewidmet. Erst das dritte Buch – eine Beschreibung der Gebirge seines Herrschaftsbereichs – präsentiert ein Thema, das sich von diesem Tier abwendet, obwohl auch dieser Teil viele Geschichten enthält, in denen Hunde als Hauptfigur auftreten. Unter ihnen sticht der Tod des Hundes Barvado hervor. Dieses heldenhafte Jagdtier verläuft sich auf der Suche nach einem Bären im Wald, wo es nach einer fünfzehntägigen unermüdlichen Suchaktion seiner Herren neben seiner Beute tot aufgefunden wird. Die Geschichte erinnert an eine posthume Hommage: Et por que morio buena muerte para sabueso, et fue cosa que por uentura non lo oymos dezir a ningunt montero que oviese visto otra tal, posiemoslo en este libro17 („Und da er 16 Ebd., 87. 17 Alfonso XI, Libro de montería, ed. María Isabel Montoya Ramírez, Granada 1992, 500.

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als Schweißhund einen guten Tod starb, und wir nie etwas Vergleichbares von einem Jäger gehört haben, haben wir ihn in dieses Buch aufgenommen.“). Alfons XI. verwendet hier den Ausdruck buena muerte („guter Tod“), der eigentlich dem Tod des guten Christen vorbehalten ist; als wäre der Hund ein Ritter, gewährt er ihm durch die Aufnahme seiner Geschichte ins Handbuch posthumen Ruhm.18

2.

Die westliche Fabeltradition

Das kämpferische Bild des Hundes in der narrativen Kurzprosa ist tief in der Fabeltradition verwurzelt. Seine drei militärischen Funktionen sind darin verankert: der Schutz des Hauses, seine Rolle bei der Jagd und sein fortwährender Krieg gegen den Wolf. Gäbe es nicht eine einzige Fabel als Ausnahme, könnten wir behaupten, dass Äsop die Funktion des Hundes als Wächter des Hauses nicht kennt – oder zumindest nicht berücksichtigt. ‚Der Hund, der Fuchs und der Hahn‘ erzählt von der Freundschaft, die ein Hund und ein Hahn auf dem Weg miteinander schließen.19 Nachts entscheiden sie, sich an einem Baum auszuruhen. Dabei schläft der Hahn oben und der Hund unten. Am Morgen zieht der Gesang des Hahns einen Fuchs an, der ihn fressen will. Der Hahn führt diesen an die Stelle, wo der Hund ruht, welcher den Eindringling tötet. Die Fabel präsentiert somit eine vernünftige Verteidigungsstrategie: Beim Angriff eines Feindes soll dieser zu einem anderen, mächtigeren Verbündeten umgelenkt werden. Fabeln, die die Rolle des Hundes bei der Jagd darstellen, sind hingegen häufiger bei Äsop zu finden. Obwohl ‚Der Hund und der Hase‘ von einer Jagdszene handelt, verzichtet die Fabel auf deren Erzählung und fokussiert stattdessen den Moment, in dem der Jäger seine Beute genießt.20 Die Fabel verbirgt eine blutige Todesszene unter einer komischen Erzählung. Ein Hund hat einen Hasen gefangen und beginnt, diesen zu beißen und zu lecken. Der Hase bittet den Hund, entweder das eine oder das andere zu tun, um zu wissen, ob er sein Freund oder sein Feind ist. Auf diese Weise will die Fabel vor ambivalenten Menschen warnen. Mit einer ähnlichen Herangehensweise richtet sich die Fabel ‚Der Hund und der Fuchs‘ gegen überhebliche Charaktere.21 Die Erzählung beschreibt die Konfrontation zwischen Jäger und Gejagtem anhand eines Hundes, der einen Löwen jagt. Als der Hund den Löwen gerade einholen will, dreht dieser sich um und brüllt. Der Hund flieht vor Angst und wird von einem Fuchs, der dies beobachtet, 18 Keine vergleichbaren Beispiele finden sich in der von María Rosa Lida de Malkiel verfassten Überblicksdarstellung La idea de la fama en la Edad Media castellana, México 1983. 19 Ésope, Fables, ed. Émile Chambry, Paris 2018, 180. 20 Ebd., 182. 21 Ebd., 187.

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verspottet. Offenbar interessiert sich Äsop weder für die Jagdepisode selbst noch für die Tapferkeit der Tiere, sondern vielmehr für scheinbar sekundäre, aber zugleich dramatischere Randepisoden. Die meisten der hier behandelten Fabeln zeigen jedoch Kriegshunde, gelegentlich im Konflikt mit ihren Erbfeinden, den Wölfen. ‚Der Kampfhund auf der Flucht‘ erzählt das Abenteuer eines Hundes, der zur Bekämpfung wilder Tiere gezüchtet wurde.22 Eines Tages entkommt er aus seinem Haus und trifft auf streunende Hunde. Sie bewundern seinen robusten, gut genährten Körper. Der Kampfhund erklärt ihnen jedoch, dass der Preis für seinen Wohlstand die Verpflichtung ist, gegen Bären und Löwen zu kämpfen. Die streunenden Hunde kommen zu dem Schluss, dass ihr Leben trotz ihrer Armut schätzenswert ist, da sie nicht gezwungen sind, dem Tod kontinuierlich ins Auge zu schauen. Die Fabel warnt also davor, sein Leben für den Lebensunterhalt oder vergänglichen Ruhm aufs Spiel zu setzen. ‚Der Hund und der Wolf‘ nimmt das Motiv der uralten Feindschaft zwischen Hunden und Wölfen auf.23 Ein schlafender Hund wird von einem Wolf angegriffen. Der Hund rät ihm, ihn erst nach der Hochzeit seines Herrn zu töten, da er währenddessen zunehmen würde. Als der Wolf letztendlich zurückkehrt, ist der Hund auf seinen Angriff gut vorbereitet. Erneut verweist Äsop auf eine Strategie der Vernunft: Einmal aus einer Gefahr entronnen, wird man kaum ein zweites Mal in dieselbe Falle geraten. Zwei äsopische Fabeln beziehen sich auf Verhaltensweisen in Kriegssituationen selbst. ‚Die Wölfe und die Schafe‘ thematisiert den vermeintlichen Frieden, den die Wölfe mit den Hunden aushandeln, um dann hinterhältig angreifen zu können.24 Äsop warnt darin vor Vaterlandsverrätern. Schließlich beschreibt ‚Die Hunde im Kampf mit den Wölfen‘, wie die Hunde, nachdem sie den Wölfen den Krieg erklärt haben, einen griechischen Hund zum Anführer wählen.25 Statt sie in den Kampf zu treiben, sucht dieser den Frieden mit seinen Feinden, da die unterschiedlichen Hunderassen den Zusammenhalt seiner Armee beeinträchtigen könnten. Einmal mehr wendet sich Äsop an den Krieger, nicht an den Durchschnittsmenschen: Die Einheit ihrer Reihen bringt eine Armee zum Sieg. Das Bild des kriegerischen Hundes wurde auch von der postäsopischen Fabeltradition übernommen, obwohl es kein bevorzugtes Motiv der Fabulisten war. Zwei Fabeln von Phaedrus zeigen dies. In ‚Der Wolf und der Hund‘, einer Variation der äsopischen Fabel ‚Der Kampfhund auf der Flucht‘, trifft ein hun-

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Ebd., 179. Ebd., 184. Ebd., 216. Ebd., 215.

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gernder Wolf auf einen gut genährten Hund.26 Der hungrige Wolf fragt ihn, weshalb er so stattlich aussieht, woraufhin der Hund den Wolf einlädt, ihn zu begleiten, um auch so gut gefüttert zu werden. Auf dem Weg bemerkt der Wolf jedoch den Abdruck eines Halsbands am Hals des Hundes und realisiert, dass dieser sein Wohlergehen mit seiner Freiheit bezahlt. Es ist möglich, dass diese Fabel ursprünglich von einem Haushund und einem streunenden Hund erzählt hat, während sich hier zwei Tiere gegenüberstehen, die normalerweise als Gegner dargestellt werden. Die Version Avianos (Nr. 37),27 die den Wolf durch einen Löwen ersetzt, deutet ebenfalls darauf hin, dass die Tiere leicht austauschbar waren. In der zweiten Fabel, ‚Der alte Jagdhund‘, hetzt ein Jäger seinen Hund auf eine Beute, die ihm jedoch letztlich entkommt.28 Der Hund besitzt nicht mehr seine frühere Kraft und Geschicklichkeit und wird daher von seinem Herrn heftig getadelt, der die plötzliche Schwäche des Tieres nicht verstehen kann. Als guter Phaedrus-Leser übernimmt Romulus drei Fabeln, die bereits im Werk seines Vorgängers zu finden sind: ‚Der treue Hund und der Dieb‘ (II, 3), ‚Der alte Jagdhund‘ (II, 7) und ‚Der Hund und der Wolf‘ (III, 15) adaptieren jeweils Phaedrus I, 23, Phaedrus V, 10 und Phaedrus III, 7.29 Das Bild des Hundes als Kämpfer entwickelt sich demnach in der äsopischen Fabeltradition, die sich mit den Beschreibungen der Bestiarien verbindet, welche ihn sowohl als Haustier, treuen Begleiter des Menschen, Beschützer des Hauses und unverzichtbaren Verbündeten bei der Jagd, als auch als ewigen Feind des Wolfes charakterisieren.

3.

Perros guerreros in der spanischen Fabel30

Spanien verfügt über eine reiche und spezifische Erzähltradition zu Kriegshunden, die sich mehr als jede andere Form narrativer Kurzprosa zur Darstellung von Macht eignet. Das erste Beispiel, das sich hier anbietet, stammt aus der orien26 Phèdre, Fables, ed. Alice Brenot, Paris 2009, III, 7; vgl. auch Léopold Hervieux, Les fabulistes latins depuis le siècle d’Auguste jusqu’à la fin du moyen âge, 5 Bde., Bd. 2: Phèdre et ses anciens imitateurs directs et indirects, Paris 1894. 27 Avianus, Fables, ed. Françoise Gaide, Paris 2002, 118f. 28 Brenot 2009, V, 10; vgl. auch Ines Köhler-Zülch, Hund: der alte Hund, in: Rolf Wilhelm Brednich (ed.), Enzyklopädie des Märchens, 15 Bde., Bd. 6, Berlin/New York 1990, 1340– 1343. 29 Der lateinische Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus, ed. Georg Thiele, Heidelberg 1910. 30 Anmerkung des Übersetzers: Der Vf. verwendet hier wie auch im Weiteren häufig den Begriff perro guerrero, der aufgrund seiner Bedeutungsnuancen im vorliegenden Text nicht eindeutig ins Deutsche zu übertragen ist. Gelegentlich handelt es sich um Hunde im Kriegseinsatz, wie etwa aus der Abbildung ersichtlich, zumeist jedoch bezieht sich der Terminus auf besonders aggressive Hunde, die auch mit anderen Vierbeinern kämpfen. Da das diese Eigenschaften resümierende Adjektiv guerrero kein deutsches Äquivalent besitzt und mit

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talischen Fabeltradition.31 Es geht um das in Europa weit verbreitete Exemplum von Llewellyn und seinem Hund, das sowohl in ‚Calila e Dimna‘ (Kapitel VIII) als auch im ‚Sendebar‘ (Nr. 12) aufgegriffen, wenngleich in beiden Werken unterschiedlich ausgearbeitet wird. In ‚Calila e Dimna‘ erzählt der Berater die Geschichte auf den Wunsch des Königs, ein Beispiel von einem übereilt und unverständig handelnden Menschen zu hören (Dame agora enxemplo del omne que faze las cosas sin alvedrio et sin pensamiento32 „Gib mir jetzt ein Beispiel eines unvernünftigen und unbedachten Menschen“) und illustriert damit die Hast als eine Untugend, die der Herrscher vermeiden soll. Sie wird zur Hauptgeschichte des Kapitels, das zusätzlich die Binnenerzählung ‚El sueño del religioso‘ („Der Traum des Geistlichen“) enthält.33 Diese Episode ereignet sich an einem fernen Ort, la tierra de Jorgen („dem Land von Jorgen“), und präsentiert das in der östlichen Erzähltradition geläufige Motiv eines Einzelkindes, das nach großen Schwierigkeiten zur Welt kommt und von seinen Eltern – einem Geistlichen und seiner Frau – geschützt werden muss. Hier spielt der Hund eine sekundäre Rolle, der Fokus liegt vielmehr auf dem Drama, das das Paar erleben wird. Vom Hund wird daher nur gesagt, er sei ein vertrautes Haustier (un can que avia criado en su casa34 „ein Hund, den er in seinem Haus großgezogen hatte“). Da es sich um das Haus eines Geistlichen handelt, ist der Hund sehr wahrscheinlich nicht auf eine Verteidigung des Haushalts vorbereitet.35 Eines Tages überlässt die Frau das Kind der Obhut ihres Mannes, der wiederum in einem Akt der Verantwortungslosigkeit das Haus verlässt, um dringende Geschäfte zu erledigen (antojosele de ir a alguna cosa que ovo menester que non podia escusar36 „er wollte etwas Nötiges und Unaufschiebbares erledigen“). So lässt er das Kind unter der Aufsicht des

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„kriegerisch“ nur unzulänglich übersetzt werden kann, findet sich im vorliegenden Aufsatz mitunter auch die spanische Wendung perro guerrero. Die spanische Fabelliteratur besteht aus zwei Erzähltraditionen, der orientalischen und der antiken. Dazu vgl. Morten Nøjgaard, La fable antique, 2 Bde., Kopenhagen 1964–1967; Francisco Rodríguez Adrados, Historia de la fábula greco-latina, 4 Bde., Madrid 1979– 1987; María Jesús Lacarra, Cuento y novela corta en España, Barcelona 1999 und Luzdivina Cuesta Torre/Hugo O. Bizzarri/Bernard Darbord/César García de Lucas (edd.), La fábula en la prosa castellana del siglo XIV: Libro del caballero Zifar, Conde Lucanor, Libro de los gatos. Una antología, Murcia 2017. Calila e Dimna, ed. Juan Manuel Cacho Blecua/María Jesús Lacarra, Madrid 1985, 263. Die Binnenerzählung wird sich später als das enxiemplo von Doña Truhana im ‚Conde Lucanor‘ entfalten (ejemplo Nr. 7); vgl. María Rosa Lida de Malkiel, Tres notas sobre don Juan Manuel, in: Dies., Estudios de Literatura Española y Comparada, Buenos Aires 1966, 92– 133; Daniel Devoto, Introducción al estudio de don Juan Manuel y en particular de El Conde Lucanor. Una bibliografía, Paris 1972, 375–378; Reinaldo Ayerbe-Chaux, El Conde Lucanor. Materia tradicional y originalidad creadora, Madrid 1975, 25–29. Cacho Blecua/Lacarra 1985, 265. Heck/Cordonnier 2018, 206 weisen auf das Jagd- und Hundeverbot für Priester hin; in diesem Fall geht dieses Element jedoch auf orientalische Quellen zurück. Cacho Blecua/Lacarra, 265.

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Hundes zurück. Das Drama wird ausgelöst, als eine riesige Schlange eindringt und das Kind anzugreifen droht. Das Unglück wird vom kühnen Haushund vermieden, der die Schlange erlegt (el can, quando lo vido, salto en el et matolo et ensangrentose todo del37 „als der Hund sie sah, sprang er sie an, tötete sie und verschmierte sich über und über mit Blut“). Das heroische Verhalten des Tieres wird jedoch von seinem Herrn nicht belohnt, da dieser bei seiner Rückkehr seinen blutverschmierten Hund in der Annahme tötet, er habe seinen Sohn angegriffen. Der heldenhafte Hund wird zum Opfer des übereilten Handelns: Este es el fruto del apresuramiento, et del que non comide la cosa antes que la faga, et que sea bien çierto della38 („Dies ist die Frucht der Übereilung und dessen, der die Dinge nicht bedenkt, bevor er handelt und ihrer ganz gewiss ist“). Das ungerechte Verhalten des Geistlichen gegenüber seinem Hund veranschaulicht exemplarisch, welchen Fehler der Herrscher bei der Rechtsausübung vermeiden soll. Diese Geschichte findet sich im ‚Sendebar‘ (Nr. 12 Canis) wieder, wo der Kern der Lehre erhalten bleibt, denn durch diese versuchen die Berater, den König davon abzuhalten, seinen Sohn voreilig zu verurteilen: Tu eres entendido e mesurado, e tu sabes que ninguna cosa [debe fazerse] apresuradamente ante que sepa la verdat e, si lo fiziere, fara locura e, quando lo quisiere emendar, non podra39 („Du bist verständig und maßvoll und weißt, dass man nichts übereilt tun soll, bevor man nicht die Wahrheit weiß, und dass man ansonsten töricht handelt und es nicht wiedergutmachen kann“). Aber die Erzählung setzt zahlreiche andere Akzente. Das Geschehen findet nicht im Haus eines Geistlichen statt, sondern in dem eines Dieners des Königs, also in einem monarchischen Kontext, womit die politische Deutung des Exemplums verstärkt wird. Außerdem verlässt der Protagonist seinen Sohn nicht aus Fahrlässigkeit, sondern aus Pflichterfüllung auf Geheiß des Königs. Das Besondere an dieser Version ist die Protagonistenrolle, die der Hund übernimmt. So wird er am Anfang der Geschichte ausführlicher beschrieben und der Fokus auf seine Intelligenz und seinen Gehorsam gelegt: e aquel omne avia un perro de caça muy bueno e mucho entendido, e nunca le mandava fazer cosa que la non fiziese40 („und dieser Mann hatte einen sehr guten und sehr verständigen Jagdhund, der seinen Befehlen stets gehorchte“). Der einfache Haushund des ‚Calila‘ verwandelt sich im ‚Sendebar‘ in einen von Natur aus kampfbereiten Jagdhund. Darüber hinaus ist er nicht nur massig, sondern besitzt auch eine große Auffassungsgabe – eine in der orientalischen Weisheitstradition besonders geschätzte Eigenschaft. Deshalb scheint die Reak37 38 39 40

Ebd., 266. Ebd., 266. Sendebar, ed. María Jesús Lacarra, Madrid 1989, 115. Ebd., 115.

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tion des Vaters noch ungerechter: Er hielt seinen Hund nicht für intelligent genug, um seinen Befehl zu erfüllen. In der orientalischen Tradition bot die Erzählung also ein Verhaltensmuster für Könige: Sie zeigte die falsche Art und Weise, in der ein Monarch Gerechtigkeit üben konnte. In den beiden spanischen Versionen ist das Tier lediglich eine allgemeine literarische Repräsentation ohne Verbindung zur Realität Kastiliens: Es ist nur von einem can – einem einfachen Haushund – oder einem perro de caça – einem Jagdhund – die Rede. Vergleichbares findet sich nicht bis ins 15. Jahrhundert, ausgenommen zweier Fabeln von Juan Ruiz im ‚Libro de buen amor‘.41 Die erste (V. 166–180) ist die Wiederaufnahme einer Fabel von Phaedrus (I, 23), die den Hund als Hüter des Hauses darstellt, wobei der Erzpriester von Hita jedoch den generischen Hund der klassischen Fabel durch einen mastín, d. h. einen Jagdhund, und einen alano (Molosser), einen Hütehund, ersetzt. In der zweiten (V. 1357–1369; Phaedrus, V, 10) wird auch das einfache canis des lateinischen Autors durch einen galgo lebrero, einen spanischen Windhund ersetzt, der ebenfalls der Jagd dient:42 El buen galgo lebrero, corredor e valiente, avia, quando era joven, pies ligeros, corriente, avia buenos colmillos, buena boca e buen diente: quantas liebres veia prendialas ligeramente.43 „Der gute Windhund, der schnell und tapfer war, hatte in seiner Jugend einen leichten, eilenden Fuß, hatte gute Hauer, ein gutes Maul und gute Zähne: alle Hasen, die er sah, packte er, wie es sich gehört.“

So passt Juan Ruiz die alte Fabel der spanischen Wirklichkeit an, wobei jedoch die politischen Themen und die ritterliche Welt von den Anliegen des Erzpriesters weit entfernt sind. Trotz dieser zeitlichen Lücke bietet das 15. Jahrhundert zwei einzigartige Beispiele für die Überarbeitung der alten Fabeln und deren Anpassung an die politischen Erfordernisse des historischen Augenblicks. In zwei neuen Texten des iberischen Humanismus treten Kriegshunde als Protagonisten auf. Der erste ist die von Gómez Manrique um 1460 verfasste Dichtung ‚Esclamaçión e querella de

41 Seit der immer noch aktuellen Studie von Felix Lecoy, Recherches sur le Libro de buen amor de Juan Ruiz, Archiprêtre d’Hita, Paris 1938, haben die Tiererzählungen zu einer Vielzahl neuer Untersuchungen geführt. 42 Laut Heck/Cordonnier 2018, 202, für die Jagd sehr geeignete Hunde. 43 Juan Ruiz, Arcipreste de Hita, Libro de buen amor, ed. Alberto Blecua, Madrid 1992, V. 1357–1360; deutsche Übersetzung aus Juan Ruiz, Arcipreste de Hita, Libro de Buen Amor, ed. u. übers. v. Hans Ulrich Gumbrecht, München 1972.

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la gouernaçion‘,44 welche eine Änderung des politischen Kurses von König Heinrich IV. fordert und dadurch eine Kontroverse am Hof provozierte. Die in diesem satirischen Gedicht geäußerte Kritik am Monarchen ist auf die Verbindung von Gómez Manrique zum Kreis Alfonso Carrillos zurückzuführen, der dabei zuschauen musste, wie die wichtigsten Intellektuellen des Königreichs aus der Regierung vertrieben wurden. Diese Kontroverse bewog den Gelehrten Pero Díaz de Toledo dazu, das kritische Werk zur Verteidigung des Dichters mit langen Kommentaren zu versehen und auszulegen.45 Die Kommentare stützen sich auf klassische Autoritäten und auf facta et dicta im Stile des Valerius Maximus. Díaz de Toledo greift dabei auf Sprichwörter, mythologische Anspielungen, alexandrinische Anekdoten, Zitate von Kirchenvätern und lateinischen Autoren zurück. Die Hauptkritik des Dichters am Monarchen bezieht sich auf das Fehlen guter Regierungsberater. Díaz de Toledo hätten keine Beispiele aus Kastilien gefehlt, um die Schwächen der kritisierten Regierung zu veranschaulichen. Um jedoch womöglich eine allzu direkte Kritik zu vermeiden, greift der Kommentator auf eine Fabel zurück – eine Variation der bereits erwähnten äsopischen Fabel ‚Die Wölfe und die Schafe‘ (CH 216) –, die er Diogenes Laertius zuschreibt: Onde, según escriue Laerçio en el Libro de la vida e costunbres de los filosofos, teniendo çercada a Athenas Felypo, rey de Maçedonia, e veyendose los atenienses en grande estrecho, vinieron a partido que demandase lo que quisyese, e que ellos gelo darian por que alçase el sytio de la çibdad. El qual pidio por partido que le entregasen los sabios que governauan la çibdad, e que luego alçaria el sytio de la çibdad e se iria. E, propuesta la cosa por los atenienses en su consystorio, fallose ende Demostenes, que fue vn gran sabio griego, e, dando su voto de lo que le pareçia que deuian fazer los athenienses, dixoles vna fabula o ficçion, conuiene a saber: Los lobos mouieron partido a los pastores que a todos conuenia, asy a ellos commo a los pastores, que fuesen buenos amigos e que todos biuiesen en buen reposo. Paresçio a los pastores qu’el partido les venia bien; e los lobos dixeron que los mastines eran la causa de la diuision e debata entr’ellos, e que por seguridat suya que les entregasen los mastines; e los pastores fisieronlo asy e entregaron los mastines que velauan e guardauan su ganado, e no consyntian nin dauan logar qu’el ganado resçibiese daño; los lobos mataron los mastines e dende en adelante syn temor alguno maltrataron el ganado, faziendo daño en el, non solamente el ganado matando d’el lo que auian menester para su comer, mas para fazer mal fazian el daño que podian. 44 Vgl. Fernando Gómez Redondo, Historia de la prosa medieval castellana, 4 Bde., Bd. 4: El reinado de Enrique IV. El final de la Edad Media, Madrid 2007, 3745–3754. Kenneth R. Scholberg, Introducción a la poesía de Gómez Manrique, Madison 1984, 31, datiert das Gedicht in die Herrschaftszeit von Johann II. oder Heinrich IV. 45 Für eine Beschreibung der Arbeitsmethoden von Pero Díaz de Toledo vgl. Nicholas Round (ed.), Libro llamado Fedron. Plato’s Phaedro Translated by Pero Díaz de Toledo, London 1993, und Fernando Gómez Redondo, Historia de la prosa medieval castellana, 4 Bde., Bd. 3: Los orígenes del Humanismo. El marco cultural de Enrique III y Juan II, Madrid 2002, 2548– 2581.

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Asy, dixo Diomedes entiende fazer el rey Phelypo, que sy vosotros, varones de Atenas, le entregays vuestros sabios regidores e gouernadores, destruyra vuestra republica e vuestra çibdad. E oyda la fabula, los de Athenas ouieronse por bien aconsejados de non entregar sus gouernadores.46 „Wie Laertius im Buch ‚Leben und Meinungen berühmter Philosophen‘ schreibt, beschlossen die Athener, als Philipp, König von Makedonien, ihre Stadt belagerte und sie in große Not brachte, diesem jedweden Wunsch freizustellen unter der Bedingung, dass er die Belagerung der Stadt aufhöbe. Daraufhin verlangte dieser, man solle ihm die Weisen, die die Stadt regierten, ausliefern, woraufhin er die Belagerung der Stadt aufheben und abziehen würde. Daraufhin unterbreitete Demosthenes, ein großer griechischer Weiser, dem Rat der Athener folgenden Vorschlag [wie sie handeln sollten] in Form einer Fabel oder Fiktion: Die Wölfe schlugen den Schäfern vor, dass es beiden Seiten nutzen würde, wenn sie gute Freunde wären und alle in Frieden miteinaner leben würden. Den Schäfern erschien dieser Vorschlag vorteilhaft; und die Wölfe behaupteten, die Molosser seien der Grund für die Zwietracht und den Konflikt zwischen ihnen, und dass sie ihnen, um ihrer Sicherheit willen, die Molosser ausliefern sollen; und die Schäfer entsprachen dem und lieferten ihnen die Molosser aus, die ihr Vieh bewachten und es vor Schaden bewahrten; die Wölfe töteten die Molosser und seitdem misshandelten sie das Vieh ohne jede Furcht und richteten Schaden an, nicht nur indem sie das Vieh töteten, das sie zum Verzehr brauchten, sondern auch allein um des Schadens als solchem willen. Dies ist die Absicht des Königs Philipp, sprach Diomedes, wenn ihr ihm eure weisen Räte und Regierenden ausliefert; er wird euren Staat und eure Stadt zerstören. Als sie diese Fabel hörten, hielten sich die Athener für gut beraten, ihre Regierenden nicht auszuliefern.“

Diomedes betrachtet die weisen Ratsherren als wertvollsten Schatz eines Königreichs und Díaz de Toledo schließt sich ihm darin an, womit er die Eliminierung des Zirkels um Alfonso de Carrillo aus den Regierungskreisen kritisiert. Der relevanteste Text dieser Zeit stammt von Alfonso de Palencia, einem der bedeutendsten Humanisten des 15. Jahrhunderts, und trägt den Titel ‚Batalla campal de los perros contra los lobos‘47 (‚Feldschlacht der Hunde gegen die Wölfe‘). Der Text wurde 1457 veröffentlicht, obwohl er, wie José Julio Martín Romero zu Recht betont, bereits vor September 1456 geschrieben worden sein muss, dem Datum, an dem Palencia zum Chronisten Heinrichs IV. ernannt wurde. Er soll das Werk im Rahmen der Bewerbung um diesen Posten verfasst haben.48

46 Gómez Manrique, Cancionero, ed. Francisco Vidal González, Madrid 2003, 601f. 47 Gómez Redondo 2007, 3762–3783; vgl. auch José Julio Martín Romero, La batalla campal de los perros contra los lobos. Una fábula moral de Alfonso de Palencia, San Millán de la Cogolla 2013. 48 Ebd., 15f. Vgl. auch Madeleine Pardo, La Batalla campal de los perros contra los lobos d’Alfonso de Palencia, in: Pierre Le Gentil, Mélanges de langue et de littérature médiévales offerts à Pierre Le Gentil, Paris 1973, 587–603.

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Palencia greift wiederum eine Fabel Äsops (CH 215) auf und erweitert sie grundlegend, sodass er sie fast in einen kurzen Roman verwandelt. Andere Quellen wie Homers ‚Batrachomyomachía‘ (‚Froschmäusekrieg‘) oder Vegetius’ ‚De re militari‘ haben die Entstehung des Werkes ebenfalls beeinflusst.49 Der Humanist nimmt der alten Erzählung ihren Fabelcharakter, indem er die Handlung mit einer Fülle von Reden und Kriegsscharmützeln komplexer ausgestaltet. Darüber hinaus wird hier die typische Tendenz zur Allgemeingültigkeit der Fabel durch Partikularismus ersetzt: Genaue Ortsangaben heben die geografische Ambiguität auf; allgemeine Bezeichnungen wie ‚ein Wolf‘ oder ‚ein Hund‘, die in Fabeln häufig vorkommen, werden durch Charaktere mit hochtrabenden Eigennamen abgelöst, von denen einige lange Beschreibungen erhalten, wie z. B. Halipa, Anführer der Hunde: […] su cabeça era por la grand anchura de la fruente cuasi cuadrada, salvo que el hoçico hosco que avia algund tanto luego disminuia parte del anchura. Tenia los dientes agudos y firmes. Los ojos pequeños y como bermejos, que pareçian saltar de su vista çentellas. Las orejas, anchas faza el casco de la cabeça, en la parte de arriba, agudas y siempre enhiestas; en la muestra de la grand fortaleza del cuello (nunca de otro alguna oida) favoreçian las vedijas que de el desçendian faza los picos de las espaldas; el pecho muy ancho; las piernas derechas e llenas de murezillos; los dedos de los pies, llegados en uno y apretados; los lomos, poblados de sedas, davan grand muestra de fuerça; la cola, retornada faza la çima del lomo, de cada parte d’ella desparzida la lana que fazia semejança de cabelladura. Su color, muy blanco, salvo el hoçico y de las juntas de las rodillas fasta los pies era negro. Estos tales mienbros eran aconpañados de tal fuerça que cada qu’el caso se ofreçia nunca menguavan tales obras que [diezen] a Halipa muy honrado nonbre.50 „[…] sein Kopf war durch die große Breite der Stirn fast quadratisch, ausgenommen die dunkle Schnauze, die ihn etwas schmaler erscheinen ließ. Er hatte spitze und feste Zähne. Kleine und fast rote Augen, die Funken zu sprühen schienen. Die Ohren breit zum Hals hin und nach oben spitz und stets aufgerichtet; zum Eindruck der enormen und einzigartigen Stärke seines Nackens trugen die Haarbüschel bei, die bis zu den Schulterblättern hinabreichten; eine sehr breite Brust; gerade und muskulöse Beine; die Klauen schmal und eng beisammen; die Flanken, seidig behaart, zeigten seine Stärke; der zum Rücken gerichtete Schweif, zu beiden Seiten behaart wie ein Haarschopf. Seine Farbe, hellweiß, außer der Schnauze und den Knien, die schwarz waren. Den so geformten Gliedmaßen wohnte eine solche Stärke inne, die bei Bedarf niemals nachließ, so daß Halipa aufgrund seiner Taten seinen Namen wohl verdiente.“

Die Handlung findet in den Bergen in der Nähe des Flusses Bembézar statt, einem Nebenfluss des Guadalquivir, Unterschlupf von Wölfen, Wildschweinen, Hirschen, Rehen und Bären. Eines Tages beschließen die Wölfe Pancerión und 49 Vgl. Martín Romero 2013, 55–84. 50 Ebd., 124.

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Harpaleo, die Herde der Hirten anzugreifen. Pancerión legt einen bedachten Plan fest, aber die Dreistigkeit des Harpaleo lässt ihn eine riskante Aktion durchführen, die ihm schließlich den Tod bringt. Als die anderen Wölfe vom Tod ihres Helden erfahren, treffen sie sich zur Beratung und beschließen, den Hunden den „universellen Krieg“ zu erklären (la guerra universal). Als Bote schicken sie eine Füchsin, die als schlaues und gerissenes Tier versucht, selbst von der Situation zu profitieren. Nach heftigen Diskussionen im eigenen Rat akzeptieren die Hunde die Kriegserklärung. Der Konflikt wird international, als die Wölfe die Verstärkung ihrer deutschen, französischen, italienischen und portugiesischen Genossen suchen. Nach einer brutalen Schlacht beschließen die Kriegsherren beider Gruppen, sich zurückzuziehen und die Feindseligkeiten einzustellen. Palencia weist auf die Nutzlosigkeit des Krieges hin, da niemand – weder die beiden Seiten noch die Füchsin, die ihren Profit aus diesem Krieg ziehen wollte – gewonnen hat: Asi que no suçedio el intento a los lobos del pelear; no consiguio la raposa, llena de engaños, segund pensava, perpetuos provechos; no quedo a los perros despues d’esto la dureça de su presumtuosa opinion, nin esso mesmo redundaron en tanta ganançia a [los] pastores las espensas que avian fecho ante de la batalla, que mientra quisiesen guardar sus ovejas no oviesen menester para ello los perros.51 „So konnten die Wölfe ihre Absicht zu kämpfen nicht verwirklichen; noch erzielte die hinterlistige Füchsin, wie erhofft, ewigen Vorteil; noch konnten die Hunde nach diesem Zwischenfall ihr hochmütiges Selbstbewusstsein aufrechterhalten; noch erhielten sie von den Hirten so viel Gewinn wie zuvor, denn wenn sie ihre Schafe selbst hüteten benötigten sie dafür nicht die Hunde.“

Jede Figur dieser Geschichte hat einen unverwechselbaren Charakter. Antartón ist der älteste und von allen höchst respektierte Wolf. Harpaleo und Pancerión sind jüngere Wölfe, zwar Anführer der Armee, aber mit kontrastierenden Eigenschaften und Gesinnungen – Harpaleo ist stark und schnell, Pancerión ist eher bedacht: Era de mayores fuerças Harpaleo y mas ligero, pero era Pancerión de mas maduro consejo52 („Harpaleo war stärker und leichtfüßiger, aber Pancerión ein reiferer Ratgeber“). Harpaleo ist außerdem überheblich: Obwohl er der zweite Kommandant der Armee ist und alle anderen an Kraft übertrifft, besteht er darauf, für größere Angelegenheiten bestimmt zu sein: Mayores cosas me quedan aun por fazer53 („Größeres bleibt mir noch zu vollbringen“). Auf der Seite der Hunde ist Gravaparón weise und alt. Bamborsio ist auch weise, aber er verachtet alle Wölfe: era muy bueno en consejo y siempre avia querido muy mal a los lobos54 („er war ein guter Ratgeber und hatte die Wölfe stets gehasst“). Die 51 52 53 54

Ebd., 147–148. Ebd., 104. Ebd., 103. Ebd., 126.

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Charakterzüge jeder Figur sind während der Beratungen beider Seiten deutlich erkennbar, da diese einen großen Teil der Erzählung einnehmen und durch lange Reden entwickelt werden. Die Füchsin Calidina – eine Mischung aus Calila und Dimna – ist die Opportunistin, die versucht, den Konflikt zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen.55 Nur weil die Ratssitzungen einen wichtigen Teil der Handlung einnehmen, sind die kriegerischen Aktionen nicht weniger wichtig, so dass Martín Romero das Werk als ein „Handbuch der Kriegsrhetorik“ kennzeichnet.56 Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Kämpfern werden ebenso detailliert beschrieben wie die Aufstellung der Heere und die jeweilige Kriegstaktik. Das Werk entpuppt sich damit in gewisser Weise als eine Inszenierung des Handbuchs von Vegetius. Der gesamte Konflikt wird durch den Tod von Harpaleo verursacht, den Palencia als Konsequenz des Wagemuts bezeichnet.57 Aber am Ende handelt es sich, wie bereits angedeutet, um einen Krieg, in dem alle Verlierer sind. Auf diese Weise überführt Alfonso de Palencia die alte Fabel in das moderne Terrain des Romans. Aber ist dieses Werk einfach eine literarische Übung, um sich für einen Posten zu empfehlen? Die lange Tradition der Fabel ermöglicht dieser Gattung, die Gesellschaft darzustellen und politische Kritik in Form einer scheinbar fiktiven Geschichte zu üben. Die ‚Batalla campal‘ bildet da keine Ausnahme. Der Roman wurde von Palencia zu einer Zeit geschrieben, als König Heinrich IV. beabsichtigte, den Krieg gegen die Mauren wiederaufzunehmen. Mit dieser Fiktion bietet der Autor auch einen Ratschlag: Er suggeriert, dass ein großer Krieg nicht vorteilhaft ist und rät eher zu einem Krieg aus kleinen Gefechten. Wie ich jedoch bereits an anderer Stelle erwähnte,58 scheint diese Fiktion außerdem von einem Ereignis der Kriege um Granada von 1454 inspiriert zu sein, in dem der Ritter Garcilaso de la Vega die Hauptrolle spielt: El rrey se fue para Cordova y de alli entro poderosamente a la Vega de Granada, donde llegado, luego otro dia siguiente, como los moros segund su costunbre saliesen a dar escaramuça, çiertos cavalleros mançevos del rrey, con deseo de ganar honrra, syn ser sentidos de los capitanes, se desmandaron y salieron a los moros, donde buelta la escaramuça muy brava, Garçilaso de la Vega, varon mucho esforçado y de gran meresçimiento, fue muerto, de que el rrey fue muy pesante y se yndigno de tal guisa que luego

55 Wie Palencia in Kapitel 19 erklärt. 56 Martín Romero 2013, 76. 57 Ebd., 109: Mientras que asi Harpaleo pagava la pena de su loca osadia („Während Harpaleo so die Strafe für seinen Wagemut bezahlte“). 58 Bizzarri 2015, 47.

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mando hazer la tala muy crudamente, en tanto grado que no solamente los panes, pero muchas vyñas e huertas e olivares fueron destruydos.59 „Der König ritt nach Córdoba und fiel von dort machtvoll in die Vega von Granada ein; als die Mauren dort wie üblich am nächsten Tag zu Scharmützeln auszogen, geschah es, dass einige junge Ritter des Königs in dem Wunsch, Ehre zu gewinnen, ohne sich mit den Anführer abzusprechen, sich von der Truppe trennten und den Mauren entgegen zogen, wo Garcilaso de la Vega, ein überaus tapferer und sehr verdienstvoller Mann, im wilden Scharmützel den Tod fand, was den König dermaßen bekümmerte und erzürnte, dass er eine unerbittliche Zerstörung befahl, der nicht nur das Getreide, sondern auch viele Weinberge und Obstgärten und Olivenhaine zum Opfer fielen.“

Dieser gewagte Akt des jungen Garcilaso de la Vega bedeutete, ebenso wie der Wagemut des Harpaleo, die Intensivierung einer alten Feindschaft und das auslösende Moment eines großen Krieges. Diese ähnlich gelagerte Episode mag Palencia dazu veranlasst haben, die alte Fabel wieder aufzunehmen. Kurzum, die Geschichte besitzt eine klare politische Bedeutung. Das übliche Bild des Hundes als Symbol der ehelichen Treue, der Gier oder Gedächtnisstärke wird beiseite gelassen, um sein Profil als politisches und kriegerisches Tier zu akzentuieren, das nicht aus Treue seinem Herren und dessen Besitz gegenüber agiert, sondern als ein von natürlicher Böswilligkeit (natural malquerencia) motiviertes Wesen.60

4.

Fazit

Resümierend lässt sich Folgendes festhalten: Die literarischen Darstellungen des Hundes im kastilischen Mittelalter sind nicht wirklich außergewöhnlich. Ihre Inspirationsquellen sind Plinius und die orientalischen sowie lateinischen Fabulisten. Sie bieten uns das Bild eines geselligen Tieres, obwohl die berühmteste Fabel den Hund zeigt, wie er mit seiner Beute allein entlang eines Flusses geht; er ist ein häusliches Tier, das verschiedene Funktionen erfüllt: als Wächter, zur Unterhaltung oder als unerlässliche Hilfe bei der Jagd. Der Hund wird auch als (hab)gieriges Tier dargestellt, das aber meistens dem Menschen treu bleibt. Das Besondere im Fall Spaniens liegt jedoch nicht im Beitrag neuer Quellen, sondern in der Aneignung alter Modelle. In den Hunden seines ‚Libro de buen amor‘ spiegelt Juan Ruiz die Schwierigkeit wider, die Realität als Summe mehrdeutiger Zeichen zu interpretieren – die Hauptproblematik der Ideologie des Werkes. König Alfons XI. und der Humanist Alfonso de Palencia verwandeln den Hund in eine heroische Figur. Im 15. Jahrhundert gewinnt er schließlich politische Be59 Enríquez del Castillo, Crónica de Enrique IV, ed. Aureliano Sánchez Martín, Valladolid 1994, 153. 60 Martín Romero 2013, 127.

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deutung und verkörpert eine militärische Strategie zur Wiederaufnahme der Reconquista. Im mittelalterlichen Spanien erlangt der Hund diese Kategorie jedoch nur in Einzelfällen; nur selten verlässt er seinen Platz als Haustier und stiller Hausbewohner.

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Herrschaft kritisieren: Perspektiven des Erzählens

Ludwig D. Morenz

‚Höfliche‘ Wahrheit – von ethisch fundierter Freiheit eines ‚Kleinen‘ vor Pharao1

Abstract Conventions of courtesy in connection with rules of what is sayable are expressions of power and social prestige. Vice versa they have a formative influence on them. In pharaonic Egypt the code of behaviour associated therewith applied in a particularly elaborate way to the elite’s contact with the ruler, especially to the manner of talking about – and, even more – with Pharaoh. This provides the cultural context for a narrative motif found in an Egyptian literary text dating back to the middle of the second millennium BC. A minor episode describes how a request articulated by King Cheops is courteously rejected by Djedi, a wise man distant to the ruler’s court, for being unethical. For Djedi, critique against the ruler seems to be founded in the commitment to ethics given by the Creator God. He expects the appropriate exercise of power to be bound to norms, and thus behaves with remarkable freedom before the throne. If the fortuity of textual transmission does not deceive us, Djedi’s critique of the king was unique in ancient Egyptian culture, and indicates certain flexible moments in social drama. The question is to what extent this literary scenario reflects actual social practice and to what point it is determined by the narrator’s perspective. n js n rmT „Aber doch nicht an einem Menschen …“ Literarische Figur Djedi „Überall, wo es einen Hof gab, hat es das Gesetz des Gut-Sprechens Und damit auch das Gesetz des Stiles für alle Schreibenden gegeben.“ F. Nietzsche, Vorlesung über die Geschichte der griechischen Beredsamkeit, Basel, WS 1872/73

1 Mit diesem Essay greife ich alte eigene Überlegungen auf, vgl. Ludwig D. Morenz, Beiträge zur Schriftlichkeitskultur im Mittleren Reich und in der 2. Zwischenzeit (Ägypten und Altes Testament 29), Wiesbaden 1996. Ich konnte deren Fortsetzung im Magistrandenkolloquium SoSe 2018 diskutieren und danke Dominic Jacobs und Yannick Wiechmann für Anregungen. Beryl Büma und Dominic Jacobs danke ich für Hinweise zur ersten Textfassung.

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Konventionen der Höflichkeit, verbunden mit Regeln und Regulierungen der Sagbarkeit – also verschiedene Spielarten des Decorum2 – pflegen menschliches Miteinander erträglich zu machen3 und entsprechend kennen wir sie aus wohl allen Kulturen (allerdings, natürlich, in sehr verschiedenem Ausmaß und in unterschiedlichen Formen).4 Tatsächlich bestimmten Höflichkeitskonventionen auch die soziale Praxis der pharaonenzeitlichen Gesellschaft und ihre medialen Inszenierungen über die verschiedenen Phasen ihrer etwa dreitausendjährigen Geschichte stark. Sofern wir mit der (vereinfachenden) kulturwissenschaftlichidealtypischen Dichotomie ‚Kulturen der Ehrlichkeit‘ versus ‚Theaterkulturen‘5 operieren wollen,6 dann gehört das pharaonische Ägypten deutlich zu den ‚Theaterkulturen‘ mit einer hohen Bedeutung von sozio-theatralen Aspekten wie Ansehen, Gesicht-Wahren und sozialer Fassade (im Sinne von E. Goffman).7 Wie trotzdem im entspannten Feld der Literatur Höflichkeit mit Ehrlichkeit bzw. Freiheit verbunden wurde, soll hier in einer konkreten Falldiskussion an einer Passage der Wundererzählungen von ‚Papyrus Westcar‘, einem Text etwa aus der Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr., diskutiert werden.

2 Grundlegend aus ägyptologischer Perspektive wirkte John Baines, Restricted Knowledge, Hierarchy, and Decorum. Modern Perceptions and Ancient Institutions, in: Journal of the American Research Center in Egypt 27 (1990), 1–23. 3 Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz schrieb: „Alle menschliche Verständigung beruht auf Verhaltensweisen, die zu Symbolen wurden, die Wortsprache ist nur ein Beispiel hierfür. Was aber besonders betont werden muß, ist, dass fast alles Verhalten, das der Mensch in Gegenwart eines anderen zeigt, von kultureller Ritenbildung mitbestimmt ist und in gewissem Sinne Symbolcharakter trägt. Absolut unritualisierte Bewegungsweisen sind häufig obszön oder zumindest unhöflich.“ Konrad Lorenz, Stammes- und kulturgeschichtliche Ritenbildung, in: Ders., Das Wirkungsgefüge der Natur, 5. Aufl., München 1987, 165. Natürlich können Höflichkeitskonventionen das Zusammenleben auch erschweren, aber das steht auf einem anderen Blatt; interessant für diese Fragen ist nicht zuletzt Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt a. Main 1969, erstveröffentlicht 1939, zahlreiche Nachdrucke. Dabei hat der historische Soziologe die altägyptische Kultur weniger stark beachtet und ist umgekehrt seinerseits in der Ägyptologie bemerkenswert wenig rezipiert worden. 4 Ein soziologischer Klassiker ist etwa Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. Main 1987; erschienen zuerst 1979 unter dem Titel ‚La distinction. Critique sociale du jugement‘. 5 Im Sinne etwa von Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe, London 1978. 6 Eine andere, hier auch relevante kulturgeschichtliche Dichotomie ist die zwischen tight societies versus loose societies, wobei in ersteren die Bedeutung der Gemeinschaft die des Individuums übersteigt, in letzteren umgekehrt. Nach diesem Muster gehört das pharaonische Ägypten zu den tight societies, Jan Assmann, Maat. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990, 270 und öfter. Tight societies und ‚Theaterkulturen‘ sind zumindest familienähnlich zueinander. 7 Erving Goffmann, The presentation of self in everyday life, New York 1959.

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In besonders elaborierter Weise galt im Niltal der mit der Theaterkultur verbundene implizite und partiell auch explizierte Verhaltenscode8 für den Kontakt der Elite(n)9 mit dem Herrscher10 und spezifisch für das Reden über und – sogar noch mehr – mit Pharao.11 Hier galten und wirkten diverse Handlungs- und Sprach-Tabus als stark regulierte und regulierende Höflichkeitskonventionen.12 In diesem Sinn kennen wir aus Grabinschriften der Elite aus dem Alten Reich das Motiv einer Variante besonderer Königsbelobigung, dass der entsprechende Beamte auf ein besonderes Königswort hin nicht – wie eigentlich üblich – den Boden (tA) vor dem König, sondern vielmehr die Füße (rd) des Herrschers selbst küssen durfte und so in einen direkten physischen Kontakt mit der spezifisch geheiligten Herrscher-Person13 trat. So heißt es in der funerären Selbst-Präsen-

8 Eine ägyptische Hauptquelle dafür sind die sogenannten Lebenslehren, Hellmut Brunner, Die Weisheitsbücher der Ägypter, Zürich/München 1991; Pascal Vernus, Sagesses de l’Égypte pharaonique, 2. Aufl., Paris 2010. 9 Ohne hier eine tiefergehende Elitendiskussion zu unternehmen, bleibt doch festzuhalten, dass wir mit größeren Funktions- und Rangdifferenzierungen innerhalb der ägyptischen „Großen“ und „Edlen“ (wr.w und sr.w) rechnen können. 10 Für die Normalbevölkerung können wir grundsätzlich davon ausgehen, dass die Menschen den Herrscher allenfalls bei Festen und dabei aus großer Distanz sahen. Wir kennen verschiedene Stufen der Liminalität in der Zugänglichkeit zum zugleich fernen wie nahen Herrscher. Diese sozial gestaffelte Zugänglichkeit der Elite und des Königs wird etwa in der Erzählung vom Oasenmann verhandelt, Richard B. Parkinson, The Tale of the Eloquent Peasant: A Reader’s Commentary (Lingua Aegyptia: Studia Monographica 10), Hamburg 2012. 11 Tatsächlich ist diese Herrscherbezeichnung vor dem Neuen Reich eigentlich ein Anachronismus, denn erst ab der XVIII. Dynastie wurde der Herrscher als „großes Haus“ – pr-aA – bezeichnet. Auf der anderen Seite handelt es sich um einen auch aus der kulturellen Außenperspektive prägnanten Herrschaftsbegriff, denn in der ‚Hebräischen Bibel‘ wurde er mit Dutzenden Belegen als Kulturlehnwort übernommen, wie ein Eigenname gebraucht und glossiert: „Pharao, König von Ägypten“ – parao melek mizraim. Von daher ist interessant, dass in ägyptischen demotischen Texten (etwa im Raphiadekret für Antiochos IV., M 10) pr-aA als Herrschertitel auch für nichtägyptische Könige verwendet wurde. 12 Joachim F. Quack, How unapproachable is a Pharaoh?, in: Giovanni B. Lanfranchi/Robert Rollinger (edd.), Concepts of Kingship in Antiquity: Proceedings of the European Science Foundation Exploratory Workshop held in Padova, November 28th–December 1st, 2007 (History of the Ancient Near East Monographs 11), Padua 2010, 1–14. 13 Die besondere Heiligung des Königskörpers und der mit ihm verbundenen Objekte zeigt die Geschichte Ra-wers mit dem Stab des Königs, James Allen, Rec-wer’s Accident, in: Alan B. Lloyd (ed.), Studies in Pharaonic Religion and Society in Honour of J. Gwyn Griffiths (Occasional Publications 8), London 1992, 14–20; Nigel Strudwick, Texts from the Pyramid Age, Atlanta 2005, 305f. Die Besonderheit des Königskörpers zeigt auch der ritualisierte Umgang mit Körperabfall wie den geschnittenen Haaren und Nägeln des Herrschers und die entsprechend hohe Bedeutung der Königshandpfleger und –friseure. Beispielhaft ist auf das Grab von Nianchchnum und Chnumhotep hinzuweisen, Ahmed Moussa/Hartwig Altenmüller, Das Grab des Nianchchnum und Chnumhotep in Saqqara (Archäologische Veröffentlichungen 21), Mainz 1977.

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tation des Ptah-schepses aus der V. Dynastie auf seiner monumentalen Scheintürfassade (Abb. 1):14 „[… er war edler vor dem König als] jeder [Die]ner: Als seine Majestät ihn lobte/belobigte (Hsj) wegen der Dinge Ließ seine Majestät ihn seinen Fuß küssen – Er ließ ihn (wirklich) nicht den Erdboden küssen; Ptah-schepses!“ (Urk. I, 52, 17–53,3)15

Wie jede der Einzelaussagen dieser funerären Selbstpräsentation ist auch diese ganz in einer eigenen Kolumne geschrieben, womit sich in diesem Elitetext eine besondere Gestaltung des Layouts zeigt. Zudem ist zu beachten, dass dieser die Füße des Königs küssen dürfende Mann als Kind zusammen mit den Königskindern aufgezogen wurde (Kol. 1), also zum inneren Elitekreis gehörte. Was uns fernen Betrachtern als eine extreme Unterwürfigkeitsgeste erscheinen mag – das Küssen der Füße – galt im Kontakt der ägyptischen Elite, jedenfalls des Alten Reiches, mit dem gott-menschlichen Herrscher als eine wenigen vorbehalten bleibende hohe Ehre und implizierte eine besondere Statuserhebung. Das Motiv wachsender Königsnähe durch ein Küssen der Füße zeigt dem diagnostischen Außenblick an, als wie weit dem normalen Menschsein entfernt und erhaben gott-menschlich Pharao konzipiert war und inszeniert wurde.16 Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass wir dieses Motiv der Beamtenbelobigung mit einer sehr spezifischen physischen Königsnähe nur aus dem Alten Reich kennen. Natürlich können und müssen wir mit bestimmten kulturinternen Wandlungen im ägyptischen Königsbild und der sozialen Praxis während der 3000-jährigen pharaonischen Geschichte rechnen, die hier allerdings nicht nachgezeichnet werden sollen.17 Ganz in diesem Sinn der starken sozialen Überhöhung des Königs wurde in den so bemerkenswert bilderreichen Gräbern auch höchster Beamter des Alten Reichs der König zwar immer wieder als die Hauptbezugsgröße und Maß der Dinge genannt, aber völlig regelhaft nie abgebildet.18 Offenbar bestand ein zwar 14 Peter Dorman, The Biographical Inscription of Ptahshepses from Saqqara: A Newly Identified Fragment, in: The Journal of Egyptian Archeology 88 (2002), 95–110; weitere Belege bei Eric Doret, The Narrative Verbal System of Old and Middle Egyptian, Genf 1986, 24, ex. 1–3. 15 Verschiedene Übersetzungen des gesamten Textes, etwa Strudwick 2005, 303–305. 16 Inzwischen klassisch in der Fachtradition ist die Studie von Georges Posener, De la divinité du Pharaon, Paris 1960. Tatsächlich hängt die dichotomische Spannung Göttlichkeit versus Menschlichkeit Pharaos stark am Kontext, an Betrachterperspektiven etc. Zudem können wir mit einem stärkeren Wandel im Jahrhunderte langen Lauf der ägyptischen Geschichte rechnen. 17 Guter Überblick bei Pascal Vernus/Jean Yoyotte, Dictionnaire des Pharaons, Paris 1988. 18 Die früheste Abbildung von Königen in Elitegräbern kennen wir aus der frühen II. Dynastie, Grab TT 60, Norman de Garis Davis/Alan H. Gardiner, The Tomb of Antefoker, Vizier of Sesostris I, TTS 2, London 1920.

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Abb. 1: Scheintürfassade des Ptah-schepses, besprochene Textpassage hier markiert (Peter F. Dorman, The Biographical Inscription of Ptahshepses from Saqqara. A Newly Identified Fragment, in: Journal of Egyptian Archaeology 88 [2002], 100, Fig. 3).

textlich nicht zu belegendes,19 aber aus der Bildwelt zu erschließendes Darstellungstabu, was in der über jedes Menschenmaß20 herausragenden Stellung des 19 Aus dem Alten Reich kennen wir allerdings auch kaum Inschriften des Typus, in dem solche Aufzeichnungen von Tabus zu erwarten wären. Sie dürften zum mündlich tradierten bzw. in den hypothetischen Musterbüchern auch materiell gespeicherten Künstler-/Handwerkerwissen gehört haben. Spezifisches Handwerkerwissen wurde nur selten explizit thematisiert, insbesondere auf der Stele des Irti-sen aus der späten XI. Dynastie, Louvre C 14: Martin Fitzenreiter, Genie und Wahnsinn. Ka und Heka in der pharaonischen Ästhetik, in: Anke

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Herrschers gründete.21 Selbstverständlich waren im Blick auf den Herrscher auch verschiedene Tabus in der sprachlichen und bildlichen Realisierung in Form von Euphemismen und besondere Darstellungsstrategien in Gebrauch.22 In der Regel erscheint Pharao in den ägyptischen Texten über jede Kritik erhaben,23 und in der Textgattung ‚Königsnovelle‘24 wurde diese soziale Stellung nach dem festen Muster dargestellt, dass im Rahmen einer Hofratssitzung die Höflinge einen Vorschlag zu einer Problemlösung einbringen, den Pharao ablehnt und selbst durch einen besseren ersetzt, der sich dank seiner höheren

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Ilona Blöbaum/Marianne Eaton-Krauss/Annik Wüthrich (edd.), Pérégrinations avec Erhard Graefe. Festschrift zu seinem 75. Geburtstag (Ägypten und Altes Testament 87), Münster 2018, 161–179; Andréas Stauder, Staging Restricted Knowledge, in: Gianluca Miniaci et al. (edd.), The Arts of Making in Ancient Egypt, Leiden 2018, 239–272. Wie weit der Mensch nicht nur im antiken Griechenland (Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“, zitiert bei Platon, Theaitetos 152a: Hermann Diels/Walther Kranz [edd.], Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Berlin 1903, 80B1), sondern auch in der altägyptischen Kultur zum Maß der Dinge gemacht wurde, wäre eine nach unserer Quellenlage durchaus nur schwierig zu beantwortende Frage. Die Restriktionen in der bildlichen Inszenierung des Königs wurden anscheinend in einer neuen Form unter Djoser (28. Jh. v. Chr.) zu exklusiven Darstellungsregeln des Königs. Während bei König Nar-mer (Ende 4. Jahrtausend v. Chr.) und anderen frühdynastischen Herrschern der König noch zusammen und in Interaktion mit der Elite dargestellt wurde, wurden in den Reliefdarstellungen von König Djoser die Männer der Elite im Bild radikal durch anthropomorphisierte Schriftzeichen ersetzt, Ghada Mohamed, Die anthropomorphisierten Zeichen im Alten Ägypten bis zum Ende der Spätzeit (Arbeitstitel), Bonner Dissertation, in Vorbereitung. Zu dieser Meidung von anderen Menschen im Bild mit dem Herrscher, jenseits der – deutlich kleiner dargestellten – Frau und den Königskindern: Jochem Kahl/Nicole Kloth/Ursula Zimmermann (edd.), Die Inschriften der 3. Dynastie. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 1995, 54f. sub Ne/Sa/24, hebt den König in besonderer Weise heraus, was mit der Nichtdarstellung des Herrschers in den Beamtengräbern korrespondiert. Im Bild ist also eine spezifische Sphäre einer menschenfern-erhabenen Königlichkeit abgegrenzt. Diese Darstellungskonventionen änderten sich wieder in den königlichen Totentempeln der V. Dynastie, in deren Reliefs wieder anstatt der anthropomorphisierten Zeichen für den König agierende Männer der Elite dargestellt sind (hier ist noch einmal auf die Arbeit von Ghada Mohamed zu verweisen). Der genaue Übergang ist wegen des Überlieferungszufalls nicht sicher zu bestimmen. Dabei ist auch zu beachten, dass es oft noch mehr ein Zeichen als das Ding/Ereignis selbst ist, was unter Tabu steht, Louis Hjelmslev, Die Sprache. Eine Einführung, Darmstadt 1968, 80– 82. In einigen literarischen Texten könnte zwar eine königskritische Tendenz vermutet werden, wie besonders in den Abenteuern von König Pepi, Richard B. Parkinson, ‚Homosexual Desire‘ and Middle Kingdom Literature, in: The Journal of Egyptian Archeology 81 (1995), 57–76. Doch mag dies eine anachronistische Interpretation sein. Dabei beziehen sich diese Texte nicht auf aktuelle, sondern vielmehr auf fernvergangene Herrscher. Grundlegend dazu Alfred Hermann, Die ägyptische Königsnovelle (Leipziger ägyptologische Studien 10), Glücksstadt et al. 1938; neuere Untersuchungen: Karl Jansen-Winkeln, Die ägyptische ‚Königsnovelle‘ als Texttyp, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 83 (1993), 101–116; Antonio Loprieno, The King’s Novel, in: Ders. (ed.), Ancient Egyptian Literature. History & Forms, Leiden 1996, 277–295.

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Weisheit am Ende als erfolgreich erweist. Wie dieses topische Erzählen mit der historischen Realität korrespondierte, bleibt eine quellenbedingt für uns kaum sicher zu beantwortende Frage. Wir kennen nur ganz wenige Abweichungen von der radikal überhöhenden Königsdarstellung, so insbesondere die mutmaßlich Hatschepsut-kritischen Graffiti (Abb. 2), in denen – sofern die m. E. plausible Interpretation auch tatsächlich stimmte25 – die in der altägyptischen Kultur stark männlich kodierte Herrscherrolle der Frau Hatschepsut derb aufs Korn genommen wird.26

Abb. 2: Graffito aus Deir el Bahari, Karikatur von Hatschepsut und Senenmut? (Ludwig D. Morenz, Kleine Archäologie des ägyptischen Humors. Ein kulturgeschichtlicher Testschnitt, Berlin 2014, 176, Fig. 70).

25 Ludwig D. Morenz, Kleine Archäologie des ägyptischen Humors. Ein kulturgeschichtlicher Testschnitt, Berlin 2014, 175–177, mit Fig. 70. 26 Zur besonderen historischen Situation im Spiegel der materiellen Kultur, Catherine H. Roehrig (ed.), Hatshepsut. From Queen to Pharaoh, New York 2005. Einen interessanten, aber weit weniger bekannten Parallelfall weiblicher Herrschaft im Niltal bilden die verschiedenen Stadien der Königlichkeit der Tausret, Hartwig Altenmüller, Das Bekenntnis der Großen Königlichen Gemahlin Tausret zu Sethos II., in: Ludwig D. Morenz/Amr El Hawary (edd.), Weitergabe. Festschrift für die Ägyptologin Ursula Rößler-Köhler zum 65. Geburtstag (Göttinger Orientforschung 53), Wiesbaden 2015, 15–26.

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Diese Darstellungen, mutmaßlich mit Bezug auf das Verhältnis des hohen Königsbeamten Senenmut und ‚Pharao‘ Hatschepsut,27 könnten zeitgenössisch sein, doch bleibt eine genaue Datierung schwierig, und spezifizierende Beischriften fehlen.28 Rückwärts gewandte Herrscherkritik einschließlich damnatio memoriae29 ist dagegen aus dem Alten Ägypten mehrfach zu belegen, sowohl in Form der Zerstörung von Monumenten, der Auslöschung von Namen etc. als auch der Auslassung des Herrschernamens in Königslisten. Besonders prominent betraf dies den religiösen ‚Revolutionär von oben‘, König Echnaton, nach seinem Tod.30 Im Blick auf bestimmte und sehr situationsspezifische Brechungen von Höflichkeitskonventionen im Verhältnis König – Provinzelite und einer Art frei schwebenden Intellektuellen im Sinne Karl Mannheims sind insbesondere zwei literarische Texte bemerkenswert: die fiktionale ‚Vorhersage des Neferti‘31 und die Cheops-Djedi-Geschichte aus dem Zyklus der Wundererzählungen32 des ‚Papyrus Westcar‘.33 Aus archäologischer und ethnologischer Perspektive kann die Elite-Frage nicht zuletzt unter der Dichotomie big man versus smart chap betrachtet werden. Djedi verfügt über das kulturelle Wissen, hat aber kein Amt und ist demnach in der ägyptischen Gesellschaftsstruktur zwar smart chap, aber 27 Ausgesprochen interessant sind hier Phänomene des Gender-Crossing, die sich in der Schrift etwa im Wechsel zwischen männlichen und weiblichen Formen und in der Bildlichkeit in der Darstellung der Frau mit zeremoniellem Königsbart zeigen, Roehrig 2005. 28 Die Graffiti sind anepigraphisch und mit den Mitteln der Stilanalyse m. E. nicht sicher datierbar. 29 Als ägyptisches Äquivalent zu dem römischen Begriff können wir sjn rn („den Namen auswischen“, Lehre für Meri-ka-re, E 23f.) in Anschlag bringen. Zum Themenfeld: Joachim F. Quack, „Lösche seinen Namen aus!“ Zur Vernichtung von personenreferenzierter Schrift und Bild im Alten Ägypten, in: Carina Kühne-Wespi/Klaus Oschema/Joachim F. Quack (edd.), Zerstörung von Geschriebenem. Historische und transkulturelle Perspektiven (Materiale Textkulturen 22), Berlin/Boston 2019, 43–102. 30 Despektierlich anonymisiert wurde er in der Zeit von Ramses II. als ‚Frevler von Achet-Aton‘ bezeichnet; guter Überblick bei Erik Hornung, Echnaton. Die Religion des Lichts, Zürich 1995. 31 Edition von Wolfgang Helck, Die Prophezeiung des Nfr.tj (Kleine ägyptische Texte 2), 2. Aufl., Wiesbaden 2000; Überblick bei Günter Burkard/Heinz-Josef Thissen, Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte, 12 Bde., Bd. 1: Altes und Mittleres Reich, Münster/ Hamburg/London 2003; umfangreiche Bearbeitung in Andréas Stauder, Linguistic Dating of Middle Egyptian Literary Texts (Lingua Aegyptia: Studia Monographica 12), Hamburg 2013, 337–418. 32 Die Bezeichnung als Wundererzählung ist zwar modern, greift aber die textinterne Bezeichnung mit der Wurzel bjA auf, Erhart Graefe, Untersuchungen zur Wortfamilie bjA, Köln 1971. 33 Edition von Aylward M. Blackman/W. V. Davies, The Story of King Kheops and the Magicians. Transcribed from Papyrus Westcar (Berlin Papyrus 3033), Whitstable 1988, neuere Bearbeitung: Verena Lepper, Untersuchungen zu pWestcar. Eine philologische und literaturwissenschaftliche (Neu-)Analyse (Ägyptologische Abhandlungen 70), Wiesbaden 2008; Überblick zur Forschung: Burkard/Thissen 2003, 177–187.

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nicht big man. Neferti dagegen ist vor allem smart chap, aber doch auch Amtsträger und Repräsentant der hoffernen Provinzelite, also auch – ein wenig – big man.34 Beide haben Zugang zur Schriftlichkeit, auch und gerade der WissensKultur, und verfügen damit über ein hohes kulturelles Kapital.35 Ägyptischeigenbegrifflich formuliert, gehören sie zur Gruppe der rx.w-jx.wt („Kundige“, wörtlich: „Ding-Wisser“) und damit einer Art Wissenselite.36 In der fiktionalen ‚Vorhersage des Neferti‘ – der Text datiert in die XII. Dynastie oder auch deutlich später37 – wird mit Neferti ein Provinzweiser und Vorlesepriester (Xr.w-Hb.t), der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt (also eine Art Laplacescher Dämon avant la lettre),38 aus dem Ostdelta an den Hof von König Snofru geholt. Ganz außergewöhnlich in der ägyptischen Kultur ist dabei das Motiv, dass der König dessen Worte, vollen Respekt ausdrückend, sogar selbst aufschreibt: „Da streckte er (König Snofru) seine Hand zum Kasten des Schreibbedarfs aus, da griff er sich Papyrus und Schreibbinse, und er wandelte also das, was der Vorlesepriester Neferti sagte, in Geschriebenes.“ (Neferti, E 15–17)

Mit diesem Erzählmotiv wird die übliche Konvention invertiert, dass der König seine Rede diktiert und ein Beamter die Königsworte respektvoll niederschreibt,39 wodurch der ex-eventu-Prophetie besonderes Gewicht verliehen wird. Der Text

34 So wird Neferti wie Djedi als nDs („Kleiner“) bezeichnet, doch zugleich heißt es von ihm in einer topischen Eliteformulierung auch: „Ein Edler ist er – größer sind seine Dinge (= sein Besitz) als jedes seinesgleichen.“ 35 Sowohl Neferti als auch Djedi verkörpern beide den Typus einer Randfigur im Sinne des bon sauvage der Aufklärung als Verkörperer der eigentlich residentiell gedachten Hohen Kultur, wobei dafür aus der ägyptischen Literatur des Mittleren Reiches auch noch auf den Oasenmann als sozio-kulturelle Randfigur und zugleich Werterepräsentant der Hohen Kultur (Parkinson 2012) hinzuweisen ist. 36 Siegfried Herrmann, Untersuchungen zur Überlieferungsgestalt mittelägyptischer Literaturwerke, Berlin 1957, 102ff., Morenz 1996, 142f. 37 Für eine späte Ansetzung erst in das Neue Reich plädierte zuletzt Stauder 2013, 337–418. Ich halte die Frage für schwer entscheidbar und würde eine frühere Ansetzung zumindest nicht ausschließen, L. D. Morenz, Trauma und Therapie, in Vorbereitung. Relativ frühe Textzeugen sind die Assiut-Graffiti, die in die XVII. oder allenfalls die frühe XVIII. Dynastie datieren, Ursula Verhoeven, Literatur im Grab – der Sonderfall Assiut, in: Gerald Moers et al. (edd.), Dating Egyptian Literary Texts (Lingua Aegyptia: Studia Monographica 11), Hamburg 2013, 139–158. 38 So fragt Neferti König Snofru, ob er erzählen soll „Als etwas Geschehenes, oder als etwas, das noch geschehen wird, Herrscher, mein Herr?“ (E 14). 39 Christopher Eyre, Why was Egyptian Literature?, in: Gian M. Zaccone/Tommaso R. di Netro (edd.), Sesto Congresso Internazionale di Egittologia, 2 Bde., Bd. 2, Turin 1993, 115– 120; Morenz 1996, 3f.

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ist in mittelägyptischer Sprache40 abgefasst und fiktiv in die ferne Vergangenheit des weit über ein halbes Jahrtausend früher lebenden und seinerzeit bereits mytho-historischen Königs Snofru gesetzt. An diesen Herrscher lagerten sich Jahrhunderte nach seiner Regierungszeit verschiedene Überlieferungstraditionen an,41 und Snofru wurde im Mittleren Reich zu einem Gründungsheros insbesondere im Sinai aber auch im Niltal (etwa in Dahschur; hier wohl nicht zuletzt als Nachwirkung seiner Pyramide – historisch der ersten in dieser Form und Monumentalität)42 stilisiert.43 Neben bestimmten historischen Spuren und Erinnerungen spielte dabei sicher auch einfach sein Name eine Rolle, der ein s-Kausativ zur Wurzel nfr („schön, gut“) ist. Hier geht der soziale Regelbruch vom König aus, der ganz gegen die Konventionen der ägyptischen Königsideologie Neferti geradezu familiär als „Freund“ (xnm) und „Bruder“ (sn)44 adressiert.45 In diesem literarischen Text wird ein besonderes Königsbild des Snofru entworfen, das gewisse Parallelen in der mit seiner Regierungszeit verbundenen Erzählung aus dem Zyklus der Wundererzählungen des ‚Papyrus Westcar‘ findet.46 Sozialgeschichtlich noch einmal ganz anders gelagert ist die am Hof des Königs Cheops spielende Erzählung aus dem Zyklus der Wundererzählungen des ‚Papyrus Westcar‘.47 Hier ist – in Interaktion mit König Cheops und dem Prinzen Hor-djedef – die nichtkönigliche Hauptfigur der residenzfern geschilderte (partiell auch ‚wandernde‘) Weise Djedi,48 ganz offenbar ein Sympathieträger des

40 Eine Frage der Sprachhistorik ist, wie sicher hier Anachronismen festgemacht werden können, die nicht durch Probleme der Textüberlieferung erklärbar sind, zur Problematik: Stauder 2013, 337–418. 41 Dietrich Wildung, Die Rolle ägyptischer Könige im Bewusstsein ihrer Nachwelt (Münchner Ägyptologische Studien 17), Berlin 1969, 131–134; einen besonderen Aufschwung scheint die Snofru-Verehrung bereits in der VI. Dynastie genommen zu haben, Helck 1994, 222f. 42 Guter Überblick in Rainer Stadelmann, Die ägyptischen Pyramiden. Vom Ziegelbau zum Weltwunder, Mainz 1985. 43 Ludwig D. Morenz, Die Genese der Alphabetschrift. Ein Markstein ägyptisch-kanaanäischer Kulturkontakte, Würzburg 2011, 150–152. 44 Snofru nennt im ‚Papyrus Westcar‘ die literarische Figur Djadjaemanch auch „mein Bruder“ (6.1). 45 Zum nicht-zeitgenössischen Snofru-Bild in der ägyptischen Überlieferung: Wildung 1969, 105–152; Philippe Derchain, Snéfrou et les Rameuses, in: Revue d’Égyptologie 21 (1969), 19– 25. Die Deutung der dritten Geschichte aus den ‚Wundererzählungen‘ als humoristische Königskritik an König Snofru, der als ein einfältiger Tor geschildert sei, bei Lepper 2008, 299, halte ich nicht für die Zielrichtung des Textes, sondern für unsere moderne (und entsprechend anachronistische) Sichtweise. Dabei ist das Verhältnis zwischen fiktional gebrochener Königsideologie und Entertainment allerdings ausgesprochen schwierig abzuwägen. 46 Hier genüge ein Hinweis auf den Deutungsansatz bei Derchain 1969. 47 Letzte Bearbeitung: Lepper 2008. 48 Morenz 1996, 107–123; wir können an soziale Typen wie die griechischen Philosophen, die chinesischen wandernden Weisen oder die Propheten der Hebräischen Bibel denken. Tatsächlich ist Djedi zwar als ortsfest geschildert, hat aber einen Schülerkreis und eine Privat-

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Erzählers. Sein Wissens- und Lehreraspekt wird in dem Motiv deutlich, dass Djedi seine Schüler und seine Bücher – also die Materialisierung seines kulturellen Kapitals – mit zur Residenz nehmen will, zu der ihn Prinz Hor-djedef persönlich einlädt, direkt abholt und ihm also eine ehren- und würdevolle Reise gewährt und ermöglicht:49 „Djedi sagte: ‚Laß mir eine der Barken geben, damit sie mir meine Kinder (= Schüler) bringen und meine Bücher.‘“ (8,3–4)50

Dabei wird er im markanten sozialen Unterschied zur Königsfamilie und der Hofelite als nDs („Kleiner“) – zu verstehen im Rahmen der ägyptischen Gesellschaftsordnung im Sinne etwa von ‚Durchschnittsbürger‘51 – bezeichnet, der über eine herausragende Begabung und Bildung verfügt und im Text als ein Weiser im ägyptischen Idealalter von 110 Jahren52 (7,2) vorgestellt wird. Dieser „kleine“ (nDs) Djedi weist sogar einen Wunsch des ‚großen‘ Königs Cheops als unethisch zurück. Cheops ist offenbar von Djedis Fähigkeit, einen abgeschnittenen Kopf wieder zu verknoten (Tz tp Hsb, 7,4),53 besonders beeindruckt und will dies vorgeführt bekommen. Entsprechend ordnet er an: „Es werde mir ein Gefangener gebracht, der im Gefängnis ist, damit seine Hinrichtung ausgeführt werde“ (8,15).54 Darauf aber antwortet der „kleine“ (nDs) Weise dem Herrscher in ausgesprochen höfisch-höflicher Sprache großer Ehrbezeugung:

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bibliothek, weiterhin reist er zur Residenz. Wo er sein Wissen selbst erworben hat, lag nicht im Erzählinteresse des Textes und wird entsprechend nicht in der Wundererzählung geschildert. Im Kontakt mit Djedi agiert auch der Prinz Hor-djedef außergewöhnlich höflich, insbesondere wenn in Rechnung gestellt wird, dass er von sozial ‚Oben‘ nach ‚Unten‘ agiert. Dabei scheint im Raum zu stehen, dass Hor-djedef ein Schüler des Djedi war. Explizit gesagt wird dies allerdings nicht. Zu diesem Motiv: Morenz 1996, 112–114. Hier und im Folgenden ist ‚Bürger‘ ohne spezifische europäische Konnotationen gemeint im Sinne von ‚normaler Ägypter‘. Jan Assmann, Die Unschuld des Kindes, in: Terrence DuQuesne (ed.), Hermes Aegyptiacus. Egyptological Studies for B. H. Stricker on His 85th Birthday (Discussions in Egyptology: Special Number 2), Oxford 1995, 19–25. Das Motiv des Kopf-Verknotens steht nicht für einen einfachen Zaubertrick, sondern impliziert die auch mythologisch gesättigte Vorstellung eines Wiederbelebungsaktes, Diskussion in Ludwig D. Morenz, Gesichts-Fragen. Bildanthropologische Blicke: Europäisches Paläolithikum, Vorderasiatisches Neolithikum, Bronzezeitliches Ägypten (Studia Euphratica 2), Berlin 2017. Diese Textpassage ist ein interessanter Beleg für die Praxis der Todesstrafe in der altägyptischen Kultur, zum Themenbereich: Renate Müller-Wollermann, Vergehen und Strafe. Zur Sanktionierung abweichenden Verhaltens im alten Ägypten (Probleme der Ägyptologie 21), Leiden 2004.

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„Aber doch nicht an einem Menschen, Oh Herrscher – Leben, Heil, Gesundheit!55 –, mein Herr!, Siehe: Nicht ist befohlen, dergleichen zu tun an dem ‚edlen Kleinvieh‘ (aw.t Sps.t).“ (8,16–17)

Als (in ägyptischer Perspektive) ethisch vertretbaren Ersatz für einen Menschen, selbst wenn er ein Hinrichtungskandidat sei,56 weist Djedi – als smart chap ohne Ämter – seine übernatürliche Heka-Kompetenz57 im Experiment an einer Gans und dann einem Stier nach, denen der Hals durchgeschnitten wurde, während Djedis Zauberspruch Kopf und Körper wieder miteinander verbindet (8,17–9,1). Sprachniveaus galten im Sinne der Inszenierungen kulturellen Kapitals in der ägyptischen Kultur als sozial distinguierend, und die Elite (ägyptische Termini: wr.w, sr.w) zeigte sich ausgesprochen sprachbewusst.58 So rühmen sich Männer insbesondere während des Mittleren Reiches aristokratischer Sprachkonventionen (ägyptisch formuliert: m Dd sr.w, „in der Sprechweise der Edlen“)59 jenseits der vulgären Sprache. So lesen wir in der Selbst-Präsentation eines Mannes namens Antef, Sohn der Senet, auf einer Stele aus der XII. Dynastie: „Ich bin gut in den Ämtern (= Amtsaufgaben), festen Herzens, frei von Röhren.“60 Die literarische Figur Djedi spricht ausgesprochen hochsprachlich, und seine Zurückweisung der Herrscherbitte erfolgt im Rahmen seiner kunstvoll höflichen Sprache61 als einer buchstäblich höfischen Sprache62 in einer sogar die Regeln der 55 Dieser Wunsch wurde formelhaft dem Herrschernamen angehängt, was einen besonderen Status indiziert. 56 Dies erinnert an Immanuel Kants sogenannte Selbstzweck-Formel: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785). 57 Heka könnte zunächst einmal grob mit „Magie“ wiedergegeben werden, doch ginge damit eine kulturspezifische Dimension verloren. Besser scheint mir die (in der Tendenz wertungsfreie) Umschreibung als ‚(sakrale) Kulturtechnik zur Bewältigung des Außergewöhnlichen‘, Ludwig D. Morenz, Hoffen und Handeln. Vom altägyptischen Heka (Hans-BonnetStudien zur ägyptischen Religion 2), Berlin 2016. 58 Ludwig D. Morenz, Sprechen statt Grunzen: Sprachnorm als Beamtentugend und sakrales Gebot, in: Göttinger Miszellen 187 (2002), 9–10. 59 Ein in der Forschung vielzitierter Kronzeuge ist die Selbst-Präsentation auf der Stele des Menthu-user aus der frühen XII. Dynastie, Morenz 2002, 9. 60 Morenz 2002. Mit dem Epitheton „festen Herzens“ wird auf klares und entschlossenes Denken verwiesen, während „frei von Röhren (ägyptisch: rrj.t)“ anstatt einem schweinhaften Grunzen (ägyptisch onomatopoetisch eben rrj.t) auf angemessene Sprechweise verweist. 61 Gerade in der Djedi-Geschichte von ‚Papyrus Westcar‘ wird stärker mit Sprachregistern gespielt, dazu etwa Lepper 2008, 280. 62 Die ägyptische Schriftsprache war im Alten Reich hochgradig formalisiert, spiegelt in der Restriktion vielleicht höfische Sprachkonventionen. Dafür mögen hier zwei Beispiele genügen: a) eine mutmaßlich höfische Schriftkonvention im Alten Reich war die graphische Vermeidung des Suffixpronomen der 1. Person Singular und b) ein Reden von sich selbst als bAk jm („der Diener da“, anstatt: „ich“). Beide Sprachkonventionen gründen in der Scheu,

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Normgrammatik transzendierenden Art von King’s Egyptian.63 Interessant ist dabei auch der Rekurs auf die Sakralwelt. Mit der Menschenbezeichnung als „edles Kleinvieh“ (aw.t Sps.t) wird nicht nur an die weit verbreitete königsmythologische Vorstellung vom Herrscher als „gutem Hirten“64 appelliert, sondern auch und vor allem an die Verantwortlichkeit des Königs gegenüber dem Schöpfergott – der die Menschen eben als „edles Kleinvieh“ (aw.t Sps.t)65 geschaffen hat. In keiner anderen Passage ägyptischer Texte wird m. W. das Problem der (an Normen gebundenen) ‚Freiheit vor dem Thron‘ wie hier behandelt.66 In einem gewissen Sinn, und gleichsam als Vorstufe dazu, ist an die ‚Klagen des Oasenmannes‘ zunächst vor dem räuberischen Beamten Nemti-nacht selbst und dann vor dessen Vorgesetzten, dem Obergütervorsteher Rensi, hinzuweisen, die ebenfalls bis zum Appell an die vom Schöpfergott gesetzten Normen gehen.67 Hier wird geschildert, wie eine soziale Randfigur gegen ihr widerfahrenes Unrecht seitens der korrupten Beamtenschaft ankämpft und dabei als kultureller Außenseiter gerade die Normen und Werte der Hohen Kultur vertritt. Diese im ägyptischen hochkulturellen Horizont auf der ethischen Basis Maat68 fundierte ‚höfliche Freiheit‘ gründet für Djedi offenbar in der Bindung an eine schöpfergöttlich gegebene Ethik. Auch insofern steht die literarische Figur Djedi also dem soziologischen Idealtypus griechischer Philosoph, hebräischer Prophet oder

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direkt von sich selbst in der ersten Person zu reden. Diese Problematik lohnte, umfassender untersucht zu werden. Grammatische Analyse und sozio-linguistische Einordnung bei Mordechai Gilula, The King’s Egyptian, in: Lingua Aegyptia 1 (1991), 125–127. Dieter Müller, Der gute Hirte, in: Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde 86 (1961), 126–144. Vgl. etwa den Hymnus auf den Schöpfergott in der ‚Lehre für Meri-ka-re‘ (E 131): „Wohlversorgt sind die Menschen, das Kleinvieh Gottes“. In diesem Sinn ist auch auf den Vorwurf an den Schöpfergott in den ‚Admonitions‘ hinzuweisen, Edition von Roland Enmarch, The Dialogue of Ipuwer and the Lord of All, Oxford 2005; Übersetzung und Kommentar: Ders., A World Upturned: Commentary on and Analysis of The Dialogue of Ipuwer and the Lord of All, Oxford 2008; Deutung in Ludwig D. Morenz, Der existentielle Vorwurf – an wen ist er adressiert?, in: Lingua Aegyptia 18 (2010a), 263–267. Die Freiheitsproblematik einschließlich begriffs- und diskursgeschichtlicher Entwicklungen verdient für das pharaonische Ägypten genauere Untersuchungen; in diese Richtung geht die unveröffentlichte Masterarbeit von Dominic Jacobs, Ein Freiheitsbegriff in den Quellen des ägyptischen Mittleren Reiches?, 2018. Dabei scheint insbesondere in der gesellschaftlichen Umbruchszeit am Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. eine Diskursverlagerung mit stärkerer Betonung der Innenbestimmtheit des Menschen doch deutlicher (Stichwörter wie ‚Herz‘, ‚Charakter‘ etc.), Miriam Lichtheim, Maat in Egyptian Autobiographies and Related Studies (Orbis Biblicus et Orientalis 120), Freiburg/Göttingen 1992. Parkinson 2012. Für die ägyptische Gesellschaftsvorstellung war dies ein Zentralbegriff, der in einer breiten Bedeutungsspanne mit Ordnung, Wahrheit, Gerechtigkeit übersetzt wird; Assmann 1990; Rudolf Anthes, Die Maat des Echnaton von Amarna (Journal of the American Oriental Society: Supplement 14), Baltimore 1952; Lichtheim 1992.

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chinesischer Weiser durchaus nahe. Er belehrt den Herrscher in aller sprachlichen Höflichkeit, dass angemessene Herrschaftsausübung normgebunden sei und dabei in einer schöpfungsgeschichtlich unterlegten Ethik gründet. Wir können dies als Verweis auf eine Art impliziten ägyptischen Gesellschaftsvertrag verstehen, der Herrschaft als nicht-willkürlich ansetzt.69 Für die soziale Konstellation im Wechselspiel von Höflichkeitskonvention und Ethik spielt es eine große Rolle, dass der den König belehrende Djedi ein hofferner Weiser ohne Ämter – eben ein „Kleiner“ (nDs) – ist, den wir im Sinne der Wissenssoziologie Karl Mannheims als eine altägyptische Version des Typus ‚freischwebender Intellektueller‘70 verstehen können.71 Dabei ist für die Wirkung und Bewertung ebenfalls interessant, dass Pharao Cheops diese Belehrung annimmt und Djedi am Ende reichlich belohnt.72 Hinzu kommt, dass insbesondere durch die griechische Überlieferung (Herodot u. a.) Cheops in der europäischen Ägyptenrezeption als Prototyp des negativ gesehenen ‚pharaonischen‘ Alleinherrschers galt.73 Aus dem Bereich des Königtums im Alten Orient ist dieser Königskritik Djedis nicht zuletzt die buchstäblich fabel-hafte Belehrung des alttestamentlichen Königs David durch den Propheten Nathan74 an die Seite zu 69 Dieser imaginäre contrat social, wie wir diese Denkfigur mit J. J. Rousseau nennen könnten, findet auf den Herrscher bezogen einen gewissen Ausdruck in dem kulttheologischen Traktat ‚König als Sonnenpriester‘, Jan Assmann, Der König als Sonnenpriester. Ein kosmographischer Begleittext zur kultischen Sonnenhymnik in thebanischen Tempeln und Gräbern (Abhandlungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo 7), Glückstadt 1970; inzwischen sind weitere Textquellen erschlossen, doch muss uns diese Frage hier nicht weiter beschäftigen. Spezifischer geht es Djedi um ein auf den Schöpfergott zurückgeführtes Menschenrecht, nicht als Versuchskaninchen benutzt zu werden. Dies entspricht Immanuel Kants oben genannter ‚Selbstzweck-Formel‘ aus seiner ‚Metaphysik der Sitten‘. 70 Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk (Soziologische Texte 28), Frankfurt a. Main 1964; Deutung der Figur Djedi in diesem Sinn in Morenz 1996, 107–123. 71 Als ein realweltliches Gegenstück zur literarischen Figur Djedi ist Anchu von der Stele Liège I/ 630 zu verstehen, Ludwig D. Morenz, Von Lese-Kunst und Pilgerschaft – Überlegungen zur Stele Liège I/630, in: Göttinger Miszellen 257 (2019), 109–118. 72 ‚Papyrus Westcar‘, 9,19–20. Tatsächlich wird damit Djedi vom ‚freischwebenden Intelektuellen‘ zum ‚Integrierten‘ transformiert, was in der Erzählperspektive wohl als gesellschaftlicher Aufstieg gedacht werden soll. Zuvor war Djedi vom König nicht „gerufen“ (njs) worden. Diese soziale Positionierung zeigt der von König Cheops derb begonnene Dialog: „‚Was soll das Djedi, das Nicht-Ermöglichen, daß ich dich sehen konnte?‘ Da sagte Djedi: ‚Einer der gerufen wird, der kommt, oh Herrscher – Leben-Heil-Gesundheit –: Es wurde nach mir gerufen, und siehe, ich bin gekommen‘“ (8,10–12). 73 Wildung 1969, 152–192, Siegfried Morenz, Traditionen um Cheops, Beiträge zur überlieferungsgeschichtlichen Methode in der Ägyptologie I, in: Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde 97 (1971), 111–118. 74 Die Parabel mit Bezug auf die Bathseba-Geschichte steht in 2. Sam 12,1–10; Wolfgang Oswald, Nathan der Prophet. Eine Untersuchung zu 2. Samuel 7 und 12 und 1. Könige 1 (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments 94), Zürich 2008. Die Datierung des Textes ist ausgesprochen problematisch, vgl. etwa Walter Dietrich/Thomas Naumann, Die Samuelbücher, Darmstadt 1995. Die rhetorische Strategie, die unangenehme

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stellen. Diese Tradition der Königskritik reicht im Zweistromland bis zu Texten wie der fiktionalen Kuthäer-Legende75 zurück, wo in dem aus altbabylonischer Zeit (erste Hälfte 2. Jahrtausend v. Chr.) stammenden Text die Schuld des akkadischen Königs Naramsin (3. Jahrtausend v. Chr.) und ihre Folgen für den Geschichtsverlauf verhandelt werden.76 Wenn uns der Überlieferungszufall nicht sehr trügt, war die Königskritik Djedis etwas in der altägyptischen Kultur sehr Besonderes, das aber auf bestimmte Möglichkeitsräume im sozialen Drama hinweist. Dabei fragt sich auch, wie weit dieses Szenarium der ‚schönen Literatur‘ eine soziale Praxis spiegeln mag und in welcher erzählerischen Brechung. Jener Sprecher, der die Hofetikette auf einer höheren Sprachebene aufhebt, ist die im Text mythisch überhöhte Figur Djedi, der geradezu osirianisch-übermenschlich gezeichnet wird. Schon der Name Djedi weckt über den Djed-Pfeiler osirianische Assoziation (Abb. 3) und ist mit zwei Djed-Pfeiler-Hieroglyphen geschrieben (Abb. 4). Der Bezug Djedis auf den Gott Osiris kann mehrere Aspekte implizieren. Neben der Über-Menschlichkeit dürfte dieser den Tod überwindende Gott als Herr des Jenseits und Herr des Totengerichts77 in dieser Geschichte als mythologischer Bezugshintergrund des Weisen insbesondere für die beiden Aspekte „Wissen“ (ägyptisch rx) und „Wahrheit/Ordnung“ (ägyptisch mAa.t) stehen. Dieser Djedi lebt (ägyptisch formuliert: „sitzt“, Hms) in Djed-Snofru. Sein Name kann somit auch als Kurzform für „der von Djed-Snofru“ erklärt werden oder jedenfalls supplementär darauf verweisen. Weiterhin kann ein intratextueller Bezug zum Namen des Prinzen Hor-djedef (der vielleicht sein Schüler war) 78 und auch zu Ru-djedet (der von Djedi verkündeten Mutter der drei Brüder, die eine neue Dynastie begründen werden) 79 gesehen werden. Der Eigenname der

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Wahrheit in ein Fabelgewand zu kleiden, untersucht kulturvergleichend ethnologisch Karl Meuli, Herkunft und Wesen der Fabel, in: Schweizer Archiv für Volkskunde 50 (1954), 65–88. Joan Goodnick-Westenholz, Legends of the Kings of Akkade, Texts (Mesopotamian Civilizations 7), Winona Lake 1997. Nach Tremper Longman, Fictional Akkadian Autobiography, Winona Lake 1991, 110f. handelte es sich um die älteste fiktionale Autobiographie (vielleicht in der Zeit des Namensvetters Naramsin von Eschnunna/Assur verfasst?). Aus komparatistischer Perspektive ist für die Frage ältester fiktionaler Autobiographien auf die aus dem 20. Jh. v. Chr. stammende mittelägyptische Sinuhe-Dichtung hinzuweisen. Harold Hays/Frank Feder/Ludwig D. Morenz (edd.), Interpretations of Sinuhe. Inspired by Two Passages (Egyptologische Uitgaven 27), Leiden 2014. Eberhard Otto, Osiris und Amun. Kult und heilige Stätten, München 1966; Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2003. Schülerschaft des Prinzen beim Weisen wird im Text zwar nicht explizit geschildert, aber der Prinz Hor-djedef scheint ihn gut zu kennen, und der Umgang beider lässt eine solche Konstellation durchaus erwarten. Hier ist das königsideologisch-mythologische Motiv der gott-königlichen Geburt literarisiert, Hellmut Brunner, Die Geburt des Gottkönigs. Studien zur Überlieferung eines altägypti-

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Abb. 3: Osiris als anthropomorphisierter Dd Pfeiler. Thebanisches Felsgrab von Sethos II., KV 15, XIX. Dynastie (Umzeichnung nach einer Abbildung in Jean François Champollion, Monuments de l’Égypte et de la Nubie: Notices descriptives, 4 Bde., Bd. 1, Paris 1844, 462).

Abb. 4: Schreibung des Namens Djedi in ‚Papyrus Westcar‘.

literarischen Figur dürfte, ganz wie wir dies nicht nur von Thomas Manns Adrian Leverkühn, sondern tatsächlich auch von verschiedenen ägyptischen literarischen Texten kennen, besondere Bedeutung tragen und textreferentielle Bezüge aufweisen.80 Bei Djedi können wir die Namensschreibung mit den Zeichen ‚zwei Djed-Pfeiler + Papyrusrolle‘ vielleicht auch noch so erklären, dass die Papyrusrolle für sich genommen spezifischer für zXA („schreiben“) stehen könnte und insofern auf seine schriftbasiert Bücher-reiche Gelehrtheit anspielt. Die Grenzen der Interpretation81 abzustecken wäre schwierig und ist in diesem Fall vielleicht schen Mythos (Ägyptologische Abhandlungen 10), Wiesbaden 1964; zu den Königsnamen und ihrem wortspielerischen Form- und Bedeutungsgehalt: Lepper 2008, 124f. 80 Tatsächlich kann die Spannung Weltreferenz versus Textreferenz der Eigennamen als ein guter Indikator für die Literarizität von ägyptischen Texten genommen werden. 81 Zur Problematik vgl. Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 1999.

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nicht einmal nötig, denn ein breites Assoziationsfeld dürfte poetische Absicht gewesen sein. Dieser „einfache Bürger“ (nDs) lebt nicht nur im ägyptischen Idealalter von 110 Jahren82 bei voller Gesundheit,83 sondern hat auch einen übermenschlichgargantuesken Appetit mit folgender Tagesration: „Er ißt 500 Brote, die Schulter eines Ochsen als Fleisch Und er trinkt 100 Krüge Bier.“84 (Papyrus Westcar, 7,2–7,3)

Sein Wissen und Können grenzt mindestens ans Übernatürliche: „Er weiß, einen abgeschnittenen Kopf wieder zu verknoten,85 Er weiß, wie man einen Löwen hinter sich gehen läßt, indem der Strick auf der Erde schleift,86 Er kennt die Zahl der Kammern des Heiligtums von Thot.“87 (Papyrus Westcar 7,2–7,6)

Dabei liegt Djedi entspannt auf einer Matte, „während ein Diener an seinem Kopf ihn salbte und ein anderer seine Füße rieb“, und auch im Motiv der Massage können wir ein osirianisches Thema erkennen, sofern sich dort Isis und Nephthys um Kopf und Fuß des Osiris kümmern.88 Der König Cheops in aller Höflichkeit die Wahrheit verkündende hofferne Weise Djedi ist also zum einen als Typ einfacher Bürger („Kleiner“, nDs) und zum anderen als über-menschlich mit Wesenszügen des Gottes Osiris ausgestattet gezeichnet. In diesem literarischen Rahmen war legitime Herrscherkritik gedacht. Wie dies im realen Leben ausgesehen haben mag, steht selbstverständlich auf einem anderen Blatt.

82 Assmann 1995. 83 Thematisiert wird dies in der Anrede des Hor-djedef in ‚Papyrus Westcar‘ 7,17–19. 84 Zu diesem Motiv: Morenz 1996, 115; diese Nahrungsmittel werden dann als Belohnung von Cheops noch gedoppelt: ‚Papyrus Westcar‘ 9,20–21. 85 Zu diesem Motiv: Morenz 1996, 120; Ders. 2017. 86 Dieses Motiv schildert eine volle Tierbeherrschung, Morenz 1996, 120. 87 Zu diesem Motiv: ebd., 116. 88 Ludwig D. Morenz, Die Zeit der Regionen im Spiegel der Gebelein-Region. Kulturgeschichtliche Re-Konstruktionen (Probleme der Ägyptologie 27), Leiden/Boston 2010b, 375– 387.

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Rebecca Hardie

Words, Wealth and Women in Two Anonymous Old English Homilies

Abstract Histories and anthologies of medieval literature have seldom selected works of homiletic prose to show-case the merits of early medieval English literature. Likewise, studies of Old English homiletic texts have habitually treated their aesthetic and literary merits as of secondary concern to more pressing questions of their historical, manuscript and source contexts. In this paper, I propose a means of interpreting and categorising Old English homilies within literary history, by demonstrating how each homily functions as a complete text in which literary and rhetorical styles are mimetic of its moral instruction. Hence, the homily does not only advise the listener how to enact a governing moral precept, but rather, the homily is itself the iteration of this precept, providing the first instance of its enactment. In other words, for each homilist considered here, what is spoken and how it is composed are integrated within a single articulation of faith. In arguing thus, I challenge the tendency within current studies of the Old English anonymous homiletic corpus to separate a text’s literary style from its ideological or theological concerns. It is my contention that an analysis of literary style and moral instruction in two anonymous Old English homilies from the late tenth-century manuscript, the Vercelli Book, reveal a preoccupying concern with men and women’s use (and abuse) of their wealth and power in early medieval English society. According to the seventh and tenth homilies compiled in the Vercelli Book (Vercelli VII and X), rich men and women have the potential to disrupt the enactment of justice and moral order in early medieval English society. Nevertheless, their wealth and social standing also render them uniquely positioned to affect the greatest reform in the communities around them, especially through the example of how they manage their material possessions. In both cases, the homilist’s interest in the moral problem of wealth and the nature of the homily’s appeal to men and women of high social standing can only be fully apprehended through close literary analysis of the language and style of each homily. This analysis shall reveal, more specifically, how the homilists integrate wealth and power within a verbal and communal enactment of moderation, justice and righteousness.

Old English preaching is seldom considered within the broader history of medieval literature. An exceptional case from the early medieval period is the prose corpus of Ælfric of Eynsham (d. 1010) and Wulfstan of Winchester (d. 1023), whose works have received an unparalleled degree of scholarly attention. Their

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Old English prose compositions have championed an ‘alliterative prose style’, which combines two-stress lyrical patterns with alliteration.1 Both writers also make use of the ‘Winchester vocabulary’, which denotes a style in which specific words are given preference over their synonyms in a number of texts that have some connection with Winchester in the late tenth and the eleventh century.2 In contrast, anonymous texts that comprise the wider homiletic corpus have not benefited from such careful examination of their form, rhetoric and literary style. Here, manuscript and source studies have taken precedent, which has certainly led to a wealth of valuable scholarly resources, including textual editions and translations of otherwise inaccessible works and surveys of the libraries and intellectual inheritance available in early medieval England.3 However, the result of this focus in scholarship has been that aesthetic and literary criteria have seldom emerged as of primary concern. This hiatus in scholarship has been noted especially in studies on the anonymous Old English homilies contained in the Vercelli Book (Vercelli, Biblioteca Capitolare CXVII, The Vercelli Book, s.x2).4 Paul Szarmach, in his formative essay on the style and structure of the Vercelli homilies, expressed his disappointment that “this historically important collection has […] received very little attention for its strictly literary characteristics.”5 In his essay, Szarmach described the manuscript as a “Book of Styles”, which exhibits works of diverse genre, form and subject matter by a variety of authors.6 Since then, several book-length studies

1 For discussion see Angus McIntosh, Wulfstan’s Prose, in: Publications of the British Academy 35 (1949), 109–142; Andy Orchard, Re-editing Wulfstan: Where’s the Point?, in: Matthew Townsend (ed.), Wulfstan, Archbishop of York. The Proceedings of the Second Alcuin Conference, Turnhout 2004, 63–92; Ælfric, A Supplementary Collection, ed. John C. Pope, London 1967/68, 105–136. 2 Mechthild Gretsch, Ælfric, Language and Winchester, in: Hugh Magennis/Mary Swan (eds.), A Companion to Ælfric, Leiden 2009, 109–137. 3 Michael Lapidge, The Anglo-Saxon Library, Oxford 2006. 4 See Kenneth Sisam, Studies in the History of Old English Literature, Oxford 1953, 113–116. The Vercelli Book’s present position in Vercelli, Northern Italy, cannot reflect the situation or use for which it was originally intended, and it has been suggested that the manuscript was left accidentally at this location en route to the pilgrimage destination of Rome. For a facsimile edition, see The Vercelli Book: A Late Tenth-Century Manuscript Containing Prose and Verse, Vercelli Biblioteca Capitolare CXVII, ed. Celia Sisam, Copenhagen 1976. For a critical edition, The Vercelli Homilies and Related Texts, ed. Donald G. Scragg (Early English Text Society Original Series 300), Oxford 1992. 5 Paul E. Szarmach, The Vercelli Homilies: Style and Structure, in: Paul E. Szarmach/Bernard F. Huppé (eds.), The Old English Homily and Its Backgrounds, Albany 1978, 241–267, here 242. 6 Paul E. Szarmach, The Vercelli Prose and Anglo-Saxon Literary History, in: Andy Orchard/ Samantha Zacher (eds.), New Readings in the Vercelli Book, Toronto 2009, 12–40, here 12. Since the publication of Scragg’s edition of the Vercelli Homilies, all Old English prose texts in the Vercelli Manuscript are referred to as ‘Homilies’.

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devoted to the Vercelli homilies have emerged.7 This body of scholarship has characteristically contested the recourse to either Latin source text or liturgical function as a helpful index of literary style, preferring instead to query the methods of analysis and terminology available for a successful reappraisal of Old English homilies.8 Focusing on stylistics, Samantha Zacher has, for example, argued that the vocabulary for describing Old English poetry can be applied successfully to the analysis of Old English prose likewise. The Vercelli Book provides a good context for such a claim, since a number of its twenty-three homilies contain passages of embedded verse, and likewise its six poems have been mined for conventional homiletic topoi, such as forms of direct address, paraphrase, exegesis and exhortation.9 Other terms used in the analysis of Old English prose have been drawn from classical rhetorical devices, since the considerable interpenetration of Latin and the vernacular throughout the early medieval period in all likelihood meant that prose authors were influenced by both traditions.10 Still further terms have been coined in specific cases, where prose homilists demonstrate a preponderance of extensive lists, antithesis and enumeration.11 Within this expanding field of study, formalist methods of analysis have proved productive in illuminating aspects of homiletic form and structure in particular. Szarmach demonstrates how several homilies in the manuscript represent a type of Kompilationspredigt, denoting a collection of religious themes for a hortatory purpose, which roughly conform to the formula of introduction, an appropriate number of preparatory motifs, a central narrative episode or exposition, and a closing.12 Michael Fox has since argued that homilies with a clearly defined catechetical function, naming the sequence of homilies Vercelli XIX–XXI as his case-study, compile major events from the history of Christianity – from the creation of the world to its final judgement – as their 7 See Orchard/Zacher 2009; and Samantha Zacher, Preaching the Converted: The Style and Rhetoric of the Vercelli Book Homilies, Toronto 2009a. 8 See Samantha Zacher, Rereading the Style and Rhetoric of the Vercelli Homilies, in: Aaron J. Kleist (ed.), The Old English Homily: Precedent, Practice and Appropriation, Turnhout 2007, 173–208. 9 See Charles D. Wright, More Old English Poetry in Vercelli Homily XXI, in: Elaine Treharne/Susan Rosser (eds.), Early Medieval English Texts and Interpretations: Studies Presented to Donald G. Scragg, Tempe 2003, 245–262; D. R. Letson, The Homiletic Nature of Cynewulf ’s Ascension Poem, in: Florilegium 2 (1980), 192–216; Frederick M. Biggs, The Fourfold Division of Souls: The Old English ‘Christ III’ and the Insular Homiletic Tradition, in: Traditio 45 (1990), 35–51. 10 Zacher 2007, 183–185; Katherine O’Brien O’Keeffe/Andy Orchard (eds.), Latin Learning and English Lore: Studies in Anglo-Saxon Literature for Michael Lapidge, Toronto 2005. 11 See Szarmach 1978; Charles D. Wright, The Irish Tradition in Old English Literature, Cambridge 1993; Jean Leclercq, The Love of Learning and the Desire for God, New York 1961, 171. 12 Szarmach 1978, 252. Szarmach 2009, 32–35.

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primary focus and arrange them in chronological order. This linear historical structure, Fox demonstrates, conforms with catechetical practices of instruction inherited from Augustine of Hippo’s theoretical treatises.13 These methods of analysis serve rather to highlight the diversity of options of prose style and structure available to Old English homilists than to articulate a governing theory of composition. In this paper, I propose a means of interpreting and categorising Old English homilies within literary history according to the principle that homiletic literary and rhetorical styles are intentionally mimetic of the homily’s moral instruction. The idea of imitation is certainly not new, and it has already been suggested that translation in early medieval England was a practice of imitatio.14 Building upon this idea, I claim that Old English anonymous homilies imitate part of the homily’s moral precept through language and style so as to enact spiritual transformation. In other words, for each homilist, what is composed and how it is composed are both integrated within a single articulation of faith. In arguing thus, I challenge the tendency within current studies of the Old English anonymous homiletic corpus to separate a text’s literary concerns from its ideological concerns. The form, function and audience of the Vercelli Book, from which I derive my textual examples, have proved consistently difficult to generalise upon with any degree of consistency, although within this debate several themes have emerged as directive within the selection and composition of its texts.15 Popular opinion is that the manuscript is of south-eastern origin, but the Vercelli Book has been tentatively associated with several centres, most notably Christ Church Canterbury, St Augustine’s Canterbury, Rochester Cathedral, Barking Abbey and Wilton Abbey.16 The compilation has been described variously as: a “book of meditations for an ascetic or a penitent”;17 as a guide to preaching for “a bishop or abbot in a reformed monastery of the late tenth century”;18 as a collection re13 Michael Fox, Vercelli Homilies XIX–XXI, the Ascension Day Homily in Cambridge, Corpus Christi College 162, and the Catechetical Tradition from Augustine to Wulfstan, in: Andy Orchard/Samantha Zacher (eds.), New Readings in the Vercelli Book, Toronto 2009, 254– 279. 14 Szarmach 1978, 28–31. 15 Milton McC. Gatch, Preaching and Theology in Anglo-Saxon England: Ælfric and Wulfstan, Toronto 1977, 57. 16 See The Vercelli Book, ed. George Krapp, New York 1932; Margaret Martin, A Note on Marginalia in the Vercelli Book, in: Notes and Queries 25 (1978), 485–486; Donald G. Scragg, The Compilation of the Vercelli Book, in: Anglo-Saxon England 2 (1973), 189–207; Mary Dockray-Miller, Female Devotion and the Vercelli Book, in: Philological Quarterly 22 (2004), 337–343. 17 McC. Gatch 1977, 57. 18 Elaine Treharne, The Form and Function of the Vercelli Book, in: Alastair Minnis/Jane Roberts (eds.), Text, Image, Interpretation: Studies in Anglo-Saxon Literature and Its Insular Context in Honour of Éamonn Ó Carragáin, Turnhout 2007, 253–266.

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flecting the “views of a member of the secular clergy”;19 as suitable for “someone interested in the professional role of teachers”;20 and as a book intended for a female reader or readers.21 Within this on-going debate, two themes have emerged as instrumental: the presentation of wealth in the collection and the representation of gender. Charles Wright, in a study of Vercelli homilies XI–XIII, has argued that the translators of these homilies show a propensity to adapt their sources to emphasise tolerance of wealth and landownership.22 Likewise, Mary Dockray Miller and Samantha Zacher have considered the manuscript’s appeal to specifically female concerns, owing to a direct address to a woman in Vercelli homily VII, the erasure of a woman’s name on folio 41 verso and the strong presence of women in several Vercelli texts. Both scholars have stressed the likelihood of the Vercelli Book witnessing either to a mixed audience or to women exclusively.23 I intend to build on these formative discussions of the Vercelli Book’s style and content in my argument. I will consider two homilies from the Vercelli Book, Vercelli VII and X, and demonstrate how wealth and gender play out in the thematic and stylistic development of each homily. Below, I offer a short introduction to each of the homilies, Vercelli VII and X, in turn. Vercelli X to begin, appears to have been a very popular homily and survives in no fewer than nine versions, which makes it one of the most widely circulating homiletic compositions to survive from early medieval England.24 The complete homily compiled in the Vercelli Book is the earliest extant version, and occurs in two other manuscripts from the eleventh and twelfth centuries.25 In 19 Charles D. Wright, Vercelli Homilies XI–XIII and the Anglo-Saxon Benedictine Reform: Tailored Sources and Implied Audiences, in: Carolyn Muessig (ed.), Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, Leiden 2002, 203–227. 20 Francis Lenegahn, Teaching the Teachers: The Vercelli Book and the Mixed Life, in: English Studies 92 (2013), 627–658. 21 See, for example, Scragg 1973; Éamonn Ó Carragáin, How Did the Vercelli Collector Interpret the ‘Dream of the Rood’?, in: Philip M. Tilling (ed.), Studies in English Language and Early English Literature in Honour of Paul Christophersen, Coleraine 1981, 63–104. 22 See Wright 2002. 23 See Zacher 2009a and Dockray-Miller 2004. 24 All Old English quotations and line references from Vercelli X are taken from Scragg 1992. See also Elaine Treharne, Old and Middle English: An Anthology, Oxford 2000, 99–107, for a facing-page text and translation. 25 Cambridge Corpus Christi College 421 (x. xi1) and CCCC 302 (x. xi/xii). For a discussion of Old English versions, see Scragg 1992, 191–195; Jonathan Wilcox, Variant Texts of an Old English Homily: Vercelli X and Stylistic Readers, in: Paul E. Szarmach/Joel T. Rosenthal (eds.), The Preservation and Transmission of Anglo-Saxon Culture, Kalamazoo 1997, 335– 351. The second part of Vercelli X exists as a separate entity in two manuscripts: again in CCCC 302 and in London, BL Cotton Faustina A. ix (s.xii1). A substantial excerpt from the homily occurs as part of a different homily in a single manuscript: Oxford, Bodleian Library, Bodley 343 (s.xii2). A shorter excerpt occurs in another homily also contained in a single manuscript: Oxford, Bodleian Library, Hatton 113 (s.xi3/4). Fragments of this homily occur in

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Vercelli X the homilist begins with a description of the merits of learning and teaching the scriptures before briefly recalling the faith, mercy, love and salvation granted to all humankind through the life and death of Christ. The homily then proceeds with an account of Judgement Day, during which human souls stand trial before God with His heavenly host and the Devil. The Devil makes an impassioned enjoinder before God for the souls of the wicked, enumerating upon both the sins of man and the skills of his own deception. After God has condemned the sinners to hell’s fire, the homilist proceeds with an account of a wealthy man who squandered his riches and neglected his responsibilities towards the poor. This man stands trial before Christ, who issues him a series of questions and moral injunctions concerning earthly riches and power. Ultimately, the wealthy man dies along with his family and is thereby parted from his riches, at which point the homilist reflects on the transitory nature of all earthly splendour and power before enjoining those listening to strive for the heavenly kingdom instead. The homily concludes with a series of ubi sunt questions and a vision of the heavenly realm. Vercelli X has received more scholarly attention than any other sermon in the Vercelli Book. The majority of studies have focused on the influence of poetic style upon its composition, especially in its use of two-stress rhythmical units and passages containing patterns of repetition and sound-play.26 Several studies have also sought to identify certain unifying themes within Vercelli X’s complex structure; long narrative episodes pertaining to judgement day and the castigation of a wealthy man, along with the uncommonly high occurrence of verbal repetition, evoke the value of hearing and speaking God’s word, the importance of repentance and obedience, and the duality of damnation and salvation.27 Whilst scholars have remarked on Vercelli X’s use of stylistics to highlight aspects of content, the tendency has been to celebrate the discursive rather than argumentative qualities of this homily, which I wish to redress.

two other manuscripts: Princeton University Library, W. H. Scheide Collection, The Blickling Homilies (s. x/xi) and Oxford, Bodleian Library, Junius 85 (s.ximed). For reproduction of these source texts, see Scragg 1992, 196–212. For further discussion of source material, see Zacher 2007, 54–55. The majority of this homily comprises free vernacular renderings of three Latin source texts: Paulinus of Aquileia, ‘Liber exhortationis ad Henricum comitem’, cap. 62 (Vercelli X, ll. 58–104); Pseudo-Augustine, ‘De remedia peccatorum’ (Vercelli X, ll. 125–202); and Isidore of Seville, ‘Synonyma’ II, 89–91 (Vercelli X, ll. 208–44). 26 See Lynn Louise Remly McCabe, ‘Ars Praedicandi’: Poetic Devices in the Prose Homily Vercelli X, in: Mid-Hudson Language Studies 1 (1978), 1–16; Wilcox 1997; Andy Orchard, Re-Reading ‘The Wanderer’: The Value of Cross-References, in: Thomas N. Hall/Thomas D. Hill/Charles D. Wright (eds.), Via Crucis: Essays on Early Medieval Sources and Ideas in Memory of J. E. Cross, Morgantown 2002, 15–19; Zacher 2007. 27 Szarmach 1978 and Zacher 2007.

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Quite a different story is told of Vercelli VII, which survives only in the Vercelli Book and is a reasonably faithful translation of a single Latin source text.28 Vercelli VII begins with a description of the holiness of learning and discipline, especially in how both help to prevent moral negligence and sin. The homily proceeds with examples of patriarchs from the Old Testament who merited righteousness by learning from their trials, before recalling various unrighteous figures and communities who earned destruction through forms of excess and indulgence. The homilist then employs a series of analogies to illuminate the threat to a person’s body and soul of physical, mental and spiritual softness: first, through the example of wealthy and lascivious women, then by the image of a wilting tree in a sheltered and wet environment, and further by contrasting a grim and white-washed house. Finally, the homilist warns at length against the dangers of gluttony and idleness, using the example of a dung heap and a cesspit of worms to embellish the theme. Throughout this final enjoinder, the homilist advocates the merits of work, endurance and especially of moderation in establishing a righteous lifestyle. Vercelli VII has been one of the least studied homilies of the Vercelli manuscript, and its seemingly digressive and tangential style has provoked diverse opinions but little consensus on the homilist’s moral argument. For example, studies of Vercelli VII have read it as: a sermon seeking “a balance between its examples of good and evil” with particular focus upon “lust, gluttony, and sloth, and the harm they do to both soul and body”;29 as “a general appeal to toil, harsh living and temperance”;30 and as emphasising “the significance of learning for the Christian self”.31 Several studies have also concentrated exclusively on the ethical dimensions of Vercelli VII’s instruction and read the homily as: an example of the promulgation in early medieval England of early anti-Semitic discourses, which associate Jews with gluttony, contagion, and disease;32 as a criticism of the behaviour and spirituality of women, which appears to be more misogynistic than its source;33 and as a proclaimed rejection of 28 The closest witness to this source text is: Mutianus Scholasticus’s Latin translation of John Chrysostom’s homily XXIX on the epistle to the Hebrews. All Old English quotations and line references from Vercelli VII are taken from Scragg 1992. See also Samantha Zacher, The Source of Vercelli VII: An Address to Women, in: Andy Orchard/Samantha Zacher (eds.), New Readings in the Vercelli Book, Toronto 2009b, 98–150; the Latin source text was discovered by Samantha Zacher and is reproduced as a parallel edition and translation, here 133–138. 29 Francis M. Clough, Introduction, in: The Vercelli Book Homilies: Translations from the Anglo-Saxon, ed. Lewis E. Nicholson, Lanham 1991, 1–15, here 5. 30 Scragg 1992, 133. 31 Clare A. Lees, Tradition and Belief: Religious Writing in Late Anglo-Saxon England, Minneapolis 1999, 144. 32 Andrew Scheil, The Footsteps of Israel: Understanding Jews in Anglo-Saxon England, Ann Arbor 2004, 241–243. 33 Zacher 2009b, 98–150.

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earthly wealth, avowing moderation through the story of Lazarus and the rich man.34 The relationship between literary style and moral argument in Vercelli VII has also not been the focus of any study so far. Vercelli VII and X have distinct textual histories and their style and argumentation have been appraised in strikingly different manners. From the offset, therefore, they are not obvious texts to compare from the collection. There are, however, pertinent overlaps in their thematic preoccupations and methods of composition, which have thus far gone unnoticed. In this paper, therefore, I concentrate on the Old English homilists’ descriptions and representations of learning in Vercelli VII and X. Both texts stand out on their own as accomplished works of pedagogy, in which literary style and methods of instruction unite to guide their listener towards a governing moral and to equip them to participate within its articulation of faith. This method of analysis and comparison proves productive in how it reveals each homily’s preoccupation with the morality of wealth and power. I will examine each homily in turn, starting with an analysis of Vercelli X before proceeding to Vercelli VII, and then conclude with a few summarising remarks concerning the representation and enactment of moral precepts in both homilies. Beginning with Vercelli X, in the homily’s first narrative episode the devil appeals for the souls of sinners who gave themselves over to immoderate living, and in the second, God condemns a wealthy man to death and destruction. In the following discussion, I consider the style and rhetorical techniques of the Devil’s speech before illustrating how the remainder of the sermon, comprising God’s address, builds the counterargument that will falsify both diabolical claim and strategy. Surrounding these two principal narrative episodes in Vercelli X are a series of preparatory motifs, and exegetical and exhortatory remarks, which enable the homilist to elucidate the present significance of these eschatological parables. I will show how the homilist does not use the fate of the rich man to condemn earthly wealth or power, but to convince powerful people of means that they are uniquely positioned to implement divine justice and fashion an earthly kingdom after God’s eternal one. The Devil composes a speech in which he presumes to define God’s governance before the throne of heaven and equates his own system of justice with that of God’s: […] he ðonne bealdlice cliopaþ to þam hean deman ond ðus cwið: ‘Dem, la dema, rihtne dom ond emne dom. Dem be ðam þe þine bebodu forhogodon, ond þine æ abræcon, ond symle hie besmiton mid synnum ond gebysmeredon […]. Dem, la dryhten, rihte domas, 34 Jane Roberts, A Context for Vercelli Homily VII, in: Stuart McWilliams (ed.), Saints and Scholars: New Perspectives on Anglo-Saxon Literature and Culture in Honour of Hugh Magennis, Cambridge 2012, 75–86.

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ond forlæt me mines rihtes wyrðe, þæs ðe ic me sylf begiten hæbbe. Þæt wæron mine þa ðe to þe noldon; min riht is þæt ic þa mid witum þreage þa þe þine hyrnesse forhogodon […]. Dem, la ealra gesceafta reccend ond scippend ond steorend, dem rihtne dom.’ (Vercelli X, ll. 66–69, 76–79, 92–93) “He then boldly calls out to the high Judge and says this: ‘Judge then, Lord, just judgement and fair judgement. Judge those who despised your commands, and broke your law, and afflicted and insulted them continually with sins […]. Judge, Lord, just judgements, and let me be worthy of my justice, which I have obtained as if they were mine: those who would not turn to you. My right is that I should afflict those who despised your teaching and punishments […]. Judge then, Ruler and Creator and Steersman of all things, judge just judgement.’”35

The Devil uses incremental repetition, through three occurrences of the phrase dem la (l. 67, 76, 92) and two further instances with only dem (l. 67, 92) to create a chorus of petitions for God’s judgement. He also uses several epithets for God, reccend (“Judge”, l. 92), scippend (“Ruler”, l. 92) and steorend (“Creator”, l. 92), which he equates with the character of God’s rule, that is his rihtne dom (“just judgement”, l. 93). To this evocation of God’s rulership, the Devil adds his own personal claims, which he singles out by the repeated use of first person; he twice demands mines rihtes (“my right”, l. 76) along with þæt wæron mine (“those who would be mine”, l. 77). The proximity of the Devil’s claim to his description of God’s rule effectively equates min riht (“my [the Devil’s] right”) with þine hyrnesse (“your [God’s] teaching”, l. 78). In a further series of claims, the Devil implies that he owns the souls on trial: Þonne hie gehyrdon þine bec rædan ond þin godspel secgan, ond hira lif rihtan ond him ecne weg cyðan, hy symle hiera earan dytton ond hit gehyran noldon […] ond ic hie mine leahtras lærde, ond hie me hyrdon georne […]. Ac, hwæt, woldon hie in minon hordcofan, ond þin cynerice eal forgeaton. Æt me hie leornodon scondword ond lease brægdas, ond þine soðfæstan lare hie forgeaton ond þinne dom ne gemundon; ac minre neaweste a wilnodon ond þine forhogodon. (Vercelli X, ll. 81–83, 87–91) “When they heard your book read out and your gospel spoken, and their life made right and the eternal way revealed, they always closed their ears and would not hear it […] And I taught them my sins, and they eagerly heard me […]. But, indeed, they wanted to be in the place of my treasure, and entirely forgot your kingdom. From me they learned abusive speech and false tricks, and they forgot your true teaching and did not recall your judgement; but they always desired my companionship and neglected yours.”

Three times the Devil accuses the souls of forgetting God’s teaching, as eal forgeaton (“all forgot”, l. 88), hie forgeaton (“they forgot”, l. 90), ne gemundon (“did not remember”, l. 90), and he describes their wilful negligence of good 35 All translations of Old English provided in this paper have been prepared by the author unless specified otherwise.

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counsel, in how hy symle hiera earan dytton and hit gehyran noldon (“they always closed their ears and would not hear it”, ll. 82–83) and forhogodon (“neglected”, l. 91) God’s companionship. They are at fault primarily because they listened to the Devil and refused to listen to God, as the Devil states repeatedly: hie gehyrdon þine bec rædan (“they heard your book read”, l. 81) and me hyrdon georne (“they heard me eagerly”, ll. 85–86). The emphasis placed on hearing effectively chimes with the lyricism of the Devil’s language, which he himself associates with music: Ac ðonne ic mine hearpan genam ond mine strengas styrian ongan, hie ðæt lustlice gehyrdon, ond fram þe cyrdon ond to me urnon (“But when I took up my harp and began to stir the strings, they heard that lustily, and turned from you and ran to me”, ll. 83–85). The Devil claims that sinners have been seduced by the sound and elegance of his call and spurred on to action by its melody. Appropriate to this musical analogy, the Devil employs aspects of sound-play within his speech. One particular case concerns the repetition of sound elements in the terms gehyrdon (“heard”, l. 84), cyrdon (“turned”, l. 85), hyrness (“obedience”, l. 78), and mishyrness (“disobedience”, l. 100). Through aural interplay, the Devil beckons the listener to enter into his melody, by equating what they hear and how they move in response with their rejection of God and with disobedience.36 Finally, the Devil turns his attention to how sinners have chosen to wear costly garments and to live immoderately. With a recourse to first person once again, the Devil claims that adorning oneself luxuriously is tantamount to wearing the Devil’s garb. He states that sinners scyrpton minum reafum, nals ðam gewædum þe ðu hie hete; hie wæron ungemetfæste eallum tidum (“dressed themselves in my clothes, not those clothes that you commanded of them; they were immoderate at all times”, ll. 79–80). Immoderate attire is furthermore associated with evil acts through the Devil’s use of paronomasia. The Devil puns on the word scyrpton, which means “adorned” in the quotation above, and “aroused” when he claims, ic hie to þeofðum tyhte ond to geflite scyrpte ond to inwitfullum geðancum (“I impelled them to thefts and aroused them to strife and to deceiving thoughts”, l. 86).37 According to the Devil, a person’s external attire and internal state are intimately connected, and immoderate clothing and living impel a person to evil. In summary, through a complex network of verbal echoes and wordplay, the Devil lays a surprisingly persuasive claim on the sinful souls at judgement day. The Devil positions himself as a mouthpiece of God’s rule, and at first glance it would seem that he has proved convincing, since the sinful souls are damned. However, the homilist’s repeated use of the word beald (“bold”) to describe the Devil’s speech suggests the audacity and mischief of devilish antics. Before the 36 Zacher 2007, 59–61. 37 Ibid., 60.

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Devil speaks, the homilist warns that he bealdlice cliopaþ to þam hean deman (“boldly called out to the high Judge”, l. 66), and following on from his speech, states again: Hwæt, we nu gehyrdon secgan, men ða leofestan, hu bealdlice spreceð þæt dioful to þam hælende, ond þa misdæda stæleð on þa gæstas (“Indeed, we have heard tell, dearest people, how boldly that Devil will speak to the Saviour and will lay charges of misdeeds on the souls”, ll. 101–102). The framing use of the term beadlice serves to undercut the Devil’s presumption, and challenges both preacher and listener alike not to endorse a diabolical understanding of God. In summary, the Devil’s speech reveals the dangers of the Devil’s definition of justice, and of a person’s neglect of learning and forgetfulness, as well as the temptation of costly garments and heightened rhetoric. As stated already, the challenge set forth by the homilist, through the Devil’s speech, is to unveil diabolical strategies, hear the truth amidst the lies, and recall divine instruction. It is to this endeavour that I now turn attention. Vercelli X’s opening gambit establishes the method and style of divine instruction: Her sagað on þyssum halegum bocum be ælmihtiges dryhtnes godspelle, þe he him sylfum þurh his ða halegan mihte geworhte mannum to bysene ond to lare. Ond he sylf gecwæð his halegan muðe: ‘þeah man anum men godspel secge, þonne bio ic þæronmiddan’. Ond þam bioð synna forgifene þe ðæt godspel segð ond gecwið, ond synna þam bioð forgifene þe hit for Godes naman lustlice gehyreð, ond þam bið wa æfre geworht þe secgan can ond nele, for ðam men sculon þurh ða godcundan lare becuman to life. (Vercelli X, ll. 1–9) “Here it says in this book about the almighty Lord’s gospel, which he himself through his holy power made as an example and lesson for humanity. And he himself said through his holy mouth: ‘Even if one man tells the gospel to one person, then I am in the midst of them.’ And the sins are forgiven the one who speaks and relates that gospel, and sins are forgiven the one who hears it eagerly for God’s name; and misery will always be the outcome for the one who can tell it and yet will not, because people will come to life through the divine instruction.”

The passage uses verbal echoes to emphasise the aural transmission of the gospel, as the homilist advises that the listener segð ond gecwið (“speaks and relates”, l. 5) and lustlice gehyreð (“eagerly hears”, l. 6) the words that come from Christ’s helegan muðe (“holy mouth”, l. 3). This emphasis on hearing and responding to the gospel message in the homily’s opening lines clearly contrasts with the Devil’s forthcoming description of the sinner who lustlice gehyrdon (“lustily heard”, l. 84) the Devil’s instruction and yet forsook God’s soðfæsten lare (“true instruction”, ll. 88–89), as already discussed. These verbal echoes between homiletic instruction and the Devil’s persuasion suggest a battle of wits between heavenly and hellish advocate, which plays out across the course of the homily and beckons the homily’s listener to remain alert to the difference between truth and deception.

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One of the most significant contrasts between the homilist’s and the Devil’s teaching is their differing accounts of God’s justice. Whilst the Devil equates divine justice with the damnation of souls, the homilist concentrates on God’s mercy by promising the listener that þam bioð synna forgifene (“sins are forgiven”, ll. 4–5), and again, synna þam bioð forgifene (“sins are forgiven”, ll. 5–6), and finally, men sculon þurh ða godcundan lare becuman to life (“people shall through divine instruction come to life”, ll. 7–8). Indeed, the concept of God’s mercy echoes throughout Vercelli X.38 In other words, the preacher directs the listener’s focus away from condemnation and speaks instead on the role of mercy in God’s justice and of love in His admonishment. This contrasting perspective on divine justice, as foregrounded in Vercelli X’s introduction and opening episode, provides a hermeneutic context intended to guide the listener through the remainder of the homiletic instruction, as I will go on to justify below. In the second extended narrative episode in Vercelli X, the homilist represents the method and meaning of divine justice through God’s castigation of a wealthy powerful man. God’s speech uses lists of rhetorical questions and conditional sub-clauses to restore a sense of reason and justice amidst the abuse of earthly privileges. The rhetorical questions are worth quoting at length: Þonne ðu, welega, hwi nod? Ðu mine bebodu healdan? (Vercelli X, l. 134) “Therefore, you, a prosperous man, why didn’t you obey my command?” Ac se min þearfa aswæmde æt þinre handa. Hwi noldest þu geþencan hwa hit þe sealde? (l. 133) “For this is my beggar who pined away at your hand. Why didn’t you consider what you might give him?” For hwan noldest geþencean þæt ic wille forgildan æghwylce gode dæde þe for minon naman man gedeð? (ll. 145–146) “Why did you not consider that I would reward each good deed that is done in my name?” Þonne ðu, man, to hwan eart ðu me swa unþancul minra goda and minra gifa? (ll. 149– 150) “Then you, man, why are you so ungrateful to me for my benefits and my gifts?” For hwan noldest ðu hit geþencan, gif ðu him mildheortnesse an gecyðdest, þonne ne sceoldest ðu ðæs naht forliosan ðæs ðu him dydest, ne me mid þære sylene abelgan mines agenes? (ll. 157–160) “Why do you not consider, if you showed them some mercy, then you would not lose any of that which you gave to them, nor would you anger me with the gift of my property?”

38 See for example Vercelli X, ll. 28–35.

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To hwan feddest ðu þe ænne of ðam þe ic inc bæm gesceop, to welan and to feorhnere? (ll. 160–162) “Why did you feed yourself alone from that which I created for the prosperity and comfort of both of you?” To hwan heold ðu hit þe sylfum and þinum bearnum, þæt meahte manegum mannum genihtsumian? (ll. 162–163) “Why did you retain for yourself and your children that which might be plentiful for many men?” Wenst ðu ðæt hit þin sie þæt sio eorðe forðbringeð, hio þe groweð ond bloweð ond onlifan bringeð? (ll. 164–166) “Do you think that what the earth brings forth is yours, and it grows and flowers and brings food for you?”

God indicates both sin and remedy here. The rich man has neglected his responsibility to geþencan (“think”, ll. 133, 157), geþencean (“consider”, l. 145), or wenan (“ponder”, l. 164) God’s will. In this way, the Devil successfully lured him away from God by convincing him to forget God’s teachings. This man serves as a warning that disobedience is manifest in a person’s miserliness, neglect, ingratitude, lack of mercy and selfishness. God argues that the system this influential person instituted is fallible because it lacks feorhnere (“comfort”, l. 162), mildheortnesse (“mercy”, l. 158) and welan (“prosperity”, l. 161) for all. In other words, this system is devoid of the characteristics of God’s governance. God’s questions to the rich man are followed immediately by a series of conditions, which further reveal the mechanisms of God’s justice: Gif ðu wene þæt hit þin bocland sie ond on agene æht geseald, hit þonne wæron mine wæter þa ðe on heofonum wæron, þanon ic mine gife dæle eorðwærum. (Vercelli X, ll. 170–172) “If you think that hereditary land might be yours, and given into your own possession, then it was my waters that were in the heavens from where I gave my gift to the inhabitants of earth.” Gif ðu mihta hæbbe, dæl regnas ofer þine eorðan. (ll. 172–173) “If you have the power, dispense rain over the earth.” Gif ðu strang sy, syle wæstm þinre eorðan. (l. 173) “If you are that strong, obtain produce from your earth.” Gif ðu mæge, wuna butan me. (l. 177) “If you can, live without me.”

God’s questions and conditions render the rich man mute and in both, God uses second person pronouns to undergird the rich man’s belief in his own miht (“power”, l. 172) and strang (“strength”, l. 173). He refers to þe ænne (“you alone”, l. 160), þe sylfum and þinum bearnum (“yourself and your children”,

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l. 162), þinre eorðan (“your earth”, l. 173), þin bocland (“your hereditary land”, l. 170), and states with irony, þin sie þæt sio eorðe forðbringeð (“yours is what the earth brings forth”, l. 165). The rich man’s false assumptions and sense of entitlement mirror the Devil’s own claims, which were also represented through the use of personal pronouns, this time by the Devil’s repetitive use of first person genitive, as quoted above. God’s challenge to the rich man undermines his assumptions by stating eight times in counter-point what belongs to God alone; God refers to mine wæter (“my water”, l. 171), mine gife (“my gift”, l. 171), mine bebodu (“my command”, l. 134), min þearfa (“my beggar”, l.133), minon naman (“my name”, l.146), minra goda (“my goods”, l.150), mines agenes (“my property”, l.160) and again minra gifa (“my gift”, l.150). God is the only one in Vercelli X who can wield the possessive pronoun with real power or lasting truth, and all other claims, made by either sinner or Devil, are falsified by God’s spoken word. The principle of God’s ownership and justice exposes the emptiness of human reason, as God’s two culminating questions to the rich man show: Hwæt, wendest ðu, wlanca, gif ðu me sealde þines awiht þæt þe þonne wære þin woruldgestreon a gelytlod? […] Þu, welega, to hwan getruwedest ðu in þine wlenceo ond in þine oferflownessa þinra goda, ond na on me þe hit þe eal forgeaf þæt ðu on wære? (Vercelli X, ll. 182–184, 187–189) “Indeed, did you think, proud man, if you gave me anything of yours that you would always be decreasing your transitory riches? […] You, rich man, why did you trust in your pride and in the abundance of your riches, and not in me, who gave you everything that was in you?”

God’s questions undermine the rich man’s logic since God provides for all his needs. God’s questions effectively highlight paradoxes in the rich man’s reasoning: how can one make a gift of personal possessions when God owns everything anyway? What can it mean to either decrease or increase wealth or possession when both wealth and possession are inevitably and ultimately worth nothing? Can a gift say more about the value of the receiver and less about the character of the giver? The type of reason employed by a rich man to accrue and retain wealth and power therefore departs from godcundan lare (“divine instruction”, l. 9). God’s questions and conditions reveal that a major problem lies in how the rich man has mismanaged his property by privileging his own bearn (“children”, l. 162) and bocland (“inherited land”, l. 170). In contrast, the homilist explains that once one believes in Christ, that person is no longer one of God’s steopcild (“stepchildren”, l. 35) who has been bewerede þæs hiofoncundan rices (“deprived of the kingdom of heaven”, ll. 35–36), but rather one of Godes dyrlingas in hiofenum (“God’s darlings in heaven”, l. 119) who is able to call God Fæder (“Father”, l. 264). In other words, divine reason restores all people to God’s family

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and kingdom and endures more justly in the face of social systems of inheritance that seem to predominate amongst and privilege the elite. In order to choose the heavenly over the earthly way, a person must remember a series of core moral precepts concerning the management of property, which the homilist highlights through the recurrent use of the verb gemynian (“remember”): We wæron oft gemyndgode to ures dryhtnes gehyrsumnesse, þæt we scoldon his willan wyrcan ond his bebodu healdan, ond rummode bion rihtra gestreona ond þearfendum arfulle, ond wydewena helpend ond steopcilda frefrend, ond earmra retend ond wependra frefrend. (Vercelli X, ll. 114–118) “We are often reminded about obedience to our Lord, that we should perform his will and hold his command, and be generous with proper possessions and merciful to the needy, and the helper of widows and comforter of orphans, and comforter of the poor and consoler of those who weep.” Ac hyne se hælend eft þara leana myndgode ða he cwæð: ‘Ne gemundest ðu na Salomones cwide þe he cwæð: Do ælmyssan under þæs þearfan sceat se cliopað to me ond ic hine symle gehyre ond mine miltse ofer þone sende?’ (ll. 126–129) “But afterward reminded him again of the reward when he said: Do you not remember Solomon’s saying when he said: ‘Put alms under the cloak of the beggar who calls to me and I will always hear him and send my mercy over him’?” Ne gemundest no hwæt se witega cwæð: ‘Se ðe his andwlitan fram þam þearfan awendeð þonne he hluddost cliopað, dryhten hyne gehyreð þonne se man nele þone oðerne gehyran.’ (ll. 138–140) “Did you not remember what the prophet said: ‘He who turns his face from the needy when he calls out loudest, when that other man will not heed him, the Lord will hear him then.’” Hwæt, we nu magon þysan ongitan ond oncnawan þæt se ælmihtiga God nele þæt his gifena man þanc nyte. Ne ðurfon we þæs wenan þæt he us nelle þara leana gemanigan þe he us her on eorðan to gode forgifeð. (ll. 200–203) “Indeed, by this, we may not understand and perceive that the almighty God does not want man to be unaware of his gifts. Nor need we think that he will not remind us of the rewards that he has given us here on earth as a benefit.”

Each of these reminders highlight the necessary remedial acts of a rich man, concerning the proper use of wealth and positions of power. They explain that a rich person must be rummod (“generous”, l. 116) and arful (“merciful”, l. 116) and must engage regularly in ælmyssan (“almsgiving”, l. 128), which denotes the ecclesiastical practice of collecting payments for the benefit of the wydewe (“widow”, l. 117), steopcild (“orphan”, l. 117) and earm (“poor”, l. 117). By reminding the listener repeatedly of these moral precepts, the homilist has successfully counteracted two of the Devil’s claims. The first, that the listener has forgotten God’s word and neglected learning, which cannot be true so long as the

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listener heeds the homilist’s reminders. The second, that luxurious clothing and the excess of earthly comfort are by their very nature the property and artifice of the Devil, and always instigate sin. Wealth in Vercelli X is not so straightforwardly depicted as an inherent evil, although the transience of earthly wealth and power is made manifestly clear at various points in the homily.39 Instead, a rich person’s wealth and privileges are to be understood first and foremost as a temporal gif (“gift”) from God on earth, and it is more precisely how the rich man chooses to understand and use such a gift that matters in the divine system of justice. In summary, the homilist re-interprets wealth as a blessing from God, which effectively strips the Devil of his clothing and the veil of his deception. Meanwhile, powerful people of means become a key component in the spiritual fight between good and evil and are depicted as instrumental in God’s plan to fashion earthly kingdoms after His own eternal one. In doing so, He will him þas cynerico on his anes æht ealle geagnian (“claim these kingdoms for his ownership alone”, l. 14). The themes of negligence of learning and the excesses of earthly luxuries rematerialise in Vercelli VII, although the literary styles employed to render both theme and moral instruction differ from Vercelli X. Vercelli VII advocates the benefits of hard work and discipline for the body and soul, as well as the dangers, conversely, of extravagant behaviour and illicit desire. The homilist instructs a person to listen, recall, think on and reflect back their understanding of the dangers of excessive desires by practising moderation in language and behaviour. This moral instruction communicates, as I argue, the homilist’s moral perspective on wealth. According to Vercelli VII, wealth, though often associated with excessive and corrosive desire, might also prove instrumental in the spiritual advancement of an individual and society more generally. Vercelli VII enumerates upon examples of unrighteous individuals in history who exemplify both negligence and excess: Gemunað eac þa ðe eall hira lif on þisse worulde on olehtungum lifedon. Geþenceað þonne Ladzarus ond þone welegan þe her dæghwamlice symlede ond is ðær nu singallice cwelmed. ond gemunað Iudeas þe hira life all hyra wambe to forlore forgeafon. Be ðam wæs cweden þæt hyra wamb wære hyra god. Geþenceað eac þara þe in Sodome for hira unalyfedum gewilnungum forwurdon, ond þara þe on Noes dagum wæron. Witodlice be ðam þe ðam yðan life lyfedon on Sodome hit wæs gecweden ðætte on hlafes fylnesse flowen. Þonne sio fylnes ðæs hlafes unriht wyrceð, hwæt is to cweðanne be ðam mænigfealdum smeamettum? Gemunað eac hu þa forwurdon þe mid wodheortnesse willan to wæpnedmannum hæmed sohton, ond eallra Babilone ond Egypta cyninga ealle hie swiðe ungesæliglice hira lif geendedon ond nu syndon on ecum witum. (Vercelli VII, ll. 34–49)

39 See Vercelli X, ll. 200–245. See Szarmach 1978, 246; and Zacher 2007, 74–75.

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“Remember also those who all their lives lived in this world in delights. Consider Lazarus and the wealthy man who here feasted daily and who is there now continuously afflicted. And remember the Jews who all their lives gave their bellies to destruction. About them it was said that their belly was their God. Think also of those who in Sodom on account of their unlawful desires perished, and of those who were in the days of Noah. Certainly about those who lived the easy life in Sodom it was said that they flowed away in the surfeit of bread. When the surfeit of bread causes evil, what is to be said about those manifold delicacies? Remember how Esau spent his days in persecution, and how those ones, who before in that time were the sons of God, were captivated through the viewing of beautiful women, and fell into Hell? Remember also how they perished, who with frenzied desires, sought sex with men, and all of Babylon, and all the kings of Egypt who very unhappily ended their lives and now are in eternal punishments.”

The focus in this passage is on olehtung (“delight”, l. 35), unalyfed gewilnung (“unlawful desires”, l. 39) and mænigfeald smeamett (“manifold delicacy”, l. 43). Various forms of excess exemplify these evils, mainly: wealth, manifest in the story of Lazarus and the rich man; gluttony, manifest in the Jews; and sexual immorality, manifest through viewing beautiful women and homosexual acts. However, the homilist creates associative pairs within this passage that link all forms of excess directly with destruction. Hence, those who dæghwamlice symlede (“feasted daily”, l. 35), lived on hlafes fylnesse flowen (“in the surfeit of bread flowed away”, l. 41) and acted with wodheortnesse willan (“frenzied desires”, l. 46), are all ultimately led to forlore (“to destruction”, l. 37), and to forwyrde (“to perdition”, l. 34), and will remain in ecum witum (“eternal punishment”, l. 49). The unlimited and fluid nature of sin, which is also described as liðnes (“softness”, ll. 74, 82) and hnesc (“soft”, l. 51, 54, 59) in the homily, becomes visually grotesque in an analogy about a dung heap: Þonne ne don we swa, ac hlysten we þæs apostoles lare, Paulus; he cwæð: ‘Ne do ge þæs flæsces giman on his willan.’ Wyrse is þæt mon ðæs ofer riht bruce þonne hine mon on feltungrepe wiorpe on þære grepe he wiorðeð to meoxe. Butan tweon, þæs lichoman sceaða on þære wambe he wiorðeð to þam ilcan, ond eac ðam lichoman to mettrymnesse. Eal þæt man ofer riht þygeð mid unyðnesse, hit him mon sceal framadon. Ac þysses nu feawa gymaþ. Forneah ealra manna mod sint on oferflowende willan onwended. (Vercelli VII, ll. 86–93) “But let us listen to the apostle’s teaching, Paul; he said: ‘Neither do you take care of the flesh in its desires.’ It is worse that one enjoys this over what is right, than one throws himself into a privy dunghill. In the dung heap he turns to dung. Without doubt, this body’s enemies, in their stomachs, will turn into the same, and then also that body to weakness. Everything that is taken over what is right – without ease – must be put away from the body. But few now think about this. The minds of nearly all people are turned towards overflowing desire.”

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The homilist creates a sense of excess in this passage through the use of tautology and repetition in terms such as feltungrip (“dung heap” or “privy”, l. 87), grepe (“dung”, l. 89) and meox (“dung”, l. 89). The destructive effects of sin are further revealed in the convolution of terms, which render it almost impossible to visualise the form of the person amidst the mess of dung. A person’s lichoman (“body”, l. 91, 91), wambe (“stomach”, l. 90), and mod (“mind”, l. 93) become indistinguishable from the meox that engulfs them. Incremental repetition of the term ofer- (“over”) recurs throughout Vercelli VII, as if the very concept of excess were permeating every aspect of the homily. I have quoted these examples exhaustively to give an impression of their abundance in the homily: þonne þa oferfylle hyra gemyd forleosað (Vercelli VII, ll. 85–86) “then that gluttony destroys their minds” Wyrse is þæt mon ðæs ofer riht bruce þonne hine mon on feltungrepe wiorpe (ll. 88–89) “It is worse that one enjoys it over what is right than that he throws it into a dung heap” Eal þæt man ofer riht þygeð mid unyðnesse, hit him mon sceal framadon (ll. 91–92) “Everything that man receives over what is right – without ease – must be thrown away” Forneah ealra manna mod sint on oferflowende willan onwended (ll. 92–93) “For nearly all men’s minds are turned to overflowing desire” Fedað iowre lichoman on riht ond forlætað þa oferfylle (ll. 94–95) “Feed your body in moderation and depart from gluttony” Of ðære oferfylle cumaþ manige mettrymnessa (ll. 98–99) “From that gluttony comes many weaknesses” Nis sio oferfyll þon betere þe se hunger (l. 99) “Gluttony is not better than hunger” We flioð þone hunger ond lufiað þæt no betere nis, ða oferfylle (l. 100) “We flee hunger and love that which is no better than gluttony” Sio oferfyll þone lichoman untrumnessa fylleð (l. 102) “Gluttony fills the body with weakness” Witodlice ne mæg sio oferfyl nænigþinga to þære sawle þwerian (l. 106) “Certainly, gluttony cannot serve the soul in any way” Ac of þære oferfylle cumað þa unrihtan lustas (l. 111) “But from gluttony come those illicit desires” For þan ic lære þæt we urne lichoman mid oferfylle (l. 114) “Therefore I teach that we not harm our bodies with gluttony”

The homilist uses verbal echoes to draw effortless comparisons between descriptions of lifestyle and the concept of moral decline. Many of these verbal

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iterations are enabled because the term oferfyl (“gluttony”) contains the component ofer-, which the homilist plays on to provide evidence that gluttony is a manifestation of excessive desire. Within Vercelli VII, therefore, there is an equal consideration of spiritual and mental consequences of sin as well as the physical actions and corporeal forms that shape and embody this sin. Positioned within a homily that espouses the dangers of extravagant behaviour and illicit desire is a question and description of womankind. In Vercelli VII, womankind perfectly illustrates those dangers mentioned, since she is sickly in her corporeal nature and evidently inclined towards the excesses of luxury and laziness in her chosen lifestyle: For hwon wene ge þæt wif swa sioce syn of hyra gecynde? Ac hit is swa: of hira liðan life hie bioð swa tyddre, for þan þe hie symle inne bioð ond noht hefies ne wyrceaþ ond hie oft baðiað ond mid wyrtgemangum smyriað ond symle on hnescum beddum hy restað. (Vercelli VII, ll. 56–59) “Why do you suppose that women are by their nature so sick? But it is thus: from their soft lives they are so frail. Because they are always inside, and they do not perform heavy work, and they bathe frequently, and smear themselves with unguents, and they always lie on soft beds.”

Women are criticised for being lazy, shunning hard work and discipline, and preoccupying themselves with physical pampering. The homilist uses a rhetorical question to highlight this example and cause the listener to pause and consider the implication of such behaviour upon body, mind and soul. Although the homilist uses the example of female nature and quintessentially feminine acts to represent the dangers of excess, two points stand out as more significant than the metaphor of gender in the context of this homily. The first is that the example of womankind is thoroughly integrated within the moral examples set forth in Vercelli VII, and therefore, whilst their sexual liability may issue a different type of warning to men as to women, the principle of embodied sin and destruction through negligence is general. For example, women’s proclivity to mid wyrtgemangum smyriað ond symle on hnescum beddum hy restað (“smear themselves with perfumes and recline on soft beds”, l. 59) suggests lascivious behaviour, which threatens the moral integrity of men in the homily, since men in Vercelli VII are peculiarly susceptible to sexual temptation. The homilist recalls, for instance, how Godes bearn wæron þurh ænlicra wifa sceawunga to fyrenlustum gehæfte on helle gehruron (“God’s sons were inflamed to fiery lust through beautiful women and fell into hell”, ll. 44–45), and how Abraham his wifes reaflac ðolode, ond he hire bereafod wæs (“suffered the snatching away of his wife, and was bereaved of her”, ll. 15–16),40 which probably 40 Zacher 2009b, 106.

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alludes to the scriptural account of Gen. 12: 10–20 in which Abraham deceives Pharaoh into believing Sarah is his sister rather than his wife since he fears Pharaoh will be compelled to kill him on account of Sarah’s beauty. However, the vice of womankind is also the vice of mankind in Vercelli VII, as stressed through the thematic and verbal resonances within the homily. Women in Vercelli VII are, for example, marked by a tendency to succumb to illicit desire, which renders them similar to the example of gluttons (ll. 94–98), sodomites (l. 41, ll. 46–49) and Jews (l. 37) offered above, since they also place carnal pleasures over and above godes lufan (“love of God”, l. 3). The homilist of Vercelli VII adds a note about the applicability of the teaching to men and women alike by explicitly reminding those listening that ne sprece ic þas word to eow werum anum ac to wifum (“I do not speak these words to you men only, but also to women”, l. 72). The second significant point that I wish to draw attention to is the wealth of the women in question. These women are self-evidently in a position to choose the most sumptuous luxuries, including leisure and reclining, frequent bathing and expensive perfumes. What is more, their lifestyle, bodies and example are rendered visible not only in the words of the homilist but in the society to which they belong, since the homilist implies their example is both recognisable and threatening to those listening. If we assume that social position proves as strong a conditioning agent of metaphor as gender does in Vercelli VII, then this enables us to see the comparison the homilist draws between women of means and men of means in the homily. Wif are now associated with the welega (“wealthy man”) mentioned in Vercelli VII (deriving from Luk. 16: 19–31) who also misused his wealth and position of power by neglecting the poor man Lazarus and therefore his attendant social responsibilities. The associations drawn between wealth, a degree of political or social influence, moral instruction and gender in Vercelli VII affect our conception of the homilist’s moral perspective as well as the type of listener and moral duty constructed through this homily, which is a subject I will return to at the conclusion of this section. Vercelli VII’s moral instruction is constructed in contrast to the description and representation of excess and destruction in the homily. Previously, I have shown how Vercelli VII’s rhetorically heightened descriptive passages, extended figurative conceits and verbal echoes can give the impression that the excesses of sin are all pervasive and almost overwhelming. However, the homilist’s use of rhetorical excess is intended only to compound the sense of associative dangers of excess, an effect which is then skilfully counteracted by certain stabilising rhetorical structures in Vercelli VII. The homilist uses clear imperatives, repeated exhortations to listen and learn, and sequences of contrasting pairs to restore a sense of rhetorical balance and restraint to the homily, and to advocate moderation as the means of attaining righteousness.

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Vercelli VII opens with a description of the holiness of learning, especially in how it rescues a person from negligence and misdirected desires: Butan tweon, lar is haligdomes dæl, ond ealles swiðost gif hio hyre gymeleste framadrifeð ond ælce gitsunge afyrreð ond þyssa woruldlicra þinga lufan gewanige ond þæt mod to Godes lufan gehwyrfeð, ond gedet þæt hit ealle ða lustfulnesse þysses andweardan lifes onscunað. (Vercelli VII, ll. 1–4) “Without a doubt, teaching is a portion of holiness, and even more so if it drives away negligence, and removes each type of avarice, and diminishes the love of things of this world, and turns the mind to the love of God, and makes it so that it shuns all the desire of this present life.”

According to Vercelli VII, learning is intentionally disciplinary because it moves the person away from worldly desire and towards the love of God. Further reminders of the importance of learning echo across the homily, as can be seen when the homilist repeatedly exhorts the listener to gemunan (“remember”) and geþencan (“consider”) the list of unrighteous figures quoted above. In fact, Vercelli VII exhorts the listener to geþencan (“consider”, ll. 14, 22, 35, 38) four times, þencan (“think”, l. 64) once, gemunan (“remember”, ll. 17, 19, 34, 37, 43, 46) six times, gehyran (“listen”, l. 51) once and gehlysten (“obey”, l. 86) once. These exhortations recur as if to recall the listener’s attention to the development of spiritual meditation. In other words, through careful thought, reflection and recollection, the listener might successfully navigate the chaos of sin and excess, so that the mind might be restored to a holy and definite state. The homilist counteracts the excesses of sin further by stating the moral of the homily in clear declarative statements: For ðan ic lære þæt we flion þa liðnesse ond flion [þa olehtunge] þysse worulde, ac hie synt swiðe swete. (Vercelli VII, ll. 82–83) “Therefore I teach that we should flee those softnesses, and flee those indulgences of this world, though they are sweet.” Ne lære ic þæt men hy hungre acwellan, ac ðæt hy swa mycles brucen swa him ægðer ge to hæl;e ge to foster helpan mæge. (ll. 104–105) “I do not teach that men torture themselves with hunger, but rather that they enjoy as much as may help them both for health and for sustenance.” For þan ic lære þæt we urne lichoman mid oferfylle ne gewemmen, ac mid gemetegunge gefrætewigen. (ll. 114–115) “Therefore I teach that we not harm our bodies with gluttony, but that we adorn it with moderation.”

The three declaratives – ic lære, ne lære, ic lære – highlight the self-conscious concern with teaching in Vercelli VII. They also point towards the homilist’s primary goal: to teach gemetegung (“moderation”, l. 115) by warding off the temptation of either excessive indulgence or its twin counterpart of excessive

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self-denial. In this way, gemet- (“measure”) stands in opposition to ofer- in Vercelli VII, and the verbal echoes and exhortatory signposts are means of achieving this sense of calculated instruction. Another means by which measure is achieved in the homily is through the sequence of contrasting pairs. Against the examples of unrighteousness mentioned, for instance, the homilist lists all righteous patriarchs from the Old Testament whom the listener must recall and emulate. These include Abraham, who often aræfnode (“suffered”, l. 16), Isaac, who ræfnode (“suffered”, l. 18) and encountered geswinc (“trials”, l. 19), Iacobes, who endured through mænigfealdan geswinc (“manifold trials”, l. 19) and Joseph, Moses, Joshua, David, Eliam and Samuel, all of whom wæron þurh geswinc gebyrhte (“were renowned through trials”, l. 24). The concepts of trial and suffering can only be comprehended as a counterweight to the destruction suffered by unrighteous individuals when they are perceived as an instrument of enlightenment. As the homilist states early on, witodlice ealle Cristes þa gecorenan þurh geswinc ond þurh lare hie wurdon geweorðode (“certainly all the chosen of Christ became honoured through trial and through teaching”, l. 6). The contrast between righteous and unrighteous figures in scriptural history is one of many binaries that impress upon the listener the incontrovertible distinction between good and evil in the world. The homilist addresses lif (“life”, l. 32) and forwyrd (“destruction”, l. 34), the unfæstræd (“inconstant”, l. 55) and fæstræd (“constant”, l. 55), weorc (“work”, l. 65) and idelness (“idleness”, l. 25), lichoman (“body”, l. 69) and sawl (“soul”, l. 71). In Vercelli VII contrasting pairs also express moderation and advocate the middle ground. The homilist warns, for instance, that nis sio oferfyll þon betere þe se hunger. We flioð þone hunger ond lufiað þæt no betere nis, ða oferfylle (“gluttony is not better than hunger. We flee hunger, and love that which is no better, gluttony”, ll. 99–100). Both excessive hunger and gluttony threaten a person’s physical and spiritual health, and for this reason moderation leads to righteousness. The homilist also redirects the listener’s attention away from the polarities of gender and seeks a verbal compromise between men and women by encouraging the listener to reconsider sexual ranking in terms of spiritual ranking. The homilist states: Þenc eac be ðam wifum þe cyrliscu wiorc ond hefegu on symbel wyrceaþ. Þonne cnawest ðu þæt hie bioð halran ond cafran þonne þa weras þe on idelnesse lifiað (“Think also about the women who always perform churlish and heavy work. Then you may know that they are healthier and stronger than those men who live in idleness”, ll. 64–66). In this example, spiritual hierarchies surpass gender hierarchies, but the sexual ranking is traditional nonetheless: the example of righteous men comes before the example set by righteous women. Furthermore, when men remain idle they become like the women criticised above in the homily, who are sick because they noht hefies ne wyrceaþ (“do not do any

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strenuous work”, l. 58). Likewise, women, though naturally inferior to men, might through hard work and discipline transcend the infirmity and weakness of their natures and become superior to men who prove themselves morally and physically lax. According to this portrait of men and women, righteousness as a goal is achieved within a competitive arena between the sexes. However, in as much as sin is embodied through repeated acts of negligence, so too is righteousness embodied through habits of hard work, a point which reorganises gender hierarchies and positions women (in potential) between the extreme depravity of female weakness and the extreme righteousness of patristic male figures from scriptural history. It is here, on the subject of women’s hard work and potential for righteousness, that I wish to return to the question of wealth, social standing and gender, mentioned above. Following the description of wealthy women in general, the homilist addresses a question directly to one woman, who may (it is assumed) be listening to the homily. The homilist asks: Eawla, wif, to hwan wenest ðu þines lichoman hæle geican mid smyringe ond oftþweale ond oðrum liðnessum? (“Alas, woman, why did you expect to increase the health of your body with the smearing of unguents and frequent bathing and other softnesses?”, ll. 72–74). Alongside the extended list of righteous patriarchs referenced in Vercelli VII, this direct address to a woman stands out as singular and corrective. Previously, the homilist had addressed a general audience or readership in second-person plural, ge (“you all”, l. 25). Here, however, the question asked of a woman implies the importance and urgency of this woman’s betterment since, as the homilist has already explained, her errors pertaining to the misuse of her resources and neglect of her social responsibility threaten to expose the weakness of women and the vulnerabilities of men as well. Given this, the significance of wealth and political influence stand out, once again, as of paramount importance, even over and above the issue of gender. This woman’s persistent misapplication of her wealth, her body and her visibility within society imply her misunderstanding of the essential relationship between righteous living and a righteous body, and between acts of moderation, including generosity towards the poor, and the spiritual health of a community. The homilist impresses upon this woman her potential for spiritual elevation and perhaps also a stronger position of power and influence than some men within society, if she would direct her time, resources and influence more carefully and under proper moral guidance. Vercelli VII’s castigation of a woman, when situated within the moral rhetoric of the homily, communicates a very specific perspective on wealth and morality. Vercelli VII upholds the ability of both the wealthy wif (“woman”, l. 72) and weleg (“rich man”, l. 36) to redirect their earthly resources in a mode and measure that is beneficial to themselves and their community, and might truly express Godes lufan (“love of God”, l. 3).

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To conclude, the Old English homilists of Vercelli VII and X each imitate part of the homily’s moral instruction through their use of language and style. This literary device serves to highlight the principle or theme that is of greatest significance for the implied listener and in need of immediate enactment. However, the homily does not simply endorse specific principles or morals through a persuasive and elegant employment of language. Rather, the homily’s use of literary style as an integral aspect of the homily’s rhetorical framework means that the homily becomes the first iteration of the moral precept. Hence, it enacts a specific moral and engages the listener in that enactment. In Vercelli X and VII, the concept of moderation, justice and generosity with material possessions stand paramount in its moral instruction. These concepts also become an ethics of language for each homilist. Hence, the homilist forewarns against the dangers of squandering either wealth or words and of neglecting the needs of others. In the homilists’ viewpoints, words and wealth must edify and must not fall idle or inspire excessive desire or enjoyment beyond what might be helpful to others. Language in Vercelli X and VII therefore mobilises a mind-set that is moderate, reasonable and generous, by which earthly position and possessions might be well-managed. According to Vercelli X and VII, rich men and women disrupt the enactment of justice and righteousness in early medieval society. Nevertheless, their wealth and social standing render them uniquely positioned to affect the greatest reform in themselves and the communities around them, especially in how they manage their material possessions. It is therefore possible that the Vercelli homilies appeal to the interests of elite men and women in early medieval society who were able to afford the greatest luxuries, had jurisdictional responsibilities, possessed property that they might bequeath, and who were inclined to bend an ear to the promise of spiritual rewards. In summary, Vercelli VII and X prove to be accomplished works of literature and instruction in how they demonstrate their power to manage both words and wealth in early medieval England.

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Emily A. Winkler

King Alfred and the Danish Wars in Anglo-Norman Histories

Abstract This paper asks how and why Anglo-Norman writers in England (c. 1120–1150) narrated the Danish wars of the late ninth century and King Alfred’s role as a military general. It examines their accounts of defensive maneuvers in which Alfred was engaged against the Danes, both before and during his reign, in particular the key points at which these chroniclers deviated visibly from their sources. Several of these literary changes have been seen as points of clarification or as embellishments, but they actually effect material changes in historical perspective. Unlike later encomiasts of Alfred, these chroniclers wrote about Alfred’s experiences of warfare without drawing significantly on hindsight or evaluating his actions in light of their ultimate outcomes. Instead, they elaborated on moments of disorder and crisis. By amending the narrator’s temporal location in the narrative, and choosing a vantage point closer to the events and people they described, they sought to adopt the participants’ lack of foreknowledge of the future. Anglo-Norman historians portrayed disorder during the Danish wars less as a step towards greatness or as a conquest of circumstance, and more as something suffered by many, often in a deeply unsatisfactory way. Not authors of a ‘great man’ history, they highlighted the critical contributions of Alfred’s allies, as well as Alfred’s mistakes, uncertainties and challenges as a ruler. Their narratives illuminate ways in which these chroniclers sought to realize the experience of disorder by mirroring it in narrative form.

“Disorder”, wrote Robert H. Hodgkin of early medieval society, “was normal”. This pithy sentence in his two-volume ‘A History of the Anglo-Saxons’ sought to establish a context for evaluating the quality of a particular moment of chaos: the disorder caused in Anglo-Saxon lands by Danish invasions, before and during the reign of King Alfred of Wessex (r. 871–899). What set these invasions apart from mainstream disorder was their chronic and demoralizing nature for the Anglo-Saxon kingdoms. Nevertheless, he argued, the king’s legislation, with its bent towards responding to disaster, is bound to imply unconvincing and unrealistic “pictures of disorder”. Ultimately, he concluded that it is important not

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to overstate the sense of anarchy during Alfred’s period of rule, for his government functioned throughout, despite many a setback.1 It is well established that King Alfred was a brilliant strategist and educated ruler, and that even if many factors were involved in defeating the chaos of those years, Alfred’s leadership was a major reason why Anglo-Saxon culture and kingdoms survived in the long term. Yet in England in the first part of the twelfth century, several Anglo-Norman historians of the Anglo-Saxon past dwelt on and developed this very picture of disorder in the Danish wars – to a greater degree than the sources contemporary to these events – even as they (however unknowingly) laid the groundwork for Alfred’s reputation for greatness. In his masterwork of Anglo-Saxon history, Hodgkin attempted to view the late ninth-century Danish wars in a larger context of disorder by comparing normal and abnormal disorder in society. His remarks still raise interesting questions, not only about how we as historians should view this era (the extent of its disasters is still debated), but also about how we ought to read the medieval narratives of this disorder. What makes a narrative of disorder exaggerated? Even if we can put it in context relative to a general experience of disorder, to what extent would this be meaningful for the personal experience of disorder – that is, for the leaders and fighters embroiled in a particular chaos? This paper asks how and why Anglo-Norman writers in England (circa 1120– 1150) narrated the Danish wars and Alfred’s role as a military general – the role for which he received fewer accolades than for his contributions to administration and learning. It examines their accounts of defensive maneuvers in which Alfred was engaged against the Danes, both before and during his reign, in particular the key points at which these chroniclers deviate visibly from their sources. Several of these literary changes have hitherto been seen as points of clarification or as embellishments, but they actually effect material changes in historical perspective. What is interesting is that these chroniclers wrote about Alfred’s experiences of warfare with an intriguing lack of hindsight, concentrating on the moments of disorder and crisis, rather than writing monumental eulogies, sketching a portrait of a ruler, or writing a retrospective on Alfred, as later writers have done. Essentially, they amended the narrator’s temporal location in the narrative, choosing a vantage point closer to the events and people they describe, in attempting to share the participants’ lack of foreknowledge of the future. Unlike encomiasts, who go into the past with ultimate greatness already in mind, they preferred to tell Alfred’s story without evaluating his early actions in light of their ultimate outcomes. The papers gathered in this volume investigate the literary methods of representing power and rule in theory and in practice. Keen as the Anglo-Norman 1 Robert H. Hodgkin, A History of the Anglo-Saxons, 2 vols., vol. 2, London 1952, 599–600.

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chroniclers were to offer morals and models to readers and royals alike, they were not only evaluating and assessing Alfred against an ideal of rulership: they were telling a story of what he and his comrades lived through during the Danish wars. They recounted what Alfred did not do well, how he felt in his struggles, what he was powerless to change, and what he was only able to do with the help and aid of others. Whereas a portrait is painted to create a lasting image,2 a narrative unfolds anew every time it is read.3 These historians praised Alfred; but the story they told of him at war also grappled directly with – and showed him and his allies grappling with – disorder. The Anglo-Norman narratives explore this disorder less as a step towards greatness or as a conquest of circumstance, but rather as something suffered by many, often in a deeply unsatisfactory way. This literary look also reveals the importance of Alfred’s allies to the Anglo-Norman historians – something that does not emerge as clearly if we view these writers’ accounts primarily as a step in a longer continuum of reputation-building. I begin by taking a brief look at the story of Alfred’s reputation, examining where the Anglo-Norman historians fit into the continuum. After an overview of several key events of the Danish wars and the Anglo-Norman writers’ main sources for these events (versions of the Anglo-Saxon Chronicle and Asser’s ‘Life of King Alfred’), I then examine the significant features of five writers’ stories of Alfred at war: in England, William of Malmesbury, Henry of Huntingdon, John of Worcester, Geffrei Gaimar; and, in Normandy, Orderic Vitalis.4 I conclude by considering the implications of these findings for the evolution of Alfred’s story, for writing of the careers of kings, and for reading chronicles of disorder.

2 E. g. for William of Malmesbury’s portraits of kings, see Sigbjørn O. Sønnesyn, William of Malmesbury and the Ethics of History, Woodbridge 2012. 3 David Carr, Time, Narrative, and History, Bloomington, IN 1986, 45–72, especially 51. 4 For an introduction to these writers, see Elisabeth van Houts, Historical Writing, in: Christopher Harper-Bill/Elisabeth van Houts (eds.), A Companion to the Anglo-Norman World, Woodbridge 2003, 103–122; Antonia Gransden, Historical Writing in England, c. 550 to c. 1307, 2 vols., vol. 1, London 1974; Emily A. Winkler, Royal Responsibility in AngloNorman Historical Writing, Oxford 2017; Rodney Thomson, William of Malmesbury, Woodbridge 2003; Rodney Thomson/Emily Dolmans/Emily A. Winkler (eds.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017; Martin Brett, John of Worcester and His Contemporaries, in: Ralph H. C. Davis/John M. Wallace-Hadrill (eds.), The Writing of History in the Middle Ages: Essays Presented to Richard William Southern, Oxford 1981, 101–126; Marjorie Chibnall, The World of Orderic Vitalis: Norman Monks and Norman Knights, Woodbridge 1996; Charles C. Rozier et al. (eds.), Orderic Vitalis: Life, Works and Interpretations, Woodbridge 2016.

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Reception and Reputation

The idea of Alfred’s eminent standing among kings in the Anglo-Saxon world remained particularly strong in the century after his death, especially (as Simon Keynes has shown) during the Danish invasions of the late tenth and early eleventh centuries.5 It is easy to see how he was perceived as a role model during this era, living proof that the Danes might be defeated again. In late twelfthcentury England, Richard of Devizes saw Alfred as an educator and civilizing force for his people,6 but it was not until Matthew Paris wrote his vast historical chronicle in the thirteenth century that Alfred was actually accorded the epithet ‘great’, although writers like Geffrei Gaimar (discussed below) called him ‘good’.7 The genesis of Alfred’s reputation for greatness paused in the intervening period, others have remarked, especially in the works of Anglo-Norman writers. It has been pointed out that the records for Alfred’s life, in particular the few copies of Asser’s ‘Life of King Alfred’, were fewer in number than those of Charlemagne, who (by comparison) was widely considered great almost immediately.8 John of Worcester and William of Malmesbury at a minimum, however, knew Asser: John copied it almost verbatim; William was familiar with it and other legends about Alfred’s life.9 Still, Alfred and his reign do not appear to have generated widespread interest at court. No cult of King Alfred sprang up to provide saintly support for contemporary rulers, or to compete with the cults of

5 See e. g. the account of Æthelweard, The Chronicle of Æthelweard, ed. Alistair Campbell, London 1962, 50; Simon Keynes, Alfred the Great and the Kingdom of the Anglo-Saxons, in: Nicole Guenther Discenza/Paul E. Szarmach (eds.), A Companion to Alfred the Great, Leiden 2015, 13–46, here 14. 6 Richard of Devizes, Annales monasterii de Wintonia (A.D. 519–1277), in: Annales monastici, ed. Henry R. Luard, 5 vols., vol. 2, London 1865, 3–125; John Gillingham, Richard of Devizes and ‘a Rising Tide of Nonsense’: How Cerdic Met King Arthur, in: Martin Brett/David A. Woodman (eds.), The Long Twelfth-Century View of the Anglo-Saxon Past, Farnham 2015, 141–158, here 151–153. 7 For the significance of Alfred’s reign in later medieval works by Matthew Paris and Peter of Poitiers, see Andrea Worm, England’s Place within Salvation History: An Extended Version of Peter of Poitiers’ ‘Compendium Historiae’ in London, British Library, Cotton MS Faustina B VII, in: Laura Cleaver/Andrea Worm (eds.), Writing History in the Anglo-Norman World: Manuscripts, Makers and Readers, c. 1066–1250, Woodbridge 2018, 29–52, here 43–52. 8 James Campbell, Placing King Alfred, in: Timothy Reuter (ed.), Alfred the Great: Papers from the Eleventh-Centenary Conferences, Aldershot 2003, 3–23, here 19–21; for AngloNorman writers’ admiration of Charlemagne, see Wendy Marie Hoofnagle, The Continuity of the Conquest: Charlemagne and Anglo-Norman Imperialism, University Park, PA 2016. 9 William probably knew a version of the ‘Life of King Alfred’: Rodney Thomson/Michael Winterbottom, William of Malmesbury, Gesta Regum Anglorum. General Introduction and Commentary, 2 vols., vol.2, Oxford 1999, 92–94; Thomson 2003, 69.

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the saintly Edmund of the East Angles and Edward the Confessor.10 The Anglo-Norman historians of the era did not credit the former king of Wessex with what Simon Keynes calls “state-formation”11 of England, nor with being the greatest king of the English. Although they admired his generalship, and his strategies and stubborn survival during a long period of invasion, his military victories were not great enough to make him their military hero,12 a subject to which we will return. Anglo-Norman chroniclers writing in England in the first half of the twelfth century reserved highest praise for Alfred’s learning, management and administration. As Patrick Wormald has persuasively suggested, they were accurate in their view of Alfred’s literary endeavours, the impressiveness of which merited their high regard.13 William of Malmesbury saw many virtues in Alfred as a king.14 In Geffrei Gaimar’s view, Alfred did not work alone, even in the realm of his achievements in letters: he collaborated in a literary alliance, the making of the Anglo-Saxon Chronicle. In some ways Gaimar’s view is unsurprising – he wrote his vernacular poem not for a royal patron, but for a noble audience – yet, as we will see, Gaimar and his contemporaries also highlighted the agency of others in deeds we have come to know as Alfred’s. Gaimar first presented the massive historical project as the idea, the initiative, and the execution (Engleis l’alerent asemblant)15 of the monks and regular canons who decided to put the Chronicle together. They did so, Gaimar claims, because the wars meant that no one knew enough about their realm’s history or rulers. Alfred, he observes, was the chronicle’s owner;16 only in his later eulogy does he credit the king with ordering it to be made.17 It is not clear whether Gaimar ultimately prioritizes the initiative of Alfred or the chronicles’ creators,18 but it is evident that he sees it as a collaborative project of learning to redress general ignorance.

10 Barbara Yorke, Alfredism: The Use and Abuse of King Alfred’s Reputation in Later Centuries, in: Timothy Reuter (ed.), Alfred the Great: Papers from the Eleventh-Centenary Conferences, Aldershot 2003, 361–380, here 361–363. Yorke argues that later medieval writers reserved highest praise for saintly kings, at 362. 11 Simon Keynes, The Cult of King Alfred the Great, in: Anglo-Saxon England 28 (1999), 225– 356, here 231; see also 229–230. 12 Yorke 2003, 362. 13 Patrick Wormald, Living with Alfred, in: Haskins Society Journal 15 (2006), 1–39. 14 Sønnesyn 2012, chaps. 5 and 6. 15 Geffrei Gaimar, Estoire Des Engleis: History of the English, ed. Ian Short, Oxford 2009, l. 2330, 128. 16 Ibid., ll. 2313–2336, 126–129. 17 Ibid., ll. 3445–3450, 188–189. 18 But cf. John Gillingham, Kingship, Chivalry and Love. Political and Cultural Values in the Earliest History Written in French: Geoffrey Gaimar’s ‘Estoire Des Engleis’, in: C. Warren Hollister (ed.), Anglo-Norman Political Culture and the Twelfth-Century Renaissance:

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Clearly, there was much good to say about Alfred. Writers of the Anglo-Norman era have thus been seen as building the foundations for a later reputation of greatness,19 or as essentially amplifying the records of Asser and the Anglo-Saxon Chronicle.20 It still tends to be assumed that early twelfth-century writers were among Alfred’s ‘encomiasts’,21 echoing and embellishing praise if not departing on new discourses about Alfred as historians in later centuries did.22 This, nevertheless, is not the whole story. What did interest them? What did the story mean to them? And what do their literary approaches to retelling the Alfred story suggest about how they read his battles? In addition to tracing Alfred’s posthumous reputation, it is important to examine how and why early twelfth-century writers qualified their stories of Alfred’s military endeavours, alongside examining their comments that prompted later encomia. Not encomiasts, the Anglo-Norman chroniclers were not engaged in a project of tracing the origins of greatness; if they evaluated kings, they also sought to bring their stories to life. In recounting the Danish wars of the 870s, they narrated tales of struggle and victory in which Alfred was at times fallible and unwise, and in which his comrades emerged with equal or greater prominence than him, as compared to their sources. The relative powerlessness of this leader meant that the combined efforts of Alfred and his fighters merited new prominence in the story. These historians crafted narratives that used rhetorical strategies to evoke the experience of frustration, despair and disorder. To begin, let us take a brief look at the texts with which they were working for knowledge of these events.

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Proceedings of the Borchard Conference on Anglo-Norman History, 1995, Woodbridge 1997, 33–58, here 46, for the view that Gaimar saw Alfred as “the brain behind the chronicle”. Keynes 1999, 229. Eric G. Stanley, The Glorification of Alfred King of Wessex (from the Publication of Sir John Spelman’s ‘Life’, 1678 and 1709, to the Publication of Reinhold Pauli’s, 1851), in: Poetica 12 (1981), 103–133, here 105; John W. E. Conybeare, Alfred in the Chroniclers, Cambridge 1914. Wormald 2006, 2. For further explorations of Alfred’s long-term legacy, see e. g. Beatrice A. Lees, Alfred the Great: The Truth Teller, Maker of England, 848–899, New York/London 1915; David Horspool, Why Alfred Burned the Cakes: A King and His Eleven-Hundred-Year Afterlife, London 2006; Joanne Parker, England’s Darling: The Victorian Cult of Alfred the Great, Manchester 2007.

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2.

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The Danish wars of the 870s and the sources

For those living in the Anglo-Saxon kingdoms during the Danish invasions, the trajectory of the 870s would have seemed an inexorable slope towards defeat.23 Debates continue as to the extent of damage caused, but the onslaught was unceasing, and Scandinavian rulers and nobles appear to have planned settlement and conquest rather than looting.24 Raiding armies from Scandinavia invaded in the late 860s and took the kingdom of Northumbria, killing its rulers. In 870, they overran and conquered East Anglia, killing their king, Edmund, around whom a saint’s cult sprang up. In the ensuing years, the virtual conquest of Mercia followed, under the leadership of Guthrum, the Danish ruler who was now ruling East Anglia, ultimately leaving the kingdom of Wessex as the last outpost against the invaders. Starting in early January 871, King Æthelred I of Wessex and his younger brother Alfred engaged Danish forces in five separate encounters. The first of these was a losing battle against Danish forces at Reading, a strategic supply and transportation outpost for the Anglo-Saxon forces. Four days after the Danish victory at Reading, the armies met at a place known as Ashdown, in which the forces led by the Wessex royals had the victory. A few months later, in April, Æthelred I died, possibly from battle wounds sustained at another of the conflicts, Meretun, that went ill for the West Saxons. Alfred succeeded his brother as king. Defeats beset him often during the 870s, and the Danes made continued incursions into Wessex. But at the Battle of Edington in 878, usually seen as the invasions’ turning point, Alfred besieged Guthrum, winning the foreign king’s surrender, baptism, and acceptance of a peace treaty. In the later years of Alfred’s reign, as his victories became more numerous and the Danes diverted their

23 The manuscripts of the Anglo-Saxon Chronicle (ASC) are edited in: The Anglo-Saxon Chronicle: A Collaborative Edition, eds. David Dumville/Simon Keynes, Cambridge 1983; the chronicles are presented in parallel in a modern English translation in: The Anglo-Saxon Chronicles, ed. Michael Swanton, London 2000. For an overview of these years, see Richard Abels, Alfred the Great: War, Kingship and Culture in Anglo-Saxon England, London 1998, 124–168; Patrick Wormald, Alfred [Ælfred] (848/9–899), King of the West Saxons and of the Anglo-Saxons, in: Oxford Dictionary of National Biography (2004), https://doi.org/10.1093/ ref:odnb/183 (29. 11. 2019); Alfred P. Smyth, King Alfred the Great, Oxford 1995, chaps. 1–3; Frank M. Stenton, Anglo-Saxon England, Oxford 1971, 246–257; see more generally on Wessex, Ryan Lavelle/Simon Roffey (eds.), Danes in Wessex: The Scandinavian Impact on Southern England, c. 800–c. 1100, Oxford 2016. 24 E. g. Dumville/Keynes 1983, ASC 876, 877, 880.

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priorities, Alfred’s strategic achievements included the successful building of defensive fortresses along his border – and of an alliance with Mercia.25 These events are recounted in the Anglo-Saxon Chronicle and in the ‘Life of King Alfred’ of Asser, who used a version of the former as one of his key sources for the events of Alfred’s life to 887.26 Although written in different genres, both accounts of the Danish wars sought to highlight West Saxon achievements.27 Simon Keynes has argued that the late ninth-century chronicler who recounted Alfred’s wars in the 870s gave “the impression that the situation was not as bad as it actually was”.28 The chronicler, he notes, highlights that both sides inflicted heavy losses at Reading even though the West Saxons lost, that the West Saxons were winning for a long time before losing at Meretun, and that Alfred kept the Danes at bay for a long time before losing at Wilton. The chronicler also, Keynes observed, gave Alfred agency as the instigator of peace on several occasions, even though the reality of peace-making would have involved more individuals, and the reciprocal exchange of oaths and agreements.29 John of Worcester did exactly this sort of thing even with catastrophically defeated English kings of the eleventh century, Æthelred II and Harold: he made the kings of the English look well-intentioned and effective at what they could control to put England’s past in a more favourable light,30 just as the Anglo-Saxon Chronicle did for Wessex in the 870s. In the Chronicle’s variants for the successive battles of 871, King Æthelred and Alfred lead the army (or divisions thereof) alongside one another: the chronicler uses the same introduction for each battle – the phrase “King Æthelred and his brother Alfred” – thereby creating a reliable anticipation of their joint effort, whether the encounter ended in defeat or victory.31

25 David Hill/Alexander R. Rumble (eds.), The Defence of Wessex: The Burghal Hidage and Anglo-Saxon Fortifications, Manchester 1996; Simon Keynes, King Alfred and the Mercians, in: Mark A. S. Blackburn/David N. Dumville (eds.), Kings, Currency and Alliances: History and Coinage of Southern England in the Ninth Century, Woodbridge 1998, 1–45. 26 Alfred the Great: Asser’s ‘Life of King Alfred’ and Other Contemporary Sources, eds. Simon Keynes/Michael Lapidge, London 1983, 55; see also James Campbell, Asser’s ‘Life of Alfred’, in: Campbell, The Anglo-Saxon State, Hambledon 2000, 129–155. 27 On the context and purposes of the Anglo-Saxon Chronicle, see Nicholas Brooks, Why Is the Anglo-Saxon Chronicle About Kings?, in: Anglo-Saxon England 39 (2011), 43–70; as narrative, Cecily Clark, The Narrative Mode of ‘The Anglo-Saxon Chronicle’ before the Conquest, in: Peter Clemoes/Kathleen Hughes (eds.), England before the Conquest: Studies in Primary Sources Presented to Dorothy Whitelock, Cambridge 1971, 215–235. 28 Simon Keynes, A Tale of Two Kings: Alfred the Great and Æthelred the Unready, in: Transactions of the Royal Historical Society 36 (1986), 195–217, here 198. 29 Ibid., 198–199; for the battles, Dumville/Keynes 1983, ASC 871; for peace-making, ASC 871, 876, 877. 30 Emily A. Winkler, England’s Defending Kings in Twelfth-Century Historical Writing, in: Haskins Society Journal 25 (2013), 147–164. 31 Dumville/Keynes 1983, ASC 871.

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The Welshman Asser, who knew King Alfred personally, used the events of these years in his ‘Life of King Alfred’ to build towards a story of Alfred’s glorious kingship.32 In particular, he highlighted how the West Saxons owed the victory at Ashdown to Alfred I’s prayer, but especially to Alfred’s military leadership, sanctioned by God. Later, when Alfred becomes king and marries, Asser extolled his virtuous royal humility, enhanced by the illness that reminded the king of his human infirmity and the need to strive for spiritual union with God.33

3.

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In the twelfth century, English chroniclers had few illusions about the dangers and challenges King Alfred and his contemporaries faced, and chose to explore different ways of conveying these in writing to give them greater emphasis than in their sources. William of Malmesbury, our first Anglo-Norman historian, was an extremely well-read and intelligent Benedictine monk who wrote ‘Gesta Regum Anglorum’, the ‘Deeds of the English Kings’ (or the ‘Deeds of the Kings of the English’), under the patronage of England’s royal family in the 1130s and 1140s. William has been cited as showing Alfred as a type of an ideal king, unblemished by critique.34 This is not quite the case. Although William praised Alfred’s contributions to learning, he was overtly and implicitly critical of Alfred’s generalship of the 870s. Not an idealized portrait, William’s narrative is more like a ‘human interest’ coming-of-age story: a brash youth nearly loses a war; as king, he is mired in nine years of powerlessness, wasted wanderings in the face of unrelenting invasion; later, he emerges as a successful leader in many respects. William of Malmesbury’s account of Alfred’s generalship accords on many occasions with Asser’s positive picture, and the ideal behaviour of rulers.35 In the later years of Alfred’s reign, because of the army’s familiarity with war and the king’s encouragement (hortamentis regi animati), the army is prepared not only to defend but also to initiate a challenge to the enemy (non solum ad resistendum 32 See David P. Kirby, Asser and his ‘Life of King Alfred’, in: Studia Celtica 6 (1971), 12–35; Matthew Kempshall, No Bishop, No King: The Ministerial Ideology of Kingship and Asser’s ‘Res Gestae Aelfredi’, in: Richard Gameson/Henrietta Leyser (eds.), Belief and Culture in the Early Middle Ages: Studies Presented to Henry Mayr-Harting, Oxford 2001, 106–127; Ralph H. C. Davis, Alfred the Great: Propaganda and Truth, in: History 56 (1971), 169–182; Winkler 2017a, 59–63. 33 On the nature and significance of Alfred’s illness, see David Pratt, The Illnesses of King Alfred the Great, in: Anglo-Saxon England 30 (2001), 39–90. 34 Sønnesyn 2012, chaps. 5 and 6. 35 For William’s account of Alfred, see William of Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, eds. Roger A. B. Mynors/Rodney Thomson/Michael Winterbottom, 2 vols., vol. 1, Oxford 1998, 178–197 (book 2, 119–124).

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sed et ad lacessendum). Alfred leads energetically in every need (impigre in omnibus necessitatibus). William emphasizes elsewhere the need for a leader’s courage to be seen: here, even the appearance of Alfred’s well-known courage is enough to inspire fear in the enemy (nota suae uirtutis spetie alienos territans).36 What is more, Alfred had good intentions: in response to a charge that Alfred stole from the poor, William clarifies that Alfred “surely did not wish (nolens scilicet) to make a sacrifice to God through robbing the poor”.37 Worth noting alongside these honouring remarks are two things: the nature of William’s critiques of Alfred, and William’s oft-made point that Alfred owed his successes to others – something William does less in writing of later kings.38 William’s chronicle materially resembles the narratives of the Danish wars in Asser’s ‘Life of King Alfred’ in its implication that a courageous and spirited military defence was equally as important as piety and prayer in defeating the Danes at Ashdown.39 But in William’s account, full credit goes to Æthelred I, who does both well; the young Alfred, to the contrary, is effective at neither. William found Alfred as a general too hasty, or precipitate (preproperus), in advancing to meet the Danes in battle at Ashdown. The two brothers had cast lots par pari, for equality, with each to take on one part of the split Danish army, as depicted in the Anglo-Saxon Chronicle. William portrayed Alfred acting unadvisedly in his youthful (immaturitate) impetuosity and, it is implied, contrary to the brothers’ agreement. For while Æthelred I is still praying, Alfred has already advanced, and under his leadership the English line is about to fall. William credited Æthelred I, and the miraculous aid of God, with bringing disorder and confusion to the enemy in a sudden attack. The king’s faith, William claimed, was what aided his hasty younger brother: Quae fides regis multum fratrem adiuuit immaturitate iuuentae preproperum et iam progressum.40 The great degree (multum) of aid is reserved for Æthelred I, who prays well, leads well, and honours the agreed time and division of labour in engaging in battle. William made a point of highlighting the disorder of the Danish wars, and observed how Alfred (however understandably) later misremembers these events in a better light. William detailed how Alfred was plagued by Danish invasions,

36 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, 186–187 (book 2, 121). 37 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, 194–195 (book 2, 124). (Translation by the author). 38 Winkler 2017a, chap. 4. 39 Asser, Asser’s Life of King Alfred: Together with the Annals of Saint Neots Erroneously Ascribed to Asser, eds. William H. Stevenson/Dorothy Whitelock, Oxford 1959, chaps. 37–38; for translation and commentary, see Keynes/Lapidge 1983; on Asser’s portrayal of Alfred’s generalship, see Campbell 2000, 146–147. 40 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, 178–179 (book 2, 119).

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and highlights the human weakness that he was forgetful of his own fears during those years: Continuis nouem annis cum hostibus compugnans, modo incertis federibus illusus, modo in illudentes ultus, ad hoc tandem inopiae coactus est ut […] etiam in insulam quandam palustri uligine uix accessibilem, uocabulo Adelingeam, refugerit. Solebat ipse postea, in tempora felitiora reductus, casus suos iocunda hilarique comitate familiaribus exponere, qualiterque per beati Cuthberti meritum eos euaserit, sicut plerumque mos est mortalibus ut eos illa iuuet meminisse quae olim horruerint excepisse.41

William’s comments reveal a military leader with less than perfect wisdom, but in a story that would resonate with those trying to make sense of warfare in later, calmer years. William’s perceptive remarks have parallels with recent work on memory in history and cognitive science, which suggests that the act of remembering entails reconstructing an event each time anew, rather than ‘recollecting’ an original event, as an item from a drawer.42 The king’s wisdom – and the royal humility much-lauded by Asser – emerges in Alfred’s insight that what military successes he did have, he owed to St Cuthbert. I could not have done this on my own, William’s Alfred concludes. William observed and commented on the parallels between two kinds of disorder: that faced on the ground by a military leader, and that facing the historian in writing about it. Alfred’s labours form unfathomable labyrinths (inextricabiles laberinthos), wherein the Danes would be forced from one part of the land only to reappear in another, causing destruction throughout. William explained that some might find it insanity (extremae […] dementiae) for him to follow Alfred’s wanderings around the island.43 William thus created an affinity in prose between himself and Alfred. He evoked a close relationship between narrative and the unfolding of history, implying that only a disordered narrative would suit a disordered era. The peregrinations of England’s king, circling the island and ineffectually pursuing the Danes, are less than impressive. There is a

41 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, 182–183 (book 2, 121). “Nine years without a break he battled with the enemy. Sometimes they deceived him with an uncertain truce; sometimes he took vengeance on the deceivers. At length he was reduced to such straits that […] he was actually forced to take refuge in an island called Athelney, which from its marshy situation was hardly accessible. Years afterwards, when happier times returned, he himself would tell his friends in cheerful intimacy the story of his adventures, and how he had survived them by the merits of St Cuthbert – so common is it among mortal men to recall with pleasure experiences that were fearful at the time.” 42 The classic work on medieval memory is Mary J. Carruthers, The Book of Memory: A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 2008; for an accessible introduction to the idea of remembering as constructing (rather than accessing) memories, Charles Fernyhough, Pieces of Light: The New Science of Memory, London 2012. 43 Mynors/Thomson/Winterbottom 1998, 180–183 (book 2, 121.1).

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subtle suggestion that Alfred’s circlings were as senseless – or at least, as ineffectual – as it would be to narrate them in detail. What is interesting is that in writing of the events of the year 1142 in the prologue of Book III of his ‘Historia Novella’, William uses the same phrase he used for the ineffectual disorder of the Danish wars in Alfred’s time – inextricabilis laberinthus – to characterize the happenings of England’s civil war in his own day, and in the same sense. William wrote his ‘Historia Novella’ over the course of England’s first civil war, the dispute between Stephen and Matilda, sometimes called the ‘reign of anarchy’.44 A supporter of Matilda and her half-brother Robert of Gloucester, his patrons, William could invoke divine justice while Matilda’s power was ascendant; after the two were captured in 1141, however, he rewrote a prologue for Book III that stressed fortune’s mutability rather than justice.45 He introduced the new book by writing, inextricabilem laberinthum rerum et negotiorum que acciderunt in Anglia aggredior euoluere.46 The activity (aggredior) he is really describing here is not the would-be rulers’ attempts to navigate a disordered nation, but rather his own effort as an historian and author in dealing sensibly, in narrative form, with the confusing and constantly-changing situation in England. Whether or not he had his comments about Alfred’s Danish wars in mind when writing his new history, he had the same sort of situation in mind. William ultimately credited the victories of Edward the Elder to Alfred’s groundwork, but his account of Alfred’s own military travels stressed disorder and the survivor’s experience of unrelenting invasion, rather than achievement. William did not erect an edifice to a legacy. He tells a story in which he claims he cannot do justice to the disorder of events in history by writing a disordered narrative. He is, of course, a master of digression and circumlocution; the point remains that he found parallels between these two eras in their frustrations for rulers and authors alike. Henry of Huntingdon, a contemporary of William’s, was a secular cleric who wrote the ‘Historia Anglorum’ (‘History of the English’). He often followed very closely the shape of the Anglo-Saxon Chronicle’s narrative, but viewed the events 44 See e. g. Oliver H. Creighton/Duncan W. Wright, The Anarchy: War and Status in 12thCentury Landscapes of Conflict, Liverpool 2017; Graeme White, The Myth of the Anarchy, in: Anglo-Norman Studies 22 (2000), 323–337; Carl Watkins, Stephen: The Reign of Anarchy, London 2015. 45 William did not think that ‘morality determined historical outcomes’, and at times invoked God and Fortune together: Rodney Thomson, William of Malmesbury’s Historical Vision, in: Rodney Thomson/Emily Dolmans/Emily A. Winkler (eds.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017, 165–174, here 167–168. 46 William of Malmesbury, Historia Novella, eds. Edmund King/Kenneth R. Potter, Oxford 1998, 80–81 (book 3, prologue). “I am undertaking to unravel the trackless maze of events and occurrences that befell in England.”

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of England’s history as part of a repeating cycle of invasion. The predictability of this cycle, however, did not temper its tragedy. Henry’s account of Alfred’s wars used rhetorical strategies to bring disorder to the fore, highlighting in particular the feelings of powerlessness of Alfred’s allies, and Alfred’s own ongoing experience and feelings of disorder. These strategies give the narrative a more ‘real-time’ quality. The two key moments for observing his rhetoric at work are his account of the events of 896/897 and his summary of Alfred’s reign. Henry placed the despair of Alfred’s comrades at the point of most heightened emotion in his narrative of the Danish wars. This occurs at the single moment in his entire account of the Danish wars in which he employs direct address. He explains that he has chosen only one of many naval conflicts (896/897) to describe (unum pertractabo), and over the course of this battle, six English ships are cut off, powerless to engage. Henry abruptly moves from pertractare to holding up for the reader not a mirror, to reflect our lives or values, but a window, to see those of whom he writes: Videres autem gentem sex nauium bellum aspicientem et auxilium ferre nequientem pugnis cedere pectus et unguibus rumpere crines.47 The single event Henry chooses to show us, when he departs from first- and third-person description, is comprised of the feelings and actions of despair of the men, forced to look on helplessly as their friends face the enemy. They are powerless to aid their allies, and we – equally powerless – are asked to watch. Henry had not shaken this feeling of tragedy when it came to summarizing Alfred’s reign. He composed a short eulogy in verse for Alfred, the subject of which was the king’s “difficult rule and inescapable hardship” (De cuius regimine laborioso et inextricabili uexatione).48 The eulogy’s tone is admiring, and praises the king’s natural nobility, but it ultimately highlights difficulties over deeds. In his verses for Alfred, Henry claims that struggle (labor) gave the king an eternal name (perpetuum […] nomen), but does not provide accolades to this ruler’s ‘glory’ as he does for a ruler like King Edgar (known to later generations as ‘the Peaceable’), whom he claims ruled with more glory and peace than all others from Wessex.49 Nor did Henry downplay endemic struggle and fear in the Danish wars: he says to Alfred, cui mixta dolori / Gaudia semper erant, spes semper mixta timori.50 Henry pushed this ‘mixed’ experience of rule further by showing, in verbal form, Alfred’s emotion of fear and his preparation for battle: Si modo uictor eras, 47 Henry of Huntingdon, Historia Anglorum, ed. Diana E. Greenway, Oxford 1996, 296–297 (book 5, 12). “You would have seen the men on the six English ships, who watched the battle and were unable to give aid in the fighting, beat their breasts and tear their hair from their heads.” 48 Ibid., 296–299 (book 5, 13). 49 Ibid., 334–335 (book 5, 32). 50 Ibid., 298–299 (book 5, 13). “For you rejoicing was always accompanied by grief, hope always mixed with fear.”

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ad crastina bella pauebas, / si modo uictus eras, et crastina bella parabas.51 Henry locates this pair of phrases in the present: during Alfred’s tribulations (today), and before future battles with the Danes (tomorrow). This rhetorical formula retains the narrative quality of Alfred’s living experience of struggle, rather than erecting a textual monument to Alfred’s legacy. Instead of listing Alfred’s achievements, the eulogy shows Alfred struggling through the Danish wars. By leaving Alfred’s victories or defeats until ‘tomorrow’ – virtually writing as though they haven’t happened yet – Henry stresses the disorder and lack of resolution that characterized Alfred’s reign. Although not a glorious king, Alfred embodies Henry’s sympathy for Anglo-Saxons who resisted invasion in other eras, and for their striving and surviving; here, he shows how it played out. John of Worcester supervised a team of writers in the monastery of Worcester who created a twelfth-century Latin chronicle completed in the early 1140s, the core structure of which was based on a continental, universal chronicle of Marianus of Mainz. Although this ‘Chronicon ex chronicis’ drew on material from the Anglo-Saxon Chronicle,52 it really presented an entirely new and thematically consistent version of English history. John did not name Alfred greatest king of all, despite retaining Asser’s panegyric about his learning, piety and justice. In his minor changes from the Anglo-Saxon Chronicle and Asser, John elaborated on Alfred’s capacity to feel and react to disorder, and conveys this feeling by a shift in narrative style. He also stressed collective efforts in the defence of Wessex, and enhanced the impression of disorder and disaster. John highlighted the importance of mutual aid between the brothers Æthelred and Alfred in his account of Ashdown. In this regard John’s account is like that of William, who also knew the Anglo-Saxon Chronicle and Asser; but it differs from William’s in that the providential plan is conspicuously absent.53 Whereas William underscored the effective and helpful power of the king’s prayer, John emphasized that the military defence was a joint effort. Copying Asser’s account, John explains that Alfred’s military initiative and Æthelred’s prayer were jointly responsible for defeating the Danes. However, as the battle reaches its pitch, he appears to add an explanatory comment: Tandem rex Æthelredus, finitis quibus occupatus erat orationibus, aduenit, et, inuocato magno mundi principe, mox se

51 Ibid., 296–299 (book 5, 13). “If today you were the victor, you feared tomorrow’s battles; / if today you were defeated, you prepared for tomorrow’s battles.” (Translation by the author). 52 On John’s sources for English history, see Cyril Hart, The Early Section of the Worcester Chronicle, in: Journal of Medieval History 9 (1983), 251–315; Reginald R. Darlington/ Patrick McGurk, The ‘Chronicon Ex Chronicis’ of ‘Florence’ of Worcester and Its Use of Sources for English History Before 1066, in: Anglo-Norman Studies 5 (1983), 185–196. 53 Winkler 2017a, chap. 5.

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certamini dedit.54 Although this sentence has been read as making explicit something implicit,55 a key question arises: if it was so obvious that Æthelred finally arrived, why did John bother adding this single sentence to an otherwise unchanged account of the battle? He had to make a decision about two versions of the story that conflicted in their accounts of where Æthelred I’s priorities lay: in the Anglo-Saxon Chronicle, in joining battle; in Asser, in delaying to pray. John’s use of language hints that he thought it high time for Æthelred to join the fray: the juxtaposition of words meaning ‘at last’ or ‘eventually’ with one meaning ‘soon’ implies the situation’s urgency. One might imagine the assembled army would grow impatient at any delay by their king. John thought it important to pray to God, as Æthelred did. But John believed that the military side of the victory mattered equally, and was sufficiently crucial to the outcome that it was worth pointing out to his readers that the king of Wessex took up arms and joined his brother and their comrades on the field of battle against the Danes. John made a handful of other changes to Asser, including the Anglo-Saxon Chronicle’s detail about Meretun being a place of mortality (871), comments from the latter about the Danish forces dividing in 877, and many remarks about the leaders and army acting without delay (e. g. for the years 895 and 896), as he did throughout his ‘Chronicon’.56 The most remarkable change is a new comment about emotions felt by Alfred: anger at himself and concern for his men. Whilst Alfred is engaged inland, he learns that his men are under siege at Exeter, and John writes that Alfred is angry at himself. This narrative recognizes Alfred’s care for his comrades, and their importance to the story; and it creates an Alfred who perceives and reflects on his own weaknesses or errors in battle – perhaps a military variation on a religious theme of Asser, whose concern was primarily with Alfred’s spiritual self-correction. Far from downplaying the destruction wrought during the Danish wars, John departed from existing narratives to include a fervent lament near the end of his account of Alfred’s reign. In lieu of the Anglo-Saxon Chronicle’s comment that this particular raiding army of 897 had had little effect on the English thanks to God’s grace,57 John – unusually – lamented the great degree of disasters they brought, heightening the tenor of trouble: O quam crebris uexationibus, quam grauibus laboribus, quam duris modisque lamentabilibus non solum a Danis qui partes Anglie tunc temporis occupauerant, uerum etiam ab his Satane filiis tota uexata est 54 John of Worcester, The chronicle of John of Worcester, eds. Reginald R. Darlington/ Patrick McGurk/Jennifer Bray, 2 vols., vol. 2, Oxford 1995, 290–291 (871). “Finally King Æthelred [I], having completed the prayers with which he was occupied, arrived, and having invoked the great Ruler of the world, then entered the battle.” 55 Ibid., 290 n. 2–2; Keynes/Lapidge 1983, 242. 56 Noted by Hart 1983, 260; for the narrative implications, Winkler 2017a, chap. 5. 57 Dumville/Keynes 1983, ASC 897.

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Anglia.58 He retained the Anglo-Saxon Chronicle’s remark that England’s troubles were great because of murrain among animals (which would have brought famine) and death among the king’s thegns. It is worth noting that even though John’s lament magnifies the scale of trouble caused by the Danes as compared with the Anglo-Saxon Chronicle, he considered the widespread human disaster of famine-induced death – lacking a human or divine cause – worse trials than the invasions. The scale, widespread nature, and inexplicability of the general disorder of this era, in his view, merited emotive prose. Geffrei Gaimar might seem the odd one out of the English writers, as he wrote his ‘Estoire des Engleis’ for a noble patron as a poem in Anglo-Norman French. Yet he had a good deal in common with them as storytellers. As many of his readers have noted, Gaimar told heroic stories that often place nobles’ deeds at the forefront, rather than kings’, befitting the heroic genre and his noble audience.59 Gaimar has been credited with making Alfred’s reign the turning point in English unity,60 although Gaimar says nothing specifically about Alfred doing anything for national unity. The key contributions, Gaimar thought, were made jointly. Gaimar cast peace as Alfred’s foremost concern, and for this reason Alfred’s interactions with the enemy, his allies, and his nobles matter, in a way likely to appeal to his noble audience. Gaimar expanded in particular on the king’s successes in keeping the peace61 and upholding treaties, the most important example of which is his christening of Guthrum.62 His Alfred is thus a ‘good king’ (bon reis),63 whom he credits with frequent victories, enough that Pope Marinus sent him a fragment of the Cross.64 Importantly, however, Gaimar showed that these victories were taken in association with his barons.65 A distinguishing feature of Alfred’s ‘goodness’ and wisdom as a military leader is his ability to delegate effectively to his subordinates and his allies. In one story, Gaimar signals the importance of Alfred’s reaction to 58 Darlington/McGurk/Bray 1995, 348–349 (897). “O with what a host of tribulations, what heavy labours, in what cruel and grievous ways was all England harassed, not only by the Danes who at that time held part of England, but also by these sons of Satan [i. e. the pagan raiding army].” 59 See e. g. Paul Dalton, Geffrei Gaimar’s ‘Estoire Des Engleis’, Peacemaking, and the ‘TwelfthCentury Revival of the English Nation’, in: Studies in Philology 104 (2007), 427–454; Elizabeth Freeman, Geffrei Gaimar, Vernacular Historiography, and the Assertion of Authority, in: Studies in Philology 93 (1996), 188–206. 60 John Gillingham, Gaimar, the Prose ‘Brut’ and the Making of English History, in: Gillingham, The English in the Twelfth Century: Imperialism, National Identity and Political Values, Woodbridge 2000, 113–122, here 122. 61 E. g. Short 2009, ll. 3383–3394, 184–187. 62 Ibid., ll. 3197–3232, 174–177. 63 Ibid., ll. 3159, 3194, 172–175. 64 Ibid., ll. 3321–3324, 182–183. 65 E. g. ibid., ll. 3193–3196, 174–175.

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a Danish attack by asking a question: Ke fist donc Elveret li reis?66 Gaimar then answers the question: Alfred summoned many allies from far and wide, followed his nobles’ advice, and named a good commander.67 What was special about this good king’s actions was that he sought victory with the help of many others. Yet his Alfred is not always successful in battle. If Gaimar magnified Alfred’s victories68 (and he named Danish fighters and highlighted their victories too),69 he also magnified the scale of Alfred’s struggles as compared with the Anglo-Saxon Chronicle. Alfred constructs a fort at Athelney, doing so od poi de gent, par grant ahan.70 In another example, rather than stressing how much damage the English army inflicted at Reading, Gaimar highlighted how much they suffered: he explained that ealdorman Æthelwulf was killed, Æthelred and Alfred were forced to retreat, adding: e les Engleis sunt eschapez, / mes mulz en sunt morz e naffrez, / ci ourent Daneis [la] victur.71 The coordinating conjunction permitted Gaimar to highlight not what the English achieved here, but what they lost: the sense differs from the Anglo-Saxon Chronicle. In dire times Gaimar commented on Alfred’s uncertainty: Li reis Elveret ki ert lur sire / ne sout ke fere ne ke dire.72 Furthermore, he used a shift in tense to realize this uncertainty at the crucial moment, and where it leads: to the seeking of comrades. After acknowledging Alfred’s uncertainty, Gaimar moves immediately into the present tense when describing Alfred calling on his allies, finding that only a few turn up, and perceiving, because of the distresses of his enemy, that he must retreat: de tote parz feit gent mander / mes mult en pout poi asembler. / Com veit ke si est entrepris / e malbailli par enemis, / as bois se tint e as gastines / pur eschaper des mains sanguines.73 Here, present tense is reserved for highlighting desperation in being unable to summon enough aid. Alfred’s thoughts and actions in uncertainty are central to the narrative, including the unsuccessful summons and the realization that he is beset. The presence of his allies is a key factor in the potential for success.

66 Ibid., l. 3362, 184–185. “What did King Alfred do?” (Translation by the author). 67 Ibid., ll. 3355–3376, 184–185. 68 Cf. the argument that Gaimar “recognized Alfred for the exceptional ruler he was”, and conveyed less of the Danes’ desperation than did Asser: Gillingham 1997, 46. 69 E. g. Short 2009, ll. 2971–3016, 162–165. 70 Ibid, l. 3158, 172–173. “with few men and much trouble” (Translation by the author). 71 Ibid, ll. 2969–2971, 162–163. “and this is how the English escaped, but not without suffering many casualties and mortalities. Here the Danes were victorious.” 72 Ibid., ll. 3133–3134, 172–173. “Alfred their king knew neither what to say nor what to do.” (Translation by the author). 73 Ibid., ll. 3135–3138, 172–173. “He summons the army from all parts, but can assemble only a few. As he sees himself so tormented and harrassed by his enemies, he took himself to the woods and other wastes to escape their bloody grasp.” (Translation by the author).

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Ashdown is a shared victory. In Gaimar’s account, neither Alfred nor Æthelred I emerge the greater hero after Ashdown: Gaimar follows the Anglo-Saxon Chronicle in showing the two brothers sharing the burden of the fighting. Æthelred and the English, he explains, fought against Danish kings; Alfred fought against the Danish earls.74 But the parallels are not exact, for in Gaimar’s explaining how the battle was fought, it becomes a more shared endeavour. After noting the Danes’ pride in dividing their army into two groups and naming some of their knights, he writes, E les Engleis de l’altre part / se sunt partiz – nel funt a tart.75 First, Gaimar credited the strategic decision to divide the army into two groups, each with its own leader, to ‘the English’, which he is using in this discussion of battle to refer to the English army as a whole.76 Second, he noted that the execution of this plan happened without delay. Gaimar praised not only the collective decision, but also its efficiency. Furthermore, Gaimar made a point of giving Æthelred I credit even though he did not live long enough to build a reputation like Alfred’s. Gaimar honoured Æthelred I’s right intent in preparing for battle: King Æthelred I was ready to confront a Dane, Gaimar subsequently insists, but died before he could. For Gaimar, intent mattered as much as success in a ruler’s worth.77 What makes Gaimar’s account distinctive is that the most decisive actions, and the major part of credit for victories, lie with Alfred and the English army. Gaimar did not make Alfred out to be a bad king. Nevertheless, there are two key things to note about his historical poem: first, moments of disorder and confusion on the English side merited rhetorical shifts; and second, Gaimar did not give this credit unequivocally, or exclusively, to Alfred. He was read this way by many later Alfred enthusiasts, from the authors of the Brut chronicles to Victorian historians,78 but he did not think of his task as building the reputation of a single man destined for greatness. Gaimar highlighted a unified effort aided by the nobles’ advice, by the actions of allies, and by Alfred’s personal wisdom. What, then, of these writers’ contemporary living in Normandy, Orderic? Although born in England, Orderic was sent to Normandy at the age of ten, and in his later years composed an extensive chronicle centred around his monastic home, Saint-Évroul. What is different is that his ‘Historia Ecclesiastica’ tells a story of long-term religious reform in England, and how kings – both West Saxon, like Alfred, and Norman, like William – prove themselves worthy on the

74 Ibid., ll. 2993–2996, 164–165. Gaimar appears not to have known Asser. 75 Ibid., ll. 2991–2992, 164–165. “And the English army, on the other side, split in twain without delay.” (Translation by the author). 76 See e. g. ibid., ll. 2969, 2975, 2997, 162–165. 77 Winkler 2017a, chap. 5. 78 Gillingham 2000, 122.

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grand stage by acting as Christian rulers because they defeat paganism.79 Orderic counted Alfred the best of all English kings before and after: Post aliquot annos Elfredus Gewissorum rex filius Edeluulfi regis in paganos surrexit, et uirtute Dei hostes aut peremit, aut expulit aut subegit, et primus omnium regum monarchiam totius Angliæ solus obtinuit. Probitate et liberalitate laudabilique prouidentia omnes Angliæ reges præcedentes et subsequentes ut reor excellit.80

Thus Orderic, in his very first comment about Alfred, evaluated the king in terms of what he achieved in defeating the pagans. His accolades (he compared a king of the West Saxons to all kings of the English) suggest the surpassing value of this quality for Orderic. The general disorder in the realm, however, receives less attention than its resolution. Unlike his contemporaries, he adopted a firmly retrospective stance. An insider’s perspective on the events of English history mattered less than the grand narrative of Christianity’s triumph in Orderic’s broader ecclesiastical history. For the Anglo-Norman historians writing in England, the continuous state of Danish invasion in the late ninth century and the resulting experience of disorder were important subjects for historical reflection. There were perhaps deeper anxieties about the military threats posed by the Danes in the histories written in England, given the invasions of England by the Danes and Normans in the tenth and eleventh centuries. Yet hindsight coloured their language less than an interest in comprehending the past on its own terms.

4.

Conclusion: The reality of disorder

The case of rewriting Alfred, his allies and the Danish wars in the Anglo-Norman histories illuminates how medieval writers navigated through – or around – the challenges of rulership and the experience of disorder. Henry of Huntingdon’s characterization of Alfred’s career – ‘mixta’ – is perhaps the word that best captures the order and disorder explored in the craft of Anglo-Norman narrative and 79 For discussion of Orderic’s views of the Danish invasions in eleventh-century England, see Emily A. Winkler, Translation, Interpretation and the Danish Conquest of England, 1016, in: David Hook/Graciela Iglesias-Rogers (eds.), Translations in Times of Disruption, London 2017b, 173–200, here 190–194. 80 Orderic Vitalis, The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, ed. Marjorie Chibnall, 6 vols., vol. 2, Oxford 1969–1980, 240–241. “After some years Alfred king of the Gewisse [West Saxons], son of King Æthelwulf, mustered his forces against the pagans, and by God’s help either slew or drove out or conquered the enemy, so that he became the first king to hold sway over the whole of England. In goodness, nobility, and statesmanship he stood, I believe, head and shoulders above all the kings of England who came before and after him.” Cf. Keynes 1999, 231.

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history. We read often of historians holding up mirrors for princes, telling stories for their moral worth. But it is not obvious that getting from a story to a moral tenet or truth was straightforward. William of Malmesbury, for one, reflected that this was no easy task, and human history at times struck him as so disordered that even God must not know what to do about it all.81 One implication of the foregoing study is that the Anglo-Norman chroniclers sometimes encountered a narrative tension between relating disorder and resolving it. Depending on a chronicler’s aims, telling the story may not always equate to evaluating, or judging, its end or effects. If historians seek a judgment, they evaluate a ruler’s historical standing based on what he or she achieved or accomplished. To do this, historians need to look (within or beyond a lifetime) for conclusiveness: what was finished? What was done? What did it cause? The words res gestae – ‘things performed’, the famous subject of many a medieval history – underline precisely this: history is an account of things done and their effects. Frank M. Stenton wrote, for example, that Alfred’s “place in history is not affected by the inconclusiveness of his later wars” – so Stenton looked beyond, to Alfred’s legacy (he saved culture; he built a Mercian alliance), to affirm that place in history.82 Disorder, however, does not lend itself to clear conclusions. This was a challenge William of Malmesbury recognized, both in Alfred’s day and in his own. If no deeds of note were done, what was there for him to write about in a res gestae; and how should wanderings with uncertain routes and ends lend themselves to prose? During the invasions, Alfred and his allies could not perceive where or when the Danish onslaught would end. If a historian tries to adopt a similar stance – that is, not to anticipate outcomes by writing with hindsight – the disorder he or she conveys may appear to be exaggerated if we know full well that Alfred will come to be seen as greatly successful. Trying to stand in the shoes of Alfred and his allies during the Danish wars interested these writers more than the question of his greatness or glory. The story of this era’s wars compelled them not primarily because Alfred eventually overcame them but because that he persevered even though he could not see all ends. The ‘virtual reality’ they created in poetry and prose is perhaps the sort of thing that gives us a better sense of greatness – the chance to ‘live with’ Alfred (to quote Wormald) for a brief moment, and to better appreciate the scale of what he had to overcome.

81 Addressing God, William wrote: Quocirca, si fas est dicere, nesciens quo nos modo tractares fortunae populandos exposuisti. William of Malmesbury, Willelmi Meldunensis monachi Liber super explanationem lamentationum Ieremiae prophetae, eds. Michael Winterbottom/Rodney Thomson/Sigbjørn Sønnesyn, Turnhout 2011, ll. 2826–2827 (book. 1); see also Thomson 2017, 166–168. 82 Stenton 1971, 269.

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A second implication is that their narratives resonate with contemporary scepticism of writing history within a ‘great man’ or ‘war hero’ paradigm, if for different reasons.83 Storytelling mattered more than judgment, and the man in life more than his legacy in death. Simon Keynes has observed that, illuminating as the sources for Alfred’s reign are, “we would simply like to know how others felt”.84 What would other contemporaries, besides the Anglo-Saxon chroniclers and Asser, have thought and written about the Danish wars? Our writers conduct a similar thought-experiment in narrative form. In reflecting on how Alfred might have acted, thought, and felt in a time of widely-acknowledged disorder, the Anglo-Norman historians’ imagined stories were astute and acute. Our present curiosities mirror theirs. They tended to avoid judging Alfred’s role in the wars based on outcomes and achievements – judgments which happen when we ask what made Alfred ‘great’. Yet they did not view Alfred in terms of what he did for England: from their perspective, the stakes were different than in the second era of Viking invasion (970s–1016) because the kingdom of the English had not yet been formed.85 A preproperus Alfred caused no lasting damage to the defence against invasion, William of Malmesbury thought: he had his brother’s aid, and his brother that of God. A preproperus Æthelred II in the early eleventh century garnered William’s censure because William thought this king had possessed, and then lost, a kingdom. A third implication is that the Anglo-Norman writers were interested in Alfredian teamwork. Alfred emerges in their accounts of the Danish wars not in terms of gloria or surpassing individual personal greatness as a war leader, but in relation to the deeds of his allies in battle. They thought great deeds were done, amidst great suffering; but the credit for the doing belonged to the West Saxons together with their leaders – and, in some cases, to God and St Cuthbert.86 In the quest to recover the reality of Alfred’s day and the battles against invasion, the Anglo-Norman histories may have some use in emphasizing the deeds and doings not only of Alfred, but also of his greatest of allies. The Anglo-Norman historians are often read for what they left to Alfred’s legacy in the way of praise. But their deeds, done in poetry and prose, graft an imaginative layer to a story of gritty reality. Their critiques of Alfred, their deviations from description (whether to comment on disorder in the first and third person, or to show it in the second person), and the critical role they gave to Alfred’s allies may have contributed much more to Alfred’s legacy than we realize. William’s Alfred began as a headstrong youth who nearly catastrophically 83 84 85 86

Cf. Wormald 2006, 19–20: “We have little time for hero-kings.” Keynes 1986, 205. Keynes 1986, 204–208. A more differentiated vision of responsibility, in which the stakes were higher for individual kings, was associated with the kingdom of the English: for which see Winkler 2017a.

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lost a decisive battle; his peregrinations first brought him nowhere, and he had the foible of misremembering how bad things were. In spite of all this, he became a worthy general and remarkably educated king. John’s Alfred was furious with himself for what he perceived as a lapse in his leadership; he yearned to rescue his comrades. For Henry’s Alfred the present moment was always uncertain; the disasters his allies faced had moments of acute despair. Gaimar’s Alfred led many battles, but was wise enough to follow others’ lead. In part because of their efforts to imagine a fuller, more complex story for Alfred, the Wessex king’s later admirers came to perceive just how much he might have had to overcome – and, perhaps, to hold him in higher regard as a result.

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María Luzdivina Cuesta Torre

Gefährdete Herrschaft im ‚Libro del caballero Zifar‘1

Abstract The ‘Libro del caballero Zifar’ (‘The Book of the Knight Zifar’) is an anonymously written knightly prose work from the beginning of the 14th century. The book contains a great quantity of didactic material, usually conveyed by the protagonists to other characters through short, embedded narratives (exempla), which serve either to advise them or to sustain their own opinion. The events depicted in the main narrative are reminiscent of (at the time) recent historical events and could thus have a political connotation, favoring a positive image of the actions carried out by Sancho IV and depicting his son and heir as a hero that unites his father’s qualities and teachings. In this article we analyze particular episodes and exempla that deal with the loss of rule over the kingdom, in particular due to the lord’s misguidance, although we also consider some episodes in which dominion is risked by the vassals’ misconduct. The theme is particularly linked to the deposition of Alfonso X by his son Sancho IV and to the glorification of Ferdinand IV’s victory over his enemies, consolidating his dominion and defeating those who challenged it. The following episodes and examples will be analyzed: the dialogue between young Zifar and his grandfather, the exempla of the king of Ephesus and the emperor of Armenia, the episode of Roboán and the count of Turbia and the rebellions of count Nasón against Zifar and the kings of Garba and Safira against Roboán.

Die spanische Literatur des Mittelalters reflektiert in vielfältiger Weise die Sorgen der Monarchen und anderer Feudalherren bezüglich zweier Aspekte von Herrschaft: territorialer Besitz und wie dessen Bewohner regiert werden sollten. Diese Sorgen sind in unterschiedlichen Textsorten spürbar, einschließlich der fiktionalen Prosa, mit ihren Lang- und Kurzformen. Als sich letztere im 13. Jahrhun1 Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Projekte Diccionario de autores literarios de Castilla y León (online) („Wörterbuch literarischer Autoren aus Kastilien und León“), gefördert von der Junta de Castilla y León (Ref. LE113G18), und El legado historiográfico de Alfonso X (1270–1350): Teoría histórica, tradiciones literarias y textos inéditos (LEHIAL) („Das historiographische Erbe Alfons’ X. [1270–1350]: historische Theorie, literarische Traditionen und uneditierte Texte“), gefördert vom Ministerio de Ciencia, Innovación y Universidades, Gobierno de España (Ref. PGC2018-097250-B-I00).

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dert entwickeln, beschäftigen sich die beiden Sammlungen exemplarischer Geschichten ‚Sendebar‘ und ‚Calila e Dimna‘, deren Übersetzung aus dem Arabischen von den Söhnen König Ferdinands III., den Infanten Don Fadrique und Don Alfonso, in Auftrag gegeben wurde, mit der Angst vor Usurpation oder Herrschaftsverlust. Im ersten Text wird der Sohn des Monarchen von seiner Stiefmutter der versuchten Vergewaltigung beschuldigt, um ihren Vorschlag, den König zu töten und seinen Thron zu usurpieren, zu vertuschen.2 Im zweiten Werk entwickelt sich die umfangreichste Geschichte um die Intrigen eines Schakals, der Hauptberater des Löwenkönigs werden und somit Macht erlangen will.3 Die Furcht vor der möglichen Schwächung der königlichen Macht ist nicht ausschließlich auf den literarischen Bereich beschränkt: Als König befiehlt Alfons X. die Hinrichtung seines Bruders Fadrique und wirft ihm versuchte Rebellion vor.4 Zur Prosa der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die sich in Momenten größerer politischer Umwälzungen entwickelt, gehört auch das ‚Libro del conde Lucanor‘ (‚Der Graf Lucanor‘), das sich, wie Juan Manuel, der Neffe Alfons’ X., in seinem Vorwort erklärt, mit der Bewahrung und Vermehrung von Ehre, Besitz und Status beschäftigt.5 In dieser Epoche entsteht auch das ‚Libro del caballero Zifar‘ („Buch des Ritters Zifar“), mit teils realistischen, teils phantastischen Ritterabenteuern 2 Deyermond merkt an, dass der eigentliche Zweck des Werks, über die antifeministische Kritik hinaus, die Auseinandersetzung mit „the nature of power and the behaviour of kings“ (162) ist, und erklärt: „The book deals with the limits of royal power, the value of education for leadership, the relation between a king and his advisers, the effects of false accusation at court, the dangers created for individuals and society by a weak king, the conflict of justice and power, and the ability of a king to put to death a member of his own family.“ (166) Alan Deyermond, The ‚Libro de los engaños‘: its social and literary context, in: Glyn S. Burgess/Robert A. Taylor (edd.), The Spirit of the Court: Selected Proceedings of the Fourth Congress of the International Courtly Literature Society, Cambridge 1985, 158–167. 3 Claudia Piña, El propósito de la versión alfonsí de ‚Calila e Dimna‘: la configuración de un espejo de vasallaje, in: Axayácatl Campos García Rojas/Mariana Masera/María Teresa Miaja de la Peña (edd.), ‚Los bienes, si no son comunicados, no son bienes‘. Diez jornadas medievales, México D.F. 2007, 205–221. Vgl. auch die Publikationen des hispanistischen Teilprojekts des SFB 1167. 4 María Antonia Carmona Ruiz, La sucesión de Alfonso X: Fernando de la Cerda y Sancho IV, in: Alcanate 11 (2018/2019), 151–186, hier 170. 5 Este libro hizo don Juan, hijo del muy noble infante don Manuel, deseando que los hombres hiciesen en este mundo tales obras que les fuesen provechosas para las honras y las haciendas y para sus estados, y que pudieran acercarse más a la vía para salvar las almas. („Dies Buch verfaßte Don Juan, Sohn des hochedlen Prinzen Don Manuel, vom Wunsche geleitet, die Menschen möchten auf dieser Welt solche Werke vollbringen, die ihrer Ehre, ihren Grafschaften und ihrem Stande zum Nutzen gereichten, und sich so dem Wege nähern, auf dem sie ihre Seele retten könnten.“) Beginn des Anteprólogo zu ‚El conde Lucanor‘. Das Spanische wurde von der Autorin modernisiert, ausgehend von der Edition: Juan Manuel, El conde Lucanor, ed. Guillermo Serés, Barcelona 1994, hier 7. Deutsche Übersetzung: Juan Manuel, Der Graf Lucanor, übers. v. Joseph von Eichendorff, ed. Karl-Maria Guth, Berlin 2013, hier 5.

Gefährdete Herrschaft im ‚Libro del caballero Zifar‘

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sowie didaktischen Exempla, Fabeln und einem Fürstenspiegel, in dem der titelgebende Protagonist, inzwischen König von Mentón, seine Söhne in verschiedenen Aspekten der Staatsführung und des Verhaltens von Herrschern unterrichtet.

1.

Das Thema der königlichen Macht in der Binnenstruktur des ‚Libro del caballero Zifar‘

Das anonyme ‚Buch des Ritters Zifar‘ ist in zwei Manuskripten erhalten, die jeweils in mehrere, allerdings weder gleich betitelte noch sich entsprechende Kapitel unterteilt sind,6 so dass die äußere Struktur des Textes keine Hinweise auf seine Binnengliederung gibt. Cristina González schlägt eine Aufteilung in zwei Teile vor: die Abenteuer von Zifar und die Abenteuer von Roboán, seinem jüngsten Sohn.7 Seit dem Erscheinen der ersten kritischen Edition des Werkes von Charles P. Wagner ist es jedoch üblich, die ‚Castigos del rey de Mentón‘ („Belehrungen des Königs von Mentón“) als eigenen Abschnitt zu betrachten, und so der in der editio princeps von Sevilla (1512) vorgenommenen Aufteilung zu folgen.8 6 Herausragend unter den Editionen des ‚Libro del Caballero Zifar‘ ist die kritische Edition El libro del Cauallero Zifar (El libro del cauallero de Dios), ed. Charles P. Wagner, Ann Arbor 1929, in der die Manuskripte M, P und die editio princeps S zusammengefügt werden. Die Edition Libro del Caballero Zifar, ed. Cristina González, Madrid 1998, folgt der Edition von Wagner und vereinfacht den kritischen Apparat. Die Edition Libro del caballero Zifar, ed. Joaquín González Muela, Madrid 1982, nutzt das Manuskript M der spanischen Nationalbibliothek. José Manuel Lucía Megías, Los testimonios del Zifar, in: Francisco Rico (ed.), Libro del caballero Zifar. Códice de París. Estudios, Barcelona 1996, 95–136, hier 128, weist darauf hin, dass ms. M trotz Kopierfehlern und nachlässiger Transkription nah am Original bleibt, wobei ms. P und die editio princeps S im Vergleich als unabhängige, veränderte und erneuerte Versionen zu lesen sind. Aus diesem Grund nutzt die vorliegende Studie die Edition des ms. M von González Muela, wobei die Vfin. die zitierten Passagen dem modernen Spanisch anpasst. 7 Vgl. die Einleitung zu González 1998, 40–45. Auf S. 43f. schlägt González ein auf dem Modell der Verbesserung von Bremond basierendes Schema vor, vgl. Claude Bremond, La lógica de los posibles narrativos, in: Análisis estructural del relato, Buenos Aires 1974, 87–109, hier 93. 8 Zu den unterschiedlichen Vorschlägen zur Struktur des Werks vgl. Charles P. Wagner, The Sources of El Cavallero Cifar, in: Revue Hispanique 10, 33/34 (1903), 5–104, hier 13; sowie Justina Ruiz de Conde, El amor y el matrimonio secreto en los libros de caballerías, Madrid 1948, 35–98. Beide schlagen eine, wenn auch nicht übereinstimmende, dreiteilige Struktur vor (in seiner Edition entscheidet sich Wagner allerdings für eine Strukturierung in vier Teile). James F. Burke, History and Vision. The Figural Structure of the ‚Libro del Cavallero Zifar‘, London 1972, 5–54, schließt sich der von Wagner vorgeschlagenen dreiteiligen Struktur an. Robert M. Walker, Tradition and Technique in ‚El Libro del Cavallero Zifar‘, London 1974, 71–142; sowie Marta Ana Diz, La construcción del Cifar, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 28.1 (1979), 105–117, schlagen vier Teile vor. Fernando Gómez Redondo, Los contadores de exempla en el ‚Libro del caballero Zifar‘, Crisol 4 (2000), 59–91, hier 91, postuliert, dass

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Strukturell ist eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen den Abenteuern von Zifar und Roboán festzustellen: Beide verlassen ihr Land auf der Suche nach größerer fortuna und beschützen eine Feudalherrin oder Infantin, die von einem benachbarten Fürsten oder König, der es auf ihren Besitz abgesehen hat, bedrängt wird. Beide erlangen durch ihre Verdienste ein Königreich und verteidigen es im Krieg gegen Verräter. Orduna schlägt überdies eine Abfassung in zwei Etappen vor, wobei ein zweiter Autor das Werk durch die Abenteuer des Sohnes, der als ein verbessertes Abbild des Vaters gelten soll, erweitert habe.9 Wie die Wiederholungen in der Binnenstruktur zeigen, ist das Thema der Erlangung und Aufrechterhaltung eines Königreichs von grundlegender Bedeutung für das Werk. So zeigt der erste Teil die Entwicklung Zifars vom fahrenden Ritter zum König. Als er die Königswürde erlangt hat, geht die Geschichte ein auf die Ausbildung der Söhne des Protagonisten zu Kriegern, die ihrem Vater bei der Verteidigung seiner Herrschaft gegen Aufstände im Inneren des Reichs helfen. Das Vorhaben Roboáns, seinem Vater nachzueifern und auf die Suche nach Abenteuern zu gehen, um einen eigenen Thron zu erlangen, bewegt Zifar dazu, seine Söhne über ritterliches und königliches Verhalten zu belehren. In den ‚Castigos del rey de Mentón‘ wird insbesondere die Unterweisung der jungen Helden in der Kunst der Staatsführung durch ihren eigenen Vater gezeigt.10 In dem Roboán gewidmeten zweiten Teil wird schließlich erneut auf den Prozess der Erlangung und Erhaltung eines Königreichs eingegangen, diesmal jedoch in intensivierter Form: Der junge Protagonist erhält zweimal die Möglichkeit, die Herrschaft über ein Königreich zu übernehmen, zunächst durch Heirat mit der Infantin Seringa, der er zum Sieg im Krieg gegen einen benachbarten König verhilft (er verschiebt die Heirat jedoch); später durch die Eheschließung mit der Kaiserin Nobleza auf den wunderbaren Islas Dotadas (allerdings verliert er Ehefrau und Reich, als er betrügerischen Ratschlägen folgt). Bei der dritten Gelegenheit gewinnt er tatsächlich ein Reich, das er durch seine persönlichen Verdienste erwirbt und mit Waffengewalt vor internen Intrigen schützen muss.

sich das Werk aus drei an unterschiedliche Zielgruppen gerichteten Geschichten zusammensetzt. 9 Orduna macht eine spätere Überarbeitung für die Erweiterung des Textes und die Stiftung von Einheit und Kohärenz verantwortlich, vgl. Germán Orduna, Las redacciones del ‚Libro del cauallero Zifar‘, in: Jaume Vallcorba (ed.), Studia in honorem prof. M. de Riquer, 4 Bde., Bd. 4, Barcelona 1991, 283–299. Eine dreifache Autorschaft wird vorgeschlagen von Fernando Gómez Redondo, Los públicos del ‚Zifar‘, in: Leonardo Funes/José Luis Moure (edd.), Studia in honorem Germán Orduna, Alcalá de Henares 2001, 279–297. 10 Juan Manuel Cacho Blecua, Los ‚Castigos‘ y la educación de Garfín y Roboán en ‚El Libro del cavallero Zifar‘, in: Ana Menéndez Collera/Victoriano Roncero López (edd.), Nunca fue pena mayor. Estudios de Literatura Española en homenaje a Brian Dutton, Cuenca 1996a, 117–135.

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2.

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Der Prolog im historischen und politischen Kontext

Obwohl das Datum der Abfassung des ‚Libro del caballero Zifar‘ nicht genau bestimmt werden kann, scheint der Prolog des Werkes genügend Hinweise zu enthalten, um zumindest die Erstredaktion zeitnah an der Ankunft des Leichnams des Kardinals Don Gonzalo Pétrez oder Gonzalo García Gudiel in Toledo zu situieren.11 Die Gebeine des vormaligen Erzbischofs von Toledo und königlichen Kanzlers wurden 1301 vom Erzdiakon Ferrán Martínez mit Unterstützung der Königswitwe María de Molina und des jungen Königs Ferdinand IV. von Rom nach Spanien überführt. Dem Vorwort zufolge wurde der Triumphzug des Leichnams in Burgos von Ferdinand IV. selbst, dem Infanten Don Enrique el Senador, Don Diego López de Haro und anderen Adligen empfangen und von Peñafiel bis Toledo von Don Juan Manuel, dem zukünftigen Autor des ‚Conde Lucanor‘, und dem Erzbischof von Toledo, Don Gonzalo Díaz Palomeque, begleitet. Die Beschreibung dieses Ereignisses und die begeisterte Lobrede, die im Vorwort an Königin María de Molina gerichtet wird, lassen keinen Zweifel an der politischen Position des Autors, der sich in den Konflikten um die Herrschaft 11 Zu einer Datierung um 1300 vgl. Wagner 1903, 9f.; Erasmo Buceta, Algunas notas históricas al prólogo del ‚Cauallero Zifar‘, in: Revista de Filología Española 17 (1930), 18–36; sowie Ders., Nuevas notas históricas al prólogo del ‚Cauallero Zifar‘, in: Revista de Filología Española 17 (1930), 419–422; Ezio Levi, Il giubileo del MCCC nel più antico romanzo spagnuolo, in: Archivio della Reale Società Romana di Storia Patria, 56/57 (1933/1934), 133–155. Im Anschluss an die vielfältigen Hypothesen zur Problematik von Autorschaft und Datierung von Prolog und Text liefert die Studie von Pérez López neue Erkenntnisse, die die Abfassung des Prologs auf die Zeit vor 1310 datieren und ein späteres Datum verwerfen, vgl. José Luis Pérez López, ‚Libro del cavallero Zifar‘: cronología del Prólogo y datación de la obra a la luz de nuevos datos documentales, in: Vox Romanica 63 (2004), 200–228. Pérez López erweitert hier die Ergebnisse seiner Studie Algunos datos nuevos sobre Ferrand Martínez y sobre el prólogo del ‚Libro del cavallero Zifar‘, in: Rafael Alemany/Josep Lluís Martos/Josep Miquel Manzanaro (edd.), Actes del X Congrés Internacional de l’Associació Hispànica de Literatura Medieval, Alicante 2005, 3 Bde., Bd. 3, 1305–1319. Cuesta Torre datiert ebenfalls auf einen Zeitraum zwischen September 1301 und 1305, zu Beginn der tatsächlichen Herrschaftszeit von Ferdinand IV., vgl. María Luzdivina Cuesta Torre, Prólogos, fábulas y contexto histórico en el ‚Libro del caballero Zifar‘, in: Dies., ‚Esta fabla compuesta, de Isopete sacada‘: Estudios sobre la fábula en la literatura española del siglo XIV, Bern 2017, 11–64, hier vor allem 61–64. Cacho Blecua und Vaquero tendieren zu einem späteren Abfassungsdatum in den Jahren 1332–1333, so dass das Werk in etwa zeitgleich mit dem ‚Libro de buen amor‘ und dem Werk von Juan Manuel, in dem sich ähnliche Themenbereiche identifizieren lassen, entstanden wäre, vgl. Juan Manuel Cacho Blecua, Los problemas del ‚Zifar‘, in: Francisco Rico (ed.), Libro del caballero Zifar. Códice de París. Estudios, Barcelona 1996b, 55–94, hier 57–68; Mercedes Vaquero, Relectura del ‚Libro del cavallero Çifar‘ a la luz de algunas de sus referencias históricas, in: José Manuel Lucía Megías/Paloma García Alonso/Carmen Martín Daza (edd.), Actas del II Congreso Internacional de la Asociación Hispánica de Literatura Medieval, Alcalá de Henares 1992, 2 Bde., Bd. 2, 857–871.

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über das Reich nach dem Tod König Sanchos IV. eindeutig auf Seiten der Königin und des Erzbischofs von Toledo positioniert.12 Zu diesem Zeitpunkt beanspruchten mehrere Kandidaten den Königsthron, und auch die territoriale Integrität schien gefährdet, da einige der Aspiranten, wie der die Krone von León für sich beanspruchende Infant Don Juan, versuchten, das Königreich aufzuteilen. Doña María verteidigte die Rechte ihres Sohnes Ferdinand IV. mit aktiver Unterstützung von Don Gonzalo Díaz Palomeque, dem Neffen und Nachfolger von Don Gonzálo Pétrez im Erzbistum Toledo. Die Entstehung des ‚Libro del caballero Zifar‘ scheint eng mit den historischen Ereignissen verknüpft zu sein. Die Erzählstimme im Vorwort betont die Tugend der Dankbarkeit, die anhand der Taten von Ferrán Martínez verdeutlicht und als nachzuahmendes Vorbild herausgestellt wird, así como lo deben hacer todos los hombres de buen entendimiento y de buen conocer y que bien y merced reciben de otro13 („as should be all men of good judgement and prudence who receive favors and kindness from another“). Das Abfassen des Werkes, präsentiert als eine vom Chaldäischen ins Lateinische und vom Lateinischen ins Spanische übersetzte Geschichte, wird vom Erzähler mit dem guten Wirken von Ferrán Martínez verglichen. Es erscheint für den ‚Übersetzer‘ motiviert durch das Bedürfnis, einer jener buenos criados y leales („good and loyal servants“) zu sein, die ihrem Herrn über den Tod hinaus Dankbarkeit erweisen. Die Arbeit des ‚Übersetzers‘ wird somit zu einer Geste der Verbundenheit gegenüber einem Herrn, der möglicherweise bereits verstorben ist, und die im Anschluss erzählte Geschichte von Zifar, seiner Gattin und seinen Kindern, zum Dienst eines guten und treuen Dieners für seinen Herrn. Im kastilischen Kontext um 1301 waren die Fragen nach den Ursachen des Verlustes der Königswürde, nach dem Recht auf den Besitz der Krone und den Möglichkeiten, Herrschaft zu bewahren, hoch aktuell. Sie werden zu wiederkehrenden Themen in der gesamten Geschichte, die der dankbare und treue Erzähler des Werkes vermittelt. Einige fiktionale Ereignisse erinnerten die Öffentlichkeit sicherlich an andere, reale Begebenheiten, die nicht weit zurücklagen oder gar zeitgenössisch waren. Die Betrachtung des politischen Panoramas, in dem das Werk und das Vorwort entstanden, lassen es als Werkzeug politischer Propaganda erscheinen, das 12 Zur Verbindung zwischen den im Vorwort berichteten Ereignissen und den Lobreden auf Doña María de Molina und den Erzbischof von Toledo vgl. Cuesta Torre 2017. 13 González Muela 1982, 56; González 1998, 70. Die hier und im Folgenden verwendeten englischen Übersetzungen sind der Edition von Nelson entnommen: The Book of the Knight Zifar. A translation of El Libro del Cavallero Zifar, ed. u. übers. v. Charles L. Nelson, Lexington 1983, hier 5. Im vorliegenden Beitrag wird zumeist zu Beginn eines Kapitels die genaue Quelle des gesamten analysierten Abschnitts des ‚Libro del caballero Zifar‘ genannt, die daraufhin zitierten und untersuchten Einzelpassagen finden sich dort.

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als Zeichen der Dankbarkeit für erhaltene Vorteile verfasst wird.14 Die genaue Bestimmung der Kontexte ist jedoch aufgrund der Ungewissheit der Autorschaft, der Datierung des Werkes und der Möglichkeit der mehrfachen Autorschaft und verschiedener Fassungen äußerst schwierig. Zu Beginn der Regentschaft von Ferdinand IV. und Alfons XI. waren beide Könige jeweils noch minderjährig. Diese Phasen waren geprägt von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen adeligen Parteien, wobei die Rolle der Regentin María de Molina, der Gattin Sanchos IV., Mutter Ferdinands IV. und Großmutter Alfons’ XI., von grundlegender Bedeutung war. Vor diesem Hintergrund müssen die beiden Episoden des Werkes, in denen eine Herrscherin von ihren Feinden belästigt und vom Helden (Zifar oder seinem Sohn Roboán) beschützt wird, den Lesern der Zeit sehr vertraut gewesen sein. Die Hypothesen von der Zugehörigkeit des Autors zu den intellektuellen Kreisen um Erzbischof Gonzalo Pétrez Gudiel oder zu den politischen Zirkeln um Doña María de Molina erscheinen kongruent, da der Erzbischof einer der wichtigsten Unterstützer der Königin war. Was die Datierung des Werks betrifft, so lässt die erste Hypothese auf einen früheren Entstehungszeitpunkt schließen, während die zweite offener ist, da die Königin in zwei verschiedenen Zeiträumen als Vormundin eines minderjährigen Königs und Regentin fungierte. Nachdem sich die Forschung intensiv mit den Bezügen auf María de Molina im Werk auseinandergesetzt und auf Züge von Doña María in der Gattin Zifars und anderen weiblichen Figuren hingewiesen hat,15 sollen nun auch diejenigen Elemente im Text, die Parallelen zur Biographie von Sancho IV. herstellen, un14 Fernando Gómez Redondo, El ‚Zifar‘ y la ‚Crónica de Fernando IV‘, in: La Corónica 27, 3 (1999b), 105–123; Cuesta Torre 2017, 62–64. 15 Zu den Bezügen auf María de Molina im ‚Zifar‘ vgl. Gómez Redondo 1999b; Ders. 2001; Ders., Historia de la prosa medieval castellana II: El desarrollo de los géneros. La ficción caballeresca y el orden religioso, Madrid 1999a, 1371–1459; Ders., El ‚Libro del caballero Zifar‘: el modelo de la ‚ficción‘ molinista, in: Antonia Martínez Pérez/Carlos Alvar/ Francisco J. Flores (edd.), ‚Uno de los buenos del reino‘. Homenaje al Prof. Fernando D. Carmona, San Millán de la Cogolla 2003, 277–306, hier 282: „La ficción recoge todo este proceso de hechos y lo preserva, lo fija y lo convierte en pautas de actuación mantenidas a través de un doble sistema de personajes, en quienes se cumple el mantenimiento de las ‚buenas costumbres‘: Zifar, por sus virtudes caballerescas llegará a ser rey de Mentón, mientras que Grima, por sus dotes consiliarias, asegurará el mantenimiento de su linaje, ajustadas sus vidas a las trayectorias que habían protagonizado Sancho IV y doña María, mantenidos sus ejemplos durante las difíciles minoridades de Fernando IV y Alfonso XI.“ („Die Fiktion sammelt den gesamten Prozess der Wirklichkeit und bewahrt ihn, fixiert ihn und verwandelt ihn in Handlungsmuster, die aufrecht erhalten werden über ein doppeltes System von Charakteren, in denen sich der Erhalt der ‚guten Sitten‘ erfüllt: Die Geschichte von Zifar, der dank seiner ritterlichen Qualitäten König von Mentón wird, und Grima, die aufgrund ihres Talents als Beraterin den Erhalt des Geschlechts sichert, wird den Lebenswegen von Sancho IVund María de Molina während der schwierigen Phase der Minderjährigkeit von Ferdinand IV. und Alfons XI. angepasst.“)

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tersucht werden. Zwar wurde in einigen Studien zu den Bezügen auf María de Molina bereits auf Ähnlichkeiten zwischen Zifar und Sancho IV. hingewiesen, eine Reihe von Gemeinsamkeiten wurde jedoch außer Acht gelassen. König Sancho IV. kam auf unkonventionelle Weise an die Macht, die vom Adel und von seinem eigenen Vater Alfons X. dem Weisen in Frage gestellt wurde. Er wurde erst nach erbitterten juristischen Auseinandersetzungen zum Thronfolger ernannt, denn zum Zeitpunkt des Todes seines älteren Bruders Alfonso de la Cerda hatte dieser bereits zwei Kinder, die Infanten de la Cerda, die ebenfalls Ansprüche auf die Krone geltend machen konnten. Nicht nur war die Ernennung Sanchos fragwürdig, vielmehr führte die Konfrontation mit seinem eigenen Vater später zu einem Bürgerkrieg und zur de facto, wenn auch nicht de iure, Entthronung Alfons’ X. Dieser verfasste ein neues Testament, das Sancho enterbte und die Infanten de la Cerda und seine anderen Nachkommen bevorzugte.16 Sowohl der historische König als auch Zifar gehören einem Königsgeschlecht an, doch sind beide zu Beginn ihrer Geschichte keine Thronfolger. Trotzdem sehen sie sich als von Gott auserwählt und dazu bestimmt, Könige zu werden. Ihre Vorfahren (Tared bzw. Alfons X.) haben wegen ihrer schlechten Regierungsführung die Königswürde verloren. Beide erhalten den Thron durch ihre eigenen Verdienste im Krieg: Sanchos militärische Erfahrung war einer der Gründe, weshalb er gegenüber den Erben von Fernando de la Cerda bevorzugt wurde, da die Herrschaft eines Kindes in einem für das Königreich gefährlichen Moment eine unerwünschte Phase politischer Instabilität verursachen konnte. In gewisser Weise begehen sowohl Zifar als auch Sancho Bigamie: Zifar heiratet zum zweiten Mal in dem Glauben, verwitwet zu sein, während Sancho noch vor der Auflösung seiner ersten Ehe zum zweiten Mal heiratet. Ihren Ehefrauen kommt Vorbildcharakter zu und sie fungieren als Beraterinnen. Als beide Könige an die Macht kommen, verteidigen sie diese energisch, und ein großer Feudalherr wird von ihnen unter dem Vorwurf des Verrats verurteilt: Graf Nasón rebelliert gegen den König von Mentón und Don Lope Díaz III. de Haro, der achte Herr von Biskaia, Hofmeister und Ratgeber Sanchos, wird 1288 nach dem Streit von Alfaro wegen Rebellion hingerichtet. Schließlich vermitteln beide ihren Kindern ihr Wissen über die Staatsführung, entweder in (fingierter) mündlicher Form durch die ‚Castigos del Rey de Mentón‘ oder in schriftlicher Form durch den unter Sanchos Supervision verfassten Fürstenspiegel ‚Los Castigos y documentos de Sancho IV para su hijo don Fernando‘ („Belehrungen und Aufzeichnungen von Sancho IV. für seinen Sohn Don Ferdinand“). In den Biographien beider Könige geht es um das gleiche Thema, den Erwerb und Erhalt von Macht. Zifars Geschichte wird, wie gezeigt, durch die Abenteuer seines Sohnes Roboán vervollständigt, die die Ereignisse der Regierungszeit Ferdinands IV. 16 Vgl. Carmona Ruiz 2018/2019.

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nachbilden.17 Der problematische Beginn der Herrschaft von Ferdinand IV. erklärt die Notwendigkeit einer intensiven politischen Propagandakampagne, um die Unterstützung seiner Gefolgsleute zu gewinnen. Wie bereits erwähnt, heiratete Sancho Doña María ohne päpstliche Erlaubnis, trotz ihrer engen Verwandtschaft und einer bereits bestehenden Ehe. Auch wenn es seine Feinde nicht wagten, ihn zu Lebzeiten offen als Bigamisten oder Ehebrecher zu beschuldigen und seinen Erben als illegitim zu bezeichnen, so wurden diese Anschuldigungen nach seinem Tod umgehend von denjenigen aufgegriffen, die die Königswürde seines Sohns Ferdinand IV. anfochten und diesem den Thron im offenen Krieg streitig machten.18 Das Erzbistum Toledo, das stets auf Seiten Sanchos stand, erwirkte schließlich am 6. September 1301 die nachträgliche päpstliche Heiratserlaubnis.19 Zu dieser Zeit ist auch die zentrale Episode des Prologs angesiedelt: der feierliche Einzug des Leichnams des vormaligen, in Rom verstorbenen Erzbischofs, Kardinal Don Gonzalo Pétrez oder Gonzalo García Gudiel in Toledo. Dieser war zudem Kanzler Sanchos IV. gewesen, hatte dessen Heirat mit María de Molina und seine Bestattung in der Kathedrale von Toledo begleitet, sowie wiederholt versucht, die nunmehr durch die Vermittlung seines Neffen und Nachfolgers Gonzalo Díaz Palomeque erteilte Heiratserlaubnis zu erlangen. Die päpstliche Zustimmung ermöglicht es Ferdinand IV., zeitgleich Volljährigkeit, Legitimität und die volle Herrschaft über das Königreich zu erlangen und damit diese konfliktreiche Phase seiner Regentschaft zu beenden. Der Einzug des Leichnams stimmt hierbei zeitlich mit der Nachricht des päpstlichen Dispenses überein. Die vollständige Befriedung des Königreichs nahm jedoch noch einige Jahre in Anspruch, bis zum Abschluss der Abkommen mit den Infanten de la Cerda, 1305 in Ariza in Anwesenheit des Erzbischofs von Toledo, woraufhin diese schließlich ihre Herrschaftsansprüche aufgaben, und im Vorjahr mit dem König von Aragonien.20 Die Regierungszeit Ferdinands IV. war dennoch kurz und nach seinem Tod sah sich sein noch minderjähriger Nachfolger Alfons XI. mit einer

17 Gómez Redondo merkt an, dass der erste Teil des Werks, mit den Abenteuern von Zifar und seiner Frau Grima, die Lebenswege von María de Molina und Sancho IV. aufgreift, während der letzte Teil um Roboán dem Leben ihres Sohnes Ferdinand IV. entspricht, vgl. Gómez Redondo 1999b; Ders. 1999a, 1393f. Zur Weiterentwicklung dieser Hypothese vgl. Cuesta Torre 2017. 18 Nach dem Tod von Sancho IV. erklärte sich sein Bruder Juan zum König von León, Galizien und Sevilla, während Alfonso de la Cerda das gesamte Reich für sich beanspruchte und sich zum König von Kastilien und León ausrief. Es kam zu einer Allianz zwischen beiden, um das Reich Ferdinands IV. aufzuteilen: Juan, der Onkel des neuen Königs, sollte König von León werden, und Alfonso de la Cerda, der Sohn des Erstgeborenen von Alfons X., würde König von Kastilien, vgl. Jofré de Loaysa, Crónica de los reyes de Castilla, ed. u. übers. v. Antonio García Martínez, Murcia 1982, 171–175. 19 Pérez López 2004, 209. 20 Cuesta Torre 2017, 134.

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ähnlich konfliktreichen Situation konfrontiert, auch wenn in seinem Fall die Königswürde nicht angezweifelt wurde. Die Zeit der Minderjährigkeit Ferdinands IV. war entscheidend für die Bemühungen von Doña Maria und ihrer Parteigänger, den Verlust der Herrschaft über das Königreich zu verhindern. Die Macht des jungen Königs wurde bedroht durch den Aufstand seiner Vasallen, in seinem eigenen Territorium etwa der Infant Don Juan, durch Feinde im Inneren wie im Äußeren, wie die Infanten de la Cerda und ihre Verbündeten, und durch die Hinterfragung seiner Erbrechte. Möglicherweise sind im ‚Libro del caballero Zifar‘ aus diesem Grund die Ursachen für den Verlust eines Königreichs und Beispiele, wie im Angesicht unterschiedlicher Risiken zu handeln ist, rekurrente Themen. Vor dem Hintergrund dieses historischen Panoramas erscheint die Auseinandersetzung mit einigen der Passagen des Werkes, die sich mit dem Herrschaftsverlust eines Königs oder Herrschers befassen, lohnenswert.

3.

Der Dialog zwischen Zifar als Kind und seinem Großvater: Gründe für den Verlust von Herrschaft

Zifar selbst fungiert zu Beginn des Werkes als Erzähler und erklärt, dass die Königswürde nicht unveränderlich ist, sondern ein Gut, das zusammen mit der Herrschaft verdient werden oder verloren gehen kann. Untersucht werden soll im Folgenden ein Abschnitt, in dem er mit seiner Gattin Grima über seine Zukunftsabsichten und seine gegenwärtige Armut spricht und sich dabei an ein Gespräch erinnert, das er als Kind mit seinem sterbenden Großvater führte.21 Die Dramatik und das Thema der damaligen Situation erklären ausreichend, warum ihm dieses Gespräch im Gedächtnis geblieben ist. Die Beschreibung des Gesprächs spielt sich unter besonderen Umständen ab, denn zuvor erzählt Zifar seiner Frau einige Exempla, die sie dazu veranlassen sollen, sein bestgehütetes Geheimnis (poridad) zu bewahren, que nunca dije a cosa del mundo, pero siempre la tuve guardada en mi corazón („I have never told any person in the world, but have always kept in my heart“). Die Bedeutung der Angelegenheit wird unterstrichen durch die Bitte um Diskretion und Geheimhaltung, durch das Lob der Zuhörerin – porque yo sé cuál es vuestra inteligencia y cuán guardada fuiste en todas cosas („[b]ecause I know how prudent you are and how careful you are in all matters“) – und durch die Bezeichnung der einsetzenden Geschichte als confesión oder vertrauliche Mitteilung („in confidence“). Noch vor der Enthüllung des Geheimnisses erklärt er, er werde von seinem Wunsch erzählen, etwas so 21 González Muela 1982, 76–78; González 1998, 92–94; engl. Übers. Nelson 1983, 20f.

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Großes zu erreichen, que me tendrían los hombres a gran locura si la dijese („that men would consider a great madness if I should tell it“). Zudem glaube er, dass es Gott selbst war, der ihm dieses Bestreben eingab, und dass er seine von Gott gegebenen Gaben verschwenden würde, wenn er nicht versuchte, ihm zu folgen. Da er bis dahin nicht erwähnt, was dieses Begehren, diese demanda („quest“) ist, steigt auch die Erwartung des Lesers. Zifar, als Figur und Erzähler zugleich, spricht sowohl fiktionsintern mit seiner Ehefrau als auch mit dem Adressaten oder idealen Leser seines Werks. Darüber hinaus ist Zifar in der Folge auch Teil seiner eigenen Erzählung, wenn auch in der Vergangenheit, als er noch ein Kind war. Die Rezeption und Interpretation durch den Leser wird hierbei auf der Ebene der Erzählung von derjenigen seiner Gattin Grima gelenkt. Dem Autor gelingt es so, den Status der Erinnerung hervorzuheben, die von einem Protagonisten und Zeugen aus der eigenen Perspektive berichtet wird. Sie wird zudem durch den Gesprächsrahmen erweitert, wenn der Erzählung die Ansprache Zifars an Grima voran- und eine Antwort Grimas nachgestellt wird. Darüber hinaus stellt der Autor eine Parallele zwischen Grima und dem Leser seines Werkes her, die gleichzeitig über denselben Erzähler an der Geschichte teilhaben. Dieser Dialog wird wiederum von zwei Einschüben des primären Erzählers eingefasst, der den externen Blickwinkel einer allwissenden dritten Erzählinstanz einnimmt. Im ersten erläutert er, wer Zifar ist, nennt Daten zu seiner Person, seiner prekären Situation und seiner Denkweise, um so den Dialog mit seiner Gattin einzuleiten.22 Im nachgestellten Einschub liefert er ergänzende Informationen zur Erzählung Zifars und bewertet diese.23 Aus der inneren Logik des Protagonisten heraus rechtfertigen seine Erinnerungen seine späteren Handlungen und die seiner Familie. Sie deuten dem Leser in prophetischer Weise die spätere Handlung voraus und halten zugleich sein Interesse an den späteren Ereignissen, die Zifar die Umsetzung seiner demanda ermöglichen, aufrecht. So ist die Erzählung der Kindheitserinnerung zugleich eine Analepse und eine Prolepse. Die erste bezieht sich auf den Verlust der Herrschaft durch einen Vorfahren Zifars und die zweite auf das eigene Erlangen von Herrschaft. Beide Themen sind in den Fragen enthalten, die Zifar als Kind seinem Großvater stellt: ‚Amiga señora‘, dijo el caballero Zifar, ‚yo, siendo mozo pequeño en casa de mi abuelo, oí decir que oyera a su padre que venía de linaje de reyes; y yo, como atrevido, pregunté que cómo se perdiera aquel linaje, por qué fuera depuesto, y qué hiciera rey a un caballero simple, aunque fuera muy buen hombre y de buen seso natural y amador de la justicia y cumplido de todas buenas costumbres.‘ ‚¿Y cómo, amigo?‘, dijo él, ‚¿por qué tan ligera cosa tienes que es hacer y deshacer rey? Ciertamente con gran fuerza de maldad se 22 González Muela 1982, 58–63; González 1998, 75–79; engl. Übers. Nelson 1983, 8–10. 23 González Muela 1982, 79–82; González 1998, 95–98; engl. Übers. Nelson 1983, 22–24.

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deshace y con gran fuerza de bondad y de buenas costumbres se hace. Y esta maldad o esta bondad viene tan bien de parte de aquel que es o ha de ser rey, como de aquellos que lo deshacen o lo hacen.‘ ‚Y si nosotros de tan gran lugar venimos‘, dije, ‚¿cómo quedamos pobres?‘ Respondió mi abuelo; dijo que ‚por maldad de aquel rey de donde descendemos, porque por su maldad nos abajaron así como tú ves. Y ciertamente no he esperanza‘, dijo mi abuelo, ‚que vuestro linaje y nuestro se recobre, hasta que otro venga de nosotros que sea contrario de aquel rey, y haga bondad y tenga buenas costumbres, y el rey que fuere ese tiempo que sea malo, y lo tengan que deponer por su maldad y este hagan rey por su bondad. Y puede esto ser con la merced de Dios.‘ ‚¿Y si yo fuese de buenas costumbres‘, dije yo, ‚podría llegar a tan alto lugar?‘ Y él me respondió riéndose mucho, y me dijo así: ‚Amigo pequeño de días y de buen entendimiento, dígote que sí, si bien te esforzaras a ello y no te enojaras de hacer bien; porque por bien hacer bien puede hombre subir a alto lugar.‘ Y esto diciendo, tomando gran placer en su corazón, santiguó a sí y a mí, y dejose luego morir, riéndose ante aquellos que allí estaban. Y maravilláronse todos de la muerte de aquel mi abuelo que así aconteciera. Y estas palabras que mi abuelo me dijo de tal modo se quedaron en mi corazón que propuse entonces de ir por esta demanda adelante; aunque me quiero partir de este propósito, no puedo; porque durmiendo se me viene en mente, y velando eso mismo. Y si Dios me hace alguna merced en hecho de armas, pienso que me lo hace porque se me venga en mente la palabra de mi abuelo. Mas señora’ – dijo el caballero –, ‚yo veo que vivimos aquí a gran deshonra de nos y en gran pobredad, y si por bien lo tuviéseis, creo que sería bien de nos ir para otro reino, donde no nos conociesen, y quién sabe si mudaremos ventura.‘ „‚Dear wife‘, said the Knight Zifar, ‚when I was a small boy in my grandfather’s house, I heard that his father had said that he came from royal ancestry. I audaciously asked how that royal lineage had been lost, and he told me that it had been lost through the wickedness and wongdoings [sic] of a king in his family line. He was deposed and they made a simple knight king. However, he was a very good man, of good common sense, a lover of justice, and a complete gentleman in all ways.‘ I asked him, ‚Can a king be made or deposed so easily?‘ He replied: ‚So, my friend, you think it is such an easy matter to make or to unmake a king? Of course, because of great evil he can be deposed and by the great strength of goodness and fine qualities he can become a king. This evil or virtue lives within the one who is king or who is to be a king as well as within these who depose or make him.‘ ‚And if we came from such high position,‘ I said, ‚why are we poor?‘ My grandfather answered: ‚It was through the evil of the king from whom we are descended that we have come to such humble station as you now see. And I in truth have no hope that I will regain your rightful inheritance and ours until another member of our family comes who is the opposite of that deposed king – one who does good deeds and is virtuous. If the king who reigns at that time is wicked, they will depose him for wickedness and make the latter king on account of his virtues. And this can be true with the grace of God.‘ ‚And if I were so exemplary,‘ I said, ‚would I be able to reach such high estate?‘ He answered me with a smile, ‚My very young and wise friend, I say that you can, with the grace of God, if you strive hard and do not tire of doing good. By doing good, a man can surely rise to high position.‘ Having said this, and deeply satisfied, he made the sign of the cross over himself and me and relinquished his hold on life, smiling in the presence of all who were there. Everyone marveled at the manner of the death of my

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grandfather. These words that my grandfather said to me touched my heart in such a way that I proposed then to reach for that goal from that day forward. No matter how much I want to abandon that goal, I am unable to, for it always comes into my mind whether I am sleeping or awake. If God favors me in some feat of arms, I believe that I can do it because the words of my grandfather come to my mind. Moreover, lady, ‚I see that we are living here in degradation and in great poverty, and if you consider it proper, I think it would be better for us to go to another kingdom where we are unknown and perhaps our fortune will change.‘“

Zifars Erzählung gibt seine kindlich-naive Frage und die Antwort des Großvaters wieder, die mit der notwendigen Einfachheit formuliert ist, um von einem Kind verstanden zu werden, und trotzdem mehrere Faktoren berücksichtigt. Auf der einen Seite steht die königliche Abstammung, die als Voraussetzung für das Erlangen der Königswürde angenommen wird. Noch wichtiger jedoch ist die Anforderung der Güte: Trotz königlicher Abstammung kann ein unbarmherziger Herrscher die Königswürde verlieren, wie im Fall seines Vorfahren. Der dritte Faktor, der nur angedeutet wird, ist derjenige der Gefolgsleute, die den König krönen oder stürzen können: Selbst ein guter König kann von schlechten Vasallen vom Thron vertrieben werden. Ebenso können gute Vasallen einen unwürdigen König auf dem Thron halten oder einen guten Menschen zum König erheben. Viertens, gehorcht alles, was geschieht, dem Willen Gottes, und es ist Gott, der Könige zugleich erschafft und vernichtet. Das Kind begreift diese Lehren schnell und wendet sie auf sich selbst an. Der Großvater bestätigt, Zifar selbst könne durch Anstrengung und Beharren auf dem Guten König werden. Die Handlungen des alten Mannes unterstützen zusätzlich seine Worte, indem er Zifar segnet und anschließend mit einem Lachen stirbt. Die seltsame Freude im Moment des Todes und der erteilte Segen suggerieren dem Kind Zifar auf der Binnenebene der Erzählung – und dem Leser auf einer externen Ebene – den prophetischen Kern seiner letzten Worte. Der erwachsene, erzählende und sich erinnernde Zifar schreibt ihnen ebenfalls einen wahrhaftigen Status zu und versucht, ihnen in seinem Leben zu folgen. Seine Gattin, als Empfängerin des erinnerten Berichts, bestätigt die Wahrhaftigkeit der Worte des Großvaters und bekräftigt ihre Unterstützung der Entscheidung Zifars, sich auf die Suche nach seinem Schicksal zu begeben. Der Leser versteht seinerseits, dass hier ein narratives Programm entworfen wird, das den Kern der Erzählung auf die Rückgewinnung der verlorenen Herrschaft fokussiert. Der Autor führt ihm die Bedingungen für den Erfolg des Protagonisten vor, die sich im Laufe der Erzählung erfüllen werden: die Gutherzigkeit und das ritterliche Verhalten des erwachsenen Zifar, seine Beständigkeit und Beharrlichkeit trotz langwieriger Mühen und Hindernisse, die Hilfe guter Gefolgsleute, das Vorhandensein eines Königs, der sein Reich aufgrund

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seiner eigenen Bosheit oder der seiner Untergebenen verliert, vor allem aber die Hilfe Gottes. Tatsächlich ist der erste Teil des ‚Libro del caballero Zifar‘ der Erfüllung dieses narrativen Programms gewidmet. Mit der Rettung der von einer feindlichen Armee umzingelten Herrscherin von Galapien vollbringt Zifar eine gute Tat und beweist sowohl ritterlichen Mut als auch moralische Größe. Ihm wird eine Belohnung angeboten, jedoch entscheidet er, dass es dies noch nicht sein kann, was Gott ihm durch die Worte seines Großvaters in Aussicht stellte, und setzt seinen Weg fort. Die verschiedenen Herausforderungen, mit denen er nun konfrontiert wird, der Verlust seiner Kinder, die Entführung seiner Gattin, der Tod seiner Pferde und extreme Armut, belegen dem Leser seine Standhaftigkeit und sein Beharren auf dem Guten. Das dritte Element in der Geschichte nimmt die Form eines bescheidenen Soldaten an, der zum Gefolgsmann Zifars wird und ihm aufzeigt, wie er ein Königreich erlangen kann: indem er den militärischen Sieg des Königs von Mentón über den König von Ester ermöglicht und dessen Tochter heiratet. Dieser Sieg wird erreicht durch einen Kampf gegen die hochrangigsten Ritter der feindlichen Armee, den Sohn und den Neffen des Königs von Ester. Dabei wird Zifar von Gott geholfen, den er als seinen Begleiter im Kampf präsentiert. Durch seine Heirat mit der Tochter des Königs von Mentón wird Zifar nach dessen Tod zu seinem Nachfolger. So erfüllt sich das im Gespräch zwischen Großvater und Enkel angekündigte Programm in allen Einzelheiten, mit einer Ausnahme: Es müsste zudem einen König geben, der sein Königreich durch sein Fehlverhalten oder das seiner Vasallen verliert. Zifar erlangt seine Macht durch seine Ehe und erbt das Königreich eines Monarchen ohne männlichen Erben. Auf diese Möglichkeit wurde in der Rede des Großvaters nicht hingewiesen. Warum also den möglichen Verlust des Königreichs betonen? Offensichtlich dient dies dazu, den Niedergang der Familie Zifars zu erklären, wie der Erzähler im Anschluss an den Dialog zwischen Zifar und Grima betont: Y este caballero Zifar, según se halla por las historias antiguas, fue del linaje del rey Tared, que se perdió por sus malas costumbres; aunque otros reyes de su linaje hubo allí antes muy buenos y de buenas costumbres. Mas la raíz de los reyes y de los linajes se desarraiga y se abaja por dos cosas: lo uno por malas costumbres, y lo otro por gran pobreza.24 „This Knight Zifar, according to ancient history, was descended from King Tared, who was ruined because of his evil traits. However, other kings of his lineage before him were good and enlightened. But the foundations of kings and royalty are uprooted and humbled on account of two things: one is evil character and the other is extreme poverty.“ 24 González Muela 1982, 79; González 1998, 95; engl. Übers. Nelson 1983, 22.

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Obwohl das Buch eine gewisse soziale Mobilität verteidigt und beispielsweise den Aufstieg des Soldaten und Vasallen Zifars vom Gehilfen eines Fischers zum Grafen darstellt, wird die Möglichkeit des Aufstiegs zum König für all diejenigen ausgeschlossen, die nicht aus einem königlichen Geschlecht stammen. Der Erzähler möchte seinen idealen Lesern zeigen, dass die in der Rede des Großvaters festgelegte Bedingung bereits erfüllt ist, bevor Zifar seine Reise beginnt: Der König, der sein Königreich verlieren musste, damit ein gesitteter und edelmütiger Ritter es wiedererlangen kann, ist Tared, der Vorfahr von Zifar.25 Zum Zeitpunkt der einsetzenden Verbreitung des Werks lasen es die Rezipienten im Kontext einer ähnlichen Realität wie diejenige, die dem Autor als Inspiration seines literarischen Schaffens diente. Damit Sancho IV. König werden konnte, musste auch Alfons X. die Herrschaft über sein Königreich verlieren, darüber hinaus musste sein älterer Bruder Alfonso de la Cerda notwendigerweise sterben. In der ‚Crónica de Alfonso X‘ nimmt der Chronist einige Worte von Sancho an seinen Vater auf, die den Tod seines Bruders als Eingreifen Gottes beschreiben, um es ihm zu ermöglichen, den Thron zu besteigen.26 Zu den bereits erwähnten Parallelen zwischen den Biographien von König Sancho IV. und Zifar gehört der Verlust des Königreichs durch das Fehlverhalten eines Vorfahren. Im Falle von Zifar ist dieser Verlust ein zeitlich und genealogisch weit entferntes Ereignis, das der Zeit seines Großvaters vorausgeht. Im Falle von Sancho IV. war es jedoch ein Ereignis, das seinen eigenen Vater betraf und an dem er selbst aktiv beteiligt war. Wenn das Werk die Gründe erklärt, warum ein König seine Herrschaft verlieren kann, rechtfertigt es das Handeln von Sancho IV., der seinem Vater die Regierungsgewalt entriss. Sancho IV. wurde König, weil Alfons X. von einem wichtigen Teil seiner Vasallen abgelehnt wurde. Sie beschuldigten ihn, das Königreich in die Armut zu treiben und ungerecht zu handeln, und setzten seinen Sohn als Regenten ein. In gewissem Sinne verlor Alfons X. sein Königreich ‚aufgrund großer Armut‘, die ihn zwang, seine Untertanen mit neuen Steuern zu belasten und die Währung abzuwerten. Dieselben Vasallen unterstützten Sancho auch nach dem Tod Alfons’ X., indem sie die Gültigkeit des väterlichen Testaments, in dem er enterbt wurde, negierten.27 So

25 Von Richthofen führt an, dass die Charaktere zurückgehen auf Mithridates VI. Eupator, den König von Pontos, und seinen Sohn Xiphares, sowie auf den armenischen König Trdat, vgl. Erich von Richthofen, Los crímenes del rey ‚Tared‘ histórico y el origen del nombre de su redentor ‚Cifar‘, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 10 (1986), 423–431. 26 Crónica de Alfonso X, ed. Manuel González Jiménez, Murcia 1998, 219: Non me hicisteis vos [heredero del reino], sino que me hizo Dios, e hizo mucho para hacerme, porque mató a un hermano que era mayor que yo y era vuestro heredero de estos reinos si él viviera más que vos. Y no lo mató por otra cosa sino porque lo heredase yo después de vuestros días. 27 Sancho IV. erklärte später, dass sich beide nachträglich ausgesöhnt hätten. Ob dies wirklich stattfand, ist umstritten. Erhalten ist eine von Alfons X. an den Papst gesandte Nachricht zu

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konnte der Verweis auf den König, der seine Macht wegen der Verarmung des Reichs und seiner schlechten Eigenschaften verliert (wie Tared), und auf den Erben, der mit Gesittung und Ritterlichkeit das Königreich wiedergewinnt (wie Zifar), von den adligen und klerikalen Unterstützern Sanchos IV. und seines Sohns Ferdinand IV. als Anklage gegen Alfons X. und Lobrede für Sancho IV. interpretiert werden.

4.

Der Herrschaftsverlust schlechter Herrscher: Die Exempla vom König von Ephesus und vom Kaiser von Armenien

Im zentralen Teil des ‚Libro del caballero Zifar‘ werden die Heldentaten der Söhne von Zifar zusammengetragen, die ihr ritterliches Geschick im Krieg gegen den verräterischen Grafen Nasón unter Beweis stellen, das Reich des Vaters verteidigen und als Schüler der Lehren ihres Vaters in seiner Rolle als König von Mentón dargestellt werden. Unter den zahlreichen Ratschlägen und Warnungen des Königs wird das Thema des Verlusts der Herrschaft in zwei Kapiteln besonders behandelt: Del ejemplo que dijo el rey de Mentón a sus hijos sobre lo que le aconteció a un rey de Éfeso con uno de sus vasallos28 („Of the parable that the king of Mentón told his sons about a king of Ephesus and one of his vassals“) und am Beispiel eines Kaisers von Armenien: Sobre cómo el rey de Mentón decía a sus hijos que los señores deben de guardar todas sus tierras y todos los lugares de impuestos desmesurados („Of how the king of Mentón told his sons how lords must protect all their lands and all the places of discontent“).29 In beiden Fällen agiert Zifar als Erzähler, der eine kurze fiktive Geschichte in seine didaktischen Ausführungen einbezieht, um seinen als externe Adressaten auftretenden Söhnen30 die zuvor theoretisch formulierte Lehre zu veranschaulichen. Die Infanten hören ohne selbst das Wort zu ergreifen zu, bis ihr Vater seine umfangreiche didaktische Rede beendet. Dann beschreibt der primäre Erzähler die Dankbarkeitsbezeugungen der beiden Söhne und lässt zunächst Garfín, den älteren Bruder, dann Roboán sprechen.

diesem Ereignis, die Sancho IV. jedoch nicht bekannt war, vgl. González Jiménez 1998, 241, Anmerkung 389. 28 González Muela 1982, 297–300; González 1998, 325–329; engl. Übers. Nelson 1983, 206– 209. 29 González Muela 1982, 315; González 1998, 341–343; engl. Übers. Nelson 1983, 219–221. 30 Hierzu Gómez Redondo 2000: „Garfín y Roboán, los hijos, están actuando a imagen y semejanza de los receptores externos“ (85), sowie: „El recitador externo […] ha cedido al rey de Mentón todas las características de su voz discursiva“ (86).

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Die Geschichte des armenischen Kaisers fasst anhand dieser fiktiven Gestalt die Ereignisse zusammen, die dazu führten, dass König Alfons X. sein Königreich verlor. Die Ähnlichkeiten zwischen den Formulierungen Zifars und den von Jofré de Loaysa in seiner Chronik um 1305 verwendeten Begriffen wurden bereits von Hernández aufgezeigt.31 Im Text des Absetzungsurteils gegen Alfons X. wird ihm versagt, Recht zu sprechen, da er zahlreiche Adlige widerrechtlich hinrichten ließ, sowie in Dörfern oder Festungen als Herr empfangen zu werden und diese gar zu besitzen, seine schriftlichen Befehle ausführen zu lassen und Steuern, Dienstleistungen oder Gelder zu erhalten.32 Die Herstellung minderwertigen Geldes, die Einbehaltung von Geld besserer Qualität und die Erhebung überhöhter Steuern ist auch das Vergehen des armenischen Kaisers. Die Strafe ist in der historischen Realität und in der Fiktion die gleiche, denn das Volk lehnt sich gegen seinen Herrscher auf, y no lo quisieron recibir en ninguno de sus lugares. Y lo que fue peor, aquellos que esto le aconsejaron se unieron a los pueblos contra su emperador, de manera que murió desheredado y muy pobre33 („and refused to welcome him in any of his towns. And what was worse, those who advised this, sided with the people against the emperor, so that he died fallen from favor and sorely afflicted“). Im Exemplum des Königs von Ephesus wiederum wird von einem bösen König und einem ihm untergebenen Grafen erzählt. Letzterem gelingt es, die anderen Vasallen gegen den König, der schließlich gesteinigt wird, aufzubringen. Im Anschluss an die Geschichte erläutert Zifar seinen Söhnen, dass die Vasallen no miraron, los mezquinos, que caían en traición, que es una de las peores cosas en que puede caer un hombre („The wretches paid no heed to how they had committed treason, for it is one of the worst things which a man can do“). Obwohl er das Handeln der Vasallen nicht gutheißt, weist er die hauptsächliche Schuld dem Herrscher zu, denn esto pudiera evitar el rey si él quisiera mejor guardar y vivir con los de su tierra así como debía, sin mentirles y sin querer andar con ellos en astucias y engaños34 („the king could have avoided this if he had wanted to protect his people and to live with them as was right, by avoiding lying to them and by being disposed to deal lawfully with them“). Der Grund für das Fehlverhalten des Königs wird nicht so deutlich erklärt wie im vorherigen Fall und scheint im Wesentlichen aus der Hinterlistigkeit des Monarchen zu bestehen: Er bittet um Rat, ohne die Absicht, diesem zu folgen, sondern um seine Untertanen zu täuschen und sie gegeneinander auszuspielen, sammelt Argumente, um sie zu

31 Zur Möglichkeit von Loaysa als Autor des ‚Libro del caballero Zifar‘ vgl. Cuesta Torre 2017, 56–61. 32 Vgl. González Jiménez 1998, 223f., Anmerkung 337. 33 González Muela 1982, 315; González 1998, 342; engl. Übers. Nelson 1983, 220. 34 González Muela 1982, 300; González 1998, 327; engl. Übers. Nelson 1983, 208.

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entehren oder beschuldigt sie fälschlicherweise, um ihnen ihre Macht oder sogar ihr Leben zu nehmen. So bieten die ‚Castigos del rey de Mentón‘ zwei Beispiele für schlechtes Verhalten des Herrschers, die mit dessen Absetzung enden: In einem Fall geht es um wirtschaftliche Fragen wie Steuern und den Wert der Währung, im anderen Fall um Fragen der Ehre und des Lebens. Auch die Handlungen der Vasallen werden in beiden Fällen nicht in gleichem Maße als gewalttätig oder unrechtmäßig dargestellt. Das gemäßigte Verhalten der Untertanen des Kaisers von Armenien ist in vielerlei Hinsicht ähnlich wie das der von Sancho IV. angeführten Aufständischen gegen Alfons X., weshalb Zifar dessen Strafe besonders hervorhebt. Der Angriff auf das Leben des Königs von Ephesus wiederum findet im Text keine Zustimmung. Mit diesen beiden Beispielen wird das Thema des Herrschaftsverlusts aufgegriffen, und es werden zwei der drei Fälle, von denen Zifars Großvater zu Beginn des Werkes spricht, exemplarisch abgehandelt: der Verlust der Herrschaft aufgrund der Armut des Herrschers, obwohl seine Gefolgsleute gut sind, und der Verlust der Herrschaft aufgrund der Böswilligkeit des Herrschers und der Vasallen. Es verbleibt noch das Beispiel des Herrschaftsverlusts des guten Herrschers durch schlechte Gefolgsleute. Wie später zu zeigen sein wird, tritt dieser Fall im Werk nur als Bedrohung auf, denn dem guten König Zifar und dem guten Kaiser Roboán gelingt es, Aufstände schlechter Vasallen zu verhindern und die Gefahr der Rebellion mit militärischen Fähigkeiten und dem Anspruch ihrer gerechten Sache abzuwenden. Das Werk zeigt darüber hinaus auch, wie Herrschaftsverlust zu vermeiden ist, wenn die Vasallen gut sind und der schlechte Herrscher seine Böswilligkeit bereut.

5.

Die Episode des Grafen von Turbia oder wie man die gefährdete Herrschaft rettet

Das Thema des Herrschaftsverlusts durch das Fehlverhalten des Herrschers wird im letzten Teil des Buches, im Teil von Roboán, wieder aufgegriffen, wenn der zweite Sohn Zifars seinem Vater nacheifert und ihn in seinen Leistungen übertrifft. Die Episode des Grafen von Turbia,35 in der Roboán dem Leser, ähnlich wie schon sein Vater, als weiser und besonnener Ratgeber nicht nur in militärischen Angelegenheiten vorgestellt wird, ist thematisch mit dem Gespräch zwischen Zifar als Kind und seinem Großvater sowie den Exempla vom König von Ephesus und vom Kaiser von Armenien verknüpft. 35 González Muela 1982, 363–369; González 1998, 391–396; engl. Übers. Nelson 1983, 259– 264.

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Das Thema der Herrschaft zieht sich als roter Faden durch die Episoden um Roboán nach seiner Abreise aus dem Königreich von Mentón, etwa wenn er der Infantin von Pandulfa bei ihrem Krieg gegen einen benachbarten König oder dem Grafen von Turbia beim Streit mit seinen Vasallen hilft, die Freundschaft des Kaisers von Trigridia gewinnt und dank guter Ratschläge an dessen Hof aufsteigt, den Kaisertitel auf den Islas Dotadas erhält und wieder verliert, das Reich von Trigridia durch Erbschaft erlangt oder Krieg führt, um aufständische Vasallen und Könige zu unterwerfen und das Reich zu befrieden. Hierbei erscheint das Thema in zwei Varianten: die Verteidigung von gefährdeter Herrschaft und die Erlangung von Herrschaft. Letzterer Variante wird allerdings weitaus weniger Raum eingeräumt, da sie lediglich hinführt zur Diskussion über die Notwendigkeit der Verteidigung und Erhaltung des Erlangten. Der mögliche Verlust der Herrschaft, der zu ihrer aktiven Verteidigung zwingt, wird im Werk durch verschiedene Ursachen hervorgerufen, die einzeln oder in Kombination auftreten können: der Angriff von außen durch einen anderen Herrscher gleicher oder größerer Macht, der Angriff von innen durch die eigenen Gefolgsleute sowie die schwerwiegende Verfehlung des Herrschers selbst. Dies war auch die Ursache für den Verlust der Königswürde des Vorfahren von Zifar und Roboán. Die letzten beiden Gründe können miteinander verknüpft sein, da der Angriff von innen auf die tatsächlichen oder unterstellten Ungerechtigkeiten des Herrschers zurückzuführen sein kann. Ist dies nicht der Fall, resultiert er aus der Bösartigkeit und Ungerechtigkeit der Vasallen selbst. Die Episode des Grafen von Turbia behandelt die Gefährdung der Herrschaft durch einen internen Konflikt mit den eigenen Vasallen. Zusätzlich wird die schlechte Regierungsführung und der Herrschaftsverlust aufgrund eigener gravierender Verfehlungen des Herrschers thematisiert. Die Geschichte erinnert einmal mehr an die historischen Ereignisse, die zur Absetzung von Alfons X. führten. In der letzten Episode des Werkes hingegen spiegelt sich die Situation Ferdinands IV., wenn Kaiser Roboán gegen die ungerechtfertigt rebellierenden Könige und Grafen seines eigenen Reichs kämpft. In der Episode des Grafen von Turbia lassen sich verschiedene Themen ausmachen, die trotz unterschiedlicher Gewichtung von grundlegender Bedeutung für das Gesamtwerk sind: der weise Ratschlag, den entweder Roboán oder die Gattin des Königs in der von ihm erzählten Geschichte erteilen, die Ungerechtigkeit des Herrschers, die Legitimität des Aufstands gegen den Herrscher, die Verpflichtungen des Herrschers gegenüber seinen Gefolgsleuten, die Vorteile des Bereuens und Vergebens und, wie bereits gezeigt, die aktive Bewahrung der Herrschaft. Die Struktur der Episode zeigt sich im Wechsel zwischen den verschiedenen Erzählebenen, die den verschiedenen Erzählern und Adressaten entsprechen: A) die an den Leser gerichtete Erzählung des allwissenden unpersönlichen Erzäh-

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lers; B) der direkte Dialog zwischen den Charakteren der Rahmenerzählung oder die an ein vielgestaltiges, umfassendes und nicht individualisiertes Zielpublikum gerichtete Rede eines dieser Charaktere (Roboán oder der Graf); C) die didaktisch-exemplarische Rede von Roboán als sekundärem Erzähler, die als sekundäre Erzählebene in die vorherige eingebettet ist. Hier fungiert der Graf als Adressat und es finden sich wiederum die zuvor genannten Erzählebenen: a) die Erzählung von Roboán, b) der Dialog zwischen dem König und der Königin innerhalb der Erzählung, c) die didaktischen Ausführungen der Königin, die den König berät. Die verschiedenen Ebenen werden in der folgenden Reihenfolge verwendet: A) Darstellung der Ankunft Roboáns in der Grafschaft von Turbia und der guten Aufnahme durch den Grafen. Es werden die Situation des Grafen und seine schlechte Beziehung zu seinen Vasallen resümiert. Darüber hinaus bewertet der Erzähler das Handeln des Grafen und erläutert seine Absicht, die Hilfe von Roboán und seinem Gefolge gegen seine Vasallen zu gewinnen. El Infante con toda su gente fueron andando, y salieron del reino de Pandulfa tanto que llegaron al condado de Turbia, y hallaron en una ciudad al Conde, que saliolos a recibir y que le hizo mucha honra y mucho placer, y convidó al Infante por ocho días que fuese su huésped. Pero con este conde no se aseguraba en la su gente, porque lo querían muy mal y no sin razón; ca él les había desaforado en muchas guisas, a los unos despechando y a los otros desterrando, en guisa que no había ninguno en todo el su señorío en quien no tangiese este mal y estos desafueros que el Conde había hecho. „The prince with all his troops had traveled so far from the kingdom of Pandulfa that they had reached the earldom of Turbia. In a city, they met the count who came out to greet them. He received Roboán royally and invited the prince to be his guest for a week. However, this count was not safe among his own people, for they disliked him intensely and not without cause. He had oppressed them in many ways, overtaking some, executing others without a hearing, and sending some into exile, so that there was none in all his dominion on whom the count had not committed these outrages.“

B) Dialog zwischen dem Grafen und Roboán. Der Graf versucht, die Unterstützung Roboáns zu gewinnen, dieser aber fragt nach den Ursachen der Situation und stellt Bedingungen für seine Hilfe. Nachdem die Waffenhilfe verweigert wird, bittet der Graf um eine andere Form der Unterstützung, um der Gefahrensituation zu entkommen. Roboán willigt ein und erzählt ihm zunächst eine Exempelgeschichte: ‚Señor, muy gran merced me hizo Dios con vuestra venida a esta tierra; porque creo que doliéndose de mí os envió para ayudarme contra estos mis vasallos de mi condado, que me tienen muy gran tuerto, y puédolos castigar, pues vos aquí sois, si bien me ayudarais.‘ ‚Ciertamente, conde‘, dijo el Infante, ‚os ayudaré muy de buena gana contra todos aquellos que os hicieren tuerto, si no os lo quisieren enmendar; pero saber quiero de vos qué tuerto

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os tienen; porque no querría que mal recibiesen de mí ni de otro, el que no mereció por qué‘. […] Cuando el Conde vio que el Infante con buen entendimiento podría saber la verdad y no le encubriría por ninguna manera, tuvo por bien de decirle por qué hubiera malquerencia con toda la gente de su tierra. ‚Señor‘, dijo el Conde, ‚la verdad de este hecho en cómo pasó entre mí y la mi gente es de esta manera que os ahora diré: porque ciertamente fuy contra ellos muy cruél en muchas cosas, desaforándolos y matándolos sin ser oídos, y desheredándolos y desterrándolos sin razón, de forma que no hay ninguno, mal pecado, de gran estado que sea, ni de pequeño, a quien no afecten estos males y desafueros que les he hecho; de manera que no hay ninguno en mi señorío de quien no recele.‘ […] ‚Pues, señor‘, dijo el Conde, ‚¿qué es lo que puedo hacer? Pídoos por merced que me aconsejéis, porque esta vida mía no es vida, antes me es similar a la muerte‘. ‚Yo os lo diré‘, dijo el Infante. ‚Conviéneos que hagáis en este vuestro hecho como hizo un rey por consejo de su mujer la reina, que cayó en tal caso y en tal yerro como este.‘ „‚Sir, God has done me a great favor through your arrival in this land; for I consider He took pity on me and sent you to aid me against these vassals of mine. They do me a great wrong, and since you are here, I can punish them, if you will aid me.‘ ‚Certainly, count,‘ said the prince, ‚I will willingly aid you against all those who wronged you, if they are not willing to make amends for it, but I want to know from you what they hold against you. I would not want anyone who does not deserve it to receive harm from me or from any one else.‘ […] When the count realized that the prince with his intelligence would eventually find out the truth and that there was no way to hide it from him, he decided to tell why he had a terrible dispute with all his subjects. ‚Sir,‘ said the count, ‚the truth of the matter as to what occurred between me and my subjects is in this fashion that I will now tell you. Truly, I acted cruelly to them in many matters, taking their homes, executing them without hearings, seizing their property, and banishing them without cause, so that there is none, alas! no matter how rich or how poor whom I have not wronged and outraged; so that there is no one in my dominion whom I do not fear.‘ […] ‚Well, sir,‘ said the count, ‚what can I do about it? I beg you to advise me, for this life is not life, but to me it is the same as death.‘ ‚I will tell you,‘ said the prince. ‚It is fitting for you to deal with this problem of yours as a king once did who had the same trouble as yours and who followed the advice of his wife the queen.‘“ C) Erzählung Roboáns. C.a. Beschreibung der Situation des Königs im Exemplum. C.b. Dialog zwischen der Königin und dem König. C.c. Vergleich und Erklärung der Königin. C.a. Entscheidung des Königs. C.b. Rede des Königs an seine Vasallen und Bitte um Vergebung. C.a. Abschluss des Exemplum.

B) Dialog, in dem Roboán die didaktischen Schlussfolgerungen aus dem Exemplum zieht, sie auf den Fall des Grafen anwendet und der Graf sich bereit erklärt, seinem Rat zu folgen:

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‚Por Dios, señor‘, dijo el Conde, ‚dada me habéis la vida, y quiero hacer lo que me aconsejáis, ca me semeja que esto es lo mejor; y aunque me maten, pidiéndoles perdón, tengo que Dios tendrá merced de mi alma‘. ‚Conde‘, dijo el Infante, ‚no temáis, ca si vos y muriereis haciendo esto que vos yo aconsejo, no moriréis solo, porque sobre tal razón como esta seré yo con vos muy de grado en defenderos cuanto yo pudiere; porque, pues vos hacerles queréis enmienda y no lo quisieren recibir, ellos tendrán tuerto y no vos.‘ „‚By Heaven, sir,‘ exclaimed the count, ‚you have given me new life, and I will do what you advise, for it seems that this is the best way; and even though they kill me when I ask forgiveness of them, I know that God will have mercy on my soul.‘ ‚Count,‘ said the prince, ‚do not fear, for if you should die doing what I advise, you will not die alone. For such a purpose as this I will willingly stand with you to defend you with all my strength, for if you wish to make an apology to them and they refuse to accept it, they will be wrong and not you.‘“ A) Beschreibung der Maßnahmen des Grafen, um dem Rat Roboáns zu folgen. B) Kurzer Dialog zwischen den Vasallen und den Abgesandten des Grafen. A) Beschreibung der Geschehnisse am Hof durch den primären Erzähler und Wiedergabe der Rede des Grafen an seine Vasallen in indirekter Rede. B) Rede Roboáns an die Vasallen des Grafen in indirekter Rede und Dialog zwischen den Vasallen und Roboán: ‚Amigos, no querría que fueseis tales como los mozos de poco entendimiento, que los ruegan muchas vegadas con su pro, y ellos con mal recaudo dicen que no quieren, y después querrían que los rogasen otra vez, que lo recibirían de grado, y si no los quieren rogar fíncanse en su daño; por que no ha mester que estéis callados, antes lo debierais mucho agradecer a Dios porque tan buenamente os viene a esto que os dice.‘ ‚Señor‘, dijo uno de ellos, ‚muy de buenamente lo haremos, sino que tenemos que nos trae con engaño para nos hacer más mal andantes‘. ‚No lo creáis‘, dijo el Infante; ‚antes os lo jurará sobre Santos Evangelios, y os hará hombrenaje [homenaje], y os asegurará ante mí. Y si vos de ello falleciere, yo os lo prometo que seré convusco contra él.‘ „‚Friends, I would not want you to be like spoiled children, who are asked repeatedly to do things for their own good and stubbornly refuse. And afterward they want to be asked again and they would gladly welcome it, and if you did not ask it again, they would be in danger. That is why you have no need to remain silent, but rather you should be grateful to God because what I am saying to you comes to you with good intention.‘ ‚Sir,‘ said one of them, ‚we would gladly do so except that we think he is pretending in order to do us more harm.‘ ‚Don’t believe that,‘ said the prince; ‚first he will swear it to you on the Holy Scriptures, and he will pledge homage to you. He will give you assurance of safety in my presence. And if he fails you, I promise you I will side with you against him.‘“

A) Zusammenfassung der darauffolgenden Ereignisse, der Befriedung des Reichs und der Abreise von Roboán durch den primären Erzähler sowie Ausblick in die Zukunft der Grafschaft von Turbia in einer Prolepse.

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Wie auch im Rest des Werkes wird die Rahmenerzählung den Lesern durch einen unpersönlichen, scheinbar objektiven und allwissenden Erzähler in der dritten Person Singular vermittelt. Dieser Erzähler berichtet die Abenteuer des Protagonisten, informiert über die Situation des Grafen von Turbia und reproduziert indirekt und direkt die Dialoge, die dieser mit Roboán führt. Innerhalb der Episode wird Roboán jedoch selbst zum Erzähler eines Exemplum, das er dem Grafen als Rat anbietet. Die Rolle, die der Protagonist neben dem Grafen einnimmt, ist identisch mit der des Patronio gegenüber dem Grafen Lucanor im Werk von Don Juan Manuel. In beiden Fällen bittet ein Graf einen Berater um Rat und Hilfe. Dieser erzählt zuerst eine Geschichte, die als Beispiel dienen soll, und erklärt dann ihre konkrete didaktische Anwendung und die zu ergreifenden Maßnahmen. Schließlich wird über die Anwendung der Ratschläge und die erzielten positiven Resultate berichtet. Im ‚Libro del caballero Zifar‘ ist es lediglich der primäre Erzähler, der die erfolgreiche Umsetzung der Ratschläge bezeugt, während sie im ‚Libro del Conde Lucanor‘ von Don Juan selbst am Ende jedes Beispiels bestätigt wird.36 Sowohl im ‚Conde Lucanor‘ als auch in der Episode des Grafen von Turbia bewegt sich der Leser auf zwei Erzählebenen, der Rahmen- und der Binnenerzählung. Auf der ersten Ebene finden Erzähler und Rezipient innerhalb der Fiktion zueinander, sie dient als Rahmen der eingeschobenen didaktischen Geschichte. Der Rezipient akzeptiert diesen fiktionalen Pakt und ‚glaubt‘ die vermittelte Geschichte von Roboán und dem Grafen. Auf der sekundären Erzählebene wechselt der Leser auf die didaktische Ebene, die von einem allwissenden sekundären Erzähler in der dritten Person Singular erzählt wird. Dieser ist jedoch kein unbeteiligter Beobachter mehr, sondern Roboán selbst. Der Adressat dieser Ebene ist nicht mehr ein austauschbarer Leser, sondern ein weiterer Charakter der Rahmenerzählung, der Graf von Turbia, dessen Persönlichkeit und Umstände das Verständnis der Geschichte mitbestimmen. Das Spiel der Erzähler und Adressaten endet hier nicht, denn die Königin der Binnenerzählung wird wiederum zur Beraterin des Königs und vermittelt ihrem Gesprächspartner ein Lehrbeispiel. Dieses fasst eine allgemeine Alltagserfahrung in einem Sprichwort zusammen, ohne als Geschichte ausgearbeitet zu werden: por mi consejo vos haréis como hacen los buenos médicos a los dolientes que tienen a su cuidado („through my advice you will do as good doctors do for the sick whom they care for“). Die Zuschreibung dieser Rolle an die Gattin des Monarchen kann als ein weiterer Bezug auf María de Molina im Werk angesehen werden. Strukturell wird so Roboáns Binnengeschichte mit der Rahmenerzäh36 Für weitere Erläuterungen und eine schematische Darstellung der strukturellen Symmetrien der Exempla im ‚Conde Lucanor‘ vgl. Fernando Gómez Redondo, La Prosa del Siglo XIV, Madrid/Gijón 1994, 371–373.

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lung verknüpft, in der Zifars Ehefrau Grima zu Beginn des Werkes als Beraterin auftritt und den Protagonisten in seinem Bestreben bekräftigt, die Worte seines Großvaters in die Wirklichkeit umzusetzen. Das Exemplum der Königin beschreibt keine konkreten Charaktere oder Ereignisse. Sie weist nur darauf hin, dass Ärzte zuweilen gegensätzliche Heilmittel ausprobieren, wenn die üblichen keine Wirkung zeigen. Sie verweist auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Fall ihres Mannes und den Kranken sowie zwischen sich als Beraterin und den Ärzten. Das gegensätzliche Heilmittel ist die Bitte um Vergebung, anstatt Gewalt anzuwenden. Das remedio („Heilmittel“), die Medizin zur Wiederherstellung der Gesundheit, wird zur Metapher für den Ratschlag. Da dieser sowohl für den König des von Roboán erzählten Exemplum als auch für den Fall des Grafen von Turbia gilt, wird zudem eine Parallele zwischen der metaphorischen Krankheit des Königreichs im Exemplum und derjenigen der Grafschaft hergestellt. Wie der Körper eines Kranken sind auch die vom anonymen König und vom Grafen von Turbia geführten Gesellschaften krank. Die Krankheit hat ihren Ursprung in den Herrschern, die das vom Arzt (allegorisch für den Berater, hier Roboán, bzw. die Königin des Exemplum) vorgeschlagene Mittel, den Ratschlag, anwenden sollen. So soll aus dem falschen Verhalten, das zum Verlust der Herrschaft führt, das gute Handeln werden, das zu ihrer Rückgewinnung und Rettung führt. Roboán belegt am Ende des Exemplum die Wirksamkeit des Ratschlags der Königin. Dieser wird vom Monarchen umgesetzt, der so sein Vertrauen in den politischen Sachverstand der Königin beweist. Der primäre Erzähler greift im Anschluss nicht nur das gleiche narrative Schema auf, sondern auch die Argumente seines Protagonisten. Der Ratschlag wird dem Leser gleich dreimal erteilt: von der Königin des Exemplum in Form eines kurzen Aphorismus, von Roboán in Form einer Geschichte und vom primären Erzähler in Romanform. In allen drei Fällen sind das Problem und die Lösung gleich: Der Körper, die Gesellschaft, ist krank und es müssen Mittel und Maßnahmen angewendet werden, die den bisher verwendeten entgegenstehen. Auf einer abstrakteren, rein didaktischen Ebene lautet der Kern des Ratschlags: ‚Wenn das, was du tust, nicht funktioniert, mach etwas anderes‘. In diesem Fall ist ‚etwas anderes‘, um Vergebung zu bitten und das bisherige Verhalten zu ändern. Auf jeder der Erzählebenen wird dieser Ratschlag an die jeweiligen Umstände angepasst. Hierbei ist die Geschichte von Roboáns Exemplum und die des Grafen von Turbia im Wesentlichen die gleiche, wenn auch mit unterschiedlichen Protagonisten: Die Feudalbeziehungen sind gescheitert, die Vasallen misstrauen dem Herrscher und der Herrscher seinen Vasallen bis hin zur Todesangst: porque tan gran miedo tenía el Conde a ellos como ellos del Conde („for the count had as great fear of them as they had of the count“). Eine Erneuerung des Feudalpaktes erscheint hier geboten und notwendig, weshalb die Bitte um Vergebung von Gesten begleitet wird, die den Verzicht auf die Herrscherwürde implizieren. Der

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König des Exemplum nimmt seine Krone ab: ‚Y conociendo mi pecado y mi yerro, déjoos la corona del reino.‘ Y la quitó de la cabeza, y la puso en tierra ante sí („‚And confessing my sin and my mistake, I leave you the crown of the kingdom.‘ He took it from his head and placed it on the ground before him“). Der Graf von Turbia pidioles merced muy humildemente, que le quisiesen perdonar, porque no quería con ellos vivir sino como buen señor con buenos vasallos; y se desarmó y se arrodilló ante ellos („he humbly begged them for compassion and to forgive him, for he did not want to live unless as an honest lord with loyal vassals. He disarmed and knelt before them“). In beiden Fällen findet eine Erneuerung der Gesellschaftsordnung statt, die zum Abbau des gegenseitigen Misstrauens und der Ängste von Herrscher und Vasallen führt: pidiéronle por merced que no les quisiese decir tan fuertes palabras como les decía, porque los quebrantaba los corazones; sino que se quedase con su reino, que ellos le perdonaban („[his subjects] begged him not to say such terrible things as he was saying to them and to stay with his kingdom for they forgave him for the great wrong they had received from him, for he was breaking their hearts“). Die Rahmenerzählung enthält jedoch auch eine Variante, in der die Geschichte weniger ideal verläuft als im Exemplum von Roboán. Der Autor scheint die Distanz zwischen Fiktion und Realität markieren zu wollen und seine eigene Geschichte in einen ‚realistischen‘, nicht idealisierten Kontext zu stellen: Während die Gefolgsleute des Königs in Anbetracht seiner Erniedrigung Mitleid empfinden, sind die Vasallen des Grafen von Turbia zunächst nicht bereit, ihm zu vergeben: ellos estaban muy duros y no querían responder nada („they were hardhearted and refused to answer anything“). Roboán muss eingreifen und sie ermahnen: ‚Amigos, no querría que fueseis tales como los mozos de poco entendimiento, que los ruegan muchas veces con su pro, y ellos con mal recaudo dicen que no quieren, y después querrían que los rogasen otra vez, que lo recibirían de grado, y si no los quieren rogar se quedan con su daño; por lo que no conviene que estéis callados, antes lo debierais mucho agradecer a Dios porque tan buenamente os viene a esto que os dice.‘ „‚Friends, I would not want you to be like spoiled children, who are asked repeatedly to do things for their own good and stubbornly refuse. And afterward they want to be asked again and they would gladly welcome it, and if you did not ask it again, they would be in danger. That is why you have no need to remain silent, but rather you should be grateful to God because what I am saying to you comes to you with good intention.‘“

Damit garantiert er sowohl dem Grafen als auch dessen Vasallen, dass derjenige, der den neuen Feudalpakt bricht, sein Feind wird: ‚Conde‘, dijo el Infante, ‚no temáis, porque si vos allí murieseis haciendo esto que yo os aconsejo, no moriréis solo, porque sobre tal razón como esta seré yo con vos muy de grado

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en defenderos cuanto yo pudiere; porque puesto que vos hacerles queréis enmienda y no lo quisieren recibir, ellos tendrán tuerto y no vos.‘ „‚Count,‘ said the prince, ‚do not fear, for if you should die doing what I advise, you will not die alone. For such a purpose as this I will willingly stand with you to defend you with all my strength, for if you wish to make an apology to them and they refuse to accept it, they will be wrong and not you.‘“ Y ellos le pidieron por merced que recibiese del Conde juramento, y él hízolo así, y perdonáronle, y quedó en paz y en buena convivencia con sus vasallos, y los mantuvo siempre en sus fueros y en justicia. „And they asked him to receive homage from the count, and so he did. They forgave the count, and he lived in peace and prospered with his vassals, for he ruled them fairly and with justice.“

Die Vasallen des Grafen von Turbia befinden sich in der gleichen Situation, die Juan Manuel in seinem ‚Libro de los estados‘ („Ständebuch“) beschreibt, wenn er die Notwendigkeit verteidigt, den Frieden mit dem Feind zu suchen und ihn zu akzeptieren, wenn entsprechende Entschädigung angeboten wird: Y si se lo enmienda como debe a su honra, le debe complacer, y aceptar la enmienda, y gradecer mucho a Dios porque quiere que tenga paz a su honra.37 Die Episode bestätigt nicht nur die politische Weisheit und moralischen Qualitäten Roboáns, sondern zeigt ihn auch als Garanten für Frieden und Gerechtigkeit, da ihn sowohl die Vasallen als auch der Graf, in ihrem Unvermögen sich gegenseitig zu vertrauen, als Vermittler benötigen. Sie belegt zudem, wie Roboán seinen Vater nachahmt und übertrifft: Wie es seine Pflicht als Vater ist, unterrichtet Zifar seine eigenen Kinder; Roboán bringt sowohl dem Grafen von Turbia als auch dessen Vasallen bei, wie sie sich zum eigenen Besten und um der Gerechtigkeit willen verhalten sollen.

6.

Die von schlechten Vasallen gefährdete Herrschaft

Der Hinweis Roboáns auf den Rechtsverlust von Vasallen, die ihren Herren nicht vergeben, knüpft an das Thema der Justiz im Krieg an. In zwei Episoden der Rahmenerzählung38 wird vom Aufstand eines Vasallen gegen seinen Herrn be37 Aus dem 71. Kapitel des ‚Libro de los estados‘, Juan Manuel, Obras completas, 2 Bde, Bd. 1, ed. José Manuel Blecua, Madrid 1981, 338f. 38 Cuesta Torre untersucht diese Episoden in den folgenden beiden Beiträgen zum Thema des Kriegs im Werk: María Luzdivina Cuesta Torre, Ética de la guerra en el ‚Libro del Cavallero Zifar‘, in: Rafael Beltrán (ed.), Literatura de caballerías y orígenes de la novela, Valencia 1998, 95–114; Dies., En torno al tema de la guerra en el ‚Libro del Caballero Zifar‘, in: Santiago Fortuño Lloréns/Tomás Martínez Romero (edd.), Actes del VII Congrés de l’Associació Hispànica de Literatura Medieval, 3 Bde., 2. Bd., Castelló de la Plana 1999, 113–124.

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richtet: die Rebellion des Grafen Nasón gegen König Zifar und der Aufstand der sieben Grafen und zwei Könige gegen Kaiser Roboán, angestiftet durch die Täuschungen des Grafen Farán. In der zweiten Episode versuchen die aufständischen Gefolgsleute, den Krieg gegen ihren Herrn zu rechtfertigen, indem sie ihm ungerechtes Verhalten vorwerfen. Die Könige von Garba und Safira beginnen den Krieg aus Furcht vor dem Kaiser, im Glauben, er wolle sie umbringen und sich ihres Besitzes bemächtigen. Ihre Motive sind ähnlich wie die der Vasallen des Königs von Ephesus. Wie in der Episode des Grafen von Turbia wird der Frieden auch in der Rahmenerzählung durch die Erneuerung des Feudalpaktes, wie im Fall des Königs von Safira, oder durch die Begründung eines neuen Paktes wieder hergestellt, etwa durch die Ersetzung des Grafen Nasón durch den neuen Grafen Garfín, die des Königs von Garba durch den Berater Garbel und die des Grafen Farán durch den Ritter Amigo.39 Damalige Bestimmungen verpflichteten den von seinem König ungerecht behandelten Vasallen, diesen privat um Gerechtigkeit zu ersuchen und dies nur dann öffentlich zu tun, wenn sie verweigert wurde.40 Widerfuhr ihm auch so keine Gerechtigkeit, konnte der Vasall alle Beziehungen zu seinem Herrn abbrechen (desnaturarse). Wie die Anklage von Garfín gegen Graf Nasón zeigt, war dies jedoch ohne rechtmäßigen Grund nicht zulässig: porque vos faltasteis a la verdad al rey de Mentón, mi señor, y le mentisteis en el servicio que le teníais que hacer, siendo su vasallo y no desnaturándoos de él, ni habiéndoos abandonado, que le corríais la tierra41 („you failed to be loyal to the king of Mentón, who is my lord, and you were untrue to the service you owed him, since you were his vassal. You did not sever your relation with him and he did not desert you. You raided throughout his land“). Ebenso bezeichnet Roboán die Rebellion von Graf Nasón gegen Zifar als Verrat, da der König eine solche Behandlung nicht verdient habe: porque ellos [los del conde Nasón] tienen tuerto y nosotros derecho; porque el rey nuestro señor les hizo muchas mercedes e nunca les hizo cosa que estuviera mal42 („for they [the ones of Count Nason] are wrong and we are right. The king, our sovereign did many favors for them and never did anything detrimental to them“). Als Nasón sich verteidigt, indem er sagt, dass er sich vom König verabschiedet habe, antwortet Garfin ihm: no es escusa de buen cavallero, despedirse y correr la

39 González Muela 1982, 225 und 427f.; González 1998, 251 und 451; engl. Übers. Nelson 1983, 147 und 307f. 40 Aquilino Iglesia Ferreiros, Historia de la traición: La traición regia en León y Castilla, Santiago de Compostela 1971, 151, Anmerkung 6 (Fuero Real 1, 2, 2). 41 González Muela 1982, 193; González 1998, 221; engl. Übers. Nelson 1983, 121. 42 González Muela 1982, 188; González 1998, 215; engl. Übers. Nelson 1983, 116.

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tierra sin hacerle el señor por qué43 („that is no excuse for an honorable knight to take his leave and to raid throughout the land without his lord giving him a reason why“). Tatsächlich zeigt Zifar zu Beginn des Romans selbst, was das richtige Verhalten gegenüber einem ungerechten König ist. Der Protagonist wird zum desnaturado und bricht alle Beziehungen zu seinem König ab, weil dieser sich von schlechten Beratern leiten lässt und ihn nicht mehr benötigt. Er wendet sich jedoch nicht gegen seinen Herrn, sondern geht ins Exil. Die ‚Siete Partidas‘, das in der Regierungszeit von Alfons X. verfasste kastilische Gesetzbuch, setzen sich mit der Rechtsfigur des desnaturado auseinander: Wenn der König einen Vasallen demütigt, muss dieser dreimal um Genugtuung bitten. Nur wenn der König die Wiedergutmachung verweigert, kann er seine Verbindung zum Herrscher auflösen, ohne sich jedoch gegen ihn zu wenden, da dies als Verrat angesehen würde. Das ‚Liber iudiciorum‘ von Rekkeswinth (2, 1, 8) legt Strafen für diejenigen fest, die gegen den König oder seinen Herrschaftsanspruch vorgehen: Rebellionen, Aufstände oder die Unterstützung des Feindes durch Taten oder Worte wurden mit der Todesstrafe und Enteignung, im gnädigen Fall durch Blendung bestraft.44 Eine der Strafen für einen solchen Verrat war es, den Schuldigen ins Wasser zu werfen, so dass er spurlos von den Fischen verschlungen wurde.45 Die Bestrafung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Nasón, dessen Asche in den See Solfáreo gestreut wird, damit nichts von ihm zurück bleibt.46 Der Erzähler verurteilt ihn ausdrücklich, und die Geschichte verdeutlicht mit seinem Scheitern und seiner Hinrichtung die unheilvollen Folgen seines Verbrechens.

7.

Schlussfolgerungen: Beziehung zur historischen und politischen Situation

Die Geschichte Roboáns zeigt den erfolgreichen Lernprozess, den der junge Mann dank des Beispiels und der Lektionen des Vaters durchläuft. Dieser und der Umstand, dass er als jüngerer Sohn nicht erbberechtigt ist, führen zur Entscheidung, das Königreich des Vaters auf der Suche nach Abenteuern zu verlassen, um durch eigene Verdienste ein Reich zu erlangen. Er glaubt, dass Gott, der bereits seinen Vater zum König machte, ihm das gleiche Schicksal gewährt, wenn er sich darum bemüht: 43 González Muela 1982, 194; González 1998, 221; engl. Übers. Nelson 1983, 121. 44 Iglesia Ferreiros 1971, 152f. 45 Alfonso X, Las siete partidas del rey don Alfonso el Sabio. Tomo II: Partida Segunda y Tercera, 3 Bde, Bd. 2, ed. Real Academia de la Historia, Madrid 1807, 317. 46 González Muela 1982, 212f.; González 1998, 238f.

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‚bien confío, por la gracia de Dios nuestro señor, que Él, que hizo a vos merced y a mi hermano en querer haceros a vos rey y a él en pos de vos, que no querrá desampararme nin olvidarme; […] pero yo, sirviendo a Dios, me esforzaré en trabajar y hacer tanto que Él por su piedad me pondrá en tan gran honra como a mi hermano, o por ventura, en mayor.‘47 „‚I truly trust in the grace of our Lord God, who favored you by making you king and my brother your heir, not to abandon me or forget me. […] but I, serving God, will endeavor by working and accomplishing so much, that He, through his mercy, will raise me to as honored estate as my brother, or perhaps, to greater.‘“

Die Szene erinnert an den Dialog zwischen Zifar als Kind und seinem Großvater. Zifar wiederholt nun dessen prophetische Worte und gibt seinen Kindern Rat und Lehre mit: ‚Dios, por su merced, te lo prepare y te lo cumpla; y confío por Él que así será; y según mi pensamiento, estoy seguro y no lo pongo en duda que has de llegar a un estado mayor que el mío por este propósito tuyo, que es tan bueno; pero quiero que vengas mañana por la mañana conmigo, que os quiero aconsejar tan bien en hecho de caballería como en guarda de vuestro estado y de vuestra honra, cuando Dios os la dé.‘48 „‚God through His grace will guide you and aid you. And I trust in Him. And in my opinion, I am sure, and I hold no doubt, that you are to attain greater fortune than we, for your goal is so lofty. However, I want you and Garfín to come to me early tomorrow, for I want to counsel you in matters of chivalry as well as how to protect your fortune and honor when God may grant it to you.‘“

Die Lektionen des Vaters in Form der Exempla des Königs von Ephesus und des Kaisers von Armenien ermöglichen es Roboán später, den Grafen von Turbia bei der Erhaltung seiner Herrschaft zu beraten. Der dem Rat des Königs von Mentón an seine Söhne Garfín und Roboán gewidmete Teil des Werks versteht sich als Fürstenspiegel, dessen Quellen in der didaktischen Literatur der Gnomik und Exempla zu finden sind.49 Hier findet der Leser Leitsätze, die von einem Herrscher befolgt werden sollen, um seine Macht ordnungsgemäß auszuüben. Unter diesen sind sowohl allgemeine Ratschläge für jeden guten Christen, als auch spezifische Ratschläge für Könige und Herrscher zu finden, wie etwa zur Auswahl des Führungsstabs des Regenten oder hinsichtlich der Vorteile, einen einzigen Schatzmeister zu haben.50 Darüber hinaus zeigt der Abschnitt, wie ein Feudalherr oder König handeln soll, um seine Macht zu erhalten. Die Aufnahme des Fürs47 González Muela 1982, 231f.; González 1998, 258; engl. Übers. Nelson 1983, 152f. 48 González Muela 1982, 232; González 1998, 259f.; engl. Übers. Nelson 1983, 153. 49 Wagner 1903; Cacho Blecua 1996b; sowie Ders., Las citas en el ‚Libro del cavallero Zifar‘, in: Leonardo Funes/José Luis Moure (edd.), Studia in honorem Germán Orduna, Alcalá de Henares 2001, 137–148. 50 María Luzdivina Cuesta Torre, El lobo y las sanguijuelas: una fábula del Aristóteles latino recreada en el ‚Libro del caballero Zifar‘, in: Revista de poética medieval 29 (2015), 95–124.

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tenspiegels in ein derart umfangreiches fiktives Erzählwerk wurde oft hinterfragt. Mit Blick auf das Thema der Herrschaft erfüllt er die Funktion zu betonen, wie wichtig es ist, dass der Lehrmeister selbst König ist, und macht den Lernprozess Roboáns als zukünftiger König für den Leser greifbar. Wie die vorliegende Studie zeigt, dient er in einigen Fällen auch dazu, die Aussagen der Abenteuer der Haupthandlung auf einer didaktisch ausgerichteten Erzählebene zu wiederholen. Es wurde bereits viel über die Funktion des im Vorwort des ‚Libro del caballero Zifar‘ erwähnten Leitsatzes des devuelve lo que debes („gib zurück, was Du schuldig bist“) geschrieben. Angesichts des wiederkehrenden Motivs von Erwerb und Erhalt der königlichen Macht scheint dieser, obgleich wichtig, dennoch nicht das zentrale Thema des Werkes oder die wichtigste ideologische Motivation des Autors zu sein. Wenn die ersten Rezipienten das Werk im Zusammenhang mit dem Beginn der Herrschaft Ferdinands IV. lasen, verstanden sie sicherlich, dass so wie Roboán Zifar in seinen Leistungen übertrifft, auch Ferdinand IV. seinen Vater Sancho IV. überragen könnte. Wie Roboán hatte Ferdinand die ritterlichen und moralischen Qualitäten vom väterlichen Vorbild geerbt. Zifars Lektionen erinnerten das Publikum daran, dass auch Sancho IV. die ‚Castigos y documentos del rey don Sancho para su hijo don Fernando‘ geschrieben hatte. Auf diese Weise konnte der Autor die Identifizierung von Zifar mit Sancho IV. und von Roboán mit Ferdinand IV. hervorheben, ohne sie allzu explizit zu machen, so dass seine politische Propaganda eher unterschwellig als offen bleibt. Obwohl Sancho IV. nicht nach der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches strebte, war sie eines der gescheiterten Ziele seines Vaters Alfons X., und blieb somit ein Titel, auf den seine Nachkommen aufgrund ihrer Abstammung Anspruch erheben konnten. Roboán wird seinerseits Kaiser und besiegt die Vasallen, die sich gegen ihn wenden: So legt das Werk eine Prognose am Beginn der Regierungszeit seines historischen Pendants nahe. Wie Roboán befindet sich auch Ferdinand in der Notwendigkeit, die Vasallen zu besiegen, die ihn nicht als König anerkennen. Das Werk richtet verschiedene Botschaften an unterschiedliche Leser. Für die von Doña María de Molina für ihren Sohn Don Ferdinand angeführte Seite ist es Zeichen der Dankbarkeit und der Verpflichtung für die Sache. Für den jungen Ferdinand IV. ist es ein Lehrstück über Macht und das erstrebenswerte Verhalten des Herrschers. Für diejenigen, die sich gegen den König auflehnen, dient es als Warnung, indem es ihnen in den fiktionalen Aufständischen ihr potentielles Schicksal aufzeigt. Das Werk ist zugleich Lobrede auf Ferdinand IV. und lässt diejenigen, die ihn bei seinen Ansprüchen auf den Thron unterstützen, auf Belohnung in Form von Machtzuwachs ähnlich wie in der Erzählung hoffen. Für die breite Öffentlichkeit wiederum dient es als Bestätigung der königlichen Bestimmung von Sancho IV. und seinem Geschlecht.

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María Luzdivina Cuesta Torre

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Lena Ringen

…perdedes en mí un rrey et un sennor – vom Ende einer Herrschaft in Don Juan Manuels ‚Libro de las armas‘

Abstract The ‘Libro de las armas’ (or ‘Libro de las tres razones’) was composed by one of the most significant political writers in the first half of the 14th century in Castile, Don Juan Manuel. Like his widely-known major work ‘Conde Lucanor’ the ‘Libro de las armas’ was a work that responds to and re-conceptualises concepts of power and domination, two phenomena that have thus far received little attention or useful comparison in studies of the text’s narrative techniques and structure. Instead, research on Don Juan Manuel’s work has used (auto) biographical approaches to draw conclusions about his texts and in this sense, have repeatedly returned to the issue of the author’s own position of power within contemporary politics. The ‘Libro de las armas’ has itself been interpreted as a work intended to condemn the Alfonsinian dynasty (ruling at the time of the text’s composition), whilst glorifying a contrasting secondary line (the author’s Manueline line). However, the concrete textual implementation of critique and idealization has not yet been discussed in detail. The present analysis will examine which narrative techniques and structures are used to situate the representations of the Alfonsinian and Manueline lines in this field of tension between critique and idealization, in order to show to what extent the (symbolic) expressions of power and domination can actually be considered to be contrasting, and to what extent these forms of expression are centred on the figure of the ruler. The present article therefore focuses on the description of the ruler in the third part of the text, the ‚tercera razón‘, which displays the voice and last words of the dying Sancho IV. Mas, por[que] las cosas son más ligeras de dezir por palabra que de ponerlas por scripto, averme [he] a detener algún poco más en lo scrivir; pero, con la merçed de Dios, fazerlo he.1

1 Don Juan Manuel, Cinco Tratados de don Juan Manuel, ed. Reinaldo Ayerbe-Chaux (Spanish Series 51), Madison 1989, 91: „Doch weil die Dinge einfacher mit Worten zu sagen sind, als sie zu verschriftlichen, muss ich mich ein wenig länger damit aufhalten, es [das was ihn beschäftigt] aufzuschreiben; aber mit Gottes Beistand werde ich es schaffen.“ Die hier und im Folgenden verwendeten deutschen Übersetzungen des Originaltextes wurden, wenn nicht anders vermerkt, von der Verfasserin auf der Grundlage der genannten Edition angefertigt.

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Wenn der Verfasser eines vormodernen literarischen Textes die Herausforderung und die Mühen der Verschriftlichung mündlich tradierten Erzählmaterials präsentiert und wie hier Don Juan Manuel, der bedeutendste Autor der mittelalterlichen kastilischen Prosaliteratur, betont, dass ihm dieses Projekt nur mit Gottes Beistand gelingt, deuten wir dies einerseits als Ausdruck eines frühen Autorbewusstseins und andererseits als Zeugnis der Wertschätzung und Reflexion schriftlicher Komposition auf der Schwelle eines beginnenden Literaturbewusstseins. Das Rekurrieren auf den Aufwand der Verschriftlichung soll hierbei nicht näher beleuchtet werden, wohl aber die Textualität an sich, der textuelle Charakter bestimmter Themen und Vorstellungen, die den Verfasser beschäftigen, sowie dessen Insistieren auf den mündlichen Quellen, die dem schriftlichen Status jener Themen auf konzeptioneller Ebene vorausgehen und ihren Stellenwert und Darstellungscharakter, d. h. ihre zukünftige Rezeption für die Gesellschaft maßgeblich bedingen und prägen. Et cred que todo passó assí verdaderamente. Pero devedes entender que todas estas cosas non las alcançé yo, […]2 mas oýlas a personas que eran de crer. Et non lo oý todo a una persona, mas oý unas cosas a una persona et otras a otras, et ayuntando lo que oý a los unos et a los otros, con razón ayunté estos dichos; et por mi entendimiento entendí que passara todo el fecho en esta manera que vos yo porné aquí por escripto,[…].3

Der Textualität des Werkes wird hier direkt zu Beginn ein Siegel der Wahrheit bzw. des Wahrheitsanspruches aufgedrückt, welches der Verfasser des Traktates explizit durch das Berufen auf die Qualität und Quantität seiner oralen Quellen bzw. Informanten für die Beglaubigung des Inhalts entwirft. Nur durch die textuelle Auseinandersetzung mit mündlich tradierten Fragestellungen und Themen und die hieraus entstandenen schriftlichen Quellen haben wir heute letztlich (ansatzweise) Zugang zu Konzepten und Diskursen, die die Menschen der Vormoderne bewegten.

2 Auslassungen der Verfasserin oder Erklärungen der edierten Fassung in nicht-kursivierten Klammern im spanischen Originalzitat. Bei kursiven eckigen und runden Klammern handelt es sich um Besonderheiten oder Anpassungen, die Ayerbe-Chaux in seiner kritischen Edition am Originaltext vorgenommen hat. 3 Ayerbe-Chaux 1989, 91: „Und glaubt [mir] dass alles wahrhaftig so geschah. Aber Ihr müsst verstehen, dass nicht all diese Dinge ich selbst erlebt habe […] aber ich hörte sie von glaubwürdigen Personen. Und ich habe nicht alles von einer Person gehört, sondern ich hörte einiges von einer Person und anderes von anderen und als ich zusammenfügte, was ich von den einen und den anderen hörte, fügte ich die Berichte mit Verstand zusammen; und durch mein Erkenntnisvermögen begriff ich, dass all das auf die Art und Weise geschah, wie ich sie Euch hier schriftlich darlege […].“

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1.

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Das ‚Libro de las armas‘ im Kontext von Macht und Herrschaft

Die Themen, die Don Juan Manuel in seinem ursprünglich titellosen4 ‚Libro de las tres razones‘/‚Libro de las armas‘ beschäftigen, reduziert der erste dieser beiden nachträglich zugeschriebenen Titel auf die Gliederung in tres razones (drei Fragen bzw. [Beweg]gründe),5 die Don Juan Manuel in der Einleitung seines Traktates mit Hinblick auf die zentralen Inhalte vornimmt: Et las tres cosas son estas: mis armas, [dadas] al infante don Manuel, mío padre; et son alas et leones. La otra, por qué podemos fazer cavalleros yo et míos fijos legítimos, non seyendo nós cavalleros, lo que non fazen ningunos fijos nin nietos de infantes. La otra, cómmo passó la fabla que fizo comigo el rrey don Sancho en Madrit ante que finase, seyendo ya çierto que non podría guaresçer de aquella enfermedat nin bevir luenga[mente].6

Wie Schlieben resümiert, „ist die Gliederung des ‚Libro de las armas‘ [damit formal] von drei Fragen bestimmt: 1) der Bedeutung des Familienwappens, 2) der Befähigung […] Ritter zu schlagen, und schließlich 3) dem letzten Treffen zwischen Sancho IV. und Juan Manuel.“7 Dahingegen lässt der zweite geläufige Titel des Traktates – ‚Libro de las armas‘8 – mit der Fokussierung des im ersten Teil 4 Vgl. hierzu Alan D. Deyermond, The ‚Libro de las tres razones‘ Reconsidered, in: Edward H. Friedman/Harlan Sturm (edd.), Never-Ending Adventure: Studies in Medieval and Early Modern Spanish Literature in Honor of Peter N. Dunn (Homenajes 19), Newark 2002, 81–107, hier 83. 5 Ausgehend von der Herleitung Fernando Gómez Redondos, dass der Terminus razón zum einen „in der Tradition Thomas von Aquins eine demonstrative und persuasive Methode definiert, mit der eine bestimmte Schlussfolgerung angestrebt wird“, also durch die Ableitung aus dem Lateinischen als „razonamiento“ ([Nach]denken), „argumento“ (Argument) und „prueba“ (Beweis) – als Akt der Beweisführung – verstanden auf „operaciones intelectuales“ bzw. eine „materia intelectual“ hindeutet, liegt im Terminus razón „eine konkrete literarische Organisation“ begründet, „anhand derer die Bestätigung einer Tatsache oder eines Gedankens erreicht wird.“ (Historia de la prosa medieval castellana, 4 Bde., Bd. 1, Madrid 1998, 1192). Vgl. hierzu auch die Deutungsvielfalt von razón bezüglich des im Werk Don Juan Manuels verwendeten Vokabulars bei Félix Huerta Tejadas, Vocabulario de las obras de don Juan Manuel (1282–1348), Madrid 1956, 148f.; und u. a. auch in Bezug auf das ‚Libro de las armas‘ den Eintrag „asunto, cuestión, materia que se discute“ (ebd., 149) – razón nicht nur als ‚Angelegenheit‘, sondern auch als ‚zur Diskussion stehende Materie‘ verstanden. 6 Ayerbe-Chaux 1989, 91: „Und die drei Dinge sind folgende: warum diese meine Waffen, Flügel und Löwen [Figuren des Familienwappens], dem Infanten Don Manuel meinem Vater gegeben wurden; warum ich und meine legitimen Söhne Ritter schlagen können ohne selbst Ritter zu sein, was weder Söhne noch Enkel von Infanten tun; wie das Gespräch verlaufen ist, das der König Don Sancho kurz bevor er starb in Madrid mit mir geführt hat, als bereits sicher war, dass er von jener Krankheit nicht genesen und nicht mehr lange leben würde.“ 7 Barbara Schlieben, Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons’ X. (1252–1284), Berlin 2009, 98. 8 Mit armas („Waffen“) wurden im Altspanischen auch Wappenelemente bzw. -zeichen bezeichnet. Hier soll der Titel ‚Libro de las armas‘ verwendet werden, da dieser im Kontext der

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thematisierten Wappens etwas deutlicher durchblicken, worum es in dem Werk im eigentlichen geht: um Zeichen von Macht und Herrschaft. Die Frage, ob Don Juan Manuel, wenn es zu seiner Zeit üblich gewesen wäre, das Traktat mit einem inhaltsfokussierten Titel versehen hätte, ist zweifelhaft, da die Beschaffenheit des Textes und die Modi des Erzählens – wie zu sehen sein wird – jegliche Reduktion des erzählten Ganzen auf einzelne repräsentative Termini von vornherein ausschließen. Sowohl diese Beobachtung der Komplexität als Gesamteindruck, als auch einzelne Ansätze der bisherigen, vorwiegend spanischen Forschungsbeiträge zu diesem Werk,9 werfen allerdings die Frage auf, inwieweit diesem eine spezifische, Kohärenz stiftende, die vormoderne Auffassung von Macht und Herrschaft prägende Erzähltechnik inhärent sein könnte, welcher wir im Folgenden nachgehen werden. Es handelt sich um einen kurzen, dreigliedrigen Text, der um 1342 verfasst wurde und vergleichsweise spät Gegenstand der Forschung zum Werk Don Juan Manuels geworden ist.10 Als „historia disidente“ bezeichnet,11 ist das ‚Libro de las armas‘ „auf halbem Wege zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion“12 anzusiedeln und weist im Hinblick auf seine Verortung im späten literarischen Schaffen Don Juan Manuels den höchsten Reifegrad seiner narrativen Produktion auf.13 Die erzählte Zeit reicht von der Geburt des Infanten Manuel von Kastilien (1234) während der Herrschaftszeit Ferdinands III. des Heiligen bis hin zum letzten Willen des Königs Sancho IV. (1295), umfasst also extraliterarisch gesehen die gesamte Herrschaftszeit von Ferdinands Sohn Alfons X. dem Weisen und dessen Nachfolger Sancho IV., der gegen den Willen seines Vaters die Macht usurpiert, sich 1284 zum König krönen lässt und 1295 stirbt. Thematisiert werden aus diesem Zeitraum de facto nur vereinzelte Konfliktsituationen Alfons’ X. mit der Krone Aragons und von der Herrschaftszeit Sanchos lediglich dessen letztes Lebensjahr, insbesondere sein kranker und fragiler Zustand. Inhaltlich bedeutet

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Textualität von Macht und Herrschaft passender erscheint, als der von der Forschung heute präferiert verwendete Titel ‚Libro de las tres razones‘. Gemeint sind hier vor allem Leonardo Funes, Entre política y literatura: Estrategias discursivas en don Juan Manuel, in: Medievalia 18/1 (2015), 9–25; Manuel Hijano Villegas, Historia y poder simbólico en la obra de don Juan Manuel, in: Voz y letra: Revista de literatura 25 (2014), 71–109; und María Cecilia Ruiz, Literatura y política: el ‚Libro de los estados‘ y el ‚Libro de las armas‘ de don Juan Manuel, Maryland 1989. Ruiz weist bezüglich der Dreiteilung des Textes darauf hin, dass jeder Textteil unabhängig von den beiden anderen gelesen werden kann und dennoch mit diesen in (Quer-)Verbindung steht (1989, 77). Leonardo Funes/María Elena Qués, La historia disidente: el lugar del ‚Libro de las armas‘ en el discurso historiográfico del siglo XIV castellano, in: Atalaya 6 (1995), 71–78. Juan Manuel Cacho Blecua/María Jesús Lacarra Ducay, Historia de la literatura española, I. Entre oralidad y escritura: la Edad Media, Barcelona 2012, 426: „a medio camino entre la prosa histórica y la ficción“; „todas sus habilidades literarias“. Ebd.

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dies hinsichtlich der Textualität von Macht und Herrschaft „eine fragmentierte Erzählung, die die Memoria der Familie [Manuel] mit der Geschichte des Königreiches verbindet.“14 Hervorgehoben wird diesbezüglich die intendiert erscheinende „indefinición genérica“ („die gattungsspezifische Unbestimmtheit“),15 also die Tatsache, dass es sich weder um einen rein chronikalischen Text, noch um reine Fiktion handelt. Funes zeigt sowohl die formalen wie inhaltlichen Ähnlichkeiten des erzähltechnischen Vorgehens Don Juan Manuels zu dem der zeitgenössischen Chronisten auf,16 grenzt es jedoch auch von diesem ab. Als Übereinstimmung seines Textes mit dem Projekt eines (königlichen) Chronisten führt Funes erstens den expliziten Hinweis auf eine „escritura por encargo“ bzw. die Erwähnung des Auftraggebers des Textes Fray Johan Alfonso in der Einleitung an,17 zweitens die Einhaltung einer „strikten chronologischen Ordnung“18 und drittens die „minuziöse Aufzeichnung seiner (mündlichen) Quellen“.19 Im Gegensatz zu einer Chronik zeichne sich der Text jedoch nicht durch die Kontinuität seines Berichts über die Herrschaft und das Königreich, sondern durch thematische Diskontinuität im Rahmen einer fragmentierten Erzählung aus.20 Dem hinzuzufügen ist außerdem die Tatsache, dass auch Schilderungen zum aragonesischen Königshaus elementarer Bestandteil des Werkes sind und damit die Reflexion über die Phänomene Macht und Herrschaft nicht allein auf die kastilische Monarchie fokussiert ist. Erzählt wird nach Funes zudem aus einer Ich-Perspektive, die „lo doméstico y lo político“ („das Häusliche und das Politische“) vereint und „ein kontinuierliches Oszillieren zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen“21 evoziert – beides Charakteristika des Textes, die nach Funes die Geschichte des Königreiches aus dem Blickwinkel eines „relato linajístico“ („einer Familiengeschichte“ bzw. „eines dynastischen Narrativs“)22 inszenieren, zumal – und das stellt Funes’ dritte Abgrenzung zum Genre der Chroniken dar – Don Juan Manuel vor dem Problem der Glaubwürdigkeit nicht wie ein Chronist auf institutionelle Bestätigung,23 oder auf schriftliche Dokumente setzen kann, sondern den 14 Funes 2015, 14: „un relato fragmentario, que entrelaza las memorias familiares con la historia del reino“. 15 Cacho Blecua/Lacarra Ducay 2012, 427. 16 Funes 2015, 15: „la voluntad del autor de inscribirlo en el marco del discurso histórico (primer paso de su estrategia discursiva).“ 17 Ebd. Zur textuellen Relevanz der Auftraggeberschaft später im Part der Textanalyse. 18 Ebd.: „un estricto orden cronológico –preocupación primordial de todo cronista“. 19 Ebd.: „la prolija consignación de fuentes –normal en la práctica cronística castellana desde la época de Alfonso X“. 20 Ebd., 16. 21 Ebd.: „una continua oscilación entre lo privado y lo público“. 22 Vgl. Hijano Villegas 2014; hier ist abschließend die Rede von einer „apropiación simbólica de la historia“ (100). 23 Funes 2015, 16.

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Wahrheitsanspruch in der Rezeption einer oralen Memoria und der Erinnerung des Autors (be)gründet.24 Insofern steht in diesem Werk die Mündlichkeit vor der Schriftlichkeit und in die auf oralen Quellen basierende Textualität fließen geradezu zwangsläufig auch fiktionale Inhalte mit ein. In diesem Sinne stellt der Text – wie Schlieben treffend formuliert – eine „bunte Mischung aus Wunderbarem und Historischem“25 oder – wie Cacho Blecua und Lacarra Ducay es für die Literaturgeschichte der Iberischen Halbinsel auf den Punkt bringen – das „beste Zeugnis dafür [dar], wie sich die Wege der Geschichte und der Fiktion im Mittelalter kreuzen“.26 Zum außerliterarischen historischen Kontext muss berücksichtigt werden, dass Don Juan Manuels produktivste literarische Schaffenszeit in den Zeitraum seiner größten Konflikte mit Alfons XI. fällt, denn zwischen 1327–1336 verfasst er drei für sein Gesamtwerk fundamentale Texte: das ‚Libro del cavallero et del escudero‘, das ‚Libro de los estados‘ und sein fiktionales Hauptwerk ‚El conde Lucanor‘.27 Die Entstehung des ‚Libro de las armas‘ hingegen wird – so die gängigste Datierung zwischen 1342 und 134528 – erst Jahre nach diesem Konflikt angesiedelt, welcher mehr als ein Jahrzehnt für interne Unruhen in Kastilien sorgt und aus dem Alfons XI. als Sieger hervorgeht. Mit königlicher Autorität bekämpft er erfolgreich jeglichen gegen ihn gewandten Versuch der Rebellion seines einstigen Tutors.29 Bereits Orduna erachtet es für plausibel – und darin stimmt die Forschung weitgehend mit ihm überein –, dass Don Juan Manuel das ‚Libro de las armas‘ insbesondere im Zuge seines Machtverlustes am Hof, wo er nicht länger als Tutor Alfons’ XI. fungiert und vor allem infolge der Niederlage im späteren Konflikt mit diesem jungen König, zur Verteidigung seiner Ehre und als Apologie der Gerechtigkeit verfasst, „um das Schwert gegen die Feder einzutauschen und einen letzten gewieften, mitten in den Stolz des [alfonsinischen] Adelsgeschlechts zielenden Schlag auszuführen, der die nächsten Jahrhunderte mit öffentlicher Stimme fortbestehen sollte“.30 Aufgrund der Annahme dieses

24 Ebd. 20: „en la recepción de una memoria oral y en la propia memoria del narrador“. 25 Schlieben 2009, 98. 26 Cacho Blecua/Lacarra Ducay 2012, 427: „el testimonio más perfecto de cómo los caminos de la historia y la ficción se entrecruzan en la Edad Media“. 27 Funes 2015, 13. 28 Gómez Redondo 1998, 1191; hierzu auch Schlieben 2009, 100. 29 Germán Orduna, El ‚Libro de las Armas‘: clave de la „justicia“ de don Juan Manuel, in: Cuadernos de historia de España 67/68 (1982), 230–268, hier 244: „mantuvo firme la autoridad de la corona sobre sus poderosos súbditos, al tiempo que reprimía enérgicamente todo intento de rebeldía“. 30 Ebd., 259: „para cambiar la espada por la pluma y asestar un golpe último y artero, directamente dirigido al orgullo de linaje, y que perdurará con voz pregonera en los siglos futuros.“

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‚kreativen‘ Vergeltungsschlages gegen Alfons XI.31 ist Juan Manuel in der Forschung letztlich „zu einem vollkommen entmachteten Autor [degradiert worden], dem neben scheinbar irrationalem Stolz außer seiner Feder wenig geblieben sei. Was sein Schwert nicht zu leisten vermochte, sollte […] wenigstens im Reich der Fiktion gelingen.“32 Die zeitliche Überschneidung von Konflikt und Literaturproduktion einerseits und die generelle Frage nach Macht und Einfluss Don Juan Manuels als historische und politische Persönlichkeit (in Königsnähe) andererseits hat die Forschung folglich veranlasst, im ‚Libro de las Armas‘ einen literarischen Racheakt gegen die gesamte alfonsinische Herrschaft zu sehen, während auf der anderen Seite die Linie des Autors, das manuelinische Adelsgeschlecht glorifiziert werde. Das ‚Libro de las armas‘ ist „l’œuvre qui tente d’asseoir le plus ouvertement […] la grandeur du lignage des Manuel au détriment du lignage royal.“33 Der vorliegende Beitrag stellt jedoch nicht etwa den Versuch dar, weitere Verknüpfungen zwischen den im Text enthaltenen Informationen (der textinternen Ebene) und der biographischen Situation oder politischen Position des Autors (der textexternen historisch-politischen Ebene) herzustellen. Es soll vielmehr untersucht werden, mit welchen Erzähltechniken der Text die Darstellung der alfonsinischen und der manuelinischen Linie im Spannungsfeld von Kritik und Idealisierung verortet, um zu überprüfen, inwiefern hierbei tatsächlich von einer Kontrastierung die Rede sein kann und inwieweit die Darstellung von Macht und Herrschaft auf die Figur des Herrschers zentriert oder vielmehr durch die Fokussierung seines engeren Umfeldes oder die Hofelite dezentriert ist (Rolle der Königin, der Infanten oder des Ratgebers). Dabei soll der Text als Reflexionsmedium und Zeugnis eines (zeitgenössischen) Verständnisses von Macht und Herr31 „DJM logra su ‚justicia‘ en el Libro de las Armas“ (Orduna 1982, 259); hierzu auch Marcelo Rosende, Profecía, figura, consumación y providencia en el ‚Libro de las tres razones‘ de Don Juan Manuel, in: Revista de Literatura Medieval 18 (2006), 199–223, hier 217: „Para reclamar justicia, el LTR capitaliza al menos tres relatos circulantes a mediados del siglo XIV (la predicción sobre la blasfemia del rey Alfonso, la bendición condicionada del rey Santo, la maldición del linaje del rey Sancho) y con sólo aludir a ellos aprovecha toda su potencia legendaria“. 32 Schlieben (2009, 100) verweist hier auf Gómez Redondo 1998. 33 Olivier Biaggini, L’espace de la frontière et la légitimation du pouvoir nobiliaire dans l’œuvre de Don Juan Manuel, in: e-Spania 31 (2018), http://journals.openedition.org/e-spania/28567 (02. 04. 2019). Vgl. hierzu auch Funes 2015, 14. Nach Schlieben „wächst sich die im ‚Libro de las armas‘ geübte moralisch-politische Verurteilung des [zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes] regierenden Alfons’ XI. zur Kritik an der gesamten alfonsinischen Linie aus“, da diese als „Dynastie ohne Zukunft“ dargestellt werde (2009, 96f.). Hier sei außerdem folgendem zutreffenden Einwand gefolgt: „Will man Juan Manuel weder zum beleidigten Verlierer noch zum weltfremden Propheten degradieren, so wäre zu fragen, ob das gedeutete Ende der herrschenden Linie nicht außer Juan Manuels Rachegelüsten einen anderen realhistorischen Hintergrund kennt.“ (2009, 100).

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schaft aufgefasst werden, dem auf einer abstrakteren Ebene als jener der Verknüpfung literarischen Inhalts mit der Biographie des Autors durchaus auch rein konzeptionelle Vorstellungswerte wie etwa Herrschaftsideale oder Reflexionen zu bestimmten Medien der Macht abgewonnen werden können. Die zentrale Leitfrage hierbei ist, wieviel uns der Text überhaupt aus dem Bereich der eigentlichen Herrschaftspraxis – nicht nur der alfonsinischen, sondern generell – preisgibt und was wir aufgrund dessen über das Verständnis von Herrschaft in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ableiten können. Eine weiterführende Frage wäre, in welchem Verhältnis hierzu die (explizite oder implizite) Darstellung von Macht – ihrer symbolischen Zeichen und Mittel – steht. Da es sich bei dem ‚Libro de las armas‘ um ein kurzes, wenngleich komplexes Werk von 16 Seiten handelt, kann und soll der Text hier in seiner Gesamtstruktur hinsichtlich der oben dargestellten Leitfragen und Schwerpunkte untersucht werden, wobei der Schwerpunkt der Analyse jedoch auf dem dritten Textteil (der terçera razón) liegen wird.34

2.

Strukturelemente: Legitimation des Erzählens und Rezeptionssteuerung

In einer tiefergehenden Analyse der Textstruktur soll nun zwischen erzähltechnisch-stilistischen und inhaltlich-thematischen Rahmungselementen unterschieden werden, um die aufwändige und vielschichtige Strukturierung dieses Werkes in kategorisierender Weise und in ihrer Relevanz für die textuelle Verankerung von Macht und Herrschaft sichtbar zu machen. Die ersten beziehen sich auf die paratextuelle Ebene, also eine im Hinblick auf den Inhalt des Textes externe oder äußere Rahmung, die zweiten auf eine textinterne innere Rahmung. Wie im Falle anderer Werke Don Juan Manuels wird auch dieses Traktat durch einen Dialog gerahmt, wenngleich es sich nicht – wie etwa im ‚Libro del Conde Lucanor‘ – im formalen Sinne um eine fortlaufende Rahmenerzählung, sondern vielmehr um die paratextuellen Hintergründe zur Entstehung des Textes handelt.35 Frey Johan Alfonso, yo, don Johan, paré mientes al rruego et afincamiento que me fiziestes, que vos diesse por scripto tres cosas que me avíades oýdo, por tal que (si) [se] vos non olvidassen, et las pudiésedes retraer quando cunpliese. Et las tres cosas son estas: […].36 34 Der dritte Teil ist nach der Gliederung des Autors die tercera razón (Seiten 101–107 der hier verwendeten Edition von Ayerbe-Chaux). 35 Vgl. hierzu auch Cacho Blecua/Lacarra Ducay 2012, 426: „subyace como trasfondo la comunicación sostenida entre su amigo, el dominico fray Juan Alfonso, y el autor.“ 36 Ayerbe-Chaux 1989, 91: „Bruder Juan Alfonso, ich, Don Juan, habe über Euer Bitten und Drängen nachgedacht, Euch die drei Dinge, die Ihr von mir hörtet, schriftlich zu geben, sodass

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Im Prolog gibt Don Juan Manuel als Schreibmotiv die nachdrückliche Bitte eines Freundes, des Dominikaners Fray Juan Alfonso, an, drei Überlegungen für ihn schriftlich festzuhalten, sodass diese drei „Dinge“ (cosas) nicht in Vergessenheit geraten und bei Gelegenheit referiert bzw. mündlich wiedergegeben37 werden können. Das ‚Libro de las Armas‘ stellt Orduna zufolge „ein Echo dieser Konversation“ zwischen dem adligen sennor38 und dem Dominikaner dar und entspricht damit „dem traditionellen didaktischen Prozedere des Rahmendialogs“.39 Der Verfasser kommt mit diesem Traktat einem Auftrag nach, der unabhängig davon, ob er real oder frei erfunden ist, eine erzähltechnisch zentrale Funktion, die der stilistischen Rahmung und der Hervorhebung des Aktes der Verschriftlichung, erfüllt und dabei auf die für den vormodernen Kontext essentielle Bedeutung der Performanz, das zukünftige mündliche Rezitieren der verschriftlichten Inhalte, verweist. Der Prolog enthält daran anknüpfend auch eine explizite Behauptung des Wahrheitsanspruchs (Et cred que todo passó assí verdaderamente. „Und glaubt [mir] dass alles wahrhaftig so geschah.“),40 der hier zwar gewissermaßen vorab festgeschrieben, andererseits jedoch auch am Ende der Einleitung durch den ausdrücklichen Hinweis auf die mögliche Existenz anderer schriftlich vorliegender Zeugnisse zu diesen Themen revidiert wird. Zur Steuerung der Rezeption wird zugleich antizipiert, dass mögliche weitere Leser seines Textes diese anderen vermuteten Texte in Vergleich zu seinem eventuell sogar für glaubwürdiger halten könnten: Et vos et (que) los que este scripto leyeren, si lo quisiéredes crer, plázenos; et si falláredes otra rrazón mejor que ésta, a mí me plazerá más que la falledes et que la creades.41 Der Wahrheitsanspruch wird vor diesem Hinweis jedoch zunächst durch eine ausführliche Darstellung seiner Quellen untermau-

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Ihr sie nicht vergesst und erzählen könnt, wann immer es [Euch] angemessen erscheint. Und die drei Dinge sind folgende: […].“ Retraer wird im ‚Vocabulario de las obras de don Juan Manuel‘ verzeichnet als „contar, relatar, referir, narrar“ (Huerta Tejadas 1956, 153), also als eine Form mündlicher Wiedergabe; vgl. hierzu auch die Angabe „del lat. retractare ‚retocar, revisar, rectificar‘“ unter dem Eintrag zu traer bzw. retraer in Joan Corominas/José A. Pascual, Diccionario crítico etimológico castellano e hispánico, 6 Bde., Bd. 5, Madrid 1981, 576. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Don Juan Manuel sich und seinen Vater vielmehr als Herrscher (diverser Grafschaften und Herzogtümer wie bspw. als señor de Villena, wie er in diversen Prologen seiner Werke und in Briefen immer wieder betont), denn bloß als Sohn des Infanten und Infant bzw. als Mitglieder der königlichen Familie versteht. Orduna 1982, 260: „El ‚Libro de las Armas‘ es pues, eco de esa conversación: el procedimiento didáctico tradicional del diálogo como marco.“ Ayerbe-Chaux 1989, 91. Ebd.: „Und wenn Ihr und jene, die dieses lesen, es glauben mögt, erfreut es uns; und wenn Ihr eine andere razón findet, die ihr als besser erachtet als die vorliegende, freut es mich umso mehr, dass Ihr sie gefunden habt und dieser glaubt.“

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ert, da er sich vorab rechtfertigt, nicht alles Geschilderte persönlich erlebt zu haben und infolgedessen auch nicht bezeugen zu können: [B]ien podedes entender que non pude yo ver lo que acaesçió quando nasció mío padre; et así non vos do yo testimonio que bi todas estas cosas, mas oýlas a personas que eran de crer. Et non lo oý todo a una persona, mas oý unas cosas a una persona et otras a otras, et ayuntando lo que oý a los unos et a los otros, con razón ayunté estos dichos; et por mi entendimiento entendí que passara todo el fecho en esta manera que vos yo porné aquí por escripto […].42

Die Betonung liegt hier auf der Kontrastierung von Augenzeugenschaft und Hörensagen sowie der Tatsache, dass die Zeitachse des Erzählten bereits bei der Geburt seines Vaters (1234) einsetzt. In der darauffolgenden Beteuerung der Quantität und Qualität seiner (mündlichen) Quellen zeichnet sich eine Obsession ab, die Vertrauenswürdigkeit jener Personen, seiner Quellen, zu bekunden. Diese entwickelt sich zu einer Konstante im Text und dient letztlich der Legitimation und Autorisierung des Erzählens über Macht und Herrschaft. Wie Cacho Blecua und Lacarra beobachten, wird die Mündlichkeit zu einem zentralen Schlüssel des Textes,43 die von Don Juan Manuel ausdrücklich thematisiert wird und damit Zugang zu seinem Verständnis des schriftlichen Kompilierens bietet. Im Zentrum steht hierbei die Leistung des Zusammenfügens und der Sinnstiftung. Sein eigener Beitrag ist, wie er es scheinbar bescheiden zum Ausdruck bringt, die geistige Fähigkeit, alles Gehörte schriftlich zu einem Ganzen zusammenzufügen und zu erkennen, dass es sich hierbei um das stimmige Gesamtbild der Ereignisse handle bzw. dass dieses Konstrukt Sinn ergibt. Der hier evozierte Bescheidenheitstopos schlägt recht fließend in Überheblichkeit um, wenn er den Kompilationsprozess mit nicht weniger als der Entstehung der Heiligen Schrift vergleicht.44 Mit dieser 42 Ebd., 91: „Ihr könnt gut nachvollziehen, dass ich nicht sehen konnte, was zum Zeitpunkt der Geburt meines Vaters geschah; und deshalb gebe ich Euch kein Zeugnis, dass ich all diese Dinge gesehen habe, aber ich hörte sie von glaubwürdigen Personen. Und ich habe nicht alles von einer Person gehört, sondern ich hörte einiges von einer Person und anderes von anderen und als ich zusammenfügte, was ich von den einen und den anderen hörte, fügte ich die Berichte mit Verstand zusammen; und durch mein Erkenntnisvermögen begriff ich, dass all das auf die Art und Weise geschah, wie ich sie Euch hier schriftlich darlege […].“ 43 Cacho Blecua/Lacarra Ducay 2012, 426: „La oralidad […] se convierte en una de las claves de este libro“. 44 Ayerbe-Chaux 1989, 91: Et así contesçe en los que […] fablan las scripturas: toman de lo que fallan en un lugar et acuerdan en lo que fallan en otros lugares, et de todo fazen una rrazón. Et así fiz yo de lo que oý a muchas personas que eran muy crederas, ayuntan[do] estas rrazones. („Und so geschieht es jenen mit dem Verfassen der [Heiligen] Schriften: Sie nehmen, was sie an einer Stelle finden, und gleichen es ab mit dem, was sie an anderen Stellen vorfinden, und aus allem machen sie eine ‚rrazón‘ [ein Ganzes]. Und so bin ich vorgegangen als ich das zusammenfügte, was ich von vielen Personen, die sehr glaubwürdig waren, gehört hatte.“) Dieses Phänomen kommt der generellen Tendenz gleich, die Schlieben in Anlehnung an Wachinger für die ikonographische Konstruktion von herrscherlichen Autorbildern (Al-

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Genese von auctoritas schreibt sich Don Juan Manuel eine spirituelle Berufung für die Abfassung dieses Traktats zu. Die Spiritualität wird dem Werk sowohl auf Produktions- als auch auf der Ebene der impliziten Rezeption durch den Hinweis auf den geistlichen Auftraggeber und Adressaten des Textes figural eingeschrieben: durch die Figur des Dominikaners Fray Juan Alfonso. Auch im Epilog wird dieser in direkter Anrede angesprochen, sodass seine Präsenz in Prolog und Epilog als formales Rahmungselement zu verstehen ist. Im Hinblick auf die zweite Rahmenebene, die inhaltlich-thematischen Rahmungselemente, fällt zunächst auf, dass anstelle einer Thematisierung der eigentlichen und faktischen Herrschaftsübergänge von Ferdinand III. zu Alfons X. im ersten Teil und von Sancho IV. zu Ferdinand IV. im dritten und letzten Teil des Traktats in beiden Fällen ein für den Verfasser entscheidender Zeitpunkt vor dem jeweiligen Thronwechsel in den Fokus gerückt wird, welcher lediglich auf den Übergang hindeutet und historisch nicht fassbar ist. Die Schilderung dieser beiden Momente, der Traum bzw. die Träume Beatrix’ von Schwaben und die Rede Sanchos IV. geht auf die Figur der Königin – durch mündliche Weitergabe des zentralen Inhalts der Träume – und auf die Figur des Königs zurück – hier im Rahmen der Figurenrede.45 Somit lässt sich zum einen von einer figuralen Rahmung des dreigeteilten Kerntextes sprechen, wobei zu Beginn eine Königin, die Großmutter, als Empfängerin einer positiven, göttlichen Botschaft und zum Schluss (im dritten und letzten Teil) ein König, ihr Enkel Sancho, als Verkünder einer negativen, einer Sündenbotschaft steht. Die Dekodierung der beiden Botschaften bildet einen weiteren inhaltlichen Rahmen: Die erste kommuniziert neben dem „Beginn der Nebenlinie“46 auch den Anfang eines menschlichen Lebens sowie die göttlich vorhergesehene und legitimierte Macht, den Tod Christi zu rächen. Im übertragenen Sinne ordnet sie dem Infanten Manuel und seiner Linie die „heilsgeschichtliche Bedeutung“47 zu, das Christentum zu retten bzw. die Reconquista zum Abschluss zu bringen, und zwar als Aufgabe einer poten-

fons des Weisen) in den Miniaturen des alfonsinischen Hofes vermerkt, dass „[g]anz generell […] im Mittelalter Autorbilder eine besondere auctoritas des Verfassers voraus[setzen], entstammen sie doch ikonographisch dem Ambiente von Propheten, Evangelisten und Kirchenväter[n] und haben so an deren Aura teil.“ (Schlieben 2009, 128). Vgl. hierzu auch Burghart Wachinger, Autorschaft und Überlieferung, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (edd.), Autorentypen, Tübingen 1991, 1–28. 45 Schlieben 2009, 99, nennt den Traum und das Gespräch mit dem König als Rahmen des Textes, misst diesem jedoch keine konkrete Bedeutung bei. 46 Ebd. 47 Ebd.; vgl. auch Francisco Javier Díez de Revenga: El ‚Libro de las armas‘ de don Juan Manuel: algo más que un libro de historia, in: Academia de Alfonso X el Sabio (ed.), Don Juan Manuel: VII Centenario, Murcia 1982, 103–116, hier 111.

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ziellen manuelinischen Herrschaft,48 die es faktisch in der Geschichte Kastiliens nicht gegeben hat. Die zweite Botschaft, im Rahmen derer „der König selbst das Ende seiner Linie formuliert“,49 wird vermittelt durch die Stimme einer Herrscherfigur und handelt von deren baldigem Ende und größten Defiziten: dem fehlenden väterlichen Segen und einer Vielzahl von Sünden. Anfang und Ende, bevorstehende Niederkunft der Königin und bevorstehender Tod des Königs, Potenzial bzw. Macht und Defizit, sowie die Formulierung einer Herrschaftsaufgabe im Kontrast zu herrscherlichen Defiziten bilden den thematischen Rahmen eines Textes, in dessen Mitte – wie nachfolgend zu sehen sein wird – eine Fülle an Konflikten und Intrigen dargestellt wird.50 Die Ausblendung beider oben erwähnter Herrschaftsübergänge ist als weiteres inhaltliches Rahmungselement, als narrativ konstruierte Leerstelle oder auch Rahmung durch Auslassung zu verstehen, an der der Text sich von der Figur des Thronfolgers abwendet. Durch die auf mehreren Ebenen konzipierten Rahmungselemente wird deutlich, dass hinsichtlich der Dreiteilung des Textes vorrangig der Anfang des ersten und das Ende des dritten Teils kontrastiert bzw. rahmend gegenübergestellt werden. Im Folgenden werden die Funktionen der einzelnen Teile unter besonderer Berücksichtigung des Erzählschemas, der Figurenkonfiguration und der Fokalisierung untersucht.

48 Und zwar „from the perspective of the discourse of a future past“, wie Jesús D. Rodríguez-Velasco diese Form des „rewriting of history“ bestimmt (Order and Chivalry: Knighthood and Citizenship in Late Medieval Castile, übers. v. Eunice Rodríguez Ferguson, Philadelphia 2010 [span. Originalausg. Madrid 2009], 207), und darüber hinaus im Sinne einer fiktiven Legitimationsstrategie von Herrschaft, vgl. hierzu Maria Stopfner, Wie kommuniziert man Legitimation? Sprachliche und außersprachliche Strategien der Politik im historischen Vergleich – eine linguistische Deutung historischen Arbeitens, in: Astrid von Schlachta (ed.): Wie kommuniziert man Legitimation? Herrschen, Regieren und Repräsentieren in Umbruchsituationen, Göttingen 2015, 9–26, hier 9: „Legitimation, die übergeordnete Rechtfertigung von Herrschaft, kann auf verschiedenen Wegen hergestellt werden: Geschichte, göttliche Texte und Offenbarungen, Mythen, Verwaltung oder Verfassung sind nur einige Mittel.“ 49 Ebd. 50 Vgl. zum Begriff herrscherlicher Defizite Lena Oetzel/Kerstin Weiand, Defizitäre Souveräne. Herrscherlegitimationen im Konflikt, in: Dies (edd.), Defizitäre Souveräne. Herrscherlegitimationen im Konflikt (Normative Orders 23), Frankfurt/New York 2018, 9–24. Sie legen den Schwerpunkt darauf, „wie auf verschiedenen Ebenen Defizite von Herrschern kommuniziert und bewältigt wurden. Diese werden nicht nur benannt, sondern es wird nach dem Umgang mit diesen im praktischen Vollzug von Herrschaft gefragt.“ (11).

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3.

Drei razones („Fragen“) zwischen Macht und Herrschaft

3.1

Die primera razón – Vision und Visualisierung51 der Macht

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La primera cosa que me preguntastes […], digo vos que oý dezir a mi madre, seyendo yo moço pequen[n]o; et después que ella finó, oý dezir [a] Alfonso García, un cavallero que me crió, que era mucho ançiano et se criara con mío padre et era su hermano de leche; et a otros muchos cavalleros et ofiçiales que fueran de mío padre; et aun oý ende algo al rrey don Sancho, –mas lo que él me dixo, dezir vos lo he en el lugar do vos fablaré de las cosas que me dixo a la su muerte ̶ . (f. 25v) Digo vos que a estos sobredichos oý que, quando la rreyna donna Beatriz, mi abuela, era ençinta de mío padre, que sonnara que, por aquella criatura et por su linage, avía a ser vengada la muerte de Jhesu Christo.52

Die primera razón dient, wie im Hinblick auf die rahmende Funktion des Traumes der Königin angedeutet, der Darstellung einer göttlichen Vorbestimmung der Zukunft des Infanten Manuel von Kastilien. Diese erfolgt auf Basis mündlich überlieferten Wissens in zwei Schritten, und zwar über die Schilderung des Traumes hinaus auch durch eine visualisierende Einprägung des manuelinischen Wappens in den Text. Für die Inszenierung des Traumes, anhand derer, wie Díez de Revenga es ausdrückt, dem Adelsgeschlecht Don Juan Manuels ein „charismatischer Charakter“ zugeschrieben wird,53 entwirft der Text eine komplexe Überlieferungskette. Diese geht zurück bis auf die Worte der Königin und damit – wie später in der Beschreibung des Wappens deutlich wird – bis auf die Botschaft Gottes (durch den Engel), die die Königin im Traume hört, wodurch der Inhalt wie auch der Akt des Erzählens legitimiert wird. Betont wird hier, dass Juan Manuel von klein auf immer wieder von Familienmitgliedern und insbesondere von seinem Vater nahestehenden Personen vom Traum seiner Großmutter hört. Die Ankündigung, dass er auf die Worte des Königs Sancho IV. erst später zurückkommen wird, schlägt einen intratextuellen Bogen zwischen den oben betrach51 Der Begriff der Visualisierung versteht sich hier im Kontext textueller Verbildlichung von Zeichen und Symbolen der Macht, wie das bildhafte Beschreiben von Trauminhalten und Wappenelementen; siehe nähere Erläuterung im Fazit zu 3.1. 52 Ayerbe-Chaux 1989, 92: „Zu Eurer ersten Frage […], sage ich Euch, dass ich, als ich ein kleiner Junge war, [es] meine Mutter sagen hörte; und als sie starb, hörte ich [es] [von] Alfonso García, einem Ritter, der mich erzog, der sehr alt war und mit meinem Vater aufgewachsen und sein Milchbruder war; und von vielen anderen Rittern und Bediensteten meines Vaters; und zudem hörte ich etwas vom König Don Sancho, – doch was er mir sagte, werde ich Euch an der Stelle sagen, an der ich Euch berichte, was dieser mir kurz vor seinem Tode sagte. (f. 25v) Ich sage Euch, dass ich von diesen genannten [Personen] hörte, dass die Königin Doña Beatriz, meine Großmutter, als sie mit meinem Vater schwanger war, träumte, dass durch jenes Geschöpf und seine Linie der Tod Jesu Christi gerächt werden sollte.“ 53 Díez de Revenga 1982, 110: „la formulación de un cierto carácter carismático que don Juan quiere para su padre y para su estirpe“.

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teten Rahmungselementen – zwischen den Heil ankündigenden Worten der Königin Beatrix und den von Heillosigkeit und Selbstmitleid zeugenden Worten ihres Enkels Sancho IV. Neben der Königin kommt hier der Figur Ferdinands III. des Heiligen eine zentrale Rolle zu. Wie Schlieben feststellt, tritt der König hier zu Beginn als „Kommentator“ der Träume auf,54 welche er als gegensätzlich identifiziert: Et ella díxolo al rrey don Ferando, su marido. Et oý dezir que dixera el rrey quel pareçía este suenno muy contrario del que ella sonnara quando estava ençinta del rrey don Alfonso, su fijo, que fue después rrey de Castiella, padre del rrey don Sancho.55 Als ‚Traumdeuter‘ wird Ferdinand III. als wortkarg und eher desinteressiert dargestellt und die eigentliche Interpretation des Traumvergleichs bleibt für den Rezipienten offen,56 bzw. kann durch dessen Bewertung der knappen Bemerkung des Königs erfolgen.57 Auf Grundlage des hier evozierten Kontrastes und der damit einhergehenden impliziten, nicht den historischen Fakten entsprechenden Vorrangstellung des jüngsten Infanten Manuel gegenüber dem ältesten, Alfons, werden die verschiedenen Vorzeichen zur Figur des Letztgeborenen als Zeichen einer göttlichen Vorbestimmung für dessen Zukunft konstruiert.58 Diese spirituellen Zeichen werden sich im zweiten Teil der primera razón (des ersten Kapitels) im Rahmen einer detailreichen textuellen Visualisierung des manuelinischen Wappens und dessen Symbolik als weltliche Zeichen von Macht materialisieren. Die Beschreibung des Wappens, der Elemente bzw. Symbole, die dem Infanten Manuel im Auftrag des Königs durch denselben Bischof (Remón de Losada), der

54 Schlieben 2009, 97. 55 Ayerbe-Chaux 1989, 92: „Und sie erzählte es dem König Don Fernando, ihrem Mann. Und ich hörte, der König hätte gesagt, dass ihm dieser Traum sehr gegensätzlich vorkäme zu jenem Traum, den sie während ihrer Schwangerschaft mit dem König Don Alfonso, ihrem Sohn, der später König von Kastilien und Vater des Königs Don Sancho wurde, gehabt hätte.“ 56 Vgl. hierzu Díez de Revenga 1982, 110; ebenso Rosende 2006, 209: „Mientras que en el plano de lo explícito, se presenta a don Manuel como la cabeza de un linaje bendito, en el plano de lo tácito, permanece una sombra sobre el futuro rey Alfonso, sombra que lo cubrirá en la Segunda Razón.“ 57 Die Erwähnung des Thronfolgers Alfons fällt beiläufig aus. Im Folgenden geht es ausschließlich um den jüngsten Infanten Manuel. Alfons wird erst im zweiten Textteil wieder erwähnt, dort dann bereits als König von Kastilien (rrey de Castiella). 58 Hierzu zählen nicht nur die Botschaft, die die Königin bezüglich der Macht des Infanten Manuel und dessen Linie im Traum empfängt, sondern auch die Tatsache, dass dieses Kind zum einen männlich, zum anderen nach längerer Zeit der Unfruchtbarkeit auf die Welt kommt und die königliche Familie also scheinbar gottgewollt erweitert. Darüber hinaus wird dem Infanten von einem Bischof, der geistlichen Vertrauensperson des Königspaars, mit „Manuel“ ein Name zugeschrieben, der „göttliche Erwähltheit [verheißt]“ (Schlieben 2009, 98), da er uno de los nonbres de Dios (einen der Namen Gottes) darstellt sowie ‚Dios conusco‘ (Gott mit uns) bedeutet (Ayerbe-Chaux 1989, 92).

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ihm auch seinen Namen (Manuel) verleiht, zugewiesen werden,59 erstreckt sich über ganze zweieinhalb Seiten des insgesamt sechzehn Seiten umfassenden Traktats. Sie wird hinsichtlich der „Poetics of the Chivalric Emblem“ von Rodríguez-Velasco besprochen, der die expliziten Hinweise auf die Ähnlichkeit mit dem königlichen Wappen hervorhebt: „Don Juan Manuel twice notes the similarity of his coat of arms to those of the kings“.60 „(Bishop Ramón de Losana), who devised these arms, like those that we now bear, which are white and red quartered just as those worn by the kings. And in the red quarter containing the golden castle he placed a golden wing with the hand of a man in which he holds a sword without a scabbard. And in the white quarter containing the lion he placed the same lion. And thus our arms are the same: wings and lions in quarters, just like those worn by the kings, castles and lions in quarters.“61

„The coat of arms is presented as a deconstruction of the coat of arms of the king of Castile and León.“62 Die Dekonstruktion des Wappens der kastilischen Krone erfolgt ausgehend von dem Ähnlichkeitsprinzip63 (der Übereinstimmung der Wappenfarben weiß und rot und des Wappentiers, des Löwen im weißen Feld) und einer darauffolgenden Distanzierung von dem herrschaftlichen Wappen im Sinne einer neuen Kreation, einer spezifischen bzw. eigenen Machtsymbolik der Manuels. Diese kommt vorrangig durch die Substitution des Herrschaftszeichens des goldenen castillo durch ein in seiner Bedeutung vielschichtig auf Macht hinweisendes, aber auch Herrschaft andeutendes neues Zeichen, bestehend aus einem goldenen Flügel, einer Hand und einem Schwert, zum Ausdruck. Die machtspezifische Bedeutung dieser Komposition wird in der Beschreibung der einzelnen Elemente aufgeschlüsselt und beginnt bei dem Schwert, das fortaleza (fortitudo; Tugend und Stärke in Bezug auf seine materielle Beschaffenheit aus Eisen),64 justiçia (Gerechtigkeit) und la cruz (den Glauben) symbolisiert und an die im Traum 59 Die Figur des Bischof Remón de Losada wird einerseits als enge Vertrauensperson des Königspaars und gleichzeitig als verantwortlich für den Namen und später, aufgestiegen zum Erzbischof von Sevilla, als verantwortlich für das manuelinische Wappen dargestellt (92f.). 60 Rodríguez-Velasco 2010, 209. 61 Ayerbe-Chaux 1989, 93; die Übersetzung aus dem Altspanischen ins Englische entstammt Rodríguez-Velasco 2010, 209. Hervorhebungen im Original. 62 Ebd., 208f. 63 Zum symbolischen Wert und Gebrauch der semejança (Ähnlichkeit) bei Don Juan Manuel siehe das Kapitel „‚El Conde Lucanor‘ and Analogy“ in Laurence de Looze, Manuscript Diversity, Meaning, and Variance in Juan Manuel’s El Conde Lucanor, Toronto 2006, 93–116. Siehe auch die neuesten Studien von Dorothee Kimmich zur Kategorie der ‚Ähnlichkeit‘ als „kulturtheoretisches Paradigma“ (Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (edd.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015) bzw. als Alternative zum differenzbasierten Denken und Analysieren, in Dorothee Kimmich, Ins Ungefähre: Ähnlichkeit und Moderne, Konstanz 2018. 64 Rodríguez-Velasco 2010, 210: „strength is necessary to fulfill the dream of the queen, and it may only be achieved with justice and with faith in Jesus Christ“.

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der Königin prophezeite große Aufgabe der Manuels rückgebunden wird: ca sin ser omne justo et derechudero non podría aver la gracia de Dios para acabar tan grant fecho.65 Dem Schwert folgt das körperliche Zeichen der Hand, die für grant sabiduría (große Weisheit) steht und das Schwert führt. Erst durch die Erläuterung des Flügels, que significa tres cosas („der drei Dinge bedeutet“),66 erfolgt die eigentliche intratextuelle Verknüpfung zwischen dem Wappen und der Vision von Macht im vorausgehenden Traum der Königin, denn an erster Stelle steht der Flügel für den Engel, „welcher der Überbringer der Nachricht [Gottes] an die Königin war, als sie den besagten Traum träumte“ (el ángel, que fue mensajero a la rreyna quando sonnó el suenno que de suso es dicho).67 Ferner wird er als parte de linage de los enperadores que traýan águilas,68 als Flügel eines kaiserlichen Adlers, interpretiert und ist zudem Ausdruck von grant poder et grant riqueza et grant avantaja de las otras gentes („großer Macht und großem Reichtum und großem Vorteil gegenüber den anderen Menschen“), Privilegien, die nachfolgend durch die Bedeutung des Löwen untermauert werden, der in diesem Wappen einen biblisch-metaphorischen (als Figur Jhesu Christo[s]), einen herrschaftssymbolischen (muestra [que] este infante era derechamente de los rreys de León) und einen zur Tierwelt analogen (así commo el león es sennor et mayoral de las otras animalias, que así este linage deve aver avantaja et sennorío de las otras gentes para acabar el servicio de Dios)69 Stellenwert innehat. Dadurch wird die prinzipielle, durch Gott bestimmte Erwähltheit bzw. Befähigung der manuelinischen Linie zur Herrschaft aufgezeigt, diese jedoch als Ausdruck einer hiervon unabhängigen Macht kodiert. „Like a moving picture, the narrative develops from left to right, and one quarter gives way to the next.“70 So entstehen auf Grundlage der detaillierten Beschreibung der sich aufgliedernden Elemente viele Einzelbilder, die im Auge des Rezipienten tatsächlich eine dritte Dimension eröffnen, indem sie sich sukzessive zu einem Ganzen, zu einem textuellen Bild der Macht und potenzieller Herrschaft zusammenfügen, einer „manifestation of power as a political projection from a theological beginning“.71 Das Phänomen der Macht manifestiert sich folglich in diesem ersten Teil durch die Dimension textueller Visualisierung und Materialisierung. Es wird sowohl durch eine Vision göttlicher Vorbestimmung (inszeniert durch die Rolle der Königin) als auch durch die Narrativierung eines weltlichen Repräsentations65 Ayerbe-Chaux 1989, 94: „denn wer kein gerechter und rechtsliebender Mensch ist, erlangt nicht die [notwendige] Gnade Gottes, um eine so große Tat zu vollbringen“. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 94f. 70 Rodríguez-Velasco 2010, 211. 71 Ebd., 208.

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mediums von Macht, der erzählerischen Einzeichnung des Wappens bzw. der weltlichen Zeichen von Macht in den Text, charakterisiert.

3.2

Die segunda razón – Ritual und Territorialisierung der Macht

La otra [razón] que me preguntastes, que por qué podemos fazer cavalleros yo et míos fijos legítimos, non seyendo nós cavalleros, lo que non fazen fijos nin nietos de infantes, vos respondo que […].72

Auf das hier angekündigte Thema, das Vorrecht der manuelinischen Linie, Ritter zu schlagen, kommt Don Juan Manuel erst am Ende dieses zweiten Kapitels zu sprechen.73 Die segunda razón beginnt stattdessen mit einer Vorstellung des Königshauses Aragon anhand einer Auflistung sämtlicher Infant(inn)en und ihres heiratspolitischen Verbleibs.74 Bezüglich der Präsentation der weiblichen Nachkommen Jakobs I. und Violantes von Ungarn fallen dem Leser drei Besonderheiten in den Blick. Die älteste Infantin, Königstochter Violante, heiratet el rrey don Alfonso de Castiella („den König Alfons von Kastilien“),75 der in diesem Text erstmalig so genannt wird.76 Die Vorstellung der Infantin Konstanze (que casó con el infante don Manuel, mío padre),77 deren Verheiratung nachfolgend zentrales Motiv der segunda razón wird, hebt mit der Betonung mein Vater wiederum die Figur des Infanten Manuel hervor. Vorangestellt wird hier jedoch die Geschichte der jüngsten infanta donna Sancha und ihre Besonderheit, 72 Ayerbe-Chaux 1989, 95f.: „Zu Eurer anderen Angelegenheit, der Frage, warum ich und meine legitimen Söhne Ritter schlagen können, ohne selbst Ritter zu sein, Vorrecht, das weder Söhne noch Enkel von Königssöhnen innehaben, antworte ich Euch [genau wie ich Euch bereits sagte, dass ich nichts von dem hier Dargelegten selbst sah oder lediglich von einer einzigen Person hörte. Ich hörte es von vielen Personen, von den einen dies, von anderen anderes…]“. Auch hier äußern sich die Konstante des Insistierens auf der Mündlichkeit seiner Informationen sowie die direkte Anrede des Adressaten. 73 Ruiz 1989, 105. 74 Ayerbe-Chaux 1989, 96. Im Gegensatz dazu werden im vorausgehenden ersten Textteil (primera razón) bezüglich des kastilischen Königshauses lediglich zwei Infanten, der jüngste und der älteste, der Vater Don Juan Manuels und der Thronfolger Alfons einander gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung erfolgt ausschließlich auf Grundlage der Träume der Königin, wobei der Traum zu dem Infanten Alfonso inhaltlich unklar bleibt bzw. nur als konträr gekennzeichnet wird. Wie oben beobachtet, spielt im weiteren Verlauf des ersten Textteils lediglich der Infant Manuel eine Rolle und überschattet damit die Bedeutung des historischen Thronfolgers Alfons. 75 Ebd. 76 Der eigentliche Herrschaftsübergang von Ferdinand IV. zu Alfons X. entfällt folglich zugunsten der Thematisierung des Infanten Manuel – seiner Geburt, seines Aufwachsens bzw. Erziehung und seines Wappens –, die die Jahre zwischen 1234 und dem Zeitpunkt der Nennung Alfons’ als König von Kastilien ausfüllt, komplett. 77 Ayerbe-Chaux 1989, 96.

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ein Leben fernab des Hofes geführt und nie geheiratet, sondern stattdessen im Heiligen Land anonym in einem Pilgerhospiz geholfen zu haben.78 Die Schilderung der tugendhaften Lebensaufgabe der Sancha von Aragon scheint auf den ersten Blick anekdotisch und hat dennoch eine wichtige Funktion, da sie ein wundersames Detail zu ihrem Tod beinhaltet,79 das zu ihrer Verehrung als Heilige und Verkörperung der caritas führt und nachfolgend als Kontrastfolie dient. Diesem Inhalt – ob nun Fakt oder Fiktion – wird anschließend das untugendhafte und intrigante Verhalten der ältesten Infantin Violante gegenübergestellt. Diese empfindet für die mittlere Schwester Konstanze aufgrund von deren außergewöhnlicher Schönheit und Status als Lieblingstochter einen abgrundtiefen Neid und Hass.80 Ihre Mutter, die Königin Violante von Ungarn, befürchtet, Konstanze könne diesem Ausmaß negativer Emotionen ihrer älteren Schwester zum Opfer fallen.81 Daher verlangt sie im Rahmen ihres letzten Willens Jakob I. das Versprechen ab, Konstanze nur mit einem König zu verheiraten,82 sodass ihr Status als Königin – dem ihrer Schwester Violante (als Königin von Kastilien) ebenbürtig – sowie die räumliche Distanz sie vor Violante schütze. Um eine Verheiratung ihrer Schwester mit dem Infanten Enrique von Kastilien zu verhindern, der sich im Konflikt zwischen beiden Reichen auf die Seite Jakobs von Aragon geschlagen und sich damit gegen seinen eigenen Bruder, Alfons X., gewandt hatte,83 ergreift Violante – nicht ihr Mann Alfons – die Initiative. Sie begibt sich in nicht-königlicher Kleidung mit ihren Kindern zu ihrem Vater nach Aragon, um ihn von dem Vorhaben dieser Verbindung abzubringen. Wie die Infantin Sancha negiert sie mit der Verkleidung als arme Frau ihre hohe bzw. 78 Don Juan Manuel gibt als glaubhafte Informantin für diesen Abschnitt legendenhafter, ja beinahe hagiographischer Ausgestaltung, dessen Inhalt in keiner Chronik belegt ist und insofern von der Forschung den fiktiven und wunderbaren Elementen des Textes zugeordnet wird, seine erste Ehefrau, die Infantin Isabel von Mallorca, an. Vgl. Deyermond 2002, 92. 79 Dieser löst ein Läuten aller Glocken aus und die Hände der Toten geben – wie im Falle des Heiligen Alexius von Edessa – ein Schreiben nicht her, das ihre Identität als Königstochter preisgibt. Nur einem grant perlado, einem hohen Geistlichen, gelingt es, die carta Sanchas erstarrter Hand zu entnehmen und zu lesen (Ayerbe-Chaux 1989, 96). Vgl. hierzu Deyermond 2002, 92; sowie weiterführend Martín de Riquer, La leyenda de la infanta doña Sancha, hija de don Jaime el Conquistador, in: Homenaje a Millás-Vallicrosa, 2 Bde., Bd. 2, Madrid 1956, 229–241. 80 Ayerbe-Chaux 1989, 97: al su tienpo non avía(n) más fermosa muger en ninguna tierra. 81 Ebd.: Violante […] quería muy grant mal a la infanta donna Constança, su hermana; segund oý dezir, por grant envidia que avía della. […] Et […] era tan grande el desamor quel avía, que dizen, que la rreyna que avía muy grant reçelo quel guisaría la muerte por quantas partes pudiese. 82 Ebd.: pidió por merçed al rrey don Jaymes, su marido, que jurase que non casase a donna Constança si non con rrey. 83 Dieser wird zudem als zukünftiger König und damit als sicherer Heiratskandidat für Konstanze beschrieben, da er durch die Eroberung Nieblas, bis dato rreyno de moros, im Begriff war, sich ein eigenes Reich zu sichern.

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königliche Herkunft, jedoch nicht mit der Absicht ihrer Schwester, anonym Gutes zu tun, sondern um ihren Vater mit der nicht-standesgemäßen Kleidung84 zu schockieren und letztlich durch das Motiv der Selbstdegradierung Mitleid und Sorge in ihm zu erwecken, was durch Klagen über die möglichen Konsequenzen, die eine Verheiratung Konstanzes mit Enrique für Kastilien zur Folge hätte, verstärkt wird.85 Der König ist verwundert über die Art und Weise, wie seine Tochter vor ihn tritt.86 Die fingierten Emotionen Violantes im Rahmen ihrer Ankunft und ihr Vorwurf, er würde sie, ihre Kinder und ihr Reich mit der geplanten Heirat (Konstanzes und Enriques) gefährden, ist als Appell an seine Verantwortung als Vater für Wohlergehen, Schutz und Ehre seiner Tochter und Enkel zu verstehen. Dies führt zum Eingeständnis der Ratlosigkeit des Herrschers, der hier zudem als gutgläubig beschrieben wird.87 Diesen von ihr provozierten Moment der Schwäche nutzt Violante aus, um ihrem Vater einen Ausweg aus der scheinbar aussichtslosen Lage zu unterbreiten und damit den Infanten Enrique auf Distanz (von Kastilien) zu halten: él et el rrey, su marido, podrían […] cobrar el rreyno de Murçia […] et darlo al infante don Manuel et a la infanta donna Constança; et así sería guardada la su jura, et ella et su marido et sus fijos sin reçelo de perder la onra […].88 Dem König bleibt 84 Zum Motiv der Verkleidung im Kontext der „intrigas de la familia real“ vgl. María Jesús Lacarra, Don Juán Manuel, Madrid 2006, 138. 85 Ayerbe-Chaux 1989, 97f.: Et estando el pleito en esto, entendiendo el rrey de Castiella et la rreyna donna Violante, su muger, que si este casamiento se fiziese, que les era […] muy grant danno et grant movimiento en su regno […]. 86 Ebd., 98: Et quando la falló, cuydando que era alguna destas cobigeras del rastro de la rreyna, non paró mientes por ella. Et ella, de que vio al rrey, su padre, […] [dexóse] caer della bestia en que venía, dando muy grandes vozes. Et el rrey, quando la vio, entendió que era la rreyna, su fija, [et] fue muy marabillado por la manera en que vinía, et allí non quiso más fablar con ella. Mas […] preguntól si era vivo el rrey, su marido. Et ella díxol que vivo era; mas, que pues él, seyendo su padre, le quería tomar el rreyno a ella et a sus fijos, que se querían venir para su casa; que mejor le era, pues el rreyno avía a perder, estar en casa de su padre que non en tiera estranna. 87 Ebd. (Hervorhebungen der Verfasserin): El rrey don Jaymes, commo era omne bueno et leal, non se catando de tan fondo enganno et tan grant maestría, dixo a su fija que era en muy grant coita. Ca de una parte, non quería fazer ninguna cosa por que ella et sus fijos perdiesen el rregno; de otra parte, que él non sabía qué fazer contral pleyto que pusiera con don Anrique […]; pues él non podía casar a la infanta donna Constança […] si non con rrey, segund la jura que fiziera a la rreyna, su mujer. („König Jakob, der nicht mit einem solchen Betrug und einer solchen Hinterlist rechnete, da er ein guter und loyaler Mensch war, sagte zu seiner Tochter, er befinde sich in großer Sorge. Denn einerseits wolle er nicht, dass sie und ihre Kinder das Königreich verlieren; andererseits wisse er nichts gegen die Vereinbarung mit don Anrique einzuwenden […]; und schließlich könne er die Infantin Konstanze nur mit einem König verheiraten, wie er es seiner Frau, der Königin, geschworen hatte.“). 88 Ebd.: „er und der König, Ihr Mann [Alfons X.] könnten [zusammen] das Königreich Murcia [zurück]erobern und es dem Infanten Manuel und der Infantin Konstanze geben; und so würde [er] den Schwur einhalten und sie [Violante], ihr Mann und ihre Kinder wären ohne Furcht, ihre Ehre [ihr Reich] zu verlieren.“

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nichts anderes übrig, als ihren Vorschlag zu akzeptieren (que se ovo el rrey [a] avenir, et otorgógelo), da dieser über die emotionale Komponente hinaus auch mit einer Frage der Ehre verbunden ist: die einer gemeinsamen Rückeroberung Murcias mit Alfons X. Als Reaktion auf die Auflösung des heiratspolitischen Paktes mit dem Infanten Enrique wird der König letztlich jedoch durch einen cantar (Sangvers) öffentlich verflucht (rrey bello que Deo cofonda, / tres son éstas con [l]a de Malonda),89 der das schmähliche Verhalten, dass Jakob I. sein Wort nicht gehalten hat, zum Ausdruck bringt.90 Violante agiert hier einerseits als Königin von Kastilien im persönlichen (Motiv Hass) wie im Interesse ihres Reiches, wofür sie gleichzeitig gegenüber ihrem Vater die Rolle als Infantin Aragons und einer verantwortungsbewussten bzw. besorgten Königinmutter instrumentalisiert. Fokussiert werden hier das missbrauchte Vertrauen bzw. die Königsnähe und die Emotionen als Strategien der Macht, die einen Herrscher täuschen und in seiner Handlungsfreiheit einschränken können. Fortgesetzt wird das hinterlistige Vorgehen Violantes durch eine Täuschungsaktion Alfons’ X., der nach der Eheschließung zwischen Konstanze und Manuel, seinem Bruder, diesem die vorgesehene Zuteilung des rückeroberten Reiches Murcia verwehrt.91 Für die Reaktion Manuels wird jedoch eine Rhetorik des Verzichtes und der Treue gegenüber seinem König entworfen, die ihn als tugendhaften ehrbaren Mann auszeichnet, während die Figur Alfons’ X. – wie die seiner Frau Violante – als intrigant dargestellt wird: Mío padre era one bueno et leal et amava mucho al rrey; et commo quier que algunos ge lo dizían, nunca le pudieron fazer creyente que esta maestría viníe por el rrey.92 Die Handlungsweise Violantes und Alfons’ X. dient nicht nur der Kritik an der alfonsinischen Herrschaft, sondern darüber hinaus einer theoretischen Reflexion über das Phänomen der Macht und dessen Medium der Intrige,93 sowie der Erörterung des Handlungsspielraumes von Herrschern. Das Bild des Herrschers 89 Ebd., 99. 90 Díez de Revenga bezeichnet diesen als „brevísimo y casi enigmático fragmento poético“ im galizischen Dialekt der „cantigas de don Alfonso X“ (1982, 114). 91 Ayerbe-Chaux 1989, 99f. 92 Ebd.: „Mein Vater war ein guter und loyaler Mann und liebte den König sehr; und obwohl man ihn darauf hinwies, ließ er sich nicht davon überzeugen, dass diese List vom König initiiert worden war.“ Vgl. hierzu Funes 2015, 20, der auf die Konstruktion einer „duplicación masculina del malo y del bueno“ hinweist, auf die Tatsache, dass Alfons X. und sein Bruder Manuel den männlichen Gegenpart zur Repräsentation von Gut und Böse in der Konstellation der Schwestern Violante und Konstanze bedeuten: „Alfonso y Violante marcados por la maldad y el engaño; Manuel y Constanza, paradigmas de la bondad y la inocencia.“ („Alfons und Violante gekennzeichnet von Boshaftigkeit und Täuschung [bzw. Betrug]; Manuel und Konstanze, Paradigmen der Güte [bzw. Liebenswürdigkeit] und Unschuld.“). 93 Vgl. Funes 2015, 20: „esta contienda doméstica pone en marcha una intriga política que involucrará al rey Alfonso X y a su hermano Manuel“ („dieser häusliche Konflikt gibt Anlass zu einer politischen Intrige, die den König Alfons X. und seinen Bruder Manuel involviert“).

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reicht hier einerseits bezüglich der Figur Alfons’ X. von Passivität oder Initiativlosigkeit (im Vergleich zum spontanen Handeln seiner Frau) bis zu intriganter Falschheit gegenüber seinem Bruder, dem Infanten Manuel, und umfasst andererseits, anhand der Figur Jakobs I., Manipulierbarkeit, Handlungsunfähigkeit, Ratlosigkeit (seitens offizieller Ratgeberfiguren) und Gutgläubigkeit (gegenüber seiner Tochter, der Königin von Kastilien).94 Im Kontrast zu diesem kritischen Blick auf die Verhältnisse in und zwischen Kastilien und Aragon steht nun am Ende dieses Kapitels die Idealisierung eines alternativen Territoriums, ein explizit von jeglicher Herrschaft unabhängiges Gebiet, das dem Infanten Manuel anstelle Murcias zuteilwird und damit einhergehend die Idealisierung des fazer cavalleros (Ritterschlags) als Ritual und symbolischer Demonstration einer herrschaftsunabhängigen Macht: [D]ieron a mío padre a Elche, con una comarca de lugares que llaman los moros El Alhofra, que fue siempre commo rreyno et sennorío apartado que nunca obedesçió a ningund rrey. […] [T]odos los que aquel sennorío oviesen, troxiessen su casa et su fazienda en manera de rreys.95

Dieses Territorium wird als territoriales Zeichen der Unabhängigkeit der Manuels und der Freiheit ihres Handelns entworfen, „assimilable à une quasiroyauté. Tout se passe comme si le statut que ces territoires avaient sous domination musulmane n’était pas effacé par la conquête chrétienne mais offrait à la noblesse conquérante la possibilité de se redéfinir vis-à-vis des autres pouvoirs.“96 Wenn die Forschung Don Juan Manuel vorwirft, er hätte sich kürzer fassen können, um auf die eigentliche Fragestellung dieses zweiten Traktatteils, wie es zu seiner Befähigung zum Ritterschlag gekommen sei, einzugehen, ließe sich im Hinblick auf die textuelle Verankerung der Begriffe Macht und Herrschaft eine These zur Erklärung der komplexen und detailreichen Erzählweise aufstellen: Für die Idealisierung der Macht der Manuels (der nicht-herrschenden Linie) brauchte es vorab eine negative Kontrastfolie bezüglich der Ausübung von Macht im Kontext von Herrschaft bzw. von Herrschenden. So weisen die hier dem eigentlichen Thema, dem fazer cavalleros – dem Ritual und ursprünglich kö94 Damit wird gleichzeitig auch die Figur eines schlecht beratenen Herrschers (Jakob I.) ins Zentrum gestellt und auf die essentielle Bedeutung der Beratung als Ressource von Herrschaft sowie als manipulatives Machtinstrument (hier in der Hand einer weiblichen Akteurin) hingewiesen, wobei insbesondere die Negativfolie, die Ratlosigkeit und das mangelnde Bemühen um Rat als herrscherliches Defizit hervorstechen. 95 Ayerbe-Chaux 1989, 100: „Sie gaben meinem Vater die Stadt Elche mit einem Gebiet, das die Mauren El Alhofra nennen, das immer ein abgelegenes Königreich und Herrschaftsgebiet gewesen ist und nie einem [anderen] König unterstand. […] Und […] alle, die jenes Herrschaftsgebiet besäßen, sollten ihr Haus und Habe wie Könige führen.“ 96 Biaggini 2018, 37. Vgl. hierzu auch ebd., 20f.

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niglichem Privileg des Ritterschlags – vorausgehenden Inhalte darauf hin, wie stark die Handlungsfreiheit eines Königs eingeschränkt werden kann, fokussieren hierbei jedoch nicht primär das kastilische, sondern zunächst auch das aragonesische Königshaus.

3.3

Die tercera razón – Figur(alisierung) der Macht

Dem Titel der tercera razón zufolge handelt es sich hierbei inhaltlich um die fabla del rey don Sancho, die letzten Worte des Königs Sancho IV., kurz bevor dieser stirbt. Der Rede des Königs geht jedoch zunächst eine längere Erzählung über den bereits kranken und schwachen Zustand des Königs und das Verhältnis zu seinem dem Text zufolge engsten und ergebensten Vasallen und jüngeren Cousin Juan Manuel voraus. Die letzten Worte des sterbenden Königs Sancho IV. werden somit nicht durch die Verdienste oder Erfolge des Königs eingeleitet – sei es die Darstellung seiner Tugendhaftigkeit, seiner Weisheit oder insbesondere auch seiner militärischen Siegeszüge –, worauf viele Chroniken des europäischen Mittelalters im Kontext eines Herrschaftsendes bzw. des Todes eines Herrschers rekurrieren,97 sondern durch die Worte Juan Manuels, der das letzte Lebensjahr des Königs resümiert. Wie Lacarra bemerkt, handelt es sich um den einzigen Erzählteil, in dem der Autor sich selbst als Augenzeuge inszeniert98 und sich dadurch das Erzählschema der primera und der segunda razón (der ersten beiden Teile des Traktates) insofern signifikant ändert, als keine mündlichen Quellen und Gewährsleute zur Beglaubigung des Inhalts mehr aufgeführt werden, sondern stattdessen als Höhepunkt des Textes ein testimonio, ein Augenzeugenbericht, gewählt wird, in dessen Rahmen sich der Ich-Erzähler auf das erlebende Ich, den jungen Juan Manuel, beruft. An erster Stelle steht hierbei das Erzählen über den König (narratoriale Fokalisierung), während im zweiten und dritten Teil dieser tercera razón die Stimme des Königs selbst sprechen wird (figurale Fokalisierung) bzw. als solche inszeniert wird. Inhaltlich und erzähltechnisch kann die tercera razón also wiederum in drei Abschnitte untergliedert 97 Auch in der ‚Primera Crónica General de España‘ (ed. Ramón Menéndez Pidal, 2 Bde., Bd. 1, Madrid 1906, 770–773), die hauptsächlich im Rahmen der Geschichtsschreibung Alfons’ X. des Weisen entstanden ist, aber auch unter Sancho IV. fortgeführt wurde, trifft dieses Motiv zu. Vor der Thematisierung des Herrschaftsendes seines Vaters, des Todes Ferdinands III. des Heiligen (finamiento del sancto et bienauenturado rey don Fernando in Kap. 1133, 773), wird in den Kapiteln 1130 und 1131 intensiv auf dessen militärische Verdienste eingegangen (1130. Capítulo de las conquistas que el rey don Fernando fizo despues que gano a Seuilla, 770f.), bevor ab dem Kapitel 1132 dann vom Sterbebett und Tod des Königs die Rede ist. 98 Lacarra 2006, 140.

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werden, was die Dreigliedrigkeit des gesamten Traktates (der tres razones) widerspiegelt.

3.3.1 Teil 1: Das letzte Jahr eines kranken Königs Die Beschreibung eines von Krankheit geplagten Königs, der – so das Insistieren auf diesem Zustand – bereits sehr geschwächt ist, bildet den Auftakt dieses testimonio über das letzte Lebensjahr Sanchos IV.: [E]l rrey don Sancho era muy mal doliente grand tienpo avía; et […] afincósele la dolençia mucho además, en guisa que cuydaron por todas tieras que era muerto. Et cuidando esto don Diago […] entró en Viscaya et los viscaýnos tomáronle por sennor. Et desque lo sopo el rrey, envió allá al infante don Anrique, su tío et mío, […]. Et commo don Diego non era bien apoderado aún en Vizcaya, […] sallióse de la tierra.99

Das Ende des Königs zeichnet sich hier also insbesondere dadurch ab, dass dieser durch mangelnde öffentliche Präsenz gar nicht mehr als solcher wahrgenommen bzw. für tot gehalten wird, sowie durch die Tatsache, dass bereits andere an die Macht drängen. Dem Bild eines betont schwachen Königs, dessen Zustand sich sukzessive verschlimmert und der nicht mehr in der Lage ist, seinen herrscherlichen Aufgaben gerecht zu werden bzw. seine Machtposition zu halten, ohne dass ihm andere zur Hilfe eilen bzw. ihn verteidigen müssen, wird anschließend mit der Selbstbeschreibung des erzählenden Ichs die Darstellung eines als besonders jung und dennoch militärisch erfolgreichen Vasallen gegenübergestellt, der es mit den mächtigsten Feinden aufnimmt.100 Parallelisiert wird hier die Krankheit des Königs, die den Ungehorsam seiner Vasallen provoziert, mit dem kindlichen Alter Juan Manuels, das für diesen ein erstes Zeichen seiner Macht 99 Ayerbe-Chaux 1989, 102: „[D]er König Don Sancho war seit langer Zeit sehr krank; und das Leiden setzte ihm immer mehr zu, so dass man ihn überall bereits für tot hielt. Dies berücksichtigend, ging Don Diago […] nach Viscaya, wo man ihn als Herrscher anerkannte. Und als dies der König erfuhr, schickte er den Infanten Don Anrique [Enrique] dorthin, seinen und meinen Onkel […]. Und weil don Diego [sic] seine Macht in Viscaya noch nicht gefestigt hatte, flüchtete er.“ 100 Ebd. (Hervorhebung der Verfasserin): Et entonce era yo con el rreyno de Murçia; que me enviara el rrey allá a tener frontera contra los moros, commo quiere que era muy moço, que non avía doze annos conplidos. Et esse verano, […] ovieron muy buena andança los míos basallos con el mío pendón, ca vençieron un omne muy onrado […] que era del linage de los rreys moros de allén mar, et traýa consigo cerca de mill cavalleros. Et a mí avíenme dexado míos vasallos en Murçia, ca se non atrevieron a me meter en ningún peligro porque era tan moço. („Und zu der Zeit war ich in Murcia, wo mich der König hinschickte, um es gegen die Mauren zu verteidigen, obwohl ich sehr jung, nicht einmal zwölf Jahre alt war; und in diesem Sommer […] hatten meine Vasallen viel Erfolg, denn sie besiegten einen ruhmreichen Mann, der vom Geschlechte der Maurenkönige von jenseits des Meeres war und um die tausend Ritter mit sich brachte. Mich hatten meine Vasallen in Murcia zurückgelassen, denn sie trauten sich nicht, mich einer Gefahr auszusetzen, weil ich so jung war.“).

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darstellt. Dank treu ergebener Vasallen feiert dieser bereits in jungen Jahren erste militärische Siege. Im Vergleich zu den beiden vorausgehenden Teilen, in denen es – wenn überhaupt – lediglich vereinzelt und wenig konkret um Militärisches geht, schlägt hier eine umfangreiche Schilderung der ersten glorreichen militärischen Erfolge des nicht einmal zwölfjährigen Juan Manuel zu Buche. Was sich hier zunächst in der militärischen Komponente von Macht beobachten lässt, läutet die dritte Ebene der textuellen Verankerung des Machtbegriffs ein: die Dimension der Figuralisierung des Erzählens über Macht bzw. der Verkörperung der Macht(ausübung) in der Figur des jungen Juan Manuel. Durch dessen erinnernde und dabei selbsterhöhende Ich-Erzählung schlägt sich hier das Phänomen der Macht als Erbe des Infanten Manuel sowohl im militärischen Sinne, als auch später in Form seiner Privilegien durch Königsnähe nieder, welche insbesondere zum Ende der tercera razón im Rahmen der Figurenrede Sanchos IV. betont, hier jedoch bereits erzähltechnisch vorbereitet wird. In diesem ersten Teil der tercera razón sticht neben dem charismatisch-militärischen Moment – nun für die Hervorhebung der Königsnähe – eine räumliche Komponente der Thematisierung von Macht heraus, die zunächst in der ausführlichen Beschreibung des territorialen Besitztums und Ausbaus von Festungen wie Peñafiel zu beobachten ist, worin der junge Juan Manuel vom König selbst finanzielle Unterstützung erhält. Doch wird hierbei nicht ein von der Gunst des Königs abhängiger Vasall beschrieben, der nach immer mehr Anerkennung und Macht an seinem Hof trachtet, sondern ein selbstbewusster, unabhängig handelnder und sich als äußerst dankbar erweisender Vertrauter des Königs. Don Juan Manuel stellt vielmehr den König als abhängig von ihm, seinem Vasallen dar und legt in diesem Zuge viel Wert auf die Betonung seiner uneingeschränkten Loyalität und Dienstbereitschaft gegenüber Sancho IV.,101 aber genauso gegenüber den folgenden Königen der alfonsinischen Linie bis hin zu Alfons XI. – einzige explizite Erwähnung seines Verhältnisses zu seinem gegenwärtigen König und die wohl meistzitierte Textstelle bezüglich der Kritik an diesem: Et Dios me lo demande al cuerpo et al alma si, [por] los vienes et la criança que él [Sancho] en mí fizo, si lo non serví lo más lealmente que pude a él; et al rrey don Ferando, su fijo; et a este rrey don Alfonso, su nieto, en quanto este rrey me dio lugar para quel serviese et me non ove a catar del su mal.102

101 Lacarra 2006, 140: „su condición de buen servidor y la unión que existe entre ambos [el monarca y Juan Manuel]“. 102 Ayerbe-Chaux 1989, 103: „Und Gott soll es mich in Körper und Geist spüren lassen, wenn ich ihm [Sancho] für all die guten Taten und die Erziehung, die er mir hat zukommen lassen, nicht loyal genug gedient [bzw. gedankt] haben sollte; und dem König Don Ferdinand, seinem Sohn; und diesem [dem jetzigen] König Alfons, seinem Enkel, zumindest solange

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König Sancho und Alfons XI. werden im Hinblick auf die zwei Kommentare zu ihrer Gegenleistung kontrastiert. Während Sanchos Bereitschaft zur Unterstützung hier als großzügig dargestellt wird, erscheint das Entgegenkommen Alfons’ XI. quasi nichtig. Auch wenn sich die Abhängigkeit Sanchos von seinem Cousin erst in der zweiten Hälfte dieses dritten Teils zuspitzt, wird hier bereits einleitend darauf hingedeutet. So fällt zum einen auf, wie oft der König Juan Manuels Nähe sucht und sei es nur, um eine Zeitlang bei ihm zu verweilen, ohne dass die Erzählung ein Motiv hierzu preisgibt. Bezeichnend ist hierbei auch die Tatsache, dass die Treffen nicht am Hofe des Königs stattfinden, sondern sie sich entweder unterwegs treffen, wobei der Vasall dem Herrn räumlich entgegenkommt (et sallí a él una grand pieça, ante que llegasse a la villa „und ich ritt ihm ein gutes Stück entgegen, bevor er in der Stadt ankam“)103 oder das erzählende Ich sich gar als Gastgeber des Königs und sogar der Königin profiliert.104 Folglich entsteht hier gar nicht erst das Bild eines Königs am Hofe, sondern das eines die Nähe seines engsten Vertrauten suchenden, von einem Ort zum anderen itinerierenden Königs, der sich offensichtlich auf seiner letzten Reise befindet, bis er schließlich zu seiner letzten Station, einem Kloster in Madrid, gelangt. Dorthin bestellt er seinen Cousin Juan Manuel abermals als seinen engsten Vertrauten, um ihm seinen letzten Willen kundzutun: Et fallélo en Madrit; et posava en las casas de las duennas de vuestra orden. Et estava ya muy maltrecho. Envió por mí […].105 Das Privileg der Königsnähe, das Don Juan Manuel hier offensichtlich zur Selbstdieser König mir die Möglichkeit gab, ihm zu dienen und mich nicht seine Missgunst hat spüren lassen.“ 103 Ebd., 102. 104 Ebd., 102f.: Et desque ove morado con él unos días en Valladolit, mandóme venir para aquí a Pennafiel. […] Et enbió dezir que quería venir morar aquí comigo algún día. Et sabe Dios que me plogo ende mucho con él. Et desque legó aquí, fizle quanto serviçio et quantos plazeres pudi, en guisa que fue él ende muy pagado. […] Et desque el rrey daquí se partió, fuese para Alcalá de Henares et moró ý un tienpo. Et yo espere aquí a la rreyna donna María que yva en pos el rrey, et moró aquí, otrosí, quanto tovo por vien. („Und nachdem ich einige Tage bei ihm in Valladolid geblieben war, rief er mich hierher nach Peñafiel. […] Und er ließ mir ausrichten, dass er gerne einige Tage bei mir bleiben wollte. Und Gott weiß, wie sehr mich sein Besuch freute. Und seit seiner Ankunft hier habe ich ihm so viele Dienste und Annehmlichkeiten, die ich ihm bieten konnte, erwiesen und er war sehr zufrieden damit. […] Dann ging der König nach Alcalá de Henares und blieb dort eine Zeit. Und ich habe hier auf die Königin Doña María [de Molina] gewartet, die dem König nachreiste und ebenfalls solange hierblieb, wie sie es wünschte.“) 105 Ebd., 103: „Und ich traf ihn in Madrid an, wo er im Hause Eurer Ordensschwestern [direkte Anrede des Adressaten, des Dominikaners Fray Juan Alfonso] untergekommen war. Und ihm ging es inzwischen sehr schlecht. [Dort] sandte er nach mir […]“; Ayerbe-Chaux merkt in seiner Edition des Textes an, dass hier das von dem Hl. Dominikus selbst gegründete Konvent der dueñas de Santo Domingo del Real gemeint ist (Ayerbe-Chaux 1989, 111, Anm. 27).

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stilisierung dient, erreicht in diesem zweiten Teil der tercera razón, in der konstruierten Rede Sanchos IV., seinen Höhepunkt. An dieser Stelle ändert sich die Fokalisierung von narratorial durch das erzählende Ich hin zur figuralen (internen) Fokalisierung. Der Figur des Königs wird hier eine eigene Stimme zuteil, die in direkter Rede überwiegend monologisch konzipiert ist und das Selbstbild eines Herrschers kreiert. Als Schwellenelement dieses Fokalisierungswechsels vom Erzählen über den König hin zum Erzählen des Königs muss jedoch zunächst eine die Rede des Königs vorbereitende, weiterhin im Modus des Erzählens über den König entworfene Überleitung näher untersucht werden, die insbesondere im Hinblick auf die räumliche Gestaltung der narrativen Inszenierung von Königsnähe von Interesse ist. Während bereits der vorausgehende Part einen Erzählraum des Privaten vermittels reziproker Vertrauens- und Loyalitätsbekundungen106 zwischen König und Vasall evoziert, wird an dieser Stelle nun zur eindrücklichen Inszenierung dieser vertraulichen Beziehung ein konkreter (physischer) Raum des Privaten beschrieben, der sich hinter den Mauern eines Klosters – einer foucaultschen Heterotopie par excellence – und darüber hinaus in einer Zelle bzw. Kammer befindet, deren Zugangskontrolle der darin – als Zentrum des Dialogs – auf dem Sterbebett liegende kranke König noch selbst zu regeln imstande ist. Envió por mí, et quiso que estudiese[n] en la fabla [el] maestro Gonçalo, el abbad de Arvás; et Alfonso Godínez et Pero Sanchis de la Cámara et don Habraán, su físico; et Johan Sanchis de Ayala, mío mayordomo; et Gómez Ferandes, mío ayo; et Alfonso García, que me criava et non se partíe de mí; et don Çag, mío físico que era hermano mayor de don Habraán, físico del rrey et mío. Ca bien creed que el rrey don Alfonso et mío padre, en su vida; et el rrey don Sancho, en su vida, et yo; siempre nuestras casas fueron unas et nuestros oficiales sienpre fueron unos. Et desque fuemos todos estos con(n) el rrey, et la otra gente sallieron todos de la cámara, estando el rrey muy maltrecho en su cama, tomóme de los braços et asentóme cerca sí, et començó su rrazón en esta guisa: ‚Don Johan, commo quiere que todos los míos tengo yo por vuestros, et todos los vuestros tengo yo por míos, pero sennaladamente estos que agora están aquí, tengo que son más apartadamente míos et vuestros que todos los otros‘. –Et entonçes dixo muchas cosas por que (f. 30v) aquéllos se estremaran al su serviçio et mío; et otrosí, vienes sennalados que él et yo fiziéremos contra ellos; porque estos tenía él más apartadamente por suyos et míos de quantos avía en nuestras casas.107 106 Zum engen Zusammenhang von Vertrauens- und Machtfragen bzw. spezifisch zu der Frage „how emotions like trust, loyality/fidelity or love interact in political discourse“ vgl. Ute Frevert, Does trust have a history? (Max Weber Programme: Lecture Series 01-2009), San Domenico di Fiesole 2009, 6. 107 Ayerbe-Chaux 1989, 103f. (Hervorhebungen der Verfasserin): „Er sandte nach mir und wollte, dass der Unterredung [außer mir] folgende Personen beiwohnten: [der] maestro Gonçalo, der Abt von Arvás; und Alfonso Godínez und Pero Sanchis de la Cámara und don Habraán, sein Arzt; und Johan Sanchis de Ayala, mein Hofmarschall; und Gómez Ferandes, mein Erzieher; und Alfonso García, der mich großzog und mir nicht von der Seite wich; und

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Die hier genannten Personen, Bedienstete des Königs, stehen explizit auch im Zusammenhang mit Juan Manuel bzw. stehen sowohl dem König als auch ihm zu Diensten und verbinden die Figur des erinnernden Ichs (Juan Manuel) mit der Privatsphäre des Königs. Sie bezeugen „la condición casi regia de don Juan Manuel, cuyos servidores son los mismos de los reyes“.108 Dass sich die Hierarchie zwischen Sancho und Juan Manuel hierdurch aufzulösen scheint, wird mit den redundant auftretenden, miteinander in Verbindung stehenden Possessivpronomina su und mío bzw. del rrey et mío („seinem“ und „meinem“ bzw. „des Königs und meinem“) zum Ausdruck gebracht und das Vertrauensverhältnis zwischen dem König und Juan Manuel betont. Dieses wird mit der als ebenso eng charakterisierten Beziehung zwischen ihren Vätern, den Brüdern Alfons X. und Manuel, parallelisiert und mit dem Chiasmus todos los míos tengo yo por vuestros, et todos los vuestros tengo yo por míos („all die Meinen halte ich für die Euren, und all die Euren halte ich für die Meinen“) überspitzt. Sancho nimmt jedoch eine Einschränkung vor, indem er nur jene ofiçiales zur nachfolgenden vertraulichen Unterredung zu bleiben bittet, die sich bereits in den Diensten beider bewiesen haben und damit ausdrücklich das höchste Vertrauen des Königs verdienen. Dies wird vom erzählenden Ich beinahe wörtlich wiederholt, womit die hier einsetzende Figurenrede des Königs bereits direkt zu Beginn kommentierend unterbrochen wird. Die spezifische räumliche Konstruktion wird dergestalt arrangiert, dass der todkranke Sancho im Bett und Juan Manuel an seiner Seite das Zentrum der Zusammenkunft bilden, umrundet von ihren engsten Vertrauten, und der König ihn zusätzlich näher zu sich heranzieht. In diesem Sinne ist die cámara („Kammer“) als ein speziell für das Erzählen des Herrschaftsendes Sanchos narrativ konstruierter Raum zu sehen, der eine doppelte Kodierung erfährt: Die Kammer stellt einen erzählten Raum des Privaten in der Abgeschiedenheit eines Klosters dar. Durch die Figurenrede des Königs wird sie außerdem zu einem privaten Erzählraum, für den auch seitens des erzählenden Ichs ein (räumliches) Ambiente der Nähe und Vertraulichkeit geschaffen wird. Beides steht in einem Spannungsverhältnis zu dem im Prolog don Çag, mein Arzt und der ältere Bruder don Habraáns, des Königs und mein Arzt. Denn glaubt mir, dass der König Alfons und mein Vater, als sie lebten; und der König Sancho zu Lebzeiten und ich; dass wir immer so eng miteinander gelebt haben, dass wir unsere Bediensteten teilten. Und als wir alle beim König waren, und die anderen Leute die Kammer verließen, lag der König bereits sehr schwach in seinem Bett. Er zog mich am Arm näher an sich heran und begann seine Rede wie folgt: ‚Don Juan, auch wenn ich all die Meinen für die Euren, und all die Euren auch für die Meinen halte, sind die hier jetzt [Anwesenden] mit Abstand meine und Eure [engsten Vertrauten]‘. – Und dann nannte er viele Gründe weshalb (f. 30v) jene besonders in seinem und in meinem Dienste stünden und weshalb er und ich diesen unsere Gunst erwiesen hätten, sodass er sie von allen Bediensteten unserer Haushalte mit Abstand für seine und meine [engsten Vertrauten] hielt.“ 108 Lacarra 2006, 141.

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mehr oder minder als öffentlich deklarierten Raum des Erzählens, der dem Werk aufgrund des Hinweises vos et los que leyeren („Ihr und diejenigen, die [dieses] lesen werden“) innewohnt. Eingeleitet wird hiermit eine Figurenrede, die auf Basis der zu diesem Zweck erläuterten räumlichen Bedingungen der Kammer im Kloster Nähe, aber auch eine räumliche und emotionale Einengung der Figur Juan Manuels durch die Herrscherfigur kommunizieren wird. Im Gegensatz hierzu fokussiert die Selbstbeschreibung des jungen Juan Manuel in der direkt vorausgehenden Ich-Erzählung (im ersten Teil der tercera razón) zwar ein bereitwilliges räumliches Entgegenkommen gegenüber Sancho, betont dabei jedoch auch – vor allem durch den Hinweis, dass Juan Manuel sich in der Peripherie befindet, um dort die mächtigen Herrscher des Gegners zu besiegen – seine räumliche Freiheit und Unabhängigkeit vom König.

3.3.2 Teil 2: Der letzte Wille eines sündhaften Königs Der Herrscherfigur Sanchos wird auf dem Sterbebett eine Figurenrede in den Mund gelegt, die wiederum in drei Teile untergliedert ist bzw. – im Rahmen von drei Bitten – des Königs letzten Willen zum Ausdruck bringt. In dieser Dreigliedrigkeit spiegelt sich nicht nur ein weiteres Mal die Unterteilung der drei zentralen Teile des Traktats (die tres razones), hier als metanarrative Verknüpfung zwischen dem Anlass der Entstehung dieses Traktates und dem ‚Rechenschaftsbericht‘ des sterbenden Königs. Auch eine exklusive Nähe zwischen Sancho und Juan Manuel manifestierende räumliche Verschachtelung der Erzählsituation bzw. der Rede des Königs, die von der Abgeschlossenheit des Klosters über die Kammer bis zum Sterbelager ein wachsendes Maß an Intimität impliziert, spiegelt sich in dieser Dreiteilung des Erzählens, in der strategischen Umsetzung eben dieser Figurenrede vermittels dreier Bitten, die der König seinem Cousin unterbreitet. Sancho richtet sich hier in den – narrativ inszenierten – letzten Minuten seines Lebens nicht etwa an seinen Thronfolger oder an seine Gemahlin, die Königin María de Molina, die später faktisch die Regentschaft für den zu diesem Zeitpunkt erst zehnjährigen Ferdinand IV. übernimmt, sondern an seinen engsten Vasallen und Cousin Don Juan Manuel, dem er verschiedene Aufgaben aufträgt: Agora, don Johan, yo vos he a dezir tres rrazones. La primera, rrogar vos [he] que vos mienbre[des] et vos dolades de la mi alma. Ca, malo mío pecado, en tal guisa passó la mi fazienda, que tengo que la mi alma está en grand vergüença contra Dios.109 An erster Stelle bittet er ihn, sich seiner sündenbelas109 Ayerbe-Chaux 1989, 104: „Und jetzt, Don Juan, habe ich drei Anliegen: zuerst flehe ich Euch an, dass Ihr Euch meiner Seele annehmt und um sie trauert. Denn so schwer wiegt meine Sünde [und] auf solche Art und Weise verging meine Herrschaft, dass ich annehme, dass meine Seele in großer Scham vor Gott steht.“

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teten Seele anzunehmen, d. h. für das Seelenheil des Königs zu beten. Durch das der Sprechsituation innewohnende Moment der Beichte wird die Figur Juan Manuel implizit zum confesor des Königs stilisiert. Gleichzeitig wird damit jedoch auch auf die Abwesenheit eines tatsächlichen geistlichen Beichtvaters am Sterbebett Sanchos aufmerksam gemacht, der im Gegensatz zu Juan Manuel dem König die Absolution hätte erteilen können, wenngleich die Sünden des Königs hier nicht konkret benannt werden. Durch das Eingestehen von Sünden ‚entthront‘ sich die Figur König Sanchos durch die speziell für seine fingierte Selbstdarstellung konstruierte eigene Stimme quasi selbst, galt doch schon seit Isidor von Sevilla, gemäß dem Leitsatz Recte igitur faciendo regis nomen tenetur, peccando amittitur, dass der König im Falle des Sündigens den Königstitel nicht mehr führen darf.110 Bekannter ist der bei Isidor von Sevilla darauffolgende Hinweis, dass es schon „bei den Alten das Sprichwort: Rex eris, si recte facias: si non facias, non eris (König wirst Du sein, wenn du recht handelst, wenn du es nicht tust, wirst du es nicht sein) [gab]“,111 welcher den Anspruch an Könige bezüglich der Tugendhaftigkeit und der Gottesfurcht präzisiert. Die auf Basis der Figurenrede konstruierte Selbsterniedrigung des Königs wird im Rahmen der nächsten Bitte Sanchos im Zeichen des Selbstmitleids vertieft. Mit seinem zweiten Anliegen – Lo segundo, vos rruego que vos dolades et vos pese de la mi muerte; et devédeslo fazer por muchas rrazones.112 – bedrängt Sancho den jungen Juan Manuel, um seine Person zu trauern. Es entsteht hier zunächst das Bild eines Königs, der seinen engsten Vertrauten um Trauer anfleht, als ob es ohne diese explizite Aufforderung keinen Anlass zur Trauer um ihn gäbe. Noch dringlicher führt Sancho ihm die Umstände vor Augen, die Juan Manuel zu dieser Trauer verpflichten, indem er ihm verdeutlicht, wie viel er seiner Person zu verdanken hat und wie groß der Verlust sein wird, den er mit dem Tod des Königs erleiden wird: lo primero, porque perdedes en mí un rrey et un sennor, vuestro primo cormano,113 que vos crió et que vos amava muy verdaderamente; […].114 Er verliert in ihm folglich „einen König und einen Herrn, Euren Cousin und Bruder, der Euch großzog und Euch wahrhaftig liebte“. Hier ist vor allem die Reihenfolge der angedeuteten Beziehungsebenen relevant, denn die soziale Konstellation König – Untertan sowie der feudale Bund Herr – Vasall 110 „Durch Sündigen (peccare) wird er [der Name König] verloren“ in: Isidorus Hispalensis, Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, übers. u. m. Anm. vers. v. Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, 340. 111 Ebd. 112 Ebd.: „Zweitens bitte ich Euch zutiefst, dass Euch mein Tod schmerze und Ihr um mich trauert; und Ihr solltet dies aus vielen Gründen tun.“ 113 Ebd., 256 (Glossar von Ayerbe-Chaux): primo cormano [cormano = cohermano] steht im Altspanischen für die brüderliche Beziehung zwischen Cousins. 114 Ebd., 104 (Hervorhebung der Verfasserin).

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werden letztlich übertroffen durch die enge verwandtschaftliche Beziehung ‚Deinen Cousin und Bruder‘, womit dieser familiären Nähe zum König eine größere Bedeutung beigemessen wird. Die fingierte Selbstdarstellung Sanchos zielt folglich nicht primär auf dessen Rolle als König und Herr. Vielmehr stellt der König sich, entsprechend dem narrativen Konstrukt, wie ein großer Bruder dar, der sich immer liebevoll um den jüngeren Juan Manuel gekümmert hat. Mit der Bemerkung, dass ihm mit seinem Tode kein primo cormano mehr zur Seite stehe, scheint die Stimme des Königs die Assoziation von Schutz- und Hilflosigkeit und damit das Gefühl der Abhängigkeit im jungen Juan Manuel wecken zu wollen. Beschwörende Züge nimmt das der Stimme des Königs zugeschriebene Bedrängen an, als dieser den Jungen als machtlos bezeichnet, da er nicht imstande sei, ihn, den kranken König, vor dem Tode zu retten: La otra, es que [me] vedes morir ante vos et non me podedes acorrer […]; et agora vedes que estades vos vivo et sano, et que me matan ante vos et non me podedes defender nin acorrer.115 Das Insistieren des Königs auf der Machtlosigkeit seines treuesten Dieners angesichts der aussichtslosen Lage, d. h. der tödlichen Macht der Sünden, die sein Schicksal besiegelt – Ca bien cred que esta muerte que yo muero non es muerte de dolençia, mas es muerte que me dan míos pecados; et sennaladamente por la maldiçión que me dieron mío[s] padre[s] por muchos mereçimientos que les yo mereçí.116 – offenbart jedoch gerade durch die hier vorliegende Überzeichnung der Situation und durch den Versuch des Königs, emotionalen Druck auszuüben, ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis – das des Königs Sancho vom jungen Juan Manuel. Es spiegelt in diesem Sinne die Machtlosigkeit der Herrscherfigur selbst, die sich hier zudem als Opfer eines Fluches versteht – eine Anspielung auf Sanchos Machtergreifung gegen den Willen seines Vaters Alfons X.?117 Die Figurenrede Sanchos appelliert hier jedenfalls ganz offensichtlich aus Verzweiflung an Juan Manuels Stolz und Ehre sowie an dessen buen zelo que deve el omne aver contra su sennor,118 eine emotionale Bindung, die Don Juan Manuel im ‚Tractado de la asunción de la Virgen‘ als feudales Grundprinzip fasst.119 Die Verteidigung 115 Ebd., 104: „Außerdem seht Ihr mich vor Euch sterben und könnt mir nicht zur Hilfe eilen; und nun seht Ihr, dass Ihr lebt und gesund seid und dass man mich vor Euch tötet und Ihr mich weder verteidigen noch retten könnt.“ 116 Ebd.: „Denn glaubt mir, dass dieser Tod, den ich sterbe, keine Folge von Krankheit ist. Es sind vielmehr meine Sünden, die mir den Tod bringen und vor allem der Fluch, mit dem meine Eltern mich belegten, den ich aus vielerlei Gründen von ihnen verdiente.“ 117 Lacarra verweist diesbezüglich im Kapitel „La maldición de padres a hijos“ auf die in Chroniken festgehaltene Tatsache, dass Alfons der Weise noch vor seinem Tode ein Dokument diktieren lässt, in dem er seinen Sohn Sancho verflucht, weil dieser ihn gestürzt hatte (2006, 142). 118 Ayerbe-Chaux 1989, 167. 119 Ebd., 165f.: sennaladamente si el vasallo á reçebido muchos vienes del sennor –se parésçeme que, si oye alguna cosa que sea mengua del aquel sennor, que es muy desconosçido et muy sin

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des guten Rufes des Herrn durch den Vasallen wird darin als konstruktiver Eifer und adäquate Reaktion auf vorausgegangene Gunsterweise beschrieben. Nachdem Sancho dem jungen Juan Manuel aufgezeigt hat, dass dieser genauso handlungsunfähig ist wie er selbst, geht seine Rede in eine Demonstration von Liebe, Respekt und Wertschätzung über, womit die Idealisierung der feudalen Reziprozität konkreter in Erscheinung tritt und die Beschwörung des jungen Juan Manuel durch den sterbenden Monarchen weiter zugespitzt wird: La otra rrazón por que vos deve pesar de la mi muerte, es por[que] yo fío por Dios que vos bivredes mucho et veredes muchos rreys en Castiella, mas nunca ý rrey avrá que tanto vos ame et tanto vos reçele et tanto vos tema commo yo.120 Durch diese überschwängliche Bekundung von Zuneigung und Respekt, ja Furcht sowie durch die Projektion des Verlustes dieser als einzigartig dargestellten Wertschätzung seitens des Königs gelangt der emotionale Druck, den die Rede Sanchos ausübt, zum Höhepunkt. Was hier vorliegt, stellt eine negative Memoriabildung durch die letzten Worte des Königs dar, vergleichbar einer narrativen ‚Traumatisierung‘ – wie wir diese mit heutiger Begrifflichkeit vielleicht am ehesten beschreiben würden. Diese These stützt sich nicht nur auf die Funktion der narrativ konstruierten Stimme des Königs, sondern außerdem auf die des erlebenden Ichs, das durch Schweigsamkeit bzw. Reaktionslosigkeit die schockierende Wirkung der Worte des Königs implizit aufzeigt und, durch einen Kommentar an entscheidender Stelle, die gesamte Situation am Sterbebett Sanchos explizit als schmerzhaft für sich und die wenigen anwesenden Personen konturiert: Et diziendo esto tomól una tos tan fuerte [que], non podiendo echar aquello que arrancava de los pechos, que bien otras dos vezes lo tobiemos por muerto. Et lo uno, por commo beyemos (que el) [quál] estava, et lo ál, por [las] palabras que me dizía, bien podedes entender el quebranto et el duelo que teníemos en los coraçones.121

Hierdurch entsteht für den Rezipienten der Eindruck, Don Juan Manuel habe dieser Situation bzw. diesem Erlebnis ein für sein figurales alter ego ‚traumatisierendes‘ Moment einschreiben wollen. Der oben zitierte Kommentar der Rede sentimiento si non se sentiere ende mucho. […] zelo [kursiv im Orig.] tómasse por buena entençión, ca sienpre se entiende por el que ama de buen amor et querría que aquella persona que ama acertasse sienpre en lo mejor. 120 Ebd., 104: „Der andere Grund, weshalb Euch mein Tod schmerzen muss, ist, auch wenn ich Gott vertraue, dass Ihr lange leben und viele Könige in Kastilien sehen werdet, dass es keinen König geben wird, der Euch so sehr liebt und fürchtet wie ich.“ 121 Ebd.: „Und als er dies aussprach, erfasste ihn ein so starker Hustenreiz, der das, was ihm die Brust zuschnürte, nicht lösen konnte, sodass wir schon glaubten, er sei erstickt, als sich dies zweimal wiederholte. Aufgrund des Zustandes, in dem wir ihn sahen, sowie der Worte, die er mir sagte, könnt Ihr gut nachvollziehen, wie groß unser Kummer und der Schmerz in unseren Herzen war.“

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Sanchos stellt die Beschreibung einer nonverbalen Reaktion des Königs auf dessen eigene Worte dar, und zwar auf die Verkündung, dass kein zukünftiger König Juan Manuel so schätzen wird wie er. Die Ich-Perspektive markiert diese Aussage als Worte, an denen der König zu ersticken droht, da sie einen heftigen Hustenfall auslösen – die einzige Textstelle, die dem Rezipienten eine wenngleich oberflächliche und mehrdeutige Antwort darauf gibt, wie Juan Manuel und die übrigen Anwesenden auf die Rede des Königs reagieren – unabhängig davon, ob das Gespräch zwischen Sancho und Don Juan Manuel als historische Tatsache oder als Fiktion einzustufen ist. Erst das dritte und letzte Anliegen des Königs betrifft dessen Nachfolge und die zentrale Aufgabe, die dabei der Figur Juan Manuels zukommt, welche den Gesamteindruck einer eher unilateralen Abhängigkeitsbeziehung – des sterbenden Königs von Juan Manuel – und nicht umgekehrt, wie es die Stimme Sanchos zu beweisen sucht, nochmals verstärkt: La terçera rrazon que vos he a dezir et a rogar, es que (servides) [sirvades] et ayades en acomienda a la rreyna donna María; ca so çierto que lo avrá muy grant mester, et que fallará muchos después de mi muerte que serán contra ella.122 Als ob es für Juan Manuels zeitliche Perspektive offensichtlich sei, dass die Königin die Regentschaft für ihren minderjährigen Sohn übernehmen wird, fordert Sancho ihn auf, der rreyna donna María im Rahmen der Regierung beizustehen und sie gegen die vielen Gegner, die der König nach seinem Tode kommen sieht, zu verteidigen. Genau wie das Seelenheil und die Trauer um den König in den ersten beiden Bitten, wird hier nun auch die Nachfolge des Königs durch die Regentin María de Molina als abhängig von der Figur des jungen Juan Manuel dargestellt. Die Figur María de Molinas ergänzt und schließt hier zudem die figurale Rahmung des Textes (Beatrix von Schwaben – Sancho IV.) dadurch, dass sie der ersten Frauenfigur zu Beginn des Textes, der Königin Beatrix von Schwaben, als zweite Königinmutter gegenübergestellt wird. Die anschließende Überlegung des Königs gilt seinem Sohn: Quanto a don Ferando, mío fijo, non vos digo nada porque so çierto que non faze mester; ca vuestro sennor es, et yo quis que fuésedes su vasallo, et so çierto que siempre le seredes leal.123 Die Tatsache, dass Sancho es offensichtlich für nicht notwendig hält, mit Juan Manuel über den eigentlichen Thronfolger zu sprechen und dass er Ferdinand IV. lediglich als mío fijo und als sennor Juan Manuels, nicht jedoch als Thronfolger oder zukünftigen rrey bezeichnet, verdeutlicht die implizite Ankündigung der Königin als zukünftige Regentin. 122 Ebd.: „Drittens muss ich Euch bitten, dass Ihr der Königin María [de Molina] dient und Euch um sie bemüht; denn ich bin mir sicher, dass dies von großer Notwendigkeit sein wird und sie nach meinem Tod mit vielen Gegnern konfrontiert sein wird.“ 123 Ebd.: „Bezüglich meines Sohnes Ferdinand sage ich Euch nichts, weil ich mir sicher bin, dass es nicht nötig ist; denn er ist Euer Herr, und ich wollte, dass Ihr sein Vasall seid, und ich bin mir sicher, dass Ihr ihm immer loyal sein werdet.“

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Mit den drei Bitten geht es der Figur Sanchos entsprechend der retrospektiven Konstruktion Don Juan Manuels folglich nicht primär um seinen minderjährigen Thronfolger, sondern um seinen Cousin Juan Manuel, der jedoch mit zwölf Jahren kaum älter ist als Ferdinand IV. und nichtsdestotrotz mit den Worten des Königs zum Beschützer und Verteidiger der Königin stilisiert wird, was einer Selbstautorisierung Don Juan Manuels nahekommt. Diese erfolgt insbesondere auf Grundlage der durchweg negativen Fokalisierung des Königs als Figur der Ohnmacht, während die Darstellung Juan Manuels stetig auf Marker der Macht zielt. Der Herrscherfigur Sanchos werden hier drei Bitten zugeschrieben, die mit steigender Dramatik dessen ‚Ohnmacht‘ und Abhängigkeit von der Figur Juan Manuels formulieren. Sancho verlangt so von ihm, auf drei Ebenen aktiven Anteil am Ende seiner Herrschaft zu nehmen: auf spiritueller bzw. transzendentaler Ebene (sein Seelenheil betreffend: für den König zu beten), auf personaler Ebene (seine Person betreffend: den Tod des Königs zu betrauern) und drittens auf transpersonaler Ebene (seine Nachfolge betreffend: sich für die Herrschaft der Königin einzusetzen bzw. ihre Macht gegen ihre Gegner durchzusetzen). Die Figur des Königs versteht sich hier selbst bzw. durch die Feder Don Juan Manuels hindurch nicht primär als Herrscher, sondern als Opfer seiner eigenen Sündhaftigkeit sowie der Verfluchung durch seine Eltern, was sich in dem darauffolgenden Abschnitt der Figurenrede konkretisieren wird. In seine Ohnmacht bezieht der Herrscher den jungen Juan Manuel mit ein, will diesen zum Teilhaber machen, indem er ihm einerseits die Treue und Verantwortung für ihn als seinen Herrn und andererseits die Übermacht der Sünden und des Fluches aufzeigt. Als Teilhaber an der Ohnmacht des Königs wird er im Rahmen der dritten Angelegenheit Sanchos auch zum Teilhaber der zukünftigen Herrschaft erhoben, insbesondere dadurch, dass der König ihm eben jene skeptische Einschätzung bezüglich der Durchsetzungsfähigkeit María de Molinas gegenüber den Gegnern ihrer Regentschaft offenbart. Durch die konstruierte Rede der Figur Sanchos schreibt Don Juan Manuel seiner eigenen Position am Hof Verantwortung, Unersetzbarkeit und Macht durch das Privileg der Königsnähe und der Nähe zur zukünftigen Regentin María de Molina zu. Diese figuralisierende Dimension des Erzählens über Macht, verkörpert durch die Figur Juan Manuels als Erben der in den ersten beiden Traktatteilen betonten spezifischen Macht der Linie Manuel, stellt zudem eine Übertragung der Macht auf den Cousin des Herrschers dar, die im dritten Teil der tercera razón mit der Frage nach dem väterlichen Segen untermauert wird.

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3.3.3 Teil 3: Der Abschied eines segenlosen Königs Zur Begründung, weshalb König Sancho am Ende seines Lebens selbst keinen Segen erteilen kann, wird hier die Stimme Ferdinands III. des Heiligen in die Figurenrede seines Enkelsohnes Sancho eingebettet. Die Verschachtelung der Figurenrede, die des Großvaters in die des Enkels, exponiert nicht nur die Stimme Ferdinands des Heiligen auf der innersten Erzählebene und damit an einem zentralen Ort des Textes, sondern schafft darüber hinaus auf der Ebene der Figurenrede einen nahtlosen erzähltechnischen (Herrschafts-)Übergang von Sancho IV. rückwirkend hin zur Figur seines Großvaters, während Sanchos Vater – König Alfons X. der Weise – hier keine eigene Stimme oder Relevanz verliehen wird. Die letzten Worte des Großvaters, der sich, wie Sancho IV. eine Erzählebene darüber, ebenfalls auf dem Sterbebett befindet, werden von diesem wie folgt eingeleitet: Et contar vos he cómmo la [la bendición] ovo vuestro padre del rrey don Ferando, nuestro abuelo. Quando el rrey don Ferando finó en Sevilla, era ý con él la rreyna donna Juana, su muger; et el infante don Alfonso, su fijo, mío padre, que fue rrey; et el infante don Alfonso de Molina, su hermano; et todos o los más de sus fijos.124

Zum einen kommt durch die Hervorhebung der verwandtschaftlichen Beziehung nuestro abuelo („unser Großvater“) wiederum die Verbundenheit mit Juan Manuel zum Ausdruck – eine Wendung, die zu Beginn der tercera razón auch seitens des erlebenden Ichs verwendet wird und die Erzählerstimme Juan Manuels mit der Figurenstimme Sanchos auf der Ebene der Vertrauensbekundungen verknüpft. Mit der Beschreibung eines am Sterbebett von seiner ganzen Familie umrundeten Herrschers wird zudem ein erheblicher Kontrast zur Inszenierung der Situation Sanchos deutlich, der ja lediglich seinen Cousin als Adressat seiner letzten Worte auswählt.125 Hier steht nicht etwa die Beziehung Ferdinands III. des Heiligen zu seinem faktischen Thronfolger Alfons X. im Mittelpunkt des Geschehens, sondern das, was der Herrscher an den Infanten Manuel weitergibt: Et quando él [Manuel] llegó, estava ya el rrey cerca de la muerte. Pero non pudiendo fablar si non a muy grant fuerça, díxol: […].126 Obwohl oder gerade weil dieser als Jüngster an letzter Stelle steht, wird dem Infanten 124 Ebd., 105 (Hervorhebung der Verfasserin): „Und ich muss Euch erzählen, wie ihn [den Segen] Euer Vater vom König Ferdinand, unserem Großvater, erhielt. Als König Ferdinand in Sevilla starb, waren [folgende Personen] anwesend: die Königin Doña Juana, seine Frau; der Infant Alfonso, sein Sohn, mein Vater, der König war; und der Infant Alfonso de Molina, sein Bruder; und alle oder die meisten seiner Söhne.“ 125 Hijano Villegas sieht in der Verknüpfung der Sterbebettszenen Sanchos und Ferdinands III. des Heiligen den Ausgangspunkt einer „reescritura de la Estoria de España“ (2014, 92). 126 Ayerbe-Chaux 1989, 105: „Und als er [Manuel] zu ihm kam, war der König dem Tode bereits nahe. Auch wenn er kaum noch sprechen konnte, sagte er ihm mit größter Anstrengung: […].“

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eine Sonderstellung unter den Geschwistern zuteil, insofern er gesondert herbeigebeten und ihm ein Erbe zuteilwird, das sich von dem der Geschwister abhebt, was im Folgenden anhand der durch Juan Manuel referierten Figurenrede Ferdinands III. des Heiligen deutlich wird: ‚Fijo, vos sodes el postremer fijo que yo ove de la reyna donna Beatriz, que fue muy santa et muy buena mugier; et sé que vos amava mucho, otrosí. Pero non vos puedo dar heredad ninguna, mas do vos la mi espada Lobera, que es cosa de muy grant virtud et con que me fizo Dios a mí mucho [bien]; et do vos estas armas que son sennales de alas et de leones‘.127

An dieser Stelle folgt nun die dritte entscheidende Intervention des erzählenden Ichs, und zwar um der nachfolgenden Interpretation der armas, die ihm Sancho an dieser Textstelle überliefert, Nachdruck zu verleihen: Et en este lugar, me contó el rrey don Sancho cómmo estas armas fueron devisadas et lo que significavan.128 Die armas werden hier unter Berufung auf die Stimme des sterbenden Königs Ferdinand III. ein zweites Mal in diesem Text interpretiert und so die ursprünglich vom Erzbischof 129 zugewiesenen Zeichen der weltlichen Macht dem Infanten bestätigt. Hierbei ist von tres gracias die Rede, die Gott Manuel und seiner Adelslinie auf Bitte des Königs gewähren soll, einer Trias göttlicher Gnade, die in den Wappenelementen, dem Flügel und dem Löwen (sennales de alas et de leones), sowie dem königlichen Schwert Ferdinands als Dreieinheit zum Ausdruck kommt: Et dixo entonçe el rrey don Ferando a mío padre, quel dava estas armas et esta espada, et que pidía merçed a Nuestro Sennor Dios quel fiziese estas tres gracias: la primera, que […] estas armas et esta espada […] sienpre venciessen et nunca fuessen vençidas. La segunda, que siempre [a los de] este linage que traxiessen estas armas, los creçiese Dios en la su onra et en su estado et nunca los menguase ende. La terçera, que nunca en este linage falleciesse heredero legítimo.130

127 Ebd., 105f.: „Sohn, Ihr seid das letzte Kind, das mir die Königin Beatrix schenkte, die eine sehr fromme und gütige Frau war; und ich weiß, dass sie Euch über alles liebte. Auch wenn ich Euch kein [offizielles] Erbe geben kann, hinterlasse ich Euch jedoch mein Lobera-Schwert, das von hervorragender Eigenschaft [virtud] ist und womit Gott mir viel [Gutes] tat; und ich gebe Euch diese Wappenzeichen, Flügel und Löwen.“ 128 Ebd.: „Und an dieser Stelle erzählte mir der König Don Sancho, wie diese Wappen(zeichen) erteilt wurden und was sie bedeuteten.“ 129 Bischof Ramón de Losada, enger Vertrauter des Königs und der Königin, der dem Infanten Manuel im ersten Teil des Textes auch den Gott lobenden Namen gegeben hatte. 130 Ayerbe-Chaux 1989, 106 (Hervorhebung der Verfasserin): „Und damals sagte der König Don Fernando zu meinem Vater, dass er ihm diese Wappenzeichen und dieses Schwert gab und dass er Gott bitten würde, ihm folgende drei Gnadenbeweise zu erteilen: erstens, dass […] diese Wappenzeichen und das Schwert […] immer siegen und niemals besiegt würden. Zweitens, dass Gott die Linie, die dieses Wappen trüge, immer in Ehre und Stand erhöhe und dass sie nie niedergingen. Drittens, dass in dieser Linie niemals ein legitimer Erbe fehlen soll.“

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Anhand dieser drei Gnadengaben Gottes wird die prophetische Botschaft des Traumes, die Königin Beatrix vorausgesagte glorreiche Zukunft des Infanten Manuel, hier am Textende nun auch auf die Stimme des Königs zurückgeführt und in drei Aspekten konkretisiert: 1. Unbesiegbarkeit bzw. unbegrenzte militärische Macht; 2. Unantastbarkeit und stetiges Wachstum von Ehre und Stand; 3. Kontinuität der Linie durch legitime Erben. Aufgrund dieser Gnadenbeweise entspricht der Infant Manuel den zentralen Voraussetzungen einer göttlich legitimierten Herrschaft und wird dadurch implizit zu einem guten Thronfolger (für Ferdinand) stilisiert und das Fortbestehen seiner Linie durch Gottes Willen prophezeit. Die darauffolgende Wertung, que en estas cosas quel avía dado, quel heredaba mejor que a ninguno de sus fijos,131 präzisiert, dass Ferdinand die wertvollste Erbschaft seinem jüngsten Sohn zuteilwerden lässt. Manuel erhält anhand dieser Trias ein symbolisches Erbe der Macht – „eine Macht, die in Zukunft viel größer sein werde, als jene, die [seine Geschwister] innehaben werden“,132 die jedoch faktisch nicht zur Herrschaft bestimmt ist und eigentlich eine Kompensation darstellt. Durch den Einschub der Worte Ferdinands III. fällt auf, dass am Sterbebett des Königs Sancho anstelle eines Erbes lediglich vom Nicht-Vorhandensein von Dingen, die er weitergeben könnte, die Rede ist: Statt Zeichen der Tugendhaftigkeit oder Macht, wie sie Ferdinand III. dem Infanten Manuel überreicht, stehen Sanchos Sünden, seine Verfluchung durch seine Eltern und, im Rahmen seines Wunsches, sich von Juan Manuel angemessen verabschieden zu können, auch die Unfähigkeit als segenloser Herrscher seinen Segen zu erteilen im Vordergrund, „denn niemand kann etwas weitergeben, was er selbst nicht hat“ (ca ninguno non puede dar lo que non á).133 Auch das Erbe, das Sanchos Sohn Ferdinand IV. zusteht und damit thematisiert werden müsste, spielt keine Rolle. Die Begründung von Juan Manuels väterlichem wie mütterlichem Segen, der hier auf den großväterlichen Segen zurückgeführt wird, ist im Kontrast zur alfonsinischen Linie und deren moralischer wie politischer Dekonstruktion als positiver Gegenpol und Konstruktion einer eigentlichen Legitimität der manuelinischen Linie zu verstehen.134 Schlieben schlussfolgert zu dieser Textstelle: „Mit den 131 Ebd. 132 Ruiz 1989, 128: „un poder en el futuro mucho mayor que con el que contarán ellos [los hermanos de Manuel] y sus propios linajes“. 133 Ayerbe-Chaux 1989, 105. 134 Ebd., 106 (Hervorhebung der Verfasserin): Et así, vuestro padre heredó conplidamente la bendición del rrey don Ferando, su padre et nuestro abuelo; et porque la heredó et la ovo, púdola dar a vos. Et so muy bien çierto que la él dio a vos quando moríe, muy de buen talante, ca vos fuestes a él fijo muy deseado et muy amado. […] Et pues la avedes, commo dicho es, et yo non he bendiçión, mas he maldición, commo dicho es, non vos puedo dar otra bendición, nin vos faze mengua. („Und so erbte Euer Vater den vollständigen Segen des Königs Ferdinand, seines Vaters und unseres Großvaters; und weil er ihn erbte und erhielt, konnte er

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Worten Sanchos IV. spricht der Verfasser hier also der herrschenden Dynastie jeglichen Segen ab, über den im Gegensatz dazu die manuelinische Linie zu verfügen scheint.“135 Wenn hier auch nach Ruiz das Schlussbild des ‚Libro de las armas‘ „das eines von Segnung und Zuneigung gekrönten jungen Juan Manuel ist“,136 was allein der imaginierten Stimme Sanchos und deren Lob und Verantwortungsübergabe an Juan Manuel zu verdanken ist, sticht hierbei vor allem der Kontrast zu dem als Grundlage vom Erzähler erschaffenen negativen Selbstbild Sanchos heraus,137 welches dem Rezipienten in Bezug auf die Dramatik der Thematisierung von Herrschaft primär im Gedächtnis verbleibt: das Bild eines sich im Hinblick auf seine Sünden selbst entblößenden und selbst degradierenden Königs, der sich vielmehr als Sünder vor Gott, denn als Herrscher versteht. Nur an einer einzigen Stelle bezeichnet sich die Stimme Sanchos selbst als rrey („König“), dies jedoch mit einer durch den unbestimmten Artikel geringen Überzeugungskraft: perdedes en mí un rrey et un sennor („Ihr verliert in mir einen [anstelle von ‚Euren‘] König und einen Herrn“).138 Mas, por[que] los rreys son fechura de Dios, et por esto an avantaja (f. 31v) de los otros omnes […]; et si por esto yo vos (la) puedo dar alguna bendición, pido por merçed a Dios que vos dé la su bendición et vos dé la mía, quanta vos yo puedo dar. Agora, don Johan, sennor, llegad vos a mí. Et dar vos he [mi bendición] por despedirme de vos.139

Letztlich befähigt ihn das Gottesgnadentum (fechura de Dios) dazu, seinen Segen zu spenden bzw. an seiner Stelle von Gott spenden zu lassen (vos dé la mía). In diesem Kontext redet Sancho Juan Manuel als sennor („Herr“) an, wodurch die Hierarchie Herr – Vasall infrage gestellt wird. Noch viel deutlicher wird die narrative Inszenierung dieser Infragestellung der hierarchischen Beziehung zwischen König und Untertan durch die fehlende Reaktion des erzählenden Ichs

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ihn Euch erteilen. Und ich bin mir sehr sicher, dass er ihn Euch guten Willens gab, als er starb, denn Ihr wart von ihm sehr erwünscht und sehr geliebt. […] Da Ihr nun, wie gesagt, über ihn [den Segen] verfügt und ich [hingegen] ohne Segen, aber stattdessen verflucht bin, kann ich Euch keinen Segen erteilen, und Ihr habt ihn auch nicht nötig.“) Hier ausgelassen ist, dass Juan Manuel laut Sancho auch den Segen seiner Mutter erhalten habe, während Sancho selbst von seiner Mutter verflucht worden sei. Schlieben 2009, 99. Ruiz 1989, 129: „La imagen final y culminante del Libro de las armas es la del joven don Juan Manuel coronado y colmado de bendiciones y amor.“ Wichtig ist hier, dass es sich nicht nur um das „harrowing picture of Sancho’s deathbed“ (Deyermond 2002, 102), sondern um ein narrativ konstruiertes Selbstbild eines Königs handelt. Ayerbe-Chaux 1989, 104; Hervorhebungen der Verfasserin. Ebd., 106 (Hervorhebungen der Verfasserin): „Da jedoch die Könige Gottes Werk sind und deshalb Vorteile gegenüber den anderen Menschen haben, […]; und wenn ich Euch deshalb irgendeinen Segen erteilen kann, bitte ich Gott um Gnade, dass er Euch seinen und meinen erteilt, soweit wie dies möglich ist. Nun kommt her, don Johan, [mein] Herr! Und ich werde Euch [meinen Segen] [hier eigtl. Leerstelle] geben, um mich von Euch zu verabschieden.“

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auf Sanchos Abschiedsworte: Fízolo así; et en esta guisa me partí dél. („So tat er es; und so verließ ich ihn“). Durch die Kürze und Neutralität der Formulierung entsteht eine distanzierende Schlussbemerkung, womit er die letzten Worte Sanchos mehr oder minder ignoriert und den Segen des ohnmächtigen sündhaften Königs in gewisser Weise delegitimiert. Juan Manuel ist es, der sich vom König abwendet – nicht der König von ihm –, was die Distanz der Ich-Erzählung zum Geschehen wiederum erhöht.

4.

Fakten und Fiktion im Rahmen von Kritik und Idealisierung herrscherlicher (Selbst-)Darstellung

Die Stimme des Ich-Erzählers zeichnet sich durch Schweigsamkeit und Reaktionslosigkeit, aber auch durch Neutralität und zum Teil Mehrdeutigkeit ihrer Hinweise aus, während die Stimme Sanchos so konfiguriert ist, dass sie anstatt das würdige Ende eines Herrschers zu entwerfen, diesen als eine sich aufgrund seiner Sünden, seiner Verfluchung und des Mangels an väterlichem Segen selbst degradierende Herrscherfigur konturiert. Die inszenierte Selbstkritik Sanchos kann aufgrund des Antagonismus zur Figur Alfons’ X. nicht einfach als Medium einer Kritik an der Herrschaft Alfons’ X. durch die Figur Sanchos begriffen werden, sondern muss vielmehr als Reflexion über die Gründe defizitärer Herrschaft allgemein verstanden werden, die den Krisenkontext der kastilischen Krone im 13. Jahrhundert aus der Perspektive einer sterbenden Herrscherfigur beleuchtet. Über den Adressaten des Traktates, den Dominikanermönch, hinausgehend, wird dem Text durch das explizite Einbeziehen weiterer möglicher Leser und damit vor allem den im letzten Teil des Textes als privat betonten Worten des Königs von vornherein ein öffentlicher bzw. veröffentlichender Charakter verliehen. Ausgehend von Freverts Studien zur ‚Politik der Demütigung‘ bzw. zum Zusammenhang von Macht und Scham,140 käme Don Juan Manuels Text bzw. die als Selbstdemütigung getarnte Bloßstellung Sanchos einer Machtausübung gleich, da die Figurenstimme des Königs implizit an den Pranger der öffentlichen Rezeption gestellt wird. Passend zur Beobachtung Gómez Redondos, dass Don Juan Manuel mit seiner „so entschiedenen Verteidigung seiner Loyalität“141 gegenüber Sancho vermutlich „Jahre voller Intrigen und List gegen seinen [aktuellen] König“142 – Alfons XI. – verbergen wollte, deutet die Inszenierung räumlicher (Königs-)Nähe und die Ausschmückung des privat-ver140 Ute Frevert, Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt am Main 2017. 141 Gómez Redondo 1998, 1197: „defensa tan rotunda de su lealtad“. 142 Ebd.: „años de intrigas y de añagazas alzados contra su rey“.

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traulichen Charakters im Rahmen eines implizit für die Öffentlichkeit zugänglichen Textes auf einen literarisierten Machtbeweis gegenüber der Herrschaft der alfonsinischen Dynastie, aber auch dem Phänomen der Herrschaft im Allgemeinen hin. Die vermeintlich vertraulichen Inhalte werden dabei von vornherein dekonstruiert. Verstärkt wird der Eindruck einer solchen Machtdemonstration vor allem durch die Unterbrechungen der figuralen Fokalisierung bzw. die Hierarchisierung der Erzählstimmen: jene des Königs, die durch die Stimme der Ich-Erzählung Juan Manuels an drei zentralen Textstellen unterbrochen wird. Diese Interventionen wirken gewissermaßen defokalisierend, wenn nicht degradierend im Hinblick auf die fokale Figur Sanchos. Der in den nicht näher konkretisierten Sünden Sanchos enthaltene Hinweis auf ein Defizit an tugendhaftem Verhalten,143 das der Herrschaft Sanchos hier offensichtlich schadet bzw. ihr ein Ende bereitet,144 sowie der Schande der Verfluchung durch die Eltern, steht mit der hier im dritten Textteil wiederholten Erläuterung des Schwertes, der Flügel und des Löwen eine Abundanz an Tugendhaftigkeit gegenüber, die die potenzielle Macht der Manuels auszeichnet und diese durch die Beschaffenheit der Insignien als theoretisch zur Herrschaft befähigt und moralisch dazu legitimiert darstellt.145 Wie Ruiz bemerkt, unterscheidet sich das Schwert von den Insignien der königlichen Macht, der Krone und dem Zepter, darin, dass letztere nicht zwangsläufig auch das tugendhafte Handeln eines Königs symbolisieren, während sich im Schwert hingegen Tugend- und Machtbegriff vereinen.146 So gehe es Don Juan Manuel im ‚Libro de las armas‘ darum, einen Unterschied zwischen einer „tugendlosen Machtausübung“ und einer „Tugendhaftigkeit, die die Macht verdient“ (weil sie dieser vorausgeht) aufzuzeigen.147 Dem heutigen Rezipienten offenbart diese Art von Differenzierung konzeptioneller Art ein kritisches Reflexionsvermögen zur Vorstellung von Macht, das durch die freie und komplexe textuelle Gestaltung einer Zwischenzone zwischen Historizität und Fiktionalität, sowie durch das Verweben mündlicher Tradition mit schriftlicher Dokumentation und der Augenzeugenschaft des Autors (Kompilators) zum 143 Der Leser verbindet das tatsächliche Fehlen von Tugendhaftigkeit mit der in Chroniken festgehaltenen Usurpation des Thrones durch Sancho. 144 Sanchos Sünden sollen als verantwortlich für seinen Tod gedeutet werden. 145 Hijano Villegas weist darauf hin, dass die Segenerteilung des sterbenden Ferdinands III. eine translatio imperii bedeutet, die im Falle Alfons’ X. „condicional“ und im Falle don Manuels „plena“ ist (2014, 95). 146 Ruiz 1989, 128. 147 Ebd., 129f.: „una distinción marcada entre el poder sin virtud y la virtud que merece el poder. Don Juan Manuel demuestra que los reyes castellanos no habían desempeñado su poder con virtud, por lo que la justicia divina habría de colocar en su lugar el poder justo de los Manueles, un linaje sumamente virtuoso, como se nos ha demostrado con las pruebas del sueño, las armas con sus símbolos, el león, el ala, la mano, y […] la espada Lobera, la prueba por excelencia de su virtud y futuro poder.“

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Ausdruck kommt. Diese Reflektiertheit Don Juan Manuels verdient insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sie aus der Perspektive des Hochadels entsteht, eine Sonderstellung im Rahmen der literarischen Betrachtung von Macht und Herrschaft, die hier letztlich über die Figur des Herrschers hinausgeht. Die Konstruktion einer solchen Zwischenzone, die Unklarheit bzw. Undefinierbarkeit des Textes bezüglich seines Genres („indefinición genérica“) sorgt folglich nicht nur, wie Cacho Blecua und Lacarra Ducay es postulieren, für Perplexität beim Leser („perplejidad del lector“), sondern ermöglicht sowohl dem zeitgenössischen als vor allem auch dem heutigen Rezipienten einen Einblick in eine ganz spezifische vormoderne Form der Reflexion über die Phänomene Macht und Herrschaft aus Sicht des Hochadels. Die Vermischung faktualer und fiktionaler Inhalte entspricht dabei keinem Versuch einer Manipulation der historischen Realität.148 Die Manipulation zielt nach Funes nicht auf historische Daten, sondern besteht in der spezifischen narrativen Artikulationsweise zwischen Kausalität und moralischer Wertung, die Don Juan Manuel für seine Version der Geschichte kreiert.149 Das Verweben von Fakten und Fiktion deutet daher vielmehr darauf hin, dass die in diesem Traktat verankerte literarische Reflexion Don Juan Manuels tatsächlich beide Komponenten, die historia und die ficción, erfordert, um eine Perspektive zu erschaffen, die nicht nur eine sehr subjektive, persönliche Wahrheit (verdat) wiedergibt, sondern darüber hinaus auch der justitia, der sententia und der intentio gerecht zu werden imstande ist, wie abschließend im kurzen Epilog ergänzt wird: Et porque las palabras son muchas, [et] oýlas a muchas personas, non podría ser que non oviese ý algunas palabras más o menos, o mudadas en alguna manera. Mas cred por çierto que la justiçia et la sintencia et la entención et la verdat, así passó commo es aquí scripto.150 Die Korrelation dieser drei der Wahrheit (verdat) hier vorausgehenden Begriffe scheint auf einer Klimax-Struktur zu basieren. An erster Stelle – quasi als Grundstein oder erster Anspruch – ist dem Werk hier die Gerechtigkeit eingeschrieben. Anhand der Symbolik des Schwertes im Wappen des Infanten Manuel erfährt die justitia, wie bezüglich des ersten Traktatteils beobachtet, eine zentrale inhaltliche Verankerung. Darüber hinaus steht der Text über die Implikation des Lehrspruchs und der Weisheitstradition im Terminus sententia auch im Zeichen der Didaktik, die bei Don Juan Manuel nicht zuletzt auf148 Cacho Blecua/Lacarra Ducay 2012, 426f. 149 Funes 2015, 19: „La manipulación no está en los datos, sino en su articulación según modelos narrativos de causalidad y de evaluación moral.“ 150 Ayerbe-Chaux 1989, 106f. (Hervorhebungen der Verfasserin): „[Und damit habe ich Euch alles, zu dem Ihr mich fragtet, erzählt wie es geschah und wie es mir berichtet wurde.] Und weil es viele Worte sind, die ich von vielen Personen hörte, kann es durchaus sein, dass an der ein oder anderen Stelle Wörter vergessen, hinzugefügt oder in irgendeiner Form geändert erscheinen. Aber Ihr könnt sicher sein, dass in dem, was hier geschrieben ist, die ‚justitia‘, ‚sententia‘, ‚intentio‘ und ‚veritas‘ vorhanden sind.“

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grund seines didaktisch-moralisierenden Hauptwerkes (‚El Conde Lucanor‘) einen höheren Stellenwert innehat und zudem ein Handeln im Sinne der justitia voraussetzt. Dies verdeutlicht auch die Reihenfolge im Rahmen der literarischen Wappenbeschreibung: Et en pos el espada es la mano. Et vos sabedes que […] la mano es la que faze todas las obras. En que se demuestra que […] à mester grant sabiduría […].151 Nach der Beschreibung des Schwertes wird die Bedeutung der Hand, die das Schwert führt, erläutert. Sie steht für die notwendige Weisheit im Umgang mit dem Schwert – für umsichtiges Handeln, womit hier implizit zwei zentrale Elemente des manuelinischen Wappens auf symbolischer Ebene als Ausdruck tugendhafter Machtausübung mit den Merkmalen der Textualität des Werkes verknüpft sind. Dritter und noch signifikanter erscheinender Baustein ist die intentionale Komponente des Textuellen, eben die dem Werk eingeprägte Absicht, die letztlich nur noch der verdat (veritas), dem Wahrheitsanspruch des literarischen Werkes untergeordnet ist. In diesem Sinne repräsentieren justiçia, sintencia, entención und die verdat nicht nur „eine letzte Beteuerung der Wahrhaftigkeit“152 der Traktatinhalte, sondern geben aller Wahrscheinlichkeit nach auch Don Juan Manuels Maximen des schriftlichen Kompilierens zu erkennen und verknüpfen diese wiederum mit der Symbolik von Macht und Herrschaft.

5.

Zusammenfassung und Fazit

Die im ‚Libro de las armas‘ bezüglich der Königshäuser Kastiliens und Aragons thematisierten familiären Konflikte, Intrigen und Machtkämpfe um (herrschaftliche) Territorien zeugen von einem enormen Wissen und der Nähe des Autors zu beiden Höfen. Dabei fällt auf, dass hingegen Informationen zu zentralen (zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes bereits) historischen Ereignissen wie den beiden Herrschaftsübergängen ausgelassen werden und stattdessen Zeitpunkte vor diesen Übergängen ins Licht gerückt werden. Die marginale und lapidare Andeutung der Nachfolgeproblematik in Nebensätzen degradiert die Herrschaftsübergänge von Ferdinand III. zu Alfons X. und von Sancho IV. zu Ferdinand IV. – als eigentlich bedeutungsvolle Momente der Geschichte – implizit zu sekundären Ereignissen. Als rahmenden Elementen wiederum wird den Herrschaftsübergängen dennoch eine zentrale Rolle zuteil, da durch die daraus resultierenden inhaltlichen Leerstellen anderen Inhalten – der Thematisierung des Infanten Manuel und der Rede Sanchos – Platz eingeräumt wird und sie somit als Fundament einer textinhärenten Polarisierung zwischen Traum und ‚Traumatisierung‘ zu verstehen sind, wie im Folgenden abschließend zu erläutern ist. 151 Ebd., 94. 152 Orduna 1982, 267: „una protesta última de veracidad“.

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Auf der Basis mündlicher Quellen entwirft Don Juan Manuel ein an die Wahrnehmung von Königin Beatrix gebundenes Traumnarrativ,153 das ihre Vision von der Macht ihres jüngsten Sohnes und dessen Nachkommen als Rächer des Todes Christi inszeniert. Von diesem visionären Moment geht eine Art Charismatisierung des Machtbegriffs aus, die im weiteren Verlauf des Textes auf die Figur Juan Manuels – auf dessen spezielle Persönlichkeit und Fähigkeiten – übertragen wird. Die Heterotopie des Traumes als andere Wirklichkeit und (nur für die Königin zugänglicher) Raum einer göttlichen Prophezeiung, nämlich der überragenden Bedeutung des jüngsten Infanten (im Gegensatz zur Linie des Ältesten und späteren Herrschers), ist als frohe Botschaft (die Niederkunft und das Heil, das diese mit sich bringt) konzipiert. Diese steht in direktem Kontrast zu einem Raum – der ebenfalls als Heterotopie zu verstehenden königlichen Kammer, dem Sterbebett Sanchos –, in dem hingegen eine traurige Botschaft, das Ende des Herrschers in Sünde statt in Würde entworfen wird. Die literarische Memoriabildung der Macht des Infanten Manuel und seines Sohnes ist nicht zufällig in die Fülle der geschilderten Konflikte, Intrigen und Defizite der Königshäuser Kastiliens und Aragons eingebettet. Sie wird erst auf Basis der negativen Herrscherbilder, die im Rahmen dieser Kritik geschaffen werden, initiiert und die Macht der Familie Manuel als positiver Gegenpol entworfen. Zu betonen ist hierbei, dass diese Kontrastierung nicht nur eine Kritik an der alfonsinischen Linie, sondern auch des aragonesischen Königshauses beinhaltet. Die Macht der Manuels, primär als gottgegeben verstanden und mit charismatischen Zügen und der Inszenierung von Königsnähe versehen, wird weitgehend unabhängig vom Kontext von Herrschaft – als Machtanspruch – beschrieben, wenngleich dieser im dritten Teil umso klarer herausgestellt wird, je offensiver der Text die Ohnmacht der Herrscherfigur Sanchos verdeutlicht. Bezüglich der Frage, inwiefern die Kritik an den herrschenden oder an Herrschaft partizipierenden Figuren und die Idealisierung der manuelinischen Linie auch an eine Kritik und/oder Idealisierung von Macht und Herrschaft auf konzeptioneller Ebene gebunden ist, lässt sich abschließend feststellen, dass die Reflexion über das Phänomen der Macht profunder und mehrdimensional angelegt ist, während Herrschaft auf rein figuraler Ebene und situativ-exemplarisch im Text verankert ist und dabei weitgehend unreflektiert bleibt. Darstellungen von Herrschaft werden überwiegend zur negativen Kontrastbildung herangezogen, welche vornehmlich an die Figur des handlungsunfähigen, ohnmächtigen oder gar verfluchten Herrschers gebunden ist. Das Phänomen der Macht kommt in 153 Vgl. auch Stopfner im Rahmen ihrer Ausführungen zur Rolle der Metaphorik in der Kommunikation von Legitimation: „In Zusammenhang mit den persuasiven Bemühungen politischer Argumentation stellen Narrative […] eine weitere wertvolle Ressource dar, um die eigene Sicht in Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffentlich durchzusetzen.“ (2015, 22).

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Bezug auf diese Herrscherfiguren lediglich als Defizit, in Form von Ohnmacht zum Vorschein. Die vier zentralen Herrscherprofile, die in diesem Text entstehen – Ferdinand III., Alfons X., Sancho IV. von Kastilien sowie Jakob I. von Aragon – sind so konfiguriert, dass sie der Rezipient sowohl einzeln, aber auch im Vergleich bzw. im Kontrast zueinander betrachten und dabei durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann. Darüber hinaus sind die Herrscherfiguren und die Thematisierung ihrer Nachfolge auch im Kontext der Entstehungszeit des ‚Libro de las armas‘ zu interpretieren, angesichts des Umstands, dass sich Alfons XI. zwar auf dem Höhepunkt seiner Macht befand, jedoch bislang kinderlos geblieben war154 – ein Zwiespalt zwischen Macht und deren Defizit, der die „dynastisch-zukunftsorientierte Dimension“155 einer Herrschaft problematisiert. Auf textinterner Ebene ist es die Figur Ferdinands III. des Heiligen, welche die Spannung zwischen der Kritik an der alfonsinischen Linie und der Idealisierung der manuelinischen geradezu zu begründen scheint: „Er ist es, der dem Infanten Manuel den Segen erteilt, den er Alfons [X.] verwehrt.“156 Die narrative Gefasstheit des Königs Ferdinand III. und die großzügige Geste gegenüber seinem jüngsten Sohn – als metanarrativer Einschub vom Sterbebett Sanchos hin zum Sterbebett des Großvaters – lässt die ‚ohnmächtig‘ und ohne Habe und Segen daliegende Figur Sanchos IV. nur noch trostloser wirken, zu deren einzigem Halt die Figur des jungen Juan Manuel, seines Cousins, stilisiert wird. Insofern ist das Profil Sanchos als Höhepunkt des Textes eindeutig als negativstes Herrscherbild zu werten, zumal es das einzige ist, das durch direkte Rede der Herrscherfigur erzeugt wird, während der Text Ferdinand III., Alfons X. und Jakob I. keine eigene Stimme verleiht. Durch die narrativ konstruierte Selbstentthronung Sanchos entsteht in der dritten razón somit ein Gegenbild zum Rey Bravo, dem die Chroniken postum „Tapferkeit“ zuschreiben. Damit bietet der Text zwar prinzipiell an, aus der Kontrastierung einer gesegneten und einer verfluchten Linie – einer mächtigen und gottgesandten potenziellen Herrscherlinie im Gegensatz zu einer defizitären, vor Gott in der Schuld stehenden herrschenden Linie – implizit ein literarisches Korrektiv im Hinblick auf die historische Nachfolge Ferdinands III. des Heiligen durch Alfons X. und dessen Nachfolger Sancho IV. herauszulesen, was der Text jedoch nicht explizit

154 Vgl. hierzu Schlieben 2009, 100; Schlieben weist darauf hin, dass Alfons XI. bis 1332 kinderlos blieb – eine Problematik, die, wie sie ergänzt, auch Fernán Sánchez de Valladolid in seiner ‚Crónica de Alfonso XI‘ thematisiert. Dagegen verfügte „Juan Manuel […] bereits über einen Nachkommen mit Königsnamen“ bzw. mit dem „dynastisch-programmatischen Namen Ferdinand“ (ebd.). 155 Ebd., 97. 156 Ebd., 100.

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formuliert.157 Als Substrat der inhaltlichen Darstellung liegt insbesondere aufgrund der im Begriff razón inhärenten Deutungsvielfalt und ordnenden Komponente eine Problematisierung der Begriffe Macht und Herrschaft vor, die der Text im Theoretischen und auf subtile Art und Weise vornimmt. Anhand einer dreischrittigen textuellen Verankerung durch die Dimensionen der Visualisierung, der Territorialisierung und schließlich der Figuralisierung des Erzählens über Macht – narrative Strategien, welche auf textueller Verbildlichung von Zeichen, Symbolen und Ritualen der Macht (Traum, Wappen, Ritterschlag) oder auch auf einer spezifischen narrativen Raumgestaltung basieren – wird das Phänomen der Macht omnipräsent und positiv beleuchtet. Im Kontrast dazu wird mittels der Enthüllung von Konflikten und Schwächen konkreter Herrscherfiguren ein eindimensionales und negatives Bild von Herrschaft entworfen. So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass ein König, der sein Wort nicht hält bzw. bestimmten normativen Kriterien nicht entspricht, mit einer kritischen Reaktion der Öffentlichkeit – im Extremfall mit einer Verfluchung – rechnen kann (wie Jakob I. von Aragon). Anhand der Figur des aragonesischen Königs wird gleichzeitig auch ein (insbesondere durch die weibliche Agenda der beiden Violantes) manipulierter, handlungsunfähig gewordener und ratloser König zur Schau gestellt, was über den konkreten Fall hinaus als eine Problematisierung der Manipulierbarkeit von Königen und von Herrschaft im Allgemeinen zu verstehen ist. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass es auch im Hinblick auf die Darstellung der kastilischen Herrschaft weniger um eine ‚verfluchte‘ (alfonsinische) Dynastie als um das Bild eines zu kritisierenden Königs generell geht, wenn dieser – wie die inszenierte Selbstdarstellung Sanchos offenbart – in Sünde vor Gott lebt und gemäß dem Topos eines armen Sünders abdanken oder sterben muss.

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157 An dieser Stelle sei an das eingangs erwähnte Zugeständnis erinnert, das der Verfasser explizit im Hinblick auf die Existenz anderer möglicher Ausführungen (neben seiner eigenen Komposition) zu den von ihm gewählten Themen macht, was trotz des explizit formulierten Wahrheitsanspruches eine Diskursivierung des Inhalts einleitet.

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Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Mechthild Albert Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Klassische und Romanische Philologie Abteilung für Romanistik Am Hof 1 53113 Bonn [email protected] Dr. Ulrike Becker Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Klassische und Romanische Philologie Abteilung für Romanistik Sonderforschungsbereich 1167 Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] Prof. Dr. Hugo O. Bizzarri Université de Fribourg Faculté des lettres et des sciences humaines Département d’espagnol Av. Beauregard 11 1700 Fribourg (Schweiz) [email protected]

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Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Elke Brüggen Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Abteilung für Germanistische Mediävistik Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. María Luzdivina Cuesta Torre Universidad de León Facultad de Filosofía y Letras Dpto. Filología Hispánica y Clásica Instituto de Estudios Medievales Campus de Vegazana S./N. 24071 León (España) [email protected] Dr. Rebecca Hardie Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie Abteilung für English Medieval Studies Sonderforschungsbereich 1167 Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] Prof. Dr. Karina Kellermann Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut fu¨ r Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected] Dr. Anna Kollatz Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient und Asienwissenschaft Abteilung für Islamwissenschaft und Nahostsprachen Brühler Str. 7 53119 Bonn [email protected]

Liste der Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. Ludwig D. Morenz Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Archäologie und Kulturanthropologie Abteilung für Ägyptologie Brühler Str. 7 53119 Bonn [email protected] PD Dr. Alheydis Plassmann Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte Am Hofgarten 22 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Seraina Plotke Otto-Friedrich-Universität Bamberg Institut für Germanistik Ältere deutsche Literaturwissenschaft An der Universität 5 96047 Bamberg [email protected] Sophie Quander, M.A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Sonderforschungsbereich 1167 Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] Lena Ringen, M.A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Klassische und Romanische Philologie Abteilung für Romanistik Sonderforschungsbereich 1167 Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected]

310 Dr. Emily A. Winkler University of Oxford Faculty of History St Edmund Hall Queen’s Lane OX1 4AR (UK) [email protected]

Liste der Autorinnen und Autoren