Macht und Herrschaft als transkulturelle Phänomene: Texte – Bilder – Artefakte [1 ed.] 9783737013185, 9783847113188

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Macht und Herrschaft als transkulturelle Phänomene: Texte – Bilder – Artefakte [1 ed.]
 9783737013185, 9783847113188

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Macht und Herrschaft Schriftenreihe des SFB 1167 »Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive«

Band 13

Herausgegeben von Matthias Becher, Elke Brüggen und Stephan Conermann

Elke Brüggen (Hg.)

Macht und Herrschaft als transkulturelle Phänomene Texte – Bilder – Artefakte

Unter Mitarbeit von Anna Katharina Bücken, Ann-Kathrin Deininger und Jasmin Leuchtenberg Mit 33 Abbildungen

V&R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Trient, Castello del Buonconsiglio, Sala dei Mesi, Adlerturm, Wandmalereien der Südwand (Ausschnitt) (Gardaphoto, 2015 – © Castello del Buonconsiglio, Trento – Italy). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2511-0004 ISBN 978-3-7370-1318-5

Inhalt

Vorwort zur Schriftenreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Konflikt und Konsens Matthias Becher / Linda Dohmen / Britta Hermans Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ und die Absetzung Karls III. 887 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Susanne Reichert Auf dem Rücken der Schildkröte: eine Inschrift im Spannungsfeld von Konflikt und Konsens im mongolischen Weltreich . . . . . . . . . . . . .

33

Felix Bohlen Das ›Guoyu‹ 國語 – ein frühchinesischer Fürstenspiegel . . . . . . . . . .

53

Peter Schwieger Der Konflikt zwischen den Königreichen von Ladakh und Purig im 18. Jahrhundert und seine Lösung: Ausschnitt aus der vertraglichen Konfliktlösung von 1753 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

David Hamacher Die ›Apocolocyntosis‹ des Seneca und der Diskurs über die Vergöttlichung des römischen Kaisers . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Personalität und Transpersonalität Sophie Quander Der Kaiser beklagt das kranke Reich. Die ›Reformatio Sigismundi‹ zwischen Personalität und Transpersonalität . . . . . . . . . . . . . . . . 117

6

Inhalt

Eva Orthmann Die Feier von Nauru¯z unter den beiden Moghulherrschern Huma¯yu¯n (r. 1530–40 und 1555–56) und Akbar (r. 1556–1605) . . . . . . . . . . . . 133 Mareikje Mariak / Andrea Stieldorf / Maximilian Stimpert Heinrich V. und seine Frau Mathilde im Siegel- und Münzbild

. . . . . . 151

Detlev Taranczewski Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹ als Quellen für die Untersuchung personaler und transpersonaler Elemente königlicher Herrschaft im Japan des 12. und 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Zentrum und Peripherie Simon Lorscheid Haus Pesch bei Pier im Tagebau Inden – eine frühe Mottenanlage des Hochmittelalters zwischen Aachen, Düren und Jülich . . . . . . . . . . . 205 Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi Das Zentrum von der Peripherie aus kommentieren. Die Aufzeichnungen des Augsburger Juweliers Hans Georg Peyerle über die Hochzeit des ›Falschen Dmitrij‹ in Moskau im Jahre 1606 . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Marian Kasprowski Gesandtschaftswesen und diplomatisches Zeremoniell der Qing-Zeit in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Ludwig D. Morenz / David Sabel Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie. Zum zentralstaatlichen Ägypten im späten 4. Jahrtausend v. Chr. . . . . . 261 Harald Wolter-von dem Knesebeck Die Wandmalereien des Adlerturms der bischöflichen Burg von Trento/Trient als Beispiel für den Umgang mit Zentrum und Peripherie in auf einen (königlichen) Gast bezogenen bzw. beziehbaren Wandmalereien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Inhalt

7

Kritik und Idealisierung Ulrike Becker Wenn der König sich fürchtet: Kritik und Idealisierung des Herrschers in einer Erzählung aus ›Calila e Dimna‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Ann-Kathrin Deininger / Jasmin Leuchtenberg Der Großzügige gegen den Geizigen – Kritik und Idealisierung im ›König Rother‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Florian Saalfeld / Tilmann Trausch Das Ideal eines Herrschers: Narrative Strategien zur Legitimation eines zukünftigen Sultans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Konrad Klaus / Theresa Wilke König Cakravarman (reg. 923–933, 935 und 936–937): Held in der Schlacht – Versager auf dem Thron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Dominik Büschken / Alheydis Plassmann Narrative Kritik am Beispiel der ‚Gesta Regum Anglorum‘ Wilhelms von Malmesbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Liste der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Vorwort zur Schriftenreihe

Im Bonner Sonderforschungsbereich 1167 ›Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‹ werden die beiden namengebenden Vergesellschaftungsphänomene vergleichend untersucht. Sie prägen das menschliche Zusammenleben in allen Epochen und Räumen und stellen damit einen grundlegenden Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften dar. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des disziplinär breit angelegten Forschungsverbundes, die Kompetenzen der beteiligten Fächer in einer interdisziplinären Zusammenarbeit zu bündeln und einen transkulturellen Ansatz zum Verständnis von Macht und Herrschaft zu erarbeiten. Hierbei kann der SFB 1167 auf Fallbeispiele aus unterschiedlichsten Regionen zurückgreifen, die es erlauben, den Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu schärfen. Die Reihe ›Macht und Herrschaft‹ enthält Beiträge, die den interdisziplinären Zugriff auf das Thema und die transkulturelle Perspektivierung abbilden. Die Arbeit des Bonner Forschungsverbundes ist von vier Zugängen zu Phänomenen von Macht und Herrschaft geprägt, die auch den Projektbereichen des SFB 1167 zugrunde liegen: Die Themen der Spannungsfelder ›Konflikt und Konsens‹, ›Personalität und Transpersonalität‹, ›Zentrum und Peripherie‹ sowie ›Kritik und Idealisierung‹ stehen im Zentrum zahlreicher internationaler Tagungen und Workshops, die dem Dialog mit ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland dienen. Dieser wichtige Austausch, dessen Erträge in der vorliegenden Reihe nachzulesen sind, wäre ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und das kontinuierliche Engagement der Universität Bonn zur Bereitstellung der notwendigen Forschungsinfrastruktur nicht möglich, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Matthias Becher – Elke Brüggen – Stephan Conermann

Vorwort

Der Bonner Sonderforschungsbereich 1167 ›Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‹ hat sich eine auf vormoderne Verhältnisse bezogene vergleichende Betrachtung der zentralen Phänomene ›Macht‹ und ›Herrschaft‹ zur Aufgabe gemacht. Damit rücken politisch-gesellschaftliche Organisationsformen in den Blick, die als prägend für die soziale Ordnung angesehen werden dürfen. Die Konzeption des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Verbundforschungsprojekts ist programmatisch auf eine integrative Behandlung europäischer und außereuropäischer Kulturräume ausgerichtet und wird durch eine Vielzahl von Forscherinnen und Forschern aus einem breiten Spektrum unterschiedlicher Fächer getragen. Die geforderte Interdisziplinarität, die einen substantiellen transkulturellen Vergleich erst ermöglicht, garantiert ein stimulierendes Arbeitsumfeld, stellt aber auch eine besondere Herausforderung dar, der man mit einer Strukturierung des SFB in vier unterschiedliche Projektbereiche (›Spannungsfelder‹) und deren besonderer Form der Organisation Rechnung getragen hat: Die Begriffspaare der thematischen Felder ›Konflikt und Konsens‹, ›Personalität und Transpersonalität‹, ›Zentrum und Peripherie‹ sowie ›Kritik und Idealisierung‹ markieren leitende Gesichtspunkte einer gemeinsamen Forschungsarbeit, welche durch eine feste Zuordnung eines jeden Teilprojekts zu zweien der vier Projektbereiche fundiert wird. Diese doppelte Verankerung, die auch weitere Vernetzungen befördert hat, erlaubt es, den komplexen Verbindungen und Überlagerungen zwischen den jeweiligen titelgebenden, keineswegs einander ausschließenden Polen nachzugehen. Aus der Zusammenarbeit der Kolleginnen und Kollegen innerhalb der einzelnen Projektbereiche, die ihren Niederschlag in etlichen Arbeitsgruppen, Workshops, Tagungen und gemeinsamen Publikationen gefunden hat, entstand der Wunsch, die verschiedenen Zugriffe auf die leitenden Themenfelder und Problemstellungen anhand gut ausgewählter Fallbeispiele in einer alle vier Bereiche des SFB umfassenden Anthologie zu präsentieren. Eine solche kommentierte Anthologie legen wir nun mit dem Band ›Macht und Herrschaft als transkulturelle Phänomene – Texte, Bilder, Artefakte‹

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Vorwort

vor. Der Band wurde so angelegt, dass die Bereiche ›Konflikt und Konsens‹, ›Personalität und Transpersonalität‹, ›Zentrum und Peripherie‹, ›Kritik und Idealisierung‹ jeweils in einer Kombination aus europäischen und außereuropäischen Fachperspektiven vorgestellt werden. Um eine weitgehende Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der Artikel zu gewährleisten, folgen Aufbau und Inhalt, soweit möglich und sinnvoll, einem gemeinsamen Muster. An eine Vorstellung und Kontextualisierung des gewählten Fallbeispiels schließt sich eine Präsentation dieses Beispiels an, die, je nach Sachlage, die betreffenden Texte, Bilder oder Artefakte entweder vollständig oder aber in signifikanten Ausschnitten bzw. Teilen wiedergibt und sodann mit einem Blick auf Konfigurationen von ›Macht‹ und ›Herrschaft‹ kommentiert und analysiert; Übersetzungen fremdsprachlicher Texte oder Texte aus älteren Sprachstufen sichern dabei auch für Nicht-Fachkundige den Zugang zu den jeweiligen Zeugnissen. Hinweise zur Bedeutung des Fallbeispiels für den jeweiligen Projektbereich des SFB, dem es zugeordnet ist, beschließen in der Regel die Ausführungen. Die Publikation des Bandes verdankt sich der positiven Aufnahme der Idee zu einer solchen Anthologie bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den einzelnen Teilprojekten und der engagierten Mitwirkung und Kooperation aller Beteiligten – ihnen gilt mein herzlicher Dank. Zur redaktionellen Arbeit im Rahmen der Drucklegung haben Anna Katharina Bücken, Dr. Ann-Kathrin Deininger und Jasmin Leuchtenberg maßgeblich beigetragen – auch ihnen gebührt ein großer Dank. Verantwortlicher Reihenherausgeber war Herr Prof. Dr. Konrad Vössing; ihm und der Geschäftsführerin des Sonderforschungsbereichs 1167, Frau Dr. Katharina Gahbler, danke ich für die abschließende Durchsicht des Manuskripts. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind wir für ihre großzügige finanzielle Förderung, die auch die Drucklegung des Bandes ermöglichte, sehr verbunden. Bonn, im Januar 2021

Elke Brüggen

Konflikt und Konsens

Matthias Becher / Linda Dohmen / Britta Hermans

Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ und die Absetzung Karls III. 887

Teilprojekt ›Consensus und fidelitas: Personale und transpersonale Elemente königlicher Macht und Herrschaft im ostfränkisch-deutschen Reich‹ (Leitung: Prof. Dr. Matthias Becher/Dr. Linda Dohmen, Mittelalterliche Geschichte)

1.

Der Text

Die sogenannten ›Annales Fuldenses‹1 sind eine der bedeutendsten historiographischen Quellen für das ostfränkische Reich im 9. Jahrhundert und prägen unseren Blick auf die Zeit maßgeblich. Dennoch konnten bis heute viele Fragen bezüglich ihrer Entstehung nicht beantwortet werden.2 Auch ein Titel des Werkes ist nicht überliefert. Aufgrund einer von der Forschung angenommenen Verbindung zum Kloster Fulda hat sich seit dem 17. Jahrhundert der Name ›Annales Fuldenses‹ etabliert. Annalenwerke waren während des ganzen Mittelalters im ostfränkisch-deutschen Reich verbreitet und stellen besonders für die Karolingerzeit eine der Hauptquellenarten dar. Die über zehn erhaltenen mittelalterlichen Handschriften der ›Annales Fuldenses‹, von denen die älteste aus dem 10. Jahrhundert stammt, bilden wahrscheinlich nur einen Bruchteil der ehema-

1 Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 7), Hannover 1891. 2 Vgl. Sören Kaschke, Nachtrag, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Dritter Teil: Jahrbücher von Fulda, Reginos Chronik, Notkers Taten Karls, ed. und übers. v. Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 7), 4. Aufl., Darmstadt 2002, 449–461. Ausführlich zur (älteren) Forschungsdiskussion: Wattenbach-Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 6: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt der Herrscher aus dem Sächsischen Hause. Das ostfränkische Reich, bearb. v. Heinz Löwe, Weimar 1990, 671–687.

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Matthias Becher / Linda Dohmen / Britta Hermans

ligen Verbreitung im Reich ab, wie sich anhand der häufigen Benutzung des Werkes in späteren Quellen vermuten lässt.3 Bei den ›Annales Fuldenses‹ handelt es sich um jahrweise angelegte, über einen längeren Zeitraum mehr oder weniger kontinuierlich von verschiedenen, anonymen Verfassern geführte, relativ zeitgenössische Einträge der wichtigsten historischen Ereignisse mit Fokus auf das ostfränkische Reich.4 Insgesamt reichen die ›Annales Fuldenses‹ von 714 bis 901, wobei der erste Teil bis 829 eine Kompilation anderer älterer Annalenwerke unter maßgeblicher Benutzung der sogenannten ›Fränkischen Reichsannalen‹ (›Annales regni Francorum‹)5 darstellt. Ab 830 bzw. 838 handelt es sich dann um einen unabhängigen Bericht, der vermutlich in Fulda und/oder Mainz verfasst wurde und bis 887 bzw. Januar 888 reicht.6 Daneben existiert noch eine weitere, gänzlich andere und auch in der handschriftlichen Überlieferung distinkte Fassung, die die Jahre 882 bis 901 behandelt und deren Entstehung in Bayern, am Regensburger Hof Arnulfs von Kärnten sowie im Bistum Passau, verortet werden kann und die daher gemeinhin als ›Regensburger‹ oder ›Bayerische‹ Fortsetzung bezeichnet wird.7 Im Gegensatz dazu wird die ›andere‹ Fassung der ›Annales Fuldenses‹ ab 864 auch als sogenannte ›Mainzer‹ Fortsetzung bezeichnet. Diese Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ ist vermutlich ab ca. 870 unter der Aufsicht des Erzbischofs Liutbert von Mainz entstanden,8 der seit 870 zuerst Ludwig dem Deutschen und dann Ludwig dem Jüngeren als Erzkapellan diente und der ab diesem Zeitpunkt die Annalen, die vermutlich bis 863 unter seinen Vorgängern in Mainz aufgezeichnet worden waren, fortführen ließ. Die in einem Zug geschriebenen Einträge der Jahre 864 bis 870 sind jedenfalls stark von Liutberts eigener Person und Bedeutung sowie den Themen geprägt, die für ihn 3 Vgl. Friedrich Kurze, Praefatio, in: Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis, ed. Ders. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 7), Hannover 1891, VI–XIII; Timothy Reuter, Introduction, in: Ders. (ed.), The Annals of Fulda (Manchester Medieval Sources Series 2 – Ninth-Century Histories 2), Manchester/New York 1992, 1–14, hier 2f. 4 Vgl. Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte. Mittelalter, 4. Aufl., Stuttgart 2014. 5 Zu den fränkischen Reichsannalen zusammenfassend Rosamond McKitterick, History and Memory in the Carolingian World, Cambridge et al. 2004, 85–132. 6 Siehe Reuter 1992, 4. 7 Zur Regensburger Fortsetzung siehe Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 25), Ostfildern 2008, 394–396, 552–561. 8 Zur Mainzer Fortsetzung und ihrem Tenor vgl. grundlegend Hagen Keller, Zum Sturz Karls III. Über die Rolle Liutwards von Vercelli und Liutberts von Mainz, Arnulfs von Kärnten und der ostfränkischen Großen bei der Absetzung des Kaisers, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 22 (1966), 333–384; in jüngerer Zeit Simon MacLean, Kingship and Politics in the Late Ninth Century: Charles the Fat and the End of the Carolingian Empire (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 57), Cambridge 2003, 24–27; Patzold 2008, 386–394.

Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹

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gegen Ende des Jahres 870 von Interesse sein mussten, so beispielsweise die Absetzungen Erzbischof Gunthars von Köln und Theutgauds von Trier und damit zusammenhängend der Ehestreit Lothars II. sowie die Feldzüge Ludwigs des Deutschen und seiner Söhne gegen slawische Kriegerverbände. Von 871 bis 882 weitet sich der Berichtshorizont und es werden das Itinerar des Königs, Ludwigs des Deutschen, sowie seine wichtigsten Maßnahmen chronologisch dargestellt, wobei diese Jahreseinträge nahezu parallel zum jeweiligen Geschehen abgefasst wurden. Ab 875 liegt dabei der Fokus zunehmend auf den politischen Konflikten infolge des Todes zahlreicher karolingischer Herrscher (Ludwig der Deutsche 876, Karl der Kahle 877, Ludwig der Stammler 879 und Karlmann 880), in denen die Mainzer Fortsetzung eindeutig für Ludwig den Jüngeren Partei ergreift. Mit dessen Tod 882 und der Herrschaftsübernahme Karls III. (›des Dicken‹, ein Bruder Ludwigs des Jüngeren) verlor der Mainzer Erzbischof Liutbert allerdings seine Stellung als Erzkapellan und geachteter Ratgeber am Hof an Karls ›eigenen Mann‹ Bischof Liutward von Vercelli. Fortan bildet die Verärgerung darüber den Hintergrund für die starke Kritik an der Politik Karls III. bis ins Jahr 887, dessen Höhepunkt die Absetzung des Herrschers bildet. Mit Karls baldigem Tod – im Januar 888 – bricht die Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ ab. Der intendierte Rezipientenkreis der Schrift ist nicht sicher zu bestimmen. So könnte sie sich nach außen, also an die Gegner Liutberts oder an neutrale Dritte, gerichtet haben. Ebenso ist jedoch vorstellbar, dass die Annalen sich nach innen, das heißt an die Anhänger des vom Hof verdrängten Mainzer Erzbischofs, wenden sollten, um den Zusammenhalt und die Zustimmung für seine Person zu fördern. In jedem Fall wird anhand der Fortsetzung deutlich, wie sich ein Erzbischof aus aktuellem Anlass der Annalistik bediente, um seine Position zu festigen und für seine Rückkehr in den Kreis der engsten Ratgeber bei Hof zu werben.

2.

Inhalt und Thema des Textes

Zum besseren Verständnis des Berichts über das Ende der Herrschaft Karls III. ist es notwendig, den Lebensweg des Kaisers kurz zu skizzieren, wobei die Fuldaer Annalen die wohl wichtigste Quelle darstellen, gefolgt von den aus westfränkischer Perspektive berichtenden sogenannten ›Annales Bertiniani‹,9 der Anfang

9 Annales de Saint-Bertin, ed. Félix Grat/Jeanne Vielliard/Suzanne Clémencet, Paris 1964.

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des 10. Jahrhunderts verfassten Chronik des Abtes Regino von Prüm10 sowie den Urkunden Karls III. selbst.11 Dieser wurde 839 als dritter Sohn des ostfränkischen Königs Ludwig des Deutschen geboren.12 Schon um 860 scheint sein Vater ihm Alemannien und das Elsass als künftiges Herrschaftsgebiet zugedacht zu haben. Karl hielt sich häufig im Land auf und heiratete 861/862 die elsässische Grafentochter Richgard. Im Jahr 865 oder 866 wurde seine Position offizieller: Ludwig der Deutsche teilte sein Reich unter seine drei Söhne, wobei Karl tatsächlich Alemannien, der älteste Sohn Karlmann Bayern und der mittlere Sohn Ludwig der Jüngere das Rhein-Main-Gebiet und Sachsen erhielt. Gleichwohl kam es immer wieder zu Spannungen und sogar Auseinandersetzungen zwischen Ludwig dem Deutschen und seinen Söhnen. Das hing damit zusammen, dass der König immer mehr dazu tendierte, seinen ältesten Sohn Karlmann zu bevorzugen, was den Widerstand der beiden jüngeren Brüder Ludwig und Karl provozierte. Karl erscheint dabei meist im Schlepptau seines Bruders. Diese Auseinandersetzungen scheinen ihn persönlich erheblich mitgenommen zu haben: 873 hatte er sich erneut mit Ludwig verschworen, um den Vater zu entthronen. Das Komplott wurde auf einer Reichsversammlung in Frankfurt aufgedeckt. Karl soll daraufhin in aller Öffentlichkeit von heftigen Krämpfen geschüttelt zusammengebrochen sein. Man glaubte, er sei vom Teufel besessen; eine Messe wurde gelesen, um das Böse zu vertreiben. Endlich beruhigte sich der Königssohn, bekannte, sich gegen seinen Vater verschworen zu haben, und bat um Verzeihung.13 Die Forschung geht von einem epileptischen Anfall aus, aber vielleicht war Karl auch einfach dem psychischen Druck nicht gewachsen, da er durch sein Komplott gegen den eigenen Vater schwere Schuld auf sich geladen hatte und mit einer entsprechenden Bestrafung rechnen musste.14

10 Reginonis abbatis Prumensis chronicon cum continuatione Treverensi, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 50), Hannover 1890. 11 Karoli III. diplomata, ed. Paul Kehr (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 2), Berlin 1937 (einzelne Urkunden werden im Folgenden als D K III unter Angabe der jeweiligen Editionsnummer zitiert). 12 Zu Karl grundlegend MacLean 2003 (allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge). 13 So nicht nur in den Annales Fuldenses, ed. Kurze, a. 873, 77f., sondern auch in den westfränkischen Annales Bertiniani, ed. Grat/Vielliard/Clémencet, a. 873, 190–192, sowie in den Annales qui dicuntur Xantenses a. 790–873 (874), ed. Bernhard von Simson, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 12, Hannover 1909, 1–39, hier a. 873, 31f. 14 Vgl. zu dem Vorfall die Diskussion bei Simon MacLean, Ritual, Misunderstanding, and the Contest for Meaning: Representations of the Disrupted Royal Assembly at Frankfurt (873), in: Ders./Björn Weiler (edd.), Representations of Power in Medieval Germany 800–1500 (International Medieval Research 16), Turnhout 2006, 97–119.

Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹

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Ludwig der Deutsche starb im Jahr 876, und seine Söhne teilten das Ostfrankenreich wie geplant unter sich auf. Karl III. herrschte nun als König in Alemannien, im Elsass und in Rätien. Seine weitere Karriere wurde durch zahlreiche Todesfälle innerhalb der karolingischen Dynastie befördert, die zu einer letztmaligen Einigung der einzelnen fränkischen Teilreiche führten. In der Generation Karls hatten immerhin elf legitime Karolinger das Erwachsenenalter erreicht. Teilweise fielen sie Bruderkriegen zum Opfer, teilweise starben sie eines natürlichen Todes. Aber keiner von ihnen sorgte für die Fortsetzung des karolingischen Herrscherhauses. Zwar waren sie fast alle Väter von Kindern, auch Söhnen, aber einen männlichen Erben aus einer unbestreitbar legitimen Ehe hat keiner von ihnen gezeugt, auch Karl selbst nicht; vielmehr hatte er lediglich einen außerehelichen Sohn namens Bernhard. Zunächst profitierte er aber von dieser Konstellation: Im Jahr 879 überließ ihm sein schwer erkrankter Bruder Karlmann kurz vor seinem Tod das Königreich Italien, und knapp zwei Jahre später wurde Karl von Papst Johannes VIII. in Rom zum Kaiser gekrönt. Kurz darauf starb Ludwig der Jüngere, sein zweiter Bruder. Karl übernahm so 882 auch das gesamte Ostfrankenreich sowie Lotharingien, das ehemalige Reich seines 869 verstorbenen Vetters Lothar II. Diese Machterweiterung schwächte jedoch letztlich Karls Position sowohl nach innen als auch nach außen. Im Innern stützte sich Karl nach wie vor auf seine alemannischen Ratgeber, allen voran Liutward, seit 880 Bischof von Vercelli, der ihm als Erzkanzler diente. Im Ostfrankenreich, unter der Herrschaft Ludwigs des Jüngeren, hatte diese Position bis dahin Erzbischof Liutbert von Mainz innegehabt, der wohl mächtigste Kirchenfürst im Reich überhaupt. Er hatte nun das Nachsehen, opponierte folglich gegen die Politik des Kaisers und ließ dessen Handlungen in der Mainzer Fortsetzung der Fuldaer Annalen entsprechend kommentieren. Zudem sah sich Karl nun auch mit einem gefährlichen Gegner konfrontiert, den Normannen, die sowohl das Frankenreich als auch England seit Generationen von See her überfielen und Städte wie Klöster nahezu ungehindert plünderten. 881/882 war insbesondere das Rheinland mit Lüttich, Maastricht, Köln, Bonn, Aachen und Trier betroffen. Dann zogen sich die Normannen in ihr festes Lager bei Asselt (nördlich von Roermond) zurück. Karl eilte im Sommer 882 dorthin und belagerte sie. Nach zwölf Tagen und großen Verlusten auf beiden Seiten kam es zu Verhandlungen. Der Kaiser bewegte gegen hohe Geldzahlungen die Anführer der Normannen mit einem gewissen Gottfried an der Spitze zum Rückzug. Als Gegenleistung versprachen sie, künftig auf Plünderungen zu verzichten. Zudem suchte der Kaiser anscheinend, wenigstens einige Normannen in sein Herrschaftssystem einzubinden und vielleicht sogar für den Schutz der Küste zu gewinnen: Gottfried ließ sich taufen, wobei der Kaiser selbst

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als Taufpate fungierte und dem Normannenanführer Grafschaften und Lehen in Friesland übergab. Gerade diese Einigung mit den heidnischen Wikingern wurde in der Mainzer Fortsetzung der Fuldaer Annalen heftig kritisiert; die Darstellung der Friedensabmachungen liest sich wie eine Anklageschrift gegen den Kaiser: »Als bereits die Festung fallen musste und die drinnen aus Furcht nicht mehr dem Tod zu entrinnen dachten, ging einer von den Räten des Kaisers namens Liutward, ein falscher Bischof, ohne Wissen der übrigen Räte, welche dem Vater des Kaisers gewöhnlich zur Seite standen, im Verein mit dem hinterlistigen Grafen Wicbert den Kaiser an, brachte ihn, durch Geld bestochen, von der Bezwingung der Feinde ab und stellte ihren Führer Gottfrid dem Kaiser vor. Der Kaiser nahm ihn wie Ahab als einen Freund auf und machte mit ihm Frieden, nachdem von beiden Seiten Geiseln gegeben worden waren. Das fassten die Normannen als gutes Vorzeichen auf, und damit es keinen Zweifel gebe, dass der Friede ihrerseits gültig sei, hängten sie nach ihrer Sitte einen Schild in die Höhe und öffneten die Tore der Befestigung. Die Unsrigen aber betraten ohne Kenntnis ihrer Hinterlist die Festung, teils um zu handeln, teils um sich die Festigkeit des Ortes anzusehen. Die Normannen aber wandten sich ihrer gewohnten Hinterlist zu, nahmen den Schild des Friedens herab und schlossen die Tore, sodass alle unsere Leute, die innerhalb waren, entweder getötet oder mit eisernen Ketten gebunden zum Loskauf aufbewahrt wurden. Aber der Kaiser machte sich gar nichts aus dieser schweren, seinem Heer zugefügten Schmach, hob den genannten Gottfried aus der Taufe und setzte den größten Feind und Verräter seines Reiches, den er gehabt hatte, zum Mitherrscher ein. Denn die Grafschaften und Lehen, die der Normanne Rorich, ein Getreuer der Frankenkönige, in Kinnin [Kennemerland in Nordholland] gehabt hatte, wies er diesem Feind und seinen Leuten als Wohnsitz an und (worin noch größere Schuld liegt) schämte sich nicht, dem Menschen, von dem er hätte Geiseln empfangen und Tribut eintreiben müssen, nach dem Rat Schlechter gegen die Gewohnheit seiner Vorfahren, der fränkischen Könige, Tribute zu zahlen. Denn er ließ die Schätze der Kirchen, die man aus Furcht vor den Feinden verborgen hatte, wegnehmen und gab von reinstem Gold und Silber 2412 Pfund zu seiner und des ganzen Heeres Schande an diese Feinde. Überdies befahl er, jeden von seinem Heer, der bei der Verteidigung der heiligen Kirche aus Eifer für Gott einen der Normannen beim Versuch, in das Lager einzudringen, erschlage, entweder hinzurichten oder ihm die Augen auszustechen. Darüber war das Heer sehr betrübt und beklagte es, dass ein solcher Fürst über sie gekommen sei, der die Feinde begünstigte und ihnen den Sieg über die Feinde entzog; und sehr beschämt kehrten sie in ihre Heimat zurück.«15

Nicht nur der Mainzer Annalist, sondern sicher auch der Mainzer Erzbischof, Liutbert, waren über den Kaiser erzürnt und machten für dessen aus ihrer Sicht törichtes Verhalten Liutward von Vercelli verantwortlich, der hier als pseudo15 Annales Fuldenses, ed. Kurze, a. 882, 98f.; Übersetzung in Anlehnung an Reinhold Rau: Annales Fuldenses, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Dritter Teil: Jahrbücher von Fulda, Reginos Chronik, Notkers Taten Karls, ed. und übers. v. Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 7), 4., ergänzte Aufl., Darmstadt 2002, 19–177, hier a. 882, 117/119.

Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹

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episcopus, als »falscher Bischof« bezeichnet wird. Zu allem Überfluss hielten sich die Normannen an die Abmachungen. Immerhin konnte Gottfried 885 in einen Hinterhalt gelockt und getötet werden. Im selben Jahr gelang Karl dann sogar noch eine erhebliche Erweiterung seines Machtbereichs: Nur wenige Monate zuvor hatte er seinen westfränkischen Vetter Karlmann adoptiert. Dieser war erheblich jünger als der damals ca. 45-jährige Kaiser, der zudem keinen eigenen legitimen Sohn besaß. Alles sah also zunächst danach aus, dass Karlmann nach Karls Tod das gesamte Frankenreich erben würde. Doch es kam anders: Der junge Karolinger starb Ende 884, und damit war der Kaiser der letzte verbliebene männliche und legitim geborene Vertreter der Dynastie. Folgerichtig erkannten die westfränkischen Großen Karl im Juni 885 als ihren Herrscher an. Oberflächlich betrachtet war damit das Reich Karls des Großen wiederhergestellt und sein gleichnamiger Enkel der mächtigste Herrscher im damaligen Europa. Doch potenzierte diese Erweiterung seines Machtbereichs auch erneut die Probleme des Kaisers, denn das Westfrankenreich war stärker noch als Lotharingien das bevorzugte Angriffsgebiet der Normannen, die tatsächlich bereits im November desselben Jahres Paris einschlossen. Im Frühjahr 886 rückte Karl zum Entsatz heran, ließ sich dann aber erneut auf Verhandlungen ein, auch weil zu befürchten war, dass die Normannen Verstärkung erhalten würden. Am Ende erklärte er sich zu einer hohen Tributzahlung bereit und überließ den Feinden Burgund als Winterlager, das folglich schwer unter Plünderungen zu leiden hatte. Diese Abmachung beschädigte Karls Ansehen bei seinen Untertanen abermals schwer: »Aus Angst gab der Kaiser den einen [Normannen] die Erlaubnis, durch Burgund zu schweifen, andern versprach er sehr viel Geld, wenn sie sein Reich in einer unter ihnen festgesetzten Zeit verließen. Er selbst aber zog sich beschleunigten Schritts ins Elsass zurück und lag hier mehrere Tage hindurch krank darnieder.«16 Dann begann das für Karls Herrschaft entscheidende Jahr 887.

3.

Ausgewählte Textstelle (a. 887)

Hiems aspera et solito prolixior; boum quoque et ovium pestilentia supra modum grassata est in Francia, ita ut pene nulla eiusdem generis animalia relinquerentur.

Der Winter war hart und ausgedehnter als sonst. Auch wütete eine Pest unter den Rindern und Schafen übermäßig in Franken, so dass fast keine Tiere dieser Art übrigblieben.

16 Annales Fuldenses, ed. Kurze, a. 886, 105; Übersetzung in Anlehnung an Rau 2002, 129.

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Imperator cum suis colloqium habuit in Weiblingon; qui priscis temporibus, id est ex quo rex in Alamannia constitutus est, quendam de suis ex infimo genere natum nomine Liutwartum supra omnes, qui erant in regno suo, exaltavit, ita ut Aman, cuius mentio facta est in libro Hester, et nomine et dignitate praecelleret. Ille enim post regem Assuerum erat secundus, iste vero prior imperatori et plus quam imperator ab omnibus honorabatur et timebatur. Nam nobilissimorum filias in Alamania et Italia nullo contradicente rapuit suisque propinquis nuptum dedit.

Der Kaiser hatte mit den Seinen eine Unterredung in Waiblingen. In früheren Zeiten, seitdem er zum König in Alemannien eingesetzt war, hatte er einen von den Seinen aus niedrigem Geschlecht namens Liutward über alle in seinem Reich erhoben, so wie den im Buch Esther erwähnten Haman, den er an Namen und Würde (gar) übertraf. Denn jener war nach König Ahasver der Zweite, dieser aber ging dem Kaiser voran und wurde mehr als der Kaiser von allen geehrt und gefürchtet. Denn er raubte die Töchter der Edelsten in Alemannien und Italien, ohne dass ihm jemand widersprochen hätte, und gab sie seinen Verwandten zur Frau.

Qui etiam ad tantam devolutus est stultiam, immo vesaniam, ut monasterium puellarum in Brixia civitate situm invaderet et per quosdam amicos suos filiam Unruochi comitis propinquam imperatoris vi raperet suoque nepoti in coniugium daret. Sanctimoniales vero eiusdem loci adpreces conversae orabant Dominum, ut contumeliam loco sancto illatam vindicaret; quarum preces ilico exauditae sunt. Nam is, qui puellam coniugii more sibi sociare disposuit, eadem nocte Dei iudicio interiit, et puella mansit intacta. Quod cuidam sanctimoniali nomine … e supradicto monasterio revelatum est, et illa caeteris indicavit.

Ja, in seiner Torheit, vielmehr in seinem Wahnsinn, ging er so weit, dass er in Brescia in ein Nonnenkloster einbrach und durch einige seiner Freunde die Tochter des Grafen Unruoch, eine Verwandte des Kaisers, gewaltsam raubte und seinem Neffen zur Frau gab. Aber die Nonnen dieses Ortes wandten sich dem Gebet zu und baten den Herrn, die dem heiligen Ort zugefügte Schmach zu rächen; ihre Bitte wurde sofort erhört. Denn der, welcher mit dem Mädchen die Ehe in üblicher Weise vollziehen wollte, starb in derselben Nacht durch Gottesurteil und das Mädchen blieb unberührt. Dies wurde einer Nonne aus dem obengenannten Kloster namens … geoffenbart und diese zeigte es den übrigen an.

Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹

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Cum autem memoratus Liutwart talia in regno imperatoris per plures annos actitaret, tandem cenodoxia inflatus et philargiria caecatus fidem catholicam pervertere et redemptori nostro detrahere laborabat, dicens eum unum esse unitate substantiae, non personae, cum sancta aecclesia credat et confiteatur eum in duabus substantiis unam habere personam. Quod quicumque negaverit, profecto blasphemat eum, qui venit quaerere et salvare, quod perierat: nisi enim esset verus Deus, non afferret remedium; nisi esset homo verus, non praeberet exemplum. Sed idem rex regum hoc anno concitavit animos imperatoris in blasphemum; qui habita cum suis conlocutione in loco, qui vocatur Kirihheim, eum deposuit, ne esset archicappellanus, multisque beneficiis ab eo sublatis ut hereticum et omnibus odiosum cum dedecore de palatio expulit.

Als aber der erwähnte Liutward dergleichen im Reiche des Kaisers mehrere Jahre hindurch getrieben hatte, bemühte er sich endlich, von eitlem Wahn aufgeblasen und von Habsucht verblendet, den katholischen Glauben zu verkehren und unsern Erlöser zu verkleinern, indem er behauptete, dass jener Eins sei durch die Einheit der Substanz, nicht der Person, während doch die heilige Kirche glaubt und bekennt, dass er in zwei Substanzen eine Person habe; und wer das leugnet, schmäht wahrlich den, welcher gekommen ist zu suchen und zu erlösen, was verloren war. Denn wäre er nicht ein wahrer Gott, so würde er nicht Heil bringen; wäre er nicht ein wahrer Mensch, so würde er nicht ein Beispiel darbieten. Doch ebendieser König der Könige erregte in diesem Jahr des Kaisers Zorn gegen den Verächter; nach einer Unterredung mit den Seinen in Kirchen setzte er ihn ab, dass er nicht Erzkapellan blieb, entzog ihm viele Lehen und trieb ihn wie einen allen verhassten Ketzer mit Schande aus dem Palast.

At ille in Baioariam ad Arnolfum se contulit et cum eo machinari studuit, qualiter imperatorem regno privaret; quod et factum est. Nam cum idem imperator in villa Tribure consedisset, suorum undique opperiens adventum, Arnolfus cum manu valida Noricorum et Sclavorum supervenit et ei molestus efficitur. Nam omnes optimates Francorum, qui contra imperatorem conspiraverant, ad se venientes in suum suscepit dominium; venire nolentes beneficiis privavit nichilque imperatori nisi vilissimas ad serviendum reliquit personas. Cui imperator lignum sanctae crucis, in quo prius ei fidem se servaturum iuraverat, per Liutbertum archiepiscopum destinavit, ut sacramentorum suorum non immemor tam ferociter et barbare contra eum non faceret. Quo viso lacrimas fudisse perhibetur; tamen disposito, prout voluit, regno in Baioariam se recepit; imperator vero cum paucis, qui secum erant, in Alamanniam repedavit.

Doch jener begab sich nach Bayern zu Arnulf und sann mit diesem darauf, wie er dem Kaiser die Herrschaft raube; was auch geschah. Denn als eben dieser Kaiser in Tribur saß und auf das Eintreffen der Seinen von überallher wartete, kam Arnulf mit einer starken Mannschaft Noriker und Slaven dazu und wurde ihm beschwerlich. Denn er nahm alle Großen der Franken, die sich gegen den Kaiser verschworen hatten und zu ihm kamen, in seine Oberhoheit auf, entzog denen, die sich weigerten, zu ihm zu kommen, ihre Lehen und ließ dem Kaiser nur die niedrigsten Personen zur Bedienung. Der Kaiser übersandte ihm durch den Erzbischof Liutbert Holz vom heiligen Kreuze, auf das ihm jener vormals Treue zu halten geschworen hatte, damit er seiner Eidschwüre eingedenk nicht so grausam und barbarisch gegen ihn handle. Bei diesem Anblick soll jener Tränen vergossen haben; doch schaltete er nach Belieben über das Reich und zog sich dann nach Bayern zurück, während der Kaiser mit wenigen, die bei ihm waren, nach Alemannien zurückging.

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Nordmanni audita Francorum dissensione et imperatoris eorum abiectione plurima loca, quae prius minime tetigerant, vastaverunt. Ad Remensem quoque urbem venisse referuntur, sed Deus per merita sancti Remigii et monasterium extra civitatem positum et ipsam civitatem nebula densissima per trium dierum spatia circumdedit, ita ut neutrum invenire nec saltem videre potuissent. Unde mente consternati pariterque confusi discesserunt.

4.

Auf die Kunde von der Uneinigkeit unter den Franken und der Absetzung ihres Kaisers verwüsteten die Normannen sehr viele Orte, welche sie früher gar nicht berührt hatten. Auch nach Reims sollen sie gekommen sein, aber um der Verdienste des hl. Remigius willen umgab Gott sowohl das außerhalb der Stadt liegende Kloster als auch die Stadt selber drei Tage hindurch mit einem ganz dichten Nebel, so dass sie keines von beiden finden oder auch nur sehen konnten. Daher zogen sie, bestürzt und zugleich beschämt, ab.17

Kommentierung der Textstelle

Der Bericht der Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ zu Karls ›Schicksalsjahr‹ 887 wird, was die wesentlichen politischen Ereignisse dieses Jahres betrifft – die Reichsversammlungen in Waiblingen im April und in Kirchen im Juni 887, die dort erfolgte Absetzung Bischof Liutwards von Vercelli als Erzkapellan bzw. Erzkanzler sowie endlich die Absetzung Karls im Zusammenhang der Reichsversammlung von Tribur im November 887 – durch andere zeitgenössische Quellen, insbesondere die Regensburger Fortsetzung, bestätigt. Hinzu kommen an den besagten Orten ausgestellte Urkunden. Allerdings unterscheiden sich die beiden Fortsetzungen der ›Annales Fuldenses‹ im Tenor, der politischen Parteilichkeit, und damit auch in der Darstellung im Detail ganz erheblich. Die Antipathie des Mainzer Fortsetzers gegenüber Bischof Liutward von Vercelli, dem pseudoepiscopus, die im Eintrag zum Jahr 882 in der Auseinandersetzung mit den Normannen bei Asselt bereits aufgeschienen war (s. o.), bricht sich nun vollends Bann und dominiert die erste Hälfte des Eintrags zu 887. Dabei zieht der Annalist alle Register, um Liutward zu desavouieren. So soll der Bischof von Vercelli »niederen Geschlechts« sein, ein Vorwurf, den auch der Trierer Chorbischof Thegan eine Generation zuvor gegen den Erzbischof Ebbo von Reims erhoben hatte.18 Dies allein ist keineswegs ein Vergehen, doch ähnlich wie Ebbo soll es Liutward an der angemessenen Dankbarkeit und Demut gemangelt haben, mit seiner unerwartet einflussreichen Stellung umzugehen. Der 17 Textausgabe: Annales Fuldenses, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 7), Hannover 1891, a. 887, 105–107; Übersetzung in Anlehnung an Rau 2002, a. 882, 129/131. 18 Theganus, Gesta Hludowici imperatoris, ed. Ernst Tremp, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 64, Hannover 1995, 166–277, hier c. 44, 232.

Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹

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Annalist vergleicht den Bischof, den er allerdings, zumindest in diesem Eintrag, nicht als solchen identifiziert, mit dem alttestamentarischen Haman, wichtigster Ratgeber König Ahasvers und Gegenspieler der ( jüdischen) Esther, nur um den Vergleich sogleich zu relativieren und so Liutwards Anmaßung, die die des Haman noch überstiege, herauszuarbeiten: Er erscheint als der eigentliche Herrscher im Reich Karls III., höher geachtet und gefürchtet als der Kaiser. Besonders in Italien, wo ja auch Liutwards Bistum Vercelli gelegen war, soll er sein Unwesen – Vetternwirtschaft und sogar Frauen-, ja mehr noch Nonnenraub – getrieben haben. Der erwähnte Unruoch, der bereits 866 verstorben war, war mütterlicherseits ein Enkel Ludwigs des Frommen, seine namentlich unbekannte Tochter eine Nichte des Markgrafen Berengar von Friaul, des zweifellos mächtigsten italienischen Adligen der 880er Jahre, später selbst König und Kaiser.19 Liutward hätte demnach versucht, seine Verwandten, die ja dann wie er selbst ebenfalls niederer Herkunft gewesen sein müssten, mit den politischen Eliten des Reiches südlich wie auch nördlich der Alpen zu versippen. Tatsächlich werden die schweren gegen den Bischof von Vercelli erhobenen Vorwürfe in keiner anderen Quelle bestätigt. Allerdings weiß der Verfasser der sogenannten Regensburger Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ über die Waiblinger Reichsversammlung vom Frühjahr 887 zu berichten, dass ebendort Berengar erschienen sei, und er »sühnte durch große Geschenke die Schmach, die er im vorigen Jahr Liutward angetan hatte«.20 Demnach hätte die Waiblinger Reichsversammlung durchaus einen politischen Erfolg für Liutward dargestellt, über den der Mainzer Annalist aber kein Wort verliert, wie er sich überhaupt über den genauen Inhalt der Waiblinger Versammlung des Kaisers mit seinen Großen in Schweigen hüllt.21 Stattdessen steigert er im nächsten Schritt seine Vorwürfe gegen Liutward noch einmal, indem er ihn der Häresie – wohl im Sinne des Mono- bzw. Miaphysitismus – beschuldigt. Insofern ereilt Liutward auf der Kirchener Reichsversammlung seine gerechte Strafe, die Strafe Jesu Christi, den er verkleinert habe, denn dort verliert er die Gunst des Kaisers und muss ut hereticum, »wie ein Ketzer«, mit Schande den Hof verlassen. Zwar bemüht sich 19 Siehe dazu Eduard Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774–962) (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 8), Freiburg i. Breisgau 1960, 276f. 20 Annales Fuldenses [Ratisbon.], ed. Kurze, a. 887, 115: Transacto die sancto paschae habitum est placitum Weibilinga; ibi inter alia Berngarius ad fidelitatem caesaris pervenit magnisque muneribus contumeliam, quam in Liutwardo priori anno commiserat, componendo absolvit; Übersetzung in Anlehnung an Rau 2002, 145. 21 Zu den weiteren Ereignissen und den Hintergründen vgl. Karl Schmid, Liutbert von Mainz und Liutward von Vercelli im Winter 879/880 in Italien. Zur Erschließung bisher unbeachteter Gedenkbucheinträge aus S. Giulia in Brescia, in: Erich Hassinger/J. Heinz Müller/Hugo Ott (edd.), Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 75. Geburtstag, Berlin 1974, 41–60, hier 44–48.

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der Mainzer Annalist, die unsäglichen Untaten Liutwards als – überaus legitimen – Grund seiner Verstoßung darzustellen, doch explizit formuliert er dies keineswegs. Die konkrete Begründung der Verstoßung Liutwards bleibt also letztlich im Unklaren. Die Regensburger Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ wertet die Ereignisse des Frühsommers 887 ganz anders: Nicht nur von einer öffentlichen Genugtuung Berengars gegenüber Liutward ist die Rede, sondern auch dessen Sturz erscheint unvorhergesehen und wird verurteilt: »Die Alemannen verschworen sich hinterlistig gegen den Bischof Liutward, der damals der bedeutendste Ratgeber in des Königs Palast war, und zwangen ihn, nach Verlust aller Ehre des Kaisers Gegenwart zu meiden.«22 Der erst rund 25 Jahre nach den Ereignissen schreibende Regino deutet hingegen an, dass es der Vorwurf des Ehebruchs mit der Kaiserin Richgard gewesen sei, der Liutward seine Stellung am Hof Karls III. gekostet habe.23 In jedem Fall ist Liutward letztmalig in einer Urkunde Karls III. für das Kloster St. Gallen, ausgestellt am 30. Mai 887 in Kirchen, als Erzkanzler bezeugt. Zwei Wochen später, am 16. Juni, erscheint in einer ebenfalls in Kirchen ausgestellten Urkunde für die Kanoniker von St-Martin in Tours niemand geringeres als Erzbischof Liutbert von Mainz, der mögliche Auftraggeber oder zumindest Impulsgeber der Mainzer Fortsetzung, in dieser Funktion.24 Die Mainzer Fortsetzung weist denn auch der Person Liutwards von Vercelli eine Schlüsselrolle bei den weiteren Ereignissen des Jahres 887 zu. Zugleich richtet sie mit der Auswechslung Liutwards durch Liutbert und dessen neuer Rolle am Hof Karls III. ihre Perspektive auf diesen: Liutward nämlich sei kurzerhand von Kirchen aus nach Bayern zu Arnulf gereist, um mit ihm einen Plan zu schmieden, den Kaiser seiner Herrschaft »zu berauben«. Arnulf war Karls Neffe, der Sohn seines älteren Bruders Karlmann, der als eine Art Statthalter in Karantanien und vielleicht auch in Bayern fungierte.25 Nach der Darstellung der 22 Annales Fuldenses [Ratisbon.], ed. Kurze, a. 887, 115: Alamanni contra Liutwardum episcopum dolose conspiravere, qui tunc maximus consiliator regis palatii fuit, et eum a presentia imperatoris omni honore privatum abire conpellunt; Übersetzung in Anlehnung an Rau 2002, 145. 23 Regino, Chronicon, ed. Kurze, a. 887, 127. Vgl. dazu Linda Dohmen, Die Ursache allen Übels. Untersuchungen zu den Unzuchtsvorwürfen gegen die Gemahlinnen der Karolinger (Mittelalter-Forschungen 53), Ostfildern 2017, 242–287. 24 D K III 159 (Kirchen, 30. Mai 887), 259; D K III 160 (Kirchen, 16. Juni 887), 261. 25 Vgl. Heinz Dopsch, Arnolf und der Südosten – Karantanien, Mähren, Ungarn, in: Franz Fuchs/Peter Schmid (edd.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, Regensburger Kolloquium, 9.–11. 12. 1999 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft. Reihe B 19), München 2002, 143–186; zu Arnulfs Status Matthias Becher, Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers, in: Uwe Ludwig/Thomas Schilp (edd.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 62), Berlin/New York 2008, 665–682.

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Mainzer Fortsetzung sei es in Tribur am Rhein, wohin der Kaiser eine erneute Reichsversammlung anberaumt hatte, zu einer Herrscherverlassung gekommen, indem Arnulf all jene Großen der Franken, »die sich gegen den Kaiser verschworen hatten«, in seine Herrschaft (dominium) aufgenommen und allen anderen ihre Lehen entzogen habe. Während der Mainzer Annalist in seinen früheren Einträgen Karl III. – und dessen Ratgeber Liutward – also kritisch gegenüberstand, wertet er dessen Sturz nunmehr klar als unrechtmäßig, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er Karl weiterhin als imperator, Kaiser, bezeichnet und gleichzeitig Arnulf jegliche königlichen Attribute abspricht. In der Mainzer Darstellung bleibt dem Kaiser angesichts des Gewaltaktes seines Neffen nicht viel mehr übrig als ein verzweifelter Appell an dessen Ehrgefühl, wobei Liutbert von Mainz die Rolle des letzten Getreuen Karls III. und Vermittlers bei Arnulf einnimmt. Dagegen sieht der Regensburger Fortsetzer der Fuldaer Annalen weniger Arnulf von Kärnten in der Verantwortung als vielmehr den gesamten Adel des Ostfrankenreiches, der sich vom Kaiser abgewandt habe, nachdem dieser – nach Liutwards Sturz – schwer erkrankt sei: »Von jenem Tag an fassten nun die Franken und, nach gewohnter Sitte, die Sachsen und Thüringer einen bösen Plan und gedachten, in Verbindung mit einigen Großen der Bayern und Alemannen von der Treue gegen den Kaiser abzufallen, und führten das auch so durch. Als Kaiser Karl nach Frankfurt kam, luden jene Arnulf ein, König Karlmanns Sohn, wählten ihn zu ihrem Herrn und beschlossen, ihn ohne Verzug zum König zu erheben«.26

Von diesem Moment an erscheint Arnulf in der Regensburger Fortsetzung als König, während nunmehr Karl ohne Titel geführt wird. Während einerseits die Abkehr der Großen von Karl als »böser Plan« (male consilio) charakterisiert wird, wird Arnulfs Königtum zugleich durch Karls Verlassung legitimiert. Ein von seinen Getreuen verlassener Herrscher ist demnach kein Herrscher mehr! Karl überlebt seinen Sturz nur um wenige Wochen – der Regensburger Fortsetzung zufolge stirbt er – glücklich – am 13. Januar 888. Am Tag seines Begräbnisses in der Kirche des Klosters Reichenau hätten »viele Zuschauer den Himmel offen gesehen, so dass deutlich gezeigt wurde, dass wer verachtet von den Menschen

26 Annales Fuldenses [Ratisbon.], ed. Kurze, a. 887, 115: Ab illo ergo die male inito consilio Franci et more solito Saxones et Duringi quibusdam Baiowariorum primoribus et Alamannorum ammixtis cogitaverunt deficere a fidelitate imperatoris nec minus perficere. Igitur veniente Karolo imperatore Franconofurt isti invitaverunt Arnolfum filium Karlmanni regis ipsumque ad seniorem eligerunt, sine mora statuerunt ad regem extolli; Übersetzung in Anlehnung an Rau 2002, 145.

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irdischer Würde entkleidet wird, vor Gott verdient, als glücklicher Bewohner des himmlischen Vaterlands zu gelten.«27 Während der Regensburger Annalist nach dieser Würdigung des Verstorbenen im nächsten Eintrag zu 888 gewissermaßen unmittelbar zum Tagesgeschäft des Herrschers übergeht (»König Arnulf empfing in Regensburg die Großen der Bayern, die Ostfranken, die Sachsen, die Thüringer, die Alemannen und eine große Anzahl Slaven […]«28), bricht der Bericht der Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ mit dem Rückzug Karls III. – der eben weiterhin als Kaiser bezeichnet wird – nach Alemannien und den auf die Nachricht »von der Uneinigkeit der Franken (Francorum dissensione) und der Absetzung ihres Kaisers« folgenden Einfällen der Normannen ab.29

5.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt

Die Schilderung der Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹ über die Herrschaft Kaiser Karls III. und insbesondere das Jahr seines Sturzes 887 stellt ein herausragendes Beispiel für die Mechanismen von und Vorstellungen über Macht und Herrschaft im ostfränkisch-deutschen Reich dar. Das wird insbesondere auch im Vergleich mit anderen zeitgenössischen historiographischen Berichten, allen voran die sogenannte Regensburger Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹, deutlich. Über das Geschehen des Jahres 887 hat es um die Mitte des letzten Jahrhunderts eine bezeichnende Forschungsdebatte zwischen zwei bedeutenden Historikern der Nachkriegszeit gegeben. Walter Schlesinger verwies vor allem auf den Umstand, dass nach Aussage des Regensburger Historiographen Franken, Sachsen und Thüringer sowie einige Bayern und Alemannen aktiv geworden seien, um Karl zu stürzen. Hier habe sich laut Schlesinger das bemerkbar gemacht, was man in der älteren Forschung als den Volkswillen identifiziert hat. Als Träger dieses Willens identifizierte Schlesinger das deutsche Volk. Weil damals aber noch kein Begriff für ›die Deutschen‹ existierte, habe der Annalist die einzelnen Teilvölker aufgezählt.30 Das Wort ›deutsch‹ (oder besser: seine Vorläufer) 27 Annales Fuldenses [Ratisbon.], ed. Kurze, a. 887, 116: Et mirum in modum, usque dum honorifice Augensi ecclesia sepelitur, celum apertum multis cernentibus visum est, ut aperte monstraretur, qui spretus terrenae dignitatis ab hominibus exuitur, Deo dignus caelestis patriae vernula mereretur feliciter haberi; Übersetzung in Anlehnung an Rau 2002, 147. 28 Annales Fuldenses [Ratisbon.], ed. Kurze, a. 888, 116: Rex Arnolfus urbe Radasbona receptis primoribus Baiowariorum, orientales Francos, Saxones, Duringos, Alamannos, magna parte Sclavanorum […]; Übersetzung in Anlehnung an Rau 2002, 147. 29 Annales Fuldenses, ed. Kurze, a. 887, 107. 30 Walter Schlesinger, Kaiser Arnulf und die Entstehung des deutschen Staates und Volkes, in: Historische Zeitschrift 163 (1941), 457–471, hier 457–459.

Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹

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bezeichnete damals lediglich die gemeinsame Sprache dieser Völker. Dies gab wiederum Gerd Tellenbach zu bedenken. Sicher sei, dass die Sachsen, Thüringer, Bayern und Alemannen seit langem zum Frankenreich gehörten und vor allem im Rahmen des Ostfrankenreiches seit 843 auch gemeinsame Interessen entwickelten hatten. Ihre politische Einheit sei nunmehr Ende des 9. Jahrhunderts so fest gefügt gewesen, dass sie trotz der schweren Krise des Jahres 887 nicht auseinandergebrochen sei. Vor allem aber betonte Tellenbach die Rolle Arnulfs: Dieser habe nach der Macht gestrebt und sich daher die antikaiserliche Stimmung zunutze gemacht.31 Neben den damit angesprochenen Fragen zur Bedeutung von Personalität und Transpersonalität wird an der ausgewählten Textstelle auch deutlich, wie sehr Macht und Herrschaft im auseinanderbrechenden Frankenreich vom Zusammenspiel von Konflikt und Konsens bestimmt waren. Während die Regensburger Fortsetzung letztlich darauf abzielt, den Herrschaftswechsel von 887 zu legitimieren, indem dem Vorwurf, Arnulf habe den Sturz seines Onkels betrieben und damit aktiv die Treue gebrochen, entgegengewirkt und dabei gleich mehrfach mit dem Verweis auf schlechten oder fehlenden Rat (consilium) ein Zentralbegriff politischer Rhetorik im Karolingerreich zitiert wird,32 stellt der Mainzer Verfasser den Sturz ›seines‹ Kaisers als gewaltsamen Akt Arnulfs und seiner Anhänger dar; alle, die sich diesem Druck nicht beugen wollten, seien mit dem Verlust ihrer Lehen bestraft worden, was letztlich einer Degradierung ihrer politischen Bedeutung gleichkommen musste. Der Mainzer Fortsetzer subsummiert die Lage im Frankenreich an der Jahreswende 887/888 als dissensio, Uneinigkeit, also mit dem Gegenbegriff zu consensus, Konsens, was wiederum die Herrschaft Arnulfs als illegitim kennzeichnet. Eben jener Konsens der Großen, der frühmittelalterliche Herrschaft trägt, wird dem Königtum Arnulfs damit abgesprochen.

31 Gerd Tellenbach, Zur Geschichte Kaiser Arnulfs, in: Historische Zeitschrift 165 (1942), 229– 245, hier 229; vgl. auch bereits Ders., Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit 7/4), Weimar 1939, 31–33; zu dieser Diskussion vgl. auch Keller 1966, 333; demnächst Matthias Becher, Alemannien in der Zeit der Karolinger, in: Edwin Weber/ Thomas Zotz (edd.), Herrschaft, Kirche und Bauern im nördlichen Bodenseeraum in karolingischer Zeit (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 5), Stuttgart 2020, 9–33, hier 30. 32 Vgl. Steffen Patzold, Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik, in: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), 75–103, hier 78; Linda Dohmen, …evertit palatium, destruxit consilium… Konflikte im und um den Rat des Herrschers am Beispiel der Auseinandersetzungen am Hof Ludwigs des Frommen (830/31), in: Matthias Becher/Alheydis Plassmann (edd.), Streit am Hof im frühen Mittelalter (Super alta perennis 11), Bonn 2011, 285–316, hier 285f., bes. Anm. 4 für weitere Literatur.

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Quellenverzeichnis Annales de Saint-Bertin, ed. Félix Grat/Jeanne Vielliard/Suzanne Clémencet, Paris 1964. Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 7), Hannover 1891. – Übersetzung: Annales Fuldenses, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Dritter Teil: Jahrbücher von Fulda, Reginos Chronik, Notkers Taten Karls, ed. und übers. v. Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 7), 4. Aufl., Darmstadt 2002, 19–177. Annales qui dicuntur Xantenses a. 790–873 (874), ed. Bernhard von Simson, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 12, Hannover 1909, 1–39. Karoli III. diplomata, ed. Paul Kehr (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 2), Berlin 1937. Reginonis abbatis Prumensis, Chronicon cum continuatione Treverensi, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 50), Hannover 1890. Theganus, Gesta Hludowici imperatoris, ed. Ernst Tremp, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 64, Hannover 1995, 166–277.

Literaturverzeichnis Matthias Becher, Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers, in: Uwe Ludwig/Thomas Schilp (edd.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 62), Berlin/New York 2008, 665–682. Matthias Becher, Alemannien in der Zeit der Karolinger, in: Edwin Weber/Thomas Zotz (edd.), Herrschaft, Kirche und Bauern im nördlichen Bodenseeraum in karolingischer Zeit (Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft, Geschichte und Kultur 5), Stuttgart 2020, 9–33. Linda Dohmen, …evertit palatium, destruxit consilium… Konflikte im und um den Rat des Herrschers am Beispiel der Auseinandersetzungen am Hof Ludwigs des Frommen (830/31), in: Matthias Becher/Alheydis Plassmann (edd.), Streit am Hof im frühen Mittelalter (Super alta perennis 11), Bonn 2011, 285–316. Linda Dohmen, Die Ursache allen Übels. Untersuchungen zu den Unzuchtsvorwürfen gegen die Gemahlinnen der Karolinger (Mittelalter-Forschungen 53), Ostfildern 2017. Heinz Dopsch, Arnolf und der Südosten – Karantanien, Mähren, Ungarn, in: Franz Fuchs/Peter Schmid (edd.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, Regensburger Kolloquium, 9.–11. 12. 1999 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft. Reihe B 19), München 2002, 143–186. Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte. Mittelalter, 4. Aufl., Stuttgart 2014. Eduard Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774– 962) (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 8), Freiburg i. Breisgau 1960. Sören Kaschke, Nachtrag, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Dritter Teil: Jahrbücher von Fulda, Reginos Chronik, Notkers Taten Karls, ed. und übers. v. Reinhold

Die sogenannte Mainzer Fortsetzung der ›Annales Fuldenses‹

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Susanne Reichert

Auf dem Rücken der Schildkröte: eine Inschrift im Spannungsfeld von Konflikt und Konsens im mongolischen Weltreich

Teilprojekt ›Reiternomadische Reiche in Innerasien im diachronen Vergleich – Sicherung und Ausübung von Herrschaft im Spiegel der Baudenkmäler und Schriftquellen‹ (Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. Jan Bemmann, Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie)

1.

Die Quelle

Die längste Regierungszeit eines mongolischen Großkhans über China sollte gleichzeitig die letzte bleiben: Toghon Temür (r. 1333–1368 [1370]) ging als letzter Kaiser der Yuan Dynastie in die Geschichte ein. Unter ihm endete die etwa 100 Jahre andauernde mongolische Herrschaft in China, die dort seit Khublai Khan (r. 1260–1294) gefestigt war. Die vorliegende Quelle ist ein Zeugnis dieser letzten Phase der mongolischen Oberherrschaft und bietet aufschlussreiche Diskussionspunkte für die turbulente Zeit der 1340er Jahre, in der die Herrschaft bereits massiv bedroht war.1 Konkret befasst sich der Beitrag mit einer steinernen Schildkröte und dem, was sie höchster Wahrscheinlichkeit nach auf ihrem Rücken trug, nämlich eine Gedenkschrift anlässlich der Renovierung eines buddhistischen Tempels in Karakorum. Karakorum wurde seit 1235 unter Ögödei Khan (r. 1229–1241) im Tal des Orkhon am Rande des Khangai-Gebirges in der heutigen Mongolei errichtet und war bis 1260 die erste Hauptstadt des mongolischen Weltreiches. Die Stadt wurde nach der derzeitigen archäologischen Quellenlage in der frühen ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts aufgegeben.2 Die zu 1 Ich danke Jan Bemmann, der mir den Impuls zu diesem Thema gegeben und die Auseinandersetzung damit durch zahlreiche Hinweise und Diskussionen bereichert hat. Außerdem möchte ich allen Mitgliedern der SFB-internen, Interdisziplinären Transkulturalitätswerkstatt ›Materielle Aspekte von Macht und Herrschaft‹ danken, denen ich das Objekt vorstellen durfte und die weiterführende Hinweise beigetragen haben; besonders sei an dieser Stelle Irina Dumitrescu gedankt. Paul Fahr half mit sinologischen Kenntnissen aus, wofür ich ihm ebenfalls danke. 2 Vgl. Susanne Reichert, A Layered History of Karakorum. Stratigraphy and Periodization in the City Center (Bonn Contributions to Asian Archaeology 8), Bonn 2019.

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Susanne Reichert

behandelnde Schildkröte, die sogenannte große Schildkröte von Karakorum, befindet sich noch heute wohl an ihrem ursprünglichen Aufstellungsort, weniger als 50 Meter südlich einer Gebäudeplattform, die vormals als Khanspalast angesprochen wurde, mittlerweile jedoch durch Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts eindeutig als buddhistischer Tempel identifiziert werden konnte.3 Im Zusammenhang mit der Schildkröte ist eine bilinguale Inschrift zu sehen, von der Bruchstücke auf dem Gebiet des Klosters Erdene Zuu gefunden wurden, das bis heute südlich angrenzend an die Stadtwüstung besteht.4 Dieses buddhistische Kloster wurde 1586 gegründet und vermutlich auf den Überresten des Palastareals errichtet. Auf einer Seite der hier zu behandelnden ›Stele des Tempels der aufsteigenden Yuan‹ ist die Gedenkschrift in mongolischer Sprache und uighurischer Schrift zu sehen, die andere Seite zeigt eine chinesische Fassung in chinesischen Schriftzeichen. Nach Ausweis der Inschrift selbst (siehe unten) wurde sie am 19. Dezember 1346 von Toghon Temür in Auftrag gegeben und, aufgrund des benötigten Zeitaufwands für die Erstellung, frühestens 1347 errichtet.5 Neben der fragmentarischen Überlieferung mittels der steinernen Bruchstücke ist die chinesische Version in drei gedruckten Texten übermittelt.6 Zwar wurde postuliert, dass der Abgleich dieser Textversionen mit dem Wortlaut der steinernen Überlieferung eine weitgehende Übereinstimmung erbrachte, allerdings wurden daran zuletzt Zweifel angemeldet.7 Da es sich jedoch in dem 3 Vgl. Christina Franken, Die »GROSSE HALLE« von Karakorum. Zur archäologischen Untersuchung des ersten buddhistischen Tempels der alten mongolischen Hauptstadt (Forschungen zur Archäologie Außereuropäischer Kulturen 12), Wiesbaden 2015. 4 Erste Fragmente wurden 1891 durch die russische Expedition Wilhelm Radloffs entdeckt, Wilhelm Radloff, Atlas der Alterthümer der Mongolei, St. Petersburg 1892, Taf. 41.1–2. Zur weiteren Auffindungsgeschichte siehe Eva Becker, Die altmongolische Hauptstadt Karakorum. Forschungsgeschichte nach historischen Aussagen und archäologischen Quellen (Internationale Archäologie Studia honoraria 39), Rahden/Westfalen 2007, bes. 77–84. Zuletzt ausführlich mit Übersetzung eines weiteren Fragmentes Takashi Matsukawa, Kotwicz’s Contribution to Mongolian History. The Rediscovered 1347 Sino-Mongolian Inscription, in: Jerzy Tulisow et al. (edd.), In the Heart of Mongolia. 100th Anniversary of W. Kotwicz’s Expedition to Mongolia in 1912, Cracow 2012, 191–205. Zur Diskussion der Zusammengehörigkeit der beiden Komplexe siehe unten. 5 Vgl. Francis W. Cleaves, The Sino-Mongolian Inscription of 1346, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 15 (1952), 1–123, 5. 6 Vgl. Cleaves 1952, 4f. 7 Eine Übereinstimmung sieht Klaus Sagaster, Die chinesisch-mongolische Inschrift von 1346 aus Erdeni Joo, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (ed.), Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen. Ausstellungskatalog, München 2005, 150–152. Bereits Cleaves 1952, 8 wies auf mögliche Unterschiede zwischen der gedruckten Textüberlieferung und der Steininschrift hin, ohne diese klar auszuführen. Auf Grundlage eines wiederentdeckten Fragments, das 2009 durch ein mongolischjapanisches Team in Erdene Zuu geborgen werden konnte, identifizierte Takashi Matsukawa eine Textstelle, die in der gedruckten Fassung fehlt. Dabei handelt es sich um den Hinweis, dass

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identifizierten Fall um kleinere Details handelt, wird im Folgenden die nach wie vor vollständigste Übersetzung von Francis W. Cleaves aus dem Jahr 1952 genutzt.8 Laut Selbstauskunft zeichnet ein gewisser Xu Youren (許有壬; 1287–1364) für das Verfassen der Inschrift verantwortlich. Xu Youren war ein chinesischer Beamter im Dienste des Yuan-Reiches und als Mitglied der kaiserlichen Hanlin-Akademie ein bedeutender Gelehrter jener Zeit.9 Über die Anfertigung der Steinplatte und der Schildkröte sowie zur Aufstellung der Inschrift werden keine Angaben gemacht. Die Inschrift spricht zudem keine bestimmte Adressatengruppe direkt an, daher stellt sich die Frage, wer zu jener Zeit überhaupt des Lesens mächtig war und die Inschrift verstehen konnte. Zu Beginn der mongolischen Eroberungen unter Chinggis Khan ist sicherlich von einer weitgehenden Schriftlosigkeit der mongolischen Steppenbevölkerung auszugehen. Erst mit Errichtung des mongolischen Weltreiches wurde die uighurische Schrift für das Mongolische adaptiert und Chinggis Khan ließ seine Nachkommen in der Kunst des Lesens und Schreibens unterweisen. Wie weit jene jedoch diese Kunst meisterten, sei dahingestellt.10 Die späteren Yuan Kaiser hingegen waren nachweislich schriftkundig, der bereits genannte Toghon Temür beherrschte sogar die Kalligraphie.11 Diese Bemühungen erfassten jedoch mit Sicherheit lediglich einen elitären Kreis, eine Literalität anderer sozialer Gruppen ist anzuzweifeln.12 Aufgestellt war die Inschrift in Karakorum, so dass als Adressaten die Einwohner der Stadt sowie Händler, Mönche und diplomatische Gäste in Betracht zu ziehen sind. Der franziskanische Mönch Wilhelm von Rubruck, der 1254 in Karakorum weilte, beschreibt eine kosmopolitische Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung von chinesischen Handwerkern, muslimischen

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ein gewisser Berkebuq-a den Befehl für die Erstellung der Inschrift vermittelte. Dieser wurde jedoch erst 1347 Minister, Matsukawa 2012, 202. Dies stützt darüber hinaus das Argument der späteren Aufstellung der Inschrift. Vgl. Cleaves 1952. Cleaves übersetzte für die chinesische Version nicht die inschriftlich überlieferte Fassung, die lediglich in Teilen vorliegt, sondern orientierte sich an der textlichen Überlieferung des Zhizheng ji, der gesammelten Werke des Xu Youren. Eine ausführliche Biographie des Xu Youren ist im Yuan Shi, Kapitel 182 zu finden. Cleaves 1952, 46–53, Anm. 54 bietet eine englische Übersetzung. Vgl. Michael C. Brose, Uyghur Technologists of Writing and Literacy in Mongol China, in: T’oung Pao Second Series 91 (2005), 396–435. – David C. Wright, Was Chinggis Khan Literate?, in: Studia Orientalia 87 (1999), 305–312. Herbert Franke, Could the Mongol Emperors Read and Write Chinese?, in: Asia Major 3 (1952), 28–41, bes. 37–40. Allgemein wird angenommen, dass erst mit dem weitgespannten Netz buddhistischer Klöster und den ihnen angegliederten Schulen eine weitergehende Alphabetisierung der mongolischen Bevölkerung seit dem 17. Jahrhundert einsetzte. Siehe Walther Heissig, Die Religionen der Mongolei, in: Giuseppe Tucci/Walther Heissig (edd.), Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart 1970, 296–428, bes. 336.

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Händlern, Verwaltungsangestellten und Angehörigen verschiedener religiöser Gemeinschaften.13 Mit mongolischen Bewohnern ist lediglich saisonal zu rechnen, die mongolischen Eliten verfolgten weiterhin eine nomadische Lebensweise. Auch die einfachen mongolischen Familien sind mit Sicherheit niemals Teil der städtischen Bevölkerung gewesen. Händler und Verwaltungsangestellte waren sicherlich schriftkundig, bei den Handwerkern und religiösen Vertretern ist zumindest teilweise davon auszugehen. Im Zuge von Ausgrabungen in der Stadtmitte von Karakorum, die eine Vielzahl von unterschiedlichen Handwerksstätten erbrachten, wurden auch einige Tuschesteine zum Mischen von Tinte entdeckt.14 Wer diese Utensilien letztendlich benutzte, wissen wir allerdings nicht. Noch wichtiger als Karakorum als Ort der Aufstellung der Inschrift war aber womöglich der Ort, an dem sie in Auftrag gegeben wurde, der Ming Ren Palast in der Hauptstadt Dadu, dem heutigen Beijing.15 Möchte man die Inschrift nicht nur auf ihren Sachgehalt hin, sondern auch als politisches Zeichen verstehen, so gewinnt dieser Umstand an Bedeutung (siehe unten). Zur Inschrift gehörte zudem ihr vermutlicher Träger, nämlich die Schildkröte, deren Bildgehalt höchstwahrscheinlich konventionalisiert und somit für die Zeitgenossen unmittelbar verständlich war.

2.

Inhalt und Thema

Die Inschrift ist eine Eloge auf buddhistische Bauten und ihre Bauherren in Karakorum. Berichtet wird von der Errichtung eines buddhistischen Tempels unter Ögödei Khan. Dieser Tempel wurde jedoch erst unter Möngke Khan (r. 1251–1259) fertiggestellt. Möngke Khan ließ zudem 1256 einen Stupa mit umgebendem Pavillon errichten. Dieser zweite Bau wurde einmal 1311 unter dem Yuan Kaiser Buyantu Khan und ein zweites Mal, grundlegender, von Toghon Temür von 1342 bis 1346 renoviert. Anlässlich dieser zweiten Renovierung wird der Kaiser an das Desiderat einer fehlenden Gedenkschrift an den Tempel erinnert. Mit dem Auftrag an Xu Youren begegnet er dieser Bitte. Anschließend an 13 Vgl. Anastasius van den Wyngaert, Sinica Franciscana, 5 Bde., Bd. 1: Itinera et Relationes Fratrum Minorum Saeculi XII et XIV, Firenze 1929. William of Rubruck, The Mission of Friar William of Rubruck. His Journey to the Court of the Great Khan Möngke 1253–1255, trans. by Peter Jackson. Introduction, Notes and Appendices by Peter Jackson with David Morgan, London 1990. 14 Vgl. Susanne Reichert, Craft Production in the Mongol Empire. Karakorum and Its Artisans (Bonn Contributions to Asian Archaeology 9), Bonn 2020. – Die Tuschesteine sind bisher nicht publiziert, es sind insgesamt fünf Exemplare. 15 Zur Identifizierung des Palastes siehe Cleaves 1952, 45, Anm. 52.

Auf dem Rücken der Schildkröte

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diesen ersten Teil in Prosa wird die Inschrift, den Inhalt wiederholend, in Versen und somit in poetischer Sprache fortgesetzt.

3.

Quelle

Die nachfolgende Wiedergabe der Inschrift orientiert sich an der annotierten Übersetzung des chinesischen Textes von Francis W. Cleaves aus dem Jahr 1952.16 Eine deutsche Teilübersetzung von Klaus Sagaster folgt dieser Fassung weitestgehend und wurde zugunsten der vollständigen Version außen vor gelassen, auch wenn an wenigen, aber essentiellen Stellen Unterschiede zu verzeichnen sind;17 diese werden entsprechend kommentiert.

3.1

Die Inschrift: Stele of Hsing-Yüan ko, Granted by Imperial Order

ˇ inggis Qan), when the In the fifteenth year [1220] of T‘ai-tsu sheng-wu huang-ti (i. e., C cyclical year was in kêng-ch‘ên [1220], he established the capital at Ho-lin (Qorum).18 Under the care and nurture of T‘ai-tsung huang-ti (i. e., Ögedei Qaɣan), the people and creatures were healthy and abundant. For the first time he built a palace [there]. On that occasion he constructed a Buddhist edifice. When he had laid the foundation, but had not yet put on the roof, Hsien-tsung (i. e., Mongke Qaɣan) continued [where he had left off]. When the cyclical year [was in] ping-ch‘ên [1256], he (i. e., Hsien-tsung) made a great fou-t‘u (i. e., stu¯pa). He covered [it] with a tall pavilion. When the assembled workmen were still in the process [of construction], the »Six Dragons« (i. e., the Emperor) were »hunting« (i. e., campaigning) in Shu. To substitute for the [Heavenly] (i. e., Imperial) efforts, they employed the ablest men. [The Emperor] dispatched one [messenger] after another to supervise [the work]. By exertion it (i. e., the work) reached completion. The pavilion [was] five stories. It was three hundred ch‘ih high. As for its ground floor (lit., »bottom«), the four sides constituted rooms, each seven chien [in size].19 Around [these] they arranged the [statues of] various Buddhas. [This arrangement was] completely in accordance with the indication of the su¯tras. In [the cyclical year] hsin-hai of Chih-ta [1311], when Jên[-tsung] huang[-ti] (i. e., Buyantu Qaɣan) mounted the throne, he heard that there were injuries and damage. ˇ ösgem), to cart money [Hence] he dispatched the yen-ch‘ing-shih, Ch‘o-ssuˇ-chien (C [thither] to repair [it]. 16 Vgl. Cleaves 1952, 29–34. Unter Auslassung der chinesischen Schriftzeichen sowie Kommentierung. 17 Vgl. Sagaster 2005. 18 Nach Sagaster 2005, 151 »bestimmte er Helin [Qorum, d. h. Karakorum] zur Hauptstadt [Residenz].« 19 Nach ebd., 151: »Jeder hatte sieben Zwischenräume [d. h. acht Säulen].«

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Another thirty-one years brings us to [lit., »constitute«) [the cyclical year] jên-wu of Chih-chêng [1342]. His Majesty [Toɣon Temür], recalling the place of origin of his ancestors and the pains of construction of the »Two Sages,« [Ögedei and Möngke Khan] ordered that the ch‘ieh-lien-fu-t‘ung-chih – now wu-pei-ch‘ing [Beamtentitel] – P‘u-ta-shih-li (Budasˇiri) as well as the Ling-pei-hsing-chung-shu-shêng-yu-ch‘êng – now hsüan-chêng-yüan-shih [Beamtentitel] – Yüeh-lu T‘ieh-mu-êrh (Örügtemür) specially supervise the repair. After four years then it was brought to perfection. Around the t‘a (i. e., stu¯pa) they painted gold. Its brilliance dazzled (lit., »snatched«) the eye. As for the pavilion, inside and outside, top and bottom, [in its] bigness and smallness (i. e., size), twists and turns (i. e., convolutions) as well as projections and evenness (i. e., carving), lacquering and whitewashing (i. e., coating), there was nothing which was not firm and beautiful, delicate and perfect. They doubly tripled its gates and encircled it with a continuous wall. It was brilliantly new. The government laid out Chung-t‘ung paper money in the amount of twenty-six myriads and five thousand-odd min. The expenses, as compared with [those of] former times, were [but] a half, yet, [if one mention] the achievement, then [it may be said that] they doubled it. On the seventh day of the eleventh moon of [the cyclical year] ping-hsü [19 December 1346], when the Emperor appeared in the Ming-jên-tien, a minister of the chung-shushêng memorialized [to the effect] that, since the Pavilion had been reconstructed, [the event] had to be eulogized with an inscription. [And so the Emperor] ordered that the subject [Hsü] Yu-jên, a Han[53b]-lin-hsüeh-shih-ch‘êng-chih, should compose it (i. e., the inscription) on stone. The subject Yu-jên, upon receiving the [Sacred Wish], making obeisance and prostrating himself, spoke saying: »As for the mysteries of the workings of Heaven and Earth (i. e., the Universe), [Your Majesty’s] subject is unable to characterize them. He will mention them on the basis of those of their shapes and traces (i. e., apparent manifestations) which are near. The scattering and shaking (i. e., activation), moistening and warming (i. e., nurture) of wind and thunder, rain and shine (i. e., climate) to bring into being the myriad things are all bestowed from above downward. The flowing and circulation, seeping and overflowing of springs and currents, dikes and marshes to irrigate the great fields also proceed from the high to the low. As for the place where our dynasty arose, it stoops to regard (i. e., towers above) the myriad states. The Great Holy Man, standing head [and shoulders] above the numerous creatures and [his] position being in the Virtue (i. e., Power) of Heaven, drew upon the ch‘i which [first] lay dormant, [then] germinated, and [then] sprouted, which, since the time of creation, had been preserved, but had not yet been developed and thereby organized and governed. From above they were bestowed downward, they proceeded from the high to the low. That is why the flow of [Imperial] Grace is like pouring out a jug [of water] on a high roof; [that is why] the issuing of the army is like the stone falling down T‘i-shan. As for [his] consummation of merit and achievement, it was like ascending to (i. e., being on a par with) the Three and surpassing the Five. From the Han down there has been none comparable to us. In establishing the capital at Ho-lin (Qorum) the foundation for creating a state was set up.

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Although T‘ai-tsung (i. e., Ögedei Qaɣan) and Hsien-tsung (i. e., Mongke Qaɣan) were in the midst of shields and spears (i. e., warfare), yet they made it their desire ›not to relish killing people.‹ Having heard that in the meaning of the purity of Buddhism and the benevolence of the Lord of Enlightenment (i. e., the Buddha) there was that which tallied with the Imperial bosoms, they utilized its doctrines and thereby rectified those of the stupid who had not yet been rectified. If they had not greatly (i. e., spectacularly) honored and exalted [Buddhism], then there would have been no means of making [Buddhism] a basis (lit., ›ground‹) of stimulation (i. e., inspiration) (lit., ›moving and arousing‹) and [thus] the capacity of the Great Holy Man to regard the ›Four Seas‹ (i. e., the World) as anthills, to regard the ›Eight Limits [of the Earth]‹ as a pinch of soil, to put the [whole] universe in a bag, and to roll up the rivers and mountains (i. e., the landscape) as a mat truly took its beginning in this. Because [Your Majesty’s] subject Yu-jên was born and grew up in a time of peace and harmony, as for the famous ch‘a (i. e., caitya) south of the Desert (i. e., in China), there is none which he has not visited. Having heard that the people of Ling-pei [SR: die nördlichste Provinz des Yuanzeitlichen Chinas, im Wesentlichen die heutige Mongolei, die von Karakorum aus verwaltet wurde] boasted of the bigness of the pavilion, he presumed to suspect their exaggeration. [Therefore,] he inquired of it from people who had traveled in Shan, Shu, Chiang, Kuang, Min, and Chê and who had served in Ling-pei. Verily, as for the pavilions of the Empire, there is none which is comparable to it. Formerly, the site of the Chih-huan-ssuˇ (i. e., Jetavana Temple) [covered] eighty ch‘ing [of land] and [contained] one hundred and twenty yüan (›cloisters‹). The two men, Chih-t‘o (Jeta) and Hsü-ta (Sudat[ta]), completed it. Since Our Dynasty richly possesses the ›Four Seas‹ (i. e., possesses the riches of the whole world), we regard ›the gold spread over the land‹ only as a tzuˇ-shu (i. e., a penny). Therefore, it is [entirely] fitting that the magnificence and loftiness of the construction of this pavilion reciprocate height with the Hsüeh-shan (i. e., the Hima¯layas) and match impressiveness with the Chiu-ling (Grdhraku¯ta). ˙ ˙ The pavilion in the beginning had no name. It was only known as the Ta-ko-ssuˇ. His Majesty granted the name Hsing-Yüan-chih-ko (›The Pavilion of the Rising Yüan‹), for the day when they ›measured out and commenced‹ really was the beginning of the rise of the dragon of Our Yüan in compliance with [the mandate of] Heaven and in response to [the call of] the people. The name coincided with reality. Furthermore, Ho-lin (Qorum) from Yüan-ch‘ang-lu became chuan-yün-ssuˇ. [Later] it became hsüan-wei-ssuˇ. Again, it became the Ling-pei-hsing-chung-shu-shêng. From [the cyclical year] pin g-ch‘ên [1256] to the present [1346] is ninety-one years, but, as for the majestic memories (lit., ›traces‹) of the line of Saints and the wonderful sight of the mighty capital, there has not been one man or one word which has ever attained to describing [them]. [Now] suddenly (lit., ›in one morning‹) they are mentioned in the ›Jade Voice‹ and are cut (i. e., inscribed) on the hard stone. Is there a [good] cause for the delay? Wu-hu! It is grand! That there be [some] great benefit [in it] may be considered [certain].«20 The ming reads:

20 An dieser Stelle endet die Prosa und die Versdichtung setzt ein, Cleaves 1952, 64, Anm. 131.

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The basic nebulosity having opened a second time, the world began a second time. The Holy Spirit (i. e., T‘ai-tsu), having mounted the throne, demoted (i. e., excelled) Huang[-ti] and Yü [Shun]. Having founded a state, then he grasped the pivot of Heaven and Earth. He stooped to pick up the myriad countries as if [they were] fallen leaves. The crying »naked children« were hungry and awaited feeding. Why did the ruler make us the last? He is come and we revived. Did the Heavenly halberds [of T‘ai-tsung and Hsien-tsung] desire to concentrate on [meting out] Heavenly punishment? Because, [in their] hearts, they did not [desire to] kill, the people submitted by themselves. Regarding this Buddhism [they found that] it was not void and negative. Although [it arose in] a different time from ours, yet it tallied [in purpose with ours]. By means of great knowledge and wisdom they enlightened [54b] the flock of stupid. The extremely happy countries which they established embraced the whole world. Just as he was about to assemble his workers [to construct a temple like that] in the Chih-yüan (i. e., Jetavana), Mounting the dragon suddenly [the Emperor] reverted to [the scene of] Ting-hu. A Later Sage continued the work and the effort did not diminish. Loftily he achieved this tou-shuai (Tusi[ta]) abode. ˙ Had he not [so] magnified its scale, one could hardly have deemed it a lasting model. Sticking into Heaven and stretching up from (lit., »pulling up«) the Earth, the high beacon is solitary. In its midst there is a golden fou-t‘u which stands like a mountain-peak. The various Buddhas surrounding it were distributed among the four sides (lit., »corners«). In Chih-ta repairing the ruins caused the cart of the [yen-ch‘ing-] shih to go. The thirty-one years were like unto an instant. Our Emperor, emulating [his] ancestors, magnified the »Sacred Counsels.« Thereby he caused that the gold and green (i. e., gilding and painting) be new and spacious. The abundant [Imperial] grace impartially shelters the whole earth Just as the pavilion more than contains the t‘a (i. e., stu¯pa). When, in the chung-shu [-shêng], there was a petition, the Emperor said, »Yes! May you, [Our] subject Yu-jên, grandly (i. e., fully) write [about it]! Like [this] monolith which is neither defective nor thin May the August Empire (lit., ›Map‹) continue for hundreds of thousands of myriads of years.«

3.2

Die Schildkröte

Die etwa ein Meter hohe, nahezu drei Meter lange und etwa 1,30 m breite Granitschildkröte weist auf der Oberseite eine rechteckige Aussparung auf, die gemeinhin als Fassung für eine ursprünglich dort eingebrachte Inschriftentafel gilt

Auf dem Rücken der Schildkröte

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(siehe Abbildung 1). Die stark definierten Beine mit den krallenbesetzten Füßen und das mit spitzen Zähnen versehene Maul verweisen auf eine Hybridisierung mit Drachenmotiven.

Abb. 1: Schildkröte als Basis für eine Inschriftentafel auf dem Wüstungsgebiet der Stadt Karakorum mit Blick nach Südosten. Im Hintergrund gut erkennbar die umgebende Mauer des buddhistischen Klosters Erdene Zuu (© Autorin).

4.

Kommentierung

Das gewählte Objekt der Steinschildkröte mit wahrscheinlich zugehöriger Inschrift taucht in der Forschung immer wieder im Zusammenhang mit der Stadtgeschichte Karakorums auf, enthält sie doch nicht nur historische Daten zur Gründung der Stadt und zum Baugeschehen vor Ort, sondern stellt auch die erste Nennung Karakorums in mongolischer Sprache dar.21 Die Bedeutung und 21 Die Erforschung konzentrierte sich vorrangig auf die eigentliche Inschrift aus meist philologischem Interesse, vgl. Cleaves 1952, Matsukawa 2012. Eine ausführliche Betrachtung der Schildkröte steht noch aus, eine knappe Einordnung des Bildprogramms findet sich in Melanie Janssen-Kim, Schildkröte, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (ed.), Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen. Ausstellungskatalog, München 2005, 150.

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Funktion dieses Ensembles als Mittel der Herrschaftsrepräsentation wurde indes nicht oder nur in Ansätzen diskutiert.22 Das Potenzial dieser Quelle ist somit grundlegend zu erörtern. Über den rein sachlichen Gehalt der Inschrift hinaus ist nach der Verbindung von steinerner Statue und Inschrift zu fragen. Auf diese Weise soll eruiert werden, inwieweit mit der Analyse der Quelle ein Beitrag zur Beschreibung von Macht und Herrschaft im mongolischen Weltreich geleistet werden kann, der zugleich die Diskussion im Spannungsfeld ‚Konflikt und Konsens‘ des Bonner SFBs befördert. Dazu wird in einem ersten Schritt die steinerne Schildkröte betrachtet. Es wurde bereits festgestellt, dass sich die Schildkröte mutmaßlich am Platz ihrer ursprünglichen Aufstellung befindet. Die Inschriftentafel selbst jedoch wurde zertrümmert und in Einzelteilen zumindest teilweise als Spolien in Baustrukturen des Klosters Erdene Zuu sekundär verwendet, so dass ihre originale Platzierung nicht mehr mit absoluter Verlässlichkeit zu rekonstruieren ist. Allein dieser Umstand regt zu Fragen an: Ist die Zerstörung der Inschrift als ein ideologischer Akt zu sehen? Sollte dadurch das Ansehen der durch sie gelobten mongolischen Herrscher nachhaltig geschädigt oder sogar ausradiert werden? In diesem Zusammenhang ist es dann zumindest bemerkenswert, dass die Schildkröte selbst von der Zerstörung verschont blieb. Wie dem auch sei, obwohl man lediglich die sekundäre Verwendung der Inschriftentafel greifen kann, hat man vermutet, dass die Inschrift sich ursprünglich auf der sogenannten großen Schildkröte von Karakorum befand.23 Christina Franken konnte in ihrer Dissertation zu den Ausgrabungen auf der Gebäudeplattform schlüssig aufzeigen, dass es sich bei diesem Bau wohl um den in der Inschrift beschriebenen ‚Pavillon der aufsteigenden Yuan‘ handelt.24 Die Schildkröte steht in auffälliger Nähe zu diesem Komplex. Auch fand sich angeblich ein Bruchstück der Steintafel noch in unmittelbarer Nähe der Schildkröte.25 Betrachtet man diese Hinweise gemeinsam, so ist eine klare Zuordnung der Inschrift mit der vor dem Tempel stehenden Schildkröte zwar nicht mehr mit Gewissheit zu klären, kann aber als sehr 22 So etwa Becker 2007; Franken 2015; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (ed.), Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen. Ausstellungskatalog, München 2005. Sergeı˘ V. Kiselev (ed.), Drevnemongol’skie goroda, Moscow 1965. Hans-Georg Hüttel/Ulambayar Erdenebat, Karabalgasun and Karakorum – Two Late Nomadic Urban Settlements in the Orkhon Valley. Karabalgasun und Karakorum – Zwei spätnomadische Siedlungen im Orchon-Tal. Khar Balgas ba Kharkhorum – Orkhony xöndiı˘ dekh khozhuu nüüdelchdiı˘n suur’shmal khoër khot, 2. Aufl., Ulaanbaatar 2011, 31 führen zumindest knapp an: „Er [der in der Inschrift gelobte Tempel] war wie allein schon der außergewöhnliche Tempelname zeigt, auch ein Monument des Herrscherkults und der Staatspropaganda, bedeutsam für die Legitimation und die Identität der Yüan.“ 23 Siehe zusammenfassend und aus eher ablehnender Perspektive Becker 2007, 78. 24 Vgl. Franken 2015. 25 Vgl. Hüttel et al. 2011, 31.

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wahrscheinlich gelten.26 Außer dieser Schildkröte befinden sich zwei weitere ähnliche Inschriftensockel im direkten Umfeld der Stadt, eine außerhalb der Stadtumwallung an der nach Osten führenden Straße, 600 Meter vom östlichen Tor entfernt, eine zweite etwa zwei Kilometer südlich davon auf einer Anhöhe. Beide weisen ebenfalls Aussparungen für eine Inschriftentafel auf, die jeweils nicht mehr vorhanden ist.27 Ein drittes, ursprünglich unvollendetes Werkstück steht im Vorfeld eines Granitsteinbruchs namens ‚Baga elsteı˘‘ (Mongolisch Бага элстэй – „kleiner Sandplatz“) etwa 16 Kilometer südlich von Karakorum am rechten Ufer des Orkhon.28 Eine chinesische Inschrift bezeugt zudem, dass der Platz zur Zeit des mongolischen Weltreiches bekannt war.29 Der Herstellungsort der Schildkröten scheint somit über den identifizierten Steinbruch gesichert. Wo die Inschriftentafel erstellt wurde, bleibt hingegen offen.30 Diese weiteren Exemplare helfen außerdem in der Frage nach der mit der Schildkröte verbundenen Bildaussage nicht weiter. Neben den bekannten Stücken aus der Zeit des mongolischen Weltreiches sind weitere schildkrötenförmige Inschriftenträger aus der Zeit der türkischen Khanate (1. Khaganat 552–630/659, 2. Khaganat 682–742) auf dem Gebiet der heutigen Mongolei bekannt, die von Sören Stark als Rückgriff auf chinesische Formen der Elitenrepräsentation gedeutet werden.31 Zu dieser Zeit sind sie im Kontext von Memorialplätzen anzutreffen, die den obersten Herrschaftsträgern gewidmet waren. Diese Verwendung verweist bereits auf ihr erstes Auftreten 26 So auch Franken 2015, 162; Hüttel et al. 2011, 31. 27 Die auf dem Hügel stehende Schildkröte weist heute einen nachträglich eingebrachten, modernen Inschriftenstein auf, frühere Abbildungen zeigen dieses Exemplar ohne eine Inschrift. Vgl. Dietrich Mania, Archäologische Studien in der zentralen Mongolei, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 12 (1963), 847– 888, 886 Taf. 27.2. 28 Die ursprünglich unbearbeitete, glatte Oberfläche der Schildkröte wurde irgendwann im Zeitraum zwischen den frühen 2000ern und 2008 unprofessionell von einem lamaistischen Mönch ornamental überarbeitet; mündliche Auskunft Ernst Pohl, Universität Bonn und Franken 2015, 25, Anm. 23. Sergeı˘ V. Kiselev, Kamennaia Cherepakha, „Bezhavshaia“ iz Karakoruma, in: Mongol’skiı˘ Arkheologicheskiı˘ Sbornik (1962), 65–67, 66, Abb. 17 zeigt den originalen Zustand des Werkstücks. 29 Zur Inschrift und einer Diskussion divergierender Angaben zur Lokalisierung des Steinbruches in der Forschungsliteratur siehe Jan Bemmann et al., A Stone Quarry in the Hinterland of Karakorum, Mongolia, with Evidence of Chinese Stonemasons, in: Journal of Inner Asian Art and Archaeology 6 (2011 (2015)), 101–136, 102 mit weiterführender Literatur. 30 Das Material wird in den einschlägigen Publikationen nicht klar benannt, nach Durchsicht der veröffentlichten Fotografien scheint die Tafel ebenfalls aus Granit gefertigt worden zu sein, vgl. Franken 2015, 23, Abb. 3. Dies könnte auf eine Fabrikation im selben Steinbruch deuten. 31 Zuletzt zusammengestellt und bearbeitet von Sören Stark, Aspects of Elite Representation among the Sixth- and Seventh-Century Türks, in: Nicola Di Cosmo/Michael Maas (edd.), Empires and Exchanges in Eurasian Late Antiquity. Rome, China, Iran, and the Steppe, ca. 250–750, Cambridge 2018, 333–356.

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während der chinesischen Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) im Rahmen von sogenannten Begräbnisalleen, die mit ebensolchen Figuren flankiert waren und zu herausragenden Bestattungen jener Zeit führten. Diese Ausgestaltung des Bestattungsplatzes war zudem den obersten Gesellschaftsteilen vorbehalten.32 Nach Ann Paludan sind die Figuren als nicht-buddhistische Motive der chinesischen Kultur zu begreifen und treten bis ins 20. Jahrhundert auf.33 Somit sind bereits Adaptionen dieser Form in verschiedenen Zusammenhängen im Laufe der Zeit festzustellen: von Bestattungsplätzen über Memorialstätten hin zu Tempeln im weitesten Sinne.34 Welche Bedeutung hatte nun die Schildkröte in ihrem ursprünglichen Kontext? Die Schildkröte spielte auf dem Gebiet des heutigen China bereits in frühester Zeit eine wichtige Rolle in mythologischen Vorstellungen. So wurden ihre Panzer in der Shang Dynastie (2. Jahrtausend v. Chr.) am Gelben Fluss im Rahmen von Feuerritualen zur Weissagung genutzt.35 Die Schildkröte stand dabei generell für Langlebigkeit und ihr Panzer speziell als Symbol für den physischen Raum, ihr runder Rücken für den Himmel und der Brustpanzer für die Erde. Während der Han Dynastie ist die Geschichte der Göttin Nü Gua belegt, die den Himmel reparierte, indem sie einer Schildkröte ihre Füße abschnitt und diese als Stützen unter die vier Pole stellte.36 Die Stützfunktion und Trägereigenschaft der Schildkröte wird somit sogar mit einem kosmologischen Bild verknüpft. Es verwundert daher nicht, dass gerade die Schildkröte als Träger für bedeutende Inschriften gewählt wurde. In der altchinesischen Mythologie wird die Schildkröte zudem als einer von neun Söhnen des Drachen angesehen.37 Diese enge Verwandtschaft von Schildkröte und Drache zeigt sich auch in der bereits angemerkten Hybridisierung in der Gestaltung des hier betrachteten Exemplars aus Karakorum. 32 Vgl. Ann Paludan, The Chinese Spirit Road. The Classical Tradition of Stone Tomb Statuary, New Haven/London 1991, 50 gibt als erstes datiertes Beispiel das Begräbnis des Fan Min von 205 n. Chr. an, wobei Schildkrötenbasen bereits für das vorangehende Jahrhundert schriftlich bezeugt seien. 33 Vgl. Paludan 1991. 34 Die Gedenkschrift mit Schildkröte in Karakorum ist nicht die einzige zur Yuan Zeit, die mit Tempelbauten in Verbindung steht. In Qufu (Shandong Provinz, China), dem Geburtsort Konfuzius’ der Legende nach, sind einige weitere Beispiele auch aus der Zeit Toghon Temürs zu nennen, die dort im Gedenken konfuzianischer Tempel errichtet wurden; Luo Chenglie 骆 承烈, Shi tou shang de ru jia wen xian. Qufu de bei wen lu 石头上的儒家文献-曲阜的碑文 录 (Konfuzianische Dokumente auf Stein – Verzeichnis der Stelentexte in Qufu), Jinan 2001. 35 Vgl. Sarah Allan, The Shape of the Turtle. Myth, Art, and Cosmos in Early China, Albany, NY 1991. 36 Vgl. Allan 1991, bes. 104f. – Michel Soymie, Die Mythologie der Chinesen, in: Pierre Grimal (ed.), Mythen der Völker, 3 Bde., Bd. 2. Perser, Inder, Japaner, Chinesen, Frankfurt a. Main 1967, 261–303, bes. 290f. 37 Vgl. Paludan 1991, 50.

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Neben der Schildkröte und den mit ihr aufgerufenen altchinesischen Vorstellungswelten stellt der Buddhismus ein weiteres Bezugssystem für dieses Ensemble dar. Zum einen ist die Inschrift explizit als Gedenkschrift für einen buddhistischen Tempel verfasst und errichtet worden, zum anderen wird der Buddhismus mehrfach lobend in besonderer Weise hervorgehoben. Toghon Temür wird etwa in die Tradition der als gut konnotierten mongolischen Großkhane Ögödei und Möngke eingereiht, die sich als Förderer des Buddhismus hervortaten und als Weise bezeichnet werden. Gleichzeitig hatten diese Herrscher ihren Herrschaftsmittelpunkt klar im mongolischen Kernland verortet, so dass die Erinnerung an diese Zeit sicherlich auch noch auf einer anderen Ebene zu verstehen ist. Der von mongolischen Traditionalisten erhobene Vorwurf, die Yuan-Kaiser seien zu stark sinisiert und hätten sich zu weit von ihren Wurzeln in der Steppe entfernt, sollte auf diese Weise vielleicht entkräftet werden. Dies ist eine Form, die Legitimation der Herrschaft Toghon Temürs aufrecht zu halten. Fasst man die ideologischen Bezüge zusammen, kann man die Inschrift auf der Statue als synkretistische Mélange bezeichnen und so ist in einem zweiten Schritt grundlegend das Verhältnis der mongolischen Herrscher zur Religion zu hinterfragen. Zunächst ist von einer schamanistischen Weltauffassung der mongolischen Khane und der Bevölkerung auszugehen.38 Aufschlussreich ist eine Begebenheit, die uns wieder von Wilhelm von Rubruck in seinem Reisebericht zugetragen wurde: Bei einer Begegnung mit Möngke Khan belehrt dieser den Mönch, so wie Gott der Hand verschiedene Finger gegeben habe, so habe er den Menschen verschiedene Wege gegeben.39 Es schien die Maxime zu herrschen, dass es nicht schaden kann, unterschiedliche Religionen für sich zu bemühen, auch wenn unsicher sein mag, ob und inwieweit ein solches Vorgehen nützt.40 Eine solche Haltung ist jedoch auf keinen Fall mit unseren heutigen Vorstellungen einer umfassenden Religionsfreiheit und Toleranz gleichzusetzen. Erschien es politisch opportun oder verletzte die Religionsausübung die Regeln der mongolischen Gesellschaft, so gingen die Großkhane und späteren Yuan-Kaiser sehr wohl in aller Härte gegen Gläubige vor.41 Unter Khublai Khan zeichnete sich eine Favorisierung der tibetischen Ausprägung des Buddhismus, genauer der Sa-skya-pa

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Vgl. Heissig 1970, bes. 307. Vgl. Jackson 1990, 236. Vgl. David O. Morgan, The Mongols, 2. Aufl., Malden, MA 2007, 37f. – Jackson 1990, 24. Vgl. Peter Jackson, The Mongols and the West, 1221–1410, Harlow 2005, bes. 271–276. – Peter Jackson, The Mongol Age in Eastern Inner Asia, in: Nicola Di Cosmo/Allen J. Frank/ Peter B. Golden (edd.), The Cambridge History of Inner Asia. The Chinggisid Age, Cambridge 2009, 26–44, bes. 42f.

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Schule, gegenüber dem chinesischen Buddhismus ab.42 Der tibetische Phags-pa Lama gewann zu dieser Zeit wesentlichen Einfluss und nach einer These von Herbert Franke kreierte dieser Lama eine Ahnenreihe in buddhistischer Tradition, die es Khublai Khan ermöglichte, sich in Ermangelung einer Staatsideologie als buddhistischen Universalherrscher darzustellen, um somit seine Herrschaft über China zu legitimieren.43 Gleichzeitig wird allerdings eingeräumt, dass das in diesem Zuge von Phags-pa entwickelte Konzept der dualen Herrschaft einer sakralen Institution (des Lamas) und einer profanen Instanz (des mongolischen Großkhans) nicht als Doktrin durchgesetzt wurde. Unter Toghon Temür schließlich wurde der Gegensatz zwischen dem tibetischen Lamaismus und dem chinesischen Buddhismus immer schärfer, besonders die tantrischen Praktiken des Kaisers, die als moralischer Verfall wahrgenommen wurden, stießen auf Missfallen.44 Dennoch wird dem Buddhismus insgesamt legitimierende Wirkung für die Yuan-Herrschaft in China zugewiesen.45 In diesem Sinne ist die in der Versdichtung angebrachte Klage „Why did the ruler make us the last? He is come and we revived“, die klare Konnotationen eines heilsbringenden Erlösers evoziert, als religiöse Überhöhung der mongolischen Khane zu interpretieren. Somit bediente das Ensemble von Schildkröte und Inschrift viele unterschiedliche soziale Gruppierungen zugleich: Buddhisten, mongolische Traditionalisten und Anhänger allgemein chinesischer Vorstellungswelten konnten sich gleichermaßen angesprochen fühlen, das Erinnern an historische Vorbilder entspricht in gewissem Sinne gleichfalls konfuzianischen Ideen.46 Die Inschrift trägt darüber hinaus klare propagandistische Züge, wenn etwa von der Perfektion des Tempels geschwärmt wird, die sich letztlich der Güte und Wohltätigkeit des Toghon Temür verdankt. Das Bauprogramm für sich genommen ist bereits als 42 Vgl. Morris Rossabi, Khubilai Khan. His Life and Times, Berkeley/Los Angeles/London 1988, bes. 40f. 43 Vgl. Herbert Franke, From Tribal Chieftain to Universal Emperor and God. The Legitimation of the Yüan Dynasty (Sitzungsberichte / Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 1978, Heft 2), München 1978, bes. 55–69. – Herbert Franke, Tibetans in Yüan China, in: John D. Langslois Junior (ed.), China under Mongol Rule, Princeton 1981, 296–328, 306–309. Ähnlich Morris Rossabi, The Reign of Khublai Khan, in: Herbert Franke/Denis Twitchett (edd.), Alien Regimes and Border States, 907– 1368, Cambridge 1994, 414–489, bes. 461. 44 Vgl. Heissig 1970, 325f. – Herbert Franke, Chinesischer und tibetischer Buddhismus im China der Yüanzeit. Drei Studien (Studia Tibetica 3), München 1996, bes. 7. – Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Symbolik der Schildkröte im westeuropäischen Kontext, wo dieses Tier als zweigeschlechtlich aufgefasst wird; siehe James B. Hannay, Sex Symbolism in Religion, London 1922, 349f. Der runde Körper der Schildkröte gilt als Symbol für die Frau oder Gebärmutter, während der Kopf der Schildkröte als Phallus interpretiert wird. Entsprechende Interpretationen sind der Verfasserin für den asiatischen Raum jedoch nicht bekannt. 45 Vgl. Franke 1996, 46. 46 Vgl. Rossabi 1994, bes. 459.

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Ausdruck der Macht des Kaisers aufzufassen. Selbst wenn die angegebene Höhe von 300 Chi, was nach Eva Becker etwa 100 Meter entspricht, übertrieben sein mag, wird es sich bei dem Tempel dennoch um ein Gebäude von beispielloser Größe in Karakorum und darüber hinaus mongoleiweit gehandelt haben.47 Damit findet der Herrschaftsanspruch der mongolischen Khane eine deutliche physisch wahrnehmbare Formsprache. Wieso aber wurde die Inschrift überhaupt errichtet? Der Autor der Inschrift liefert eine einfache Antwort auf diese Frage, insofern er das Ausbleiben einer Gedenkschrift auf den Tempel moniert, der schließlich bereits seit 1256 bestand. Demzufolge wäre also lediglich ein Versäumnis nachgeholt worden. Einfache Antworten greifen jedoch oft zu kurz, und wenn man die politischen und sozialen Verhältnisse zu jener Zeit in die Betrachtung einbezieht, könnte das auch hier der Fall sein. Toghon Temür trat 1333 im Alter von 13 Jahren die Herrschaft nach politisch turbulenten Jahren an. Nach Khublai Khan wechselten in 39 Jahren mit neun Großkhanen oftmals bürokratische Maßgaben und politische Richtungen.48 Die 1340er Jahre waren von beispiellosen Krisen gekennzeichnet. Eine chronisch finanziell strapazierte Haushaltslage, Epidemien, Hungersnöte und extreme klimatische Verhältnisse resultierten vielerorts in sozialen Unruhen.49 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Lob des Herrschers, dass mit dem halben Einsatz von monetären Mitteln das doppelte Ergebnis im Vergleich zu früheren Baumaßnahmen erzielt werden konnte. Die Hervorhebung der eigenen Verdienste in einer Zeit bedrohter Herrschaft ist damit, neben den bereits angesprochenen generellen Aspekten der Herrschaftslegitimation, sicherlich von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Zwar mag der Zusammenhang zwischen Unruheherden in den chinesischen Provinzen mit der Errichtung einer propagandistischen Stele im über 1000 Kilometer entfernten mongolischen Kernland konstruiert erscheinen, und die Annahme, dass eine einfache Stele die hungrigen Gemüter hätte besänftigen können, mag sich naiv ausnehmen. Dennoch gewinnt die These an Plausibilität, wenn man bedenkt, wo der Auftrag zur Gedenkschrift erteilt wurde und wo sie erstellt wurde: Die Inschrift wurde in der Hauptstadt verfasst, so dass sie zuerst im Umfeld des Herrschers wahrgenommen wurde. Die in ihr verschriftlichte Propaganda wirkte auf diese Weise in zweifacher Hinsicht: sowohl im Zentrum als auch im zu jener Zeit als Peripherie wahrgenommenen Karakorum. Die Inschrift ist nicht zufällig zu genau diesem Zeitpunkt entstan-

47 Vgl. Becker 2007, bes. 82. – Diskussion der Größe siehe Franken 2015, bes. 162. 48 Vgl. Hsiao Ch’i-ch’ing, Mid-Yüan Politics, in: Herbert Franke/Denis Twitchett (edd.), Alien Regimes and Border States, 907–1368, Cambridge 1994, 490–560, bes. 490. 49 Vgl. John W. Dardess, Shun-ti and the End of Yüan Rule in China, in: Herbert Franke/ Denis Twitchett (edd.), Alien Regimes and Border States, 907–1368, Cambridge 1994, 561– 586, bes. 561–585.

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den, sondern war eine von vielen Maßnahmen, welche die zunehmend erodierende Herrschaft der Yuan stabilisieren sollte.50

5.

Bedeutung für das Teilprojekt und das Spannungsfeld

Als eines der wenigen original erhaltenen Denkmäler von Karakorum, das selbst von Laien erkannt wird, avancierte die Schildkröte vor der buddhistischen Tempelplattform zum Wahrzeichen dieser für das mongolische Weltreich so wichtigen Stadt. Die mit ihr wahrscheinlich in Zusammenhang stehende Inschrift ist von epochaler Bedeutung für die Identifizierung des aus schriftlichen Quellen bekannten Karakorums oder He-lins mit diesem Ort. Gerade auch die Stelle zur Gründung Karakorums, die von Francis W. Cleaves und Klaus Sagaster unterschiedlich übersetzt wurde (siehe oben), führte zu einer andauernden Diskussion um den tatsächlichen Gründungsvater der Stadt.51 Die Inschrift selbst gibt weitere Hinweise auf Vorstellungen von Macht und Herrschaft jener Zeit. So ist die Feststellung, dass mit der Gründung Karakorums die Grundlage für den Staat geschaffen wurde, bemerkenswert. Die Erforschung der Stadt im Sinne eines gezielt angelegten Herrschaftsinstruments spielt für das Teilprojekt eine prominente Rolle. Karakorum als erste Hauptstadt des mongolischen Weltreiches nimmt dabei eine Schlüsselfunktion ein. Das Potenzial der hier vorgestellten Quelle für die Analyse von Macht und Herrschaft und speziell für Strategien der Legitimation, die in einem Spannungsfeld zwischen ‚Konflikt‘ und ‚Konsens‘ verortet sind, wurden bisher nicht ausgeschöpft. Die Inschriftenaktivität unter Toghon Temür ist dabei ein lohnender Untersuchungsgegenstand, kann sie doch als Instrument gelten, die Herrschaft zu stabilisieren und die Verdienste des Herrschers propagandistisch hervorzuheben.

50 Aufschlussreich wäre eine diachrone Studie zum Inschriftenwesen während der Yuan-Dynastie, die den jeweiligen Aufstellungskontext berücksichtigen würde, um so den möglichen Zusammenhang zwischen Krisenzeiten und Inschriftenaktivität auf Grundlage einer besseren Datenlage zu diskutieren. 51 Vgl. Nicola Di Cosmo, Why Qara Qorum? Climate and Geography in the Early Mongol Empire, in: Archivum Eurasiae Medii Aevi 21 (2014/15), 67–78, bes. 69f. – Hans-Georg ˇ ingis-Chaan. Zum Gründungsmythos von Karakorum, in: Udo B. Hüttel, Die Stadt des C ˇ ingis Chaan und sein Erbe, Ulaanbaatar 2007, 284–296, bes. 286f. – Paul Barkmann (ed.), C Pelliot, Notes on Marco Polo I, Paris 1959, bes. 167.

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Quellenverzeichnis William of Rubruck, The Mission of Friar William of Rubruck. His Journey to the Court of the Great Khan Möngke 1253–1255, trans. by Peter Jackson. Introduction, Notes and Appendices by Peter Jackson with David Morgan, London 1990. Anastasius van den Wyngaert, Sinica Franciscana, 5 Bde., Bd. 1: Itinera et Relationes Fratrum Minorum Saeculi XII et XIV, Firenze 1929.

Literaturverzeichnis Sarah Allan, The Shape of the Turtle. Myth, Art, and Cosmos in Early China, Albany, NY 1991. Eva Becker, Die altmongolische Hauptstadt Karakorum. Forschungsgeschichte nach historischen Aussagen und archäologischen Quellen (Internationale Archäologie Studia honoraria 39), Rahden/Westfalen 2007. Jan Bemmann et al., A Stone Quarry in the Hinterland of Karakorum, Mongolia, with Evidence of Chinese Stonemasons, in: Journal of Inner Asian Art and Archaeology 6 (2011 (2015)), 101–136. Michael C. Brose, Uyghur Technologists of Writing and Literacy in Mongol China, in: T’oung Pao Second Series 91 (2005), 396–435. Hsiao Ch’i-ch’ing, Mid-Yüan Politics, in: Herbert Franke/Denis Twitchett (edd.), Alien Regimes and Border States, 907–1368, Cambridge 1994, 490–560. Francis W. Cleaves, The Sino-Mongolian Inscription of 1346, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 15 (1952), 1–123. John W. Dardess, Shun-ti and the End of Yüan Rule in China, in: Herbert Franke/Denis Twitchett (edd.), Alien Regimes and Border States, 907–1368, Cambridge 1994, 561– 586. Nicola Di Cosmo, Why Qara Qorum? Climate and Geography in the Early Mongol Empire, in: Archivum Eurasiae Medii Aevi 21 (2014/15), 67–78. Herbert Franke, Could the Mongol Emperors Read and Write Chinese?, in: Asia Major 3 (1952), 28–41. Herbert Franke, From Tribal Chieftain to Universal Emperor and God. The Legitimation of the Yüan Dynasty (Sitzungsberichte / Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 1978, Heft 2), München 1978. Herbert Franke, Tibetans in Yüan China, in: John D. Langlois Junior (ed.), China under Mongol Rule, Princeton 1981, 296–328. Herbert Franke, Chinesischer und tibetischer Buddhismus im China der Yüanzeit. Drei Studien (Studia Tibetica 3), München 1996. Christina Franken, Die „GROSSE HALLE“ von Karakorum. Zur archäologischen Untersuchung des ersten buddhistischen Tempels der alten mongolischen Hauptstadt (Forschungen zur Archäologie Außereuropäischer Kulturen 12), Wiesbaden 2015. James B. Hannay, Sex Symbolism in Religion, London 1922. Walther Heissig, Die Religionen der Mongolei, in: Giuseppe Tucci/Walther Heissig (edd.), Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart 1970, 296–428.

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ˇ ingis-Chaan. Zum Gründungsmythos von KarakoHans-Georg Hüttel, Die Stadt des C ˇ ingis Chaan und sein Erbe, Ulaanbaatar 2007, 284– rum, in: Udo B. Barkmann (ed.), C 296. Hans-Georg Hüttel/Ulambayar Erdenebat, Karabalgasun and Karakorum – Two Late Nomadic Urban Settlements in the Orkhon Valley. Karabalgasun und Karakorum – Zwei spätnomadische Siedlungen im Orchon-Tal. Khar Balgas ba Kharkhorum – Orkhony xöndiı˘ dekh khozhuu nüüdelchdiı˘n suur’shmal khoër khot, 2. Aufl., Ulaanbaatar 2011. Peter Jackson, The Mongols and the West, 1221–1410, Harlow 2005. Peter Jackson, The Mongol Age in Eastern Inner Asia, in: Nicola Di Cosmo/Allen J. Frank/Peter B. Golden (edd.), The Cambridge History of Inner Asia. The Chinggisid Age, Cambridge 2009, 26–44. Melanie Janßen-Kim, Schildkröte, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (ed.), Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen. Ausstellungskatalog, München 2005, 150. Sergeı˘ V. Kiselev, Kamennaia Cherepakha, „Bezhavshaia“ iz Karakoruma, in: Mongol’skiı˘ Arkheologicheskiı˘ Sbornik (1962), 65–67. Sergeı˘ V. Kiselev (ed.), Drevnemongol’skie goroda, Moscow 1965. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (ed.), Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen. Ausstellungskatalog, München 2005. Luo Chenglie 骆承烈, Shi tou shang de ru jia wen xian. Qufu de bei wen lu 石头上的儒家文 献-曲阜的碑文录 (Konfuzianische Dokumente auf Stein – Verzeichnis der Stelentexte in Qufu), Jinan 2001. Dietrich Mania, Archäologische Studien in der zentralen Mongolei, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 12 (1963), 847–888. Takashi Matsukawa, Kotwicz’s Contribution to Mongolian History. The Rediscovered 1347 Sino-Mongolian Inscription, in: Jerzy Tulisow et al. (edd.), In the Heart of Mongolia. 100th Anniversary of W. Kotwicz’s Expedition to Mongolia in 1912, Cracow 2012, 191–205. David O. Morgan, The Mongols, 2. Aufl., Malden, MA 2007. Ann Paludan, The Chinese Spirit Road. The Classical Tradition of Stone Tomb Statuary, New Haven/London 1991. Paul Pelliot, Notes on Marco Polo I, Paris 1959. Wilhelm Radloff, Atlas der Alterthümer der Mongolei, St. Petersburg 1892. Susanne Reichert, A Layered History of Karakorum. Stratigraphy and Periodization in the City Center (Bonn Contributions to Asian Archaeology 8), Bonn 2019. Susanne Reichert, Craft Production in the Mongol Empire. Karakorum and Its Artisans (Bonn Contributions to Asian Archaeology 9), Bonn 2020. Morris Rossabi, Khubilai Khan. His Life and Times, Berkeley/Los Angeles/London 1988. Morris Rossabi, The Reign of Khublai Khan, in: Herbert Franke/Denis Twitchett (edd.), Alien Regimes and Border States, 907–1368, Cambridge 1994, 414–489. Klaus Sagaster, Die chinesisch-mongolische Inschrift von 1346 aus Erdeni Joo, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (ed.), Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen. Ausstellungskatalog, München 2005, 150–152.

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Michel Soymie, Die Mythologie der Chinesen, in: Pierre Grimal (ed.), Mythen der Völker, 3 Bde., Bd. 2. Perser, Inder, Japaner, Chinesen, Frankfurt a. Main 1967, 261–303. Sören Stark, Aspects of Elite Representation among the Sixth- and Seventh-Century Türks, in: Nicola Di Cosmo/Michael Maas (edd.), Empires and Exchanges in Eurasian Late Antiquity. Rome, China, Iran, and the Steppe, ca. 250–750, Cambridge 2018, 333– 356. David C. Wright, Was Chinggis Khan Literate?, in: Studia Orientalia 87 (1999), 305–312.

Felix Bohlen

Das ›Guoyu‹ 國語 – ein frühchinesischer Fürstenspiegel

Teilprojekt ›Herrschaftssicherung durch Konsensorientierung: Die Institutionalisierung von Kritik in China von der Antike bis in die frühe Kaiserzeit‹ (Leitung: Prof. Dr. Christian Schwermann, Sinologie)

Der vorliegende Beitrag stellt eine Einführung zum untersuchten Quellentext dar – namentlich dem ›Guoyu‹ 國語 (»Gespräche/Reden aus den Ländern«). Zwei Aspekten wird im Folgenden schwerpunktmäßig Rechnung getragen: Einerseits sollen die grundlegenden Kategorien einer jeden (kritischen) Einführung zur Quelle berücksichtigt werden – Inhalt, Form, Datierung, Autor(en) bzw. Kompilator(en)schaft und dergleichen. Andererseits ist es in einem weiteren Schritt aber selbstredend unabdingbar, gewisse ›traditionelle‹ Ansichten, die wir herausarbeiten werden, im Hinblick auf neuere Forschungserkenntnisse und -ansätze neu zu bewerten, womit schlussendlich das Fundament für die eigenen Untersuchungsprämissen bereitet wird. Es sei an dieser Stelle aber betont, dass die präsentierte Abhandlung keinen Versuch darstellt, eine minutiöse Untersuchung der Textgeschichte vorzulegen – das kann nicht das Ziel sein; denn so paradox es klingen mag: Mit dem Voranschreiten der Forschung und damit einhergehenden Neubeurteilungen der antikchinesischen Textkultur wird es immer schwieriger, die genannten Basiskategorien, auf die hin man eine Textquelle für gewöhnlich befragt, mit ›Fakten‹ zu füllen. David Schaberg behauptet in seiner Darlegung zur Genese des ›Guoyu‹ (und des ›Zuo zhuan‹ 左傳 [»Überlieferungen des Herrn Zuo«]) gar, dass es praktisch unmöglich sei, eine Traditionsquelle der Prä-Han-Zeit 漢 (bis 206 v. Chr.) genau zu datieren, geschweige denn einen konkreten Autor dingfest zu machen.1 Aus der Not kann aber auch eine Tugend gemacht werden, wie David Schaberg beispielsweise daran illustriert, welche Problemstellungen gelöst werden können, wenn man hin1 Vgl. David Schaberg, A Patterned Past. Form and Thought in Early Chinese Historiography, Cambridge/London 2001, 315.

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sichtlich der Frage nach der Textgenese (bzw. Kompilation) des ›Guoyu‹ den Faktor ›mündliche Überlieferung‹ wieder stärker mitberücksichtigt.2 Ergänzend werden auch neuere Erkenntnisse zur Manuskriptkultur des frühen China einen Beitrag dazu leisten, den Entstehungsprozess des ›Guoyu‹ neu bzw. differenzierter einzuschätzen. Diesem Ansatz ist die vorliegende Arbeit verpflichtet. Da die entsprechende Forschungsliteratur kaum noch überschaubar ist, muss es hier genügen, sich auf Wesentliches zu beschränken und anhand von aussagekräftigen und repräsentativen Abhandlungen der chinesischen Tradition und sinologischen Studien des letzten Jahrhunderts die großen Forschungslinien nachzuzeichnen, die den Weg bereiteten, das ›Guoyu‹ so zu lesen, wie es sich die eigene Arbeit vornimmt: als einen didaktisch-anekdotischen Funktionstext – einen frühchinesischen Fürstenspiegel.

1.

Der Text: Genre und Autorschaft

Beginnen wir mit der wohl naheliegendsten Frage: Was ist das ›Guoyu‹? Der Titel »Gespräche/Reden aus den Ländern« wird gemeinhin so verstanden,3 dass Reden (im Sinne rhetorischer Vorträge) von bzw. Gespräche (yu 語) zwischen Angehörigen der herrschenden Elitenschicht präsentiert werden. Die doppeldeutige Übersetzung rührt daher, dass in nicht wenigen Textpassagen eine diegetische Figur einer anderen einen Vortrag hält – deshalb ›Reden‹; in anderen Szenen sind es hingegen Dialoge zwischen mindestens zwei Figuren der erzählten Welt – deshalb ›Gespräche‹. Beide Begriffe werden im Folgenden austauschbar gebraucht. Die präsentierten ›Reden‹ finden in diversen Kontexten statt: Remonstrationen, Konsultationen, Prophezeiungen, Traumdeutungen, Geheimabsprachen, Diskussionen, Exempla u. v. m.; die inhaltliche Palette umfasst Themen wie Herrschaftstechniken, Kriegsführung, Ritual, Heiratspolitik, Verwaltungswesen etc. Gemeinsam ist allen ›Reden‹, dass sie zwischen Herrschaftsträgern und ihren subalternen Würdenträgern stattfinden. Letztere geben ihren jeweiligen Fürsten bzw. Vorgesetzten Ratschläge an die Hand, die sie rhetorisch-argumentativ untermauern, um die Adressaten bei der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu unterstützen, zumeist indem die Würdenträger präventiv einschreiten, um leichtsinniges Herrscherhandeln zu unterbinden. In anderen Szenen werden sie aber auch proaktiv durch Herrschaftsträger in den Entscheidungsprozess eingebunden. Der konsultativ-beratende Charakter der ›Reden‹ ist ein prägendes Ele2 Schaberg 2001, 320–324, bes. 321. 3 Es sind keine erhellenden Erklärungen zum Texttitel überliefert, sei es durch Zeitgenossen oder den/die Urheber. Die Titelerklärung ist daher eine Interpretation. Ferner muss berücksichtigt werden, dass der Titel ›Guoyu‹ wohl eher auf spätere Kompilatoren zurückgeht; dazu mehr im Verlauf.

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ment. Hinsichtlich ihrer literarischen Formung zeichnen sich die Narrative durch die formale Eigenheit aus, dass sie von Figurenrede dominiert sind – oder genauer: von zitierter Figurenrede. Die Erzählung von Ereignissen ist demgegenüber eher nachrangig, erfüllt aber eine nicht minder wichtige Funktion, wenn es nämlich um die rückschauende Beurteilung des diegetischen Herrscherhandelns geht. Der andere Teil des Titels – die ›Länder‹ (guo 國) – meint die im frühen China (bis 221 v. Chr.) existierenden Länder. In der frühen Phase ihrer Gründung (Westliche Zhou-Dynastie 西周, 1045–771 v. Chr. und Chunqiu-Periode 春秋, d. i. die Zeit der ›Frühlings- und Herbstannalen‹, 771–5. Jahrhundert v. Chr.) waren die meisten Länder Unterherrschaften des herrschenden Königshauses der Zhou 周. Eingebunden in ein Geflecht von Familien- und Verwandtschaftsbündnissen, waren die Länder abhängig von dem an der Spitze eines segmentären Herrschaftsverbandes stehenden Königshaus: sowohl wegen dessen religiös-ritueller Hegemonie im Rahmen der Familienstammordnung (zongfa 宗 法) und des damit verbundenen Ahnenkults als auch auf Grund irdisch-profaner Machtfaktoren wie Militärgewalt und Ressourcenverteilung. Mit der erzwungenen Flucht des Königshauses in den Osten des Reiches 771 v. Chr. und dem damit einhergehenden Autoritätsverlust beschleunigte sich die Tendenz, dass jene Unterherrschaften sich mit der Zeit selbstständig machten und nur noch nominell unter der Herrschaft des Zhou-Königshauses standen. Eben aus diesen Unterherrschaften oder Ländern und ihren Herrscher- bzw. Elitenschichten sollen die im ›Guoyu‹ überlieferten Reden stammen. Der Titel steht im direkten Zusammenhang mit der Makrostruktur des ›Guoyu‹: Die einzelnen Kapitel sind nach den jeweiligen Ländern betitelt, aus denen die Reden stammen. Konkret sind das die Länder Zhou 周, das heißt die königliche Domäne (Teile 1–3), Lu 魯 (1–2), Qi 齊 (1), Jin 晉 (1–9), Zheng 鄭 (1), Chu 楚 (1–2), Wu 吳 (1) und Yue 越 (1–2).4 Innerhalb einer Landeskategorie sind die jeweiligen Gesprächsszenen und deren historischer Kontext, in den sie eingebettet sind, seriell, auf Grundlage ihrer zeitlichen Chronologie, angeordnet.5 Die meisten Gesprächsszenen sollen sich in einer bestimmten historischen Situation ereignet haben. Einführende Informationen der Erzählinstanz benennen mitunter ein konkretes Jahr, einen konkreten Ort, involvierte Personen und die relevanten historischen Umstände. Dank tradierter Geschichtsschreibung – zu-

4 Es sind somit längst nicht alle Länder vertreten, die in der Prä-Qin Zeit existierten; bspw. fehlen Qin 秦, Yan 燕, Song 宋 u. v. m. 5 Es sei hier bereits darauf aufmerksam gemacht, dass diese Form und Anordnung der Gesprächsepisoden nach ihrer regionalen Herkunft und zeitlichen Chronologie wohl das Werk späterer Kompilatoren war. Wie später gezeigt wird, war das ursprüngliche Format wohl ein anderes – dazu im Verlauf mehr.

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vorderst der ›Frühlings- und Herbstannalen‹ 春秋6 – lassen sich bestimmte Redesituationen in einem bestimmten historischen Ereigniszusammenhang verorten. Aber ob die mitunter sehr ausufernden und rhetorisch ausgefeilten Reden, so wie sie sich im ›Guoyu‹ darstellen, tatsächlich stattgefunden haben, geschweige denn in dem uns überlieferten Wortlaut, lässt sich mitnichten abschließend klären. Es scheint – wie im Folgenden auch versucht wird, zu illustrieren – angemessener, davon auszugehen, dass viele der Reden in der uns vorliegenden Form das Produkt späterer Zeit waren. Dem anekdotischen Ursprungsmaterial, das zum ›Endprodukt‹ ›Guoyu‹ zusammengesetzt wurde, ging ein langer Prozess mündlicher Tradierung und ungleichzeitiger schriftlicher Fixierung voraus. Kurzum: Die Authentizität der Reden ist fraglich. Zahlreiche Gesprächssituationen und deren jeweiliger historischer Kontext im ›Guoyu‹ haben Parallelen mit solchen, die in der Quelle ›Zuo zhuan‹ 左傳 überliefert wurden – einem Text, der über die historischen Hintergründe zu den Ereignissen in den ›Frühlings- und Herbstannalen‹ 春秋 erzählt. Beide Texte decken in der Darstellung von Ereignissen in etwa denselben historischen Zeitraum ab.7 Zuoqiu Ming 左丘明8 (trad. 6.–5. Jahrhundert v. Chr.), der traditionell als individueller ›Autor‹ des ›Zuo zhuan‹ galt, wurde auch die Urheberschaft des ›Guoyu‹ zugesprochen. Wie kam es dazu? Die Hofschreiber Sima Tan 司馬談 (165–110 v. Chr.) und Sima Qian 司馬遷 (145?–90 v. Chr.) der Westlichen Han-Dynastie 西漢 (207 v.–9 n. Chr.) stützen sich in ihrem historiographischen Opus ›Shiji‹ 史記 (»Aufzeichnungen der Hofschreiber«, dat. 109–91 v. Chr.)9 unter anderem in großem Umfang auf die Narrative beider Werke.10 6 Annalen des Landes Lu 魯, die den Zeitraum von 772–481 v. Chr. abdecken. Ab hier auch als ›Annalen‹ abgekürzt. 7 Alle Parallelstellen sind in Sun Haibo 孫海波 gelistet, vgl. Ders., Guoyu zhenwei kao 國語真 僞攷, in: Yanjing xuebao 燕京學報 16 (1934), 170–193, hier 176–180. 8 Eine andere geläufige Schreibweise des Namens ist Zuo Qiuming. Der Nachname muss aber eigentlich Zuoqiu gelautet haben. Wie andere Familiennamen geht dieser auf eine alte Flurmarke zurück: den »Hügel zur Linken«. Die im Titel des ›Zuo zhuan‹ überlieferte Form des Familiennamens ist falsch. Vgl. auch den entsprechenden Eintrag im Wörterbuch ›Hanyu da cidian‹ (漢語大詞典), wo zuo qiu 左丘 als komplexer (zweisilbiger) Familienname ausgewiesen ist (vgl. Hanyu da cidian bianji weiyuanhui 漢語大詞典編輯委員會 et al. (edd.), Zuoqiu 左丘, in: Hanyu da cidian 漢語大詞典 2 (2011), 2705). Zur Debatte rund um die Namensform siehe auch Zhang Yiren 張以仁, Cong Sima Qian de yijian kann Zuoqiu Ming yu Guoyu de guanxi 從司馬遷的意見看左丘明與國語的關係, in: Ders., Chunqiu shi lunji 春秋史論集, Taipei 1993b (1. Auflage 1990), 61–104, hier 71–82; sowie Xu Renpu 徐仁 甫, Zuo zhuan shuzheng 左傳疏證, Beijing 2014, 6–11. 9 Sima Qian 司馬遷, Shiji 史記 (Aufzeichnungen der Hofschreiber), Beijing 1963. 10 Zur Kompilation des ›Shiji‹ siehe Hans van Ess, Politik und Geschichtsschreibung im alten China. Pan-ma i-t’ung 班馬異同 (Lun Wen – Studien zur Geistesgeschichte und Literatur in China), Harrassowitz 2014; und Christian Schwermann, Historisches Denken im Shı˘ jì, in: Stephan Conermann (ed.), Wozu Geschichte? Historisches Denken in vormodernen historiographischen Texten (Bonner Asienstudien 18), Berlin 2017, 37–51, hier 39–44. Dass

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予觀春秋、國語,其發明五帝德、帝系姓章矣,顧弟弗深考,其所表見皆不虛。 »Ich schaute in die ›Frühlings- und Herbstannalen‹ und das ›Guoyu‹. Sie erhellen die Tugenden der Fünf Urkaiser und deren Genealogien aufs Deutlichste! Auch wenn ich sie bislang noch nicht tiefergehend untersucht habe, scheint das, was sie preisgeben, nicht einfach erfunden zu sein.«11

Den Hofschreibern lagen beide Texte nachweisbar vor, aus denen sie mitunter historische Informationen für die entsprechende Periode zogen, um daraus ihr Geschichtswerk zu formen. Im »Nachwort des Großschreibers« (›Taishi gong zixu‹ 太史公自序) wird dann auch erstmals Zuoqiu Ming als Urheber des ›Guoyu‹ genannt. Im relevanten Absatz erzählt Sima Qian davon, wie er während der Auswertung der für sein Projekt relevanten Quellen ins Gefängnis geworfen wurde. Er bedenkt die krisenhaften Umstände, unter denen die bekannten kanonischen Traditionstexte aus alter Zeit in ähnlicher Weise wie sein eigenes Werk produziert worden sein sollen: 七年而太史公遭李陵之禍,幽於縲紲 […] ,退而深惟曰:「[…]昔西伯拘羑里, 演周易;孔子戹陳蔡,作春秋;屈原放逐,著離騷;左丘失明,厥有國語 […] 。」 »Nach sieben Jahren widerfuhr dem Großschreiber (d. h. mir, Sima Qian) das Unglück der Li Ling[-Affäre] und ich wurde eingesperrt und in Ketten gelegt. [Der Großschreiber] zog sich zurück und ging in sich: ›Einst, als der Herr des Westens (d. i. König Wen von Zhou 周文王) in You Li eingesperrt war, erweiterte er das ›Buch der Wandlungen‹; als Konfuzius zwischen Chen und Cai feststeckte, schuf er die ›Frühlings- und Herbstannalen‹; als Qu Yuan vertrieben wurde, verfasste er ›Li Sao‹; Zuoqiu (i. e. Zuoqiu Ming) verlor sein Augenlicht, woraufhin er das ›Guoyu‹ hervorbrachte […].‹«12

Sima Qian behauptet, dass Zuoqiu Ming das ›Guoyu‹ schuf, nachdem er erblindet war. Aus seiner Erzählung ist freilich nicht unmittelbar zu schließen, wie das ›Guoyu‹ das Licht der Welt erblickt haben soll – war es eine unvollendete Kompilation oder Editionsarbeit? Hat er es diktiert und aufschreiben lassen? Oder soll er den Text tatsächlich selbst aus der Taufe gehoben haben? Ganz gleich, welches Autorenkonzept Sima Qian bei seiner Schilderung im Sinne hatte: Zuoqiu Ming soll individueller Urheber des ›Guoyu‹ gewesen sein. Dieses Narrativ wurde aufgegriffen und erweitert. In der Dynastiegeschichte der Westlichen Han-Dynastie – dem ›Hanshu‹ 漢書 (»Dokumente der Han«)13 – erklärt der verantwortliche Historiker Ban Gu 班固 (32–92) in seiner abschließenden ›Bewertung‹ (zan 贊) zu Sima Qian in dessen Biographie: ›Guoyu‹ und ›Zuo zhuan‹ (oder zumindest Teile davon) den Hofschreibern nachweisbar vorlagen, zeigte bereits Wei Juxian 衛聚賢, Guoyu de yanjiu 國語的研究, in: Ders., Gushi yanjiu 古史研究, Shanghai 1928, 161–260, hier bes. 164–166. 11 Vgl. Shiji, 01.46. Die Übersetzungen in dieser Arbeit sind die des Autors. 12 Shiji, 130.3300. 13 Ban Gu 班固, Hanshu 漢書 (Dokumente der Han), Beijing 1964.

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自古書契之作而有史官 […]。及孔子因魯史記而作春秋,而左丘明論輯其本事以 為之傳,又篹異同為國語 […]。故司馬遷據左氏、國語,采世本、戰國策,述楚 漢春秋,接其後事[…]。 »Seit der Schöpfung der Schrift im Altertum gab es das Amt des Schreibers […]. Konfuzius schuf die ›Frühlings- und Herbstannalen‹, indem er sich auf die Aufzeichnungen der Schreiber in Lu stützte; und Zuoqiu Ming kompilierte Berichte zu den zugrundeliegenden Ereignissen (in den ›Annalen‹) und machte aus ihnen Überlieferungen (zhuan 傳); des Weiteren schuf er das ›Guoyu‹, indem er Abweichendes und Ähnliches [in Bezug auf die erwähnten Überlieferungen zu den Ereignissen in den ›Annalen‹] kompilierte […]. Deshalb stützte sich Sima Qian auf ›Zuoshi‹ (d. i. ›Zuo zhuan‹) und ›Guoyu‹, bediente er sich der ›Annalen der Fürstenhäuser‹ (›Shiben‹ 世本) und der ›Strategien der Streitenden Reiche‹ (›Zhanguo ce‹ 戰國策), gab er die ›Annalen von Chu und Han‹ (›Chu Han chunqiu‹ 楚漢春秋) wieder, und fügte Berichte über spätere Ereignisse (solche die den Zeitraum nach den genannten Quellen abdecken) an.«14

In der entsprechenden Bibliographie katalogisierter Texte am Han-Hof ist denn auch ein als »Guoyu« 國語 betitelter Text, bestehend aus 21 pian 篇, gelistet.15 Aus dieser Darstellung geht hervor, dass bereits Ban Gu davon ausging, dass Zuoqiu Ming weniger der Autor des ›Zuo zhuan‹ wie auch des ›Guoyu‹ war als vielmehr ihr Urheber im Sinne eines Kompilators, der bereits existierendes Material (shi 事, also »Berichte [über historische Ereignisse]«)16 redigierte und daraus ein historisches Narrativ konstruierte. Abgesehen davon ist den Zeitgenossen offenkundig nicht entgangen, dass durchaus konträre und variierende ›Berichte‹ zu den Ereignissen in den ›Annalen‹ existierten, die sich bisweilen nicht so einfach miteinander in Einklang bringen ließen.17 Nach der o. g. Er14 Vgl. Hanshu, 32.2737. 15 Vgl. Hanshu, 30.1714. Daneben ist noch ein uns unbekannter Text namens ›Xin Guoyu‹ 新國 語 (wörtl. »Neues ›Guoyu‹«) aus 54 pian bestehend katalogisiert. 16 Zu diesem Konzept von shi 事 siehe Christian Schwermann, Anecdote Collections as Argumentative Texts: The Composition of the Shuoyuan, in: Paul van Els/Sarah A. Queen (edd.): Between History and Philosophy. Anecdotes in Early China, Albany 2017, 147–192, hier 176–178 (Endnote 34). 17 Ein Beispiel zur Illustration, was mit »Ähnlichem« (tong 同) im Kontext divergierender ›Berichte‹ zu den ›Annalen‹-Ereignissen bedeuten könnte: Die ›Annalen‹ berichten vom Ereignis »Sommer, Di-Reiterstämme attackierten das Land Zheng.« 夏,狄伐鄭 (Chunqiu, Xi 24.2, 411 [d. i. 636 v. Chr.], siehe Chunqiu Zuozhuan zhu (xiuding ben) 春秋左傳注 (修訂本) (Die ›Frühlings- und Herbstannalen‹ mit den Überlieferungen des Herrn Zuo und Kommentar), ed. und komm. Yang Bojun 楊伯峻, Beijing 2009); beide Traditionen halten nun erhellende, aber stellenweise voneinander abweichende Berichte über die Hintergründe des Angriffs der Di-Barbaren bereit (Zuo zhuan, Xi 24.2, 419– 428; Guoyu, 2.44–49, vgl. Guoyu jijie (xiuding ben) 國語集解(修訂本) (Das ›Guoyu‹ mit gesammelten Erklärungen), ed. Xu Yuangao 徐元誥, Beijing 2002). Der Bericht im ›Guoyu‹ datiert die Ereignisse aber in das 13. Jahr des Xiang-Königs von Zhou 周襄王 (d. i. Xi 20). Dies steht offensichtlich im Widerspruch zu dem, was in den ›Annalen‹ verzeichnet wurde (nämlich Xi 24). So ein Fall mag möglicherweise als etwas von den

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zählung konstituierten solche Berichte, die nicht Eingang in die ›Tradition‹ (zhuan 傳) zu den ›Annalen‹ fanden, schlussendlich das ›Guoyu‹. Dieses Narrativ war dem Prestige des ›Guoyu‹ nicht zuträglich: Es wurde als ein ›Nebenprodukt‹ rezipiert, das im Zuge der Arbeit am ›Zuo zhuan‹ entstanden war. Letzterer Text wurde zu einer orthodoxen exegetischen Tradition der kanonischen ›Frühlings- und Herbstannalen‹ hochgestuft. Das hatte die Konsequenz, dass das ›Guoyu‹ schlicht als eine nachrangige Überlieferungstradition rezipiert wurde. Dem Text haftete das Etikett einer »äußeren Tradition« (wai zhuan 外傳) an, wohingegen das ›Zuo zhuan‹ als »innere Tradition« (nei zhuan 内傳) galt. Die Bezeichnung »äußere Tradition« findet sich denn auch im einzigen überlieferten Vorwort zum ›Guoyu‹ aus dem Pinsel des Kommentators Wei Zhao 韋昭 (gest. 273) wieder.18 Hierin wird Zuoqiu Ming abermals als Urheber genannt: 其明識高遠,雅思未盡,故復採錄前世穆王以來 […],以為《國語》。其文不主 於經,故號曰「外傳」 »Seine (Zuoqiu Mings) Klarsicht und sein Wissen waren weit und umfassend, doch seine guten Ideen waren (mit der Vollendung des ›Zuo zhuan‹) noch nicht erschöpft, weshalb er abermals auf Aufzeichnungen aus vorangehender Zeit zurückgriff, die mit König Mu von Zhou einsetzten […].19 Daraus machte [er] das ›Guoyu‹. Dessen Text (der des ›Guoyu‹) orientiert sich nicht an den [Einträgen im] Kanon [der ›Annalen‹]. Deshalb heißt man [das ›Guoyu‹] ›äußere Tradition‹.«20

Diese Darstellung, durch die sich die Ansicht verfestigte, dass Zuoqiu Ming Urheber des ›Nebenproduktes‹ ›Guoyu‹ gewesen sei, das aber in puncto Sprache, ›Annalen‹ »Abweichendes« (yi 異) wahrgenommen worden sein. Hierbei sei auf die umfangreiche Studie von Zhang Yiren 張以仁verwiesen, der Abweichungen und Variationen von den Berichten in beiden Texten listet, vgl. Ders., Lun Guoyu yu Zuo zhuan de guanxi 論國語與左傳的關係, in: Ders., Guoyu Zuo zhuan lunji 國語左傳論 集, Taipei 1980b, 19–108, bes. 41–89. Eine weitere Studie, in der die Berichte zu bestimmten historischen Ereignissen verglichen werden, ist Gu Lisan 顧立三, Zuo zhuan yu Guoyu zhi bijiao yanjiu 左傳與國語之比較研究, Taipei 1983. 18 Es scheint, dass diese Bezeichnung aber bereits in der Han-Zeit Verbreitung fand. Im ›Hanshu‹ wird beispielsweise an einer Stelle ein Zitat aus einem sog. ›Chunqiu wai zhuan‹ 春 秋外傳 in Anschlag gebracht, um als Autorität in einer Ritualdebatte herzuhalten (ebd., 43.3129); m. E. möglicherweise eine Anspielung auf den Inhalt der Remonstration in Guoyu, 1.1–9, hier bes. 1.7. Ab der Sui-Zeit 隨 (581–618) findet sich dieser Titel dann auch in entsprechenden Literaturkatalogen: In der ›Dynastiegeschichte der Sui‹ (Sui shu 隋書) findet man denn auch sechs Editionen, die den Titel ›Äußere Tradition zu den Annalen, Guoyu‹ (Chunqiu wai zhuan Guoyu 春秋外傳國語) tragen (siehe Wei Zheng 魏徵/Linghu Defen 令 狐德棻, Sui shu 隋書 (Dokumente der Sui), Beijing 1973, 32.932). 19 Die allererste Textpassage im ›Guoyu‹ ist eine Anekdote, in der der Mu-König von Zhou 周穆 王 als Protagonist fungiert (ebd., 1.1–9). 20 Vgl. dazu das Vorwort: Wei Zhao 韋昭, Guoyu jiexu 國語解序 (Vorwort zum ›Guoyu‹), in: Guoyu jijie (xiuding ben) 國語集解(修訂本), ed. Xu Yuangao 徐元誥, Beijing 2002, 594– 595, hier 594.

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Form, Inhalt und Akkuratesse nicht an das ›Zuo zhuan‹ heranreiche, sollte die Rezeption des Textes für lange Zeit prägen.21 Im Übrigen sei darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Urheber-Narrativ bis heute weiterhin nachwirkt: Xia Dekao 夏德靠 (2015!) spricht sich in seiner Abhandlung beispielsweise dafür aus, Zuoqiu Ming zwar nicht als individuellen ›Autor‹ zu betrachten, ihn aber als verantwortlichen Kompilator des ›Guoyu‹ anzuerkennen;22 Zhang Jusan 張居三 (2008) hält gar die oben erörterte Darstellung Sima Qians für glaubwürdig.23 Demgegenüber formierte sich aber auch schon früh Zweifel an der angeblichen Urheberschaft Zuoqiu Mings. Im Subkommentar des Kong Yida 孔穎達 (574–648) zum ›Zuo zhuan‹ ist überliefert, dass schon Exegeten wie Zheng Xuan 鄭玄 (127–200) und Fu Xuan 傅玄 (217–278) auf Diskrepanzen zwischen Ereignisdarstellungen in beiden Texten aufmerksam machten. Letzterer schloss hieraus gar, dass Zuoqiu Ming nicht als Urheber des ›Guoyu‹ in Frage kommen kann:

21 Zur (ungerechtfertigten) Kritik am ›Guoyu‹ siehe Zhang Yiren 張以仁, Cong Guoyu yu Zuo zhuan benzhi shang de chayi shilun houren dui Guoyu de piping 從國語與左傳本質上之差異 試論後人對於國語的批評, in: Ders., Chunqiu shi lunji 春秋史論集, Taipei 1993a (1. Auflage 1990), 105–182, bes. 116–125 zu einer Anthologie einzelner Kritiken. Ein prominenter Kritiker war Liu Zongyuan 柳宗元 (773–819) in seinem Werk mit dem programmatischen Titel ›Fei Guoyu‹ 非國語 (»Kritik am ›Guoyu‹«). Im Vorwort heißt es: »Was das ›Guoyu‹ des Herrn Zuo betrifft, so ist sein Stil tiefsinnig und ungewöhnlich und wurde von den vergangenen Generationen ohne Unterlass hochgeschätzt. Aber seine Darstellungen sind häufig irreführend und abwegig und orientieren sich nicht [am rechten Weg] der Weisen. Ich befürchte, dass den Gelehrten unserer Zeit [ihr Urteilsvermögen] für das Richtige und das Falsche abhandenkommt, indem sie sich in seinen Worten verlieren – [deshalb] schuf [ich] die ›Kritik am Guoyu‹.« 左氏 《國語》,其文深閎傑異,固世之所耽嗜而不已也。而其說多誣淫,不概於聖。餘懼世 之學者溺其文採而淪於是非 […] ,作《非國語》 (zitiert nach: Liu Zongyuan 柳宗元, Fei Guoyu 非國語 (Kritik am ›Guoyu‹), edd. Hunan sheng fajia zhuzuo zhushi yanjiu ban 湖南省法家著作注釋研究班/Liu Zongyuan Fei Guoyu pingzhu zubian 柳宗元非國語評注組編, Liu Zongyuan ›Fei Guoyu‹ pingzhu 柳宗元《非國語》評注, Hunan 1976, 1–2. Wird hier zumindest dem Stil in gewisser Weise noch etwas abgewonnen, so werden in einer Debatte im ›Zhuzi yulei‹ 朱子語類 (»Gesammelte Gespräche von Meister Zhu [und seinen Schülern]«; dat. 1270) andere Töne angeschlagen: »Es gibt Texte aus Epochen, in denen Ordnung herrscht, Texte aus Epochen des Niedergangs und Texte aus chaotischen Epochen: Die ›Sechs Klassiker‹ sind Texte einer Epoche der Ordnung; aber etwas so Absurdes und Verworrenes wie das ›Guoyu‹ ist wahrlich bloß ein Text einer Epoche des Niedergangs. Angesichts solch gearteter Reden und Debatten dieser Zeit ist es nur angemessen, dass die Zhou es nicht vermochten, wieder aufzuerstehen.« 有治世之文,有衰世之文,有亂世之文。六經,治世之文也。如國語委靡繁絮,真衰世 之文耳。是時語言議論如此,宜乎周之不能振起也。(Zhuzi yulei 朱子語類 [Gesammelte Gespräche von Meister Zhu (und seinen Schülern)], komp. Li Jingde 黎靖德, Beijing 1986, 139.3297). 22 Xia Dekao 夏德靠, Guoyu xushi yanjiu 《國語》敘事研究, Beijing 2018, hier 35–40, 47–58, bes. 58. 23 Zhang Jusan 張居三, Guoyu yanjiu 《國語》研究, Changchun 2008, 25–31.

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經據魯史策書,傳采魯之簡牘,魯之所書,必是依實。國語之書,當國所記,或 可曲筆直已, 辭有抑揚, 故與左傳異者多矣。 鄭玄云: 不可以國語亂周公所定 法。傳玄云:國語非丘明所作,凡有共說一事而二文不同,必國語虛而左傳實, 其言相反,不可強合也。 »Die ›Annalen‹ gründen auf den Aufzeichnungen und Dokumenten der Schreiber aus Lu. Die ›Überlieferung‹ (= ›Zuo zhuan‹) stützt sich auf die Schriften auf Bambusleisten und Holztäfelchen aus Lu. Das, was in Lu dokumentiert wurde, beruht gewiss auf Tatsachen. Das im ›Guoyu‹ Dokumentierte ist hingegen von den in den jeweiligen Ländern Herrschenden aufgezeichnet worden. Da ging es an, dass manches zurechtgebogen wurde, um sich selbst besser dastehen zu lassen, und dass manche Aussagen Eigenlob enthalten. Deshalb sind die Unterschiede zum ›Zuo zhuan‹ so zahlreich! Zheng Xuan sagte: ›Es ist nicht angängig, mit dem ›Guoyu‹ das, was der Herzog von Zhou (Zhou gong 周公) als Norm gesetzt hat, in Unordnung zu bringen.‹ Fu Xuan sagte: ›Das ›Guoyu‹ ist nicht von Zuoqiu Ming geschaffen worden. Wann immer beide Texte über [dasselbe] Ereignis berichten, weichen sie voneinander ab. Gewiss sind die Darstellungen im ›Guoyu‹ erfunden, während das ›Zuo zhuan‹ den Tatsachen verpflichtet ist. Ihre Aussagen widersprechen einander und dürfen nicht mit Gewalt in Übereinstimmung gebracht werden.‹«24

Die Debatte über die Urheberschaft und das Verhältnis beider Texte zueinander brach in den kommenden Epochen immer wieder auf.25 Wichtige Impulse, die eine eher textkritische als exegetische Betrachtungsweise forcierten und zu einer kritischen Neubeurteilung der klassischen Texte führten, hatten im 19. Jahr24 Aus: Shisanjing zhushu 十三經注疏, Chunqiu Zuo zhuan zhengyi 春秋左傳正義, Ai 13, 2171; zitiert nach Shisanjing zhushu 十三經注疏, ed. Ruan Yuan 阮元 (Die Dreizehn Klassiker mit Kommentar und Subkommentar), Beijing 1980. Der Kommentar bzw. die Kommentare beziehen sich auf das Ereignis eines Bundschwur-Rituals (meng 盟), das in beiden Quellen aber unterschiedlich dargestellt wird (vgl. Zuo zhuan, Ai 13.4, 1677–1679; resp. Guoyu, 19.548–553, bes. 553). Augenscheinlich wird der Darstellung des Rituals im ›Zuo zhuan‹ Vorrang eingeräumt (daher auch die Anmerkung seitens Zheng Xuan, der in der Ritualdarstellung im ›Zuo zhuan‹ die normative Mustervorlage sieht, die im ›Guoyu‹ hingegen als Abweichung von der Norm bewertet). Fu Xuans Argument, dass Zuoqiu Ming nicht als Autor des ›Guoyu‹ betrachtet werden könne, speist sich vornehmlich aus exegetischen Gesichtspunkten. 25 Stellvertretend sei hier noch die Diskussion in ›Wenxian tongkao‹ 文獻通考 (»Umfassende Untersuchung von literarischen Texten«), kompiliert von Ma Duanlin 馬端臨 (1245–1322), erwähnt. Darin werden Zweifel an der angeblichen Urheberschaft Zuoqiu Mings geäußert: »Seitdem in den ›[Bibliographischen] Aufzeichnungen‹ (d. i. der Katalog zum Literaturbestand im ›Hanshu‹ [i. e. ›Yiwen zhi‹ 藝文志]) Ban Gu behauptete, dass [das ›Guoyu‹] von Zuoqiu Ming verfasst wurde, wurde es gemeinsam mit dem ›Chunqiu zhuan‹ (d. i. ›Zuo zhuan‹) geführt und ›äußere Tradition‹ genannt. Wenn man nun beide Texte untersucht, so gibt es in ihren Darstellungen mancherlei Diskrepanzen und ähneln sie einander nicht im Hinblick auf Form und Stil, auch wenn sie sich (inhaltlich) gelegentlich überschneiden. Das bedeutet, dass sie gewiss nicht aus der Hand einer einzelnen Person stammen.« 自班固 《志》言左丘明所著, 至今與《春秋傳》並行, 號為《外傳》。 今考二書, 雖相出 入,而事辭或多異同,文體亦不類,意必非出一人之手也。(vgl. Wenxian tongkao 文 獻通考 [Umfassende Untersuchung von literarischen Texten], ed. Ma Duanlin 馬端臨, Beijing 2011, 139.5413).

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hundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder vermehrt Konjunktur.26 Stellvertretend hierfür seien die kritischen Beobachtungen von Cui Shu 崔述 (1740–1816) zitiert, die den Stand der Diskussion in der ausgehenden Kaiserzeit gut zusammenfassen: 《史記自序》云: 「左邱失明, 厥有國語。 」由是世儒皆謂《國語》與《春秋 傳》為一人所撰。東漢之儒家題之曰《春秋外傳》。余按左傳之文年月井井,事 多實錄。 而國語荒唐誣妄, 自相矛盾者甚多。 左傳紀事簡潔措詞亦多體要。 而 《國語》之詞支蔓, 冗弱無骨。 斷不出一人之手明甚。 且《國語》周、 魯多平 衍,晉、楚多尖穎,吳、越多恣放。即《國語》亦非一人之所為也。 »Im ›Nachwort des Großschreibers‹ heißt es: ›Zuoqiu verlor sein Augenlicht, woraufhin er das ›Guoyu‹ hervorbrachte.‹ Deshalb meinen die gewöhnlichen Gelehrten allesamt, dass das ›Guoyu‹ und ›Chunqiu zhuan‹ (i. e. ›Zuo zhuan‹) von ein und derselben Person verfasst wurden. Die Konfuzianer der Östlichen Han-Dynastie betitelten es (das ›Guoyu‹) als ›Äußere Tradition zu den Frühlings- und Herbstannalen‹. Aufgrund der ordentlichen und minutiösen Jahres- und Monats-Datierungen der Einträge im ›Zuo zhuan‹ nehme ich an, dass die Berichte zum Großteil wahrheitsgemäße Aufzeichnungen sind. Aber das ›Guoyu‹ ist haltlos und irreführend; die inneren Widersprüche sind sehr zahlreich! Die Aufzeichnungen der Ereignisse im ›Zuo zhuan‹ sind schlicht und klar und auch die Wortwahl ist dem Format oft angemessen. Die Ausdrucksweise des ›Guoyu‹ hingegen ist manieriert und blumig, dekadent und kraftlos. Die Schlussfolgerung, dass [die zwei Texte] nicht aus einer Hand stammen, ist offensichtlich! Zudem sind die [Kapitel der ›Gespräche‹ aus] ›Zhou‹ und ›Lu‹ des ›Guoyu‹ vorwiegend schmucklos und eintönig [im Stil], [die Kapitel der ›Gespräche‹ aus] ›Jin‹ und ›Chu‹ vorwiegend neuartig und erfrischend und [die Kapitel der ›Gespräche‹ aus] ›Wu‹ und ›Yue‹ vorwiegend zügellos. Folglich ist das ›Guoyu‹ selbst ebenfalls kein Text, der von einer einzelnen Person geschaffen wurde!«27

Ähnliche Argumente, dass die sprachliche Heterogenität der beiden Texte gegen eine singuläre Autorenschaft spreche, wurden freilich schon vor Cui Shu ins Feld geführt. Entscheidend ist aber insbesondere die zweite Beobachtung, nämlich 26 Die kritische Neubeurteilung der chinesischen Klassiker- und Texttradition wurde im besonderen Maße vom konfuzianischen Gelehrten Kang Youwei 康有爲 (1858–1927) angestoßen, der behauptete, das ›Zuo zhuan‹ und zahlreiche andere Texte, von denen man bis dahin angenommen hatte, sie würden aus der Zeit von Konfuzius stammen, seien Fälschungen des Han-zeitlichen Liu Xin 劉歆 (um 50 v. Chr.–23 n. Chr.), die dazu gedient hätten, die Herrschaft des als Usurpators gescholtenen Wang Mang 王莽 (reg. 9–23 n. Chr.) zu legitimieren. Kang Youweis These trug dazu bei, dass zunehmend sog. Authentizitätsstudien (zhenwei kao 真僞考) betrieben wurden, wodurch die reine Exegese in den Hintergrund rückte und textkritische Forschung in den Vordergrund. Diese Entwicklungen befeuerten einen teilweise radikalen ›Bildersturm‹ und die sog. Zweifel am Altertum (yi gu 疑古), die sich in den althistorischen Studien von Gu Jiegang 顧頡剛 (1893–1980) und seinen Schülern Bahn brachen. 27 Zitiert nach: Cui Shu 崔述, Zhu Si kaoxin yulu 洙泗考信餘錄, in: Jifu congshu (29) 畿輔叢書 (二十九), ed. Ping Yiyan 萍一嚴 (Baibu congshu jicheng [94] 百部叢書集成(九十 四)), Taipei/Banqiao 1966, hier juan 3, 2v–3r.

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dass das ›Guoyu‹ intern gleichfalls nicht einheitlich ist.28 Dies nährt die Annahme, dass es sich beim ›Guoyu‹ wohl eher um ein in kollektiver Autorschaft entstandenes Textkonvolut handelt als um einen homogenen Text aus dem Pinsel eines individuellen Autors.29 Cui Shus Beobachtungen und Schlussfolgerungen sollen hier stellvertretend für Forschungsansätze stehen, die die textintern wahrnehmbare Heterogenität in den Mittelpunkt stellen, um darauf aufbauend dem Wesen des ›Guoyu‹ näherzukommen. In Anlehnung an die und auf Grundlage der linguistischen Methode Bernhard Karlgrens (1889–1978)30 konnte Zhang Yiren 張以仁 (1930–2009) in groß angelegten Studien nachweisen, dass beide Texte nicht aus dem Pinsel einer einzelnen Person gestammt haben können. Hierfür untersuchte er die Verwen-

28 So stellt Barbara Meisterernst heraus, dass beispielsweise die zwei ›Yue yu‹-Kapitel sich im Sprachstil deutlich voneinander unterscheiden würden, obwohl sie fast deckungsgleich vom selben historischen Zeitraum erzählen, vgl. Dies., Eine Übersetzung der Yüeh yü-Sektion des Kuo yü, in: Reinhard Emmerich/Hans Stumpfeldt (edd.): Und folge nun dem, was mein Herz begehrt. Festschrift für Ulrich Unger zum 70. Geburtstag (Hamburger Sinologische Schriften 8), Hamburg 2002, 509–542, hier 512–513. 29 Auf Cui Shus Vorwurf, dass das ›Guoyu‹ auch im Hinblick auf seine (vermeintliche) historiographische Intention nicht an das ›Zuo zhuan‹ heranreicht, wird im Folgenden eingegangen werden. Das ›Zuo zhuan‹ ist allerdings ebenfalls nicht frei von internen Widersprüchen und zeichnet sich durch eine gewisse Heterogenität aus, vgl. weitere Ausführungen im Verlauf. 30 Bernhard Karlgren, On the Authenticity and Nature of the Tso chuan (Göteborgs Högskolas Arsskrift XXXXII), Göteborg 1926. Karlgrens Ansatz versuchte die damals diskutierte Frage zu beantworten, inwieweit das ›Zuo zhuan‹ als authentischer Text der Vorkaiserzeit eingeschätzt werden kann (ein Beitrag zur zeitgenössischen zhenwei kao-Debatte; vgl. dazu Fußnote 26). Hierfür untersuchte er die Verwendungsweise bestimmter Funktionswörter innerhalb des ›Zuo zhuan‹ und rekonstruierte hieraus dessen ›grammatische Physiognomie‹, die nicht von einem späteren Textfälscher hätte imitiert werden können – wies also nach, dass das ›Zuo zhuan‹ ein authentischer Text der Vorkaiserzeit ist (vgl. ebd., 61). Im intertextuellen Vergleich wird laut Karlgren ferner deutlich, dass die Grammatik des Textes sich in dieser Form kein zweites Mal finde – einzig das ›Guoyu‹ würde dieser Form zumindest nahekommen (ebd., 58–61). Diese Beobachtung nahm Zhang Yiren zum Anlass, seine eigene vergleichende Untersuchung zu ›Guoyu‹ und ›Zuo zhuan‹ auf der Grundlage von Karlgrens Methode in Angriff zu nehmen, vgl. Zhang Yiren 張以仁, Cong wenfa, yuhui de chayi zheng Guoyu, Zuo zhuan er shu fei yi ren suo zuo 從文法、語彙的差異證國語、左傳二書非一人 所作, in: Ders., Guoyu Zuo zhuan lunji 國語左傳論集, Taipei 1980a, 109–162, hier 113–127. Davon abgesehen haben spätere Studien zur Verwendungsweise von Funktionswörtern im ›Zuo zhuan‹ darauf hingewiesen, dass sie tatsächlich nicht so einheitlich ist, wie Karlgrens Pionierarbeit nahelegt, sondern sich in diachronischer Perspektive Verwendungsentwicklungen, d. h. Fälle von Bedeutungswandel, nachweisen lassen, vgl. dazu Yuri Pines, Foundations of Confucian Thought. Intellectual Life in the Chunqiu period 722–453 B.C.E., Honolulu 2000, 20 sowie ausführlich im dortigen Anhang 1. Vgl. auch Barry Blakeley, »On the Authenticity and Nature of the Zuo zhuan« Revisited, in: Early China 29 (2004), 217–267, hier 229–236.

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dungsweise von Funktions- und Inhaltswörtern31 innerhalb des ›Guoyu‹ und verglich sie in einem weiteren Schritt mit derjenigen dieser Funktions- und Inhaltswörter im ›Zuo zhuan‹ – mit dem Resultat, dass sich augenfällige Divergenzen nachweisen lassen. In Anbetracht der in diesen umfangreichen Forschungen versammelten Evidenz ist die traditionelle Sicht zur gemeinsamen individuellen Autorenschaft von ›Zuo zhuan‹ und ›Guoyu‹ nicht mehr haltbar. Nicht nur auf Basis der erwähnten sprachlich-stilistischen Heterogenität beider Texte schloss Zhang Yiren, dass sie nicht in so unmittelbarer Beziehung zueinander stehen könnten wie mitunter angenommen wurde. Insbesondere die ›deckungsgleichen‹ Parallelstellen beider Texte sprächen gegen die sich hartnäckig haltende Theorie, dass sie von ein und demselben ›Autor‹ aus einem dritten, unbekannten Materialkorpus herauskompiliert worden seien.32 Die von Zhang Yiren zu Tage geförderten Erkenntnisse sind ein eindeutiger Indikator dafür, dass beide Texte offenkundig nicht gemeinsamen Ursprunges sind, sondern unabhängig voneinander entstanden. Dem ›Guoyu‹ wurde ferner vorgehalten, keine tatsachenorientierte Geschichtsschreibung zu sein – man führe sich nur noch einmal die Aussagen von Cui Shu vor Augen. Auch diesem Vorwurf stellte sich Zhang Yiren vehement entgegen und machte deutlich, dass das ›Guoyu‹ keineswegs historiographischer, sondern didaktischer Natur sei. Zwar erzähle der Text von einzelnen Ereignissen, wobei er den Anschein von deren Historizität erwecke, dies aber immer mit der Absicht, eine Moral zu vermitteln – dem ›Guoyu‹ gehe es nicht um historische Faktenvermittlung.33 Dass solche ›Reden‹ oder ›Gespräche‹ unter Zeitgenossen in einem didaktisch-pädagogischen Kontext Verwendung gefunden haben mögen, deute eine Anekdote aus dem ›Guoyu‹ selbst an. Darin ernennt der Zhuang-König von Chu 楚莊王 (reg. 613–591 v. Chr.) den Würdenträger Shi Wei 士 亹 zum Lehrmeister für seinen erstgeborenen Sohn, woraufhin der Erzieher in spe sich nach einem geeigneten Curriculum erkundigt: 問于申叔時,叔時曰:「教之春秋,而為之聳善而抑惡焉,以戒勸其心 […];教之 語,使明其德,而知先王之務用明德于民也;教之故志,使知廢興者而戒懼焉。 »[Shi Wei] erkundigte sich bei Shen Shushi, und dieser sagte: ›Unterrichte ihn in Annalen und zeige ihm darin das Prinzip, dass gutes [Verhalten] belohnt und schlechtes bestraft wird, um seinen Geist zu rüsten und anzuspornen […]; unterrichte ihn in den ›Reden/Gesprächen‹ (yu) und veranlasse, dass er seine Tugendkraft zum Leuchten bringt und erkennt, dass die altvorderen Könige sich darum bemühten, [ihre] leuchtende Tugendkraft gegenüber dem Volk zur Geltung zu bringen; unterrichte [ihn] in

31 Vgl. Zhang Yiren 1980a, 127–156; für Funktionswörter, vgl. ebd., 127–149; für Inhaltswörter vgl. ebd., 149–156. 32 Vgl. Zhang Yiren 1980b, 38–105, bes. das Fazit 103–104. 33 Zhang Yiren 1980b, 38–39; ausführlicher in Ders. 1993a, 106–115.

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den ›Aufzeichnungen vergangener Begebenheiten‹ (guzhi)34 und veranlasse, dass [er] erkennt, was zu Aufstieg und Untergang führte, damit es ihm zur Warnung diene.‹«35

Nach Ansicht Zhang Yirens ist dies ein Anhaltspunkt dafür, dass Anekdoten von ›Reden/Gesprächen‹ in erster Linie ein didaktisches Mittel waren. Diese These aufnehmend, konnte Yuri Pines weitere Belege beisteuern, die dafür sprechen, dass ›Reden‹ oder ›Gespräche‹ wohl primär eine erzieherische Funktion hatten: Vergleiche man Berichte von Ereignissen, die sowohl im ›Zuo zhuan‹ als auch im ›Guoyu‹ überliefert sind, falle auf, dass im Falle der letzteren häufig abstrakte Lehrsätze, die augenscheinlich einen Anspruch auf Überzeitlichkeit erheben, an markanten Textstellen platziert seien. Die Gültigkeit und universale Anwendbarkeit der Lehren einzelner Anekdoten würden unter Rückgriff auf historische

34 Es ist freilich nicht ganz einfach zu klären, welches ›Genre‹ bzw. Format mit zhi 志 (hier tentativ mit »Aufzeichnung« übersetzt) bezeichnet wird. Im ›Guoyu‹ findet sich eine intradiegetische Anekdote, die von der Erzählinstanz als zhi ausgewiesen wird: »Shen Xu reichte eine Remonstration ein […]: ›Eure Majestät sollte sich lieber in anderen [Personen] spiegeln und nicht im Wasser! Einst verhielt sich der Ling-König von Chu nicht wie ein ordentlicher Fürst. Seine Diener mahnten und remonstrierten, aber drangen damit nicht durch […]. Sein Volk ertrug das Leid durch Arbeit und Hunger nicht mehr, und die drei Armeen rebellierten gegen den König in Ganxi. Er war (fortan) auf sich allein gestellt und streifte verängstigt in den Bergen und Wäldern umher […]. [Schließlich] erhängte sich der König. Wie könnte diese zhi (Aufzeichnung/Erzählung?) denn von den Fürsten vergessen werden (wörtl. »von den Ohren der Fürsten vergessen werden«)?‹« 申胥進諫曰 […]: 「王盍亦鑒于人, 無鑒于 水。昔楚靈王不君,其臣箴諫以不入 […]。其民不忍饑勞之殃,三軍叛王于乾谿。王 親獨行, 屏營仿徨于山林之中 […] 王縊。 此志也, 豈遽忘于諸侯之耳乎? 」(vgl. Guoyu, 19.540–542). Eine andere Anekdote erzählt von Methoden der Hilfestellungen für Herrschaftsträger durch ihre Würdenträger mit Hilfe von sog. qian zhi 前志 (»früheren/alten Aufzeichnungen«?): »[Zhao Wenzi 趙文子] traf Zhi Wuzi. (Zhi) Wuzi sagte: ›Gib dir Mühe, mein Sohn! Solltest du im hohen Alter noch [immer] als [subalterner] Würdenträger dienen, obwohl du Nachkomme der [herausragenden Männer] Cheng und Xuan bist – wäre das denn keine Schande? Die Kultiviertheit (wen) des Meister Cheng und die Loyalität (zhong) des Meister Xuan, dürfen sie denn in Vergessenheit geraten? Für Meister Cheng galt, dass er frühere Aufzeichnungen (qian zhi) anführte, um den altvorderen Fürsten zur Seite zu stehen […]. Meister Xuan remonstrierte bis zum Äußersten gegen [die früheren Fürsten] Xiang und Ling. Um des Remonstrierens willen Verhängnis auf sich zu nehmen und Remonstrationen einzubringen, ohne den Tod zu scheuen – kann das etwa nicht Loyalität geheißen werden? Gib dir Mühe, mein Sohn! Nur wenn man die Loyalität des Meister Xuan besitzt und die Kultiviertheit des Meister Cheng annimmt, wird der Dienst am Fürsten vollendet sein!‹« 見智武子,武子曰:「吾子勉之,成,宣之後而老為大夫,非恥乎! 成子之文, 宣子之忠, 其可忘乎! 夫成子導前志以佐先君 […]! 夫宣子盡諫于襄、 靈, 以諫取惡, 不憚死進, 可不謂忠乎! 吾子勉之, 有宣子之忠, 而納之以成子之 文,事君必濟。(Guoyu, 20.388–389). Vgl. auch allgemeinere Ausführungen zum ›Curriculum‹ in Yan Jing 閻靜, Shen Shushi yu Zhongguo zaoqi de lishi jiaoyu lun 申叔時 與中國早期的歷史教育論, in: Gudai wenming 古代文明 4 (2012), 38–45. 35 Vgl. Guoyu, 17.485–486.

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Präzedenzfälle illustriert, wodurch der normative Anspruch verstärkt werde.36 Es ist durchaus vorstellbar, dass mündlich oder schriftlich zirkulierende Anekdoten in eine für die intendierte Funktion adäquate Form und Struktur gebracht wurden.37 Hierfür sprechen auch die rekurrenten Erzählmuster zahlreicher Anekdoten. Die Studien von Zhang Yiren stellen ohne Zweifel einen Meilenstein in der ›Guoyu‹-Forschung dar. Seine Schlussfolgerungen sind fundiert und frei von jener subjektiven Voreingenommenheit, mit der das ›Guoyu‹ bis dahin als nachrangige und stilistisch minderwertige Überlieferung zu den ›Annalen‹ behandelt wurde. Überdies ist keineswegs sicher, dass die Autoren des ›Guoyu‹ jemals den Anspruch hatten, eine exegetische Tradition zu den kanonischen ›Annalen‹ zu verfassen. Insbesondere Zhang Yirens These, dass die kompilierten Episoden vielmehr im Kontext von didaktischen Funktionstexten betrachtet werden sollten, bildet die Grundlage für den Untersuchungsansatz meiner eigenen Arbeit. Die Einsicht, dass die im ›Guoyu‹ versammelten Anekdoten nie als Geschichtsschreibung gedacht waren,38 eröffnet uns eine völlig neue Perspektive auf den Text: Die Reden oder Gespräche im ›Guoyu‹ sind nicht minderwertig im Vergleich zu den Darstellungen im ›Zuo zhuan‹. Die Frage nach dem historischen Faktengehalt interessiert nicht mehr,39 wenn wir die Episoden als Beratungsliteratur verstehen, in der vorgeblich historische Präzedenzfälle als Exempla dienen. Beispiele sind in erster Linie der subjektiven Aussageabsicht des Beispielgebenden verpflichtet und dementsprechend dehnbar im Hinblick auf ihr historisches Postament.40

36 Yuri Pines, Speeches and the Question of Authenticity in Ancient Chinese Historical Records, in: Helwig Schmidt-Glintzer/Achim Mittag/Jörn Rüsen (edd.), Historical Truth, Historical Criticism, and Ideology: Chinese Historiography and Historical Culture from a New Comparative Perspective (Leiden Series of Comparative Historiography 1), Leiden et al. 2005, 197–226, bes. 209–215. 37 Hierauf ging auch schon Zhang Yiren ein, vgl. Ders. 1993a, 152–178; narratologische Methoden fehlen hier aber noch. 38 Diesem ›Trugschluss‹ mag auch Xu Yuangao 徐元誥 (1876–1955), der Kompilator der Quellenedition ›Guoyu jijie‹ 國語集解, erlegen sein. In seiner Edition emendiert er beispielsweise Ereignisdatierungen des Originaltextes im Hinblick auf historische Plausibilität. Vgl. beispielsweise Guoyu, 2.45. 39 Das schließt freilich nicht grundsätzlich aus, dass Anekdoten auf einem wahren historischen Kern basieren, vgl. Wai-yee Li, The Readability of the Past in Early Chinese Historiography, Cambridge et al. 2007, 47. 40 Zum Exemplum und dessen Gebrauch in der altchinesischen Literatur siehe Felix Bohlen, Narrative Discourses on Power and Rule: The Anecdote and the Exemplum in the Shanghai-Manuscript ›The Remonstrance of Bao Shuya and Xi Peng‹, in: Thomas Crone/Christian Schwermann (edd.), The History of Remonstrance in China. From the Beginnings to the Medieval Period, Göttingen [in Vorbereitung, vorauss. 2021].

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Aus Zhang Yirens Einsichten folgt, dass das ›Guoyu‹ als Fürstenspiegel konzipiert war und nicht als Geschichtsschreibung verstanden werden darf. Ein Fürstenspiegel »[…] ist als ein Funktionstypus zu verstehen, unter dem verschiedene Texttypen subsumiert werden können, sofern diese als in sich geschlossene Werke konzipiert sind und ihnen derselbe ›Sitz im Leben‹ zugewiesen werden kann: Sie richten sich (mitunter nur vorgeblich) an einen Herrscher und bieten einen für die Person und die Aufgabe des Herrschers relevanten Inhalt mit belehrender oder paränetischer (d. h. ermahnender) Intention.«41 Eben diese belehrende und ermahnende Intention hatte auch das ›Guoyu‹, das ganz offensichtlich zu rechtem Herrscherhandeln anleiten sollte. Hierfür spricht zum Beispiel die wiederholte Verwendung der Spiegelmetapher ( jian 鑒) im Text selbst.42 Damit wird dem ›Guoyu‹ innerhalb der Figurenreden einzelner darin enthaltener Anekdoten implizit die Funktion eines Fürstenspiegels zugewiesen. Das heißt, der Text im Text (in diesem Fall die Anekdote, in der die Spiegelmetapher verwendet wird) spiegelt die erzieherische Funktion des Ganzen: 太子晉諫曰:「不可 […]。王無亦鑒于黎、苗之王,下及夏、商之季[…],而蔑 棄五則。是以人夷其宗廟,而火焚其彝器,子孫為隸[…],王其圖之!」 »Der Kronprinz Jin remonstrierte (gegen ein leichtsinniges Vorhaben des Ling-Königs von Zhou 周靈王): ›Das ist nicht angängig […]! [Eure Majestät] sollte sich die Herrscher der Li und Miao und die [letzten Herrscher] der Xia und Shang43 zum Spiegel nehmen ( jian, d. h. als mahnende Beispiele) […]. [Sie] gaben leichtsinnig die fünf (herrschaftsstabilisierenden) Prinzipien auf, weswegen die Menschen ihre Ahnentempel dem Erdboden gleichmachten und ihre Ritualgefäße in Brand steckten. [Ihre] Nachfahren waren nur noch Knechte […]. Eure Majestät sollte dies (d. i. das eigene leichtsinnige Vorhaben) überdenken!‹«44

41 Siehe Dietmar Peil, Fürstenspiegel, in: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft 1 (2007), 640–642, hier 640. Siehe ergänzend dazu die Arbeitsdefinition von Ursula Gräfe, die mit Bezug auf englische spätmittelalterliche Fürstenspiegel entwickelt wurde: »[…] Fürstenspiegel sind Texte […] in unterschiedlichsten Formen, die zur Erziehung und Beratung von Fürsten und Königen Modelle herrscherlichen Handelns fixieren.« (Dies., Ratgeber des Königs. Fürstenspiegel und Herrscherideal im spätmittelalterlichen England, Köln/Weimar/ Wien 2004, 44.) 42 Belegstellen: Guoyu, 3.100, 3.130, 4.146, 7.251, 8.284, 15.499, 18.524, 18.531, 19.541, 19.553. Für 3.130, 4.146 und 18.531 gilt jian 監 (OCM *krâms) = 鑒 (*krâms); für die Rekonstruktion des Old Chinese vgl. Axel Schuessler, Minimal Old Chinese and Later Han Chinese. A Companion to Grammta Serica Recensa, Honolulu 2009. 43 Die Herrscher der Stämme Li und Miao sollen laut mythischer Überlieferungen gegen die herrschende Ordnung rebelliert haben und wurden deshalb später vernichtet. Jie von Xia 夏 桀 und Zhòu von Shang 商紂 (reg. bis 1046 v. Chr.), die letzten Herrscher der jeweiligen Dynastien, provozierten auf Grund ihres tyrannischen Verhaltens ihren eigenen Untergang. 44 Vgl. Guoyu, 3.92, 100–101.

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Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie historische Präzedenzfälle im Format des Fürstenspiegels in belehrend-mahnender Absicht nutzbar gemacht werden konnten. Vor diesem Hintergrund ist es völlig irrelevant, ob die Episoden im ›Guoyu‹ mit ihren teilweise ausufernden Figurenreden den historischen Tatsachen entsprechen oder nicht. Entscheidend ist vielmehr die Frage, mit welchen erzähltechnischen und rhetorischen Mitteln der Text versucht, seine Funktion als ein Fürstenspiegel zu erfüllen.

2.

Komposition und Kompilation der einzelnen Narrative

Nachdem im Vorangehenden die grundlegende Frage der Gattungszugehörigkeit beantwortet wurde, gilt es nun, die Entstehung und Zusammenstellung der anekdotischen Erzählbausteine im ›Guoyu‹ zu beleuchten. Hierzu muss erneut das ›Zuo zhuan‹ in die Betrachtung einbezogen werden. Neuere Forschungsansätze rücken einmal mehr den relevanten Aspekt in den Vordergrund, dass selbst das ›Zuo zhuan‹, trotz seines konfuzianisch-kanonischen Status, kein so homogenes Werk ist, wie es anmuten mag – sowohl sprachlich45 als auch ideologisch.46 Freilich muss eingestanden werden, dass dieser Befund bereits von klassischen Gelehrten vorgetragen wurde. So ist von Dan Zhu 啖助 (ca. 724–770) durch seinen Schüler Lu Chun 陸淳 (gest. 805) Folgendes überliefert worden: 啖子曰:[…] 予觀左氏傳自周晉齊宋楚鄭等國之事最詳 […]。故知史䇿之文每國 各異左氏得此數國之史以授門人 […] 總而合之編次年月以為傳記又廣采當時文籍 故兼與子産晏子及諸國卿佐家傳并卜書夢書及雜占書縱橫家小說諷諫等雜在其中 »Meister Dan (d. i. Dan Zhu) sprach: ›Wenn ich die ›Überlieferung des Herrn Zuo‹ (= ›Zuo zhuan‹) betrachte, [so stelle ich fest, dass] die Ereignisdarstellungen von solchen Ländern wie Zhou, Jin, Qi, Song, Chu, Zheng am ausführlichsten sind […]. Daraus können wir schließen, dass die Texte der Schreibernotizen auf Leisten in jedem Land unterschiedlich waren. Herr Zuo kam in den Besitz von Schreiber-Aufzeichnungen aus diesen verschiedenen Ländern und übergab sie an seine Schüler. […] [Die Materialien] wurden zusammengeführt, auf Grundlage der Jahres- und Monatsdatierungen angeordnet und bildeten dann eine [exegetische] Tradition. Außerdem wurde in großem Umfang Material aus zeitgenössischen Schriften entnommen. Deshalb findet sich darin ganz Verschiedenartiges wie Überlieferungen, die von Zi Chan, Meister Yan und anderen Ministern und Beratern der verschiedenen Länder handeln; verschiedene Orakeldokumente wurden hinzugenommen, darunter solche zum Knochenorakel und zu

45 Vgl. Fußnote 29. 46 Meint, dass nicht alle Elemente im ›Zuo zhuan‹ eine rein konfuzianische Lehre propagieren, sondern auch ›nicht-konfuzianische‹ Elemente auszumachen sind. Dazu ausführlich: Wai-yee Li 2007, 33–59.

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Traumdeutungen; zudem Erzählungen über Strategen sowie indirekte Remonstrationen.‹«47

Neuere Forschungen scheinen diese These im Kern zu bestätigen – ganz gleich, welche Person für das Sammeln und Kompilieren der verschiedenartigen Materialien verantwortlich war. Man kann wohlbegründet davon ausgehen, dass der uns überlieferte Text erst nach einem längeren Aggregationsvorgang seine endgültige Form angenommen hat.48 Die einzelnen Textsedimente speisten sich einerseits nachweislich aus dritten, uns nicht mehr überlieferten Schriftquellen.49 David Schaberg wies andererseits auf die Möglichkeit hin, dass neben Schriftquellen auch mündliche Überlieferungen, besonders anekdotische Erzählungen, in das ›Zuo zhuan‹ eingeflossen sein könnten.50 Zum Zeitpunkt ihrer schriftli47 Aus: Chunqiu Dan Zhao jizhuan zuanli 春秋啖趙集傳纂例 (Kompilierte Darlegungen von Dan und Zhao zu den Überlieferungen der ›Frühlings- und Herbstannalen‹), komp. Lu Chun 陸淳, Shanghai 1936, 3. 48 Vgl. Stephen Durrant/Wai-yee Li/David Schaberg, Zuo Tradition. Commentary on the »Spring and Autumn Annals«, Seattle/London 2016, XXX–XXXI; Pines 2000, 13–26; Blakeley 2004. 49 Wang He 王和, ›Zuo zhuan‹ cailiao de laiyuan kao 《左傳》材料的來源考, in: Zhongguo shi yanjiu 中國史研究 2 (1993), 16–25. 50 Schaberg 2001, 315–323. Dass die mündliche neben der schriftlichen Überlieferung einen nicht zu vernachlässigenden Faktor bei der Entstehung des ›Zuo zhuan‹ gespielt haben muss, behauptete gleichfalls der bereits genannte Dan Zhu. Dan Zhu meint allerdings, dass vielmehr die exegetischen Lehrmeinungen zu den kompilierten Ereignisberichten der ›Meister‹ anfänglich mündlich überliefert wurden und erst später durch die Schüler schriftlich fixiert wurden: »Meister Dan sagte: ›Die Erklärungen des Altertums sind allesamt mündlich überliefert worden. Erst mit der Han-Zeit wurden sie in eine Textform gebracht […]. Daher wissen wir, dass die exegetischen Lehrmeinungen zu den drei Traditionen (d. i. ›Zuo zhuan‹, ›Guliang zhuan‹ 穀梁傳 und ›Gongyang zhuan‹ 公羊傳) allesamt mündlich überliefert, von den späteren Gelehrten dann auf Bambus und Seide niedergeschrieben und dann mit dem [ jeweiligen] Namen der Lehrmeister betitelt wurden […]. Die exegetischen Meinungen sind somit mündlich überliefert worden, als sie noch nicht die Form von Bambus- und Seidenmanuskripten angenommen hatten. Gelehrte anschließender Generationen haben diese dann erweitert und weitergereicht.‹« 啖子曰: 古之解說悉是口傳自漢以來乃為章句 […]。是知三傳之義本皆口傳後之學者乃著竹帛而以祖師之目題之 […] 。義則口傳未 形竹帛後代學者乃演而通之。 (vgl. Lu Chun [ed.] 1936, 3). Das Konzept ›mündliche Überlieferung‹ scheint indes bereits Ban Gu vertraut gewesen zu sein: »Konfuzius sann darauf, die Werke der früheren Weisen zu bewahren […]. Deshalb betrachtete er zusammen mit Zuoqiu Ming die Aufzeichnungen der Schreiber [des Landes Lu] und stützte sich auf [deren Aufzeichnungen über] vergangene Taten und Ereignisse […], um die Riten und Musik richtigzustellen. Wenn das, was gelobt und getadelt wurde, nicht schriftlich niedergelegt werden konnte, wurde es mündlich an die Schüler überliefert. Die Schüler zogen sich zurück und redeten unterschiedlich. Qiuming befürchtete, dass jeder seine eigenen Ansichten gut finden würde und so die wahre Bedeutung abhandenkommen würde. Deshalb ordnete er die grundlegenden Berichte und schuf eine [exegetische] Tradition […]. Zu späteren Zeiten kursierten viele mündliche Auslegungen, deshalb entstanden die Traditionen von ›Gongyang‹, ›Guliang‹, ›Zou‹ und ›Jia‹.« 仲尼思存前聖之 業 […] 故與左丘明觀其史記,據行事,[…] 以正禮樂。有所褒諱貶損,不可書見,口

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chen Fixierung und anschließenden Kompilierung mögen solche Anekdoten bereits einen langen Weg mündlicher Tradierung hinter sich gehabt haben – sowohl zeitlich als auch räumlich. Die Datierung des später kompilierten Ursprungsmaterials lässt sich daher kaum mit letzter Gewissheit vornehmen. Neuere Forschungen – sowohl philologisch-textkritischer, linguistischer, historischer als auch geistesgeschichtlicher Natur – legen zumindest den Schluss nahe, dass die erste Kompilation des ›Zuo zhuan‹ aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. (Mittlere Zhanguo-Periode 戰國) stammt.51 Für das ›Guoyu‹ kann ein ähnlicher Entstehungszeitraum angesetzt werden, wenn auch weithin angenommen wird, dass es etwas jünger als das ›Zuo zhuan‹ ist.52 Unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer anfänglich teils mündlichen Überlieferung ließen sich einige bislang vermeintlich unlösbare Probleme sehr gut erklären: beispielsweise die Krux mit dem Verhältnis zwischen parallel überlieferten Anekdoten im ›Guoyu‹ und ›Zuo zhuan‹ – also jenen, die von den selben historischen Ereignissen erzählen, aber inhaltlich gewisse Diskrepanzen aufweisen. Solche Abweichungen mögen sowohl auf die Polygenese historischer Anekdoten als auch auf deren verzweigte Tradierung zurückzuführen sein. Diese Vermutung wird dadurch untermauert, dass bestimmte anekdotische Sujets in weiteren zeitgenössischen Texten, abseits von den hier diskutierten, auftauchen bzw. aufgegriffen werden, aber in gewissen Punkten hier und da voneinander abweichen.53

授弟子,弟子退而異言。丘明恐弟子各安其意,以失其真,故論本事而作傳 […]。及末 世口說流行, 故有公羊、 穀梁、 鄒、 夾之傳。 (siehe Hanshu, 30.1715). Sima Qian sprach zuvor ebenfalls bereits von mündlichen Überlieferungen, vgl. auch die Ausführungen in Wai-yee Li 2007, 38–43. 51 Vgl. Durrant/Li/Schaberg 2016, XXX–XXXI; Taeko Brooks, Heaven, Li, and the Formation of the Zuozhuan 左傳, in: Oriens Extremus 44 (2003/04), 51–100, hier 80–87; Wang He 1993, 24–25; Karlgren 1926, 63–65; Paul Goldin, The Hermeneutics of Emmentaler, in: Warring States Papers 1 (2010), 75–78, bes. 78; Pines ist hingegen etwas optimistischer und behauptet, dass Teile des ›Zuo zhuan‹ bereits in der späten Phase der Chunqiu-Zeit kompiliert wurden, vgl. Ders. 2002, 26–39, bes. 31–32. 52 Der wohl ›präziseste‹ Datierungsversuch für einzelne Kapitel des ›Guoyu‹ ist der von Wei Juxian 衛聚賢 (1898–1989): Für die Kapitel ›Zhou yu‹ 周語, ›Chu yu‹ 楚語, 431 v. Chr; ›Qi yu‹ 齊語, ›Wu yu‹ 吳語, zw. 431–384; ›Lu yu‹ 魯語, ›Jin yu‹ 晉語, zw. 384–336; ›Yue yu shang‹ 越語 上 nach 314; ›Yue yu xia‹ 越語下 nach 314 (vgl. Wei Juxian 1928, 255). Eine grundsätzliche Tendenz gen Zhanguo-Periode erkennend, soll aber auf Grund jüngster Forschungen und dem Paradigma von ›aggregierten/gewachsenen Texten‹ (siehe weitere Erläuterungen im Folgenden) von solchen unseriösen, bis auf das Jahr genauen Datierungen Abstand genommen werden; stattdessen möchte ich nur einen Entstehungszeitraum einkreisen. Zu einer Datierung in die mittlere bis späte Zhanguo-Periode (4.–3. Jahrhundert v. Chr.) siehe etwa Pines 2002, 39–45, bes. 39–41. Zu weiteren Thesen hinsichtlich des Kompilierungsvorganges siehe Ausführungen im Folgenden. 53 Schaberg 2001, 321–322.

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Von dieser Annahme ausgehend, könnte man sich den Entstehungsprozess des ›Guoyu‹ folgendermaßen vorstellen: Annalen, Chroniken, Dokumente, Traktate u. a. – also hauptsächlich nicht-erzählende Texte – zirkulierten an und zwischen den Herrscherhöfen der Chunqiu-Periode (771–ca. 500 v. Chr.); zur gleichen Zeit zirkulierten mündliche Überlieferungen in und zwischen Elitenzirkeln. Mit der Zeit wurden diese Erzählungen sukzessive verschriftet; am Ende eines langwierigen Aggregationsprozesses stand die eigentliche Kompilation.54 Sofern wir diese Hypothese akzeptieren, scheint es mir durchaus angemessen, im Falle des ›Guoyu‹ – aber auch des ›Zuo zhuan‹ – von einem, wie Paul Fischer es nennt, polymorphen Text zu sprechen.55 Die für uns zentralen Aspekte dieses Paradigmas besagen, dass überlieferte Traditionsquellen wie das ›Guoyu‹ aus verschiedenen einzelnen Texten bzw. Texteinheiten geformt wurden; diese zirkulierten zunächst unabhängig, gingen mit Sicherheit durch verschiedene Hände, wurden stellenweise umgeformt und angepasst, es wurden Teile hinzugefügt oder weggenommen, sie wurden emendiert oder gar korrumpiert – bis sie abschließend in eine endgültige Form gebracht wurden.56 Ähnlich lautende Thesen stellte beispielsweise schon der frühmoderne Gelehrte Yu Jiaxi 余嘉錫 (1884–1955) auf.57 In jedem Fall lassen sich auf diese Weise sowohl die Diskrepanzen in intertextueller Hinsicht erklären als auch die textintern auszumachende Heterogenität nachvollziehen. Hieraus folgt: Das ›Guoyu‹ ist ein Textkonvolut, das sich aus anekdotischen Erzählungen unterschiedlicher Provenienz zusammensetzt. Manche dieser Anekdoten wurden anfangs möglicherweise mündlich tradiert und dann zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschriftet, anschließend gesammelt und mit anderen schriftlichen Textelementen kompiliert. Eine genaue Datierung ist auf Grund der vermuteten akkumulierenden Genese des Werkes, das sich wohl aus ganz verschiedenen Quellen speiste, nicht möglich, ebenso wenig die Identifikation von Urhebern. Auf Grund des kompilatorischen Charakters 54 Schaberg 2001, 322–324. 55 Paul Fischer, Authentication Studies Methodology, in: Early China 32 (2009), 1–43, bes. 37– 40. Fischer beruft sich hierbei explizit auf die Studien von Li Ling 李零, vgl. ebd., 37–40. Fischer widmete sich in seiner Darstellung vornehmlich den sogenannten ›Meister‹-Texten (zhu zi 諸子), i. e. Traditionsquellen der chinesischen Antike, deren Urheberschaft traditionell einem ›Meister‹ (zi 子) zugeschrieben wurde. Jedoch scheint es mir legitim und angebracht, dieses Konzept auch auf die hier vorgestellten Texte zu applizieren. 56 Fischer 2009, 37–38. Freilich ist anzunehmen, dass sowohl im Zuge des Überführungsprozesses zum Konvolut als auch im Zuge Han-zeitlicher Edierungsmaßnahmen erneut Änderungen am Text – sowohl intendierter als auch unbewusster Natur – stattgefunden haben. 57 Vgl. Yu Jiaxi 余嘉錫, Gushu tongli 古書通例, Shanghai 1985, 51–67, 93–109, sowie 106. Zu Yu Jiaxis Forschungen siehe auch Fischer 2009, 30–31. Zum ›kompositorischen Charakter‹ antiker Texte unter Berücksichtigung von Manuskriptfunden siehe auch William Boltz, The Composite Nature of Early Chinese Texts, in: Martin Kern (ed.), Text and Ritual in Early China, Seattle 2005, 50–78.

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des ›Guoyu‹ ist es gerechtfertigt, einzelne Anekdoten trotz ihrer seriellen Anordnung isoliert zu betrachten.58 Mittlerweile sind zahlreiche frühchinesische Manuskripte wieder zurück an die Erdoberfläche gebracht worden – einerseits dank gesicherter archäologischer Grabungen, aber andererseits auch durch Grabräuberei. Hieraus ergeben sich für die Forschung immens wichtige Einblicke in die frühe Phase der Textproduktion. In der aktuellen Forschung wird angenommen, dass als authentisch eingestufte Manuskripte wie beispielsweise jene, die zum Korpus der sogenannten Shanghai-Manuskripte gehören,59 solche Narrative enthalten, die später auch ins ›Guoyu‹ (oder ›Zuo zhuan‹) hätten aufgenommen werden können.60 Das heißt, die Texte des genannten Korpus sind ebensolche anekdotischen historischen Narrative bzw. Ereignisberichte.61 Formale, strukturelle und auch konzeptuelle Parallelen deuten darauf hin, dass diese Narrative mit den sogenannten ›Gesprächen‹ oder ›Reden‹ in den genannten Traditionsquellen assoziiert werden können.62 In ihrer Manuskriptform scheinen solche Anekdoten eigenständige, abgeschlossene Texteinheiten gebildet zu haben, die nicht an andere Texte gekoppelt waren – insofern, als sie nicht wie in den diskutierten Traditionsquellen chronologisch und einen größeren Ereigniszusammenhang konstituierend an-

58 Zur Form der anekdotischen ›Ereignisberichte‹ (shi 事) schreibt Yu Jiaxi: »Herr Zuo orientierte sich am ›Klassiker [der Frühlings- und Herbstannalen]‹ und schuf so seine exegetische Tradition. Im Falle des ›Guoyu‹ hingegen bildet jeder einzelne Ereignisbericht (shi) einen [selbstständigen/geschlossenen] Abschnitt.« 左氏依經作傳,而國語則每事自爲一章 (vgl. Ders. 1985, 110). Dass die Debatte um Zuoqiu Mings vermeintliche Urheberschaft damals noch schwelte, wird durch seine anschließende Aussage deutlich: »Hier soll für den Moment nicht die Frage gestellt werden, ob Zuoqiu Ming das ›Zuo zhuan‹ und das ›Guoyu‹ verfasst hat oder nicht.« 今姑不問左傳、 國語為左丘明所著與否 (vgl. ebd., 111). 59 Die sog. Shanghai-Manuskripte sind nicht etwa durch eine gesicherte archäologische Grabung entdeckt worden, sondern durch Grabräuberei. Die Manuskripte wurden auf dem Antiquitätenmarkt von Hongkong durch das Shanghai-Museum erworben; Einführendes in Edward Shaughnessy, Rewriting Early Chinese Texts, Albany 2006, 1–19. Die Manuskripte wurden trotz anfänglicher Skepsis als authentisch eingestuft und nicht als Fälschung, siehe allgemein dazu Sarah Allan, Buried Ideas. Legends of Abdication and Ideal Government in Early Chinese Bamboo-Slip Manuscripts, Albany 2015, 68–70. 60 Li Ling 李零, Jianbo gushu yu xueshu yuanliu (xiuding ben) 簡帛古書與學術源流(修訂 本), Beijing 2008, hier 293–300. Zu einem Überblick über die Parallelen zwischen Traditionsquellen und den Erzählungen in dem Manuskript-Korpus siehe ebd., 295–297. Vgl. auch Chao Yuan-su 趙苑夙, Shangbo jian Chu wang ›yu‹ lei wenxian yanjiu 上博簡楚王「語」類 文獻研究, Taizhong 2013, 322–331. Chao spricht im Hinblick auf die Shanghai-Manuskripte vom ›Rohmaterial‹, das später Eingang in entsprechende Texte wie das ›Guoyu‹ hätte finden können. 61 Li Ling nennt sie »gu shi« 故事. 62 Vgl. Bohlen 2020, Li Ling 2008 und Chao Yuan-su 2013.

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geordnet wurden.63 Einigen Narrativen im Manuskriptkorpus wurden zwar Titel gegeben – beispielsweise »Die Remonstration von Bao Shuya und Xi Peng« (›Bao Shuya yu Xi Peng zhi jian‹ 鮑叔牙與隰朋之諫) –, was darauf hinweist, dass sie als in sich abgeschlossene Texte konzipiert waren, aber sie wurden keiner übergeordneten Texttradition zugeordnet;64 ein Urheber ist ebenfalls nicht benannt. Ferner deuten paläographische Besonderheiten der Handschrift darauf hin, dass es sich im Falle des zuletzt genannten Manuskripts um eine Abschrift aus dem Land Qi 齊 gehandelt haben könnte, was auf die überregionale Zirkulation von Texten des Typs historischer Narrative hindeutet.65 Dies spricht dafür, dass die in solchen Manuskripten aufgezeichneten historischen Narrative das Ausgangsmaterial gebildet haben könnten, aus dem später Traditionsquellen wie das ›Guoyu‹ geschöpft haben.66 Der Titel ›Guoyu‹ könnte dabei erst am Ende dieses Kompilationsprozesses vergeben worden sein.67 Im Anschluss an diese Beobachtungen und Thesen soll ein Eindruck davon vermittelt werden, wie dieser Vorgang – die Überführung einzelner verschrifteter Anekdoten in ein Konvolut wie das ›Guoyu‹ – vonstattengegangen sein mag. Anhand von Beispielen soll der ›modulare‹ Charakter68 von ›Guoyu‹-Anekdoten illustriert werden. Hierdurch hoffe ich, Spuren der abschließenden Kompilations- und Redaktionstätigkeit offenlegen zu können. Betrachten wir die folgenden drei unmittelbar aufeinander folgenden Anekdoten (01–03) aus dem ersten Kapitel ( juan 卷) des ›Guoyu‹: (01) 厲王虐,國人謗王 […] 。王怒,得衛巫,使監謗者,以告,則殺之。國人莫 敢言,道路以目。王喜,告邵公曰:「吾能弭謗矣,乃不敢言。」邵公曰: 「是障之也,防民之口,甚于防川。川壅而潰,傷人必多,民亦如之 […]。 若壅其口,其與能幾何?」王不聽,于是國莫敢出言,三年,乃流王于彘。 »Der Li-König von Zhou verhielt sich tyrannisch, und die Menschen der Hauptstadt kritisierten den König […]. Der König erzürnte, ließ einen Schamanen aus Wei kommen und hieß ihn die Kritiker überwachen und sie melden, um sie dann hinrichten zu lassen. Unter den Menschen der Hauptstadt gab es niemanden, der es wagte, ein Wort zu sagen, man beäugte einander argwöhnisch in den Straßen 63 Zur physisch-räumlichen Lagerung der Manuskripte kann indes nichts gesagt werden; möglich, dass gewisse bibliographische Kriterien und Kategorien in Archiven eine Ordnung festlegten. Textintern finden sich aber keine Hinweise auf eine serielle Anordnung mit anderen Manuskripten. 64 So gibt es aber auch genügend Fälle von Manuskripten ohne irgendeinen Titel. 65 Siehe Su Jianzhou 蘇建洲, ›Shangbo Chu zhushu‹ wenzi ji xiangguan wenti yanjiu 《上博楚 竹書》文字及相關問題研究, Taipei 2008, 245–247. 66 Vgl. Li Ling 2008, 297–300. 67 Überlegungen und Thesen zu den Titeln klassischer Texte auch in Yu Jiaxi 1985, 26–35. 68 Siehe dazu auch Boltz 2005. ›Modul‹ meint ursprünglich vorhandene kleinere Texteinheiten – Boltz spricht von »pre-existing textual building blocks« –, die zusammengesetzt wurden, um daraus größere Texteinheiten zu formen.

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und Gassen. Der König war erfreut und teilte dem Patriarchen von Shao mit: ›Ich vermochte es, die Kritik verstummen zu lassen! Nun wagt es niemand mehr, zu reden!‹ Der Patriarch von Shao sagte: ›Dies bedeutet nur, dass ihr sie daran hindert! Den Mund der Menschen abzuriegeln ist schlimmer als das Aufstauen von Flüssen! Werden Flüsse gestaut, dann brechen sie sich Bahn und die Menschen, die zu Schaden kommen, werden gewiss zahlreich sein! Mit dem Volk verhält es sich ebenso […]. Wenn man ihnen den Mund stopft, wie lange wird man sich dann noch halten können?‹ Der König hörte nicht darauf und daraufhin gab es in der Hauptstadt niemanden, der es wagte, ein Wort zu äußern. Nach drei Jahren wurde der König dann nach Zhu vertrieben.«69 (02) 厲王說榮夷公, 芮良夫曰: 「王室其將卑乎! 夫榮公好專利而不知大難 […]。榮公若用,周必敗。」既,榮公為卿士,諸侯不享,王流于彘。 »Der Li-König von Zhou hatte Gefallen am Yi-Patriarchen von Rong. Liangfu aus Rui sagte: ›Das Königshaus, es wird niedergehen! Für den Patriarchen von Rong gilt, dass er es liebt, die Gewinne für sich zu vereinnahmen, aber nicht das [daraus folgende] große Verhängnis erkennt […]. Wenn [Ihr] vom Patriarchen von Rong Gebrauch machen solltet, dann wird Zhou gewiss scheitern!‹ Daraufhin wurde der Patriarch zum Königlichen Minister (qingshi) gemacht. Die Regionalherrscher brachten keinen Tribut mehr ein, und der König wurde nach Zhu vertrieben.«70 (03) 彘之亂,宣王在邵公之宮,國人圍之,邵公曰:「昔吾驟諫王,王不從,是 以及此難。 今殺王子, 王其以我為懟而怒乎! 夫事君者險而不懟, 怨而不 怒,況事王乎?」乃以其子代宣王,宣王長而立之。 »Während der Zeit der Unruhen von Zhu fand der (künftige) Xuan-König von Zhou71 Zuflucht im Palast des Patriarchen von Shao. Die Menschen der Hauptstadt umstellten diesen. Der Patriarch sagte: ›Einst remonstrierte ich beharrlich gegen den (Li-)König, aber er hörte nicht darauf, weshalb dieses Verhängnis eintrat. Nun, wenn der Prinz (d. i. der künftige Xuan-König) getötet werden sollte, dann wird der König wohl zornig werden, weil er annehmen wird, ich sei verbittert! Einer, der einem Fürsten dient, darf nicht verbittert sein, selbst wenn die Umstände widrig sind. Er darf nicht zürnen, selbst wenn er einen Groll hegen sollte. Wie verhält es sich da erst, wenn man einem König dient?‹ Daraufhin gab er seinen eigenen Sohn als den Prinzen aus. Der Xuan-König wurde inthronisiert, als er volljährig wurde.«72

Diese drei Texteinheiten illustrieren die oben beschriebene seriell-chronologische Anordnung von Anekdoten, wie sie bei der Kompilation des ›Guoyu‹ praktiziert wurde. Die Beispiele zeigen, dass die Anekdoten lediglich durch As69 Guoyu, 1.10–11, 13. 70 Guoyu, 1.13–14. 71 Der Xuan-König war Sohn des Li-Königs, der im Exil abgesetzt wurde; sein Sohn konnte noch nicht inthronisiert werden, da er noch nicht mündig war (s. u.); hier im Text trägt er aber schon den Herrschertitel, bzw. seinen kanonischen Namen. 72 Guoyu, 1.14–15.

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soziationsfügung73 – tertium associationis ist die Vertreibung von König Li nach Zhu – miteinander verknüpft sind. Formal sind sie in sich abgeschlossene Einheiten. Sie bilden also das Ausgangsmaterial, das bei der Kompilation zunächst den einzelnen Ländern zugeordnet und dann chronologisch angeordnet wurde. Gleichwohl sind die Übergänge zwischen den Episoden abrupt: Die Ereigniszusammenhänge zwischen Episode (03), in der der Patriarch von Shao sich auf seine Remonstration gegen König Li in Episode (01) zurückbezieht, und Episode (01), die die Remonstration schildert, werden von Episode (02) durchschnitten. Offenbar ist Episode (02) mit Rücksicht auf das Ordnungskriterium der Chronologie eingeschoben worden. Betrachten wir ergänzend zwei unmittelbar aufeinander folgende Anekdoten aus dem zweiten Kapitel des ›Guoyu‹, um diesen Eindruck mit Hilfe eines Kontrastbeispiels zu profilieren: (01a)

襄王十三年, 鄭人伐滑。 王使游孫伯請滑, 鄭人執之。 王怒, 將以狄伐 鄭。富辰諫曰:「不可 […]。」王不聽。十七年,王降狄師以伐鄭 […]。 王德狄人,將以其女為后。富辰諫曰:「不可。夫婚姻,禍福之階也。由 之利內則福, 利外則取禍。 今王外利矣, 其無乃階禍乎 […]? 」王曰: 「利何如而內,何如而外?」對曰:「尊貴、明賢、庸勛、長老、愛親、 禮新、親舊 […]。」王不聽。 »Im 13. Jahr des Xiang-Königs von Zhou attackierten Leute aus Zheng das Land Hua. Der König schickte You Sunbo, dass er für Hua eintreten möge. Die Leute aus Zheng nahmen ihn gefangen. Der König zürnte und wollte mit Hilfe der Di-Barbaren einen Vergeltungsangriff gegen Zheng führen. Fuchen remonstrierte: ›Das ist nicht angängig […]!‹ Der König hörte nicht darauf. Im 17. Jahr sandte er das Heer der Di-Barbaren aus, um Zheng anzugreifen. Der König (Xiang von Zhou) fühlte sich den Di-Leuten verpflichtet und wollte eine ihrer Frauen zu seiner Hauptfrau machen. Fuchen remonstrierte und sprach: ›Das ist nicht angängig. Für das Verheiraten gilt, dass es eine Treppe für Unheil und Segen ist. Wenn hierdurch Nutzen ins Innere gebracht wird, dann ist es ein Segen; lässt man den Nutzen nach außen, dann wählt man Unheil. Nun habt Ihr den Nutzen nach außen gelassen! Baut das dem Unheil etwa keine Treppe […]?‹ Der König fragte: ›Wie bewirkt man, dass der Nutzen ins Innere gebracht wird, und wie lässt man den Nutzen nach außen gehen?‹ [Fuchen] erwiderte: ›Respektiert die Angesehenen, achtet die Tüchtigen, stellt die Ver-

73 Zur Assoziationsfügung und anderen Montageverfahren in überlieferten Texten siehe Christian Schwermann, Collage-Technik als Kompositionsprinzip klassischer chinesischer Prosa: Der Aufbau des Kapitels »Ta¯ng wèn« (Die Fragen des Ta¯ng) im Liè zı˘, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung (BJOAF) 21 (2005), 125–157, hier 136–137: »Die loseste Form der Bindung liegt naturgemäß dort vor, wo Komponenten unverfugt aneinandergesetzt werden und lediglich die Musterungen der vorgefertigten Materialien – ihre formale Gestaltung oder inhaltliche Strukturierung – Ähnlichkeiten aufweisen, die darauf hindeuten, daß die betreffenden Versatzstücke in einem Sinnzusammenhang stehen. In diesen Fällen spreche ich von Assoziationsfügungen.«

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dienstvollen ein, gewährt den Betagten ein langes Leben, schont die Nahverwandten, behandelt Neuankömmlinge mit der entsprechenden Etikette und Alteingesessene sollen wie die Nahverwandten behandelt werden […].‹ Der König hörte nicht darauf.«74 (02a)

十八年,王黜狄后。狄人來誅殺譚伯。富辰曰:「昔吾驟諫王,王弗從, 以及此難。若我不出,王其以我為懟乎!」乃以其屬死之。 »Im 18. Jahr verstieß der König [seine] Di-Gemahlin. Di-Leute kamen und übten Vergeltung, indem sie (den Zhou-Würdenträger) Tanbo ermordeten. Fuchen sagte: ›Einst remonstrierte ich beharrlich gegen den König, doch er weigerte sich, darauf zu hören, weshalb dieses Verhängnis eintrat. Wenn ich nun nicht hinausführe, dann würde der König wohl von mir annehmen, ich sei verbittert!‹ Daraufhin ging [Fu Chen] zusammen mit seinem Gefolge für ihn (den König) in den Tod.«75

Die oben zitierte Anekdote (03) und der gerade zitierte Abschnitt (002a) zeichnen sich durch frappierende Parallelen sowohl im Hinblick auf Wortlaut und Syntax76 als auch im Hinblick auf den Inhalt aus: Beide Erzählungen gründen auf dem Topos vom aufopferungsvollen und loyalen Untertan, der trotz der Undankbarkeit seines Herrn für diesen in den Tod geht bzw. seinen eigenen Sohn für ihn opfert. Beide Stücke wirken wie Zusätze zu den jeweils vorangehenden Narrativen, wobei die sprachlichen und inhaltlichen Verbindungslinien noch erkennbar sind. Genau an diesen Übergängen werden die Spuren der Kompilationstätigkeit erkennbar. Man mag sich den Vorgang folgendermaßen vorstellen: Den Verantwortlichen lag ein Fundus an bereits schriftlich fixierten Anekdoten vor. Die einzelnen Anekdoten wurden einem Land zugeordnet und in eine chronologische Reihung gebracht; in diesem Zusammenhang dürften einzelne Textbausteine reorganisiert worden sein. Beispiele (01) bis (03) belegen zum Beispiel, dass (01) und (03) ursprünglich eine Sinneinheit bildeten, mit Rücksicht auf Wahrung der Chronologie aber durch Anekdote (02) voneinander getrennt wurden. Im Falle von (001a) und (002a) wurde hingegen kein Textbaustein eingeschoben, so dass die Sinneinheit erhalten blieb. Fassen wir das Vorangehende zusammen: Das ›Guoyu‹ ist kein einheitlicher Text, sondern ein heterogenes Konvolut. Anekdotische Narrative sind die Bauelemente dieses Konvoluts. Bei dem kompilierten Textmaterial müssen wir von ›gewachsenen‹ Anekdoten ausgehen, deren individuelle ursprüngliche Form und 74 Guoyu, 2.44, 49–50. Die Emendationen des Editionsherausgebers Xu Yuangao im Quellentext seien hier unberücksichtigt. 75 Guoyu, 2.50–51. 76 Beispielsweise die identische Aussage »Einst remonstrierte ich beharrlich gegen den König« 昔吾驟諫王 in (03) und (002a). Der kausale Zusammenhang zwischen dem Ignorieren der Remonstration und den eingetretenen Verhängnissen (nan 難) wird in beiden Fällen durch die Konjunktion [shi]yi [是]以 (»weshalb«) gestiftet.

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Urheberschaft nicht (mehr) zu ermitteln sind. Ebenso verhält es sich mit der Frage nach der Faktizität der erzählten Ereignisse: Dass einzelne Ereignisse, die dritten Quellen wie Annalen und Chroniken o. Ä. entnommen wurden, tatsächlich stattgefunden haben, kann nicht ausgeschlossen werden; aber dass die Beratungsszenen in den hier vorgestellten Anekdoten sich tatsächlich so ereigneten, geschweige denn den Wortlaut der Beratungen exakt wiedergeben, ist äußerst unwahrscheinlich. Ferner haben wir allen Grund zu der Annahme, dass die Anekdoten in die Form einer Sammlung gebracht wurden, um eine konkrete Funktion zu erfüllen, nämlich die eines didaktischen Funktionstextes, der zu rechtem Herrscherhandeln anleiten sollte. Da es sich beim ›Guoyu‹ klärlich um einen Fürstenspiegel handelt, ist die Frage nach dem historischen Gehalt seiner einzelnen Textbausteine nicht so relevant wie die nach der Art und Weise, w i e hier vorgeblich historische Stoffe erzählt werden. Diese Herangehensweise scheint mir ein probates Mittel, um die Anekdoten dahingehend zu untersuchen, wie sie ihre didaktische Funktion zu erfüllen vermögen – und hierin liegt die Aufgabe der eigenen Forschungsarbeit. Das ›Guoyu‹ im Allgemeinen und die darin kompilierten Remonstrationsanekdoten im Speziellen sind ein Spiegel für das konfliktgeladene Verhältnis zwischen den obersten Herrschaftsträgern und einer subalternen Ratgeberelite in der ausgehenden Vorkaiserzeit. Diese selbstbewusste Elite forderte gegenüber der etablierten Herrscherschicht ein Recht auf Machtpartizipation und Dissens ein.77 ›Dissens‹ ist hierbei im Sinne des altchinesischen, positiv konnotierten Konzepts der ›Harmonie‹ (he 和) zu verstehen: Es meint die Zusammenführung divergierender Standpunkte mit dem Ziel einer ›konsensualen‹ Entscheidungsfindung. ›Harmonie‹ meint also einen konstruktiven Dissens, wodurch Herrschaft gesichert werden kann.78 In den erzählten Welten der Remonstrationsanekdoten dominiert jedoch zumeist der Konflikt – also die konfrontative Verweigerung des Herrschers, Rat anzuhören – wodurch Macht und Herrschaft aus der Perspektive der Ratgeber (unnötig) gefährdet werden. Wenn allerdings ›Konsens‹ herrsche, also die ›har77 Zum Dissens im alten China vgl. auch Heiner Roetz, On Political Dissent in Warring States China, in: Karina Kellermann/Alheydis Plassmann/Christian Schwermann (edd.), Criticising the Ruler in Pre-Modern Societies – Possibilities, Chances, and Methods (Macht und Herrschaft 6), Göttingen 2019, 211–236. 78 Hierzu ausführlich Paul Fahr/Christian Schwermann, ›Konsensuale Herrschaft‹ im alten China. Eine begriffsgeschichtliche Annährung, in: Linda Dohmen/Tilmann Trausch (edd.), Entscheiden und Regieren. Konsens als Element vormoderner Entscheidungsfindung in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 9), Göttingen 2019, 177–196, bes. 177– 186; Heiner Roetz, Das Konzept einer »Harmonischen Gesellschaft«, in: Gregor Paul (ed.), Staat und Gesellschaft in der Geschichte Chinas. Theorie und Wirklichkeit (Staatsverständnisse 87), Baden-Baden 2016, 123–133.

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monische‹ Berücksichtigung der Beraterstandpunkte bei der herrscherlichen Entscheidungsfindung, profitiere das Herrschaftsgefüge im großen Maße. Diese spezifische Erzählperspektive deutet nicht nur an, welche Handlungsnormen an den Herrscher konkret vermittelt werden sollen, sondern ist auch ein Indikator für eine ausgesprochen herrscherkritische und ratgeberfreundliche Grundausrichtung der Remonstrationsanekdoten generell.79 Insofern ist das ›Guoyu‹ wertvolles Untersuchungsmaterial, um unser transkulturelles Sichtfeld auf die Phänomene ›Konflikt‹ und ›Konsens‹ in vormodernen Gesellschaften zu erweitern.

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79 Dazu mehr in der kommenden Studie zur Remonstration im ›Guoyu‹ aus erzähltheoretischer Perspektive von Felix Bohlen.

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Peter Schwieger

Der Konflikt zwischen den Königreichen von Ladakh und Purig im 18. Jahrhundert und seine Lösung: Ausschnitt aus der vertraglichen Konfliktlösung von 17531

Teilprojekt ›Zentrum oder Peripherie: Herrschaft zwischen gedachter und realer Ordnung in tibetischen Gesellschaften am Beispiel der Namgyal-Dynastie Ladakhs (16.–19. Jh.)‹ (Leitung: Prof. Dr. Peter Schwieger, Tibetologie)

1.

Der Text

Auf dem Titelblatt der auf uns gekommenen Handschriften wird der Text, der hier vorgestellt werden soll, als Vergleich beschrieben, in dem »die korrekte gute Übereinkunft der Könige von mN˙a’-ris Mar-yul La-dvags, Onkel und Neffe,« niedergelegt wurde. Der Text stammt aus dem Jahr 1753 und wurde im Kloster Vam-le im heute zu Indien gehörenden Ladakh, nahe der Grenze zu dem heute ˙ zur VR China gehörenden Tibet, verfasst. Er ist nicht im Original überliefert. Zugrunde gelegt wird eine kritische Textedition, die auf drei Abschriften ohne Rechtskraft und mit unterschiedlichen Textdefiziten sowie einer stark gekürzten Fassung basiert. Eine weitere inzwischen aufgetauchte Abschrift konnte bei der Textedition noch nicht berücksichtigt werden.2 Verfasst wurde der Text von Che-dban˙-nor-bu (1698–1755), einem buddhistischen Geistlichen aus dem osttibetischen Kloster Kah-thog. Bei dem Text handelt es sich um eine Vertrags˙ urkunde, die im Original von allen Empfängern untersiegelt wurde. Der Zweck der Urkunde bestand in der Lösung einer Reihe von Konflikten, die aus der Spaltung des Königreichs von Ladakh im Jahr 1734 resultierten oder mit dieser Spaltung in Verbindung standen.

1 Textedition und Übersetzung in: Peter Schwieger, Teilung und Reintegration des Königreichs von Ladakh im 18. Jahrhundert. Der Staatsvertrag zwischen Ladakh und Purig aus dem Jahr 1753 (Monumenta Tibetica Historica, Abteilung III, Band 7), Bonn 1999, 101–250. 2 Peter Schwieger, Eine neu entdeckte Handschrift des Vertrages zwischen den Königreichen von Ladakh und Purig aus dem Jahre 1753, in: Zentralasiatische Studien 47 (2018), 437–487.

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2.

Peter Schwieger

Inhalt und thematische Schwerpunkte des Textes

Bei dem Text handelt es sich um einen Vertrag, der in erster Linie zwischen zwei Königen abgeschlossen wurde, darüber hinaus jedoch die wechselseitigen Beziehungen weiterer ›Großer‹ der Region regelt. Im Mittelpunkt steht das Spannungsverhältnis zwischen dem regionalen Zentrum und der regionalen Peripherie. Der Text dokumentiert darüber hinaus das große Interesse des übergeordneten Zentrums (Lhasa) an einer Konfliktlösung. Der Handlungsraum ist das im westlichen Himalaja gelegene Ladakh, das damals an das indische Moghulreich grenzte. Die für das Zustandekommen des Vertrages zentralen Figuren sind die Könige von Ladakh (Königssitz Sles, heute Leh), Purig (Königssitz Mulbekh), Zan˙s-dkar und He-na-ku, der Halbbruder des Königs von Ladakh, die Söhne des entmachteten obersten Ministers von Ladakh, die ›Fürsten‹, die Vertreter der Kaufleute aus Kaschmir sowie der aus Tibet entsandte buddhistische Geistliche als Vermittler. Gegenstand des Vertrages sind diverse Spannungen in Folge der Spaltung des Königreichs von Ladakh, die auf den Einfluss der zweiten Frau des verstorbenen Königs von Ladakh zurückging: Sie hatte für ihren leiblichen Sohn ein eigenes Königreich gefordert und die Spaltung des Königreichs durchgesetzt.

3.

Textstelle

Die Textstelle, die es hier zu beleuchten gilt, wird zunächst in Gestalt von fünf handschriftlichen Abbildungen aus der Abschrift der Vertragsurkunde präsentiert, die in der ›Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz‹ aufbewahrt wird (Hs.or.2337), und sodann in Übersetzung dargeboten. Die Passage zitiert aus der rechtlichen Verfügung (dispositio) der Vertragsurkunde. Sie ist in vier Punkte untergliedert, welche die wesentlichen Vereinbarungen zusammenfassen.3

3 Die folgende Textstelle wurde Schwieger 1999, 243–247, entnommen. Für diesen Beitrag wurde der Text an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Das ursprünglich verwendete Transliterationssystem wurde beibehalten.

Der Konflikt zwischen den Königreichen von Ladakh und Purig im 18. Jahrhundert

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Peter Schwieger

Abb. 1–5: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Hs. or. 2337, Ausschnitte aus einer Abschrift der Vertragsurkunde.

»Zwar wurden die meisten Gebote und Verbote, die auf diese Weise in der dauerhaften Verpflichtung selbst ausgeführt sind, bereits oben erwähnt, aber damit sie gewiss sind, sollen sie hier noch einmal fixiert werden! Sie werden (hier) unter Zusammenfassung des Wesentlichen erklärt. Dem sind die Hauptpunkte der Reihe nach zugrunde gelegt: Zuerst wurden ausführlich Gebiete, Herrschaft und Macht von Onkel und Neffe festgelegt. [100r] Früher hatte es zwischen den Königen, Onkel und Neffe, Unstimmigkeiten bezüglich des Gebiets des Königs von Mulbekh gegeben. sPi-ti, mKhar-bu und das, was man gewöhnlich (als das Gebiet) unterhalb des (Passes) Pho-to-la bezeichnet, sollen von heute an auf Dauer allein bKra-sˇis-rnam-rgyal gehören! Was die Abgaben durch die fünf Herren von Purig betrifft, so gibt es im großen Schloss seit (der Zeit des) Sen˙-ge-rnam-rgyal eine Abmachung. Dass ein großer Zusammenhang mit dieser (Abmachung) besteht, scheint daher zwar festzustehen. Aber nachdem der König (Sen˙-ge-rnam-rgyal) zurückgetreten war, verkam (die Abmachung) als beeidetes Versprechen, indem der Vater (Ñi-ma-rnam-rgyal) sagte: ›Es war (damals nur) ein besonderes (einmaliges) Präsent.‹ Dennoch wurde es von mir zu einer guten Sitte gemacht: Die Abgaben der fünf Herren nimmt der König von Mulbekh entgegen. Indem (dann) der König von Mulbekh im großen Schloss als Symbol für das tugendhafte Arrangement der jährlichen Abgabe die Anzahl von acht dn˙ul überreicht, soll das allgemeine Wohl bewirkt werden! Was die Pferde und das Vieh des Herrschers von Mulbekh, das sich auf dem Ladakh unterstehenden Gebiet befindet, betrifft, so sollen von den Pferdeherden sechzehn an das große Schloss zurückgegeben werden! [100v] Indem er die haltlose Beschimpfung, der Minister Chul(-khrims-rdo-rǰe) sei wegen der Behauptung, der rGyal-sras und die Königin würden zusammenleben, abgesetzt worden, zugegeben hat, sollen sechs Pferde(herden), (also) der Rest der insgesamt 22 (ihm früher) gegebenen (Herden), (eben) die Anzahl, welche (dann) noch da ist, wie in der Vergangenheit dem König (von Mulbekh) gehören! Das schwarze Vieh (d. s. Yaks und mjo), die kurzbeinigen Tiere (d. s. Schafe und Ziegen) und die verschiedenen Nomadengruppen sollen aufgrund der (inzwischen) guten Beziehung zwischen Onkel und Neffe wie früher auf den Weiden der Ladakhis bleiben! Falls (aber der König von) Mulbekh wünscht, sie selbst an sich zu nehmen, bzw. die Ladakhis nicht wünschen, dass sie (in Ladakh) bleiben, kann (der König von) Mulbekh selbst sie an sich nehmen!

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Was die Felder und Häuser des Königs von He-na-ku, dKon(-mchog-lhun)-grub, angeht, so wurde zu Recht unbedingt für wichtig erachtet, dass (ihm) die Urkunde des Königs Ñi-ma-rnam-rgyal darüber, dass er nach außen und innen die Verfügungsgewalt (über sie) erhalten hat, und das, was damals festgelegt worden war, was es auch sei, nicht (wieder) geraubt, verringert oder umgewandelt wird und dass dem Vorbild und Ansehen des ganzen Königsgeschlechtes von Ladakh kein Schaden zugefügt wird. Eben diesen Prinzen Khri Che-dban˙-rnam-rgyal hat der König und Onkel bKra-sˇis-rnam-rgyal an Sohnes statt angenommen. Deshalb soll, wenn der König jetzt keinen Sohn (mehr) bekommt, Prinz Che-dban˙ auch den Herrscher von Mulbekh wie seinen Vater verehren [101r] und mit großer Güte für seine Familie sorgen! Ferner: Sollte der König (noch) einen Stammhalter bekommen, so wurde auch festgesetzt, dass er – (wie) oben erwähnt – Herrscher von Mulbekh bleibt. Das entspricht der bestehenden Festlegung für Zan˙s-dkar und He-na-ku durch den Vater und Großvater. Er (d. i. der eventuelle Stammhalter) soll dem Schloss gegenüber in gleicher Weise Respekt bezeugen! Sollte sich (dem König von Mulbekh) ein Sohn und Prinz ergeben, soll er der Verbündete des Prinzen Che-dban˙ sein, und wenn sich ein (Sohn) mit geringen (geistigen Fähigkeiten) ergibt, soll Che-dban˙ ihn – so gut er kann – schützen wie (seinerzeit) Don-grub von Prinz Ñi-ma(-rnam-rgyal) beschützt worden ist! Soweit über die vier Punkte: das, was zugelassen bzw. abgelehnt wurde, Territorium, Herrschaft und Macht. Und (nun) der zweite Hauptpunkt: Es ist recht, dass König (Phun-chogs-rgyal) und sein Bruder (rGyal-sras-rin-po-cˇhe) bzw. Onkel und Neffe untereinander zeitweilige Gebote und Verbote einhalten. Das ist sehr wichtig. Vom großen Schloss in Sles bis nach Mulbekh gibt es für Boten aus Kaschmir und Handelsreisende keinen Unterschied, von wem sie auch immer einen Pass bekommen haben, ob aus dem oberen oder dem unteren (Mar-yul). Ansonsten, was Boten oder (z. B.) vierzig Traglasten von Kulis aus Ladakh oder Purig angeht, [101v] so soll es nicht dazu kommen, dass es wegen eines Passes aus dem oberen oder dem unteren (Mar-yul) Komplikationen gibt. Ferner die Verfahrensweise für den Rest: Höherstehende Persönlichkeiten sollen vom Schloss einen Pass erbitten, um zu verreisen! Boten des Königs von Ladakh, die nach Kaschmir gehen müssen, soll man – ohne dass es (dadurch) aus Mulbekh Komplikationen gäbe – sofort (weiter)schicken! Es ist rechtens, dass der Herrscher von Mulbekh (Boten) nach sPi-ti etc. schickt. Sollte jedoch (dazu) ein Pass benötigt werden, soll er sofort vom großen Schloss geschickt werden! Der Herrscher von Mulbekh soll sich auch um einen Pass bemühen für die Entsendung von Boten, z. B. wenn sie im Gebiet von dBus und gCan˙ für einige Zeit vollkommen tugendhafte Taten ausführen sollen! Was dieses (alles) betrifft, so soll es, solange der König von Mulbekh, bKra-sˇis-rnam-rgyal, lebt, durch wen auch immer aufrichtig ausgeführt werden! Und sollte möglicherweise aufgrund des degenerierten Zeitalters ein Mensch mit unlauteren Absichten aus Kaschmir oder Baltistan oder (aber auch) aus Ladakh oder Purig zwischen den führenden Persönlichkeiten Zwietracht stiften, soll jeder einzelne, ohne (überhaupt) von Anfang an auf ihn zu hören, Großmut zeigen! Gewiss sollte es eine (gemeinsame) Grundlage geben. [102r] Indem die führenden Persönlichkeiten einander gegenseitig im Geheimen fragen, was wahr ist und was nicht, sollte die Unstimmigkeit bereinigt werden, falls derjenige, der (die Angelegenheit) vorbringt, und derjenige, der damit persönlich konfrontiert wurde, einander Schaden zugefügt haben. Hat

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sich dann (die Unstimmigkeit immer noch) nicht so entspannt, wie früher eine harmonische Beziehung (bestanden hat), und hat die in der Landessprache Ladakhs als das Umarmen der Füße bekannte (Respektsbezeugung) den anderen Herrscher nicht beeindruckt, soll man bei dem anderen (Herrscher) Zuflucht suchen. Das soll akzeptiert werden! Derjenige, der eine größere oder kleinere Angelegenheit dieser Art, eine Ursache für Disharmonie zwischen wem auch immer, gesehen, von ihr gehört oder (sonst wie) erfahren hat, schafft bei so etwas geschickt Einvernehmen zwischen den führenden Persönlichkeiten. Wird (eine Beilegung des Konflikts) dadurch nicht akzeptiert, was soll dann überhaupt noch irgendjemand von der undankbaren Willkür unter den (beteiligten) führenden Persönlichkeiten reden? Weil Leute, die mit der Bevölkerung des Landes nicht im Einklang sind, zu einer Ursache von Unschönem werden, selbst noch, wenn man ihr ›Umarmen der Füße‹ im großen Schloss akzeptiert hat, ist es angebracht, (die Sache) ernst zu nehmen. Bezüglich der verschiedenen wichtigen Punkte für das Ansehen (Ladakhs) sollen die Brüder (Phun-chogs-rnam-rgyal und rGyal-sras-rin-po-cˇhe), der Onkel und der Neffe persönlich oder ansonsten schriftlich über fähige Boten durch gute Konsultationen [102v] und genaue Erklärungen in angemessener Weise die Befolgung dessen, was geboten, und dessen, was zu unterlassen ist, bewirken! Dies ist der wichtigste unter den vom jina hervorgehobenen sieben Gründen dafür, dass ein Land nicht zugrunde geht. Es ist angebracht, das auch so im Geiste zu bewahren. Was die soweit (ausgeführten) vier Punkte betrifft, so sind sie das, was vorläufig von Onkel und Neffe zu befolgen bzw. zu unterlassen ist. Nun der dritte (Haupt)punkt: Wenn man nur ganz kurz die von den Ministern sowie den rgan-gco zu befolgenden und zu verwerfenden Punkte ausführt, so heißt es, dass es angebracht ist, dass sie den König, der über das Land herrscht, wie ihr Haupt verehren sollen. Sie sollen ihn mit Aufrichtigkeit wie mit den besten Kleidern umwickeln! Wenn der Herrscher falsch an seine Aufgaben herangeht, sollen sie sogar von harten Worten Gebrauch machen, und verkehrte Handlungen sollen sie nicht mit besänftigenden Worten loben. Damit es nützt, sollen sie ihn mit aufrechten Worten umwickeln. Wenn sie – ohne eigenwillig zu sein – dem Ansehen der Königsherrschaft nützen, sind sogar täuschende Worte rechtens. Wie auch immer, wenn der König glücklich ist, ist (auch) das Königreich glücklich. Sich um diese Situation zu bemühen, das ist daher das Charakteristikum des weisen Ministers; es ist recht, dass er das tut. [103r] Ohne sich auch nicht im Geringsten auf die Aktivitäten der Streitigkeiten und Auseinandersetzungen unter den Persönlichkeiten der Königsfamilie einzulassen, bemüht er sich beständig um Aktivitäten gegenseitiger Harmonie und Freundschaft. Das Ansehen der Königsherrschaft hängt – indem sich der König im Zentrum befindet – von der Art und Weise ab, wie er von den (ihn umgebenden) verständigen Ministern geschützt wird. Daher sind sie in der Lage, Gastfreundschaft gegenüber den Königreichen dort in der Region sowie innen die aufrechte Ausführung guter oder schlechter Aufgaben durch die Untertanen zu initiieren. Halten sie sich hieran, geraten sie daher nicht unter den Einfluss von Verwandten, Frauen oder Besitz(streben); sie folgen einzig und allein einem Verhalten, bei dem sie zurückhaltend und ehrlich bleiben. Ohne dass es hinsichtlich der äußeren und inneren Aktivitäten sowie des ganzen Lebensunterhaltes (?) für Herrscher und Untertanen zu Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit, Faulheit oder Geringschätzigkeit kommt, übernehmen die größeren und kleineren Minister, die Älteren

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und die Jüngeren und die Allgemeinheit jeweils freiwillig zusammen die Verantwortung, ohne sie auf andere zu schieben. Genau wie Säulen, Träger, Sparren und Schalung des Hauses müssen sie gemeinsam die Verantwortung tragen, ohne dass es Konkurrenzgefühle und Überheblichkeit gibt. Auf die Weise gibt es vier formulierte Kernpunkte darüber, was die Minister, Ältesten und gemeinen Leute zu tun haben. [103v] Die vierte Sache unter den (Haupt)punkten: Indem sie das Wohl der ganzen Lehre und aller Lebewesen im Auge haben, ist es angebracht, dass alle, der König, (und zwar) yab und yum, sein Sohn und die Minister, (diesen vierten Hauptpunkt) beherzigen. Eben dieses Land ist zur Eingangstür geworden, an der viele verschiedene sehr große, bevölkerungsreiche, sehr mächtige, sehr starke und stolze Königreiche zusammenkommen. Weil daher die verschiedenen Königreiche im gegenseitigen Einvernehmen (durch Heiratspolitik) Verwandte wurden, sind sie durch die Wurfschlinge der Freundschaft miteinander verbunden. Dass sie nicht locker ist, das ist daher der Preis, durch den das Wohl des Landes Mar-yul hervorgebracht wurde. Dadurch ist es auf wunderbare Weise zu etwas Gutem im Gebiet des Schneelandes geworden. Diese Art und Weise (gegenseitiger Bindung) ist nicht degeneriert. Und wenn es hier inmitten der Schneeberge niemals Anhänger des Islam und des Hinduismus gegeben hat, sind alle Leute in Tibet, die sich einem Lehrsystem angeschlossen haben, ausschließlich solche, die nicht nur einzig und allein dem folgen, was der Löwe der S´a¯kya, der vollendete Buddha, gelehrt hat, sondern darüber hinaus (nur) dem ›großen Fahrzeug‹. Indem deshalb die Ladakhis die ursprüngliche Lehre des jina mit dem offenen Auge des Verstandes schätzten und gerne akzeptierten, [104r] haben sie die Tätigkeiten für das Prosperieren (der buddhistischen Lehre) ausgeführt, ohne dass es (dafür) eine gute Sitte aus früherer Zeit gegeben hätte. Was die Blockade der Reisenden allgemein und insbesondere des Handelsweges zwischen Kaschmir in Indien und dem Schloss von Sles in Mar-yul angeht, war sie überhaupt nicht gut. Abgesehen von (der Beibehaltung dessen), was in der Tradition guter alter Sitte steht, beispielsweise Zöllen, soll man deshalb niemals, auch nicht im Geringsten, Gründe für die Ausraubung, Zurücksendung, Zerstreuung oder den Rauswurf (reisender Kaufleute) erfinden – (alles) Handlungen, die die Kaufleute vollkommen (an der Ausübung ihres Berufes) hindern würden. Auch Vertreter der Kaufleute aus Kaschmir selbst haben eigens darum gebeten. Indem dementsprechend die Könige versprechen, dass von nun an den Kaufleuten kein Schaden zugefügt wird, haben sie einen großen erfolgversprechenden Weg geschaffen. Genau darum habe ich mich bemüht, wobei ich mir der indischen Sitte gemäß die große tugendhafte Tradition vorstellte, dass es bis ans Ende der Zeit bestünde. Daher wurde der Text gleichlautend in fünffacher Ausführung auf Kupfertafeln niedergelegt. Sie befinden sich in den Händen der Herren von Mar-yul, Onkel und Neffe, dem Oberhaupt von Kaschmir und der Kaufleute aus Kaschmir. Daran gibt es auf gar keinen Fall eine Änderung. Dass es sie von Seiten Ladakhs und Purigs allgemein (geben könnte), darüber braucht man nach der Tradition des guten alten Rechts von Mar(-yul) überhaupt nicht zu reden! [104v] Hat der König einen Boten nach Kaschmir geschickt, ist es ihm auf gar keinen Fall erlaubt, außer etwa einer Last Reiseproviant, Salz oder Wolle, irgendwelche feine Ziegenwolle zu transportieren. Auch auf dem Heimweg soll ein jeder nichts anderes außer ein oder zwei Traglasten zusammen mit Proviant und Geschenken tragen. Im Einzelnen soll der Herrscher von Mulbekh entsprechend der Anzahl der Personen vier bis sechzehn Traglasten – wie es angemessen ist – durchlassen für (den

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Fall), dass tibetischer Art und Weise gemäß mehrere Male Kha-cˇhul, der Schatzmeister des Schlosses von Ladakh, zur Untersuchung einer Angelegenheit altem Brauch entsprechend nach He-’bab (im Tal von Dras) geht, oder (für den Fall), dass – indem keine Gelegenheit ist, dass der ständige Vertreter (persönlich) ginge – (an seiner Stelle) eigens ein Bote geht. Wie auch immer, es ist wichtig, dass abgesehen von dem, was alte Sitte ist, niemals Handlungen nach einem neuen Brauch begangen werden, der einem selbst oder anderen Leid verursacht. Vor allem soll man aus reiner Gesinnung Verehrung und Wertschätzung erzeugen gegenüber der ganzen kostbaren Lehre des Thub-pa-ñi-ma (d. i. S´a¯kyamuni), des stets Unvergleichlichen, der für die Sphäre dessen, der den Lotos in der Hand (hält), für das kühle Land, angefangen mit Mar-yul, das (ganze) Gebiet der Schneeberge, und (darüber hinaus) für (den gesamten Bereich) unter der Sonne, der bis ans Ende der Erde reicht, der Führer auf dem alles überragenden Weg zur höchsten Befreiung ist. [105r] Und wenn Schaden für sie möglich ist, soll man nicht locker lassen in seiner Absicht, ihn mit hohem Verantwortungsbewusstsein abzuwenden. Besonders das, was die asuras, die keine Freude an der kostbaren Lehre haben, gerne veranlassen, das Befolgen des Weges der Unterdrückung etc., soll man vollkommen trennen von dem Harmonieren mit den pratyantahara-jña¯ (?) und den Verwandten väterlicherseits, indem man nicht die ˙ überkommene gute Sitte aufgibt. Und man soll in keiner Weise Veranlassung oder Führung zur Vorbereitung von Kampf und Krieg oder (gar) Pläne machen, der kostbaren Lehre des jina Schaden zuzufügen.«

4.

Kommentierung4

Die vornehmliche Pflicht des Königs sowie der ihn als Herrscher unterstützenden Minister war es, die buddhistische Lehre zu schützen, ihr Gedeihen zu fördern und damit zugleich das Wohl der Untertanen zu garantieren. Damit verbunden war das Bewusstsein einer Auserwähltheit, die darin bestand, dass Ladakh als Teil des Schneelandes gesehen wurde, in dem allein der Buddhismus in seiner besonderen Form des Maha¯ya¯na in ungebrochener und unbeschadeter Tradition und als nahezu einzig von allen seinen Bewohnern akzeptierte Lehre überlebt hatte, während er in allen anderen ursprünglich buddhistischen Ländern, die das Schneeland umgaben, entweder völlig von anderen Religionen verdrängt worden war oder aber sich in ständiger Konkurrenz mit ihnen befand. Die Verantwortung, die äußeren Bedingungen dafür herzustellen und zu erhalten, dass dieses einzigartige Erbe der wahren Lehre an die kommenden Generationen weitergegeben werden konnte, oblag in Ladakh an oberster Stelle dem König.

4 Die Kommentierung wurde Schwieger 1999, 88–94, entnommen. Für diesen Beitrag wurde der Text an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Bis auf wenige Ausnahmen wurde auf die Fußnoten verzichtet.

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Die bestimmenden Elemente des Königtums waren die ununterbrochene dynastische Tradition sowie der altehrwürdige Ursprung des Geschlechts bei den ersten tibetischen Dharma-Königen und deren Herleitung von den indischen S´a¯kya Licchava und König Maha¯sammata, dem ersten König der Welt überhaupt. Durch den so postulierten Ursprung wurde das Königtum letztlich in genealogische Beziehung zu Buddha S´a¯kyamuni gesetzt. Beide Elemente zusammen formten den Nimbus von der Tradierung einer besonderen Berufung zur Herrschaft, die das Gedeihen und den Schutz der buddhistischen Religion und das Wohl der Lebewesen garantieren sollte. Die Autorität des Herrschers beruhte gleichsam auf der Kraft der magischen Teilhabe an den kulturstiftenden Leistungen der Heroen der Vergangenheit. Diese Heroen gaben nach der tibetisch-buddhistischen Ideologie als irdische Verkörperungen himmlischer Bodhisattvas dem Königtum zugleich eine Verwurzelung in der Transzendenz. Dem entsprach in der vorbuddhistischen Vorstellung vom sakralen Königtum die Idee von der himmlischen Herkunft der ersten tibetischen Könige. Beide Vorstellungen statten den Herrscher mit außeralltäglichen Fähigkeiten und Eigenschaften aus, die ihn in den Augen seiner Untertanen als Herrscher geeignet erscheinen lassen. Ihren Ausdruck fanden diese Fähigkeiten und Eigenschaften in den überlieferten außergewöhnlichen Leistungen und Handlungen der ersten tibetischen Könige, auf die sich im Bewusstsein der Menschen Sitte, Religion und Recht gründeten. Max Weber hat ausgehend von seiner idealtypischen Einteilung der Formen der Herrschaft in solche rationalen, traditionalen und charismatischen Charakters die Erbmonarchie als einen Fall von traditionalisierter charismatischer Herrschaft bezeichnet. Das Charisma ist gleichsam zu einer »Qualität des Blutes« geworden; die außeralltägliche Herrschaft hat sich veralltäglicht. Nicht mehr die eigene Tat nobilitiert; der Mann wird »nur noch durch die Taten seiner Vorfahren ›legitimiert‹«.5 Diese kulturstiftenden Taten der Vorfahren besitzen jetzt normativen Charakter. Vor diesem Hintergrund erscheinen von der Landessitte abweichende Regeln, Neuschöpfungen also, als durch nichts legitimiert. Das Verhalten der Gegenseite mit diesem Etikett zu versehen, wird daher wiederholt im Laufe der Verhandlungen in Vam-le benutzt, um unliebsame Ansprüche ˙ zurückzuweisen. Die traditionale Herrschaft stützt ihre Legitimität generell auf die seit alters her geltenden Ordnungen. Die Tradition selbst wird zum »Orientierungsmittel der Rechtsfindung«.6 Immer wieder sind es daher Präzedenzfälle, die als Argu-

5 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1956, 2. Halbband, 682, 1. Halbband, 144. 6 Vgl. Weber 1956, 1. Halbband, 131.

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mentationshilfe herangezogen werden und die auch die Wege zur Lösung der Probleme aufzeigen sollen. Daneben ist es die Analogie der Königs- zur Grundherrschaft, die die Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit von Herrschaftsansprüchen deutlich machen soll. Vor allem soll sie den Anspruch auf Unteilbarkeit der Herrschaft legitimieren und der mit dieser Vorstellung konkurrierenden Tendenz zur Dynastieteilung entgegenwirken. Die traditionellen Erbfolgeregelungen Ladakhs, wie sie für den privaten Landbesitz Gültigkeit besaßen, schützten vor der endlosen Aufsplitterung von Grundbesitz. Die Analogie von Königsherrschaft und Grundherrschaft wird daher in vorliegender Quelle bewusst angeführt, um Ansprüche auf eine Dynastieteilung als nicht durch die Landessitte legitimiert zurückzuweisen. Eine willkürliche Segmentierung von Herrschaft und Territorium erscheint vor dem Hintergrund der Erbfolgeregelung bei der Grundherrschaft als illegitim. Wenn dennoch eine Segmentierung von Herrschaft erfolgte, musste sie sich an den Ausnahmefällen von Erbteilung orientieren, für die das Modell der Grundherrschaft genau angebbare Kriterien bereithielt. Demzufolge muss man differenzieren, wenn von der Unteilbarkeit des Königreiches gesprochen wird. Analog zur Grundherrschaft hatte das unter der Herrschaft stehende Territorium keinen einheitlichen Charakter. Das von alters her, sprich seit vielen Generationen, zur Königsherrschaft gehörende Territorium konnte im Allgemeinen offenbar nicht so leicht abgespalten und einem jüngeren Königssohn als Erbe zugesprochen werden. Es wird uns keine genaue Zeitangabe gegeben. Der Maßstab ist ein relativer: Je länger ein Territorium unter der zentralen Königsherrschaft stand, desto unverbrüchlicher wurde es als unveräußerlicher Bestandteil des Kernlandes angesehen, das das eigentliche Königreich konstituierte. Dass das einen alten Ursprung in der Aufeinanderfolge der Könige von Ladakh aufweisende mKhar-bu dennoch dem neu geschaffenen Königreich eines jüngeren Sohnes zugesprochen worden war, stellten die Ladakhis daher in Frage bzw. sahen sie zumindest als wider die Landessitte und damit als unrecht an. Der König von Mulbekh sah denn auch seinen Besitzanspruch auf mKhar-bu durch einen besonderen Grund gerechtfertigt, nämlich den, dass er dieses Gut samt seiner Feste zur Verteidigung der Grenze des Königreichs von Ladakh, also für eine besondere Aufgabe, die er für das Königreich von Ladakh zu erfüllen hatte, benötigte. Ansonsten legte auch der König von Mulbekh Wert auf die Feststellung, das Territorium des Königreiches von Ladakh intakt, d. h. ohne Zerbröckelung oder Verlust, dem verwaisten Phun-chogsrnam-rgyal, der während der Minderjährigkeit seiner Obhut unterstanden hatte, übertragen zu haben. Später hinzugekommenes, im Falle der Grundherrschaft ausdrücklich erst zu Lebzeiten des Vaters erworbenes Territorium hatte dagegen offensichtlich eine

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andere Qualität. Es bildete gleichsam die Manövriermasse, die dem Vater gegebenenfalls zur Abfindung jüngerer Söhne zur Verfügung stand. Analog zur Erbfolgeregelung bei der Grundherrschaft fiel das Stammland traditionell dem ältesten unter den Söhnen zu, während später hinzugewonnenes Territorium durchaus jüngeren Prinzen als Königreich überantwortet werden konnte, wobei jedoch eine durch vorgeschriebene Loyalitätsbekundungen zum Ausdruck gebrachte Unterordnung unter die Oberhoheit des Hauptkönigreiches erhalten blieb. Die Alternative für die jüngeren Prinzen war der Eintritt ins Kloster oder ihre Aufnahme in die Reihe der Minister. Belege hierfür lassen sich nicht nur aus dem vorliegenden Vertragstext anführen; sie liegen auch bereits für die Nachfolge König Sen˙-ge-rnam-rgyal’s vor. […] Die hier angesprochene Landessitte für die Vererbung von Grundbesitz ist kein Spezifikum Ladakhs; sie ist vielmehr charakteristisch für den tibetischen Kulturkreis überhaupt. So schreibt Rolf A. Stein: »Normalerweise aber ist das Land in der Hand einer Familie und ist nicht teilbar sowie unveräußerlich. Die Gruppe der Brüder teilt die Frau, das Haus und das Land, aber ihr gemeinsamer Besitz ist sozusagen in der Person des älteren Bruders zusammengefasst […] Praktisch ist die Gruppe der Brüder, die zusammenwohnen, oft vermindert. Im Allgemeinen werden jüngere Brüder Mönche […] selbst wenn sie Mönche geworden sind, behalten sie weiterhin einen potentiellen Anteil an der Frau und dem Land […] Diese Vorschriften dienen dazu, die Teilung des Besitzes (Land oder Vieh) zu verhindern.« Und Stein zitiert eine König Khri-sron˙-lde’u-btsan zugeschriebene Äußerung aus dem Padma-than˙-yig: »Wenn viele Söhne da sind, sollen sie die Ländereien nacheinander in der Reihenfolge ihres Alters übernehmen, und der jüngere soll Geistlicher werden!«7 Diese Tradition wurde während des 18. Jahrhunderts in Ladakh von den Fürsten von rGya gebrochen. Dies geschah jedoch nicht auf Kosten ihres eigenen Stammgutes, sondern auf Kosten der königlichen Ländereien. Die Fürsten von rGya, im Rang des höchsten Ministers, hörten plötzlich auf, ihre jüngeren Söhne wie bislang üblich ins Kloster zu schicken. Wie es heißt, teilten sie ihnen stattdessen eigenmächtig großzügig Land aus dem königlichen Besitz zu und bemühten sich auch, durch eine geschickte Heiratspolitik – etwa die Verheiratung einer Tochter mit dem König von Mulbekh und damit die Einheiratung in das »hochstehende Geschlecht der rNam-rgyal« – ihre Machtbasis zu erweitern. Dies führte schließlich zum Konflikt mit dem Herrscherhaus von Ladakh, das in all diesen Aktivitäten eine bedrohliche Abspaltung königlicher Macht erblickte. Der Herrscher von Ladakh nahm sich daher als oberster Lehnsherr das Recht, nicht

7 Rolf A. Stein, Die Kultur Tibets, übers. v. Helga Uebach, Berlin 1993 (frz. Originalausg. Paris 1987), 106.

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nur ihre widerrechtlich erworbenen Ländereien, sondern auch ihr Stammgut zu konfiszieren. Wie schon Stein für den tibetischen Kulturraum generell feststellte, »verlangt das Prinzip der Erstgeburt und der patrilinealen Nachfolge, dass dieser jüngere Sohn sich zurückzieht, sobald der ältere einen Sohn hat. Es geschieht daher häufig, dass sich ein jüngerer Bruder selbstständig machen will […] Besonders im Adel versuchen die ›jüngeren‹ Gattinnen und ihre Klane gerne, die Nachfolge auf ihre Söhne zu übertragen.«8 Dieses Bestreben der jüngeren Gattinnen ist gleich zweifach in der vorliegenden Quelle belegt: König bDe-skyon˙-rnam-rgyal’s zweite Frau schaffte es, den ältesten Sohn, den Sohn der verstorbenen ersten Frau, als hohe Inkarnation ins Kloster abzuschieben. Als rGyal-sras-rin-po-cˇhe besaß er zwar hohes Ansehen, blieb jedoch von der Thronfolge und vom Erbe ausgeschlossen, was er – wie seinen Worten nur allzu deutlich zu entnehmen ist – nicht verwinden konnte. Stattdessen wurde der Sohn der zweiten Frau auf den Thron gehoben. Zumindest einen Teil der Macht versuchte auch die Zi-zi Khatun, die zweite Frau König Ñi-ma-rnam-rgyal’s, auf ihren Sohn zu übertragen und bewirkte zu seinen Gunsten eine dynastische Teilung. Der König führt dies auf ein Versprechen zurück, das sein Vater, König Ñi-ma-rnam-rgyal, bereits zu der Zeit gegeben habe, als er die zweite Frau ins Haus geholt hatte. Die Ladakhis sahen jedoch gerade in einem solchen Versprechen – sollte es denn tatsächlich gegeben worden sein – einen Verstoß gegen die Landessitte. Anlässlich der Teilung der Herrschaft wurde nicht nur Territorium abgespalten, sondern auch das Inventar des Schlosses von Ladakh, der dort angesammelte Reichtum, geteilt. Dies war jedoch nur möglich, indem der älteste Sohn und Thronfolger im Königreich von Ladakh ausdrücklich auf das traditionell den Eltern als Altersversorgung zustehende Drittel des Inventars verzichtete. Im Allgemeinen fiel dieses Drittel nach dem Tode der Eltern ebenfalls dem ältesten Sohn und Thronfolger zu. Nun hatte es Dynastieteilung auch schon früher in Ladakh gegeben. Zwei der Fälle, die Königreiche von Zan˙s-dkar und He-na-ku, werden auch in vorliegender Quelle angeführt. Diese beiden Königreiche sind durch die Teilung der rNamrgyal-Dynastie entstanden. Doch obwohl ihre Herrscher aus derselben königlichen Familie stammten, blieben ihre Königreiche weiterhin dem Königreich von Ladakh zu- und untergeordnet, was seinen Ausdruck in einer jährlich persönlich durch die Könige im großen Schloss zu überreichenden symbolischen Abgabe fand. Das in den Augen der Ladakhis Unerhörte am Verhalten des Königs von Mulbekh war die von ihm beanspruchte Vorrangstellung gegenüber Zan˙s-dkar und He-na-ku: »Obwohl auch die Könige von Zan˙s-dkar und He-na-ku eigentlich 8 Stein 1993, 110.

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Geschwister unserer väterlichen Vorfahren sind, mit denen sie beide Eltern gemein hatten, ist aufgrund der von Anfang an existierenden Landessitte noch nicht einmal davon die Rede, dass es heute etwas anderes gibt, als dass König und Minister von Ladakh den oberen Rang innehaben. Offensichtlich (für alle) ist genau dieser (Tatbestand). Von Seiten des Onkels wurde diese Sitte übertreten.«9 Er begründete seine Vorrangstellung zum einen mit seiner besonderen Verantwortung, die er seinerzeit für die Aufsicht des noch minderjährigen Sohnes seines verstorbenen älteren Bruders gehabt habe, und zum anderen mit seiner besonderen Verantwortung, die Grenze des Königreichs von Ladakh zu schützen. Diesen beiden Aufgaben in verantwortlicher Weise nachgekommen zu sein, wurde von den Ladakhis in Zweifel gezogen. Wenn auch faktisch Herrschaft und Territorium des Königs von Mulbekh durch die erzielte vertragliche Vereinbarung nicht beschnitten wurden, so einigte man sich doch auf eine analog zu den Königen von Zan˙s-dkar und He-na-ku im großen Schloss von Ladakh zu entrichtende jährliche Abgabe, die symbolischer Ausdruck der Unterordnung Purigs unter das Königreich von Ladakh war. Herrschaft und Territorium blieben jedoch ausdrücklich – anders als aus den uns bislang zugänglichen Quellen ersichtlich – einem leiblichen Sohn des Königs von Mulbekh garantiert. Ausgeschlossen wurde aber der sonst im tibetischen Adel zu findende Brauch, bei Ausbleiben eines Stammhalters die Nachfolge durch Adoption zu sichern. Bekannt ist, dass ein jüngerer Bruder eine solche Adoption verhindern konnte, um eigene Ansprüche geltend zu machen.10 Im vorliegenden Fall waren es jedoch die Söhne des älteren Bruders, die auf diese Weise die völlige Loslösung eines Trabanten vom zentralen Königreich verhindern und dessen Territorium wieder unmittelbar der zentralen Herrschaft unterstellen wollten. Denn offenbar sahen sie in einer Adoption eine bedrohliche Lockerung familiärer Bande. Solch enge Bande zugunsten einer größeren Dezentralisierung der Macht generell möglichst zu lockern, war jedoch ursprünglich das Bestreben des Königs von Mulbekh. Er wünschte sich einen König im großen Schloss von Ladakh, unter dem alle, Mönche und Laien, jeder einzelne, unabhängig voneinander die Klöster und Burgen halten sollte, unter dem jedem einzelnen große Macht gegeben würde. Eine solche Gesellschaft hätte letztlich die auseinanderstrebenden Kräfte gestärkt, die Position des Königs geschwächt, die des Adels und des Klerus gestärkt und am Ende zur Schaffung voneinander völlig unabhängiger Königreiche in Zan˙s-dkar, He-na-ku und Purig geführt. Im Vertragstext kommt noch ein weiterer Konflikt zur Sprache, der für eine feudale Gesellschaftsordnung typisch ist. Er betrifft die unklare Stellung der 9 Schwieger 1999, 226, tibetischer Text: 125. 10 Vgl. Stein 1993, 107.

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Fürsten, der ǰo-bo, in den kleineren, abhängigen Königreichen. Wem waren sie in erster Linie verpflichtet, dem jeweiligen Kleinkönig oder dem König von Ladakh? Es stellt sich hier auch die grundsätzliche Frage, ob es für einen Fürsten möglich war, gleichzeitig zwei Könige zu haben. In einem solchen Fall erscheint ein Loyalitätskonflikt auf die Dauer unausweichlich. Waren die ǰo-bo primär dem König von Ladakh verpflichtet, so fehlte damit dem König von Mulbekh die wichtigste Machtbasis im eigenen Land, denn es waren vor allem die Soldaten der Fürsten, die den König von Purig mit einer eigenen Streitmacht versorgten. Waren sie aber primär dem König von Mulbekh verpflichtet, so konnte der König von Ladakh nicht ohne die Zustimmung und den Willen des Königs von Mulbekh ihre militärische Unterstützung einfordern. Auch für die Feudalgesellschaft im europäischen Mittelalter wurde festgestellt, dass es zwar fast normal war, »für ein Landstück wie für einen Mann mehrere Herren zu haben«, aber »mehrere Könige zu haben, war unmöglich.«11 Die Zentralgewalt pflegte unmittelbare Herrschaftsbeziehungen nur zu den von ihr belehnten Vasallen und nicht zu den Untervasallen. Es hat jedoch darüber hinaus den Anschein, dass der König von Mulbekh nur begrenzten Einfluss auf die ǰo-bo hatte. Er bezeichnete sie als unzuverlässig und man gewinnt den Eindruck, dass er für seine eigene Macht auf ihren guten Willen und ihre bereitwillige Unterstützung durch ihre jeweilige militärische Hausmacht angewiesen war. […] Das Königtum Ladakhs war zwar eine Erbmonarchie, in der die Herrschaft grundsätzlich dem ältesten Königssohn zukam. Da jedoch in der Gesellschaft Ladakhs andere Mitglieder der Königsfamilie als Herrscher kleinerer Trabantenreiche, als Regenten minderjähriger Thronfolger oder als einflussreiche Königinnen großen Einfluss besaßen und auch mächtige Adelsfamilien über Generationen hinweg das Amt eines Ministers innehaben konnten und so über lange Perioden die Möglichkeit besaßen, eine große Hausmacht anzusammeln, zumal, wenn ein schwacher Herrscher auf dem Thron von Ladakh saß, wie es etwa bei dem kindischen König Phun-chogs-rnam-rgyal der Fall war, war es dennoch ratsam, bei der Inthronisierung eines minderjährigen Königs alle einflussreichen Persönlichkeiten durch Eid auf seine Person zu verpflichten. Zu diesem Zweck wurde daher bei der Inthronisierung des jungen Prinzen Che-dban˙-rnam-rgyal eigens eine Konfirmationsurkunde ausgestellt, in der alle Mitglieder der Königsfamilie sowie die Söhne des intriganten entmachteten obersten Ministers von Ladakh diesen Prinzen als geeigneten Herrscher für Ladakh bestätigten.

11 Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, übers. v. Eberhard Bohm, Stuttgart 1999 (frz. Originalausg. Paris 1939/40), 501.

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Diese Verpflichtungen bestanden jedoch nicht nur einseitig von Seiten der unteren Stufe gegenüber der höheren. Gegenseitige Bande sollten die Harmonie unter den einflussreichen Persönlichkeiten fördern, oder um es mit den Worten des Vermittlers Che-dban˙-nor-bu auszudrücken: »Große Harmonie ist besser als großes Fressen«.12 So sollte etwa das Verhältnis zwischen dem älteren König von Mulbekh und dem neuen König von Ladakh, Prinz Che-dban˙-rnam-rgyal, wie das Verhältnis von Vater und Sohn sein, wobei auch dem Sohn ausdrücklich die Verantwortung oblag, seinen Vater und dessen Familie zu schützen. Ebenso sollten, was die aus Mulbekh ans große Schloss von Ladakh zu entrichtenden Abgaben angeht, auch umgekehrt symbolisch Gaben von oben nach unten gegeben werden. Auf diese Weise wurde ein möglichst enges Netz persönlicher Abhängigkeiten geflochten, das nicht nur die Herrschaft, sondern die Stabilität der Gesellschaft überhaupt festigen sollte. In der Einigung des Herrscherhauses von Ladakh mit den rGya-po-ǰo-bo erhalten wir einen Eindruck vom Wesen der Grundherrschaft in Ladakh. Nicht nur die widerrechtlich aus den königlichen Besitztümern ihrem privaten Besitz einverleibten Ländereien, sondern auch das seit Generationen im Besitz der rGya-pa-ǰo-bo befindliche Stammgut war vom König Ladakhs aufgrund des seinerzeit dem Minister aus dem rGya-pa-Klan vorgeworfenen Machtmissbrauchs im Amt eingezogen worden. Dieses Recht stand offenbar dem König als oberstem Lehnsherrn zu, wenn die Belehnten den ihnen obliegenden Pflichten und Dienstleistungen nicht in korrekter Weise nachkamen. Wie aus der vorliegenden Quelle deutlich wird, haftete für solche Verfehlungen die gesamte Familie mit ihrem gemeinschaftlichen Besitz. Wie bei der im Zuge der Verhandlungen zwischen dem König von Ladakh und den Söhnen des Ministers erzielten Einigung im Einzelnen aufgeführt wird, beinhaltete die einem ǰo-bo zugesprochene Verfügungsgewalt über bestimmte Ländereien die Verfügungsgewalt über Haus, Felder, Viehweiden, Wasser, Vieh, Hirten bzw. Nomadengruppen sowie die die Felder bebauenden Personengruppen. Dabei war es durchaus rechtens, dieses im Besitz der Familie befindliche Land durch Kauf zu vergrößern.

5.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt

Der hier in Ausschnitten vorgestellte und analysierte Vertragstext ist für das Teilprojekt ›Zentrum oder Peripherie: Herrschaft zwischen gedachter und realer Ordnung in tibetischen Gesellschaften am Beispiel der Namgyal Dynastie Ladakhs (16.–19. Jh.)‹ von zentraler Bedeutung. Aufgrund seiner außergewöhnlich umfangreichen Narratio, die uns sachlich und detailliert über den Ursprung der 12 Schwieger 1999, 227, tibetischer Text: 144.

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Konflikte, die Einzelheiten der Verhandlungsführung und die unterschiedlichen Sichtweisen der zentralen Beteiligten informiert, gewinnen wir einzigartige Einblicke in das Zusammenspiel von regionalem und überregionalem Zentrum, in die Interaktion der Herrscher mit den Eliten und in Einflussmöglichkeiten und Rolle prominenter Frauenfiguren (Einfluss der Königin auf die Erbfolge; Heiratsdiplomatie). Dabei werden die Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten durch einen geographischen Raum bestimmt, der zu jener Zeit an der Schnittstelle zwischen Buddhismus und Islam sowie an der Schnittstelle zwischen den Einflusssphären des Qing-Imperiums und des Moghul-Reichs lag. In diesem Rahmen erweist sich der Text als ein gutes Beispiel für erfolgreiche Konfliktlösung zwischen zwei politischen Gemeinwesen, ohne dass dem Vermittler ein nennenswertes Sanktionspotenzial zur Verfügung gestanden hätte.

Quellenverzeichnis Peter Schwieger, Teilung und Reintegration des Königreichs von Ladakh im 18. Jahrhundert. Der Staatsvertrag zwischen Ladakh und Purig aus dem Jahr 1753 (Monumenta Tibetica Historica, Abteilung III, Band 7), Bonn 1999. Peter Schwieger, Eine neu entdeckte Handschrift des Vertrages zwischen den Königreichen von Ladakh und Purig aus dem Jahre 1753, in: Zentralasiatische Studien 47 (2018), 437–487.

Literaturverzeichnis Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, übers. v. Eberhard Bohm, Stuttgart 1999 (frz. Originalausg. Paris 1939/40). Rolf A. Stein, Die Kultur Tibets, übers. v. Helga Uebach, Berlin 1993 (frz. Originalsausg. Paris 1987). Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1956.

David Hamacher

Die ›Apocolocyntosis‹ des Seneca und der Diskurs über die Vergöttlichung des römischen Kaisers

Teilprojekt ›Prekäre Divinität: sakrale Selbstdefinitionen des Kaisers in Rom im Konflikt konkurrierender Herrschaftsbegründungen‹ (Leitung: Prof. Dr. Konrad Vössing, Alte Geschichte)

1.

Der Text

Die ›Apocolocyntosis‹ des Seneca ist eine Schrift, deren genaue Hintergründe und Wirkungsabsicht in der Forschung nach wie vor kontrovers diskutiert werden.1 Es handelt sich dabei um einen satirischen Angriff auf die Vergöttlichung des Kaisers Claudius, die direkt nach seinem Tod am 13. Oktober des Jahres 54 n. Chr. vom Senat beschlossen worden war.2 Aufgrund der charakteristischen Kombination von Vers- und Prosadichtung wird das Werk formal einer Unterart der antiken Satire, der so genannten menippeischen Satire, zugerechnet und darf zugleich als einzige fast vollständig erhaltene Vertreterin dieser Textgattung gelten.3 Der Geschichtsschreiber Cassius Dio identifiziert uns die anonym überlieferte Schrift als Werk Senecas des Jüngeren und nennt den Titel ›Apocolocyntosis‹ (griechisch: Ἀποκολοκύντωσις),4 der wohl eine Verballhornung des griechischen Begriffes Apotheosis (Ἀποθέωσις), d. h. ›Vergöttlichung‹, darstellt, in seiner genauen Bedeutung jedoch seit jeher umstritten ist. Insbesondere seine im Deutschen verbreitete wörtliche Übersetzung als ›Ver1 Vgl. Niklas Holzberg, (Ps.?-)Seneca, Divi Claudii Ἀποκολοκύντωσις (?) Eine Bibliographie, München 2015, http://www.niklasholzberg.com/Homepage/Bibliographien.html (20. 01. 2020). 2 Zu den Umständen der Vergöttlichung siehe im Einzelnen: Tac. ann. 12,69,3; 13,2,3; Suet. Claudius 45; Nero 9; Cass. Dio 61,35,2. 3 Die Bezeichnung geht auf den kynischen Philosophen Menippos von Gadara (3. Jahrhundert v. Chr.) zurück; vgl. Susanna Braund, Satire, in: Der Neue Pauly 11 (2001), 101–104. Zur literaturhistorischen Einordnung siehe zuletzt Werner von Koppenfels, Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe Perspektiven in der europäischen Literatur, München 2007, 81–87. 4 Cass. Dio 61,35,3.

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kürbissung‹ (von kolokynthe/κολοκύνθη, d. h. ›[Flaschen-]Kürbis‹) erscheint irreführend: Claudius wird nicht etwa zum Kürbis statt zum Gott, seine Apotheosis geht schlicht fehl: Statt in den Götterhimmel aufgenommen zu werden, wird er in die Unterwelt verbannt. Das im Titel zum Ausdruck kommende Wortspiel funktioniert auf einer anderen Ebene. Gemäß der in der antiken Literatur bezeugten Verwendung des Kürbisses als Symbol der Dummheit5 ist der Versuch der Vergöttlichung des Claudius von vornherein aussichtslos: Ein ›Hohlkopf‹ hat unter den Göttern nichts zu suchen. Da es keine zwingenden Gründe gibt, das Zeugnis Cassius Dios anzuzweifeln,6 muss als Autor des Werkes Lucius Annaeus Seneca gelten, der – zur Unterscheidung von seinem gleichnamigen Vater – Seneca der Jüngere genannt wird.7 Dass Seneca in seiner Rolle als Erzieher Neros, des Adoptivsohns und Nachfolgers des Kaisers, zum engsten Hofkreis gehörte und sich dabei sowohl zu Lebzeiten als auch nach dem Tod des Claudius mit öffentlichem Lob des Kaisers profiliert hatte,8 macht sehr wahrscheinlich, dass die Schrift nicht unter seinem Namen, sondern anonym veröffentlicht worden ist. Der Zeitpunkt der Abfassung ist dabei wohl kurz nach dem Tod des Kaisers und dem hiernach gefassten Senatsbeschluss zur Erhebung des Verstorbenen zum römischen Staatsgott (divus) bzw. der so genannten consecratio zu vermuten. Seneca hatte sich somit von dieser Ehrung, die damals in aller Munde war, – verdeckt, aber für Eingeweihte unverkennbar – distanziert. Mit seiner scharfen Kritik an der Vergöttlichung des Claudius könnte Seneca auch eine politische Agenda verfolgt haben.9 Nach dem Tod des Kaisers folgte Nero seinem Adoptivvater in der Herrschaft nach, wodurch Seneca vom Prinzenerzieher zu einem der engsten Berater des neuen Kaisers aufstieg. Der Senatsbeschluss der consecratio, der seinem Wesen nach ein Konsensbeschluss war, verlief – wie auch der Herrschaftsantritt Neros – offenbar reibungslos. Dennoch 5 Siehe etwa Iuv. 14,58, sowie Apul. met. 1,15,2. 6 Anders Niklas Holzberg, Racheakt und ›negativer Fürstenspiegel‹ oder literarische Maskerade? Neuansatz zu einer Interpretation der Apocolocyntosis, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 123 (2016), 321–339. 7 Einen guten Überblick über das Leben und Wirken Senecas bieten: Miriam T. Griffin, Seneca. A Philosopher in Politics, Oxford 1976; Marion Giebel, Seneca (Rowohlts Monographien 50575), Reinbek bei Hamburg 1997; Gregor Maurach, Seneca. Leben und Werk, 6., bibliographisch aktualisierte und mit einem Nachtrag versehene Auflage, Darmstadt 2013; sowie zuletzt Shadi Bartsch/Alessandro Schiesaro (edd.), The Cambridge Companion to Seneca (Cambridge Companions to Literature), New York 2015. 8 Prominent erscheinen in diesem Zusammenhang einige panegyrische Passagen in seinen Werken (besonders innerhalb der so genannten consolatio ad Polybium) sowie die aus seiner Feder stammende Leichenrede, die Nero nach dem Tod des Claudius auf den Verstorbenen hielt, vgl. Tac. ann. 13,3,1. 9 Vgl. Konrad Kraft, Der politische Hintergrund von Senecas Apocolocyntosis, in: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte 15,1 (1966), 96–122.

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könnte der leibliche Sohn des Claudius, Britannicus, der aufgrund seines Alters – er war über drei Jahre jünger als Nero – bei der Thronfolge das Nachsehen hatte, Kristallisationspunkt einer Opposition geworden sein.10 Ihr Ansatzpunkt war dann sicher die durch die leibliche Nachkommenschaft engere Verbindung des Britannicus zum vergöttlichten Claudius. Es liegt nahe, dass in diesem Fall die Gegenstrategie darauf basierte, die Göttlichkeit des Verstorbenen infrage zu stellen, um auf diese Weise die potenziellen Thronansprüche des Britannicus zu diskreditieren. Im Unterschied zu Nero, der über seine Mutter in direkter Blutslinie vom vergöttlichten Dynastiegründer Augustus selbst abstammte und somit legitimatorisch nicht auf die Verbindung zum divus Claudius angewiesen war, konnte sich Britannicus lediglich auf seinen Vater berufen. Das Zielpublikum der Schrift kann jedenfalls zunächst im engeren höfischen Umfeld Neros vermutet werden, doch dürfte die Strahlkraft des Textes auch hierüber hinausgegangen sein und insbesondere in senatorischen Kreisen, die mit den Vorgängen näher vertraut waren, durchaus Anklang gefunden haben. Es blieb aber lange eine anonym überlieferte Schmährede aus einem sehr spezifischen Kontext. Die für die Antike zu konstatierende schwache Rezeption der Schrift wird in diesem Zusammenhang verständlich.

2.

Inhalt und Thema des Textes

Zu Beginn der ›Apocolocyntosis‹ wendet sich der Erzähler des Werkes an sein Publikum und erklärt, er wolle im Folgenden über das berichten, was sich am 13. Oktober des Jahres 54, dem Todestag des Claudius, im Himmel zugetragen habe. Die von ihm beschriebene Handlung setzt damit ein, dass der Kaiser nach seinem Tod in den Himmel gelangt, wo er zunächst auf Hercules trifft, den er offenbar davon überzeugen kann, in der Versammlung der olympischen Götter den Antrag einzureichen, ihn in ihre Reihe aufzunehmen – die entsprechende Passage ist leider verloren. Die Schilderung der Sitzung, in der die Götter über die Aufnahme des verstorbenen Kaisers zu beraten und zu entscheiden haben, macht dann den eigentlichen Hauptteil des Werkes aus. Gemäß der göttlichen Geschäftsordnung werden die anwesenden Götter nacheinander nach ihrer Meinung in dieser Sache befragt und sprechen sich dabei sowohl gegen als auch für die Aufnahme des Claudius aus. Erst als die Reihe an den vergöttlichten Augustus kommt, findet man zu einer Entscheidung. So ist es sein Votum, das letztendlich 10 Ungeachtet der klaren Regelung der Nachfolge genoss Britannicus insbesondere bei einem Teil der Soldaten sowie beim einfachen Volk eine Popularität, durch die sich Nero schließlich derart herausgefordert sah, dass er seinen Stiefbruder nur kurze Zeit später vergiften ließ, vgl. Tac. ann. 12,69; 13,14–17; Suet. Nero 33; Cass. Dio 61,1; 61,7,4.

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den Ausschlag dazu gibt, den von Hercules eingebrachten Antrag abzulehnen und Claudius stattdessen in die Unterwelt zu verbannen. Auf seinem Weg dorthin, auf dem ihn der Götterbote Merkur begleitet, wird der verstorbene Kaiser zufällig Zeuge seiner eigenen pompösen Beisetzung, die er gerührt – und in Verkennung eines zu diesem Anlass gesungenen spöttischen Trauerlieds – verfolgt. Als Claudius schließlich an seinen Verbannungsort gelangt, wird er dort schon von Vielen, die er zu Lebzeiten hat hinrichten lassen, erwartet. Alsbald wird ihm unter dem Vorsitz des Totenrichters Aeacus der Prozess gemacht, der bereits nach dem Verlesen der Anklage und ohne Anhörung der Verteidigung mit einer Verurteilung endet. Claudius wird mit der Strafe belegt, bis in alle Ewigkeit mit einem bodenlosen Becher würfeln zu müssen. Die Handlung schließt damit, dass er als Sklave dem Caligula, seinem Neffen und Vorgänger auf dem Kaiserthron, zugesprochen wird, der ihn jedoch umgehend an Aeacus verschenkt, welcher ihn wiederum dem Menander, einem ehemaligen Sklaven und Freigelassenen des Kaisers, überlässt, sodass Claudius letztendlich ein Dasein als Gerichtsdiener fristen muss. In der Gestaltung des Themas, der Diskussion über die Göttlichkeit des Kaisers Claudius, ist die Zielsetzung Senecas durchweg klar erkennbar. Die im Rahmen der Handlung dargelegten unterschiedlichen Standpunkte bringen dabei die potenziellen Konfliktlinien des zeitgenössischen Diskurses zum Ausdruck, an dessen Ende mit dem Senatsbeschluss der consecratio eine Konsensentscheidung stand. Im Spiegel der literarischen Fiktion lassen sich in der ›Apocolocyntosis‹ also Spannungen greifen, die uns in den meisten anderen Quellen nicht bzw. nicht direkt überliefert sind.

3.

Kontextualisierung des ausgewählten Textausschnitts

Bei der im Folgenden näher zu betrachtenden Textstelle handelt es sich um das vollständige Zitat der vom vergöttlichten Augustus in der Götterversammlung gehaltenen Rede, welche die längste der Meinungsbefragung darstellt und zugleich den Schlusspunkt der Debatte markiert. Ihr Verständnis erschließt sich somit nicht zuletzt aus der Betrachtung ihrer Vorreden, die in diesem Zusammenhang zumindest überblicksweise zu referieren sind. Nach einer Lücke im Text setzt die Beschreibung der Götterversammlung mit der Rede eines anonym bleibenden Gottes ein, der sich klar gegen den Antrag des Hercules ausspricht und dabei allgemein auf die mangelnde Eignung des Claudius zum divus hinweist (Sen. apocol. 8). Mit der offiziellen Eröffnung durch Iuppiter beginnt schließlich die eigentliche Sitzung, welche zeitlich nach der entsprechenden realen Zusammenkunft des Senats – an der Seneca im Übrigen selbst teilgenommen haben dürfte – anzusetzen ist und dabei im Wesentlichen

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dem idealtypischen Ablauf ihres irdischen Pendants nachempfunden zu sein scheint.11 Gemäß der Senatsordnung wird zunächst Ianus in seiner Funktion als designierter Konsul nach seiner Meinung gefragt. Der Gott des Anfangs und des Endes vertritt dabei die Ansicht, dass grundsätzlich kein Sterblicher unter die Götter versetzt werden dürfe (Sen. apocol. 9,3), wobei sein direkt nach ihm sprechender Kollege und designierter Mitkonsul Diespiter – nicht zuletzt auf Drängen des Hercules – klar für die Aufnahme des Claudius plädiert. In der sich abzeichnenden positiven Abstimmung bringt sich Hercules ganz und gar ein: »Die Voten gingen auseinander, und Claudius schien in der Meinungsbefragung zu obsiegen. Hercules nämlich, als er merkte, daß sein Eisen im Feuer war, eilte geschäftig bald hierhin bald dorthin und sagte: ›Sei bitte nicht gegen mich, es geht hier um meine Sache; später einmal, wenn du etwas erreichen willst, werde ich mich revanchieren: Eine Hand wäscht die andere.‹«12

Schon in dieser Beschreibung der Senatssitzung der Götter wird deutlich, welche Dynamik die Debatte über die Vergöttlichung eines Kaisers entwickeln konnte. Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass die hier zum Ausdruck kommenden Meinungen seinerzeit derart offensiv und direkt vorgetragen worden sind, lassen sich an dieser Stelle wohl doch verschiedene Argumente des Diskurses greifen, die auch in der historischen Debatte über die consecratio der Kaiser verwendet worden sein dürften. Auch die Worte Diespiters, der als Fürsprecher des Claudius auftritt, erhalten vor diesem Hintergrund Gewicht: »Da der göttliche Claudius in Blutsverwandtschaft steht zum göttlichen Augustus und nicht minder zur göttlichen Augusta [Livia], seiner Großmutter, die er selbst zur Göttin erheben ließ, da er ferner alle Sterblichen an Weisheit weit überragt und es im Interesse des Staates ist, daß jemand da ist, der mit Romulus glühend heiße Rüben verschlingen kann, stelle ich den Antrag, daß der göttliche Claudius vom heutigen Tag an eine Gottheit sei, genau so wie irgendwer vor ihm mit Fug und Recht vergöttlicht wurde, und man soll diese Maßnahme den Metamorphosen Ovids am Schluß anfügen.«13

11 Vereinfacht gesprochen gliedert sich die Senatssitzung dementsprechend in drei Teile: Die Antragstellung (relatio) durch den Vorsitzenden, die Meinungsumfrage, sowie die Abstimmung (discessio). Siehe hierzu auch Simone Blochmann, Verhandeln und entscheiden. Politische Kultur im Senat der frühen Kaiserzeit (Historia Einzelschriften 245), Stuttgart 2017, 154–160. 12 Sen. apocol. 9,6: Variae erant sententiae, et videbatur Claudius sententiam vincere. Hercules enim, qui videret ›ferrum suum in igne esse‹, modo huc modo illuc cursabat et aiebat: ›noli mihi invidere, »mea res agitur«; deinde tu si quid volueris, in vicem faciam: »manus manum lavat«.‹ (Übersetzung: Gerhard Binder). 13 Sen. apocol. 9,5: ›Cum divus Claudius et divum Augustum sanguine contingat nec minus divam Augustam aviam suam, quam ipse deam esse iussit, longeque omnes mortales sapientia antecellat sitque e re publica esse aliquem, qui cum Romulo possit »ferventia rapa vorare«, censeo, uti divus Claudius ex hac die deus sit ita, uti ante eum qui optimo iure factus sit, eamque rem ad Metamorphosis Ovidi adiciendam.‹ (Übersetzung: Gerhard Binder).

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Der Anspruch des Kaisers auf Vergöttlichung wird hier mit dessen direkter (göttlicher) Abstammung von Kaiser Augustus und dessen Gattin Livia, seiner alles überragenden Weisheit (sapientia) sowie seiner von Maßhalten geprägten, gewissermaßen idealtypischen altrömischen Lebensweise begründet.14 Die von Diespiter vorgebrachten Argumente erscheinen dabei insofern auch im historischen Diskurs plausibel und wirkmächtig gewesen zu sein, als man in der ›Apocolocyntosis‹ nicht weniger als den Versuch sehen kann, diese möglichst kunstvoll und effektiv zu widerlegen. So wird die Berufung auf Livia als göttliche Ahne in Ansätzen bereits durch den Hinweis relativiert, dass es Claudius persönlich war, der seiner Großmutter zu ihrem Status verholfen hatte: Livia war im Jahre 42, also 13 Jahre nach ihrem Tod, auf Antrag des Claudius zur Staatsgöttin erhoben worden.15 Auch das Argument der alles überragenden Weisheit erscheint an vielen Stellen des Werkes der Lächerlichkeit geradezu preisgegeben;16 schon der Titel ›Apocolocyntosis‹ selbst könnte – wie bereits gezeigt wurde – entsprechend gedeutet werden. Das Argument der maßvollen Lebensweise wird schließlich durch zahlreiche, über das gesamte Werk verstreute Bemerkungen torpediert, welche Claudius als Zecher, Spieler und Mörder herausstellen.17 Im Gesichtskreis der im Himmel versammelten Götter finden die Ausführungen Diespiters jedoch Anklang: ›Claudius schien in der Meinungsbefragung zu obsiegen‹ (Sen. apocol. 9,6). Auch mit Blick auf die historischen Verhältnisse und den Umstand, dass Claudius tatsächlich unter die römischen Staatsgötter aufgenommen worden ist, müssen wir davon ausgehen, dass die Abstammung, Weisheit und Lebensweise des Kaisers zumindest nach außen hin durchaus als plausibel und eine Vergöttlichung rechtfertigend kommuniziert werden konnten. Wäre dies nicht gelungen, hätten die Senatoren nicht weniger als ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt, wozu sich offenbar auch Seneca als Vertreter dieses Standes nicht bereitfand. Welches Fingerspitzengefühl hier gefragt war, zeigt eine bei Tacitus überlieferte Episode, wonach Nero während seiner auf Claudius gehaltenen und ebenfalls aus der Feder Senecas stammenden Leichenrede für Gelächter sorgte, als er auf die Weisheit (sapientia) und Umsicht (providentia) des Verstorbenen zu sprechen kam.18 Folgt man diesem Bericht, war die Eignung des Kaisers zum Staatsgott noch zum Zeitpunkt seines Begräbnisses zumindest in den Augen einiger Zeitgenossen nicht gegeben. Innerhalb der ›Apocolocyntosis‹ werden die Vorbehalte gegenüber einer Ver14 Letzteres kommt im Bild des genügsamen und rübenverschlingenden Stadtgründers Romulus zum Ausdruck; siehe hierzu auch Mart. 13,16. 15 Suet. Claud. 11,2; Cass. Dio 60,5,2. 16 Vgl. Sen. apocol. 1,1; 8,3; 11,2. 17 Vgl. Sen. apocol. 4,3; 6,2; 8,2f.; 12,2f.; 14,1; 14,4; 15,1. 18 Tac. ann. 13,3,1; Heller 2010 ad loc. sieht hierin gar eine Anspielung auf die ›Apocolocyntosis‹ selbst.

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Die ›Apocolocyntosis‹ des Seneca

göttlichung des Claudius schließlich anhand der eindringlichen Rede deutlich, die Seneca dem vergöttlichten Dynastiegründer Augustus in den Mund legt, der direkt an das Plädoyer Diespiters anschließend im Göttersenat das Wort ergreift. Auch wenn diese Rede durch entsprechende Markierungen im Text zunächst demonstrativ als Ausdruck des Schmerzes (dolor) und der Entrüstung (indignatio) über den Antrag herausgestellt wird und somit vordergründig vor allem von persönlichen Überzeugungen geprägt zu sein scheint, lassen sich auch hier Argumente greifen, die im damaligen Diskurs über die Eignung des Claudius zum Staatsgott kursiert haben dürften. Die Autorität des Augustus wirkt dabei auf doppelte Weise: in ›persönlicher‹ Hinsicht (als Gründer der Dynastie und familiärer Bezugspunkt des Claudius) sowie in ›offizieller‹ Hinsicht (als bis dato einziger – aufgrund seiner übermenschlichen, d. h. ›göttlichen‹ Leistungen – vergöttlichter Kaiser). Die dem divus in den Mund gelegten Worte, die im Folgenden näher zu betrachten sind, besaßen demnach eine Wirkkraft, die über die Grenzen der im Göttersenat spielenden Handlung hinausging, und dementsprechend für unsere Thematik von besonderem Interesse sind.

4.

Textauszug: Sen. apocol. 10–1119

(10,1) Tunc divus Augustus surrexit sententiae suae loco dicendae et summa facundia disseruit: ›ego‹ inquit ›p. c., vos testes habeo, ex quo deus factus sum, nullum me verbum fecisse: semper meum negotium ago; et non possum amplius dissimulare et dolorem, quem graviorem pudor facit, continere.

(10,1) Da erhob sich der göttliche Augustus, um, als er an der Reihe war, sein Votum abzugeben, und führte in meisterhafter Rhetorik folgendes aus: »Ich habe euch, Senatoren, zu Zeugen dafür«, sagte er, »daß ich seit meiner Apotheose noch nie das Wort ergriffen habe: Immer kümmere ich mich um meine eigenen Angelegenheiten. Aber jetzt kann ich nicht länger den Unbeteiligten spielen und den Schmerz unterdrücken, den mein Gefühl für Anstand noch verstärkt.

19 Textausgabe und Übersetzung: Seneca, Apokolokyntosis, lateinisch-deutsch, ed. u. übers. v. Gerhard Binder (Sammlung Tusculum), Düsseldorf/Zürich 1999.

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(10,2) in hoc terra marique pacem peperi? ideo civilia bella compescui? ideo legibus urbem fundavi, operibus ornavi, ut … quid dicam, p. c., non invenio: omnia infra indignationem verba sunt. confugiendum est itaque ad Messalae Corvini, disertissimi viri, illam sententiam: »pudet imperii«.

(10,2) Zu diesem Behuf also habe ich zu Wasser und zu Land Frieden geschaffen? Dazu habe ich die Bürgerkriege in Fesseln gelegt? Dazu die Stadt auf das Fundament der Gesetze gestellt, mit Bauwerken verschönert, damit …? Senatoren, mir fehlen die Worte: Alles, was ich sage, ist zu schwach für meine Entrüstung. Ich muß daher meine Zuflucht nehmen zu dem bekannten Ausspruch des glänzenden Redners Messala Corvinus: Man schämt sich seines Amtes.

(10,3) hic, p. c., qui vobis »non posse videtur muscam excitare«, »tam facile« homines occidebat »quam canis adsidit.« sed quid ego de tot ac talibus viris dicam? non vacat deflere publicas clades intuenti domestica mala. itaque illa omittam, haec referam; nam etiam si socia mea Graece nescit, ego scio: ἔγγιον γόνυ κνήμης.

(10,3) Dieser Mensch, Senatoren, der euch so vorkommt, als könne er keine Fliege verjagen, pflegte mit solcher Leichtigkeit Menschen zu ermorden wie eine Hündin sich zum Pissen setzt. Doch was soll ich von so vielen hochbedeutenden Männern reden? Es reicht die Zeit nicht, öffentliches Unheil zu bejammern, wenn man auf das Leid im eigenen Hause blickt. Daher will ich ersteres beiseite lassen und nur über letzteres sprechen; denn selbst wenn meine Partnerin kein Griechisch versteht, ich verstehe es sehr wohl: Das Knie ist mir näher als die Wade.

(10,4) iste, quem videtis, per tot annos sub meo nomine latens hanc mihi gratiam rettulit, ut duas Iulias pronepotes meas occideret, alteram ferro, alteram fame; unum abnepotem L. Silanum: videris, Iuppiter, an in causa mala; certe in tua, si aequos futurus es. dic mihi, dive Claudi, quare quemquam ex his, quos quasque occidisti, antequam de causa cognosceres, antequam audires, damnasti? hoc ubi fieri solet? in caelo non fit.

(10,4) Der Kerl, den ihr da seht, hat so viele Jahre unter dem Deckmantel meines guten Namens gelebt und mir dafür in der Form gedankt, daß er die beiden Iulien, meine Urenkelinnen, umbringen ließ, die eine durch den Henker, die andere durch den Hunger; ferner einen Urenkel, Lucius Silanus: Du, Iuppiter, magst beurteilen, ob sein Fall übel war; jedenfalls war deiner entsprechend gelagert, wenn du gerecht sein willst. Sage mir, göttlicher Claudius, warum hast du ausnahmslos alle, die du hast hinrichten lassen, ob Mann oder Frau, verurteilt, ehe du den Sachverhalt untersuchtest, ehe du die Betroffenen hörtest? Wo ist das denn übliche Praxis? Im Himmel jedenfalls nicht!

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(11,1) Ecce Iuppiter, qui tot annos regnat, uni Volcano crus fregit, quem ῥίψε ποδὸς τεταγὼν ἀπὸ βηλοῦ θεσπεσίοιο, et iratus fuit uxori et suspendit illam: numquid occidit? tu Messalinam, cuius aeque avunculus maior eram quam tuus, occidisti. »nescio« inquis. di tibi malefaciant: adeo istuc turpius est, quod nescisti, quam quod occidisti.

(11,1) Sieh einmal: Iuppiter, der schon so viele Jahre herrscht, hat in all der Zeit einzig dem Volcanus das Bein gebrochen, als er ihn packte am Fuß und warf hinab von der göttlichen Schwelle, auch war er einmal wütend auf seine Gemahlin und hängte sie aus dem Himmel: Aber er hat doch nicht gleich gemordet! Du dagegen hast Messalina, deren Großonkel ich gleicherweise war wie der deine, ermordet! ›Ich weiß von nichts‹, sagst du? Die Götter sollen es dich büßen lassen: Noch viel skandalöser ist der Umstand, daß du von nichts wußtest als daß du sie hast ermorden lassen!

(11,2) C. Caesarem non desiit mortuum persequi. occiderat ille socerum: hic et generum. Gaius Crassi filium vetuit Magnum vocari: hic nomen illi reddidit, caput tulit. occidit in una domo Crassum, Magnum, Scriboniam, τριῶν ὠνίους ἀσσαρίων, nobiles tamen, Crassum vero tam fatuum, ut etiam regnare posset.

(11,2) Gaius Caesar [Kaiser Caligula] hat er nach dessen Tod unablässig nachgemacht. Jener hatte seinen Schwiegervater ermordet: Dieser hier tat’s auch noch mit dem Schwiegersohn. Gaius verbot dem Sohn des Crassus, sich Magnus zu nennen: Dieser gab ihm seinen Ehrennamen wieder, nahm ihm aber dafür den Kopf. Er mordete hin in einer einzigen Familie Crassus, Magnus und Scribonia, zusammen nur drei Pfennige wert, gleichwohl von Adel, Crassus obendrein so vertrottelt, daß er sogar die Herrschaft hätte übernehmen können.

(11,3) Hunc nunc deum facere vultis? videte corpus eius dis iratis natum. ad summam, tria verba cito dicat et servum me ducat.

(11,3) Diesen Menschen wollt ihr jetzt zum Gott machen? Seht seinen Körper an: Der Zorn der Götter stand über seiner Geburt! Kurz gesagt: Drei Wörter mag er ohne Stocken aussprechen, dann kann er mich als Sklaven mitnehmen.

(11,4) hunc deum quis colet? quis credet? dum tales deos facitis, nemo vos deos esse credet. summa rei, p. c., si honeste inter vos gessi, si nulli clarius respondi, vindicate iniurias meas. ego pro sententia mea hoc conseo‹ – atque ita ex tabella recitavit:

(11,4) Wer wird denn diesen Typ als Gott verehren? Wer wird an ihn glauben? Solange ihr solche Gestalten zu Göttern macht, wird kein Mensch glauben, daß ihr selber Götter seid! Alles in allem: Wenn ich mich, Senatoren, in eurem Kreise ehrenhaft betragen habe, wenn meine Entgegnung keinem gegenüber zu direkt ausgefallen ist, so rächt das mir angetane Unrecht! Ich fasse mein Votum in folgenden Beschlußantrag« – und damit verlas er diese Sätze aus seinen Notizen:

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(11,5) ›Quandoquidem divus Claudius occidit socerum suum Appium Silanum, generos duos Magnum Pompeium et L. Silanum, socerum filiae suae Crassum Frugi, hominem »tam similem sibi quam ovo ovum«, Scriboniam socrum filiae suae, uxorem suam Messalinam et ceteros, quorum numerus iniri non potuit, placet mihi in eum severe animadverti nec illi rerum iudicandarum vacationem dari eumque quam primum exportari et caelo intra triginta dies excedere, Olympo intra diem tertium.‹

(11,5) »In Anbetracht des Umstandes, daß der göttliche Claudius ermordet hat seinen Schwiegervater Appius Silanus, seine beiden Schwiegersöhne Magnus Pompeius und Lucius Silanus, ferner Crassus Frugi, den Schwiegervater seiner Tochter, einen Menschen, ihm selbst so ähnlich wie ein Ei dem andern, sodann Scribonia, die Schwiegermutter seiner Tochter, seine Gattin Messalina und all die anderen, deren Zahl sich nicht hat ermitteln lassen, stelle ich den Antrag, es solle gegen ihn streng vorgegangen werden, es solle ihm keine Aussetzung des Verfahrens gewährt werden, er solle baldmöglichst abgeschoben werden mit der Auflage, daß er die Himmelsregion binnen 30 Tagen zu verlassen hat, den Olymp binnen drei Tagen.«

(11,6) Pedibus in hanc sententiam itum est. nec mora Cyllenius illum collo obtorto trahit ad inferos a caelo, unde negant redire quemquam.

(11,6) Man trat allgemein diesem Votum bei. Und unverzüglich packt Mercurius den Claudius am Kragen und schleift ihn zur Unterwelt vom Himmel, von wo, heißt es, keiner je zurückkehrt.

5.

Kommentierung des Textauszugs

Als Ausgangspunkt für die Betrachtung der Argumentation des Augustus soll eine Äußerung dienen, die aufgrund ihrer Emphase besonders zentral und geradezu programmatisch erscheint (Sen. apocol. 11,3f.): Augustus erklärt, kein Mensch werde den Göttern glauben, dass sie Götter seien, solange sie Gestalten wie Claudius in ihre Reihe aufnähmen. Mit dieser eindringlichen Erklärung spricht Augustus die Glaubwürdigkeit des Gremiums an und reflektiert damit die bereits oben angesprochenen Bedenken. Trotz aller (wie auch immer gearteter) politischer Erfordernisse bedingte der Beschluss der Vergöttlichung stets auch ein gewisses Maß an Plausibilität, was im Falle des Claudius jedoch schon dadurch infrage gestellt wurde, dass man dem nach Ausweis der Quellen sprachund gehbehinderten Kaiser bereits auf den ersten Blick gewisse Makel ansah, die im Diskurs offenbar als Einwand gegen die Vergöttlichung verwendet werden konnten. Die von Augustus angesprochenen psychischen und physischen Gebrechen des Kaisers waren allgemein bekannt und sind auch innerhalb der ›Apocolocyntosis‹ häufig Ziel von beißendem Spott.20 Insbesondere die körper20 Gegenstand des Spotts sind dabei Claudius’ Gehbehinderung, Sprachstörung, Gicht sowie das unkontrollierbare Zittern von Kopf und Händen, vgl. Sen. apocol. 1,2; 5,2f.; 6,2; 7,2; 11,3; 13,3.

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lichen Probleme des Claudius stehen dabei im Fokus. Die Bedeutung dieser Betonung ergibt sich wohl nicht zuletzt aus zeitgenössischen Vorstellungen, wonach der Körper des Kaisers gewissermaßen als Sinnbild seiner Herrschaft und somit auf einer ideellen Ebene zugleich als Ausweis seiner Eignung zum Staatsgott gesehen werden konnte.21 Die Äußerung derartiger Bedenken durch den vergöttlichten Dynastiegründer konnte dabei mit bekannten, durch die Geschichtsschreibung überlieferten Berichten plausibilisiert werden, wonach Augustus sich verschiedentlich besorgt über die körperlichen Gebrechen des Claudius gezeigt und befürchtet habe, dieser könne sich selbst sowie die kaiserliche Familie insgesamt zum Gespött der Leute machen und somit auch die Autorität des neuen politischen Systems des Prinzipats beschädigen.22 Auch wenn solchen Bedenken gewiss ernsthafte Überlegungen zugrunde lagen, scheint man im Zweifelsfall aber durchaus bereit gewesen zu sein, über derartige Gebrechen hinwegzusehen, wenn die äußeren Umstände es erforderten. So spielte die Versehrtheit des Claudius offenbar weder bei dessen Herrschaftsantritt noch bei dessen consecratio eine allzu große Rolle, konnte jedoch nur wenig später von Seneca wieder aufgegriffen und als Argument im Diskurs über die Göttlichkeit des Kaisers gewissermaßen reaktiviert werden. Die Versehrtheit des Claudius erscheint demnach zwar als prominentes, nicht aber als entscheidendes Argument gegen die Aufnahme unter die Götter. Wesentlich schwerer wiegen hier dagegen jene Anschuldigungen, die Augustus zu Beginn seines Plädoyers, das er mit einer Ansprache der versammelten Götter als patres conscripti eröffnet und somit nochmals auf die senatorische Rahmung der Szene hinweist, gegen Claudius vorbringt: Der nun um die Aufnahme unter die Götter bittende Kaiser habe zu Lebzeiten geradezu leichthin und bedenkenlos zahlreiche Personen hinrichten lassen – nicht zuletzt Mitglieder seiner eigenen Familie (Sen. apocol. 10,3f.). Der eingangs erwähnte Schmerz des Dynastiegründers wird hiermit erklärt. Claudius habe drei Urenkelkinder des Augustus umgebracht: Iulia, Iulia Livilla sowie Lucius Iunius Silanus.23 Die Schlagkraft dieser Anklage ergibt sich dabei aus zwei Gesichtspunkten: Indem Augustus einerseits erklärt, Claudius habe jahrelang unrechtmäßig unter seinem guten Namen gelebt, wendet sich der vergöttlichte Dynastiegründer persönlich gegen die zuvor noch von Diespiter hervorgehobene und als Argument für die Vergöttlichung des Kaisers eingebrachte (Bluts-)Verwandtschaft (sanguis) zum divus Augustus, der Claudius 21 Vgl. grundsätzlich Jan B. Meister, Der Körper des Princeps. Zur Problematik eines monarchischen Körpers ohne Monarchie (Historia Einzelschriften 223), Stuttgart 2012, bes. 148– 153. 22 Siehe etwa Suet. Claud. 4,2. 23 Zu den Todesumständen siehe im Einzelnen: Tac. ann. 12,8,1; 13,1,1; Suet. Claud. 29,1f.; Cass. Dio 60,8,5; 60,18,4; 61,31,7f.

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vorwirft, brutal gegen Mitglieder der Familie vorgegangen zu sein, der er sich selbst zugehörig erklärte. Während zwei der drei genannten Opfer in direkter Blutslinie von Augustus abstammten (nämlich Livilla und Silanus), konnte Claudius eine solche Verbindung nicht vorweisen: Zwar war er sowohl Enkel der Augustus-Gattin Livia als auch der Augustus-Schwester Octavia, als direkter Nachkomme des Dynastiegründers selbst konnte er jedoch nicht gelten. Derartige Anklänge finden sich bereits zu Beginn des Werkes: Als Claudius im Götterhimmel ankommt und von Hercules nach seiner Herkunft gefragt wird, deutet er mit einem Homer-Zitat an, aus Troja zu stammen, d. h. Angehöriger des auf Augustus bzw. Caesar zurückgehenden iulischen Zweiges der Kaiserfamilie zu sein,24 dessen Mitglieder sich bis auf Aeneas, einen mythischen Vertreter des trojanischen Herrschergeschlechts, zurückführten. Die den Kaiser begleitende Fiebergöttin Febris weiß diese Angabe jedoch zu relativieren, indem sie als Geburtsort des Neuankömmlings richtigerweise Lugdunum (das heutige Lyon) nennt und somit dessen Anspruch einer iulischen Abstammung negiert (Sen. apocol. 6,1). Neben dieser Distanzierung des divus Augustus von Claudius sowie der Anschuldigung, dieser habe seine ›wahren‹ Nachkommen verfolgt, weist der vergöttlichte Dynastiegründer andererseits auf die Unrechtmäßigkeit der genannten Morde hin und wendet sich in diesem Zusammenhang direkt an den zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht (mehr) im Göttersenat anwesenden Claudius (Sen. apocol. 10,4). Die Feststellung, dass ein derartiges Verhalten im Himmel nicht zu dulden sei, erscheint geradezu als Ausschlusskriterium einer Aufnahme unter die Götter und dient Seneca im Folgenden dazu, den verstorbenen Kaiser durch Augustus mit weiteren Mordtaten zu konfrontieren. In der Art einer Aufzählung der zahlreichen Bluttaten fasst divus Augustus sein Votum schließlich in den Beschlussantrag, Claudius möge angesichts der vielen Opfer, von denen nicht wenige mit dem Kaiser verwandt und verschwägert waren, nicht nur nicht unter die Staatsgötter aufgenommen, sondern darüber hinaus auch aus dem Himmel verbannt werden (Sen. apocol. 11,5). Der Beschlussantrag des Augustus findet schließlich breite Zustimmung, woraufhin Claudius von Merkur in die Unterwelt verbracht wird, wo er sich vor einem Gericht zu verantworten hat, dem Aeacus vorsitzt. Der Fokus der Anklage, die von einem gewissen (uns sonst aus den antiken Quellen nicht näher bekannten) Pedo Pompeius geführt wird, liegt dabei gleichfalls auf den Bluttaten des Kaisers: »Ermordet worden seien 35 Senatoren, 221 römische Ritter, an

24 Sen. apocol. 5,4: Ἰλιόθεν με φέρων ἄνεμος Κικόνεσσι πέλασσεν – »Von Ilion her trug mich der Wind und brachte mich ins Land der Kikonen.« (Übersetzung: Gerhard Binder).

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sonstigen so viel, wie da Sand und Staub ist.«25 Diese Anklage geht weit über die von Augustus aufgeführten Mordopfer hinaus, sodass man unweigerlich den Eindruck gewinnt, Seneca trete hier in gewisser Weise aus dem persönlichen Windschatten des Dynastiegründers heraus. Angesichts der zentralen Stellung dieser Vorwürfe in der Anklage, die schließlich auch zur Verurteilung des Claudius führt, ist davon auszugehen, dass wir es hier mit Vorwürfen zu tun haben, die in besonderer Weise dazu geeignet waren, als Argument im Diskurs über die Göttlichkeit des Kaisers gegen dessen Vergöttlichung eingesetzt zu werden.26 Dass es sich hierbei tatsächlich um ernst zu nehmende Vorhaltungen handelte, geht auch aus einem Bericht des römischen Biographen Sueton hervor, der davon spricht, dass Claudius im Gesamten 35 Senatoren und mehr als 300 römische Ritter habe hinrichten lassen, ohne hieran allzu großen Anstoß genommen zu haben.27 Insbesondere die auf Genauigkeit abzielende Angabe der ermordeten Senatoren und Ritter macht deutlich, dass es sich hierbei um ein Problem der aristokratischen Wahrnehmung handelte, was angesichts des Verfassers der Schrift sowie des Umstands, dass es formal dem Senat zukam, über die consecratio des verstorbenen Kaisers zu entscheiden, wenig verwundert.

6.

Bedeutung des Textes für das Teilprojekt

Die ›Apocolocyntosis‹ des Seneca stellt für das Teilprojekt ›Prekäre Divinität: sakrale Selbstdefinitionen des Kaisers in Rom im Konflikt konkurrierender Herrschaftsbegründungen‹ eine zentrale Quelle dar. Mit Blick auf das Thema der Auseinandersetzung um die Vergöttlichung des römischen Kaisers können hier Diskurslinien gegriffen werden, die das Konfliktpotenzial des Phänomens in einer Breite vor Augen führen, die zeigt, dass hinter der Fassade des nach außen hin stets als konsensual gefasst kommunizierten Beschlusses der consecratio heftige Auseinandersetzungen verborgen sein konnten. Die hier thematisierten Aspekte erschöpfen sich dabei keineswegs allein in der Frage nach dem Für und 25 Sen. apocol. 14,1: occisos senatores XXXV, equites R. CCXXI, ceteros ὅσα ψάμαθός τε κόνις τε. (Übersetzung: Gerhard Binder); vgl. Hermann Horstkotte, Die ›Mordopfer‹ in Senecas Apocolocyntosis, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 77 (1989), 113–143. 26 Es sei in diesem Zusammenhang zudem auf den späteren Fall Hadrians verwiesen, dessen Vergöttlichung bei einem Teil der Senatorenschaft offenbar nicht zuletzt aufgrund einiger Hinrichtungen von Standesgenossen auf (offenen) Widerstand stieß, vgl. Cass. Dio 69,2,5f.; 70,1,2; sowie Aur. Vict. Caes. 14,13f. 27 Suet. Claud. 29,2: in quinque et triginta senatores trecentosque amplius equites R. tanta facilitate animadvertit. Angesichts dieser Erwähnung Suetons spricht sich Gerhard Binder in seiner Ausgabe der ›Apocolocyntosis‹ für eine Anpassung der dort genannten Zahlen aus und korrigiert dementsprechend: equites R. CC(C)XXI. Unabhängig von der Größenordnung bleibt der Vorwurf in seinem Kern jedoch bestehen.

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Wider einer Erhebung des Verstorbenen unter die Götter; auch die Integrität und Glaubwürdigkeit des beschlussfassenden Gremiums als Grundlage der Rechtmäßigkeit des Konsekrationsbeschlusses werden reflektiert. Hinzu kommt der Nachweis, dass auch die vollzogene Vergöttlichung die Diskussion in bestimmten Kreisen nicht beendete. Die Bedeutung der Schrift ergibt sich dabei zum einen daraus, dass das Werk einen Zugang zur Thematik bietet, der sich in den meisten anderen Quellen nicht finden lässt. Zwar ist der Beschluss zur Vergöttlichung eines Kaisers selbst in seinem Ergebnis durch zahlreiche und vielfältige Quellenzeugnisse zumeist recht gut dokumentiert,28 die genauen Umstände seines Zustandekommens liegen jedoch gemeinhin im Dunkeln. Die ›Apocolocyntosis‹ bietet vor diesem Hintergrund im Spiegel der literarischen Fiktion Einblicke in zeitgenössische Verhältnisse und Abläufe, mit denen Seneca als Ratgeber des Kaisers und angesehenes Mitglied der Senatsaristokratie nur allzu vertraut war. Zum anderen ergibt sich die Bedeutung des Werkes für das Teilprojekt aus seiner politischen Zielrichtung: Als Satire auf die Vergöttlichung des Claudius darf die Schrift schließlich selbst als Teil des Diskurses gelten und offenbart somit eine weitere Facette in diesem ›Kampf um die Göttlichkeit‹.

Quellenverzeichnis Apuleius, Der Goldene Esel – Metamorphoseon libri XI, lateinisch-deutsch, ed. u. übers. v. Edward Brandt u. Wilhelm Ehlers, mit einer Einführung v. Niklas Holzberg, 6., überarb. Aufl., Berlin 2012. Aurelius Victor, Die römischen Kaiser – Liber de Caesaribus, lateinisch-deutsch, ed., übers. u. erläutert v. Kirsten Groß-Albenhausen u. Manfred Fuhrmann (Sammlung Tusculum), 3., verb. Aufl., Düsseldorf 2009. Cassius Dio, Roman History – Historia romana, With an English Translation by Earnest Cary (The Loeb Classical Library), 9 Bde., London/Cambridge, MA, 1954–1955. Iuvenal, Satiren, lateinisch-deutsch, ed., übers. u. mit Anmerkungen versehen v. Joachim Adamietz (Sammlung Tusculum), München 1993. Martial, Epigramme, lateinisch-deutsch, ed. u. übers. v. Paul Barié u. Winfried Schindler (Sammlung Tusculum), 3., vollst. überarb. Aufl., Berlin 2013. Seneca, Apokolokyntosis, lateinisch-deutsch, ed. u. übers. v. Gerhard Binder (Sammlung Tusculum), Düsseldorf/Zürich 1999.

28 Die consecratio eines Kaisers wurde – nicht zuletzt mit Blick auf den jeweiligen Thronfolger, der sich etwa als divi filius, als Sohn eines Gottes, auf eine besondere Legitimation berufen konnte, – in der Regel mit allen seinerzeit zur Verfügung stehenden Mitteln öffentlichkeitswirksam präsentiert, weshalb sich das Ergebnis eines solchen Beschlusses in Form von Inschriften, Münzbildern und -legenden sowie in archäologischen Befunden gemeinhin recht gut greifen lässt.

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Sueton, Die Kaiserviten – De vita Caesarum. Berühmte Männer – De viris illustribus, lateinisch-deutsch, ed. u. übers. v. Hans Martinet (Sammlung Tusculum), 4., korr. Aufl., Berlin 2014. Tacitus, Annalen, lateinisch-deutsch, ed. Erich Heller, mit einer Einführung v. Manfred Fuhrmann (Sammlung Tusculum), 6. Aufl., Mannheim 2010.

Literaturverzeichnis Shadi Bartsch/Alessandro Schiesaro (edd.), The Cambridge Companion to Seneca (Cambridge Companions to Literature), New York 2015. Simone Blochmann, Verhandeln und entscheiden. Politische Kultur im Senat der frühen Kaiserzeit (Historia Einzelschriften 245), Stuttgart 2017. Susanna Braund, Satire, in: Der Neue Pauly 11 (2001), 101–104. Marion Giebel, Seneca (Rowohlts Monographien 50575), Reinbek bei Hamburg 1997. Miriam T. Griffin, Seneca. A Philosopher in Politics, Oxford 1976. Niklas Holzberg, (Ps.?-)Seneca, Divi Claudii Ἀποκολοκύντωσις (?) Eine Bibliographie, München 2015, http://www.niklasholzberg.com/Homepage/Bibliographien.html (20. 01. 2020). Niklas Holzberg, Racheakt und ›negativer Fürstenspiegel‹ oder literarische Maskerade? Neuansatz zu einer Interpretation der Apocolocyntosis, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 123 (2016), 321–339. Hermann Horstkotte, Die ›Mordopfer‹ in Senecas Apocolocyntosis, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 77 (1989), 113–143. Werner von Koppenfels, Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe Perspektiven in der europäischen Literatur, München 2007. Konrad Kraft, Der politische Hintergrund von Senecas Apocolocyntosis, in: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte 15,1 (1966), 96–122. Gregor Maurach, Seneca. Leben und Werk, 6., bibliographisch aktualisierte und mit einem Nachtrag versehene Auflage, Darmstadt 2013. Jan B. Meister, Der Körper des Princeps. Zur Problematik eines monarchischen Körpers ohne Monarchie (Historia Einzelschriften 223), Stuttgart 2012.

Personalität und Transpersonalität

Sophie Quander

Der Kaiser beklagt das kranke Reich. Die ›Reformatio Sigismundi‹ zwischen Personalität und Transpersonalität

Teilprojekt ›Publizistische Zeitklagen. Invertierte Herrschaftsansprüche in deutschsprachigen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit‹ (Leitung: Prof. Dr. Karina Kellermann, Germanistische Mediävistik)

1.

Der Text

Wie reformiert man ein Reich mit geschwächtem Königtum, einflussreichen Eliten und einer Kirche in der Krise? Eben jene Frage stellt sich 1439 ein Teilnehmer des Basler Konzils. Eigentlich sollte das Konzil (1431–1449), das stimmberechtigte Gelehrte und Mächtige aus allen Teilen Europas in Basel vereint,1 Fragen der Kirchen- und Reichsreform diskutieren. Jedoch streitet sich die Versammlung stattdessen mit dem Papst, wer überhaupt Entscheidungen treffen darf, bis dieser die Konzilsteilnehmer schließlich exkommuniziert und das Konzil seinerseits den Papst absetzt.2 Angesichts der Auseinandersetzungen entscheidet sich ein anonym gebliebener Kanzlist aus dem Umfeld des verstorbenen Kaisers Siegmund von Luxemburg (1368–1437), selbst in Aktion zu treten und die erste Reformschrift in deutscher Sprache zu verfassen: Die ›Reformatio Sigismundi‹.3 Harsch kritisiert der Text die entscheidungsunwilligen Autoritäten 1 Zur Gelehrtenvielzahl in Basel vgl. Mona Kirsch, Das allgemeine Konzil im Spätmittelalter. Organisation – Verhandlungen – Rituale (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 21), Heidelberg 2016, 18; Erich Meuthen, Das Basler Konzil als Forschungsproblem der europäischen Geschichte (Vorträge/Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften: Geisteswissenschaften; G 274), Opladen 1985, 33. 2 Zum Konflikt zwischen Papst und Konzil vgl. Meuthen 1985, 8; Heinrich Werner, Der kirchliche Verfassungskonflikt vom Jahre 1438/39 und die sog. ›Reformation des Kaisers Sigmund‹, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 32 (1907), 728–745, hier 730. 3 Zu Entstehungsraum und -zeitraum der ›Reformatio Sigismundi‹ vgl. Heinrich Koller, Untersuchungen zur ›Reformatio Sigismundi‹ III: Entstehungszeit, Entstehungsort und die Verfasser der RS und ihrer Redaktionen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 15 (1959), 137–162, hier 144; Ders., ›Reformatio Sigismundi‹, in: Verfasserlexikon 7 (2. Aufl.,

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auf dem Konzil, die lieber gruppenspezifische Einzelinteressen verteidigen als die dringende Reform zur Sprache zu bringen. Selbstbewusst bietet der Text grundlegende Überlegungen zur Kirchen- und Reichsreform, fordert die Priesterehe und eine ärztliche Grundversorgung in den Städten, dass die Kirche auf ihre weltlichen Herrschaftsrechte verzichtet und das Königtum wieder gestärkt wird. Wiederholt adressiert der Text konkrete Reformakteure und ruft vor allem die Reichsstädte in die Pflicht, integriert jedoch ebenso über Gebete, Kollektivformeln und die Wahl der Volkssprache eine breitere Öffentlichkeit. Der Text endet schließlich mit einer Traumvision, die Kaiser Siegmund am 24. Mai 1405 in Pressburg gehabt haben soll: Eine göttliche Stimme habe ihm prophezeit, dass ein Priesterkönig namens Friderich von Lantnewen (RS N 332; »Friedrich der Landerneuerer«) kommen und die Reform durchsetzen werde. Die Schlussvision, der Titel (›Reformation des Kaisers Siegmund‹) und die Behauptung, der Text übertrage eine lateinische Reformvorlage in die Volkssprache (RS N 88), erwecken den Eindruck, Kaiser Siegmund selbst habe den Text autorisiert. Tatsächlich jedoch zieht die ›Reformatio Sigismundi‹ den Kaiser lediglich heran, um ihren kritischen Standpunkt abzusichern.4 Wie erfolgreich sich die Reformschrift damit als kaiserliche Verordnung zu inszenieren versteht, bestätigt letztlich die Rezeptionsgeschichte – so überliefern etwa drei Handschriften der insgesamt fünf Fassungen die ›Reformatio Sigismundi‹ gemeinsam mit der Goldenen Bulle Karls IV. 1476 publiziert der Augsburger Drucker Johannes Bämler einen Band, in dem eine Kaiser- und Papstchronik, der Reichslandfrieden von 1442 (d. i. ›Reformatio Friderici‹) und die ›Reformatio Sigismundi‹ als Zeugnisse authentischer Reichsgesetze abgedruckt werden; bis 1522 wird die Reformschrift noch

1989), 1070–1074, hier 1071; Hartmut Boockmann, ›Reformatio Sigismundi‹, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), 384–386, hier 385. Der Autor ist nach wie vor nicht bekannt; Koller fasst die bisherigen Antworten auf die Verfasserfrage prägnant zusammen (Ders. 1989, 1071; vgl. auch Ders. 1959, 155f.) Soweit bekannt ist die ›Reformatio Sigismundi‹ die erste volkssprachliche Reformschrift (Karl Beer, Der gegenwärtige Stand der Forschung über die ›Reformatio Sigismundi‹, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 59 (1951), 55–93, hier 57; Heinrich Koller, Eine neue Fassung der ›Reformatio Sigismundi‹, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 60 (1952), 143–154, hier 143). Zur Gattung Reformschrift i. A. vgl. Claudia Märtl, Der Reformgedanke in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts, in: Ivan Hlavácˇek/Alexander Patschovsky (edd.), Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Konstanz-Prager historisches Kolloquium (11.–17. Oktober 1993), Konstanz 1996, 91–108, hier 92; Sebastian Dümling, Träume der Einfachheit. Gesellschaftsbeobachtungen in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts (Historische Studien 511), Husum 2017, 15, Anm. 13. 4 Vgl. hierzu Karl Beer, Zur Überlieferung der sogenannten ›Reformation Kaiser Siegmunds‹, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 40 (1925), 205–233, 214; Heinrich Koller, Untersuchungen zur ›Reformatio Sigismundi‹ II: Die Vorlagen der ›Reformatio‹, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 14 (1958), 418–468, hier 424f.

119

Der Kaiser beklagt das kranke Reich

sieben Mal aufgelegt.5 Die beeindruckende Überlieferungsgeschichte der Reformschrift macht sich schließlich die Historiographie zu Nutze: Die Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts hat in der ›Reformatio Sigismundi‹ sowohl die Geburtsstunde der Reformation als auch die Anfänge der frühbürgerlichen Revolution erkennen wollen.6

2.

Die ausgewählte Textstelle (RS N 238–244)

Auf die Überlegungen zu einer geistlichen Reform folgen die Vorschläge zum weltlichen Bereich. Vergleichbar der hierarchischen Gliederung des ersten Reformteils hebt auch der zweite Abschnitt mit dem ›Haupt‹, dem König- bzw. Kaisertum, an. Der abgedruckte Text stammt aus der N-Fassung, die dem verlorenen Original am nächsten steht.7 Reformatio Sigismundi (Fassung N)

Übersetzung (S. Q.)

Ordenung eins weltlichen stats.

Die Ordnung des weltlichen Bereichs

Als man nü zü dem allerkurtzsten den geistlichen staten verordent hat, so sol man auch zum kurtzsten den weltlichen statten verorden und verhandeln.

Wie man nun kurz und knapp den geistlichen Bereich geordnet hat, so soll man nun anschließend auch den weltlichen Bereich kurz ordnen und behandeln.

5 Den Überlieferungsverbund beschreibt ausführlich Heinrich Koller, Untersuchungen zur ›Reformatio Sigismundi‹ I: Die Fassungen und Handschriften der ›Reformatio‹, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 13 (1957), 482–524, hier 519f.; vgl. auch Boockmann 1997, 384; Sabine Schmolinsky, ›Reformatio Sigismundi‹, in: Killy Literaturlexikon (2. Aufl. 2010), 469f., hier 470. 6 Vgl. die Forschungsrückblicke bei Franz Irsigler, Die ›Kleinen‹ in der sogenannten ›Reformatio Sigismundi‹, in: Saeculum 27 (1976), 248–255, hier 248f. und Michael Hiersemann, Der Konflikt Papst-Konzil und die ›Reformatio Sigismundi‹ im Spiegel ihrer Überlieferung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 9,1 (1982), 1–13., hier 1f.; Dümling 2017, 16–23, zeichnet die Forschungskonjunkturen für die gesamte Gattung ›Reformschrift‹ nach. 7 Zitiert wird nach: ›Reformation Kaiser Siegmunds‹, ed. Heinrich Koller (Monumenta Germaniae Historica 6), Stuttgart 1964. Zum Verhältnis von verlorenem Original und den unterschiedlichen überlieferten Fassungen vgl. Koller 1989, 1070.

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Deß ersten sol man in ein ordenung setzen unnsernn hern den keyser oder konig, ob kein keyser wer. Was sol man aber an im verorden? es wayß manig geystlich und weltlich herr woll, wye sich unnser her der keyser Sigmundt beclagt hat ob den kürfursten, das sye dem heyligen reich abgezogen haben sloß und zölle, daz das reich swach ist worden; das machet auch, daz dye konig versetzt haben und böß freyheit gegeben, das sye vom reich ytzundt nichtz haben, daz sy es bereytten mogen. Man soll pey keyserlicher vermanung alles reich billich darzüthunn, / wo sich das findet, es sey an den kurfursten oder anderswo, was zü dem reich gehort oder gehort hat; daz man daz zü dem reich erforder und zihe, das ist man verbunden im rechten.

Zu allererst soll man unseren Herrn, den Kaiser, – oder König, falls es keinen Kaiser gibt – ordnungsgemäß in Stand setzen. Was aber soll man in Bezug auf ihn in Ordnung bringen? Viele geistliche und weltliche Herren wissen nur allzu gut, wie sich unser Herr, der Kaiser Siegmund, über die Kurfürsten beklagt hat, die dem heiligen Reich Burgen und Zölle weggenommen haben, so dass das Reich geschwächt worden ist; das hat auch dazu geführt, dass man von den künftigen Herrschern Immunitäten und die Verpfändung von Reichsgut in Wahlversprechungen erpresst hat,8 so dass sie keine Reichsgüter haben, um das Reich ausrüsten zu können. Man soll durch eine kaiserliche Ermahnung alles Reichsgut, das sich bei den Kurfürsten oder anderswo findet und das zu dem Reich gehört oder einmal gehört hat, von Rechts wegen zurückgeben; dass man dazu im Namen des Reiches auffordere, ist nur rechtmäßig.

Was mag ytzundt ein konig geschicken? er mag nit krieg gestillen; man ist nit gehorsam, als man sein solt; so dann alle reichstet sehen, das sy nit herren haben, so sehen sy yr sachen an; damit so krencket das reich ymmerdare; es ist schier darzü komen, das man keins kunigs begert; man macht freyheyt, dye nyemant zü machen hat on ein haupt des reichs; dyeweyl dye katz slefft, so regiren dye meüße. O edels reich! von deinem adel so sein alle reichstet geadelt; ir werden reichstet bekennet yr ewer werden, hohen eren und wirdigkeyt.

Was kann derzeit ein König anordnen? Er kann keinen Krieg schlichten; man ist nicht so gehorsam, wie man es sein sollte; und wenn alle Reichsstädte sehen, dass sie keine Herren haben, ergreifen sie ihre Angelegenheiten selbst; daran krankt das Reich fortwährend; es ist schon fast dazu gekommen, dass man überhaupt keinen König mehr braucht; man nimmt sich Freiheiten heraus, die sich niemand herausnehmen sollte, ohne dass das Haupt des Reichs einwilligt; während die Katze schläft, regieren die Mäuse. Oh edles Reich! Durch deinen Adel sind alle Reichsstädte geadelt; werte Reichsstädte, erkennt eure edle, hohe Ehre und euer würdevolles Ansehen.

8 Zur Übersetzung von böß freyheit vgl. Tilman Struve, Reform oder Revolution? Das Ringen um eine Neuordnung in Reich und Kirche im Lichte der ›Reformatio Sigismundi‹ und ihrer Überlieferung, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 126 (1978), 73–129, hier 81.

Der Kaiser beklagt das kranke Reich

Ich gedecht das reich zü offenne: es sol einer, der zü einem konig erwelt solt werden, gelert sein; er solt von recht ein doctor legum sein und iuris peritus, wann er ist einer, dem dye gesetz und recht weltlicher zimlicher ordenung enpholhen sein von dem rechten vicarien Cristi, einem babst; er sol auch auff den stat komen keyserlicher wirdigkeyt, geweyhet zü dem mynsten zü dem ewangelio; ob er noch priester geweyhet wer, ye besser. Nemet war: Melchisedech wart konig zü Iherusalem gesetzt und gesalbet und was priester, der gots oppher hielt in prot und wein sacramentlich; es was got lieb. Er bauet dye grossen stat Salemm, dye nant er also: er teylt den namen Iherusalem und nant sye Salem, do tet im got vil kunt; im wart von got gekondet und zü wissen gethon das regiren in ordenung deß himels ierarchien, das sye alweg von funfftzig jaren zü funffzig jaren einen newen anfang hetten in yrem regiren und ordenung, als sy von erst schuff got; das wart im darumb kunt und wissen, als alle geschopphe im himel einen anfang haben zü einer newung, also gab got dem konig zü einer merckunde, daz got dyeselbie merckunde gehabt will han uff ertrich, das uff dem funfftzigstem jare / alle dinck sich auch neweten auff dem ertrich als in dem himel und ordinirt der hochwirdige konig und priester Melchisedech, wann das funffzig jar keme, das sich alle ding newe machen:

121 Ich denke darüber nach, [euch] das Reich zu verkünden9: Es sollte derjenige, der zum König gewählt werden soll, gelehrt sein; er sollte von Rechts wegen ein doctor legum und iuris peritus sein, denn er ist derjenige, dem Gesetz und Recht der geltenden weltlichen Ordnung anempfohlen sind von dem rechten Stellvertreter Christi, dem Papst; er soll auch in den Rang kaiserlicher Würden aufsteigen und mindestens die niederen Weihen empfangen haben; wenn er auch noch die Priesterweihe empfangen hätte, desto besser. Nehmt wahr: Melchisedek wurde in Jerusalem zum König ernannt und gesalbt und war selbst Priester, der Gott rituell Brot und Wein opferte; das gefiel Gott. Er baute die große Stadt Salem, die er so nannte, indem er den Namen Jerusalem teilte und sie also Salem nannte, wie Gott es ihm verkündet hatte. Gott verkündete ihm und ließ ihn wissen, dass man gemäß der Ordnung himmlischer Hierarchien regieren und also alle fünfzig Jahre Regierung und Ordnung, wie Gott sie ursprünglich geschaffen hatte, erneuern sollte. So wie sich alle Geschöpfe im Himmel erneuerten, sollten sich auch alle Belange auf Erden alle fünfzig Jahre erneuern; das verkündete Gott dem König und beauftragte ihn und so richtete es der hochwürdige König und Priester Melchisedek ein, dass sich alle Dinge erneuerten, wenn das fünfzigste Jahr käme:

9 Es ist nicht ganz klar, wie der Satz Ich gedecht das reich zü offenne am besten zu übersetzen ist. Das schwache Verb offenen kann sowohl »(er-)öffnen«, »verkündigen« als auch »öffentlich machen« heißen – der Satz könnte demnach entweder auf die Sprechsituation verweisen (»Ich verkünde euch meine Vorstellungen der Reichsreform«) oder bereits inhaltliche Reformvorstellungen umsetzen (»Ich überlege, das Reich öffentlicher auszurichten«). In der ›Reformatio Sigismundi‹ kommt das Verb offenen vor allem in der Bedeutung ›ankündigen‹, ›verkünden‹ zum Einsatz [vgl. Man sol nu¨ wissen, als vor geoffent ist, von den bischoffen und epten und den geistlichen heupten (RS N 230); »Man soll nun, wie es zuvor angekündigt worden ist, von den Bischöfen und Äbten und geistlichen Häuptern hören«); got der will villeicht nu¨ offene durch priesterliche wirdigkeyt, was sein forderung zu¨ unns wirt (RS N 328; »Vielleicht möchte Gott durch seine ehrenvollen Priester verkünden, was seine Forderung an uns sein soll«); was wir hye offenen, das ist unns furkomen in dem jare, als man zalt XIIII jar und drew jare zü Ungernn zü Preßbürg uff dem auffertag an dem morgen, als der tagsternn aufftrang. (RS N 332; »Was wir hier nun öffentlich bekannt geben, das hat sich in dem Jahr 1403 zugetragen, in Preßburg in Ungarn am frühen Morgen von Christi Himmelfahrt, als der Morgenstern aufging.«)]. Die späteren Bearbeiter scheinen die Unsicherheit zu teilen: Die P-Fassung streicht den Satz, die G-Fassung modifiziert zu: nun soll man merken (RS G 243; »nun soll man beachten«).

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Des ersten, der mensch solt sich reinigen von allen sunden, das er eytel new werde, als er geporenn und geschaffen wart, das noch ist und dye heylig cristenheit ergriffen hat von got und von den heyligen concilio geordent ist zü halten, und hat den namen das funffzig jare, das jubeljar; in dem jar der mensch hat applaß aller sunde von pein und von schülden und machet sich der mensch eytel new; das L. ist ytzund gewest zü Basel in dem concilio, da wolt der babst das jubeljar bey im halten und dye romfart han; das verbot das concilg unbillich, wann ein concilg, doweil es wert, so ist es gantz dye cristelich gewalt und bezeichent dye heiligen kyrchen, als sye brieff außgeschickt haben, applas der sunde von pein und schülde, als yederman wol weyß; sye sein gotlich und gerecht und woll gewert gewesen, dye manig mensch versmecht hat, es sein geistlich oder weltlich, dye in unnsermm heyl und in got gesundet haben; es werd dann swerlich gebüsset, so sein sye verdampt; das unns got so trostlich gegeben hat, das versmehen wir.

Zu allererst sollte sich der Mensch von allen Sünden reinigen, damit er vollkommen neu werde, so wie er geboren und geschaffen wurde; so ist es nach wie vor und so hat es die heilige Christenheit von Gott erhalten und das heilige Konzil hat es zu wahren, und es trägt den Namen das fünfzigste Jahr, das Jubeljahr; in diesem Jahr erhält der Mensch Ablass aller Sünden von Strafe und Schulden und erneuert sich vollkommen; das Jubeljahr (L=50) hat jetzt in Basel während des Konzils stattgefunden, deshalb wollte der Papst das Jubeljahr bei sich ausrichten und die Romfahrt antreten; das hat das Konzil jedoch als unrechtmäßig verboten, denn ein Konzil hat, während es stattfindet, die gesamte christliche Macht inne und verkörpert die heilige Kirche, und so hat das Konzil Ablassbriefe verschickt, wie jedermann wohl weiß; sie sind göttlich und gerecht und von Bestand gewesen, die viele Menschen gering geschätzt haben, geistliche oder weltliche, die sich an unserem Heil und an Gott versündigt haben; wenn nicht ernsthaft gebüßt wird, so sind sie verdammt; was Gott uns so tröstlich gegeben hat, das verschmähen wir.

In dem selben jar setzet Melchisedech, das alle thürm und gefencknüß offen steen solten; wer gefangen wer, kein schulde außgenomen, dye gingen auß und wurden ledig, wen dye zeyt begriff in der gefencknüße; es solten dann alle krieg in friden sten und beleyben; es sollen auch alle zorne in einer rechten vereynung sten, nichts sol beslossen sten; es sol in allem glucke und heyl sten, also hat dye heylig cristenheyt alles bevestiget und bestetiget.

In demselben Jahr veranlasste Melchisedek, dass alle Türme und Gefängnisse geöffnet werden sollten; wer gefangen war, keine Schuld ausgenommen, durfte fortgehen und wurde frei, auch wenn seine Gefängnisstrafe eigentlich noch nicht beendet war; es sollten dann alle Kriege beendet und Frieden gewahrt werden; es sollten auch alle Streitigkeiten in einer rechtmäßigen Einigung beigelegt werden, nichts ausgenommen, es sollte in allem Glück und Heil herrschen, auf diese Weise hat die heilige Christenheit alles befestigt und bestätigt.

Nün sehe man, wye man es halt. Got hat unns gegont und gethan, wir slahen eß leichtiglichen ab; hirumb lassent uns suchen unnser heyl; wir steen nit, wir wollen es zü recht / bringen, das es bestee, als es got gemeint mit unns; achte man, das nyeman dagegen dete; dye sich sperrenn wolten, sye haben kein krafft.

Nun sehe man zu, wie man es halte. Gott hat es uns gewährt, wir schlagen es leichtfertig aus; lasst uns deshalb unser Heil suchen; wir stehen nicht im Status des Heils, wir wollen es zum Recht bringen, damit es bestehe, wie es Gott für uns vorgesehen hat; achte man, dass niemand dagegenhandle; die sich widersetzen wollen, haben keine Kraft.

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Der Kaiser beklagt das kranke Reich

Item ein keyser oder konig soll scharpff in seinem reichsen sein, scharpff und stroffen und nyder zü trucken, was im weltlichen statem sich widern wolt gerechtigkeyt; milt sol er sein, hinzüleyhen und besehen deß reiches nutz und geben, wem zü geben ist; dye sich geben in den dinst williglich, dye sollen woll begabet werden und yr nam geuffent und geadelt werden; woll ist der edel, der leybe und gut strecket zü einer rechten ordenung; es ist dye ritterschafft und dye reichstet sunderlich hirzu verbunden, als ich euch sage. RS N 238–244

3.

Ebenso soll ein Kaiser oder König streng herrschen und strafen und unterwerfen, was sich im weltlichen Bereich der Gerechtigkeit widersetzen will; freigebig soll er sein, Lehen vergeben, das Wohl des Reiches bedenken und geben, wem zu geben ist; die willig Dienst leisten, die sollen belohnt werden und ihre Namen erhöht und geadelt werden; edel ist derjenige, der Leib und Gut für die rechte Ordnung hingibt; es sind die Ritterschaft und die Reichsstädte hierzu insbesondere verpflichtet, wie ich euch sage.

Kommentierung der ausgewählten Textstelle

Die Sprechinstanz der ›Reformatio Sigismundi‹ leitet das Kapitel zum Königbzw. Kaisertum mit einer Formel ein, die den geistlichen und weltlichen Reformplan parallel setzt: Als man nü zü dem allerkurtzsten den geistlichen staten verordent hat, so sol man auch zum kurtzsten den weltlichen statten verorden und verhandeln. Es entspricht der Neutralisierungsstrategie des Textes, die Reformabsicht in der anonymen 3. Person Singular zu mediatisieren.10 Jene Passagen dagegen, in denen ein Ich-Sprecher hervortritt, formulieren in der Regel keine Handlungsaufforderungen, sondern schwören die Rezipienten auf die anstehende Reform ein: es ist dye ritterschafft und dye reichstet sunderlich hirzu verbunden, als ich euch sage. Mit ihren Apostrophen in der ersten und zweiten Person Plural adressiert die ›Reformatio Sigismundi‹ sowohl konkrete Reformakteure11 als auch eine breitere Öffentlichkeit, die als Kollektiv die Reform tragen soll (vgl. auch Got hat unns gegont und gethan, wir slahen eß leichtiglichen ab; hirumb lassent uns suchen unnser heyl; wir steen nit, wir wollen es zü recht / bringen, das es bestee, als es got gemeint mit unns; das unns got so trostlich gegeben hat, das versmehen wir). Emotionalisierende und rationalisierende 10 Vgl. die zahlreichen Wendungen (Item) man sol [z. B. Item man soll dye closter alle beschliessen, das dye monich ir regelnn halten, als es auffgesetzt ist (RS N 190; »Ebenso soll man alle Klöster von der Außenwelt abschirmen, damit die Mönche ihre Ordensregel einhalten, wie es festgesetzt worden ist«); Item ein closter sol auch haben hundert guldin (RS N 198; »Ebenso soll ein Kloster 100 Gulden erhalten«); Item es sol ein kastvogt alle jar ein rechnung thünn (RS N 202; »Ebenso soll der Hauptvogt jährlich eine Abrechnung vorlegen«)]. 11 Vgl. auch alle fursten und herren, alle ritterschefft und yr werden reichstet gemeinglich (RS N 52; »alle Fürsten und Herren, alle Ritterschaft und alle werten Reichsstädte«), ir werden reichstet (RS N 242; »ihr werten Reichsstädte«), [i]r herren, ir fursten, […] und ir reichstett (RS N 312; »Ihr Herren, Ihr Fürsten und Ihr Reichsstädte«).

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Passagen, gruppenspezifische und breitenwirksame Publikumsansprachen stehen derart in wirkungsvollem Kontrast, um zum einen über die anonyme dritte Person Singular den Reformplan an konkrete Reformakteure zu vermitteln, zum anderen die Rechtmäßigkeit und Verbindlichkeit desselben über gemeinschaftsstiftende Appelle zu etablieren. In seiner richtungsweisenden Studie zum kulturellen Gedächtnis zeigt Jan Assmann Formen und Funktionen vergemeinschaftender Schriftlichkeit auf. Während normative Texte (Gesetze, Gebrauchstexte etc.) einen gemeinsamen Handlungs- und Bedeutungsraum etablieren und die Mitmenschen somit sozial aneinanderbinden, stiften narrative Texte (z. B. Gründungsmythen) ihre konnektive Struktur über Zeitlichkeit: »Beide Aspekte: der normative und der narrative, der Aspekt der Weisung und der Aspekt der Erzählung, fundieren Zugehörigkeit oder Identität, ermöglichen dem Einzelnen, ›wir‹ sagen zu können. Was einzelne Individuen zu einem solchen Wir zusammenbindet, ist die konnektive Struktur eines gemeinsamen Wissens und Selbstbilds, das sich zum einen auf die Bindung an gemeinsame Regeln und Werte, zum anderen auf die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt.«12 Indem historische wie mythische Erzählungen ein Kollektiv auf eine gemeinsame Vergangenheit einschwören, leisten sie einen fundamentalen Beitrag im Prozess der Vergemeinschaftung: Gründungsmythen stiften Gruppenidentität. Damit weisen die auf die Vergangenheit bezogenen Erzählungen stets auch in die Zukunft der jeweiligen Gruppe. Versuche, die Gruppenidentität neu zu formen, führen somit stets über die Vergangenheit in die Zukunft: »Neuanfänge, Renaissancen, Restaurationen treten immer in der Form eines Rückgriffs auf die Vergangenheit auf. In dem Maße, wie sie Zukunft erschließen, produzieren, rekonstruieren, entdecken sie Vergangenheit.«13 Auch die ›Reformatio Sigismundi‹ erzeugt ein Wir-Gefühl, indem sie eine kollektive Vergangenheit aktualisiert. So unterbricht die Sprechinstanz ihre Beschreibung des idealen Königtums, um auf den alttestamentarischen Priesterkönig Melchisedek zurückzublicken: Gott verkündet Melchisedek, dem König von Jerusalem, dass Regierung und gottgewollte Ordnung alweg von funfftzig jaren zü funffzig jaren einen newen anfang nehmen sollen; ganz wie alle geschopphe im himel einen anfang haben zü einer newung, sollen uff dem funfftzigstem jare / alle dinck sich auch neweten auff dem ertrich als in dem himel; Gottes Gebot folgend richtet Melchisedek deshalb das Heilige Jahr ein, das sich alle ding newe machen. Im Heiligen Jahr solt sich [der mensch] reinigen von allen sunden, das er eytel new werde, und so machet sich der mensch seit jeher alle fünfzig Jahre eytel new. Die Leitbegriffe new und anfang durch12 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. durchges. Aufl., München 1997, 17. 13 Ebd., 32.

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ziehen die kurze pseudohistorische Nacherzählung in auffallender Frequenz. Scheinbar rückwärtsgewandt, ermöglicht der kurze ätiologische Exkurs, einen Neuanfang zu narrativieren: Tradition und Innovation greifen ineinander.14 Gemeinschaft verhandelt die Reformschrift jedoch nicht nur narrativ, sondern auch metaphorisch. So greift die ›Reformatio Sigismundi‹ auf die Personifikation des Reichs zurück: Das transpersonale Reich wird über die Invokation O edels reich! von deinem adel so sein alle reichstet geadelt und das organologische Bild des erkrankten Reichskörpers (das reich [ist] swach; so krencket das reich ymmerdare) metaphorisch vermittelbar.15 Die Personifikation bietet das rhetorische Instrument, das Kollektiv beschreib- und thematisierbar zu machen. Das transpersonale Reich steht dabei in konzeptuellem Zusammenhang mit dem König als personalem Herrschaftsträger – so imaginiert die ›Reformatio Sigismundi‹ den König als haupt des reichs. Des Weiteren führt die Sprechinstanz reich und konig sprachlich eng: Ich gedecht das reich zü offenne: es sol einer, der zü einem konig erwelt solt werden, gelert sein. Die Überlegungen zur Restrukturierung des Reichs setzen beim Königtum und bei der konkreten Person des Königs an. Die Reformschrift fordert einen Herrscher, der gelert sein solle, eine juristische Ausbildung (doctor legum; iuris peritus) genossen und mindestens die niederen Priesterweihen empfangen habe (geweyhet zü dem mynsten zü dem ewangelio). In der Tradition des Alten Testaments und der jesuanischen Weissagung des einen Hirten, der die eine Herde weiden wird (Joh 10,16), fordert die Sprechinstanz einen gelehrten, möglichst juristisch geschulten Priester als Herrscher, der durch den Papst legitimiert ist. Seine juristische Ausbildung garantiert, dass er das weltliche Recht wahrt, das durch die päpstliche Autorität wiederum Gott als letzter Instanz zugeschrieben wird. Hieraus leitet der Text auch das Bild des gerechten Richters ab (Item ein keyser oder konig soll scharpff in seinem reichsen sein). Den Typus des idealen Herrschers, den der Text hier skizziert, füllt die Schlussvision mit Leben: Wie eine göttliche Stimme dem Kaiser Siegmund von Luxemburg prophezeit haben soll – so berichtet der Schluss der ›Reformatio Sigismundi‹ –, wird ein Priesterkönig mit dem programmatischen Namen Friderich von Lantnewen kommen, der die im Text entworfene Ordnung 14 Die Dialektik zwischen vergangenheitsbezogener Nostalgie und zukunftsorientierter Aufbruchsstimmung zeichnet den gesamten spätmittelalterlichen Reformdiskurs aus (KarlFriedrich Krieger, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 14), München 1992, 49f.; Dümling 2017, 48); zur produktiven Spannung der unterschiedlichen Zeitebenen in der ›Reformatio Sigismundi‹ vgl. Karl Beer, Was ein deutscher Reformer vor einem halben Jahrtausend vom Ärztestand erwartete, in: Gesnerus 12,1–2 (1955), 24–36, hier 31.; Struve 1978, 120. 15 Zur europäischen Tradition des Reichskörpers vgl. Albrecht Koschorke et al., Vorwort, in: Dies. (edd.), Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. Main 2007, 9–14, hier 11. Zum Krankheitstopos in der ›Reformatio Sigismundi‹ vgl. Struve 1978, 81.

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realisieren wird. Im Hoch- und Spätmittelalter entstehen zahlreiche solcher Wiederkehrmythen um einen Herrscher namens Friedrich, die in der Regel den Staufer Friedrich II. (1194–1250) als Heilsbringer stilisieren.16 Friderich von Lantnewen erfüllt damit, was die ›Reformatio Sigismundi‹ eingangs gefordert hat: Der Priesterkönig wird das Königsideal einlösen und die Reform umsetzen. Die konkrete Person steht pars pro toto für ein genesendes Reich. Der Titel ›Reformatio Sigismundi‹ verweist hingegen nicht auf einen nahenden Friderich, sondern schreibt den Reformkatalog dem historischen Reformkaiser Siegmund von Luxemburg zu;17 die Behauptung, es handle sich beim vorliegenden Text um die Übersetzung einer lateinischen Vorlage, intensiviert diesen Effekt noch zusätzlich. Der Reformkatalog erhebt Siegmund derart zum Medium der Kritik: Die klagende Einzelperson wird Stimme der (transpersonalen) Reformvorschläge. Auf Grundlage einer stilisierten, autorisierenden Referenzfigur mediatisiert die Sprechinstanz ihre Hoffnungen auf eine Reorganisation von Kirche und Reich, legitimiert durch den Kaiser ihren eigenen Anspruch, Kritik zu üben und Reformforderungen zu stellen. Und so ergreift die Reformschrift auch wiederholt Partei für den Kaiser: »es wayß manig geystlich und weltlich herr woll, wye sich unnser her der keyser Sigmundt beclagt hat ob den kürfursten, das sye dem heyligen reich abezogen haben sloß und zölle, daz das reich swach ist worden[.]« Während die entscheidungsmächtigen Eliten im Kollektiv anonymisiert werden (manig geystlich und weltlich herr), nennt die Sprechinstanz den verstorbenen Kaiser Siegmund von Luxemburg mit der vergemeinschaftenden Apostrophe unnser herr namentlich. Leidenschaftlich kritisiert sie den Konflikt zwischen Kaiser und Kurfürsten und führt denselben auf den steigenden Einfluss der Eliten zurück, der allerorts zu mangelndem Gehorsam führe: man ist nit gehorsam, als man sein solt[.]18 Max Weber erklärt den 16 Vgl. Karina Kellermann, Kaiser Friderich ist komen! Der Wiederkehrmythos und die frühe Vision eines 1000jährigen deutschen Reiches, in: Michael Bernsen/Matthias Becher/Elke Brüggen (edd.), Gründungsmythen Europas im Mittelalter, Göttingen 2013, 177–199, hier 184f. 17 Seitdem Kaiser Siegmund von Luxemburg wesentlich dazu beigetragen hat, das Abendländische Schisma auf dem Konstanzer Konzil zu beenden, gilt er seinen Zeitgenossen als großer Reformakteur (vgl. Thea Buyken, Der Verfasser der ›Reformatio Sigismundi‹, in: Josef Engel/Hans M. Klinkenberg (edd.), Aus Mittelalter und Neuzeit. Gerhard Kallen zum 70. Geburtstag dargebracht von Kollegen, Freunden und Schülern, Bonn 1957, 97–116, hier 113; Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit. Band II. Reichsreform und Kaiserpolitik. 1493–1500. Entmachtung des Königs im Reich und in Europa, München 1975, 204; Jörg K. Hoensch, Kaiser Sigismund. Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit. 1368–1437, München 1996, 173). 18 Historisch bezeugt ist diese Auseinandersetzung zwischen Kurfürsten und Kaiser nicht (vgl. den Stellenkommentar in Koller 1964, 238, Anm. 4.); denkbar ist, dass die ›Reformatio Sigismundi‹ die möglichen Spannungen heraufbeschwört, um den Antagonismus der beiden Akteure zu kanalisieren.

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Gehorsam zum konstitutiven Element gelungener Herrschaft: »›Herrschaft‹ soll […] die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden. […] Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchenwollen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.«19 Herrschaft äußert sich also nicht (nur) im Befehl, sondern vor allem im Interesse der Beherrschten, demselben gehorchen zu wollen. Mit Webers Terminologie gesprochen, prangert die Sprechinstanz hier Fundamentales an: Angesichts der grassierenden Pflichtverweigerung ist kein Herrschen möglich, kann der König des Heiligen Römischen Reiches kein legitimer Herrscher sein. Deshalb stimmt die Sprechinstanz später auch ein Lob auf diejenigen an, die Geboten freiwillig Folge leisten: dye sich geben in den dinst williglich, dye sollen woll begabet werden und yr nam geuffent und geadelt werden; woll ist der edel, der leybe und gut strecket zü einer rechten ordenung[.] Die Reformschrift fordert also keineswegs, bestehende Strukturen zu revolutionieren. Auf der Folie etablierter Alltagsweisheiten kritisiert die ›Reformatio Sigismundi‹ vielmehr die verkehrten Naturzustände: dyeweyl dye katz slefft, so regiren dye meüße; die Beherrschten (= die Mäuse) regieren unrechtmäßig, wenn der Herrscher (= die Katze) seine Pflicht nicht ausübt.20 Die Eliten sowie die von der ›Reformatio Sigismundi‹ wiederholt apostrophierten ›Kleinen‹21 sollen nicht herrschen, sondern sie sollen den Herrschaftsträgern helfen, die alte Ordnung wieder in Stand zu setzen. Das Recht, das Fehlverhalten der Eliten zu kritisieren, versteht die Sprechinstanz dabei dezidiert als Pflicht des Kollektivs: daz man daz zü dem reich erforder und zihe, das ist man verbunden im rechten. In diesem ›invertierten Herrschaftsanspruch‹, der keine Herrschaft für sich selbst einfordert, sondern Herrschaftsträger diskursiv einbindet in ein funktionales System, äußert sich das genuin publizistische Potenzial der ›Reformatio Sigismundi‹.

19 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, ed. Johannes Winckelmann, Tübingen 1956 (ND Köln/Berlin 1964), 157. 20 Zu den volkstümlichen Elementen in der ›Reformatio Sigismundi‹ vgl. Struve 1978, 81. 21 Die Forschung hat das Profil der ›Kleinen‹ wiederholt diskutiert; vgl. beispielhaft die unterschiedlichen Interpretationen bei Irsigler 1976, 253f. und Lothar Graf zu Dohna, ›Reformatio Sigismundi‹. Beiträge zum Verständnis einer Reformschrift des fünfzehnten Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 4), Göttingen 1960, 157.

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Sophie Quander

4.

Bedeutung des Textbeispiels für die Arbeit im Sonderforschungsbereich

4.1

Bedeutung für das Teilprojekt »Publizistische Zeitklagen. Invertierte Herrschaftsansprüche in deutschsprachigen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit«

Auf Basis der schwelenden Konflikte des Basler Konzils zeichnet die ›Reformatio Sigismundi‹ ein Herrschaftsideal, das reformiert, indem es restauriert; zentraler Referenzpunkt wird dabei das Reich. Die in den publizistischen Kleinformen behandelten Themen der (Un-) Ordnung im Reich und der ›Idoneitas‹ des Herrschers konkretisieren sich hier zu umfassenden Forderungen: Enttäuscht über das gescheiterte Konzil, prangert der Autor die Obrigkeit und deren mangelnde Bereitschaft zu Reformen an und bietet als Reaktion hierauf einen umfangreichen eigenen Reformkatalog. Die von Karina Kellermann aufgestellte These, politische Publizisten agierten im Spätmittelalter als Meinungsbildner in einem sich neu strukturierenden öffentlichen Raum und übten somit Kontrolle über Herrschaft durch Meinungsbildung aus,22 lässt sich anhand der Gattung Reformschrift demnach bestätigen: Souverän kommentiert die Sprechinstanz der ›Reformatio Sigismundi‹ politisch aktuelle Ereignisse, formuliert in Konkurrenz zu traditionellen Deutungseliten Kritik und inszeniert sich als Sprachrohr der ›Kleinen‹. Damit ihre Forderungen im öffentlichen Raum Resonanz finden, muss die Sprechinstanz ihre Position gegenüber etablierten Wissensautoritäten verteidigen. Diesem Rechtfertigungsdruck begegnet sie zum einen, indem sie Gründungsmythen einflicht und ihre Forderungen derart in die Aura anerkannter Geschichte kleidet. Sie tut dies des Weiteren, indem sie ihren Text auf Kaiser Siegmund und eine lateinische Gelehrtentradition zurückführt, ebenso jedoch für das Laienpublikum öffnet. Die ›Reformatio Sigismundi‹ steht damit am Anfang einer Entwicklung, die verfassungsrechtliche und politische Grundsätze nicht mehr nur auf Latein, sondern auch auf Deutsch formuliert. Damit erweitert sie das neue literarische Feld der Publizistik entscheidend: Während Zeitklage, Ereignislied und Sangspruch vor allem die Missstände im Reich aufdecken, sucht dieser groß angelegte Reformtext aktiv politisch zu gestalten.23

22 Karina Kellermann, Der tiuvel schiez iu in den kragen! Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft. Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen (Macht und Herrschaft 11), Göttingen 2019, 191–212, hier 192f. 23 Vgl. Märtl 1996, 92.

Der Kaiser beklagt das kranke Reich

4.2

129

Bedeutung für den Sonderforschungsbereich

Folgende Fragen ergeben sich für den transkulturellen und interdisziplinären Vergleich: 1. Wie imaginieren sich Herrschaftsverbünde als Kollektiv? Welche rhetorischen Mittel kommen zum Einsatz, um transpersonale Sinneinheiten zu beschreiben? Lassen sich transkulturelle Gemeinsamkeiten identifizieren? 2. Welche Funktion kommt Gründungserzählungen im Kontext von Prozessen der Herrschaftslegitimation zu? Favorisieren Herrschaftsentwürfe im transkulturellen Vergleich ähnliche basale Erzählschemata? Hiermit einher geht die Frage nach dem spezifischen Vokabular von Herrschaftserzählungen. 3. Lässt sich ein Zusammenhang zwischen einem spezifischen Zeit- und Herrschaftsverständnis identifizieren (zirkulär, linear, teleologisch? personal endlich vs. transpersonal überzeitlich?) 4. Welche Strategien der Selbstlegitimation entwickeln Herrscherkritiker? Wie plausibilisieren sie ihr Recht, Kritik zu üben? 5. Versteht man das Ideal als den Entwurf einer wünschenswerten Ordnung, stellt sie ein Gegengewicht zu der in der Kritik prognostizierten Unordnung dar. Weber verbindet seine drei Typen traditionaler, legaler und charismatischer Herrschaft mit der Geltung einer legitimen Ordnung und etabliert damit einen konstitutiven Zusammenhang zwischen Ordnung und Herrschaft.24 Können die Gegensatzpaare Ordnung und Unordnung/Chaos transkulturell zu relevanten Beschreibungskategorien avancieren, um Diskurse über Herrschaft nachzuzeichnen?

Quellenverzeichnis ›Reformation Kaiser Siegmunds‹, ed. Heinrich Koller (Monumenta Germaniae Historica 6), Stuttgart 1964. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, ed. Johannes Winckelmann, Tübingen 1956 (ND Köln/Berlin 1964).

24 Weber 1964, 22.

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Literaturverzeichnis Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. durchges. Aufl., München 1997. Karl Beer, Zur Überlieferung der sogenannten ›Reformation Kaiser Siegmunds‹, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 40 (1925), 205–233. Ders., Der gegenwärtige Stand der Forschung über die ›Reformatio Sigismundi‹, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 59 (1951), 55–93. Ders., Was ein deutscher Reformer vor einem halben Jahrtausend vom Ärztestand erwartete, in: Gesnerus 12,1–2 (1955), 24–36. Hartmut Boockmann, ›Reformatio Sigismundi‹, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), 384–386. Thea Buyken, Der Verfasser der ›Reformatio Sigismundi‹, in: Josef Engel/Hans M. Klinkenberg (edd.), Aus Mittelalter und Neuzeit. Gerhard Kallen zum 70. Geburtstag dargebracht von Kollegen, Freunden und Schülern, Bonn 1957, 97–116. Lothar Graf zu Dohna, ›Reformatio Sigismundi‹. Beiträge zum Verständnis einer Reformschrift des fünfzehnten Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 4), Göttingen 1960. Sebastian Dümling, Träume der Einfachheit. Gesellschaftsbeobachtungen in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts (Historische Studien 511), Husum 2017. Jörg K. Hoensch, Kaiser Sigismund. Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit. 1368–1437, München 1996. Michael Hiersemann, Der Konflikt Papst-Konzil und die ›Reformatio Sigismundi‹ im Spiegel ihrer Überlieferung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 9,1 (1982), 1–13. Franz Irsigler, Die ›Kleinen‹ in der sogenannten ›Reformatio Sigismundi‹, in: Saeculum 27 (1976), 248–255. Karina Kellermann, Kaiser Friderich ist komen! Der Wiederkehrmythos und die frühe Vision eines 1000jährigen deutschen Reiches, in: Michael Bernsen/Matthias Becher/ Elke Brüggen (edd.), Gründungsmythen Europas im Mittelalter, Göttingen 2013, 177– 199. Dies., Der tiuvel schiez iu in den kragen! Herrschaftskritik in der deutschsprachigen Publizistik, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft. Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen (Macht und Herrschaft 11), Göttingen 2019, 191–212. Mona Kirsch, Das allgemeine Konzil im Spätmittelalter. Organisation – Verhandlungen – Rituale (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 21), Heidelberg 2016. Heinrich Koller, Eine neue Fassung der ›Reformatio Sigismundi‹, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 60 (1952), 143–154. Ders., Untersuchungen zur ›Reformatio Sigismundi‹ I. Die Fassungen und Handschriften der ›Reformatio‹, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 13 (1957), 482– 524. Ders., Untersuchungen zur ›Reformatio Sigismundi‹ II: Die Vorlagen der ›Reformatio‹, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 14 (1958), 418–468.

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Ders., Untersuchungen zur ›Reformatio Sigismundi‹ III: Entstehungszeit, Entstehungsort und die Verfasser der ›RS‹ und ihrer Redaktionen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 15 (1959), 137–162. Ders., ›Reformatio Sigismundi‹, in: Verfasserlexikon 7 (2. Aufl., 1989), 1070–1074. Albrecht Koschorke et al., Vorwort, in: Dies. (edd.), Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. Main 2007, 9–14. Karl-Friedrich Krieger, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 14), München 1992. Claudia Märtl, Der Reformgedanke in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts, in: Ivan Hlavácˇek/Alexander Patschovsky (edd.), Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Konstanz-Prager historisches Kolloquium (11.–17. Oktober 1993), Konstanz 1996, 91–108. Erich Meuthen, Das Basler Konzil als Forschungsproblem der europäischen Geschichte (Vorträge/Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften: Geisteswissenschaften; G 274), Opladen 1985. Sabine Schmolinsky, ›Reformatio Sigismundi‹, in: Killy Literaturlexikon (2. Aufl. 2010), 469f. Tilman Struve, Reform oder Revolution? Das Ringen um eine Neuordnung in Reich und Kirche im Lichte der ›Reformatio Sigismundi‹ und ihrer Überlieferung, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 126 (1978), 73–129. Heinrich Werner, Der kirchliche Verfassungskonflikt vom Jahre 1438/39 und die sog. ›Reformation des Kaisers Sigmund‹, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 32 (1907), 728–745. Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit. Band II. Reichsreform und Kaiserpolitik. 1493–1500. Entmachtung des Königs im Reich und in Europa, München 1975.

Eva Orthmann

Die Feier von Nauru¯z unter den beiden Moghulherrschern Huma¯yu¯n (r. 1530–40 und 1555–56) und Akbar (r. 1556–1605)

Teilprojekt ›Herrschaftsrepräsentation und Zeremoniell am Moghulhof‹ (Leitung: Prof. Dr. Eva Orthmann, Islamwissenschaft/Iranistik)

Im Folgenden werden zwei Ausschnitte aus für die Herrschaft von Huma¯yu¯n und Akbar zentralen Geschichtswerken vorgestellt. Sie werden im Hinblick auf Informationen über die Feier von Nauru¯z (das iranische Neujahrsfest) analysiert.

Erster Text: G˙iya¯t ad-Dı¯n Muhammad Hva¯ndamı¯r, ¯ ˙ Qa¯nu¯n-i Huma¯yu¯nı¯ = Huma¯yu¯n-na¯ma1˘ 1.

Die Quelle

Bei der ersten im Folgenden präsentierten Textpassage handelt es sich um einen Auszug aus dem auf Persisch verfassten ›Qa¯nu¯n-i Huma¯yu¯nı¯‹ (Regelungen von Huma¯yu¯n) von Hva¯ndamı¯r, einem Buch, das die Erneuerungen und Erfindungen ˘ des zweiten Moghulherrschers Huma¯yu¯n zum Thema hat. Das Buch ist vor dem Jahr 941/1534 verfasst worden und behandelt daher nur die erste Zeit der Regierung Huma¯yu¯ns, also die Jahre, bevor er ins Exil in den Iran gegangen ist.2 1 G˙iya¯t ad-Dı¯n Muhammad Hva¯ndamı¯r, Qa¯nu¯n-i Huma¯yu¯nı¯ = Huma¯yu¯n-na¯ma, ed. Muham¯ ˙ ˘ mad Hida¯yat Husain, Calcutta 1940; G˙iya¯t ad-Dı¯n Muhammad Hva¯ndamı¯r, Qa¯nu¯n-i˙ Hu¯ ˙ ˙ ¯ yu¯n-na¯ma, übers. v. Baini Prashad, ma¯yu¯nı¯ = Huma Calcutta 1940.˘ Die hier zitierte Passage findet sich auf S. 95–96. 2 Charles A. Storey, Persian Literature. A Bio-Bibliographical Survey, 5 Bde., Bd. 1: Qurʾa¯nic Literature, Part 1: Historiography, London 1939, 101–109, 536, Part 2: Biography, Additions and Corrections, Indexes, London 1953, 1237–1238; Stephan Conermann, Historiographie als Sinnstiftung. Indo-persische Geschichtsschreibung während der Moghulzeit (932–1118/1516– 1707), Wiesbaden 2002, 154–159; Muhammad Hida¯yat Husain, Preface, in: G˙iya¯th ad-Dı¯n ˙ ¯ yunı¯ = Huma¯yun-na Muhammad Hva¯ndamı¯r, Qa¯nu¯n-i Huma ¯ ¯ ˙ ¯ma, ed. Muhammad Hida¯yat ˙ ˙ ˘ Husain, Calcutta 1940, i–xxxvi, xv–xvi. ˙

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Eva Orthmann

Huma¯yu¯n, auf dessen Anweisung hin dieses Buch entstanden ist, hat keine Beschreibung seiner Feldzüge und kriegerischen Taten in Auftrag gegeben, sondern eine durchaus ungewöhnliche Beschreibung von Bauwerken, Kleidungsstücken, administrativen Maßnahmen und eben auch Festen und Feiern, die unter ihm abgehalten wurden. Wie für persische Historiographien dieser Zeit üblich, ist der Text zwar grundsätzlich in Prosa gehalten, aber von vielen Versen durchsetzt. Das Persische ist nicht leicht zu verstehen, da – wie ebenfalls in dieser Zeit üblich – gerne ausgefallene Adjektive und Metaphern verwendet werden, und es gerade im Fall der Architekturbeschreibungen ausgesprochen schwierig ist, die Konstruktionen zu verstehen, von denen sich nichts erhalten hat. Schließlich handelt es sich nicht um detaillierte Baubeschreibungen, sondern zum Lob des Herrschers verfasste Zeilen, die seine genialen Einfälle preisen sollen. Der ›Qa¯nu¯n-i Huma¯yu¯nı¯‹ ist auf Persisch ediert und auch ins Englische übersetzt worden; diese Übersetzung weist jedoch einige Schwierigkeiten und Fehler auf, daher kann man sie höchstens als ungefähre Wiedergabe des persischen Texts betrachten.

2.

Inhalt der ausgewählten Textstelle

Die hier ausgewählte Passage behandelt in recht knappen Worten die Einführung der Feier des Nauru¯zfestes unter Huma¯yu¯n. Es ist die einzige Passage in dem ›Qa¯nu¯n-i Huma¯yu¯nı¯‹, die davon handelt; wir haben daher keine weiteren Informationen darüber, wie dieses Fest dann Jahr für Jahr tatsächlich gefeiert worden ist. Wichtig ist dem Verfasser an dieser Stelle, das Datum von Nauru¯z zu benennen und darauf hinzuweisen, dass Huma¯yu¯n die Feier nicht am traditionellen Tag abgehalten hat, sondern das Datum verschoben und das alte Nauru¯zfest abgeschafft hat. Die englische Übersetzung weist hier einen entscheidenden Fehler auf, da die Datumsangabe falsch übersetzt worden ist.

3.

Zur Relevanz der Passage

Nauru¯z stellt eine wichtige Feier bei den Moghulherrschern dar. Die Passage ist gerade wegen der in ihr enthaltenen Datumsangabe relevant. Der zweite wichtige Punkt in der Passage betrifft die Ortsangabe. Zum dritten können wir der Passage entnehmen, in welchem Umfang Huma¯yu¯n sich als Personifikation der Sonne inszeniert hat. Daher stellt der Ausschnitt ein wichtiges Mosaikstück für das Verständnis der Moghulideologie dar.

Die Feier von Nauru¯z unter den beiden Moghulherrschern Huma¯yu¯n und Akbar

4.

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Die Passage in deutscher Übersetzung3

»In derselben Weise feiert der Weisheit erlangende Herrscher an dem Tag, an dem die Sonne den Punkt ihrer Erhöhung erreicht, ein Fest. Den alten Nauru¯z-Tag hat er für nichtig erklärt, weil die Könige der Magier an diesem Tag ein Fest gefeiert haben, und die mugˇtahids (Religionsgelehrten) der orthodoxen muslimischen Gemeinschaft die Wiederbelebung ihrer Art und Weise für verwerflich hielten. Und im gesegneten Monat des Ramadan im Jahr 940, als der ˇ aha¯r Ba¯g˙4 der Reiche des Lichts die Eifersucht des Rosengartens von Eram C beflügelte, und er den schönen Ort mit seiner Gegenwart ehrte, waren am 13. Tag, als der ewige König (= die Sonne) den Grad seiner Erhöhung erreichte, die Bediensteten am Hof des göttlichen Schattens, die wichtige Dinge erledigen und großartige Tätigkeiten verrichten, mit der Ausgestaltung des Festes befasst, wie es erforderlich war. Und sie bereiteten die Feier in angemessener Weise vor. Und der Herrscher, der der Welt Schutz bietet, nahm an diesem Tag im Zelt der 12 Tierkreiszeichen Platz, gleichwie der Jamshid (= legendärer König, Epithet der Sonne) der Sonne, von dessen Glanz das Tierkreiszeichen Widder aufgrund des Lichtes seiner Gegenwart angestrahlt wird und ewige Erhabenheit gibt. Und er ließ viele derjenigen, die an der königlichen Schwelle standen, durch die Gnade prachtvoller Ehrengewänder und die Vergabe von angemessenen mansabs ˙ (Rangstellungen) zum Palast des Saturn (= in den siebten Himmel) gelangen.«

5.

Wichtige inhaltliche Punkte

5.1

Die Datierung von Nauru¯z

In der Analyse dieser kurzen Passage ist zunächst die Datumsangabe von Interesse. Wie es heißt, hat Huma¯yu¯n die Feier des alten Nauru¯z abgeschafft und dafür seine Feier am Tag der Erhöhung der Sonne abgehalten. Wann aber wurde das alte Nauru¯z gefeiert? Und was bedeutet die Angabe »Tag der Erhöhung des ewigen Königs«, also der Sonne? Fragt man nach den Ursprüngen von Nauru¯z und dem zoroastrischen Fest, dann muss man sich mit der komplexen Frage des zoroastrischen Kalenders sowie seinen Reformen und Schalttagen auseinandersetzen. Kurz gesagt ist es im zoroastrischen Kalender wahrscheinlich aufgrund von Kalenderreformen zur Ausbildung von zwei Nauru¯zfeiern gekommen, dem eigentlichen Nauru¯z am

3 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin. ˇ aha¯r Ba¯g˙ bezeichnet man eine besondere Art von Gartenanlage. 4 Als C

136

Eva Orthmann

1. Farvardı¯n, und dem Großen Nauru¯z am 6. Farvardı¯n.5 In islamischer Zeit wurde primär der 1. Farvardı¯n gefeiert, also der Tag der Frühjahrstag- und -nachtgleiche.6 Die Festlegung des Datums erfolgte astronomisch nach dem Frühlingspunkt, so dass also gefeiert wurde, wenn die Sonne in das Tierkreiszeichen Widder eintrat – ein Moment, den man auf die Sekunde genau angeben kann. Allerdings finden sich auch abweichende Daten für die Feier. Hervorzuheben ist insbesondere das Datum, an dem der Hva¯rezmsˇa¯h (1077–1231) gefeiert ˘ hat: in seinem Reich wurde Nauru¯z am 19. Farvardı¯n, dem Tag der Erhöhung der Sonne (s. u.), begangen.7 Angaben zur Feier von Nauru¯z finden sich für die ersten Jahrhunderte islamischer Zeitrechnung bei den arabischen Geographen,8 aber auch in einer Reihe von Geschichtswerken, so zum Beispiel im ›Ta’rih-i Baihaqı¯‹ (Geschichte von ˘ Baihaqı¯) aus der Ghaznavidenzeit (977–1186).9 Für uns besonders interessant sind die Angaben aus der mit der Moghulherrschaft zeitgleichen Dynastie der Safaviden (1501–1722), wo ebenfalls Nauru¯z gefeiert wurde. Dabei zeigt sich sowohl in den Reiseberichten europäischer Reisender als auch in den persischen Quellen ganz klar, dass im Safavidenreich am 1. Farvardı¯n gefeiert wurde und die Feiern oft drei Tage dauerten.10

5 Michael Stausberg, Die Religion Zarathustras: Geschichte – Gegenwart – Rituale, 3 Bde., Bd. 3, Stuttgart 2004, 508–510; Simone Cristoforetti, NOWRUZ iii. In the Iranian Calendar, in: Encyclopædia Iranica. Online Edition (2016), http://www.iranicaonline.org/articles/ nowruz-iii (20. 5. 2020). 6 Cristoforetti 2016; al-Bı¯ru¯nı¯, Kita¯b al-a¯ta¯r al-ba¯qiya ʿan al-quru¯n al-ha¯liya, ed. Eduard ¯ ˘ Chronology of Sachau, Leipzig 1923, 215–219; Abu¯ al-Raiha¯n Muhammad al-Bı¯ru¯nı¯, The ˙ ˙ Ancient Nations: an English Version of the Arabic Text of the Athâr-ul-Bâkiya of Albîrûnî, übers. v. Eduard Sachau, London 1879, 199–204. 7 Cristoforetti 2016; Hasan Taqı¯za¯da, Ga¯hsˇuma¯rı¯ dar Ira¯n-i qadı¯m, in: Maqa¯la¯t-i Taqı¯za¯da, ˙ Bd. 10, Tehran 1978, 140. ed. Ira¯gˇ Afsˇa¯r, 10 Bde., 8 Abu-ʾl-Qa¯sim Ibn-Hauqal, Opus Geographicum: Kita¯b Su¯rat al-ard taʾlı¯f Abı¯ʾl-Qa¯sim Ibn˙ Johannes H. Kramers, Leiden 1939, ˙ 364. ˙ Hauqal an-Nas¯ıbı¯, ed. ˙ ˙ 9 Abu¯ l-Faz˙l-i Muhammad b. Hussain-i Baihaqı¯, Ta’rı¯h-i Baihaqı¯, ed. Halı¯l Hat¯ıb Rahbar, ˘ ammad b. Hussain-i ˘ ˘ ˙Baihaqı¯, The Tehran 1371 h. sˇ.˙ [1992], 757,˙897, 941; Abu¯ l-Faz˙l-i Muh ˙ ˙ History of Beyhaqi. The History of Sultan Masʿud of Ghazna, 1030–1041, übers. v. Clifford E. Bosworth/Mohsen Ashtiany, 3 Bde., Bd. 2, Boston 2011, 210, 249, 303. ¯ lama¯ra¯-i ʿAbba¯sı¯, ed. Ira¯gˇ Afsˇa¯r, 2 Bde., 3. Aufl., Tihra¯n 10 Siehe Iskandar Munsˇ¯ı, Ta¯rı¯h-i ʿA 1382 h. sˇ. [2003], wo für fast ˘jeden Jahresbeginn eine Nauru¯zfeier beschrieben wird, siehe z. B. ¯ lama¯ra¯-i ʿAbba¯sı¯. The Bd. 1, 518, 589, 598, Bd. 2, 676, 780–781; Iskandar Munsˇ¯ı, Ta¯rı¯h-i ʿA ˘ Bd. 2, Boulder 1978, 693, History of Shah ʿAbbas the Great, übers. v. Roger M. Savory, 3 Bde., 777, 787, 867, 977; Engelbert Kaempfer, Am Hofe des persischen Großkönigs 1684–1685, Stuttgart 1984, 190; Pietro DellaValle, Reisebeschreibungen in Persien und Indien, nach der ersten dt. Ausgabe von 1674 zusammengestellt und bearbeitet von Friedhelm Kemp. Mit Goethes Essay über Pietro della Valle aus dem West-östlichen Divan, Berlin 1987, 57–61; Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen und Persischen Reyse, ed. Dieter Lohmeier, Tübingen 1971 (Originalausg. Schleswig 1656), 440, 627.

Die Feier von Nauru¯z unter den beiden Moghulherrschern Huma¯yu¯n und Akbar

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Wenn es im ›Qa¯nu¯n-i Huma¯yu¯nı¯‹ heißt, der Herrscher habe das alte Nauru¯z abgeschafft, so ist darunter folglich zu verstehen, dass Huma¯yu¯n nicht am 1. Farvardı¯n gefeiert hat. Wann aber dann? Der Text macht zwei Datumsangaben: Zum einen den 13. Ramadan, und zum anderen heißt es, Huma¯yu¯n habe an dem Tag gefeiert, an dem die Sonne den Punkt ihrer Erhöhung erreicht. Bei der zweiten Angabe haben wir es mit einer astrologischen Datumsangabe zu tun und müssen folglich die astrologischen Punkte der Erhöhung der Planeten betrachten. Jeder Planet – und dazu zählen nach damaliger Ansicht auch Sonne und Mond – hat einerseits ein bzw. zwei Häuser: hierbei handelt es sich um Tierkreiszeichen, die diesem Planeten zugeordnet sind, also Abschnitte von 30° im Tierkreis, so dass Planeten sich jeweils etwa einen Monat lang in ihrem Haus aufhalten. Demgegenüber befinden sich die Punkte der Erhöhung und der Erniedrigung eines Planeten an nur einem bestimmten Grad des Tierkreises, der Planet hält sich dort folglich auch nur etwa einen Tag lang auf. Die Sonne hat ihren Punkt der Erhöhung am 19. Farvardı¯n, also 18 Tage nach Frühlingsbeginn.11 Bei der Datierung ergibt sich insofern ein kleines Problem, als der 13. Ramadan 940 den gängigen Umrechnungstabellen von Mond- in Sonnenjahre zufolge dem 18. Farvardı¯n entspricht und nicht dem 19. Farvardı¯n. Diese Umrechnungstabellen sind indes astronomisch berechnet, wohingegen sich in der Praxis der Beginn eines islamischen Mondmonats nach der tatsächlichen Sichtbarkeit der Mondsichel vor Ort richtet, so dass ein neuer Monat beginnt, sobald der Neumond zu sehen ist. Hieraus können sich Abweichungen von einem Tag ergeben, so dass der 13. Ramadan 940 gut dem 19. Farvardı¯n entsprochen haben kann.

5.2

Gründe für die Datumsverschiebung

Der Text selbst gibt an, dass Huma¯yu¯n bei der Verschiebung des Datums auf den Widerspruch der Religionsgelehrten Rücksicht genommen habe. In der Tat war die Nauru¯zfeier religiös umstritten, galt es doch als anstößig, ein vorislamisches Fest zu begehen. Indem man den Feiertag verlegte, konnte man diese Kritik eindämmen. Wir können aus dieser Angabe auch schließen, dass Huma¯yu¯n die Meinung der Religionsgelehrten offenbar nicht ganz egal war oder nicht ganz egal sein konnte, denn sonst hätte er sich über ihren Widerspruch ja einfach hinwegsetzen können. Es ist aber durchaus möglich, dass die Verschiebung von Nauru¯z noch zwei andere Gründe hatte, die der Text nicht nennt: zum einen war 11 Kocku von Stuckrad, Geschichte der Astrologie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003, 24, 389.

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Eva Orthmann

es durch diese Verschiebung möglich, sich von den benachbarten Safaviden abzugrenzen. Tatsächlich kann man an einigen weiteren Maßnahmen des Herrschers erkennen, dass er einerseits von safavidischen Praktiken beeinflusst war, und andererseits diese aber modifizierte, um etwas Eigenes zu schaffen.12 Zum anderen sollte man sich dessen bewusst sein, dass Huma¯yu¯n sich in sehr hohem Maße durch ein astrologisch-magisches Denken auszeichnete, der Buchstabenmagie anhing und sich selbst auch in anderen Kontexten als Verkörperung der Sonne inszenierte. Insofern war es nur konsequent, die Feier dieses Festes, das ohnehin stark mit dem Königtum assoziiert war, auf den Tag zu legen, an dem die Sonne aus astrologischer Sicht ihre größte Macht entfaltet: auf den Tag ihrer Erhöhung.

5.3

Ortsangaben

Als Ort, an dem Huma¯yu¯n gefeiert hat, wird eine weitere seiner Erfindungen angegeben: das Zelt der zwölf Tierkreiszeichen. Das Zelt ist in unterschiedlicher Weise rekonstruiert worden; ich halte es allerdings für am wahrscheinlichsten, dass es sich um ein rundes Zelt gehandelt hat, das in der Mitte einen Pfosten hatte, und das durch zwölf vom oberen Ende dieses Pfostens an die Zeltwände laufende Stangen in zwölf gleichgroße Segmente eingeteilt wurde. Diese Segmente repräsentierten die zwölf Tierkreiszeichen. Möglicherweise waren sie farbig gestaltet; zentral war aber, dass in die Zeltwand Löcher in der Anordnung von Sternbildern geschnitten waren. Auf jeden Fall gilt das für die zwölf Tierkreiszeichen, so dass man diese also als Lochmuster über sich sehen konnte. Durch die Löcher blickte man allerdings nicht in den Himmel, sondern auf ein äußeres, ganz in weiß gehaltenes Zelt, welches das innere Zelt vollständig umschloss. Tagsüber, wenn diese weiße Zeltwand von der Sonne beschienen wurde, muss sich von innen der Eindruck funkelnder weißer Sterne ergeben haben. Man kann das Zelt der Tierkreiszeichen daher als eine Art kosmisches Modell verstehen und es ist sehr wahrscheinlich, dass innen im Zelt der sogenannte Sphärenteppich lag – ein runder Teppich, der die sublunaren Sphären, die Sphären der Planeten, Fixsterne und die äußerste Sphäre in konzentrischen Kreisen abbildete.13 Teppich und Zelt zusammen bildeten ein vollständiges kosmisches Mo-

12 Vgl. Azfar Moin, The Millennial Sovereign. Sacred Kingship and Sainthood in Islam, New York 2012, 81, 123–125; Hva¯ndamı¯r 1940, 70–72; übers. v. Baini Prashad, Calcutta 1940, 49– ˘ 50.

13 Vgl. Eva Orthmann, Sonne, Mond und Sterne: Kosmologie und Astrologie in der Inszenierung von Herrschaft unter Huma¯yu¯n, in: Lorenz Korn/Eva Orthmann/Florian Schwarz (edd.), Die Grenzen der Welt: Arabica et Iranica ad honorem Heinz Gaube,

Die Feier von Nauru¯z unter den beiden Moghulherrschern Huma¯yu¯n und Akbar

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dell. Wir wissen, dass der Thron des Herrschers auf dem Teppich in der Sphäre der Sonne stand, und es ist daher anzunehmen, dass Huma¯yu¯n während des Nauru¯zfestes seinen Thron genau dort stehen hatte und zum Zeitpunkt der Erhöhung der Sonne auf diesem Thron Platz nahm. Letzteres wird in der Quelle leider nicht beschrieben und es sind auch keine archäologischen und kunsthistorischen Zeugnisse erhalten, die uns darüber näher Aufschluss geben. Während unsere Überlegungen hier also hypothetisch bleiben müssen, lässt sich trotzdem erkennen, dass die Zusammenarbeit von Textwissenschaftlern, Archäologen und Kunsthistorikern für die Bearbeitung unserer Thematik zentral ist.

5.4

Aktivitäten

Huma¯yu¯n hat sich an diesem Tag auf den Thron gesetzt. Er hat also – in Analogie zur Sonne – einen erhöhten Platz eingenommen, an dem er seine Macht symbolisch demonstrieren konnte. Huma¯yu¯n hat an diesem Tag ferner verdiente Beamte befördert und ihnen Ehrengewänder verliehen. Damit griff er eine Praxis auf, die auch in anderen Kontexten beschrieben wird, die sich bei den Moghulherrschern aber offenbar besonderer Beliebtheit erfreute: Nauru¯z dazu zu nutzen, die Würdenträger möglichst um sich zu sammeln, sie durch die Verleihung von Ehrengewändern auszuzeichnen und ihre Stellungen zu bestätigen oder zu verändern. Nauru¯z war folglich auch ein Tag der Kommunikation zwischen dem Herrscher und den oder zumindest bestimmten Eliten des Reichs.

Zweiter Text: Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, Akbarna¯ma14 1.

Die Quelle

Das ›Akbarna¯ma‹ (Buch über Akbar) ist ein für den dritten Moghulherrscher Akbar (r. 1556–1605) abgefasstes Werk. Abu¯ l-Faz˙l, der Autor des ›Akbarna¯ma‹, war Ratgeber und Chefideologe für Akbar. Sein Buch ist ein einziges Herrscherlob; in fast jeder Zeile preist er in reichen Metaphern die Vorzüge und die Einmaligkeit seines Auftraggebers. Dabei ist es ihm ein besonderes Anliegen, Akbar als einen von Gott auserwählten Herrscher darzustellen, der sich in geWiesbaden 2008, 297–306, 299–303; Hva¯ndamı¯r 1940, 110–112; übers. v. Baini Prashad ˘ 1940, 80–81; Moin 2012, 123. ¯ g˙a¯ Ahmad ʿAlı¯/ʿAbd ar-Rah¯ım, 3 Bde., Bd. 3, Calcutta 14 Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, Akbarna¯ma, ed. A ˙ v. Henry Beveridge, 3˙ Bde., Bd. 3, Calcutta 1921 1886; Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, Akbarna¯ma, übers. (ND Delhi 1998). Die hier zitierte Passage findet sich in Bd. 3, 379–381.

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nialer Weise der Regierungsgeschäfte annimmt und göttlich inspirierte Maßnahmen zum Wohle seiner Untertanen trifft.15 Das ›Akbarna¯ma‹ ist chronologisch aufgebaut und nach Regierungsjahren geordnet. Abu¯ l-Faz˙l verwendet dabei von Anfang an die sogenannte Ila¯hı¯-Ära, eine im 29. Regierungsjahr von Akbar eingeführte Zeitrechnung, bei denen der Jahresbeginn jeweils am 1. Farvardı¯n liegt.16 Sprachlich zeichnet sich das ›Akbarna¯ma‹ durch seine zum Teil schwer zu übersetzende hyperbolische Ausdrucksweise aus. Einige der verwendeten Ausdrücke stehen dabei in unmittelbarer Beziehung zu Kernbegriffen der Moghulideologie in der Akbarzeit. Dazu gehören insbesondere die beiden Begriffe su¯ra ˙ und maʿna¯, die im hier abgedruckten übersetzten Text immer wieder auftauchen und die auf die äußere, weltliche Erscheinungsform der Dinge (su¯ra) und ihre ˙ innere Bedeutung (maʿna¯) verweisen.17 Aber auch das in Bezug auf Gott mehrfach verwendete Adjektiv ila¯hı¯ (göttlich) steht in unmittelbarer Beziehung zur vorherrschenden Ideologie und dem sogenannten dı¯n-i ila¯hı¯ (göttlichen Glauben), einem Begriff, der die spezifische Glaubensrichtung Akbars bezeichnet haben soll.18 Die vorliegende Textpassage beschreibt die Feier von Nauru¯z im 27. Regierungsjahr von Akbar. In diesem Jahr hat Akbar Nauru¯z zum ersten Mal gefeiert, denn er soll dieses Fest zusammen mit einigen anderen alten Feiertagen in diesem Jahr eingeführt haben. Tatsächlich erwähnt Abu¯ l-Faz˙l zwar auch in den vorangehenden Jahren jeweils den Jahresanfang, geht aber dabei fast ausschließlich auf Naturereignisse ein und nimmt in seinen Text ein paar Verse über die Schönheit der aufblühenden Natur auf, schreibt aber kaum etwas über irgendwelche Feierlichkeiten.19 Ganz unbeachtet scheint der Feiertag jedoch auch zuvor nicht gewesen zu sein, denn ab und zu wird auch für die Jahre vor dem 27. Regierungsjahr eine Feier an

15 Vgl. Conermann 2002, 159–173. 16 Vgl. Stephen P. Blake, Time in Early Modern Islam. Calendar, Ceremony, and Chronology in the Safavid, Mughal, and Ottoman Empires, Cambridge et al. 2013, 118–126; Abu¯ l-Faz˙l ¯ ʾı¯n-i Akbarı¯, ed. Henry Blochmann, 3 Bde., Bd. 1–2, Calcutta 1872/1877, Bd. 1, ʿAlla¯mı¯, A ¯ ʾı¯n-i Akbarı¯, übers. v. Henry Blochmann/H. S. Jarrett, The 277–278; Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, A Áín-i-Akbarí: A Gazeteer and Administrative Manual of Akbar’s Empire and Part History of India, 3 Bde., Bd. 1–2, jew. 2. Aufl., Calcutta 1927/1949, Bd. 2, 29–30; Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, ¯ g˙a¯ Ahmad ʿAlı¯/ʿAbd ar-Rah¯ım, 3 Bde., Bd.2–3, Calcutta 1879/1886, Bd. 2, Akbarna¯ma, ed. A ˙ Henry Beveridge, 3 Bde., Bd. 2–3, Calcutta 9–10, Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯˙mı¯, Akbarna¯ma, übers. v. 1907/1939 (ND Delhi 1998), Bd. 2, 15–18. ˇ aha¯ngı¯r. Untersuchungen zur politischen und religiösen 17 Vgl. Heike Franke, Akbar und G Legitimation in Text und Bild, Schenefeld 2005, 234–236. 18 Vgl. Moin 2012, 131; Franke 2005, 191–198. 19 ʿAlla¯mı¯ 1879, 18–19, 49–50, 65, übers. v. Beveridge 1907, 32–34, 78–79, 101–102.

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Nauru¯z erwähnt.20 Es ist allerdings anzunehmen, dass solche Feiern weitaus weniger umfangreich und prächtig gewesen sind als das später der Fall war.

2.

Relevanz der ausgewählten Textstelle

In der übersetzten Passage wird das erste ausführlich gefeierte Nauru¯zfest beschrieben. Es finden sich daher eine Reihe von Details, wie insbesondere Angaben zum Zeitpunkt und zur Dauer sowie zu den Örtlichkeiten und den Aktivitäten. Anhand dieser Passage lassen sich daher besonders gut Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Feier bei Huma¯yu¯n und Akbar aufzeigen.

3.

Die Passage in deutscher Übersetzung21

»Von diesem Jahr an wurde es üblich, Nauru¯z und andere traditionelle Feste zu feiern, und sie wurden zur gängigen Währung auf dem Markt der Welt. Den heiligen Seelen der alten Zeiten widerfuhr erneut Freude, und die Großen der Gegenwart erlangten durch Verbindung mit dem Glück und Vereinigung mit der Freude einen Anteil an weltlichen und geistigen Dingen (su¯ra und maʿna¯). Und ˙ für die Erkenntnis suchenden Zukünftigen stellte es ein erlesenes Mitbringsel dar. Göttliche Verehrung kam zum Ausdruck. Und in Form einer Verschönerung des Weltlichen (su¯ra) wuchs das Geistige (maʿna¯) heran. ˙ Das Fest wurde arrangiert zum Zeitpunkt der Ausgewogenheit der Naturen und zur Zeit der anderen Feiern in den persischen Städten, welche sich die altvorderen Gelehrten (hukama¯ʾ) vorgestellt haben zur Verehrung Gottes (pa˙ rastisˇ-i ila¯hı¯) und zur Gewinnung der Herzen sowie als Vorwand zum Erlangen von Begünstigungen. So wie einiges davon zu Beginn dieses Palastes des Wissens ¯ ʾı¯n-i Akbarı¯‹) erwähnt worden ist. (= ›Akbarna¯ma‹) und im letzten Heft (= ›A Weil der Zeitpunkt von Nauru¯z nahe war, schmückten auf höchsten Befehl hin die Bediensteten des glückverheißenden Hofes das große daulatha¯na (Audi˘ enzgebäude) welches von 120 steinernen Portiken (ı¯va¯nen) eingefasst ist. Die hochstehenden Würdenträger und andere das Glück anstrebende Diener legten beim Schmücken davon große Sorgfalt an den Tag, und golddurchwirkte Stoffe von hohem Wert kamen zum Einsatz. Und sie schmückten es mit vielerlei Arten von Juwelen. Freudenvoll und glückverheißend blickte am Sonntag, dem 15. Safar 990 des ˙ Mondkalenders nach Verstreichen von 14 Minuten und 37 Sekunden das Licht 20 ʿAlla¯mı¯ 1879, 269, 327, übers. v. Beveridge 1907, 400–401, 481–482. 21 Die Übersetzung stammt von der Verfasserin.

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des Bogens dieser erhabenen Sphäre (= die Sonne) das Tierkreiszeichen Widder an, und schmückte die Zeit mit erblühender Röte. Erfolgreich begann das Jahr Hurda¯d, das dritte Jahre des dritten Zyklus.22 ˘ Der König mit wissendem Herzen stieg auf den glückverheißenden Thron und schmückte su¯ra und maʿna¯ mit frischem Glanz. Der Juwel der Erkenntnis trat ˙ hervor, und für die Erfahrung und Liebe war ein neuer Anfang. [Verse:] Sie haben ein Freudenfest vorbereitet Wie es seit langem die Zeit nicht hervorgebracht hatte. Was für ein Moment von Freude und Übersprudeln von Glück! [Was für ein] Begehren der Tänzer auf dem Teppich! Im Laden des Begehrens ruft ein Blick Rebellion hervor. Für das Objekt (wörtl. die Ware) des Blickes findet sich schnell ein Käufer.

Sie öffneten das Schloss des Schatzhauses, und die Münzen der Hoffnung wurden unter den Menschen verteilt. Und es wurde beschlossen, jedes Jahr vom Zeitpunkt des Jahreswechsels bis zum Zeitpunkt der Erhöhung [der Sonne] Feste zu veranstalten. Und an jedem Tag solle einer der Diener von glücklicher Natur dieses glückverheißende Fest ausrichten. Bei dieser erhabenen Feier befahl er, dass heute jeder eine Maßnahme auswähle, und sie als Zierde des Glücks betrachte. Zuerst brachte der Weltenherrscher mit seiner juwelenbesetzten Zunge hervor: Herrschaft (hudavandı¯) gebührt ˘ in Wahrheit nur dem unvergleichlichen Gott, und Sklaverei (bandagı¯) niemandem, als den Menschensöhnen. Welche Macht hat diese kleine Schar von schwachen Menschen, dass sie es sich anmaßen, Herren zu sein und ihresgleichen zu Sklaven zu machen. Und zur gleichen Zeit befahl er, mehrere tausend Sklaven freizulassen. Und er ließ verbreiten, wie es denn angemessen sein könne, gewaltsam Gefangene mit diesem Namen zu bezeichnen, und ihnen Dienerschaft aufzuerlegen. Und diese Schar der ›Sklaven des Glücks‹ wurde als Dienerschaft (cˇ¯ıligı¯) bezeichnet. […] [Es folgt eine Aufzählung der Maßnahmen, die hohe Würdenträger des Reiches bei der Gelegenheit des Festes vorschlagen, u. a. geht es um das Heiratsalter, Todesstrafe, Almosen und ein Berichtssystem.] Nachdem sie dem Weltenherrscher ihre Anliegen vorgebracht hatten, akzeptierte er alle Vorschläge. Die erstarrte Welt nahm neuen Glanz an. Die Tür öffnete sich für göttliche Gnade, und das Auge der Erkenntnis wurde mit 22 Gerechnet wird in Zeitzyklen zu 12 Jahren entsprechend den 12 Monaten eines Jahres. Die 12 Jahre eines Zyklus werden in dieser Zeitrechnung mit den Namen der 12 persischen Monate benannt. Das 27. Regierungsjahr entspricht dem dritten Jahr des dritten Zyklus und trägt daher den Namen des dritten Monats des iranischen Kalenders, Hurda¯d. Vgl. Blake ˘ 2013, 124; ʿAlla¯mı¯ 1879, 9–10; übers. v. Beveridge 1907, 15–18.

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Collyrium benetzt. Die Erde erhob sich mit Lobpreis, und der Himmel spendete Dank und applaudierte. Jeden Tag richtete einer der großen Würdenträger eine Feier aus. Indem der Weltenherrscher den Schatten seiner Zuneigung auf diesen geschmückten Ort fallen ließ, verlieh er dem Schenken und Geben eine laute Stimme. Und Lobpreisungen Gottes wurden durch hervorragende Maßnahmen geordnet. Und jeder, der sich des Glückes der Dienerschaft erfreute, gab ein wenig von den üppigen königlichen Gaben als Geschenk (pı¯ˇskisˇ) und erlangte dadurch ewiges Glück. Und der die Gerechtigkeit liebende Herrscher verwandelte das wenige, das er erhielt, in eine Quelle von hohem Rang. Und als der Moment der Erhöhung (sˇaraf) herannahte, schmückten sie das daulatha¯na-yi ha¯ss (Audienzgebäude für einen engeren Kreis an Anwesenden). ˘ ˘ ˙˙ Wunderwirkende Zauberer vollführten ihre Arbeit wie durch Hexerei. Für den Verstand war es ein Markttag. Die Seelen der altvorderen Weisen wurden erfrischt, und der die Großzügigkeit liebende Herrscher erhielt einen guten Vorwand [für Freigebigkeit].«

4.

Wichtige inhaltliche Punkte

4.1

Datierung

Unter Akbar können wir feststellen, dass beide Daten von Nauru¯z, der 1. Farvardı¯n und der 19. Farvardı¯n, miteinander verbunden werden und die Feiern sich über einen Zeitraum von 19 Tagen erstrecken. Beide Daten, der 1. und der 19. Farvardı¯n, sind in dieser Feierabfolge wichtig, wobei offenbar dem 1. Farvardı¯n die zentrale Bedeutung zukommt. Dieser wird jedenfalls deutlich ausführlicher beschrieben als der 19. Farvardı¯n.

4.2

Ortsangaben

In Fatehpur Sikri, der Residenzstadt von Akbar, wird am 1. Farvardı¯n im großen daulatha¯na, und am 19. Farvardı¯n im daulatha¯na-yi ha¯ss gefeiert. Während sich ˘ ˘ ˘ ˙˙ das große daulatha¯na leicht identifizieren lässt – es handelt sich um ein auf˘ fälliges Gebäude mit 120 ¯ıva¯nen, einer Art offener Hallen oder Portiken23 – gilt dies für das daulatha¯na-yi ha¯ss weniger. Es spricht allerdings sehr viel dafür, dass ˘ ˘ ˙˙ es sich um das Gebäude mit der Säule handeln, das auch als dı¯wa¯n-i ha¯ss bekannt ˘ ˙˙ 23 Vgl. Attilio Petruccioli, Fathpur Sikri. La capitale dell’impero Moghul, la meraviglia di Akbar, Milano 2007, 168 (Plan) und 175 (Text).

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ist.24 Für diese Identifikation spricht, dass dieses Gebäude markante Parallelen zu dem unter Huma¯yu¯n für die Nauru¯zfeier verwendeten Zelt aufweist, denn die Decke des Gebäudes ist in der Form eines quadratischen Horoskops gestaltet.25 Außerdem enthält es, genau wie das Zelt von Huma¯yu¯n, eine zentrale Säule, die als Repräsentation des Universums gedeutet wird, auf der die Sonne am Mittag steht.26 Im Fall von Akbar saß der Herrscher auf einer Plattform auf dieser Säule, so dass auch er symbolisch am Platz der Sonne thronte. Wir haben es also gewissermaßen mit einer in Stein umgewandelten Machart des kosmischen Zeltes zu tun, wobei allerdings nichts darüber bekannt ist, dass auch die planetaren Sphären in diesem Gebäude repräsentiert wurden. Stattdessen kann man darüber spekulieren, ob die vier Galerien, die sich an den vier Wänden des Gebäudes befinden, den vier Elementen zugeordnet waren; gegebenenfalls könnten dann sogar die vier Brücken, die von der zentralen Säule aus in die Ecken des Gebäudes führen, die vier Eigenschaften trocken – feucht – heiß – kalt symbolisieren. Diese Überlegung beruht auf der in den ebenfalls von Abu¯ l-Faz˙l ¯ ʾı¯n-i Akbarı¯‹ zu findenden Angabe, dass die Hofbeamten und verfassten ›A Personen aus der Entourage des Herrschers in vier Gruppen aufgeteilt waren, die den vier Elementen zugeordnet waren.27 Man könnte dann überlegen, ob diese Personen entsprechend ihrer Zuordnung im Gebäude platziert wurden. Dies muss allerdings reine Spekulation bleiben.

4.3

Aktivitäten

In Bezug auf die Feierlichkeiten selbst kann man einige Veränderungen gegenüber der Huma¯yu¯nzeit feststellen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Veranstaltung am 1. Farvardı¯n wichtiger und prächtiger gewesen ist als diejenige am 19. Farvardı¯n und die zentralen Aktivitäten auf diesen Tag gelegt wurden. Dazu gehört insbesondere die zeremonielle Thronbesteigung, die an diesem Tag stattfand. Wie Abu¯ l-Faz˙l angibt, hatte Akbar vormals Rücksicht auf religiöse Ansichten genommen und daher die alten Feste nicht gefeiert. Abu¯ l-Faz˙l sieht die Feier von Nauru¯z also ausdrücklich nicht als die Feier eines neuen Festes – so 24 Vgl. Ram Nath, Some Aspects of Mughal Architecture, New Delhi 1976, 7–21. 25 Vgl. Eva Orthmann, Court Culture and Cosmology in the Mughal Empire. Humayu¯n and the Foundations of the dı¯n-e ila¯hı¯, in: Albrecht Fuess/Jan-Peter Hartung (edd.), Court Cultures in the Muslim World. Seventh to Nineteenth Centuries, London/New York 2011, 202–220, 210–212. 26 Vgl. Nath 1976, 11–21; Ram Nath, History of Mughal Architecture, 4 Bde., Bd. 2, New Delhi 1985, 258–69; Petruccioli interpretiert die zentrale Säule als Weltachse: Petruccioli 2007, 238–40. 27 ʿAlla¯mı¯ 1872, 3, übers. v. Blochmann/Jarrett 1927, 4.

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wie es Huma¯yu¯n getan hatte – sondern als die Übernahme eines alten Brauchs, nämlich der Feier am 1. Farvardı¯n. Wir können dieser Beschreibung ferner entnehmen, dass Akbar es zu diesem Zeitpunkt für nicht mehr erforderlich hielt, auf die Religionsgelehrten Rücksicht zu nehmen, sondern seine Vorstellungen ungeachtet von Opposition aus deren Reihen durchsetzte. Auch hierin kann man eine Veränderung gegenüber der Politik unter Huma¯yu¯n sehen. Diese Feier wird zum zweiten als eine beschrieben, die explizit der Einführung von Maßnahmen zur Verbesserung von Regierung und Verwaltung dienen sollte. Daher wurden – in der Beschreibung von Abu¯ l-Faz˙l – die Vornehmen dazu aufgefordert, Verbesserungsvorschläge zu machen, die dann einzeln aufgeführt werden. Zu diesen Verbesserungsvorschlägen gehörte die Freilassung von Sklaven, eine Maßnahme, die der Herrscher selbst anordnete. Ferner wurde eingeführt, dass nur noch der Herrscher die Todesstrafe anordnen konnte, es wurde die Erhöhung des Heiratsalters auf mindestens 12 Jahre festgesetzt, ein Almosensystem am Hof bestimmt, ein Berichtssystem angeordnet, das die Ereignisse in den Provinzen aufzeichnen sollte. Es ist interessant, dass das ›Akbarna¯ma‹ hier ein partizipatives System beschreibt, bei dem die höchsten Würdenträger des Reiches daran teilhaben, sinnvolle Maßnahmen vorzuschlagen und dem Herrscher nahezubringen. Der Herrscher wiederum wird als jemand geschildert, der die Verbesserungsvorschläge anregt und gerne und willig umsetzt. Ob diese Art von Kommunikation tatsächlich bestanden hat, entzieht sich unserer Kenntnis; es war Abu¯ l-Faz˙l aber auf jeden Fall wichtig, Akbar als einen solcherart offenen und an Verbesserungsvorschlägen interessierten Herrscher darzustellen. Zieht man den Veranstaltungsort in Betracht, der Platz für viele Zuhörer bzw. Zuschauer bot, so wurde diese Form der Kommunikation öffentlich zelebriert. Dass die Nauru¯zfeier sehr viel mit der Kommunikation zwischen Herrscher und Elite zu tun hatte, und nicht nur – wie unter Huma¯yu¯n – die Verleihung von Ämtern und Posten im Rahmen der Feier erfolgte, sondern manche Notable besonders ausgezeichnet wurden, macht schließlich eine weitere Maßnahme deutlich: unter Akbar wurden die Tage zwischen dem 1. und dem 19. Farvardı¯n ebenfalls als Feiertage genutzt, wobei an diesen Tagen nicht der Hof die Feier ausrichtete, sondern reihum einer der Würdenträger feierte und bei dieser Gelegenheit dann ggfs. auch den Herrscher mit bewirtete. Aus einer anderen Passage im ›Akbarna¯ma‹ wird klar, dass Akbar nicht bei jeder dieser Feiern persönlich anwesend war;28 Gastgeber einer dieser Feiern zu sein, dürfte eine der höchsten Auszeichnungen überhaupt gewesen sein. Diese Maßnahme zeigt uns zugleich, dass Akbar hier mit Sicherheit sehr bewusst ein Element in die Feiern einführte, das die Stellung von Herrscher und Notablen einander annäherte. Nur dezent deutet Abu¯ l-Faz˙l an, dass für die derartig ausgezeichneten Notablen die 28 ʿAlla¯mı¯ 1886, 456; übers. v. Beveridge 1939, 686.

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Durchführung der Feier kostspielig war. Im Austausch dafür erreichten sie aber höchsten Rang. Zur Feier am 19. Farvardı¯n enthält die Beschreibung bei Abu¯ l-Faz˙l nur wenige Angaben. Es ist klar, dass sie im daulatha¯na-yi ha¯ss stattfand, aber was dort ˘ ˘ ˙˙ ¯ ʾı¯n-i passierte, erfahren wir nicht. In den ›A Akbarı¯‹ lesen wir, dass am Mittag des 19. Farvardı¯n ein weißer heller Stein in die Sonne gehalten wurde, mit dessen Hilfe ein Stück Baumwolle entzündet wurde, und dieses Feuer dann als himmlisches Feuer speziell aufbewahrt wurde.29 Einem anderen Historiographen der Akbarzeit zufolge galt der 19. Farvardı¯n als besonders heilig (sˇaraf asˇ-sˇaraf).30 Für kein anderes Jahr werden die Feiern so ausführlich beschrieben wie für das 27. Regierungsjahr. Es lässt sich aber erkennen, dass Akbar diese Art der sich über 19 Tage erstreckenden Feierlichkeiten beibehielt. Die Angaben zu anderen Jahren zeigen ferner, dass an diesem Tag auch Rebellen um Gnade bitten konnten, und sich an dem Tag erneut unterwarfen.31 Mitunter erfahren wir auch etwas über die Art, wie die Frauen des Palastes feierten.32 Wir können feststellen, dass die ausführliche, 19 Tage dauernde Feierperiode ˇ aha¯ngı¯r (r. 1605–27) beibehalten in der Zeit von Akbars Nachfolger und Sohn G ˇ wurde. Dabei fanden in der Zeit von Gaha¯ngı¯r die Feiern weiterhin ausdrücklich an verschiedenen Orten statt, so dass jeweils wechselnde Notable die Feier ausˇ aha¯ngı¯r richteten.33 Damit war Nauru¯z sowohl in der Akbarzeit als auch unter G eine Feier, für die der Austausch zwischen Notablen und dem Herrscher ein zentrales Element darstellte. Zugleich blieb die Feier weiterhin ein wichtiger Bestandteil herrscherlicher Repräsentation und Selbstinszenierung.

Bedeutung der Textbeispiele für das Teilprojekt und ihr Bezug zum Spannungsfeld ›Personalität und Transpersonalität‹ Für das Teilprojekt ›Herrschaftsrepräsentation und Zeremoniell am Moghulhof‹ stellt die Feier von Nauru¯z einen wichtigen Untersuchungsgegenstand dar. Nauru¯z war ein explizit unislamisches Fest, das aus der iranischen Tradition stammte; die Kritik, die solche Feiern auf orthodoxer Seite hervorrufen konnten, 29 ʿAlla¯mı¯ 1872, 44, übers. v. Blochmann/Jarrett, 1927, 50. 30 ʿAbd al-Qa¯dir Bada¯ʾu¯nı¯, Muntahab at-tawa¯rı¯h, ed. Mowlawı¯ Ahmad ʿAlı¯, 3 Bde, Bd. 2, ˙ ˘ ˘ Calcutta 1865, 309–310. 31 ʿAlla¯mı¯ 1886, 455–56; übers. v. Beveridge 1939, 685–86. 32 ʿAlla¯mı¯ 1886, 431; übers. v. Beveridge 1939, 644. ˇ aha¯ngı¯rı¯, ed. Muhammad ˇ aha¯ngı¯r, G ˇ aha¯ngı¯r-na¯ma. Tu¯zuk-i G 33 Nu¯r ad-Dı¯n Muhammad G ˙ ˙ Ha¯sˇim, Tehran 1359 h. sˇ. (1980), z. B. 29–30, 79–80, 95–96, 118; übers. v. Wheeler M. ˙ Thackston, The Jahangirnama: Memoirs of Jahangir, Emperor of India, New York 1999, 46–48, 92, 107–108, 129.

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wird in den zitierten Passagen angedeutet. Wir können daran erkennen, wie sich die frühen Moghulherrscher nicht nur über islamische Konventionen hinwegsetzten, sondern dies auch öffentlich inszenierten und sich bewusst auf andere herrschaftslegitimierende Traditionen bezogen. Bei kaum einer anderen Feier wurden so viele Elemente der Herrschaftsideologie gleichzeitig in Szene gesetzt: der Bezug zur Sonne, zu den vier Elementen, zur Kosmologie und zur Astrologie. Die Einbindung naturphilosophischer Vorstellungen in die Herrschaftsideologie ist als überreligiöses und zugleich rationales Element zu verstehen, da man sich nicht auf eine letztendlich irrationale Offenbarung, sondern auf eine dem damaligen Weltbild entsprechende naturphilosophische Ordnung bezog. Die Ordnung des Reiches wurde an diesen Vorstellungen ausgerichtet und im Rahmen der Feier optisch nachgestellt, indem man die Notablen am Ort der Feier zusammenkommen ließ und in einer bestimmten Anordnung räumlich platzierte. Mit dieser starken ideologischen Konnotation nimmt Nauru¯z innerhalb der Feiern eine Sonderstellung ein. Auch die Dauer der Feier über 19 Tage, wie sie unter Akbar eingeführt wurde, hebt die Nauru¯zfeier unter den anderen Festen hervor. Im jährlichen Festkalender nahm Nauru¯z daher eine ganz zentrale Position ein. Wir können an der Feier personale und transpersonale Elemente erkennen. Insbesondere die Rolle des Herrschers als Repräsentant der Sonne und seine Selbstinszenierung als kosmischer Herrscher stellen ein transpersonales Element dar. Während man in der Forschung lange geglaubt hatte, dass die spezifische Ausprägung der Moghulideologie erst unter Akbar entstanden sei, zeigen gerade diese bereits auf Huma¯yu¯n zurückgehenden transpersonalen Elemente, dass zumindest einige Bestandteile der Ideologie schon vor der Regierungszeit Akbars relevant waren.34 Diese Bestandteile der Feier lassen sich auch unter Akbars Nachfolger belegen. Zugleich lässt sich als personales Element eine individuelle Ausgestaltung der Feier feststellen, wie sie sich beispielsweise in der architektonischen Gestaltung des Raums, der Ausweitung der Feier auf 19 Tage sowie dem – angeblichen – Gespräch Akbars mit seinen Notablen zeigt, in dem er diese um Vorschläge für eine Verbesserung der Situation im Land bittet.

Quellenverzeichnis ¯ g˙a¯ Ahmad ʿAlı¯/ʿAbd ar-Rah¯ım, 3 Bde., Bd. 2–3, Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, Akbarna¯ma, ed. A ˙ ˙ Calcutta 1879/1886. Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, Akbarna¯ma, übers. v. Henry Beveridge, 3 Bde., Bd. 2–3, Calcutta 1907/ 1939 (ND Delhi 1998). 34 Vgl. Orthmann 2012, 209–215.

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¯ ʾı¯n-i Akbarı¯, ed. Henry Blochmann, 3 Bde., Bd. 1–2, Calcutta 1872/ Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, A 1877. ¯ ʾı¯n-i Akbarı¯, übers. v. Henry Blochmann/H. S. Jarrett, The Abu¯ l-Faz˙l ʿAlla¯mı¯, A Áín-i-Akbarí: A Gazeteer and Administrative Manual of Akbar’s Empire and Part History of India, 3 Bde., Bd. 1–2, jew. 2. Aufl., Calcutta 1927/1949. ʿAbd al-Qa¯dir Bada¯ʾu¯nı¯, Muntahab at-tawa¯rı¯h, ed. Mowlawı¯ Ahmad ʿAlı¯, 3 Bde., Bd. 2, ˙ ˘ ˘ Calcutta 1865. Abu¯ l-Faz˙l-i Muhammad b. Hussain-i Baihaqı¯, Ta’rı¯h-i Baihaqı¯, ed. Halı¯l Hat¯ıb Rahbar, ˙ ˙ ˘ ˘ ˘ ˙ Tehran 1371 h. sˇ. [1992]. Abu¯ l-Faz˙l-i Muhammad b. Hussain-i Baihaqı¯, The History of Beyhaqi. The History of ˙ ˙ Sultan Masʿud of Ghazna, 1030–1041, übers. v. Clifford E. Bosworth/Mohsen Ashtiany, 3 Bde., Bd. 2, Boston 2011. Abu¯ al-Raiha¯n Muhammad al-Bı¯ru¯nı¯, Kita¯b al-a¯ta¯r al-ba¯qiya ʿan al-quru¯n al-ha¯liya, ed. ¯ ˙ ˙ ˘ Eduard Sachau, Leipzig 1923. Abu¯ al-Raiha¯n Muhammad al-Bı¯ru¯nı¯, The Chronology of Ancient Nations: an English ˙ ˙ Version of the Arabic Text of the Athâr-ul-Bâkiya of Albîrûnî, übers. v. Eduard Sachau, London 1879. ˇ aha¯ngı¯r, G ˇ aha¯ngı¯r-na¯ma. Tu¯zuk-i G ˇ aha¯ngı¯rı¯, ed. Muhammad Nu¯r ad-Dı¯n Muhammad G ˙ ˙ Ha¯sˇim, Tehran 1359 h. sˇ. [1980]. ˙ ˇ aha¯ngı¯r, The Jahangirnama: Memoirs of Jahangir, Emperor of Nu¯r ad-Dı¯n Muhammad G ˙ India, übers. v. Wheeler M. Thackston, New York 1999. Abu-ʾl-Qa¯sim Ibn-Hauqal, Opus Geographicum: Kita¯b Su¯rat al-ard taʾlı¯f Abı¯ʾl-Qa¯sim ˙ ˙ ˙ Ibn-Hauqal an Nas¯ıbı¯, ed. Johannes H. Kramers, Leiden 1939. ˙ ˙ G˙iya¯t ad-Dı¯n Muhammad Hva¯ndamı¯r, Qa¯nu¯n-i Huma¯yu¯nı¯ = Huma¯yu¯n-na¯ma, ed. Mu¯ ˙ ˘ hammad Hida¯yat Husain, Calcutta 1940. ˙ ˙ G˙iya¯t ad-Dı¯n Muhammad Hva¯ndamı¯r, Qa¯nu¯n-i Huma¯yu¯nı¯, übers. v. Baini Prashad, ¯ ˙ ˘ Calcutta 1940. Engelbert Kaempfer, Am Hofe des persischen Großkönigs 1684–1685, Stuttgart 1984. ¯ lama¯ra¯-i ʿAbba¯sı¯, ed. Ira¯gˇ Afsˇa¯r, 2 Bde., 3. Aufl., Tihra¯n Iskandar Munsˇ¯ı, Ta¯rı¯h-i ʿA ˘ 1382 h. sˇ. [2003]. ¯ lama¯ra¯-i ʿAbba¯sı¯. The History of Shah ʿAbbas the Great, übers. Iskandar Munsˇ¯ı, Ta¯rı¯h-i ʿA ˘ v. Roger M. Savory, 3 Bde., Bd. 2, Boulder 1978. Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen und Persischen Reyse, ed. Dieter Lohmeier, Tübingen 1971 (Originalausg. Schleswig 1656). Pietro della Valle, Reisebeschreibungen in Persien und Indien, nach der ersten dt. Ausgabe von 1674 zusammengestellt und bearbeitet von Friedhelm Kemp. Mit Goethes Essay über Pietro della Valle aus dem West-östlichen Divan, Berlin 1987.

Literaturverzeichnis Stephen P. Blake, Time in Early Modern Islam. Calendar, Ceremony, and Chronology in the Safavid, Mughal, and Ottoman Empires, Cambridge et al. 2013. Stephan Conermann, Historiographie als Sinnstiftung. Indo-persische Geschichtsschreibung während der Moghulzeit (932–1118/1516–1707), Wiesbaden 2002.

Die Feier von Nauru¯z unter den beiden Moghulherrschern Huma¯yu¯n und Akbar

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Heinrich V. und seine Frau Mathilde im Siegel- und Münzbild

Teilprojekt ›Bilder vom König. Macht und Herrschaft der ostfränkisch deutschen Könige im Siegel und Münzbild (936–1250)‹ (Leitung: Prof. Dr. Andrea Stieldorf, Historische Grundwissenschaften und Archivkunde)

Um die methodische Vorgehensweise, den Forschungsstand, die inhaltlichen Prämissen sowie ansatzweise auch die Ergebnisfindung des Teilprojektes »Bilder vom König« deutlich zu machen, werden beispielhaft jeweils ein Siegelabdruck bzw. eine Münze Kaiser Heinrichs V. (*1081/86, Mitkg. ca. 1098, Kg. 1106, Ks. 1111, †1125) und seiner Frau Königin Mathilde (Heirat mit Heinrich 1114, †1167), Tochter König Heinrichs von England, vorgestellt. Das Projekt untersucht die Herrscherbilder auf Siegeln und Münzen aus der Zeit zwischen 936 und 1250 und zielt darauf, in diachroner Sicht Strategien zur Herrschaftsrepräsentation und Herrschaftslegitimation der ottonischen, salischen und staufischen Könige und Kaiser aufzuzeigen; sowohl hinsichtlich ihrer Grundzüge, Spezifika, aber auch Reaktionsfähigkeit auf konkrete historische Konstellationen. Aufgrund der Funktion der Siegel als Beglaubigungsmittel von Urkunden, in denen das Siegelbild den Aussteller stellvertretend repräsentiert, und der Münzbilder mit dem Bild des Münzherrn zur Garantie des Münzwertes handelt es sich bei beiden Medien um Objektgruppen, die einer normativen Rahmung unterliegen. Den Herrscherbildern auf Siegeln und Münzen kommt folglich eine gewisse Verbindlichkeit zu, die meist auf das Umfeld der Kaiser und Könige, möglicherweise sogar auf diese selbst zurückgeführt werden kann. Jenseits der inhaltlichen Fragen zielt das Projekt in methodischer Hinsicht darauf, die intermediale Bearbeitung von Münzen und Siegeln zu etablieren. Die Forschungs- und Editionslage ist für Herrschersiegel und -münzen sehr unterschiedlich. Zu den Siegeln gibt es die maßgebliche Zusammenstellung von

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Otto Posse1 vom Beginn des 20. Jahrhunderts, welche eine gute Grundlage darstellt, wenngleich einzelne Befunde revisionsbedürftig sind. Zu den Siegeln der Ottonen, Salier und Staufer liegen seit den 1990er Jahren Studien vor, die auch das Vordringen kulturgeschichtlicher Fragen spiegeln; eine Gesamtschau jedoch, die eine diachrone Betrachtung bietet, fehlt bislang und soll durch das Teilprojekt geleistet werden.2 Zu den Herrschermünzen gibt es hingegen keine dem Posse vergleichbare Zusammenstellung, als guter Ersatz mit zumindest einer repräsentativen Auswahl dient einstweilen die Münzgeschichte von Bernd Kluge.3 Während die antike Numismatik über eine solide Erfahrung mit der Interpretation von Münzbildern verfügt, setzt sich in der Mediävistik erst in den letzten Jahren die Erkenntnis durch, welch reiche Quelle die Ikonographie der mittelalterlichen Münzen bietet.4 1 Otto Posse, Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige von 751 bis 1806, 5 Bde., Dresden 1909–1913. 2 Hagen Keller, Ottonische Herrschersiegel. Beobachtungen und Fragen zu Gestalt und Aussage und zur Funktion im historischen Kontext, in: Konrad Krimm/Herwig John (edd.), Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum fünfundsechzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1997, 3–51; Hagen Keller, Zu den Siegeln der Karolinger und der Ottonen. Urkunden als Hoheitszeichen in der Kommunikation des Herrschers mit seinen Getreuen, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), 400–441; Hagen Keller, Die Siegel und Bullen Ottos III., in: Alfried Wieczorek/Hans Hinz (edd.), Europas Mitte um 1000, 2 Bde., Bd. 2, Stuttgart 2000, 767–773; Theo Kölzer, Die Salier haben einen Vogel, in: Sebastian Roebert et al. (edd.), Von der Ostsee bis zum Mittelmeer. Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte für Wolfgang Huschner (Italia Regia 4), Leipzig 2019, 173–195; Irmgard Fees, Friedrich Barbarossa in seinen Siegeln, in: Knut Görich/Romedio Schmitz-Esser (edd.), BarbarossaBilder. Entstehungskontexte, Erwartungshorizonte, Verwendungszusammenhänge, Regensburg 2014, 60–75; Irmgard Fees, Die Siegel und Bullen Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, in: Archiv für Diplomatik 61 (2015), 95–132. 3 Bernd Kluge, Deutsche Münzgeschichte von der späten Karolingerzeit bis zum Ende der Salier (ca. 900 bis 1125), (Röm.-Germ. Zentralmuseum, Monographien 29), Sigmaringen 1991. Vgl. auch Bernd Kluge, Numismatik des Mittelalters. Band I. Handbuch und Thesaurus Nummorum Medii Aevi (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophische Klasse Sitzungsberichte 769 = Veröffentlichungen der Numismatischen Kommission 45), Berlin/Wien 2007 mit einer weiterführenden übersichtlichen Darstellung. Zudem Hermann Dannenberg, Die deutschen Münzen der sächsischen und fränkischen Kaiserzeit, 4 Bde., Berlin 1876–1905, der eine umfassende Darstellung bietet, die inzwischen allerdings überholt ist. 4 Sina Westphal, Fürstliche Politik und Selbstdarstellung im Spiegel der Münzen Friedrichs des Weisen, in: Oliver Auge/Gabriel Zeilinger (edd.), Fürsten an der Zeitenwende zwischen Gruppenbild und Individualität. Formen fürstlicher Selbstdarstellung und ihre Rezeption (1450–1550), Ostfildern 2009, 207–220; Torsten Fried, Geprägte Macht. Münzen und Medaillen der mecklenburgischen Herzöge als Zeichen fürstlicher Herrschaft (Archiv für Kulturgeschichte. Beiheft 76), Köln et al. 2015; Torsten Fried, Schrift und Bild. Münzen als Herrschaftszeichen, in: Olaf B. Rader/Mathias Lawo (edd.), Turbata per aequora mundi. Dankesgabe an Eckhard Müller-Mertens (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 29), Hannover 2001, 233–252; Andrea Stieldorf, Hochadeliges Selbstverständnis in bildlichen Darstellungen bis 1200. Das Beispiel von Siegeln und Münzen, in: Jörg H. Peltzer (ed.), Rank and Order. The Formation of Aristocratic Elites in Western and Central Europe.

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1.

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Das zweite Kaisersiegel Heinrichs V.

Abb. 1: Zweites Kaisersiegel Heinrichs V.

Als erstes Beispiel für die Arbeit im Teilprojekt dient das zweite Kaisersiegel Heinrichs V. Dieses Siegel ist in den letzten Jahren der Regierungszeit des Herrschers vom 21. Januar 1120 bis zum 7. Januar 1125 an Urkunden belegt. Darüber hinaus befindet es sich an dem Diplom D H. V. 114, das wahrscheinlich im Jahr 1113 ausgestellt, möglicherweise aber erst später besiegelt wurde.5 Dieser Siegelstempel löste das erste Kaisersiegel Heinrichs V. ab und blieb bis zum Tod des Herrschers in Gebrauch. Das Typar muss allerdings bereits früher hergestellt worden sein, da es bereits unter Heinrich IV. (dem Vater Heinrichs V.) als dessen zweites Kaisersiegel (belegt vom 21. September 1091 bis zum 26. März 1101) verwendet worden war.6 Unter Heinrich V. ist das Siegel an insgesamt 17 Urkunden überliefert, von denen die meisten an geistliche Institutionen (Klöster, Stifte, Bischofskirchen), aber auch einige an weltliche Empfänger (die Einwohner bestimmter Städte, ein Reichsministeriale mit seiner Gemahlin) gingen.7 500–1500, Ostfildern 2015b, 201–230; Andrea Stieldorf, Die Selbstdarstellung rheinischer Hochadeliger auf Siegeln und Münzen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 79 (2015a), 68–103; Andrea Stieldorf, Helden oder Heilige. Überlegungen zur Motivwahl reichsfürstlicher Münzen und Siegel, in: Archiv für Diplomatik 62 (2016), 107–136. 5 Zur Auflösung der komplizierten Datierung sowie zur späteren Besiegelung vgl. künftig die Vorbemerkung der Urkunde in der MGH-Edition, über welche Prof. Dr. Theo Kölzer freundlicherweise Auskunft erteilte. 6 Vgl. Posse 1909–1913, Bd. 1, 16. 7 DD H. V. 114, 224, 225, 229, 232–1, 232–2, 233, 235, 238, †241, 252, 255, 261, 266, †270, 273 und 274.

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Über die Urkundenempfänger lässt sich grob eingrenzen, an welche Betrachter sich die Herrschersiegel vor allem richteten; weitere Angaben lassen sich für das Früh- und Hochmittelalter kaum machen. Aufgrund der zentralen Funktion der Herrschersiegel, Repräsentations- und Legitimationsstrategien in Siegelbild und -umschrift so zu bündeln, dass Siegel als Rechtsmittel zur Beglaubigung von Herrscherurkunden akzeptiert wurden, steht zu vermuten, dass die Konzeption aus dem engeren Umfeld des Herrschers stammte, ohne dass man dessen direkte Beteiligung erweisen kann. Lediglich bei Friedrich Barbarossa (Kg. 1152, Ks. 1155, †1190) ist bekannt, dass er selbst den Auftrag, sein Typar anfertigen zu lassen, einem hochrangigen Vertrauten, Abt Wibald von Stablo, übertrug.8 Da Siegel an Herrscherurkunden befestigt wurden, wurden sie mindestens von den Empfängern dieser Urkunden gesehen, wobei es sich nach den erhaltenen Urkunden vor allem um geistliche und weltliche Große, geistliche Kommunitäten, später auch weltliche Korporationen handelte; aber auch Laien sind als Urkundenempfänger nicht auszuschließen. Durch das gelegentlich belegte Vorzeigen, Vorlesen und öffentliche Ausstellen von Urkunden könnte sich die Anzahl der Betrachter vervielfacht haben, ohne dass sich dies präzisieren ließe. Bei dem vorliegenden Siegel handelt sich um ein Thronsiegel; damit entspricht es dem für das Herrschersiegel seit etwas mehr als einem Jahrhundert üblichen Bildtyp. Einflüsse auf die Herrschersiegel sind teilweise aus Byzanz und wohl auch aus anderen europäischen Reichen belegt. Intermediale Bezüge (Wandmalereien, Buchmalerei, Münzen etc.) sind anzunehmen, aber bislang kaum untersucht; in unserem Fall ist die Nähe zu den Münzen aber erkennbar. Es handelt sich um ein rundes Wachssiegel mit einem Durchmesser von 83 mm. Das Siegelbild zeigt den Herrscher frontal auf einer Thronbank ohne Rückenlehne sitzend; er trägt einen Vollbart. Er hält beide Arme seitlich des Oberkörpers so angewinkelt, dass sie jeweils eine »V-Form« bilden. In der rechten Hand hält der Kaiser ein Zepter, welches von einem dreiblättrigen floralen Element, wohl einer Lilie, bekrönt ist. Es reicht von der Kopfhöhe des Herrschers bis zur Sitzfläche der Thronbank. In der linken Hand hält der Kaiser einen Globus, welcher von einem Kreuz bekrönt ist, das auf einer kleinen Kugel steht. Auf dem Kopf trägt der Herrscher eine Bügelkrone mit drei Aufsätzen. Der mittlere ist blütenförmig, größer als die beiden seitlichen und steht leicht erhöht. Der Kaiser trägt einen auf der rechten Schulter zusammengehaltenen Feldherrenmantel (paludamentum/chlamys), der über den linken Arm nach hinten ge8 Vgl. Fees 2014, 65f.; Fees 2015, 107–112; Andrea Stieldorf, Das Bild des Königs. Siegel und Münzen der Staufer und Anjou-Plantagenêt im Vergleich, in: Alheydis Plassmann/Dominik Büschken (edd.), Staufen and Plantagenets. Two Empires in Comparison (Studien zu Macht und Herrschaft 1), Göttingen 2018, 197–227, hier 200f.

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schlagen ist und vor dem Oberkörper spitz zulaufende Falten wirft. Das darunter getragene Gewand reicht bis fast an die Knöchel. Die Thronbank ist mit zwei halbhohen bogenförmigen Öffnungen verziert. Die Sitzfläche läuft zu beiden Seiten in tierkopfförmigen Verzierungen aus. Auf dem Thron liegt ein Kissen, das auf beiden Seiten des Herrschers kleine runde Wülste bildet. Die Füße des Kaisers ruhen auf einem vor der Thronbank stehenden Schemel oder einem suppodamentum. Die Umschrift lautet: +HEINRICVS D(E)I GRA(TIA) IIII ROMANOR(VM) IMPERATOR AVG(VSTVS). Sie beginnt oben mittig mit dem Kreuz und verläuft von dort einmal im Uhrzeigersinn um das ganze Siegelbild herum.9 Das zweite Kaisersiegel Heinrichs V. entspricht der Tradition und passt sich gut in die Reihe der vorherigen Herrschersiegel ein. Der Typ des Thronsiegels war erstmals unter Otto III. (Kg. 983, Ks. 996, †1002) 997/998 aufgekommen und hatte sich unter dessen Nachfolger Heinrich II. (Kg. 1002, Ks. 1014, †1024) durchgesetzt.10 Abgesehen von dem kurzzeitigen Wiederaufgreifen des Brustbildsiegels unter Heinrich III. (Kg. 1039, Ks. 1046, †1056) in den Jahren 1055/1056 war der Siegeltyp, welcher den Herrscher frontal auf einer Thronbank zeigt, seit etwas mehr als einem Jahrhundert in Gebrauch, als Heinrich V. das hier diskutierte Siegel verwendete.11 Der thronende Herrscher stellt eine erhaben wirkende Figur dar. Das Bild stellt nicht einen bestimmten funktionalen Aspekt der Königsherrschaft in den Fokus (z. B. den König als Krieger oder Richter), sondern betont eher das »Amt« und die Würde des Herrschers.12 Die Insignien werden erhoben gehalten; auch sie stehen als Zeichen der Herrschaft im Fokus. Zugleich verweisen sie auf die Einsetzung des Königs/Kaisers in einem liturgischen Akt und damit auf sein Gottesgnadentum, welches auch durch die Dei-Gratia-Formel in der Umschrift angesprochen wird. Die frontale Darstellung der Figur bewirkt, dass der Betrachter sich »angesprochen« fühlt und auch den Herrscher direkt ansehen kann, was sich als ein Privileg verstehen lässt.13 Bei dem Siegelstempel handelte es sich um ein Typar, das, wie erwähnt, schon Heinrich IV. verwendet hatte. Um es für Heinrich V. anzupassen, wurde lediglich in der Umschrift die Ordnungszahl erhöht, weshalb sich das vierte »I« sehr nah 9 Für Beschreibungen vgl. auch Posse 1909–1913, Bd. 5, 23; Harry Bresslau, Die Siegel der deutschen Könige und Kaiser aus der salischen Periode 1024–1125, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 6 (1881), 541–578, hier 576f. 10 Zur Entstehung und Durchsetzung des Thronsiegels vgl. Keller 1997, 20f., 31–37; Keller 2000, 770f., 773; Werner Goez, Zur Entstehung des Thronsiegels, in: Ulrich Schneider (ed.), Festschrift für Gerhard Bott zum 60. Geburtstag, Darmstadt 1987, 211–221, hier 212, 217f. 11 Für einen Überblick über die verwendeten Siegel vgl. Posse 1909–1913, Bd. 1, Tafel 10–19. 12 Vgl. Stieldorf 2018, 212f. 13 Vgl. Keller 1997, 12; Stieldorf 2018, 200.

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an dem folgenden auf dem Mittelband stehenden Punkt befindet.14 Dies macht deutlich, dass das Bild und die Umschrift offenbar als passend empfunden wurden. Auch das zuvor von Heinrich V. verwendete erste Kaisersiegel besitzt bereits eine große Ähnlichkeit zu diesem Typ.15 Eine porträthafte Ähnlichkeit des Siegelbildes zum Herrscher ist für den Betrachtungszeitraum ohnehin nicht zu erwarten, sodass hierin kein Grund für eine Änderung des Bildes hätte liegen können. Die unveränderte Übernahme weist hingegen darauf hin, dass offenbar hinsichtlich der Auffassung und des Verständnisses von kaiserlicher Herrschaft Übereinstimmung bestand. Außerdem zeigt sie, dass Heinrich V., obwohl er seinen Vater im Jahr 1105 abgesetzt hatte, eine gewisse Kontinuität zu diesem demonstrieren wollte. Dieser Eindruck lässt sich auch aus dem Handeln Heinrichs V. insgesamt gewinnen, was für die Beurteilung transpersonaler Elemente in der Königsherrschaft ein interessanter Befund ist.16 Die Änderung der Ordnungszahl in der Umschrift hingegen verrät, dass es trotzdem relevant war, Heinrich V. eindeutig als Siegelführer zu identifizieren. Dass hier die Zahl »4« verwendet wird, zeigt, dass nur die Kaiser mit Namen Heinrich eingerechnet wurden, nicht aber König Heinrich I. (†936). Durch die Einbeziehung der Ordnungszahl wird zudem der Verweis auf die Transpersonalität der Herrschaft noch einmal deutlicher, weil in der Umschrift indirekt auf vorangegangene Herrscher Bezug genommen wird, in deren Nachfolge sich Heinrich V. explizit stellt. Die Nutzungsgeschichte des Typars lässt sich wie folgt nachzeichnen: Es handelt sich weder um den letzten von Heinrich IV. verwendeten Siegeltyp noch um das erste kaiserliche Typar Heinrichs V. Der Stempel muss also zunächst unter Heinrich IV. einige Zeit aufbewahrt worden sein, obwohl er nicht mehr in Gebrauch war, und gelangte dann in die Hände Heinrichs V., der ihn in seiner Königszeit behielt und auch nicht direkt nach der Kaiserkrönung, sondern erst einige Jahre später benutzte.17 Die genauen Gründe hierfür lassen sich nicht 14 Auf die von Bresslau und Posse noch nicht beobachtete Umarbeitung weist Percy Ernst Schramm hin; vgl. Percy E. Schramm, Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit. 751–1190, Neuauflage unter Mitarbeit von Florentine Mütherich, München 1983, 118. 15 Für eine Abb. des ersten Kaisersiegels Heinrichs V. vgl. Posse 1909–1913, Bd. 1, Tafel 19, Nr. 2; Schramm 1983, 435, Nr. 181. 16 Zur Herrschaft Heinrichs V. vgl. zuletzt die Beiträge in: Gerhard Lubich (ed.), Heinrich V. in seiner Zeit. Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelalters (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 34), Wien/Köln/Weimar 2013. 17 Heinrich IV. verwendete danach noch ein weiteres, sehr ähnlich gestaltetes drittes Kaisersiegel, welches vom 12. Mai 1093 bis zum 3. Dezember 1105 in Gebrauch war. Heinrich V. hatte als König mit zwei verschiedenen Typaren gesiegelt. Das erste ist vom 2. Mai 1107 bis zum 1. August 1109 belegt. Das zweite Königssiegel ist nur an drei Urkunden aus den Jahren 1109 und 1110 belegt, die letzte davon datiert auf den 12. Juni 1110. Aus den folgenden Monaten bis zur Kaiserkrönung ist keine besiegelte Originalurkunde erhalten. Das bereits erwähnte erste

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ermitteln; an diesem Fall zeigt sich aber, dass es vorkam, dass ein Typar, welches nicht mehr in Gebrauch war, noch über längere Zeit aufbewahrt werden konnte.

2.

Der Goslarer Reiterdenar Heinrichs V.

Abb. 2 und 3: Münze Heinrichs V., Münzstätte Goslar, ca. 1106–1111.

Zunächst soll nun eine Münze, ebenfalls von Heinrich V., vorgestellt werden, bevor auf das Siegel der Königin Mathilde und abschließend auf die gemeinsame Arbeit mit Münzen und Siegeln im Teilprojekt eingegangen wird. Der vorliegende Denar, also eine von beiden Seiten geprägte Silbermünze, wurde ca. zwischen 1106 und 1111 in der herrscherlichen Münzstätte Goslar geprägt. Er ist in einigen wenigen Funden aus Deutschland sowie dem Fund von Burge auf Gotland von 1967 überliefert18 und stammt damit aus einer Zeit, in der unsere Überlieferung nicht mehr überwiegend von skandinavischen und osteuropäischen, sondern auch von Funden aus Deutschland geprägt wird und sich zunehmend regionale Umlaufgebiete für die einzelnen Prägungen abzeichnen. Münzherr und damit Garant für den Wert der Münze ist Heinrich V., zu diesem Kaisersiegel Heinrichs V. ist vom 21. Mai 1111 bis zum 3. Januar 1117 belegt. Zu diesen Siegeln vgl. Posse 1909–1913, Bd. 1, Tafel 17, Nr. 5 sowie Tafel 19, Nr. 1 und 2. Zum zweiten Königssiegel Heinrichs V., welches Posse noch nicht bekannt war, vgl. Alfred Gawlik, Ein neues Siegel Heinrichs V. aus seiner Königszeit, in: Reinhard Härtel (ed.), Geschichte und ihre Quellen. Festschrift für Friedrich Hausmann zum 70. Geburtstag, Graz 1987, 529–536. 18 Gerd und Vera Hatz, Die deutschen Münzen des Fundes von Burge I, Ksp. Lummelunda, Gotland (tpq 1143). Ein Beitrag zur ostfälischen Münzgeschichte (Commentationes de nummis saeculorum IX–XI in Suecia repertis / Nova Series 16) Stockholm 2001, 55f. und Julius Menadier, Der Münzschatz der St. Michaeliskirche zu Fulda, in: Zeitschrift für Numismatik 22 (1900), 103–198, Nr. 162.

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Zeitpunkt noch König (womit dem Königtum die Münzhoheit zuzusprechen ist).19 Wie bei dem Siegel Heinrichs IV. und Heinrichs V. ist nicht bekannt, wer die Stempel geschnitten hat, und auch nicht, welcher Münzmeister die technische Verantwortung für die Prägung trug.20 Die Rezipienten auszumachen, bleibt ebenfalls schwer; es könnten, der Fundsituation entsprechend, sowohl inländische als auch skandinavische Adelige, Händler, Kaufleute etc. mit dem Stück in Berührung gekommen sein. Prinzipiell ist damit zu rechnen, dass die Münzen von Menschen unterschiedlichen Status und Bildungsgrades gesehen wurden, es sich hierbei also um ein weitreichendes Medium handelte.21 Für die Zeit Heinrichs V. steht nur wenig numismatisches Material zur Verfügung,22 da die Zahl der Funde aus dieser Zeit gering ist. Dennoch dürften der Rückgang der Königsmacht und die Übernahme der Münzhoheit durch weltliche und geistliche Große des Reiches bereits unter Heinrich IV. dazu geführt haben, dass es im Verhältnis deutlich weniger königliche Münzstätten im Reich gab, was spätestens mit dem Herrschaftsantritt Heinrichs V. deutlich zu Tage tritt.23 Das hier vorgestellte Goslarer Stück stammt aus einer der übrig gebliebenen und gesicherten königlichen Münzstätten neben Dortmund, Duisburg, Mainz und Worms.24 Die runde Silbermünze hat einen Durchmesser von 20 mm. Auf dem Avers zeigt sie eine nach links reitende Figur mit einem Bart; von der vestimentären Ausstattung ist vor allem der Feldherrenmantel (paludamentum) mit einer Fibel auf der rechten Schulter zu erkennen. Der Herrscher trägt eine Bügelkrone und hält in der rechten Hand ein Lilienzepter. Die teils entstellte Umschrift benennt den Münzherrn: +HEINRICVSREX. Das Münzbild – den Reiter – gibt es sowohl

19 Kluge 2007, 52–54. 20 Sebastian Steinbach, Luteger von Altenburg. Leben und Wirken eines Stempelschneiders der Stauferzeit, in: Mitteilungen der Österreichischen Numismatischen Gesellschaft 58,2 (2018b), 50–80 problematisiert und untersucht die Frage nach den Produktionsverhältnissen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts genauer. Wenngleich für die Zeit bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts weitgehend Quellen fehlen, ist nicht von einem gänzlichen Unterschied in der Produktion auszugehen. 21 Vgl. zum »Massenmedium« Münze Peter Berghaus, Die Darstellung der deutschen Kaiser und Könige im Münzbild 800–1190, in: Percy E. Schramm/Florentine Mütherich (edd.), Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit 751–1190, München 1983, sowie Peter Schmidt, Geld als visuelles Massenmedium. Bildnis und »Image« des Herrschers auf Münzen des Mittelalters, in: Deutsche Bundesbank (ed.), Vorträge zur Geldgeschichte im Geldmuseum 2009, Frankfurt a. Main 2010, 23–55. 22 Kluge 1991, 82. 23 Vgl. Kluge 1991, 81–84, sowie 64, 68, 101–104. für die Prägetätigkeit und die Münzrechtsverleihungen an geistliche wie weltliche Empfänger. Auf die Diskrepanz zwischen verliehenem Münzrecht und numismatischem Fundmaterial sei verwiesen. 24 Kluge 1991, 61f.

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auf Denaren als auch als Halbbrakteaten.25 Beide Prägetechniken werden Anfang des 12. Jahrhunderts wohl parallel verwendet. Der Revers zeigt zwei Brustbilder, jeweils mit Nimbus, Vollbart mit Oberlippenbart, lockigem Haar und darüber ein Ringel. Die teilweise entstellte Umschrift lautet: +SSSIMONIVDA. Das Bild des reitenden Königs auf dem Avers ist ein neuer Bildtyp, der im Reich bis zu diesem Stück (ca. 1106–1111) nicht bekannt ist. Aus der Zeit um 1112–1119 ist zwar eine ›Kreuzfahrermünze‹ aus Antiochia unter dem Regenten Roger von Salerno überliefert, die den Heiligen Georg im Drachenkampf reitend zeigt,26 und auch auf sizilianischen Stücken ist Graf Roger I. (1072–1101) reitend dargestellt.27 Direkte Bezüge zur Prägung Heinrichs V. sind jedoch nicht anzunehmen. Die Darstellung des Königs mit Krone, Mantel und Lilienzepter folgt weitestgehend der zu dieser Zeit üblichen Weise. Während Krone und Mantel seit der Ottonenzeit als Erkennungszeichen des Königs auf Münzen fungieren, werden Insignien erst seit Heinrich IV. regelmäßig auf Münzen abgebildet.28 Dabei werden bei en-face Darstellungen tendenziell zwei Insignien gezeigt, bei seitlicher Darstellung meist nur ein Insigne, wobei das als grobe Richtlinie zu verstehen ist. Dass bei seitlicher Darstellung nur ein Gegenstand gezeigt wird, kann mit der Bildkomposition zusammenhängen, da die vom Betrachter abgewandte Seite schlecht ins Bild geführt werden kann. Reitersiegel des Hochadels und der weltlichen Fürsten sind seit der Mitte des 11. Jahrhunderts in Westeuropa belegt, seit um 1100 auch im Reich.29 Womöglich lassen sich hier Bezüge zu der Bildkomponente ›Reiter auf einem Pferd‹ herstellen. Das gilt auch in der Folgezeit für den medialen Diskurs zwischen dem König und den Herzögen des Reiches, die sich ebenfalls reitend darstellen.30 Ein 25 Zu Denaren und Brakteaten vgl. Kluge 2007, 45–47. Reiterbrakteaten finden sich erst in staufischer Zeit wieder; vgl. Torsten Fried, Die Münzprägung in Thüringen. Vom Beginn der Stauferzeit bis zum Tode Rudolfs von Habsburg 1138–1291 (Schriftenreihe der Numismatischen Gesellschaft Speyer 41 = Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde Beiheft 31), Jena 2000. 26 Berlin, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18206292 https://ikmk.smb.museum /object?lang=de&id=18206292 (19. 02. 2020). 27 Berlin, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18205981 https://ikmk.smb.museum /object?id=18205981 (19. 02. 2020). 28 Vgl. überblickshaft Kluge 1991, Tafeln 1–88. Für die Ottonenzeit besonders Tafeln 4–15, für die Salierzeit Tafeln 16–37. 29 Jean-François Nieus, L’introduction du sceau équestre dans l’empire, in: Marc Libert/ Jean-François Nieus (edd.), Le sceau dans les Pays-Bas méridionaux, Xe–XVIe siècles. Entre contrainte sociale et affirmation de soi, Brüssel 2017, 125–156. 30 Beispielhaft sind zwei Stücke, einmal Ludwigs II., Landgrafen von Thüringen: Berlin, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18205020, https://ikmk.smb.museum/objec t?id=18205020 (19. 02. 2020), sowie Albrechts des Bären, Markgraf der Nordmark: Berlin, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18214700, https://ikmk.smb.museum/objec t?id=18214700 (19. 02. 2020).

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Ansatz ist, dass der Pfennig ab dem 12. Jahrhundert einen relativ geringen Umlaufradius hat, was an den Funden in relativer Nähe zum Prägeort sichtbar wird, vergleicht man ihn z. B. mit den früheren Stücken aus den Funden in Skandinavien. Für diese Münzen dürfte daher neben dem reinen Silbergehalt auch der Wiedererkennungswert von Bedeutung sein. Bildtypen, die regional stark vertreten sind, lassen entsprechend einige Aussagen über (politische) Hintergründe zu, auch wenn die Prägung dieser Art von Pfennigen erst im 12. Jahrhundert einsetzt.31 Zudem scheint ein Wechselspiel zwischen Siegel- und Münzbild hier durchaus denkbar. Die Umschrift HEINRICVS REX nennt den Namen und Titel des Herrschers und folgt damit den Münzlegenden der Vorgänger. Der REX-Titel deutet aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine Prägung in der Zeit vor der Kaiserkrönung Heinrichs V. hin. Dass die salischen Heinriche, ebenso wie bereits die ottonischen Ottos, sich nicht einfach an der Münzumschrift unterscheiden lassen, zeugt einerseits von einer Einheitlichkeit und einer Regelmäßigkeit in der Münzproduktion. Dies kann, ebenso wie die auffällige Konstanz in der Reihe der Herrschersiegel, als Ausdruck einer transpersonalen Komponente von (Königs-) Herrschaft gedeutet werden. Andererseits ist davon auszugehen, dass alleine das Münzbild selbst Hinweise auf die Entstehungszeit gibt und damit von den Zeitgenossen eingeordnet werden konnte. Die Brustbilder der Heiligen Simon und Judas, die auf dem Revers zu sehen sind, sind ein Erkennungszeichen für Münzen Goslarer Schlags. Die Stiftskirche mit dem Patrozinium St. Simon und Judas, die auf dem Gelände der salischen Kaiserpfalz Goslar stand, dürfte der Ursprung des Motivs sein.32 Christliche Symbolik tritt seit den Karolingern regelmäßig auf Münzen auf, sodass es kaum wundert, dass die Heiligen hier erscheinen. Auch wenn häufig nur Kreuze oder Kirchengebäude auf die Rückseite geprägt werden, gibt es doch ab dem 11. Jahrhundert auch Darstellungen Mariens, Christi selbst oder einzelner Heiliger, die einen entsprechenden Bezug zum Prägeort aufweisen.33 Der Ringel über den beiden dargestellten Personen kann ein Hinweis auf die Münzstätte, den Münzmeister, eine Emission o. ä. sein. Die Umschrift SSSIMONIVDA (Sanctus Simon Sanctus Iudas) nennt die beiden Heiligen beim Namen. Darin kann eine Anrufung der Heiligen vermutet 31 Zur Veränderung des Münzwesens um 1100 vgl. Kluge 2007, 95–103. und Sebastian Steinbach, Heinrich III. Ein Münzreformer auf dem Kaiserthron? Goslar und die Geldwirtschaft im ostfränkisch-deutschen Reich des 11. Jahrhunderts, in: Jan Habermann (ed.), Kaiser Heinrich III. Regierung, Reich und Rezeption (Beiträge zur Geschichte der Stadt Goslar 59), Gütersloh 2018a, 131–150, hier 133–135. 32 Peter-Johannes Schuler, ›Goslar, II. Stift St. Simon und Juda‹, in: Lexikon des Mittelalters 4 (1989), Sp. 1568–1570. 33 Vgl. Kluge 2007, Tafel 10–16.

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werden. Ähnlich wie bei der Nennung des Königsnamens oder der Nennung anderer Heiligennamen entspricht auch diese Nennung der üblichen Gestaltung. Für das Teilprojekt selbst sind diese Darstellungen zunächst weniger von Belang.

3.

Das Siegel der Königin Mathilde

Abb. 4: Siegel der Königin Mathilde.

Doch nicht nur männliche Herrscher sind auf Siegeln und Münzen zu finden, dies belegt etwa das erste erhaltene Siegel einer römisch-deutschen Königin, das der Königin Mathilde, der Gemahlin Heinrichs V., die nach dessen Tod in das englisch-normannische Reich ihres Vaters, König Heinrichs I. von England, zurückkehrte und auf dessen Geheiß den Grafen Gottfried von Anjou heiratete.34 Ihr Siegel ist an Urkunden zwischen 1117 und 1147, sowohl für deutsche als auch englische Empfänger, erhalten. Dies zeigt, dass sie das Typar in ihrer zweiten Ehe weiterverwendete. Unter den Empfängern finden sich vor allem in Deutschland Klöster, in England aber auch andere Empfänger. Wie bei den Herrschersiegeln ist anzunehmen, dass die Konzeption des Königinnensiegels im Umfeld des Herrschers zu verorten ist. Von einer Beteiligung der Königin selbst ist nicht zwangsläufig auszugehen, was sich auch daran zeigt, dass Friedrich I. Wibald von

34 Vgl. z. B. Marjorie Chibnall, The Empress Matilda. Queen Consort, Queen Mother and Lady of the English, Oxford 1991.

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Stablo auch darum bat, das Siegel für Kaiserin Beatrix anfertigen zu lassen und nichts über eine Einflussnahme der Beatrix verlautet.35 Auch hier handelt es sich um ein Thronsiegel, was zeigt, dass Einflüsse von den Herrschersiegeln auf die Königinnensiegel ausgehen. Doch auch die Siegel anderer hochadeliger (weltlicher) Frauen spielen eine Rolle, wobei der Einfluss geistlicher Siegel oder auch religiöser Motive allgemein nicht zu hoch eingeschätzt werden sollte. Wie bei den Siegeln der männlichen Herrscher sind auch bei der thronenden Darstellung der Königin intermediale Bezüge (Wandmalereien, Buchmalerei, Skulptur) anzunehmen, aber bislang kaum untersucht. Es handelt sich um ein rundes Wachssiegel, das mit einem Durchmesser von 64 mm deutlich kleiner ist als das Heinrichs V. Das unverzierte Siegelfeld zeigt die Königin auf einer Thronbank ohne Rückenlehne sitzend (= thronend); die Thronbank weist Pilaster an den Seiten sowie Leisten oben und unten auf. Die Füße der Königin ruhen auf einer Stufe oder einem Schemel vor dem Thron. Sie trägt die Haare nach hinten zusammengebunden, möglicherweise unter einem Tuch, und ist bekrönt. Dabei handelt es sich um eine Reifenkrone mit drei blattförmigen Aufsätzen. Der rechte Arm ist vom Körper abgewinkelt und erhoben, sie hält in der rechten Hand ein Blumenzepter, der linke Arm ruht vor dem Oberkörper, die linke Hand erscheint geöffnet, ein darin liegender Gegenstand ist nicht zu erkennen. Sie trägt ein bodenlanges Gewand, darüber eine Art Tunika mit weiten Ärmeln. Die durch eine Linie vom Siegelrand abgegrenzte Umschrift benennt die Siegelführerin: + MATHILDIS DEI GRATIA ROMANORVM REGINA (Mathilde, durch die Gnade Gottes Königin der Römer). Das Siegel der Mathilde ist das erste erhaltene Siegel einer römisch-deutschen Königin, möglicherweise tatsächlich das älteste. Mit der Wahl der Throndarstellung erfolgt eine Orientierung am Siegel ihres ersten Gemahls, Kaiser Heinrichs V. Dies ist ungewöhnlich, weil ihre Mutter, Königin Mathilde von England (†1118), erste Frau König Heinrichs I. von England (†1135), ein spitzovales Siegel führte, welches sie stehend zeigte.36 Über den Bildnistyp Thronsiegel wird eine 35 Vgl. Andrea Stieldorf, Die Siegel der Herrscherinnen. Siegelführung und Siegelbild der »deutschen« Kaiserinnen und Königinnen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 64 (2000), 1–44, hier 10f. 36 Vgl. Thomas A. Heslop, Seals, in: George Zanecki (ed.), English Romanesque Art 1066– 1200. Hayward Gallery. London 5 April–8 July 1984, London 1984, 305, Nr. 336; Lois L. Huneycutt, Matilda of Scotland. A Study in Medieval Queenship, Woodbridge et al. 2003, 89, 138, 158–159; Susan M. Johns, Noblewomen, Aristocracy and Power in the Twelfth-Century Anglo-Norman Realm (Gender in History), Manchester et al. 2003, 125, 203, Nr. 1; Elizabeth Danbury, Queens and Powerful Women. Image and Authority, in: Noel Adams/John F. Cherry/James Robinson (edd.), Good Impressions. Image and Authority in Medieval Seals (British Museum Research Publication 168), London 2008, 17–24, hier 17; Kathleen Nolan, Queens in Stone and Silver. The Creation of a Visual Imagery of Queenship in Capetian France (The New Middle Ages), New York, NY 2009, 10–12.

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stärkere visuelle Annäherung an den kaiserlichen Ehemann erzielt, eine Gleichsetzung aber u. a. dadurch vermieden, dass die Königin nur eine Insignie bei sich hat, während Heinrich V. zwei Insignien, nämlich Zepter und Reichsapfel, in der Hand hält.37 Eine Orientierung des Thronbildes der Königin Mathilde an Marienbildnissen ist kaum nachweisbar, da die erhaltenen Marienbildnisse bis in die Zeit um 1100 die sitzende Maria unbekrönt und mit dem Christuskind auf dem Schoß zeigen.38 Erst im 12. Jahrhundert und damit nach den ersten Königinnensiegeln lassen sich mehr Darstellungen einer sitzenden/ thronenden Maria mit Krone nachweisen.39 Die thronende Darstellung der Mathilde ist also innerweltlich zu erklären und nicht eschatologisch zu deuten. Sie könnte einerseits auf den beanspruchten Vorrang des römisch-deutschen Königs und Kaisers vor den anderen europäischen Königen deuten, da sich zwar diese auf ihren Siegeln thronend abbilden lassen, aber nicht ihre Frauen. Anderseits könnte die Angleichung der Darstellung der Königin an die des Königs im römisch-deutschen Reich auch mit der Salbung der Königin zusammenhängen.40 Im Falle der Mathilde könnten weitere Aspekte hinzukommen: Einerseits waren die Frauen Heinrichs IV. (†1106) im Unterschied zu ihren ottonischen und frühen salischen Vorgängerinnen kaum politisch in Erscheinung getreten, andererseits schien sich aber um 1100 die Erwartungshaltung an eine Königin zu verändern und neue Ehekonzepte, die auf eine auf einem gemeinsamen Konsens gegründete Paarbeziehung abhoben, bildeten sich aus, was auch die Herrscherehe betraf.41 Dies mag mit eine Rolle gespielt haben, Mathilde ihrem Mann im Siegelbild an die Seite zu stellen. Mathilde agierte zeitweilig stellvertretend für ihren Mann, unter anderem auch als Gerichtsvorsitzende, sodass ihre faktische, wenngleich jeweils zeitlich begrenzte Ausübung herrscherlicher Macht

37 Vgl. Stieldorf 2000, 15–23. 38 Vgl. Andrea Stieldorf, Spieglein, Spieglein… Bilder von Königinnen auf Siegeln und Münzen, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft. Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen (Macht und Herrschaft 11), Göttingen 2019, 61–94, hier 69 mit Anm. 29. 39 Vgl. Frank M. Kammel, Marienbild und Altarfigur, in: Jutta Zander-Seidel et al. (edd.), Mittelalter: Kunst und Kultur von der Spätantike bis zum 15. Jahrhundert (Die Schausammlungen des Germanischen Nationalmuseums 2), Nürnberg 2007, 138–149. 40 Vgl. Stieldorf 2000, 14f.; Stieldorf 2019, 71. 41 Vgl. Claudia Zey, Frauen und Töchter der salischen Herrscher. Zum Wandel salischer Heiratspolitik in der Krise, in: Tilman Struve (ed.), Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Köln/Weimar/Wien 2008, 47–98, sowie Gudrun Pamme-Vogelsang, Die Ehen mittelalterlicher Herrscher im Bild. Untersuchungen zu zeitgenössischen Herrscherpaardarstellungen des 9. bis 12. Jh. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 20), München 1998, 223–239, 320–325, Nr. 17–26.

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mit ausschlaggebend für die Anfertigung und konkrete Gestaltung des Siegels gewesen sein kann.42 Möglicherweise wurde das Siegel bereits vor Heinrichs Kaiserkrönung 1111 hergestellt, da die Umschrift Mathilde nicht wie (später) üblich als Kaiserin anführt. Da Mathilde ihren Verlobten (die Heirat fand 1114 statt) zur Kaiserkrönung 1111 zwar begleitete, aber selbst nicht gekrönt wurde und zumindest in Deutschland nicht den Titel einer Kaiserin führte, ist eine Anfertigung des Siegels nach 1111 bzw. nach 1114 eher wahrscheinlich. Nach dem Tode Heinrichs V. und ihrer Rückkehr nach England bzw. in die Normandie führte Mathilde dieses Siegel weiter; weder ihre Eheschließung mit Graf Gottfried von Anjou noch ihr Versuch, die Nachfolge ihres Vaters anzutreten und die Königsherrschaft in England aus eigenem Recht auszuüben, waren für sie ein Anlass, sich ein neues Siegel schneiden zu lassen. Das mit diesem Siegel bzw. vor allem mit dem Titel einer römischen Königin verbundene Prestige sollten offenbar dazu dienen, ihre Legitimation in England zu stärken und ihren auch rangmäßig besseren Anspruch auf die Königswürde gegenüber ihrem Cousin Stephen von Blois zum Ausdruck zu bringen. Dies zeigt sich auch in dem Führen des Titels einer imperatrix, der für sie im römisch-deutschen Reich nicht nachzuweisen ist.43 Münzen mit ihrem Bildnis (oder auch nur ihrem Namen) sind für Mathilde nicht im Reich belegt, wohl aber in England als Ausdruck ihres Anspruchs auf die legitime Nachfolge ihres Vaters.44

4.

Siegel und Münzen von Herrschern und Herrscherinnen. Zur Bedeutung einer integrativen Betrachtung für das Teilprojekt und den SFB 1167

Die aufeinander bezogenen Repräsentationsstrategien der Siegel Heinrichs V. und seiner Frau Mathilde belegen den Vorrang männlicher Herrschaftsträger, sie zeigen aber auch, dass der männliche Herrscher auf Dauer nicht ohne eine weibliche Partnerin denkbar war, die ihm einerseits Nachfolger gebar/gebären sollte, die anderseits aber auch bestimmte, wenngleich nicht klar abgrenzbare

42 Zu den Belegen für Teilhabe Mathildes an der Herrschaftsausübung vgl. Zey 2008, 87f.; Claudia Zey, Mathilde von England, in: Amalie Fössel (ed.), Die Kaiserinnen des Mittelalters, Regensburg 2011, 161–180, hier 166f. 43 Vgl. Stieldorf 2019, 66–69. 44 Vgl. zu den Münzen der Mathilde Jim Bradbury, Stephen and Matilda. The Civil War. 1139– 1154, Stroud 1996; George C. Boon, Coins of the Anarchy 1135–1154, Cardiff 1988, 6–7; John Evans, On Some Coins of the Empress Matilda. Queen of England, in: The Numismatic Chronicle and Journal of the Numismatic Society 14 (1851–1852), 66–71.

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und von den Herrscherpersönlichkeiten abhängige Aufgaben übernahm, die zum »Amt der Königin« zählten.45 Ähnliches ist für die Münzen Heinrichs V. insoweit zu vermuten, als dass sie sich einerseits auf die Bilder etwa der Reitersiegel als auch auf die Bilder anderer Münzen allgemein beziehen können. Damit treten auch diese Stücke in einen Diskurs, der mithilfe repräsentativer Medien gestaltet wird. Die vorgestellten Beispiele sind natürlich exemplarisch für die im Projekt untersuchten Stücke zu sehen. Dennoch lässt sich die Wechselbeziehung der Herrscher- und Herrscherinnensiegel zusammen mit den Herrscherdarstellungen auf Münzen bereits hier erkennen. Gerade beim Vergleich der Bilder auf Siegeln und Münzen mit bereits früher verwendeten Motiven lassen sich Bezüge zu Personalität und Transpersonalität herstellen, da durch deren Übernahme oder die Wahl eines abweichenden Bildes die Anknüpfung an ein Vorbild oder gerade die Abgrenzung von demselben demonstriert werden konnten. Durch die Bevorzugung bereits von den Vorgängern genutzter Motive mit auf den ersten Blick peripher erscheinenden Änderungen entsteht auf den Siegeln der Herrscher, aber auch auf den in ihrem Namen geprägten Münzen, geradezu ein Verweissystem auf die Vorgänger, aber auch auf die Nachfolger, von denen man im Zweifelsfall einen vergleichbaren Umgang mit der bildlichen Tradition erwartete. Die Reiterdarstellung auf dem Denar ist in doppelter Hinsicht von Bedeutung für das Teilprojekt. Zum einen ist der neue Bildtyp einer der ersten für den Übergang in eine Zeit, in der eine ganze Reihe neuer Bildtypen auftreten. Die Darstellung des Herrschers auf der Münze ändert sich ab dem 12. Jahrhundert grundlegend, da sie stärker auf die Teilhabe des Klerus und des Adels an der Münzprägung eingehen muss und somit in einen bildlichen Diskurs mit deren visualisierter Herrschaftslegitimation sowie -repräsentation tritt. Der zunehmend regionale Umlauf des Pfennigs, dessen Akzeptanz etwa auf eine Herrschaft begrenzt ist, steht den ursprünglich nahezu unbegrenzt gültigen königlichen Prägungen gegenüber. Andererseits ändert sich auch die Prägetechnik, was natürlich wiederum Einfluss auf das Münzbild hat. Wie erwähnt gibt es von den Reiterdarstellungen auch Halbbrakteaten, also solche Münzen, deren Schrötling bereits leichter ist und deren Rückseite nicht mehr voll ausgeprägt wird. In der Brakteatenzeit gibt es einige Darstellungen des Königs und der weltlichen Adeligen als Reiter. Eine Wechselwirkung der Motive ist anzunehmen. Die Münze Heinrichs V. steht also für die Umbruchszeit des Münzbildes am Anfang des 12. Jahrhunderts, wohingegen die Siegel anscheinend traditioneller ausgerichtet bleiben. Das hier vorgestellte Siegel Heinrichs V. ist durch seine Nutzungsgeschichte für die Fragen nach Personalität und Transpersonalität besonders interessant. 45 Vgl. Stieldorf 2019, 83–87.

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Hier wurde Kontinuität nicht nur durch die Wahl des Siegelbildes demonstriert, sondern auch durch die Verwendung des vom Vater übernommenen Typars. Die Veränderung in der Umschrift zeigt hingegen, dass es auch wichtig war, Heinrich V. konkret zu identifizieren. Damit verdeutlicht dieses Siegel besonders anschaulich das Spannungsfeld zwischen Personalität und Transpersonalität, in welchem sich alle Herrschersiegel bewegen. Einerseits knüpfen sie in ihrer Gestaltung an die Vorgänger an und reihen den Siegelführer in diese Linie ein, andererseits sind sie aber ein auf ihn ganz spezifisch verweisendes Zeichen. Letztlich fügen sich auch die Darstellungen der Herrscherinnen in diese Strategie ein. Am Beispiel der Mathilde zeigt sich, dass nicht nur die Handlungsspielräume der (angeheirateten) Königinnen, sondern auch die auf sie bezogenen Repräsentationsstrategien gänzlich vom herrscherlichen Ehemann abhängig waren. Insbesondere in der Weiterverwendung des römisch-deutschen Typars in England wird aber deutlich, dass auch Königinnensiegel als Ausdruck von deren persönlicher Autorität verstanden und genutzt worden sind. Im römisch-deutschen Reich wurden keine Münzen auf den Namen und/oder mit dem Bild der Mathilde geprägt; wohl aber in England, wo sie als Erbin des Vaters Anspruch auf die Königsherrschaft aus eigenem Recht erhob. Die Münzprägung erweist sich offenbar als Akt, der im Hochmittelalter in der Regel aus eigenem Recht vorgenommen wurde, so dass Frauen meist davon ausgeschlossen blieben.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Bamberg, Staatsarchiv, Bamberger Urkunde, Nr. 162. Abb. 2 und 3: Berlin, Münzkabinett der Staatlichen Museen, Nr. 18202389; Foto: LutzJürgen Lübke (Lübke & Wiedemann). Abb. 4: Cambridge, King’s College Archives Centre, SJP/19.

Detlev Taranczewski

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹ als Quellen für die Untersuchung personaler und transpersonaler Elemente königlicher Herrschaft im Japan des 12. und 13. Jahrhunderts

Teilprojekt ›Reproduktion von Eliten im japanischen Mittelalter durch Delegierung und Aufspaltung königlicher Herrschaft‹ (Leitung: PD Dr. Detlev Taranczewski/Jun.-Prof. Dr. Daniel F. Schley, Japanologie)

Textbeispiel 1: ›Ho¯jo¯ki‹ (方丈記, »Aufzeichnungen aus meiner Klause«)1 1.

Der Text

1.1

Titel

Der Begriff der »Klause«, der im Titel des vorgestellten Textes verwendet wird, bezeichnet die einfache Behausung, in welche sich der Autor nach eigenen Angaben in seinen letzten Lebensjahren (ab 1208) in die Berge in der Nähe der Hauptstadt Heiankyo¯/Kyoto2 zurückzieht und nur für Aufenthalte bei wichtigen 1 Hier zugrunde gelegte Textausgabe: Kamo no Cho¯mei, Ho¯jo¯ki, ed. Yanase Kazuo, Ho¯jo¯ki zenchu¯shaku [Ho¯jo¯ki – Kommentiert und annotiert] (Nihon koten hyo¯shaku, zenchu¯shaku so¯sho), Tokyo 1973 (ND Tokyo 1995), 13–20, 72–98. Neben der o. g. ausführlich kommentierten Ausgabe dieser Schrift wurde ergänzend die in der weit verbreiteten Reihe von Klassikern der vormodernen japanischen Literatur enthaltene Ausgabe benutzt; in ihr finden sich auch viele Details etwa über Manuskriptüberlieferung, Versionen und Verbreitung des Werks, und zwar in Kamo no Cho¯mei, Ho¯jo¯ki, ed. Nishio Minoru (Nihon koten bungaku taikei 30), Tokyo 1957 (ND Tokyo 1970), 5–51. 2 Diese 794 gegründete Hauptstadt trug ursprünglich den Namen ›Heiankyo¯‹ (»Friedenshauptstadt«), im 12. Jahrhundert wurde sie meist einfach ›Kyo¯‹ (»Hauptstadt«) genannt – die Zeiten hatten sich geändert; sie lag auf dem Gebiet der heutigen Stadt Kyo¯to. Von ihrer Gründung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts beherbergte sie den Kaiserpalast, den zentralen Regierungsapparat und den Hofstaat. Im 10.–11. Jahrhundert belief sich die Anzahl der hier ansässigen Amtsträger auf 7000 bis 8000 Personen (mit Familien etwa 40.000 bis 50.000), die Gesamtbevölkerung umfasste knapp 200.000 Menschen, im 12. Jahrhundert immerhin noch etwa 120.000. Anschauliche Zusammenfassungen der Geschichte dieser Metropole als Sied-

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Detlev Taranczewski

Persönlichkeiten und Förderern in der Hauptstadt verlässt. Den Titel hat vermutlich der Autor selbst dem Text gegeben.

1.2

Datierung und Lokalisierung

Entstanden ist die Schrift 1212, der hier behandelte Abschnitt über die Hauptstadtverlegung wurde jedoch vom Autor möglicherweise wenig später im Nachhinein eingefügt. Die geschilderten historischen Ereignisse konzentrieren sich auf die Jahre 1177 bis 1185.

1.3

Überlieferung

Kaum ein Text der vormodernen japanischen Literatur kann eine vergleichbar breite und lückenlose Überlieferungsgeschichte wie diese ›Aufzeichnungen‹ vorweisen. Zahlreiche Versionen – von gekürzten popularisierenden bis zu vollständigen – sind tradiert, die älteste Abschrift stammt wohl aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, also einige Dekaden nach dem Tod des Autors. Auch in die moderne Schullektüre haben ausgewählte Passagen des Textes Eingang gefunden, insbesondere die Anfangszeilen sind immer noch unvergleichlich breiteres Allgemeingut als alles, was etwa hierzulande an vormodernen deutschsprachigen Literaturstücken in der Schule ›durchgenommen‹ wird.

1.4

Autor und Rezipienten

Der Autor Kamo no Cho¯mei (鴨長明, Aussprache des Namens auch Kamo no Nagaakira; 1155–1216) entstammt einer alten Familie von Priestern des Schreins Shimogamo, der, im Nordosten des Talbeckens von Kyoto gelegen, als Schutzheiligtum der Hauptstadt fungiert. Er ist damit der höfischen Gesellschaft zuzurechnen und hätte bei Fortüne und Protektion eine mittlere Stellung in der zentralen Verwaltung erklimmen können. Seine Chance, seinem Vater im Priesteramt zu folgen, verlor er durch sein offenbar ostentatives Desinteresse am Götterkultus. Dagegen machte er sich einen Namen in der Waka-Versdichtung (war auch in – z. T. staatlichen – Gremien zur Kompilation und Verfassung von lungsplatz bieten Takahashi Yasuo, Kyo¯-machiya: sennen no ayumi. Miyako ni ikizuku sumai no genkei [Stadthäuser in der Hauptstadt – eine tausendjährige Entwicklung], Kyoto 2001, sowie Kyo¯to-shi (ed.), Yomigaeru Heiankyo¯. Heian kento 1200-nen kinen [Heiankyo¯ ersteht wieder. Zum 1200jährigen Jubiläum der Errichtung der Hauptstadt], Kyoto 1994.

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

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Versanthologien tätig), in der Reiseliteratur, im Biwa-Lautenspiel, der Poetologie und als Verfasser buddhistisch inspirierter moralischer Erzählungen, sog. setsuwa (説話). Als Stoff dient meist das Alltagsleben von Menschen verschiedener sozialer Schichten, meist besitzen diese Erzählungen einen religiösen und moralischen Appell – in mancherlei Hinsicht wohl vergleichbar mit Werken seines fernen Zeitgenossen Caesarius von Heisterbach, etwa in dem grimmigen Blick auf das Kriegertum. Der Autor schreibt aus der Position des Hofmanns, dessen Welt ihrem Untergang entgegensieht; verstärkt wird dieses allgemeine Krisengefühl, zumal der höfischen Eliten, noch durch die seinerzeit verbreitete Vorstellung vom Verlöschen der heilsbringenden Kraft Buddhas in einer Endzeit (mappo¯ 末法), die der Lehre entsprechend 1500 Jahre nach seinem Tod (480 v. u. Z.), also im 11. Jahrhundert einsetzen sollte. Rezipienten der Schrift waren in erster Linie die höfischen Kreise in der Hauptstadt, zunehmend aber auch die ›neue Klasse‹ der Krieger. Durch persönliche Vermittlung erwirkte Cho¯mei sogar eine Audienz bei dem dritten Schogun, dem literaturaffinen Minamoto no Sanetomo (1192–1219, r. 1203– 1219). Jedoch vermochte er diese Chance nicht in einen finanziell abgesicherten Posten umzumünzen, was seine Skepsis gegenüber dem Kriegertum weiter vertieft haben mag. Dazu passt, dass die ›Aufzeichnungen‹ mit ihrer mehr oder minder offenen Kritik an den Kriegern vier Jahre nach der folgenlosen Audienz beim Schogun erschienen.

1.5

Gattung / Genre / Texttyp

Bei den ›Aufzeichnungen‹ handelt es sich um eine Art philosophischen Essay mit starken autobiographischen (als Rahmenerzählung), historiographischen und sozialkritischen Elementen – zugleich eine Chronik der Zeit. Der Text ist in Prosa in klassischer japanischer Schriftsprache mit einigen frühmittelalterlichen Besonderheiten verfasst. Charakteristisch ist die Übernahme sinojapanischer syntaktischer Mittel, um den Satzfluss eingängig zu gliedern (z. B. häufige Verwendung von Konjunktionen, die einer agglutinierenden Sprache wie dem Japanischen, das über ein höchst differenziertes System konjunktionaler Affixe verfügt, eigentlich fremd sind), sowie die Verwendung von Parallelismen und Chiasmen. Diese Stilmittel dürften wohl auf den Einfluss der buddhistischen Predigtrhetorik zurückzuführen sein.3 In der Schrift zeigt 3 Eine zusammenfassende Geschichte der buddhistischen Predigt und ihres Umfeldes bietet Sekiyama Kazuo, Sekkyo¯ no rekishi. Bukkyo¯ to wagei [Geschichte der Predigt. Buddhismus und Rhetorik], Tokyo 1978.

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sich eine Tendenz zu der auch im modernen Japanisch üblichen Rollenverteilung zwischen Sinnzeichen chinesischer Provenienz (vorzugsweise bei nicht flektierenden Wörtern) und Lautzeichen (Silbenschrift) bei flektierenden Wörtern, deren Wortkörper sich je nach syntaktischer Funktion ändert. Der Autor schreibt aus der Position des Zeitzeugen und signalisiert dabei jeweils, was er aus eigenem Erleben weiß (oder selbst erfahren zu haben vorgibt) und was er aus anderen Quellen erfahren hat – die Tempus- und Modusbezeichnungen des klassischen Japanisch erlauben hier eine feine Differenzierung. Mit geradezu filmischen Mitteln werden immer wieder kurze dramatische Nahaufnahmen vom Schicksal einzelner Menschen eingeflochten. Dies verleiht dem Erzählten die Würze des Authentischen und bezieht die persönliche Betroffenheit des Autors in die Schilderungen ein. Unterstrichen wird der persönliche Bezug des Autors auch durch die spezifische Verwendung von Honorativa in den rahmentextlichen Passagen, die gewissermaßen eine Hinwendung zu einem fiktiven Zuhörer bzw. zum Leser andeuten.

1.6

Historische Bezüge

Hintergrund, der manchmal auch direkt aufblitzt, ist der in zahlreichen Konflikten voranschreitende Prozess der Unter- und Überlagerung sowie der partiellen Ablösung der auf den Kaiserhof zentrierten Elite durch eine neue, die der Krieger. Dieser Prozess beginnt sich schon im späten 11. Jahrhundert deutlich abzuzeichnen, der wohl entscheidende Umschwung findet um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert statt. Hauptakteur des Geschehens, der allerdings nie namentlich erwähnt wird oder überhaupt persönlich als Gestalt ins Rampenlicht tritt, ist in der hier vorgestellten Passage Taira no Kiyomori (1118–1181). Er war Oberhaupt eines Kriegergeschlechts mit dem nomen gentile Taira (wie das Kriegergeschlecht der Minamoto kaiserlicher Abkunft), das sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts wichtige Positionen im regionalen und im zentralen Herrschaftsapparat erobert hatte. Einerseits verdrängte dieses Geschlecht den Hofadel aus vielen Positionen, andererseits gingen seine Mitglieder durch Heirat Bindungen mit der überkommenen Elite ein und ›verhöflichten‹ somit zusehends, wohingegen die Gefolgsleute der Taira eher weiterhin Träger einer eigenen, vom Kriegertum geprägten Kultur blieben. Aus strategischen Gründen versuchte Taira no Kiyomori, die Hauptstadt oder zumindest einige ihrer zentralen Institutionen nach Fukuhara zu verlegen, wo sich bereits die wichtigste seiner Residenzen befand und wo ein ausgebauter Seehafen seine ökonomische Basis durch Handel sicherte. Teile des im Antagonismus zu Kiyomori stehenden Hofs suchten die Unterstützung von Kriegern zu gewinnen, welche ihrerseits in Opposition zu den Taira um Kiyomori (es gab auch zahlreiche Träger dieses

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Namens, die Distanz zu ihm hielten) und ihren Parteigängern standen. An ihre Spitze setzte sich 1180 Minamoto no Yoritomo (1147–1199), dessen Streitmacht dann 1185 die o. g. Taira in einer entscheidenden Seeschlacht besiegte. Darauf schuf er mit seinem Schogunat ein neues Herrschaftszentrum in Kamakura im Osten des Landes, das nun seinerseits die alte kaiserhofzentrierte Herrschaft von der Peripherie her zu durchdringen begann, indem es sukzessive – per Delegation und Aufspaltung königlicher Herrschaft – deren Funktionen übernahm.

2.

Inhalt und thematische Schwerpunkte des Textes

Der Text beginnt mit der Metapher vom Fluss als Inbegriff des Wandels, von Werden und Vergehen – also von der Geschichtlichkeit schlechthin. Er greift damit eine Figur auf, die in der alten Welt weit verbreitet ist, vom vorsokratischen Philosophen Heraklit aus Ephesos im Grenzraum zwischen der griechischen und der persischen Welt bis in den indo-buddhistischen Kreis von Ländern (der historische Buddha Siddha¯rta Gautama war Zeitgenosse von Heraklit). Zu diesem Kreis gehört auch der japanische Archipel, und zwar bemerkenswerterweise bei gleichzeitiger Integration in die sinozentrische Regionalordnung, die gleichermaßen in die indozentrische buddhistische Heilsordnung verwoben war. Wenn man so will lässt sich hier eine schmale Brücke zwischen vormodernem europäischem und japanischem Denken ausmachen. Grundaussage ist auch in diesem Text, dass die Phänomene nicht identisch sind mit dem Begriff, den man sich dem ersten Augenschein nach von ihnen macht. Als den Text durchziehender roter Faden wird eine Entsprechung des ununterbrochenen Wandels in der Natur mit der unablässigen Veränderung in der Gesellschaft und im Leben des einzelnen Menschen augenfällig gemacht, dabei betrachtet der Autor exemplarisch vor allem die Beziehung zwischen dem Schicksal von Menschen und dem Zustand ihrer Behausungen. Die Darstellung setzt mit einer Schilderung von Naturphänomenen ein, verengt den Fokus dabei bis auf kleinste wahrnehmbare Elemente, um im Folgenden in einem ständigen Wechsel von Panoramasicht und Einzelszenen auf das Leben und Treiben in der Hauptstadt zu schwenken. Der Autor schildert fünf Katastrophen, von denen vier durch natürliche Ursachen ausgelöst wurden: 1177 eine große Feuersbrunst, 1180 eine zerstörerische Windhose, 1181 bis 1182 von einer zweijährigen Trockenperiode gefolgt, die zu einer verheerenden Hungersnot führte und von einer Epidemie begleitet war; der Autor berichtet von mehr als 42.300 Toten, die allein im engeren Hauptstadtgebiet innerhalb von zwei Monaten gezählt wurden. Abgeschlossen wird die dramatische Serie mit dem Erdbeben von 1185, das große Teile der Hauptstadt zerstörte. Waren dies allesamt Katastrophen, die im Wesentlichen auf Unbilden der Natur zurückgingen, so handelte es sich dagegen bei

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der im Folgenden angeführten ›Katastrophe‹, nämlich bei der Verlegung der Hauptstadt von Heiankyo¯ nach Fukuhara (ca. 80 km südwestlich an der Binnensee im Stadtgebiet des heutigen Kobe gelegen) im Jahr 1180, um eine allein auf menschliches Handeln zurückzuführende. In dieser Schilderung kommt der kritische Blick des Autors auf die Gesellschaft seiner Zeit besonders scharf zum Ausdruck; seine Sicht ist wohl repräsentativ für große Teile der damaligen höfischen Gesellschaft. Während der gesamte Text landläufig als typisches Beispiel elegisch-feingeistiger, beinahe idyllischer Weltflucht gelesen wird, zeigt sich in diesem Abschnitt eine ganz andere Facette des Autors. In kaum verhohlenem Zorn schildert er, wie nicht nur die breite Bevölkerung, sondern auch weite Kreise der höfischen Gesellschaft – also seinesgleichen – die Folgen einer verfehlten Politik, der der Gedanke des Gemeinwohls abhandengekommen ist, erlitten haben. Hier treten die sozialkritischen Elemente dieser Schrift, die sich zuvörderst gegen verantwortliche Teile der führenden Elite richten, deutlich zutage.

3.

Textstellen ゆく河の流れは絶えずして、しかも、もとの水にあらず。よどみに浮かぶうた かたは、かつ消え、かつ結びて、久しくとどまりたる例なし。世の中にある、 人と栖と、かくのごとし。 […] また、治承四年水無月のころ、にはかに都遷り侍りき。いと思ひの外なりしこ となり。おほかた、この京のはじめを聞けることは、嵯峨の天皇の御時、都と 定まりにけるより後、すでに四百余歳を經たり。ことなるゆゑなくて、たやす く改まるべくもあらねば、これを、世の人安からず、憂へあへる、実にことわ りにもすぎたり。 されど、とかく言ふかひなくて、帝より始め奉りて、大臣・公卿みな悉く移ろ ひ給ひぬ。世に仕ふるほどの人、たれか一人ふるさとに殘りをらむ。官・位に 思ひをかけ、主君のかげを頼むほどの人は、一日なりとも、疾く移ろはんとは げみ、時を失ひ、世に剰されて、期するところなきものは、愁へながら止まり をり。軒を爭ひし人の住まひ、日を經つつ荒れ行く。家はこぼたれて淀河に浮 かび、地は目の前に畠となる。人の心みな改まりて、ただ、馬・鞍をのみ重く す。 牛・車を用する人なし。 西南海の領所を願ひて、 東北國の庄園をは好ま ず。 その時、おのづからことの便りありて、摂津の國の今の京にいたれり。所の有 様を見るに、 その地、 ほど狭くて、 條里を割るに足らず。 北は山に沿ひて高 く、南は海近くて下れり。波の音常にかまびすしく、潮風ことにはげし。内裏 は山の中なれば、かの木の丸殿もかくやと、なかなか様かはりて、優なるかた も侍り。日々にこぼち、川も狭に運び下す家、いづくに造れるにかあるらん。 なほ空しき地は多く、造れる屋はすくなし。古京はすでに荒れて、新都はいま だ成らず。ありとしある人は、みな浮雲の思ひをなせり。もとよりこの所にを

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

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るものは、地を失ひて愁ふ。今移れる人は、土木のわづらひあることを嘆く。 道のほとりを見れば、車に乘るべきは馬に乘り、衣冠・布衣なるべきは、多く 直垂を着たり。都の手ぶりたちまちに改まりて、ただ、雛びたる武士にことな らず。世の亂るる瑞相と書きけるもしるく、日を經つつ世の中浮き立ちて、人 の心もをさまらず、民の愁へつひに空しからざりければ、おなじき年の冬、な ほ、この京に歸り給ひにき。されど、こぼちわたせりし家どもは、いかになり にけるにか、悉くもとの様にも造らず。 傳へ聞く、いにしへの賢き御代には、あはれみをもて、國を治め給ふ。すなは ち、殿に茅ふきても、軒をだにととのへず、煙のともしきを見給ふ時は、限り ある貢物をさへゆるされき。これ民を恵み、世を助け給ふによりてなり。今の 世の有様、昔になぞらへて知りぬべし。 »Dahin zieht der Fluss, sein Strom reißt nicht ab, und dennoch ist sein Wasser niemals das alte. Wo der Strom stockt, treiben Schaumblasen auf dem Wasser, vergehen, entstehen, lange verweilen jedoch werden sie nie. Nicht anders ergeht es in unserer Welt den Menschen und ihren Wohnstätten. […] Und dann, im Wassermonat, dem sechsten Monat, 4. Jahr der Ära Jisho¯ [1180], wurde aus heiterem Himmel die Verlegung der Hauptstadt verfügt. Das war für uns alle ein ganz und gar unvorhergesehenes Ereignis. Soviel ich über die Anfänge [unserer jetzigen] Hauptstadt habe in Erfahrung bringen können, sind bereits mehr als 400 Jahre vergangen, seit Kaiser Saga in seiner Regierungszeit [Heiankyo¯/Kyo¯to zur] Hauptstadt bestimmt hatte (1.4.1). Dass die Hauptstadt einfach ohne triftigen Grund verlegt wird, darf eigentlich nicht sein; dass sich unter den Menschen daher allgemeines Murren breitmachte, war nun in der Tat nur mehr als billig. Indes, alles Reden nützte nicht, und so machten sich, von seiner Majestät dem Kaiser über die Minister bis hin zu den Großwürdenträgern, alle ohne Ausnahme an den Umzug. Wer von Stand, der bei Hof Dienst tat, hätte schon allein in der alten Hauptstadt zurückbleiben mögen? Leute von Status, die sich Hoffnung auf Amt und Rang machen und die auf die Protektion eines Herrn rechnen durften, suchten eilends ihren Wohnsitz in die neue Hauptstadt zu verlegen, um nur keinen Tag zu verlieren, diejenigen, die ihre Chance verpasst hatten und von aller Welt verlassen sich keine Hoffnungen mehr machen konnten, blieben klagend [in der alten Hauptstadt] zurück. Die Wohnstätten der Menschen, deren Dachtraufen (1.4.2) sich eben noch einen Wettstreit um die prachtvollste Ausstattung geliefert hatten, verwilderten zusehends Tag um Tag. Häuser wurden abgerissen und ihr Holz trieb [zu Flößen gebündelt] den Fluss Yodo hinab [in Richtung der neuen Hauptstadt Fukuhara], aus Hausgrund wurde vor unseren Augen Ackerland. Auch der Sinn der Menschen wandelte sich, man schätzte nur noch Pferd und Sattel [wie Krieger] (1.4.3). Niemand mochte noch Ochsen und Karren benutzen [wie es Hofleuten geziemte] (1.4.4). Alle trachteten nach Besitzungen in den westlichen Regionen [wo die Herrschaft der Taira noch ungebrochen war] und niemand wusste noch höfische Grundherrschaften im Osten und Norden [dem Einflussgebiet oppositioneller Krieger] zu schätzen. Zu dieser Zeit war ich zufällig in Geschäften unterwegs und kam dabei auch in die Provinz Settsu in die neue Hauptstadt [Fukuhara]. Wie ich mir die Gegebenheiten betrachtete, schien mir das Gelände arg schmal, um dort Straßen im [für eine Haupt-

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stadt vorgeschriebenen] regelmäßigen Schachbrettmuster anlegen zu können. Im Norden lag es hoch und grenzte an die Berge, im Süden lag es tief und reichte bis nahe ans Meer. Das Tosen der Wellen war immerfort zu hören und ein scharfer Seewind blies. Der Kaiserpalast lag in den Bergen; deshalb wohl glich er jenem sagenhaften aus rohen Rundhölzern errichteten Behelfspalast [den Kaiserin Saimei 661 auf ihrem Feldzug gegen das koreanische Königreich Shilla in Nordkyu¯shu¯ hatte errichten lassen], sein Baustil war aber recht merkwürdig, besaß einen kuriosen Reiz, so ließe er sich beschreiben. Die Häuser, die Tag für Tag abgerissen wurden und deren Holz man den Fluss hinabflößte, sodass er die Mengen kaum noch zu fassen vermochte – wo sie nun wohl stehen mochten? Brachliegendes Land gab es noch viel, fertig errichtete Gebäude wenig. Die alte Hauptstadt fiel schon wüst, die neue war noch nicht erstanden. Die Menschen fühlten sich allesamt wie umhertreibende Wolken. Diejenigen, die bisher hier gelebt hatten, klagten, dass sie nun ihren Grund und Boden verlieren sollten. Die neu Zugezogenen jammerten über die Mühen des Hausbaus. Schaute man in die Straßen, so saßen diejenigen zu Pferd, denen es [als Hofleuten] eigentlich angestanden hätte, im Wagen zu fahren, und viele, die sich [standesgemäß] in die zeremoniellen Hofgewänder zu kleiden hätten, trugen nun saloppe Alltagskluft [wie Krieger] (1.4.5). Hauptstädtische Sitten hatte man im Handumdrehen abgelegt und führte sich ganz wie Krieger aus der Provinz auf. Es steht geschrieben, [solche Veränderungen] seien Vorzeichen einer Welt, die aus den Fugen gerät, und wirklich war es so; mit jedem Tag steigerte sich die Anspannung in der Welt, die Menschen fanden einfach keine Ruhe mehr, und schließlich sollten sich die Befürchtungen des einfachen Volkes bewahrheiten [die Kämpfe zwischen den Taira, die den Hof dominierten, und den Kriegern um Minamoto no Yoritomo waren nun voll entbrannt], deshalb kehrte [der Kaiser mit seinem Hofstaat] schließlich noch im Winter desselben Jahres [11. Monat – nach gregorianischem Kalender schon Dezember] zurück in die [alte] Hauptstadt. Was aber ist wohl aus den Häusern, die man doch reihenweise abgerissen hatte, geworden? So wie sie früher einmal waren, wird man sie kaum alle wiederaufgebaut haben. Die Überlieferung sagt: In den alten Zeiten, als weise [Herrscher] walteten, wurde das Land mit Mitgefühl regiert (1.4.6). Beispielhaft zeigt sich dies darin, dass der Palast nicht nur ganz schlicht mit Reet gedeckt war, sondern dass auch kein Wert darauf gelegt wurde, die Halme an der Dachtraufe schmuck zurechtzustutzen (1.4.7), und daran, dass dem Volk sogar die vorgeschriebenen Steuern erlassen wurden, sobald [der Herrscher] sah, dass nur wenig Rauch [aus den Herdstellen der Häuser] aufstieg [weil es dem Volk an Nahrung mangelte]. Dies alles geschah, weil [der Herrscher das Volk] mit Wohlwollen betrachtete und sich das Heil der Welt angelegen sein ließ. Wie es um unsere heutige Welt bestellt ist kann man schnell erkennen, wenn man sie an jenen alten Zeiten misst.« (Übers. D. Taranczewski)4 4 Von diesem Text wurden zahlreiche Übersetzungen in viele Sprachen unternommen; als neuere Übersetzungen ins Deutsche sind zu nennen: Kamo no Cho¯mei, Aufzeichnungen aus meiner Hütte. Aus d. Japanischen übers. u. mit einem Nachwort versehen v. Nicola Liscutin, Frankfurt a. Main/Leipzig 1997 und Kamo no Cho¯mei, Aufzeichnungen aus den zehn Fuß im Geviert meiner Hütte, in: Nelly Naumann/Wolfgang Naumann (übers. u. edd.), Die Zauberschale – Erzählungen vom Leben japanischer Damen, Mönche, Herren und Knechte, ausgew.

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4.

Kommentar

4.1

Bestimmung der Hauptstadt

179

Cho¯mei schreibt, Kaiser Saga (786–842, r. 809–823) habe in seiner Regierungszeit Heiankyo¯ zur Hauptstadt bestimmt, tatsächlich ist ihre Gründungsgeschichte etwas komplexer: Im Jahre 784 hatte Kaiser Kanmu (737–806, r. 781–806) verfügt, dass Heijo¯kyo¯ (auf dem Gebiet der heutigen Stadt Nara) seinen Hauptstadtstatus verlieren und stattdessen ca. 25 km weiter nördlich das Dorf Nagaoka der neu zu errichtenden Hauptstadt weichen sollte. Da sich diese Gegend als vom Naturraum her ungeeignet erwies, wurde die Hauptstadt 794 erneut um weitere 10 km nach Norden verlegt, und zwar in die Gegend des heutigen Kyoto. Kanmus Nachfolger auf dem Thron war Heizei (774–824, r. 806–809), der aber schon 809 zugunsten seines jüngeren Bruders Saga abdankte. Nach einem Zerwürfnis zwischen beiden residierte der abgedankte Kaiser Heizei im ehemaligen Kaiserpalast in Heijo¯kyo¯, den sein kaiserlicher Bruder zuvor wieder hatte herrichten lassen, und gründete dort einen eigenen Nebenhof. Mit seinem Tode im Jahr 824 wurde dieser Palast nun endgültig aufgegeben und fortan blieb Heiankyo¯ unangefochtene Hauptstadt – eben bis zum Jahr 1180. Der Autor wird diese Verwicklungen im Sinn gehabt haben, als er den Beginn der Hauptstadtfunktion von Heiankyo¯ auf die Regierungszeit von Kaiser Saga legte. Zur Zeit der Hauptstadtverlegung 1180 waren zwar noch keine 400 Jahre vergangen, selbst wenn man bei der Berechnung den Zeitpunkt der Verlegung der Hauptstadt nach Heiankyo¯ im Jahr 794 zugrunde legt. Rechnet man jedoch von der Entstehungszeit des ›Ho¯jo¯ki‹ 1212 an, erscheint die Zeitrechnung des Autors plausibler. Als Beleg für seine Darstellung führt er explizit seine eigenen Erkundigungen über die Geschichte der Hauptstadt an, deshalb lässt sich diese Art der ›subjektiven‹ Datierung wohl als weitere Facette seiner Selbstdarstellung als berichtender Zeitzeuge verstehen, der auch stets seine persönliche Sicht der Dinge durchblicken lässt, eben deshalb aber manches dramatisiert, anderes vernachlässigt und mit den historischen Daten und Tatbeständen tendenziell salopp-redigierend umgeht.

und aus d. Japan. übers. v. Nelly und Wolfgang Naumann, München 1973, 253–266. Aus Gründen inhaltlicher Pointierung habe ich mich dennoch zu einer eigenen Übersetzung entschlossen. – Zu den Datumsangaben gilt: In Japan wie in Ostasien war der Mondkalender in Gebrauch, entsprechend gibt es hinsichtlich der Dauer der Monate (prinzipiell ebenso wie in jenem 12) sowie Beginn und Ende eines Jahres einige Abweichungen vom Sonnenkalender.

180 4.2

Detlev Taranczewski

Dachtraufen

Sie sind ebenso wie die Firste diejenigen Elemente von Gebäuden, die bei einem üblicherweise von Mauern umgebenen Anwesen von der Straße her gesehen besonders ins Auge fallen. Da eine Fassade als bauliches Element in der japanischen Vormoderne deshalb im Vergleich mit Europa nur eine geringe Rolle spielt, bieten sich die Dachtraufen neben dem Dachfirst am ehesten als Elemente an, um ein Gebäude repräsentativ zu gestalten. Gerade die Beschaffenheit der Dachtraufen wird in diesem Sinne pars pro toto für die Qualität eines Bauwerks oft in der Literatur thematisiert.

4.3

Pferd und Sattel

Sie stehen für die räumliche Mobilität der ›neuen Klasse‹ der Krieger, die ihre Pferde nicht nur im Kampf, sondern auch zur raschen Fortbewegung über weite Strecken nutzen. Die Nutzung eines Pferdes hatte auch ständische Implikationen. Auf jeden Fall kommt hier die Handlungsmacht der Krieger zum Ausdruck und gerät die Peripherie in den Blick, die zumindest einen Teil ihres Handlungsumfeldes darstellte.

4.4

Ochsen und Karren

Von Ochsen gezogene, reich verzierte und geschlossene Karren sind das übliche, sehr gemächliche Fortbewegungsmittel des Hofadels, also der Vertreter des ancien régime in der Hauptstadt. Diese Gefährte sind vor allem für kürzere Strecken bestimmt und symbolisieren so vielleicht auch die kulturelle ›stabilitas loci‹ der alten Elite und ihre Fixierung auf ein kulturelles und politisches Zentrum, das von der Hauptstadt repräsentiert wird.

4.5

Hofgewänder, Alltagskluft

Dieses gar zu alltäglich anmutende Detail wirft ein Schlaglicht auf die kulturelle und soziale Differenz zwischen der alten und der neu entstehenden Elite. Die weiten aufgebauschten »Hofgewänder« von Männern und Frauen waren für das Leben in der Hauptstadt im Palast geeignet, sie erlaubten aber kaum freie körperliche Bewegung. Etwas überspitzt ausgedrückt symbolisierten sie die Lebenshaltung der Höflinge, die wesentlich vom Aufstieg in der Beamtenhierarchie, in »Amt und Rang«, durch »Protektion« bestimmt war. Wollte man reüssieren,

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

181

musste man sich strikt an die überaus komplexen ausgefeilten Regeln von Etikette und Habitus sowie an genau umrissene Leistungskriterien halten. Dem eigenen Gestaltungsspielraum waren, wie ebenfalls aus dem Text ersichtlich ist, enge Grenzen gesetzt, wenn die Strafe im Raum stand, »von aller Welt verlassen sich keine Hoffnungen mehr machen« zu können, will heißen: aus der guten Gesellschaft ausgeschlossen zu werden und damit den sozio-ökonomischen Ruin zu erleiden. »Alltagskluft« steht hier für die Lebenswelt der Krieger. Diese Kleidungsstücke, wie sie auch in der ökonomisch bessergestellten allgemeinen Bevölkerung verbreitet waren, erlaubten eine freiere Bewegung des Körpers – beim Reiten, beim Laufen in der Stadt oder in der Wildnis und selbstredend beim Kämpfen. Sie entsprachen dem Lebensentwurf der Krieger, ein Lebensentwurf, der viel mehr freien Raum für eigene soziale und ökonomische Aktivität bot, der konfliktfreudiger war, dabei aber auch in der Lage, neue Regeln unter seinesgleichen selbst zu schaffen. Ihr Handlungsraum lag wesentlich auf dem Lande, »in der Provinz«, wie der Autor pikiert vermerkt. Der Historiker Ishimoda Sho¯ sieht ihre prinzipiell freiere Lebensweise in scharfem Kontrast zur ›despotischen Herrschaft‹ des überkommenen zentralistischen Gemeinwesens.5 Ein Herrscher wird hier nicht explizit genannt, sondern nur durch Verwendung honorativer semantischer Mittel als Akteur kenntlich gemacht. Auf diese Weise entsteht eine eigentümliche Spannung zwischen Verborgenheit und Persönlichkeit/Personalität des Herrschers (oder der Herrscherin – im Japanischen existiert Genus nicht als semantische Kategorie), die vermutlich seine Autorität stabilisiert, weil sie nicht durch eine vielleicht profane physische Wirklichkeit gebrochen werden kann, und weil Distanz – auch Verborgenheit ist eine Form davon – auch ein Prestigegefälle inszenieren kann. Noch in der Neuzeit galt es als ungehörig, wenn Staatsbürger den Kaiser direkt ›fixierten‹. Eine Anthropologie von ›Fixieren‹, von Sichtbarkeit und Verborgenheit bzw. Nähe und Distanz könnte hier gewiss interessante Einsichten vermitteln.

5 In seinem Werk ›Chu¯seiteki sekai no keisei‹ (»Die Entstehung der mittelalterlichen Welt«), das zum Klassiker der Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit geworden und vielfach neu aufgelegt worden ist, setzt sich Ishimoda auch eingehend mit den Fragen des kulturellen Wandels unter den tragenden Schichten auseinander. Ishimoda Sho¯, Chu¯seiteki sekai no keisei, Tokyo 1946 (ND Tokyo 1957). Er hatte das Buch schon während des Kriegs verfasst, aufgrund seiner politischen Verfolgung allerdings erst nach Kriegsende publizieren können, zumal er dort fundamentale Kritik an der Institution des Tenno und der durch ihn repräsentierten Kultur formuliert. Mit dem Begriff der ›Despotie‹ in der Geschichte Asiens und (im sog. Altertum) Japans setzt er sich in einem 1946 verfassten Essay, ›Fragen zur Entstehungsgeschichte des Mittelalters‹, auseinander, der in dieses Buch aufgenommen wurde (365–390, v. a. 365–369).

182 4.6

Detlev Taranczewski

Awaremi (»Mitgefühl«)

Dies ist keine ethische, also quasi transpersonale Kategorie (was etwa für benevolente Herrschaft, für die es einen eigenen Terminus gibt, zuträfe), sondern primär eine psychologische, emotionale, dem Charakter einer bestimmten Person zugeschriebene Regung. Diese Wortwahl legt sogleich die Frage nahe, welche Reichweite solch einer Gefühlsregung eigentlich zugestanden wird, ob es sich, soziologisch ausgedrückt, um eine gesellschafts- oder aber eine gemeinschaftsbezogene, primordiale Kategorie handelt. Konsequent weiter gedacht lässt dies die Schlussfolgerung zu, dass dem Autor als ideale Ordnung eine gemütvolle Despotie (im ursprünglichen Sinne von despotes) in Gestalt einer Art erweiterter Hausherrschaft vorschwebt, wo der Herrscher nicht zwischen seinem Haus und dem politischen Gemeinwesen unterscheidet. Wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt, dann erscheint die Polemik des Autors gegen diesen Popanz der konfliktfreudigen Krieger, die sich die Freiheit herausnehmen, höfische Regeln zu missachten, in einem ganz anderen Licht. Konsequente Sozialkritik – auch Herrschaftskritik rechnet schließlich dazu – nimmt hier wie in der gesamten Vormoderne tendenziell die Gestalt rückwärtsgewandter Utopie an, dies betrifft vor allem Kritik solcher Gestalt, die in eine medial wie auch immer eingebettete Überlieferung der herrschenden Kreise Eingang gefunden hat.

4.7

Palast

Die Frugalität im Lebensstil des ›weisen‹ Herrschers, die im letzten Abschnitt, der ›Moral von der Geschicht‹ dieses Abschnitts, als herrschaftsethisches Ideal propagiert wird, findet ihre Entsprechung in der Lebensweise, die der Autor gegen Ende seines Lebens in der Bilanz seiner eigenen Erfahrungen als die für ihn selbst am besten passende beschreibt. Die Behausung, die er gegen Ende seines Lebens wählt und von welcher er den Titel dieses Textes ableitet, ist die ideale Umhüllung, die ihm die Zumutungen der Welt vom Leibe halten soll, wie dem »Einsiedlerkrebs seine kleine Muschel«6, den er an anderer Stelle illustrierend als Vorbild heranzieht. Das ethische Ideal der Frugalität des Lebensstils von Herrschern und Weisen (zu denen sich der Autor somit selbst rechnet), ist in der gesamten buddhistisch (wie auch der daoistisch) geprägten Welt, vor allem in Ostasien, verbreitet, unbeschadet der tatsächlichen Ausprägung des herrscherlichen Lebensstils. Das verleiht dem Herrscher moralische Überlegenheit über 6 In Übersetzung lautet der vollständige Satz des Originals: »Ein Einsiedlerkrebs liebt [s]eine kleine Muschel, weiß er doch um mögliche Gefahren.« Textgrundlage ist hier die Ausgabe von Yanase Kazuo, speziell 233, 235, 238 – siehe Anm. 1.

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

183

die beherrschte Bevölkerung, die tendenziell als dem Prunk zugeneigt geschildert wird und die, wenn immer sie könnte, sich ihm auch hingäbe. Dass das Volk aber eher sehen muss, wie es sich durchschlägt, legen die dargestellten Katastrophen dramatisch dar.

5.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt

Historische Ausgangssituation unseres Teilprojekts ist ein tiefgreifender Umbruch auf dem japanischen Archipel, der in der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert viele Lebensbereiche erfasst hatte. Eine neue Elite, vor allem aus landsässigen Kriegern bestehend, verdrängte die alte hauptstädtische, dabei sogar von starken Gruppierungen innerhalb derselben befördert, wenngleich das Ergebnis auf lange Sicht nicht ihren Erwartungen entsprach. Der vorliegende Text schildert jenen Umbruch aus der Sicht eines Vertreters eben dieses ancien régime, als Angehöriger des in der Hauptstadt und ihrem Umland ansässigen Hofadels. Der Autor präsentiert sich einerseits als Augenzeuge, der viele der geschilderten Ereignisse aus eigenem Erleben zu schildern vermag, zugleich gibt er sich als Randständiger der höfischen Gesellschaft. Somit versteht er sich als souveräner Chronist dramatischer Zeitläufe zu inszenieren und seiner Leserschaft die Zeitenwende von einer vom Kaiserhof zu einer von Kriegern dominierten Welt nahezubringen. Naturgemäß kann ein erzählender Text dieser Art dazu dienen, vermittelt über einen ›teilnehmenden Beobachter‹ zumindest eine anspruchsvolle Version der Synthese verschiedener Elemente der damaligen Welt zu liefern, die in anderen Quellenarten meist nur vereinzelt auftreten. Insofern lassen sich manche Hypothesen und Ansätze mit diesem Text abgleichen. Das betrifft konkret etwa die Verflechtung von Herrscherkritik und Herrscherlob/Idealisierung von Herrschaft mit der Darstellung personaler und transpersonaler Aspekte der Herrschenden: Der gute Herrscher ist hier einer, der sich als Person und nicht über eine unpersönlich-transpersonale Institution seinen Untertanen zuwendet und sie umsorgt. Der Text übt auch gewissermaßen Selbstkritik der höfischen Elite, die sich allzu bereitwillig den Gepflogenheiten der Krieger anpasst. Weiterhin kommt hier eine strukturell interessante Seite der ›Reproduktion von Eliten‹ zum Vorschein, dass diese nämlich nicht nur über eine allmähliche Verdrängung der alten Eliten auf allen Ebenen vonstatten geht, sondern sich in nicht unerheblichem Maße eben auch über eine zumindest partielle Vermischung beider sozialen Kreise eine neue »Figuration«7 der Gesellschaft herausbildet.

7 Zum Begriff der Figuration in diesem Sinn siehe Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft.

184

Detlev Taranczewski

Der Antagonismus zwischen neuer und alter Elite wird in diesem Text auch als Prozess skizziert, in welchem die Peripherie – der Osten – dem zivilisierenden Zugriff des Zentrums entgleitet, etwa durch Aufgabe der dortigen höfischen Grundherrschaften. Im Gegenzug erscheint das Vordringen der Krieger in das legitimerweise von der höfischen Gesellschaft beherrschte Zentrum als Invasion einer als barbarisch konnotierten Peripherie.

Textbeispiel 2: ›Azuma kagami‹ (吾妻鏡, »Spiegel des Ostens«)8 1.

Der Text9

1.1

Der Titel

Das Wort ›Azuma‹ im Titel ist eine regionalsprachliche Bezeichnung für den Osten der japanischen Hauptinsel Honshu¯, insbesondere für die Region Kanto¯, die das Kerngebiet der Kriegerregierung bildete. ›Kagami‹ bedeutet wörtlich »Spiegel«, im übertragenen Sinne auch »Muster«, »Vorbild«, »Beispiel«.

1.2

Datierung und Lokalisierung

Entstanden sind diese Annalen wohl zwischen dem späten 13. und frühen 14. Jahrhundert. Gegenstand sind Ereignisse aus dem Zeitraum von 1180 bis 1266, also von der Rebellion gegen das Regime von Taira no Kiyomori über die Entstehung und Konsolidierung des Schogunats bis zu seiner vollen Entwicklung. Im Zentrum der Schilderungen steht das Kamakura-Schogunat, deshalb spielen die Ereignisse überwiegend im Osten des Landes.

Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. Main 1983, v. a. 215f. 8 Als Einführung zur Geschichtsschreibung des ›Azuma kagami‹ ist zu nennen: Gomi Fumihiko, Azuma kagami no ho¯ho¯. Jijitsu to shinwa ni miru chu¯sei [Die Methode des Azuma kagami. Das Mittelalter in Tatsachen und Mythen], Tokyo 1989. Zur vormodernen Geschichtsschreibung Japans empfiehlt sich die Einführung von Ulrich Goch, Abriß der japanischen Geschichtsschreibung, München 1992. 9 Hier verwendete Textausgabe: Azuma kagami, edd. Kuroita Katsumi/Kokushi Taikei Henshu ¯kai, 4 Bde., Bd. 2, Tokyo 1977. Neben der hier genannten ist auch eine zweibändige Ausgabe verbreitet: Azuma kagami, edd. Kuroita Katsumi/Kokushi Taikei Henshu¯kai (Shintei zo¯ho kokushi taikei 32–33), 2 Bde., Tokyo 1964–1965.

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

1.3

185

Überlieferung

Auch der Text des ›Azuma kagami‹ kann auf eine relativ kontinuierliche Überlieferung zurückblicken, allerdings sind einige Passagen dieses Werks im Umfang von mehreren Jahren verlorengegangen. Die Originale zahlreicher Quellen, die hier eingearbeitet oder gar zitiert (inseriert) wurden, sind in den Wirren des Sturzes des Schogunats verloren gegangen, gerade deshalb gilt das Werk als wichtigste Quelle zur Geschichte des Kamakura-Schogunats, dessen Beginn überwiegend in den frühen 1180er Jahren angesetzt wird und das im Jahre 1333 gewaltsam endet.

1.4

Autor und Rezipienten

Diese Annalen schöpfen aus zahlreichen Quellen, vor allem aus Dokumenten, die in den Archiven des Schogunats in Kamakura verwahrt wurden. Ein redigierender Einfluss des zur Entstehungszeit die Politik des Schogunats weitgehend bestimmenden Geschlechts der Ho¯jo¯ wird angenommen. Rezipiert wurde es vor allem von den Eliten des Schogunats wie auch des Hofs in Kyoto. Es hat ebenso in den nachfolgenden Epochen immer wieder das Interesse von Herrschern und Eliten gefunden; berühmt ist etwa das starke Interesse, das Tokugawa Ieyasu (1543–1616, r. 1603–1605), der Begründer des ›Dritten‹ Schogunats mit Sitz in Edo (1868 in To¯kyo¯ – »Östliche Hauptstadt« im Gegensatz zum westlichen Kyo¯to – umbenannt), für dieses Werk hegte. Er schätzte es wohl als eine Art historisch-politisches Lehrbuch, außerdem fühlte er sich offenbar zumindest wahlverwandtschaftlich Minamoto no Yoritomo, dem Begründer des ersten Schogunats, verbunden. So versuchte er, seine eigene Genealogie auf eine Yoritomo nahestehende Linie der Minamoto zurückzuführen und dokumentierte dies durch Annahme des Namens Tokugawa 徳川. Dies ist der Name einer ländlichen Siedlung im Distrikt Nitta in Nord-Kanto¯ in der heutigen Präfektur Gunma. Eine Kriegerfamilie, die im 12. Jahrhundert in diesem Ort ihren Hauptsitz genommen hatte, übernahm dem Usus entsprechend den Namen des Orts als lineage-Namen, den sie neben ihrem nomen gentile Minamoto trug; wie dieser schon andeutet, war diese Linie mit Yoritomo verwandt. Allerdings wirkt die ursprüngliche Schreibung des Orts und Namens (得川 – das erste Zeichen bedeutet »erhalten«, wird jedoch hier als Laut- und nicht als Sinnzeichen verwandt) deutlich prosaischer, während Ieyasu dieses Zeichen durch das ebenso ausgesprochene, nun aber für herrschaftliches Ethos stehende Zeichen 徳 »Tugend« austauschte.10 10 Zu den angesprochenen Verwandtschaftsverhältnissen siehe Detlev Taranczewski, Lokale

186 1.5

Detlev Taranczewski

Gattung / Genre / Texttyp

Die Sprache ist modifizierte klassische chinesische Schriftsprache, das sogenannte Sinojapanisch (waka kanbun 和化漢文). Die Stilrichtung, in der das Werk verfasst wurde, nennt die Forschung Annalen- oder Chronikstil (kirokutai 記録体); dieser ist in Syntax und Wortschatz besonders deutlich an das Japanische angelehnt. Eine Besonderheit ist der Lesestil, denn es wird nicht direkt als sinojapanischer Text gelesen oder in jeweilige zeitgenössische Umgangssprache übersetzt, sondern bei der Texterschließung wird eine Art Zwischenübertragung in einen spezifischen Stil des klassischen Japanisch (yomikudashi-bun 読み下し 文) vorgenommen, wodurch eine neue eigene Ebene des gehobenen Sprechens geschaffen wird. Diese Annalen behandeln die Geschichte des Kamakura-Schogunats von seinen Anfängen bis zum Höhepunkt seiner Machtentwicklung. Der Aufbau ist strikt chronologisch. Es ist das einzige Werk des frühen japanischen Mittelalters, das der Gattung der Kriegerannalistik zugerechnet wird. Die dort geschilderten Inhalte sind mannigfaltig, sie reichen von trockener Hofberichterstattung bis zu größeren und vor allem zahlreichen kleineren dramatischen Ereignissen wie dem im ausgewählten Textauszug beschriebenen.

1.6

Historische Bezüge

Dargestellt werden Ereignisse eines Tages im Jahr 1190. Minamoto no Yoritomo war mit großem Gefolge auf ›Hoffahrt‹ von Kamakura in die Hauptstadt Kyoto, wo er die Residenz des abgedankten Kaisers und den Hof des aktuellen Kaisers sowie einige mächtige Hofleute aufsuchte. 1180 war Yoritomo den Aufrufen von Vertretern des Kaiserhauses zum Sturz des vor allem den Westen und das Zentrum des Archipels beherrschenden Regimes unter der Hegemonie des Kriegers Taira no Kiyomori gefolgt. Als ›Anführer der Krieger‹ (buke no to¯ryo¯ 武家の棟 梁) im Osten hatte Yoritomo von dort ausgehend die Führung in den Kämpfen gegen dieses Regime übernommen und schließlich 1185 gesiegt. Als ›Herr von Kamakura‹ (Kamakura-dono 鎌倉殿) hatte er dann in Kamakura im Osten des Landes eine eigene, zunehmend autonome Herrschaft errichtet, die vom Hof einschließlich des abgedankten Kaisers zunächst auch durch Übertragung sehr weitgehender militärischer, verwaltungstechnischer und ökonomischer Kompetenzen gefördert wurde. Zugleich bekam Yoritomo einen hohen Hofrang und repräsentative Ämter in der kaiserlichen Hofgarde verliehen, die indes keinen großen funktionellen Einfluss innerhalb des höfischen Regierungsapparats beGrundherrschaft und Ackerbau in der Kamakura-Zeit. Dargestellt anhand des Nitta no sho¯ in der Provinz Ko¯zuke, Bonn 1988, v. a. 17–35.

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

187

saßen. Nachdem er im Vorjahr – im eigenen wie auch im Interesse des Hofes – der Regionalherrschaft der Mutsu-Fujiwara im äußersten Nordosten ein Ende bereitet hatte, war er nun auf dem Weg in die Hauptstadt Kyoto, um für seine Verdienste mit weiteren Ämtern belohnt zu werden. Yoritomos diesbezüglich höchstes Ziel war der Amtstitel eines taisho¯gun (大 将軍), eines ›Großen Feldherrn‹. Auf die Verleihung eines entsprechenden Titels musste er jedoch bis nach dem Tode des abgedankten Kaisers Goshirakawa (1127–1192, r. 1155–1158), der ihn, so die vorherrschende Auffassung, hatte kurzhalten wollen, im Jahre 1192 warten. Er bekam schließlich vom Hof den ›klassischeren‹, höfischer klingenden Titel eines seii taisho¯gun (征夷大将軍), eines ›Großen Feldherrn zur Züchtigung der Nordostbarbaren‹, verliehen; dieses Amt war – anders als die ihm zuvor verliehenen – nicht mit Residenzpflicht in der Hauptstadt verbunden, weshalb er diesen Amtstitel anders als jene auch nach seiner Rückkehr nach Kamakura noch zwei Jahre lang bis 1194 führte. De iure lässt sich eigentlich erst von diesem Zeitpunkt an von ›Schogun‹ (als Abkürzung obigen Titels, wie er auch von Yoritomo selbst in Urkunden benutzt wurde) sprechen, zu Lebzeiten Yoritomos gab es noch keinen dauerhaften allgemein verbindlichen Terminus für seine Herrschaft und ihren Apparat, wofür in der neuzeitlichen Geschichtsschreibung u. a. der Terminus Schogunat gebräuchlich ist. Das spiegelt die strukturelle Komplexität oder Heterogenität von Yoritomos Herrschaft wider. Beruhte sie eben doch nicht nur – oder sogar in geringerem Maße – auf der Delegation königlicher Herrschaftskompetenzen, die in dem Titel (seii-)taisho¯gun zum Ausdruck kommt. Eine Basisressource seiner Macht lag mehr noch in dem von seinem Geschlecht über mehrere Generationen aufgebauten autonomen System von Vasallität und Bündnissen, welches ihn überhaupt erst in die Lage versetzt hatte, die vom Hof delegierten Aufgaben auch tatsächlich wahrzunehmen.

2.

Inhalt und thematische Schwerpunkte

Das Warten auf günstiges Wetter und einen Tag ohne schlechtes Omen bilden den Rahmen. Ein berittener Krieger taucht vor Yoritomos Herberge auf, offenbar ohne Gefolge, und wird von Yoritomos Gefolge misstrauisch beobachtet, weil man sich über seine Motive im Unklaren ist. Er wird zunächst hart angegangen mit dem Vorwurf, er habe es am gebührenden Respekt mangeln lassen. Schließlich glätten sich die Wogen, nachdem sich herausstellt, dass der Krieger eigentlich die Gelegenheit hatte nutzen wollen, bei Yoritomo persönlich in eigener Sache vorzusprechen. Diese Bitte wird ihm schließlich von Yoritomo jovial gewährt.

188

3.

Detlev Taranczewski

Textstelle 六日丙辰。甚雨。凌雨雖可有御入洛。依道虚并御衰日延引。令逗留野路宿給。 今日。騎馬勇士在門前無禮也。可令下馬之由。景時加下知之処。答申未習其礼 旨。仍可召進其身之由。被仰義盛。義盛窺出于門外。件男已退去之程也。義盛 挟引目追射之。則落馬。于時義盛郎従等搦取之。問子細之処。大舎人允藤原泰 頼也。承鎌倉殿御上洛事。為御迎参向。且為愁申伯耆国長田庄得替事也。全不 知御旅館之由陳謝之。非指雑怠。早相宥可被召具之由云云。 »[1. Jahr Kenkyu¯, 11. Monat] 6. Tag, 53. Tag des 60er-Zyklus. Heftiger Regen. [Yoritomo] gedachte eigentlich trotz des Regens in der Hauptstadt Einzug (2.4.1) zu halten, weil [der heutige Tag] aber ein für den Aufbruch zu meidender war, zudem ohnehin prekär wegen einer ungünstigen Konstellation der Kalenderzyklen mit Yoritomos Geburtsdaten (2.4.2), wurde dies verschoben und er verweilte in der Reisestation Noji (2.4.3). Heute erschien ein wackerer Krieger zu Pferd vor dem Tor [der Reisestation]; das war ein Verstoß gegen die Etikette (2.4.4), deshalb befahl ihm [Kajiwara] Kagetoki (2.4.5), er möge vom Pferd steigen, da erwiderte dieser, von einer solchen Etikette wisse er nicht, darauf wies [Yoritomo seinen Gefolgsmann Wada] Yoshimori (2.4.6) an, er solle jenen zu ihm herbringen. Yoshimori schritt durch das Tor hinaus, um nach dem Rechten zu sehen, da war jener schon im Begriff sich wieder zurückzuziehen. Yoshimori eilte ihm mit eingelegtem [Pfeil] hinterher und schoss auf ihn. [Der fremde Krieger] fiel vom Pferd zu Boden, und einer von Yoshimoris Knappen nahm ihn fest. Man befragte ihn über den Grund seines Tuns, da [stellte sich heraus, dass es Fujiwara no] Yasuyori (2.4.7) war, der am hauptstädtischen Hof einen Posten beim Wach- und Ordnungsdienst innehatte. Er habe, so sagte er, davon gehört, dass sich Yoritomo auf dem Weg in die Hauptstadt befinde und habe ihm seine Aufwartung (2.4.8) machen wollen. Zugleich wolle er Klage darüber vorbringen, dass er [seines Amts und Einkommens] im Nagata no sho¯ (einer höfischen Grundherrschaft in der Provinz Ho¯ki) (2.4.9) verlustig gegangen sei. Dass [Yoritomo] hier Herberge genommen habe, davon habe er überhaupt nicht gewusst und leiste darum Abbitte. [Yoritomo meinte,] dies sei ja kein schlimmer Verstoß [gegen die Etikette], man solle ihn augenblicklich mit Milde behandeln und mit ihm hereinkommen.« (Übers. D. Taranczewski)11

11 Bisher sind nur einige Passagen des ›Azuma kagami‹ in europäische Sprachen übersetzt; ich habe für meine Übersetzung folgende japanischen Werke herangezogen: Eine Übersetzung ins moderne Japanisch von Gomi Fumihiko/Hongo¯ Kazuto (edd.), Seii taisho¯gun [Großer Feldherr zur Züchtigung der Nordostbarbaren] (Gendaigoyaku Azuma kagami [Azuma kagami, übers. ins moderne Japanisch] 5), Tokyo 2009 – sie enthält auch etliche hilfreiche sachliche Hinweise – sowie eine Übertragung des sinojapanischen Ausgangstextes in die oben erläuterte Art von ›Zwischenübersetzung‹, in den im Wesentlichen in klassischer Schriftsprache gehaltenen yomikudashi-bun, von Kishi Sho¯zo¯ (ed.), Zen’yaku Azuma kagami [Übertragung des Azuma kagami in die klassische japanische Schriftsprache / yomikudashibun-Stil], 6 Bde., Bd. 2, Tokyo 1976.

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

4.

Kommentar

4.1

Einzug in der Hauptstadt

189

Yoritomo war gegen Ende des Jahres 1190 mit einem Geleit von mehr als 1000 Kriegern und deren Gefolge auf ›Hoffahrt‹ von Kamakura nach Kyoto zur Audienz bei dem abgedankten Kaiser Goshirakawa, dem eigentlichen Machthaber am hauptstädtischen Hof, sowie bei dem noch kindlichen Kaiser Gotoba (1180– 1239, r. 1183–1198). Dabei wurden Yoritomo zwei hohe höfische Ämter übertragen, und zwar sowohl im engeren Regierungsapparat wie auch bei der Hofund Leibgarde. Diese quittierte er jedoch wenige Tage später wieder, und zwar noch vor seiner Rückkehr nach Kamakura im Folgemonat, da sie zwar sehr hochrangig waren, aber – so eine gängige Interpretation – nicht seinen Vorstellungen entsprachen; ausschlaggebend aber war wohl die Tatsache, dass diese Ämter mit Residenzpflicht in der Hauptstadt verbunden waren.12 Einen Tag nach dem hier geschilderten Aufenthalt in der Reisestation Noji hielt Yoritomo dann hoch zu Ross Einzug in die Hauptstadt. Eine große Menschenmenge säumte den Weg des imposanten Zugs durch die Hauptstadt. Unter den Zuschauern waren auch zahlreiche Mitglieder des Hofadels, sogar der abgedankte Kaiser Goshirakawa beobachtete wie viele Hofadlige den Zug von seinem Ochsenkarren aus, dem standesgemäßen Fortbewegungsmittel, dabei hinter Vorhängen den Blicken der Öffentlichkeit entzogen.13 Gerade in der Frage der Sichtbarkeit lässt sich hier ein bezeichnender Unterschied zwischen der höfischen und der militäraristokratischen öffentlichen Selbstinszenierung von Herrschern ausmachen.

4.2

Zu meidende Tage

Für den 6., 12., 18., 24. und den letzten (meist 30.) Tag eines Monats galt, dass man an diesen Tagen nicht aus dem Haus gehen oder zu einer Reise aufbrechen sollte. Sie markierten also eine Art Ruhetag in einer Arbeitswoche, in dieser Striktheit gemahnen sie beinahe an den Sabbat. Der zweite hier genannte Typus von Tabutag beruht auf Kalenderspekulation, die indes jeweils nur für eine be12 Zum Komplex Schogun/Schogunat und Ämter siehe Kondo¯ Shigekazu, Kamakura bakufu to cho¯tei [Kamakura-Schogunat und Hof in Kyoto], Tokyo 2016, v. a. 11–28; zusammenfassend außerdem Hosokawa Shigeo (ed.), Kamakura sho¯gun, shikken, rensho retsuden [Eine Kollektivbiographie der Schogune, der Oberhäupter der Schogunatsregierung und ihrer Stellvertreter in Kamakura], Tokyo 2015, insbes. Saisho sho¯gun Minamoto no Yoritomo, 12– 18. 13 Schilderung im Eintrag für den folgenden Tag – Azuma kagami, Kenkyu¯ 1/11/07 (1190).

190

Detlev Taranczewski

stimmte Person gilt. Vorstellungen von für bestimmte Handlungen günstige oder ungünstige Orte, Richtungen und Zeiten waren (und sind vielfach noch in der Neuzeit) im gesamten sinozentrischen Kulturkreis verbreitet, auch buddhistische Elemente finden sich. Sie wurden bei Hof strikt beachtet, bemerkenswert ist aber, dass sich auch Krieger daran orientierten, höfische Standards also hier beachtet wurden.

4.3

Die Reisestation Noji

Dies ist eine der vom alten Zentralstaat in der Entfernung von meist einer Tagesreise an den großen Überlandstraßen eingerichteten Reisestationen; sie ist im Gebiet der heutigen Stadt Kusatsu unweit des Biwasees gelegen. Die Entfernung zur Hauptstadt beträgt ca. 25 km, dies bedeutete je nach Beweglichkeit der Reisenden ein bis zwei Tagereisen. Für eine solch umfangreiche Reisegesellschaft war diese Station selbstverständlich nicht konzipiert, deshalb wird ein Großteil des Zuges in der Umgebung biwakiert haben.

4.4

Etikette

Wie schon in der Passage des ›Ho¯jo¯ki‹ gesehen, spielt das Pferd eine besondere Rolle in einer Gesellschaft, in der sich eine wachsende Dominanz der Krieger abzeichnet. Wie man das Verhalten um das Pferd in die Reglements von Etikette einbezieht, ist hier die Frage. Wenn man davon ausgeht, dass der Etikette wesentlich die Aufgabe zukommt, den zwischenmenschlichen Umgang in einer Gesellschaft, insbesondere aber innerhalb ihrer Eliten, im alltäglichen wie im zeremoniellen Bereich zu gestalten und in bestimmte Bahnen zu lenken, um eigene Position und Absichten zu signalisieren, wird die Bedeutung dieses scheinbar banalen Vorgangs erkennbar.14 Etikette wirkt sich langfristig auf herrschende Normen und Werte aus, sie ist auch ein probates Mittel soziopolitischer Integration, deshalb wird Etikette (rai/rei 禮) wohl vor allem im konfuzianisch geprägten sinozentrischen Kulturkreis mit seinen starken Traditionen von politischem, ökonomischem und kulturellem Zentralismus explizit und detailliert thematisiert. Die Etikette bildet ein maßgebliches Feld von »Institutionalisierung« im Sinne von Berger/Luckmann.15 Von Interesse ist nun, wie in 14 Vgl. hierzu etwa Elias 1983, 153–156. 15 Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, übers. v. Monika Plessner, mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmut Plessner, 23. Aufl., Frankfurt a. Main 2013 (amer. Originalausgabe Garden City, NY 1966).

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

191

dieser Zeit eines tiefgreifenden sozialen Wandels mit zunehmenden zentrifugalen Tendenzen offenbar unterschiedliche Normen- und Wertesysteme aufeinandertreffen, einander ablösen oder sich modifizierend miteinander kompatibel werden. Auch in diesem Prozess werden, zumal unter den Vorzeichen der Multipolarisierung, vielfach sozial und regional abgestufte Formen von Etikette ausgehandelt. So zeichnet sich hier ab, dass sich im Einflussbereich des Hofes – und danach auch des partiell höfische Reglements und Usancen adaptierenden Schogunats – eine Etikettenregel durchsetzt, der zufolge Berittene zum Zeichen der Ehrerbietung vom Pferd absteigen. Auch an anderen Stellen des ›Azuma kagami‹ werden Szenen mit – meist allerdings weniger rabiat ausgeführten – Konflikten über Fragen der Etikette von Berittenen beschrieben. Der berittene Fremde in der vorgestellten Passage stellte zunächst in Abrede, dass es in seiner Lebenswelt überhaupt dergleichen Usus gebe, um dann angesichts der sich zuspitzenden Lage einen Rückzieher zu machen und zu behaupten, er habe nicht ahnen können, wer sich hier aufhalte. Das war vermutlich eine Ausflucht, denn ein so großes Aufgebot von Kriegern und Gefolge in solch einer Gegend wie der Reisestation hätte auch den arglosesten Provinzler (der er überdies nicht in seiner gesamten Existenz war, wie seine Inhaberschaft eines – wenngleich nicht sehr bedeutenden – Amts am Hof vermuten lässt) zu Schlussfolgerungen anregen müssen. Auf jeden Fall zeigte sich Yoritomo großzügiger und jovialer als seine beflissenen Vasallen und gewährte ihm das erwünschte persönliche Treffen. Offenbar ließ die Etikette im Bereich der Krieger Raum für ganz persönliche Handlungsweisen, ohne dass der Nachgebende einen Prestigeverlust hätte fürchten müssen, eher erscheint das Gegenteil wahrscheinlich.

4.5

Kajiwara Kagetoki (?–1200)

Er war ein lokaler Grundherr im Bezirk Kajiwara in der Provinz Sagami (Ostjapan, nahe Kamakura, in der Kanto¯-Region), außerdem ein Krieger, der den Ruf hatte, in der Literatur, v. a. in der waka-Dichtung, nicht weniger bewandert zu sein als im Waffenhandwerk, weshalb er auch in höfischen Kreisen der dortigen Etikette gemäß zu verkehren verstand. Außerdem war er berühmt-berüchtigt für seine Redegewandtheit und scharfe Zunge. Schon seit 1180 war er Vasall Yoritomos und bekleidete im Lauf der Konsolidierung von Yoritomos Herrschaft wichtige Posten im Schogunat.

192 4.6

Detlev Taranczewski

Wada Yoshimori (1147–1213)

Er war ebenfalls lokaler Grundherr in Sagami, Ostjapan, nahe Kamakura, Offizier der kaiserlichen Wachgarde, vertrauter Gefolgsmann von Yoritomo seit der Erhebung gegen das Regime von Taira no Kiyomori 1180. Auch er bekleidete in der Folge wichtige Posten in der Schogunatsverwaltung.

4.7

Fujiwara no Yasuyori

Zu seiner Person ist nichts Genaues bekannt. Sicher ist nur, dass er der lokalen Elite seiner Heimatprovinz Ho¯ki zuzurechnen ist. Die wichtigen lokalen Posten in der Verwaltung von sho¯en-Grundherrschaften waren häufig mit Vertretern dieser Kreise besetzt, die zugleich Ämter in der Provinzverwaltung innehatten. Viele von ihnen wurden unter die Vasallen von Minamoto no Yoritomo aufgenommen. Yoritomo war nach seinem Sieg 1185 das Recht zur Einsetzung von Landvorstehern ( jito¯ 地頭) auf Provinzland und in sho¯en-Grundherrschaften verliehen worden. Seine Herrschaft über die Ostprovinzen war bereits recht stabil. Die Provinz Ho¯ki liegt jedoch im Nordwesten der Hauptstadt Kyo¯to, also weitab vom Kerngebiet seiner Herrschaft im östlichen Landesteil, daher erhebt sich die interessante Frage, wie weit seine Kompetenzen in dieser Region damals reichten.

4.8

Aufwartung machen

In welcher Eigenschaft Fujiwara no Yasuyori hier Minamoto no Yoritomo gegenübertreten konnte, ist nicht klar. Nicht ganz auszuschließen wäre, dass er darauf spekuliert hat, über den Eintritt in den Vasallenstatus die von Yoritomo in einem solchen Fall stets verliehenen Besitzgarantien für sein Besitztum (shoryo¯ ando 所領安堵) zu erlangen. Damit hätte Yasunori auch sein Ziel erreicht; denn es war probates Verfahren, in dieser Form die Rechte lokaler Grundherren wie Yasunori, deren Besitz in den Rahmen höfischer sho¯en-Grundherrschaften mit ihrer komplexen Staffelung von Rechten verschiedener Personen und Institutionen integriert war, in Landvorsteherämter ( jito¯-shiki 地頭職) umzuwandeln, also der Herrschaft des Schoguns als Garanten seiner Rechte zu unterstellen. Ein besonders interessanter Aspekt dieser Schilderung ist jedoch, dass ein Krieger, der nicht zur engeren ingroup Yoritomos gehörte, direkten persönlichen Zugang zu ihm fand. Dies ist wohl Ausdruck dessen, dass die persönlich-charismatische Phase seiner Herrschaft damals noch andauerte. Es sei noch angemerkt, dass eine Audienz bei Yoritomo zu den konstituierenden Elementen für

Der höfische literarische Essay ›Ho¯jo¯ki‹ und die Kriegerannalen ›Azuma kagami‹

193

das Eingehen eines Gefolgschaftsverhältnisses gehörte, allerdings schweigt die Quelle zu diesem Aspekt.

4.9

Nagata no sho¯

Sie war eine Grundherrschaft des Hossho¯ji, eines 1077 von Kaiser Shirakawa (1052–1129, r. 1072–1086) gegründeten Votivtempels (goganji 御願寺), wichtigster der rikusho¯ji genannten Gruppe kaiserlicher Votivtempel, die meist als Sitz von Kaisern nach ihrer Abdankung dienten. Solche Tempel waren mit Besitz in Gestalt zahlreicher Grundherrschaften und Pfründenprovinzen (chigyo¯koku 知行国) für ihren Bau und Unterhalt ausgestattet. Der genaue Inhalt des Konflikts bleibt unklar, zuständiges Gericht wäre traditionell eigentlich das des abgedankten Kaisers gewesen, aber die Einbeziehung Yoritomos – in welcher Form auch immer – wurde offenbar als erfolgversprechender angesehen.

5.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt

Wie sich das ›Ho¯jo¯ki‹ als Repräsentation der Seite lesen lässt, die in der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen alter und neuer Elite die unterlegene war, so kann die Chronik ›Azuma kagami‹ als Selbstdarstellung der Sieger in zweifacher Hinsicht gelten. Wurde sie doch nicht nur von Vertretern der Kriegerelite verfasst, sondern dazu noch von der Gruppierung um die Sippe der Ho¯jo¯, die nach dem Tod des ersten Schoguns im Jahre 1199 Schritt für Schritt die Hegemonie in der Kriegerregierung errungen hatte. Dies ist bei der Interpretation des Textes natürlich zu berücksichtigen. Dass nun eine solch trivial anmutende Szene wie die hier angeführte eigens in die Chronik aufgenommen wurde, verdient besonderes Augenmerk. Pferde, die ja auch schon in der ersten Quelle Diskursgegenstand waren, dienten den Kriegern nicht nur als Mittel im Kampf, sondern auch in der Kommunikation, und waren zudem Element ihrer Selbstdarstellung. Die Bedeutung des Pferdes in der Gesellschaft war parallel mit der Bedeutung der Krieger gestiegen, und in der Folge auch ihre Rolle in Habitus und Etikette. Diese Textstelle zeigt eine interessante Momentaufnahme im langfristigen Prozess der ›Verhöflichung‹ der Kriegerelite, in dem sie, in steter Auseinandersetzung mit überkommenen höfischen Vorgaben, ein eigenes System von Verhaltensweisen herausbildete. Eine weitere in diesem Sinne bedeutsame Episode ist das ›happy end‹, als es zur persönlichen Begegnung des fremden Kriegers mit Yoritomo kommt. Eine solche Form der direkten Begegnung mit einem Herrscher wäre im höfischen Kontext schlechterdings undenkbar. Zwei Elemente sind somit als weiteres für

194

Detlev Taranczewski

unsere Untersuchung relevantes Ergebnis festzuhalten: Zum einen ist das die hier dargestellte persönliche Zugänglichkeit des Krieger-Herrschers, zum andern dessen Sichtbarkeit, die in dem oben (im Kommentar 2.4.1) nur kurz erwähnten Einzug Yoritomos in Kyoto zum Ausdruck kommt und die in deutlichen Kontrast zur quasi verdeckten Teilnahme der höfischen Regierungsspitzen gestellt wird. Vielleicht deutet sich hierin zugleich eine neue Form von Öffentlichkeit an. All dies lädt zu umfassenderen Untersuchungen über die Selbstinszenierung der Krieger ein. Verwoben mit den komplexen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie wird hier auch deutlich, dass personale, charismatische Elemente auf dieser frühen Stufe der Entwicklung der Kriegerherrschaft die transpersonalen überwiegen.

Textbeispiel 3: ›Azuma kagami‹ (吾妻鏡, »Spiegel des Ostens«)16 1.

Der Text

1.1

Historische Bezüge

Der Tag, dessen Ereignisse hier geschildert werden, ist der 5. Tag des 8. Monats im 3. Jahr der Ära Kenkyu¯; das entspricht in etwa dem Jahr 1192. Am 12. Tag des 7. Monats war Minamoto no Yoritomo durch eine Verfügung des Kaisers zum Schogun ernannt worden. Die Ernennungsurkunde wurde von einem kaiserlichen Boten am 24. Tag des 7. Monats nach Kamakura, Residenzstadt des Schoguns, überbracht. Am 5. Tag des 8. Monats fand eine Zeremonie statt, die diese Ernennung in Kamakura institutionell umsetzen sollte. Ein wichtiges Element des Regierungshandelns war die Verleihung von Rechten und Privilegien in Form von Ämtern an die Vasallen. Dies ist auch Gegenstand dieses Eintrags im ›Azuma kagami‹, nämlich die Ernennung von Chiba Tsunetane, einem der engsten und ältesten Vasallen Yoritomos, in Landvorsteherämter an verschiedenen Orten.

2.

Inhalt und thematische Schwerpunkte

Geschildert werden die Folgen, die sich für das Verhältnis zwischen Minamoto no Yoritomo und seinen Vasallen durch die zunehmende Übernahme institutioneller Formen aus der höfischen Welt erkennen lassen. Die Verleihung des

16 Zur hier verwendeten Textausgabe siehe Anm. 9.

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Landvorsteheramts durch den Schogun an seine Vasallen war die wichtigste Form von ›Lehen‹, die der Schogun an seine Vasallen zu vergeben hatte. Als Vasallen kamen prinzipiell nur Mitglieder von Kriegerfamilien in Frage. Das Vasallenverhältnis selbst wurde durch eine zeremonielle Audienz beim Schogun besiegelt, die Verleihung eines Lehens – meist zunächst einfach in Form einer Anerkennung der bisherigen Besitzrechte, die zum Großteil auf Landesausbau durch die Krieger basierten – bildete das materielle Substrat dieses Verhältnisses. Die Verleihungsurkunde hatte in der Regel die Form eines Ernennungserlasses, die zunächst von Yoritomo allein eigenhändig unterzeichnet worden war. Dies war in der ›Gründerzeit‹ seiner Herrschaft üblich, also vor seiner Stabilisierung nach dem Sieg über das Haus Taira 1185 und über die Mutsu-Fujiwara 1189 sowie der damit verbundenen Beförderung Yoritomos in Amt und Rang. Nach dieser Zeit verwandte er mit wenigen Ausnahmen, etwa auf ausdrücklichen Wunsch eines altgedienten vertrauten Vasallen, eine Urkundenform, die nicht mehr von ihm selbst, sondern lediglich von den Mitgliedern der Kanzlei seines Regierungsapparats unterzeichnet wurde. In dieser fortschreitenden Formalisierung des Herrschaftshandelns kam auch ein Zurücktreten des ›Anführers der Krieger‹ und ›Herrn von Kamakura‹ hinter seine Position als Schogun zum Ausdruck; sein persönliches Charisma und der primär persönliche Charakter des Verhältnisses zwischen Herr und Vasall wich zunehmend überpersönlichen – oder eben transpersonalen – Elementen.17 Dass dies auch von seinen Vasallen so empfunden wurde, zeigen mehrere Stellen im ›Azuma kagami‹, so auch die unten angeführte. Zwar begründete der Vasall Chiba Tsunetane seine Opposition gegen diesen Wandel damit, dass Yoritomos eigenhändige Unterschrift ein größeres Gewicht besäße, und zwar auch in ferner Zukunft, jedoch gewinnt man bei der Heftigkeit seiner Reaktion beinahe den Eindruck, Tsunetane hätte diese Neuerung als Kränkung erfahren, weil Yoritomo als Person damit augenfällige Distanz zu seinem Vasallen herstellt, sich ihm entzieht, sich ›unsichtbar‹ macht.

3.

Textstelle 八月小。五日乙巳。令補将軍給之後、今日政所始。則渡御。 家司 別当 前因幡守中原朝臣広元 前下総守源朝臣邦業 令 民部少丞藤原朝臣行政 案主 藤井俊長

17 Zu dem Problem, das mit dem Wandel von Yoritomos (und seiner Nachfolger) Herrschaft von einer stark personal akzentuierten hin zu einer transpersonalen verbunden ist, siehe auch ¯ yama Kyo¯hei, Kamakura bakufu [Das Kamakura-Schogunat] (Nihon no rekishi 9), Tokyo O 1974, v. a. 170–176, ›Yoritomo jo¯raku [Yoritomo begibt sich in die Hauptstadt]‹.

196

Detlev Taranczewski

知家事 中原光家 大夫属入道善信。筑後権守俊兼。民部丞盛時。藤判官代邦通。前隼人佑康時。 前豊前介実俊。前右京進仲業等候其座。千葉介常胤先給御下文。而御上階以前 者。被載御判於下文訖。被始置政所之後者。被召返之。被成政所下文之処。常 胤頗確執。謂政所下文者。家司等署名也。難備後鑑。於常胤分者。別被副置御 判。可為子孫末代亀鏡之由申請之。仍如所望云云。 (被載御判) 下 下総国住人常胤 可早領掌相伝所領新給所所地頭職事 右。去治承比。平家擅世者。忽緒 王化。剰図逆節。爰欲追討件賊徒。運籌策 之処。常胤奉仰朝威。参向最前之後。云合戦之功績。云奉公之忠節。勝傍輩致 勤厚。仍相伝所領。又依軍賞充給所所等地頭職。所成給政所下文也。任其状。 至于子孫。不可有相違之状如件。 建久三年八月五日 »[3. Jahr Kenkyu¯, 8. Monat] 5. Tag, 42. Tag des 60er-Zyklus. Nachdem [Minamoto no Yoritomo] nun zum Schogun ernannt war, wurde heute erstmals [in seinem neuen Amt] die feierliche Eröffnungszeremonie seiner Haushofmeisterei (3.4.1) vorgenommen, und so begab sich [Yoritomo] dorthin. Die Kanzlei (3.4.1) [umfasste folgende Personen]: Leiter: Der ehemalige Gouverneur der Provinz Inaba, Nakahara no ason Hiromoto (3.4.2) Der ehemalige Gouverneur der Provinz Shimo¯sa, Minamoto no ason Kuninari (3.4.3) Stellvertretender Leiter: Untergeschäftsführer im Bevölkerungsministerium, Fujiwara no ason Yukimasa Archivleiter: Fujii Toshinaga Geschäftsführer: Nakahara Mitsuie [Sieben enge Vasallen des Schoguns, die hier namentlich aufgeführt werden,] durften der Zeremonie beiwohnen. Chiba no suke Tsunetane (3.4.4) empfing als erster einen Erlass [der Haushofmeisterei des Schoguns]. Nun verhielt es sich so, dass [Yoritomo] vor seinem Aufstieg in [den dritten] Hofrang seine Erlasse mit Namenskürzel unterschrieben hatte. Als dann [infolge dieses Aufstiegs] eine Haushofmeisterei (höheren Rangs = mandokoro 政所) eingerichtet worden war, wurden diese [Erlasse, die mit seinem Namenszeichen versehen waren,] zurückgefordert und an ihrer Stelle ›Erlasse der Haushofmeisterei‹ ausgefertigt. Dagegen hatte Tsunetane hartnäckig Einspruch erhoben mit der Begründung, solche ›Erlasse der Haushofmeisterei‹ trügen [lediglich] die Unterschrift der Kanzlisten, als Zeugnis für spätere Zeiten (3.4.5) könnten sie daher schwerlich dienen. Er hatte sich erbeten, dass in seiner Ausfertigung der Urkunde [Yoritomos] Unterschrift eigens beigefügt wäre, zum Zeugnis für seine Nachfahren (3.4.5) und zukünftige Generationen. Und so wurde seiner Bitte entsprechend verfahren. [Diese Urkunde sah so aus:] * an dieser Stelle [Yoritomos] Unterschriftskürzel *

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Ein Erlass ergeht an ||18 Chiba Tsunetane, Bewohner der Provinz Shimo¯sa (3.4.6) mit dem Betreff, dass er unverzüglich das Landvorsteheramt (3.4.7) in seinem ererbten Besitztum und in seinen aufgrund von Verdiensten neu erworbenen Ländereien ausüben möge. Bezüglich des Voranstehenden: In der Vergangenheit, in den Jahren der Ära Jisho¯ [1177–1181], hat das Haus Taira die Welt mit seiner Willkürherrschaft überzogen, sich gegen die königliche Tugendherrschaft respektlos verhalten und obendrein eine Rebellion gegen sie im Schilde geführt. In dieser Lage reifte der Entschluss, diese Aufrührer zu verfolgen, und Pläne wurden gemacht [dies in die Tat umzusetzen]. Da stieß Tsunetane als allererster [zur Gefolgschaft Yoritomos, der dieses Ziel verfolgte,] und getragen von demütiger Ehrerbietung vor der königlichen Autorität tat er sich vor allen Gleichgesinnten in dem redlichen Bemühen um Erfolge in der Schlacht wie auch um Treue im Dienst hervor. Deshalb erhält er hiermit einen Erlass der Haushofmeisterei bezüglich des Landvorsteheramts in seinem ererbten Besitz sowie in den Gebieten, die er zum Lohn für seine Kriegsdienste verliehen bekommen hat. [Vom Inhalt] dieses Schreibens soll es keine Abweichung geben bis zu Kindern und Kindeskindern. Also lautet das Schreiben. Im dritten Jahr der Ära Kenkyu¯, 8. Monat, 5. Tag‹» (Übers. D. Taranczewski)

4.

Kommentar

4.1

Haushofmeisterei, Kanzlei

Mandokoro (政所) lautet die allgemeine Bezeichnung für die Haushofmeisterei, eine Art Patrimonialverwaltung eines Mitglieds des Hofadels. Sie wurde aus staatlichen Mitteln eingerichtet, sobald ein bestimmtes Rang- und Amtsniveau erreicht war; i. d. Regel war dies verbunden mit der Verleihung des 3. Hofrangs, der den Weg für hohe Regierungsämter eröffnete. Seit wann genau dies bei Yoritomo der Fall war, ist zu klären. Faktisch handelt es sich bei der Institution des mandokoro um eine neue, höherrangige Bezeichnung für die zentrale Regierungsbehörde des Schoguns in Kamakura, die den Bereich eines bloßen patrimonialen Apparats schon längst verlassen hatte. Wie häufig ist es auch hier

18 Im Original ist an dieser Stelle ein Zwischenraum gelassen, der den Aussteller vom Empfänger separiert. Der Aussteller ist hier zwar nicht namentlich genannt, aber durch das Wort »Erlass« wird signalisiert, dass es sich dabei um den Schogun handelt. Diese graphische Eigentümlichkeit, zwischen Aussteller und Empfänger einen Zwischenraum einzufügen, geht auf die alten zentralstaatlichen Vorschriften für die formale Gestaltung amtlichen Schrifttums und den von dort abgeleiteten höfischen Usus zurück, einen starken, quasi dichotomischen Statusunterschied zwischen zwei in einer Urkunde oder einem offiziösen Text genannten Personen durch Einfügung eines Raums zwischen beiden Namen zu signalisieren, wobei dem Statusüberlegenen die graphisch höhere Position vorbehalten zu sein pflegt.

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irreführend, Begriffe nur etymologisch zu analysieren, eine genaue Betrachtung der wirklichen Funktion in einem konkreten historischen Kontext führt in jedem Fall eher zur Klarheit über den Inhalt. Keishi (家司) ist der Terminus für eine Haushofmeisterei, wie sie den Regeln des zentralistischen ritsuryo¯-Zentralstaates, der seit dem 7. Jahrhundert von chinesischen Vorbildern inspiriert errichtet wurde, entspricht. Hier sind konkret die Mitglieder der Kanzlei des Schoguns gemeint, deren Aufgabe hier in der Ausstellung und Unterzeichnung von Urkunden bestand. Zugleich gehörten sie dem leitenden Mitarbeiterstab der Schogunatsregierung an. Von ihnen haben ›Archivleiter‹ und ›Geschäftsführer‹ zwar die niedrigste Stellung inne, sind aber als Inhaber einschlägigen Fachwissens mit der praktischen Durchführung der Geschäfte dieser Urkundenkanzlei betraut. Die höherrangigen Mitglieder der Kanzlei sind mit ihren höfischen Amtstiteln aufgeführt. Auch das zeigt ebenso wie die Anordnung der Unterschriften, die weitgehend den klassischen Regeln der ritsuryo¯ (律令) (Gesetze und Verordnungen, im 7. und 8. Jahrhundert kodifiziert, inspiriert von Vorbildern von den Herrscherhöfen auf dem chinesischen Subkontinent) für offizielle Dokumente entspricht, wie weit sich einzelne Regierungseinrichtungen des Schogunats noch formal an Regelungen des Hofs in Kyoto orientierten, unbeschadet der nunmehr eingetretenen Unterschiede in der realen geschäftlichen Funktion.19

4.2

Nakahara no Hiromoto

¯ e no Hiromoto (1148–1225) – Er war zunächst hofadliger Ursprünglicher Name O Funktionsträger im hauptstädtischen Regierungsapparat; wegen seines Wissens und seiner wichtigen Verbindungen am Hof in Kyoto wurde er von Yoritomo nach Kamakura gerufen, wo er als Leiter der entstehenden Kriegerregierung und Gestalter ihrer Institutionen wirkte.

4.3

Minamoto no Kuninari (Lebensdaten unbekannt)

Er diente zunächst als Gardekrieger beim abgedankten Kaiser, gehörte dann zum engeren Beraterstab Yoritomos und diente v. a. als Vermittler zwischen dem Hof in Kyoto und Kamakura. 19 Zu dem Regelwerk des vormodernen Verwaltungsschrifttums und seiner Funktion bietet das einführende Werk von Sato¯ Shin’ichi, Shinpan Komonjogaku nyu¯mon [Einführung in die Diplomatik. Neuauflage], Tokyo 1997, hier v. a. 120–133, ›Kamakura bakufu no kudashibumi [Erlasse des Kamakura–Schogunats]‹, nach wie vor den besten Überblick.

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4.4

199

Chiba Tsunetane (1118–1201)

Er war einer der Gefolgsleute der ersten Stunde von Yoritomo und bekleidete wichtige Posten im Schogunat.

4.5

Zeugnis für spätere Zeiten … Zeugnis für seine Nachfahren

Das Wort, das hier beide Male mit »Zeugnis« übersetzt wurde, bedeutet auch »Muster« oder »Vorbild«. Damit ist wohl ein ethischer Aspekt von Tsunetanes Handeln angesprochen, den er von Yoritomo mit seiner Unterschrift persönlich bestätigt zu erhalten wünschte. In der von Yoritomo ausgestellten Urkunde werden zwar obige beiden Wendungen nicht aufgegriffen, eine Hervorhebung der vorbildlichen politisch-ethischen Grundlegung seines Handelns wird aber – neben dem Hinweis auf seine militärischen Verdienste – explizit vorgenommen, wunschgemäß nunmehr auch persönlich bestätigt und als vorbildliche Handlungsnorm für seine Nachfahren hervorgehoben durch Yoritomos Unterschrift. Dies Beispiel zeigt, dass auch im pragmatischen Schrifttum ethische Normen bestätigt oder neue formuliert werden. Es verdeutlicht zudem, dass sich die Kriegerregierung und die mit ihr als Vasallen des Schoguns verbundenen Krieger durchaus in der Rolle von Verteidigern legitimer königlicher Herrschaft verstanden und dies als argumentative Ressource einzusetzen wussten.

4.6

Shimo¯sa

Shimo¯sa ist der nördliche Teil der heutigen Präfektur Chiba, einer Halbinsel im Südosten von Tokyo. »Bewohner« ( ju¯nin 住人) hat auch eine ständische Implikation im Sinne einer lokalen Elite.

4.7

Landvorsteheramt (jito¯-shiki 地頭職)

Dieses ›Amt‹ schloss eine breite Palette von Rechten und Verpflichtungen ein, deren wichtigste die lokale Gerichtsbarkeit einschließlich polizeilicher Aufgaben, die Vorsorge für einen gedeihlichen Ackerbau sowie das Eintreiben staatlicher Steuern, grundherrschaftlicher Abgaben und die Organisierung von Frondiensten, dazu – auf der Rechteseite – bestimmte Einkünfte des Amtsinhabers waren. Die Amtsträger wurden sowohl auf Land unter der Kontrolle der Provinzverwaltung (kokugaryo¯ 国衙領) als auch auf ›metropolitanen‹ sho¯enGrundherrschaften im Besitz von Kaiserhaus, geistlichen Institutionen und

200

Detlev Taranczewski

Hofadel eingesetzt. Für die Krieger diente das Amt als rechtlicher Rahmen zur Absicherung ihrer lokal-grundherrlichen Rechte, die meist im Gemenge mit anderen Rechten oder in hierarchisch stratifizierter Form existierten. Für den Schogun war dies das wichtigste Mittel, seine Vasallen mit Besitz, zunächst auf Lebenszeit, bald aber auch erblich, auszustatten.

5.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt

Zunächst ist dies eine Quelle, in der ein Wandel in der Herrschaft des Schoguns zutage tritt. Personale Elemente der Kriegerherrschaft treten nunmehr in der Tendenz in den Hintergrund zugunsten transpersonaler, charismatische werden mit bürokratischen Formen durchsetzt. In der Form der vorgestellten Urkunde mischt sich aus den ritsuryo¯-Regeln Überkommenes mit neuen Formversuchen, dabei stehen die alten Formen für das transpersonale Element, das zumindest zeitweilig die neuen Formen wieder zurücknimmt. Die Auseinandersetzungen unter den Kriegern um eine angemessene Form der Verschriftlichung von Rechtsakten lassen sich auch lesen als Motor im Prozess der Fortentwicklung der Peripherie hin zu einem neuen, zunehmend autonomen Zentrum, ohne dass dabei aber das bisherige Zentrum völlig abgelöst würde. Neue, komplexere Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie entwickeln sich, eine Tendenz zum späteren Multizentrismus lässt sich hier schon ablesen. Bemerkenswert ist der explizite Rekurs auf die königliche Herrschaft. Ihre Verteidigung wird als ethisches Motiv für die Entscheidung eines Kriegers, sich Yoritomo anzuschließen, dargelegt. Auch für die Kriegerregierung selbst wird dieses Ziel als übergeordnete Handlungsmaxime hervorgehoben. Dies geschieht nicht nur in dem Rahmentext zu dieser Ernennungsurkunde, sondern auch in der Urkunde selbst. Das Original dieser Urkunde ist nicht überliefert, sie ist – unter genauer Wiedergabe ihrer formalen Elemente – lediglich inseriert in die Chronik ›Azuma kagami‹ erhalten. Von daher lässt sich zumindest aufzeigen, dass das Schogunat und sein Umfeld diese Sicht auf das Königtum im späten 13. Jahrhundert, also fast ein Jahrhundert post festum, propagiert. Eine weitere kritische Analyse des Kontextes wäre hier lohnend. Trotz dieser starken Bezüge auf das Königtum in Form und Ethos lassen sich die Entwicklungen hin zu neuen Bezugsrahmen und Wertmaßstäben des Handelns ebenfalls deutlich ablesen. Es wird hier dokumentiert, dass das auf das Königtum fixierte Herrschaftssystem durch eines, das auf komplexeren Grundlagen basiert, abgelöst wird. Es findet eine Überlagerung, wenngleich nicht vollständige Ersetzung, dieses Systems statt durch eines, das wesentlich auf Gefolgschaft, ergänzt durch Bündnisse, aufbaut, und zwar nicht nur informell,

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201

wie bereits in der Spätzeit des ancien régime zu beobachten, sondern explizit und öffentlich. Hier werden Beispiele vorgeführt, wie Institutionen des alten Zentralstaats adaptiert werden, die diese gegenläufige Grundströmung leicht übersehen lassen. In dieser Bipolarität ist, so zeigt die Quelle, ein latenter, ein innerer Konflikt angelegt zwischen der Verpflichtung zu Treue und Heeresfolge gegenüber Yoritomo (sowie – abgeleitet – seinen Nachfolgern) und der ethischen Verpflichtung gegenüber dem Königtum. Dieser Konflikt spielt auch bei politischen Krisen eine Rolle, in denen die Mitglieder der Elite gezwungen sind, Partei zu ergreifen. Diese grundlegenden Diversifizierungstendenzen in den Eliten führen auch zu neuen Formen von auf das Individuum orientierter Persönlichkeitsbildung, die vor allem in der Kunst- und in der Mentalitätsgeschichte relevant werden. In dieser Quelle wird an einem konkreten Vorgang der Rahmen deutlich, in dem die ›Reproduktion der Eliten‹ als Nebeneinander und Ineinanderwirken ›alter‹ und ›neuer‹ Eliten mit zahlreichen Oszillationen voranschreitet und schließlich zum Dominieren von Herrschaftsformen führt, die nicht mehr anhand der alten auf das Königtum fixierten Legitimationsmuster erklärt werden können.

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Literaturverzeichnis Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, übers. v. Monika Plessner, mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmut Plessner, 23. Aufl., Frankfurt a. Main 2013 (amer. Originalausgabe Garden City, NY 1966). Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. Main 1983.

202

Detlev Taranczewski

Ulrich Goch, Abriß der japanischen Geschichtsschreibung, München 1992. Gomi Fumihiko, Azuma kagami no ho¯ho¯. Jijitsu to shinwa ni miru chu¯sei [Die Methode des Azuma Kagami. Das Mittelalter in Tatsachen und Mythen], Tokyo 1989. Gomi Fumihiko/Hongo¯ Kazuto (edd.), Seii taisho¯gun [Großer Feldherr zur Züchtigung der Nordostbarbaren] (Gendaigoyaku Azuma kagami [Azuma kagami, übers. ins moderne Japanisch] 5), Tokyo 2009. Hosokawa Shigeo (ed.), Kamakura sho¯gun, shikken, rensho retsuden [Eine Kollektivbiographie der Schogune, der Oberhäupter der Schogunatsregierung und ihrer Stellvertreter in Kamakura], Tokyo 2015. Ishimoda Sho¯, Chu¯seiteki sekai no keisei [Die Entstehung der mittelalterlichen Welt], Tokyo 1946 (ND Tokyo 1957). Kamo no Cho¯mei, Aufzeichnungen aus meiner Hütte. Aus d. Japanischen übers. u. mit einem Nachwort versehen v. Nicola Liscutin, Frankfurt a. Main/Leipzig 1997. Kamo no Cho¯mei, Aufzeichnungen aus den zehn Fuß im Geviert meiner Hütte, in: Nelly Naumann/Wolfgang Naumann (übers. u. edd.), Die schönsten japanischen Erzählungen. Die Zauberschale – Erzählungen vom Leben japanischer Damen, Mönche, Herren und Knechte, ausgew. u. aus d. Japan. übers. v. Nelly u. Wolfgang Naumann, München 1973, 253–266. Kishi Sho¯zo¯ (ed.), Zen’yaku Azuma kagami [Übertragung des Azuma kagami in die klassische japanische Schriftsprache / yomikudashibun-Stil], 6 Bde., Bd. 2, Tokyo 1976– 1979. Kondo¯ Shigekazu, Kamakura bakufu to cho¯tei [Kamakura-Schogunat und Hof in Kyoto], Tokyo 2016. Kyo¯to-shi (ed.), Yomigaeru Heiankyo¯. Heian kento 1200nen kinen [Heiankyo¯ ersteht wieder. Zum 1200jährigen Jubiläum der Gründung der Hauptstadt], Kyoto 1994. ¯ yama Kyo¯hei, Kamakura bakufu [Das Kamakura-Schogunat] (Nihon no rekishi 9), O Tokyo 1974. Sato¯ Shin’ichi, Shinpan komonjogaku nyu¯mon [Einführung in die Diplomatik. Neuauflage], Tokyo 1997. Sekiyama Kazuo, Sekkyo¯ no rekishi. Bukkyo¯ to wagei [Geschichte der Predigt. Buddhismus und Rhetorik], Tokyo 1978. Takahashi Yasuo, Kyo¯-machiya: sennen no ayumi. Miyako ni ikizuku sumai no genkei [Stadthäuser in der Hauptstadt – eine tausendjährige Entwicklung], Kyoto 2001. Detlev Taranczewski, Lokale Grundherrschaft und Ackerbau in der Kamakura-Zeit. Dargestellt anhand des Nitta no sho¯ in der Provinz Ko¯zuke, Bonn 1988.

Zentrum und Peripherie

Simon Lorscheid

Haus Pesch bei Pier im Tagebau Inden – eine frühe Mottenanlage des Hochmittelalters zwischen Aachen, Düren und Jülich

Teilprojekt ›Herrschaftspraxis im ländlichen Raum des Niederrheins von der Spätantike bis ins Hochmittelalter‹ (Leitung: Dr. des. Timo Bremer, Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie)

1.

Der Fundplatz

Exemplarisch für eine Quelle der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie und Archäologie des Mittelalters soll das hochmittelalterliche Haus Pesch bei Pier vorgestellt werden. Haus Pesch ist eine sog. Motten- bzw. Burganlage, gelegen zwischen den Zentren Aachen im Westen, Düren im Südosten und in unmittelbarer Nähe zu Jülich im Norden. Ein genauerer Blick in die Region zeigt, dass sich die Siedlungsaktivitäten kontinuierlich seit römischer Zeit zwischen zwei Naturräumen abspielen – der Echtzer-Lößplatte, einer Hochebene im Westen, sowie den Niederungen des Flusses Rur im Osten.1 Prägend für die Landschaft sind darüber hinaus zwei anthropogene Elemente: die ehemalige römische Straße2 auf der Hochebene und der Schlichbach unterhalb der Hangkante der Lößplatte. Beide verlaufen in einer ungefähren Nordwest-Südostausrichtung direkt durch die bzw. nahe der Siedlungen und Mottenanlagen des Mikroraumes. Entlang dieser die Landschaft gestaltenden Charakteristika lassen sich dreimal die Konstellationen von Burg, Kirche und Siedlung als Einheit ausmachen. Von Süden nach Norden: die Motte von Verken mit Siedlung und Kirche Vilvenich; die Motte von Pesch mit Siedlung und Kirche Bonsdorf; die Motte von Pier mit Siedlung und Kirche Pier. Außerdem bilden die Motte Müllenark mit Siedlung und die Kirche Schophoven an der Mündung des Schlichbachs in die 1 Siehe Abbildung 1 – Übersicht des Grabungsareals mit Untersuchungsgebiet. (Sämtliche Abbildungen in diesem Beitrag stammen vom Autor (Anm. d. Red.). 2 Torsten Rünger, Gesellschaft und Gewerbe im ländlichen Raum des 12. Jahrhunderts. Die Siedlung am Rand von Pier, Gemeinde Inden, Rheinland (Bonner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie 21), Bonn 2019, 91–92.

206

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Rur ein weiteres Beispiel einer in dieser Weise verfassten Zusammenstellung; allerdings am Ostufer des Flusses. Haus Pesch selbst liegt an den südöstlichen Ausläufern der Siedlungen Pier und Bonsdorf, unterhalb der Hangkante am Schlichbach. Generell lässt sich am östlichen Ortsende von Pier wie auch von Bonsdorf eine sich von der Struktur der Siedlungen abhebende Bauart erkennen. Frühere Grabungskampagnen und der Urkatasterplan zeigen, dass sich in dieser Gegend mehrere Grabenanlagen am Schlichbach bündeln.3 Durch Lage und Bauweise der einzelnen Siedlungselemente können zunächst zwei vorsichtige Schlüsse gezogen werden: Einerseits sind Gebäude und Motten mit Grabenanlage nur im Osten von Pier und Bonsdorf zu finden. Zum anderen speisen diese Strukturen ihre Gräben durch den Schlichbach – einem Fließgewässer. In Pier und Bonsdorf sind ansonsten ausschließlich Brunnen zu finden. Die Kontrolle über das Wasser scheint neben der Bauart allen vier Plätzen gemein zu sein; dies gilt ebenso für die Motten von Verken und von Müllenark.4 Wir fassen so ein Baugebiet, das abgesondert von den Siedlungen besteht. Die Motten (und gegebenenfalls auch die Vierseitenhöfe) sind Ausdruck einer lokalen Elite. Somit kann vorsichtig darauf geschlossen werden, dass sich auf Haus Pesch in Pier im Laufe des Mittelalters eine lokale Oberschicht installierte, die sich allem Anschein nach an der Schwelle zwischen Adel und Nicht-Adel bewegte.5

2.

Die Schriftquellen

Wie im ländlichen Raum üblich, zeichnet sich auch im Raum um Pier ein Anstieg der schriftlichen Überlieferung im Verlauf des 11. und 12. Jahrhunderts ab.6 In den vorangehenden Jahrhunderten kaum erwähnt, begegnet die Region in der 3 Hierzu zählt das archäologisch und durch schriftliche Quellen nachgewiesene Haus Pesch. Ebenso ist die Pierer Motte im Nordosten als relativ sicher nachgewiesene Struktur zu rechnen, welche jedoch nur ausschnittsweise ergraben worden und durch eine kleine Grabenanlage zu vermuten ist. In den zuletzt genannten Fällen könnte es sich um Vierseitenhöfe, welche zwischen den Mottenanlagen Bestand hatten, gehandelt haben. Diese sind jedoch eher spekulativ zu betrachten; zwar tauchen sie als Strukturen auf der Tranchotkarte von 1806/9 auf und waren bis zum Tage des Abrisses von Pier als Grabenreste oberirdisch zu sehen, archäologisch wurde jedoch nur ein Graben gestreift. 4 Die Motte von Verken befindet sich über einen Kilometer südöstlich von Haus Pesch, ebenfalls am Schlichbach. Haus Müllenark ist mit gut 3 Kilometern Entfernung am weitesten von Haus Pesch entfernt. 5 Zur Diskussion um Adel und Nicht-Adel siehe: Kurt Andermann, Vasallität zwischen Nicht-Adel und Adel. Bauernlehen im Spiegel hohenlohischer Überlieferung, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 69 (2013), 107–126. 6 Hagen Keller, Die Entfaltung der mittelalterlichen Schriftkultur im europäischen Kontext. Schriftgebrauch und Kommunikationsverhalten im gesellschaftlich-kulturellen Wandel vom

Haus Pesch bei Pier im Tagebau Inden

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beginnenden Karolingerzeit sporadisch in Königsurkunden und Schriften kirchlicher Institutionen.7 Bis in das 14. Jahrhundert hinein beschränkt sich die Überlieferung auf Bestätigungen von Besitzungen und Nutzungsrechten des Naturraumes durch Kirchen und Klöster.8 Die Urkundensprache ist Latein; volkssprachliche Quellen sind nicht überliefert. Berichtet wird beispielsweise über eine Reichsversammlung Pippins III. 748 in der Villa Duria (Düren).9 Die zentrale Siedlung des Untersuchungsraums zwischen den großen Zentren der Region – Pier – wird erst gut eineinhalb Jahrhunderte später im Zuge einer Schenkung an die Kirche genannt. Hier bestätigt im Jahr 922 Erzbischof Hermann I. von Köln den Besitz des Klosters St. Ursula an einer Kirche in Pier; das Kloster St. Ursula wiederum kam durch eine Schenkung des Thietbertus, vermutlich einem in Pier ansässigen Adeligen, an den Besitz in Pier. »Thietbertus, […] nobilissimus vassus traddit […] and basilicam ste. Ursule colon […], quidquid in pago juliacensi in marca vel villa pirna ex Liutwiga […].«10 Anfang des 14. Jahrhunderts wandelt sich der Charakter der Schriftquellen allmählich, insbesondere Quellen mit regionalem Bezug sind seit dieser Phase zahlreicher zu fassen. Neben den gebräuchlichen lateinischen Texten treten nun auch welche sowohl in deutscher als auch niederländischer Sprache auf.11 In jene Periode fällt die erste Nennung eines Bestandteils der bereits angesprochenen Konstellation Pesch/Bonsdorf – die Kirche von Bonsdorf. Der ›Liber Valoris Ecclesiarum Coloniensis‹ – ein Register über die jährlichen Einkünfte und Abgaben aller kirchlichen Besitzungen des Erzbistums Köln – berichtet im Jahr 1308 über die finanziellen Angelegenheiten der Pfarrkirche

7

8 9 10 11

5. bis 13. Jahrhundert, in: Reinhard Härtel et al. (edd.), Schriftkultur zwischen Donau und Adria bis zum 13. Jahrhundert. Akten der Akademie Friesach »Stadt und Kultur im Mittelalter« Friesach (Kärnten), 11.–15. September 2002 (Schriftenreihe der Akademie Friesach 8), Klagen/Celovec 2008, 15–48, hier 33. Es versteht sich, dass schriftliche wie archäologische Quellen immer einer inneren und äußeren Quellenkritik unterzogen werden müssen. Quellen müssen kontextualisiert und ihre Aussagekraft darf nicht überbewertet werden. Vgl. Helmut Hundsbichler, Sachen und Menschen. Das Konzept Realienkunde, in: Helmut Hundsbichler/Gerhard Jaritz/Thomas Kühtreiber (edd.), Die Vielfalt der Dinge. Neue Wege zur Analyse mittelalterlicher Sachkultur. Internationaler Kongress Krems an der Donau 4. bis 7. Oktober 1994. Gedenkschrift. In Memoriam Harry Kühnel (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 3), Wien 1998, 29–62, hier 42–44. Günther Walzik, Siedlungsgeschichtlicher Ertrag archäologischer Untersuchungen an ländlichen Pfarrkirchen des Rheinlandes (Reihe mittelalterlicher Geschichte 2), Bonn 1981, 22. Ebd., 19. Ebd., 21. Dies ist als Zeichen dafür zu deuten, dass sich der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung stetig erhöhte. So konnten nun Dinge des Alltags schriftlich fixiert werden. Latein blieb hauptsächlich die Sprache hochoffizieller Urkunden der Kirche und des hohen Adels.

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Bonsdorf.12 Die Pfarre in Bonsdorf und somit auch Bonsdorf müssen demnach spätestens ab 1308 Bestand gehabt haben. Pesch tritt in der Folgezeit öfter in geschriebenen Quellen zu Tage, jedoch ist es nicht möglich, es eindeutig dem Haus Pesch bei Pier zuzuordnen. Der Name Pesch war und ist in der Region eine häufig auftretende Bezeichnung für Burgen und Siedlungen.13 Auf Grund dessen ist es erst im Jahr 1444 möglich, durch einen Erbpachtvertrag des Daniel van Efferen an Daem Rumell van Hetzingen, den Landdrost von Jülich, den Namen Pesch eindeutig Haus Pesch bei Pier bzw. Müllenark zuzuordnen.14 Es stehen erstmals Haus Pesch betreffend keine überregional agierenden Eliten im Fokus, sondern solche, die ihren Aktionsrahmen im Umland von Jülich haben. Während des Übergangs vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit ist die größte Überlieferungsdichte historischer Quellen festzustellen, auch für Haus Pesch und Bonsdorf wird die Erwähnungsdichte größer. Im Jahr 1533 wurde im Herzogtum Jülich die alljährliche Kirchenvisitation durchgeführt, diese wurde auch protokollarisch erfasst. Auf dieses Protokoll verweist eine Eingabe mehrerer lokaler Eliten an den Herzog von Jülich von 1534. In ihr heißt es, »dat wir etlicher gueder halver, wir zu unsen henden haven, rechte gifter und collatores sint der kirchen zu Bonssdorff«.15 Es teilen sich somit scheinbar mehrere Parteien16 das Patro12 Walter Kaemmerer, Urkundenbuch der Stadt Düren 748–1500 (Beiträge zur Geschichte des Dürener Landes 12), 2 Bde., Bd.1: Urkundentexte von 1400–1500 mit 11 Urkunden-Abbildungen, Düren 1974, 53–54. Vgl. Friedrich W. Oedinger (ed.), Die Erzdiözese Köln um 1300. Erstes Heft. Der Liber Valoris (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichte. Erläuterungen zum geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz 9), Bonn 1967, 52–56. 13 Tobias Vogelfänger, Nordrheinische Flurnamen und digitale Sprachgeographie. Sprachliche Vielfalt in räumlicher Verbreitung (Rheinisches Archiv. Veröffentlichung der Abteilung Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn 155), Köln 2010, 260. Vgl. Günter Breuer, Die Ortsnamen des Kreises Düren. Ein Beitrag zur Namen- und Siedlungsgeschichte, Aachen 2009, 161. Vgl. Wilhelm Kaspers, Die Ortsnamen der Dürener Gegend. In ihrer Siedlungsgeschichtlichen Bedeutung (Beiträge zur Geschichte des Dürener Landes 5), Düren 1949, 47–48. 14 Duisburg, Landesarchiv Nordrheinwestfalen, Abteilung Rheinland, Paffendorf, Urkunden AA 0608 Nr. 232. Vgl. Herbert M. Schleicher, Ernst von Oidtman und seine genealogischheraldische Sammlung in der Universitäts-Bibliothek zu Köln. Aus den handschriftlichen Aufzeichnungen für den Druck bearbeitet, ergänzt und mit Registern versehen, 18 Bde., Bd. 5, Köln 1994, 48. Vgl. Peter Staatz, Geschichte zwischen Rur und Inde. Der Raum Pier/Vilvenich von den Anfängen bis zur Umsiedlung, Essen 2013, 56. Vgl. Paul Hartmann/Edmund Renard, Die Kunstdenkmäler des Kreises Düren (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz 9), Düsseldorf 1910, 301. 15 Otto R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik am Ausgange des Mittelalters und in der Reformationszeit (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XXVIII), 6 Bde., Bd. 2: Visitationsprotokolle und Berichte. Erster Teil: Jülich (1533–1589). Mit urkundlichen Beilagen von 1424–1559, Bonn 1911 (ND Düsseldorf 1986), 347. 16 Pesch, Verken, Müllenark und der Schultheiß von Pier. Vgl. Alfred Blömer, Das Geschlecht von Weisweiler zu Pier und Birkesdorf. Untersuchungen zu einer spätmittelalterlichen Beamtenfamilie im Herzogtum Jülich, in: Dürener Geschichtsblätter. Mitteilungen des Dürener Geschichtsvereins 67 (1978), 107–124, hier 109. Eine detaillierte Beschreibung der Besitz-

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natsrecht an der Bonsdorfer Kirche.17 Dies war nur auf Grund dessen möglich, dass alle vier Parteien18 Teilbesitzer von Haus Pesch waren;19 das Patronatsrecht war dementsprechend an Haus Pesch gebunden. Ohne Teilhabe an der Burg konnte man somit auch keinen Anspruch auf Gelder der lokalen Pfarrkirche erheben. Exemplarisch für die Verbindungen der verschiedenen Besitzer und ihre wirtschaftlichen Netzwerke lässt sich eine Erbrentenvereinbarung aus dem Jahr 1548 heranziehen. In ihr heißt es: »die Eheleute Reinh. van me Horik und Klara v. Verken verkaufen Godart v. Hanxler und seiner Frau Anna v. Jülich 2 ½ Malter Hafer Erbrente, lieferbar von Haus Pesch nach Müllenark.«20 Diese Vereinbarung wurde regional, durch den Schultheiß und die Schöffen von Pier bestätigt, eine höhere Instanz war nicht eingebunden. Generell ist die frühe erste Phase der schriftlichen Überlieferung der Region um Pier hauptsächlich durch königliche Urkunden der karolingischen Dynastie und der Erzbischöfe von Köln bekundet. Insbesondere für das Kölner Erzbistum war der Raum im Früh- und Hochmittelalter von einiger strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung, sichtbar an dem Bestreben, sich hier eine solide Grundlage an Besitz aufzubauen. Einerseits spielt die verkehrsgünstige Lage eine nicht unerhebliche Rolle, daneben sind auch die zahlreichen Rohstoffe, wie Holz und landwirtschaftliche Erzeugnisse, von beträchtlicher Bedeutung. Ab dem 14. Jahrhundert nimmt die Dichte der regionalen Schriftzeugnisse zu Pier und seinem Umfeld deutlich zu. Immer mehr rücken die lokal ansässigen Eliten in den Fokus der Überlieferung. Auch der Charakter dieser Quellen ändert sich, neben Latein treten bei den regionalen Urkunden und Verträgen auch Volkssprachen wie Deutsch und Niederländisch in Erscheinung. Lokale Netzwerke durch Verwandtschaft und Heirat kristallisieren sich heraus. Die Elitenfamilien sind durch Besitz, Ämter und wirtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden. Man bestätigt sich gegenseitig Besitz und Rechte. Ob dieses Netz auch schon im frühen Hochmittelalter Bestand hatte, bleibt allerdings Teil der Spekulation.

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verhältnisse würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, weshalb in dieser Darstellung nur auf die relevantesten Quellen verwiesen wird. Blömer 1978, 109. Welche in diesem Fall allem Anschein nach entweder miteinander verwandt und/oder durch Heirat verbunden waren. Blömer 1978, 109. Leonard Korth, Das gräflich von mirbach’sche Archiv zu Harff. Urkunden und Akten zur Geschichte rheinischer und niederländischer Gebiete (Analen des historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiöcese Köln 57), 2 Bde., Bd. 2: 1431 bis 1599, Köln 1894. 285. (Hanxler 22) 1179.

210

3.

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Die archäologischen Quellen

Schriftliche und archäologische Quellen sind keinesfalls als Bestätigungen des jeweils anderen zu verstehen; beide Quellenarten sind vielmehr die beiden Seiten ein und derselben Münze. Sind schriftliche Überlieferungen in der Lage, einzelne Geschehnisse und Protagonisten zu identifizieren und zu beschreiben, ist dies in der Archäologie in der Regel nicht möglich.21 Die Archäologie ist vielmehr als eine long term history zu verstehen, durch die es möglich wird, Alltag, Raum-, Wirtschafts- und Sozialstrukturen, Netzwerke, kulturelle Bedeutungen und Entwicklungen zu begreifen, welche ständiger Veränderung ausgesetzt sind. Da es sich bei Haus Pesch und der gesamten Grabungskampagne Pier um eine Grabung im Vorfeld des Tagebaus Inden handelte, war größtmögliche Sorgfalt gepaart mit effizienter Zeiteinteilung vonnöten, um so viele Informationen wie möglich vor der Zerstörung der Ortschaft zu sichern. Die Aufarbeitung stellte sich dementsprechend als ambitioniert heraus, denn Haus Pesch bot ein Gewirr aus zahlreichen Pfostengruben, Mauern und Gräben, mit teilweise komplexer Stratigraphie. Jedoch ließ sich eine Vielzahl an Befunden bestimmen und in Befundgruppen zusammenfassen. Durch deren Analyse und Datierung und die schlussendliche Zusammenschau der Funde und Befunde wird es möglich sein, Phasenpläne zu erstellen.22 Im Folgenden wird die erste, grobe Einteilung des Fundplatzes vorgestellt.

3.1

Holzbauphase

Wie zu Beginn erwähnt, handelt es sich bei Haus Pesch bei Pier um eine Mottenanlage mit ihren Ursprüngen im hohen Mittelalter. Der Begriff ›Motte‹ wurde durch die französische Forschung des 19. Jahrhunderts geprägt. Hier bezeichnet man diese Form der Burg als Château à motte – dieser Begriff wiederum ist auf das lateinische Wort ›mota‹ zurückzuführen; der Begriff ›Turmhügelburg‹ ist nicht mehr gebräuchlich.23 Im engsten Sinn bezeichnet eine Motte einen künstlich aufgeschütteten Bauplatz, auf dem ein Gebäude aus Holz steht, welcher 21 Sinngemäß siehe Heiko Steuer, Archäologie und Realität mittelalterlichen Alltagslebens, in: Helmut Hundsbichler/Gerhard Jaritz/Thomas Kühtreiber (edd.), Die Vielfalt der Dinge. Neue Wege zur Analyse mittelalterlicher Sachkultur. Internationaler Kongress Krems an der Donau 4. bis 7. Oktober 1994. Gedenkschrift. In Memoriam Harry Kühnel (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 3), Wien 1998, 399–428, hier 402–404. 22 Finale Phasenpläne sind zum jetzigen Stand der Aufarbeitung noch nicht vorhanden. 23 Hermann Hinz, Motte und Donjon. Zur Frühgeschichte der mittelalterlichen Adelsburg (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters Beiheft 1), Bonn 1981, 11.

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von einem Graben umgeben ist.24 Die Höhe eines solchen Hügels ist nicht festgeschrieben und muss sich nicht merklich von der Umgebung abheben. Das jeweilige auf dieser Fläche stehende Gebäude, ob nun Turm oder Haus, wurde in der Regel aus Holz errichtet, auch hier besteht keine genaue Festlegung in Bezug auf Größe und Gestaltung. Der jeweilige Graben konnte trocken sein, war aber in den meisten Fällen durch ein nahegelegenes Gewässer gespeist. Er umschloss die Kernburg und konnte sich in weitere Gräben verzweigen, welche gegebenenfalls eine Vorburg umschlossen. Je nach Bauaufwand war es möglich, dass sowohl Kernburg als auch Vorburg zusätzlich zur Grabenanlage durch einen Holzerdewall befestigt waren, allerdings war auch dieser nicht zwingend notwendig. Gebündelt bedeutet dies, dass sich eine Mottenanlage über drei Aspekte definieren lässt: Erstens ein künstlich angelegter Bauplatz, der zweitens von mindestens einem Graben umgeben ist, und auf dem drittens in der Regel ein Gebäude aus Holz steht. Gewiss ist dies nur der kleinste gemeinsame Nenner, der die verschiedenen Anlagen miteinander verbindet, jedoch bietet er bereits einen Ausblick auf die Diversität aller Anlagen. Legt man diese Schablone nun an Haus Pesch bei Pier in seiner frühesten Phase an, ergibt sich bereits ein aufschlussreiches Bild.25 Von dieser frühesten Phase Haus Peschs sind nicht viele Überreste überliefert worden, jedoch ermöglichen sie die Ansprache des Befundes als ebensolche Motte. Ein Graben schließt ein knapp 176 m² großes Areal im direkten Anschluss an den Schlichbach ein. Das Innere des Areals ist beinahe befundleer. Im Graben selbst jedoch sind noch Spuren einer früheren Anlage zu finden; ob diese den Graben von Haus Pesch um 1308 repräsentieren oder eine frühere Bauphase, ist zum derzeitigen Zeitpunkt der Auswertung noch nicht final geklärt. Der Graben selbst besteht aus drei unterschiedlichen Phasen, welche stratigraphisch eindeutig voneinander unterschieden werden können. Die älteste Phase ist zwischen ca. 1,60 bis 1,00 m breit. Beidseitig sind Staken in die Böschung eingebracht – sie stabilisieren die jeweiligen Uferkanten. Im Nordosten ist eine einfache Brückenkonstruktion aus sechs Pfosten, verbunden mit Querbalken auszumachen, welche über den Graben führt. 24 Vergleiche zu den Mottenanlagen des Husterknupps bei Frimmersdorf oder der Motte von Eschelbronn im Rhein-Neckar-Kreis zeigen, dass ein Hügel der Zentralen Kernburg zwar nachgewiesen ist, allerdings nicht bei jeder Motte vorkommen muss. Vgl. Adolf Herrenbrodt, Der Husterknupp. Eine niederrheinische Burganlage des frühen Mittelalters (Beihefte der Bonner Jahrbücher 6), Köln/Graz 1958. Vgl. Tilman Mittelstrass, Eschelbronn. Entstehung, Entwicklung und Ende eines Niederadelssitzes im Kraichgau (12.–18. Jahrhundert) (Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 17), Stuttgart 1996. 25 Siehe Abbildung 2: Holzbauphase.

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Nur noch in einem kleinen Abschnitt im Osten und gegen Norden und Südwesten sind sich fortsetzende Vorburggräben erhalten geblieben. Die Keramikfunde deuten allerdings darauf hin, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt der Mottenanlage hinzugefügt wurden. Das Innere zwischen Kern- und Vorburg stellte sich als weitgehend befundleer heraus. Bei Haus Pesch handelt es sich somit zunächst um eine kleine Kernburg mit Wassergraben. Zu einem späteren Zeitpunkt kam der Vorburggraben hinzu. Somit ist Haus Pesch bei Pier eher als Kleinstmottenanlage zu werten. Über Gewerbe oder größere Wehranlagen auf der Motte ist nichts überliefert. Haus Pesch ist in seiner frühen Phase kein Bau, welcher durch seine Wehrhaftigkeit zu glänzen vermag. Es hebt sich durch seine abseitige Lage, die Nutzung von fließendem Wasser, durch seine Gräben und die Motte vom übrigen Pier und Bonsdorf ab.

3.2

Steinbauphase

Haus Pesch durchläuft während seines Bestehens mehrere Phasen der Umgestaltung. Eine wohl tiefgreifende Änderung erfolgte Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Übergang zur Steinbauphase.26 Das Gebäude behält seine ungefähre Größe von 176 m², allerdings ändert sich die Ausrichtung. Orientiert man sich an der Brücke der Holzbauphase, ist von einer Nordost-Südwest-Auslegung auszugehen, nicht jedoch in der darauffolgenden Phase – das neue Haus Pesch orientiert sich nun Nordnordwest-Südsüdost und verlegt seine Mauern in das Areal des ehemaligen Grabens hinein. Der für die Holzbauphase erfasste Graben und auch die Brücke hat in dieser Phase keine Relevanz mehr, denn die Fundamente ragen im Osten bis zu 0,70 m über den äußeren Grabenrand hinaus. Den zentralen Mittelpunkt der Motte bildet ein quadratischer Bau. Das Fundament besteht aus Bruchsteinquadern, teilweise auch aus Hausteinen aus Sandstein und Grauwacken. Das Gebäude wird zu einem späteren Zeitpunkt Richtung Nordnordwest und Südsüdost durch 26 Siehe Abbildung 3: Steinbauphase, siehe ebenso Staatz 2013, 56. Vgl. Hartmann/Renard 1910, 302. Der Hinweis soll aus einer Schriftquelle stammen, was allerdings nicht mehr nachvollzogen werden kann. Es wird vermutet, dass der bereits erwähnte Reinhard von Horrich Haus Pesch neu errichten ließ. Vermutlich ist dies bereits früher geschehen, was sich dann chronologisch mit anderen Fundplätzen decken würde. Das Ende einer Holzbauphase und der Beginn einer Steinbauphase ist auch in Eschelbronn (ca. Anfang 15. Jahrhundert [siehe Mittelstrass 1996, 73]) und dem Husterknupp (ca. Ende 13. Jahrhundert [siehe Herrenbrodt 1958, 70]) fassbar. Die Burgen des Hochadels wurden tendenziell früher umgebaut (Husterknupp), die des niederen Adels später (Eschelbronn). Pesch würde somit chronologisch eine der letzten Motten gewesen sein, welche den Sprung von Holz- zu Steinbauweise bewältigten.

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langrechteckige Anbauten erweitert. Jeweils in der Nordwest- und in der Südostecke wurden Rundtürme angelegt. Alle Bauelemente aus Stein mussten entweder über eine weite Distanz, aus der Eifel im Süden, zum Bau herangeschafft werden oder aus ehemals römischen Gebäuden als Spolien verwendet werden. In der Region Pier gab es keinerlei Steinbrüche. Nicht nur die Kern-, auch die Vorburg wurde vergrößert. Die Grabenanlage der Holzbauphase hatte scheinbar ausgedient und wurde durch einen neuen Graben 20 m weiter gegen Südosten ausgetauscht. War der Vorburggraben der Holzbauphase noch maximal 4,20 m breit, so setzte der neue Graben mit bis zu 12 m neue Maßstäbe. Die neue Grabenanlage war, wie auch die vorherige, mit Wasser aus dem Schlichbach gefüllt. Auch in dieser Phase ist das Innere der Vorburg weitestgehend befundleer, somit können auch keine Vermutungen über die Wirtschaftsformen zu dieser Zeit angestellt werden. Wir fassen mit Haus Pesch bei Pier eine Mottenanlage des frühen Hochmittelalters. Die Anlage wurde in mehreren Schritten erweitert und umgebaut. An der Grundstruktur des Komplexes hat sich von der Gründung bis in das 20. Jahrhundert kaum etwas geändert. Die Aufteilung in eine Kernburg mit Vorburg, umschlossen von einem wasserführenden Graben, blieb gleich. Das Fundspektrum weist kaum Artefakte auf, die auf einen gehobenen Lebensstil hindeuten, Ausnahmen sind lediglich Trinkschalen und eine Spore.

3.4

Haus Pesch als Teil der lokalen Siedlungsstruktur

Wie bereits anfangs angesprochen, finden sich am östlichen Rand von Pier vier von Gräben umgebene Anlagen auf einer Strecke von nur knapp 300 m. Zwischen der möglichen hochmittelalterlichen Pierer Motte27 am nördlichen und Haus Pesch am südlichen Ende dieses Areals sind die Überreste von zwei mutmaßlichen viereckigen Grabenanlagen zu erkennen. Diese sind unter Vorbehalt als Vierseitenhöfe zu interpretieren.28 Allen diesen Anlagen ist ihre Lage am Schlichbach und ihre Lage auf ehemaligen bzw. noch existenten Blockfluren gemein.29 Blockfluren sind im Gegensatz zu Streifenfluren ein direkter Hinweis auf einen ungeteilten Besitz, der zumeist aus dem vom Adel praktizierten Anerben27 Ellen Igelmund, Ein möglicher hochmittelalterlicher Adelssitz bei Inden-Pier, Kr. Düren. Unveröffentlichte Bachelorarbeit, Bonn 2016, 33–34. 28 Siehe Abbildung 4. Vgl. Lutz Janssen, Der Burghof in Belmen, in: Jürgen Kunow et al. (edd.), Dorfarchäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Elfgen und Belmen. Die Ausgrabungen in der Pfarrkirche Sankt Georg und den Kölner Lehenshöfen (Rheinische Ausgrabungen 68), Darmstadt 2014, 133–252, hier 133. 29 Siehe Abbildung 4.

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recht stammt.30 Im Gegensatz dazu liegen die Ortschaften Pier und Bonsdorf auf Streifenfluren, die Folge nichtadeliger Besitzungen sind.31 Die mögliche Pierer Motte und auch die Pescher Motte wurden wahrscheinlich zeitgleich gegründet, wie die Datierung der Keramik nahelegt. Ob die mutmaßlichen Vierseitenhöfe ebenfalls gleichzeitig datieren, kann allein aus Altkarten nicht erschlossen werden. Zumindest für die südlich des Schlichbaches liegende Anlage32 kann aufgrund von Keramikfunden aber vermutet werden, dass der Graben der Anlage während des Hochmittelalters nicht verfüllt und somit die Anlage genutzt wurde. Es zeichnet sich demnach ab, dass am Schlichbach bei Pier und Bonsdorf wohl drei oder vier befestigte Hofanlagen in einer Reihe existierten.33 Hierbei handelte es sich mutmaßlich um die Wohnsitze der lokalen Eliten, die miteinander im sozialen Wettbewerb standen. Somit kann der Osten von Pier zusammen mit Haus Pesch als Beispiel für die Versuche lokaler Eliten gewertet werden, eine kleinräumige Herrschaft zu errichten.

4.

Die Bedeutung des Fundplatzes für das Teilprojekt

An Haus Pesch spiegelt sich die Grundannahme des Teilprojektes wieder: »Herrschaft manifestiert sich in der ländlichen Lebenswelt des Mittelalters nicht in Form zentraler Verwaltungsstrukturen, sondern in erster Linie durch die vor Ort ansässigen Eliten«.34 Diese Annahme bestätigt sich auf drei Ebenen.

4.1

Landschaftsgestaltung und Architektur

Zunächst sei auf die Lage der Motte Pesch verwiesen; diese liegt in einem separaten Baubereich im Osten von Pier und Bonsdorf. Hier können im Kleinen die Separierungstendenzen des Adels nachvollzogen werden. Adelige suchen sich bewusst Baugrund in einiger Entfernung zu Siedlungen. Dabei lässt sich die 30 Hans Krawarik, Siedlungstypen und Lebensformen im Mittelalter (Austria: Forschung und Wissenschaft. Geschichte 15), Wien 2016, 181–182. 31 Auch wenn im 19. Jahrhundert großflächige Flurbereinigungen stattgefunden haben, ist es dennoch keine große Schwierigkeit, mit Hilfe der Katasterbücher und des Urkatasters selbst frühere Flure zu rekonstruieren. Vgl. Krawarik 2016, 17. 32 Siehe Abbildung 4. 33 Bei der Anfertigung der Tranchotkarte zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand nur noch Haus Pesch. 34 Teilprojekt Bremer, https://www.sfb1167.uni-bonn.de/teilprojekte/tp-bremer (18. 06. 2019).

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Tendenz beobachten, dass der Adel, je höher er in der Adelshierarchie steht, umso weiter von Siedlungen entfernt seine Wohnsitze errichtet. Dies bedeutet für die lokalen Adeligen auf Haus Pesch, dass ein ständiger Repräsentationsdruck bestand – der Herrschaftsanspruch über das jeweilige Gebiet muss kontinuierlich durch Anwesenheit bestätigt werden. Des Weiteren sei auf die Symbolik einer Burg bzw. einer Motte verwiesen. Diese Bauwerke stechen durch ihre sich von einfachen Häusern abhebende Architektur ebenso hervor wie durch die Graben- und Wehranlagen, welche sie umgeben können. Auch spielt hier, zumindest im Fall Pesch, die Kontrolle über fließendes Wasser eine bedeutende Rolle. In diesem separaten Baubereich und im Süden bei Haus Verken ist das Fließgewässer direkt in die Bauwerke integriert worden. Die Bewohner der anderen Siedlungen mussten auf Brunnen für die Wasserversorgung zurückgreifen. Insgesamt bot die Motte von Pesch nach außen ein deutliches Zeichen, dass an dieser Stelle Personen mit einer auf lokaler Ebene herausgehobenen sozialen Position lebten.

4.2

Recht

Es manifestieren sich zudem rechtliche Netzwerke, in welchen die lokalen Eliten von Haus Pesch Einfluss auf die Pierer Region ausüben konnten. Einerseits verfügt die Burg über das Patronatsrecht an der Bonsdorfer Kirche. Äußerst wahrscheinlich ist, dass die Kirche zunächst als Eigenkirche von Haus Pesch vor 1308 angelegt wurde und dass aus dieser über die Jahrhunderte hinweg eine Pfarrkirche wurde. Die damit einhergehenden Rechte blieben scheinbar bei Haus Pesch. Weiterhin pachteten in unregelmäßigen Abständen manche der Besitzer von Pesch den Zehnt von Pier. Auch die Lage am Schlichbach wird aller Wahrscheinlichkeit nach Rechte für seine Nutzung benötigt haben, hier sind jedoch keine Quellen erhalten geblieben, die dies bestätigen könnten. Während in Bonsdorf der Machtbereich von Haus Pesch eher mit der Kirche zu erklären ist, können unmittelbar südlich von Pesch die Flure Hinweise auf mögliche rechtliche Handhabe und Besitz über Menschen und Gebäude mit sich bringen. Die Siedlung Pommenich liegt auf einer der bereits angesprochenen Blockfluren, welche Haus Pesch zugeordnet werden können, dies impliziert einen rechtlichen Anspruch über dieses Gebiet.

216 4.3

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Soziale Netzwerke

Wie bereits angeklungen, befindet sich Haus Pesch Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts nachweislich in der Hand mehrerer Eigentümer, diese sind einer lokalen Elite zuzuordnen. Darunter befindet sich einerseits die niederadelige Familie von Weisweiler, die entfernt mit den Herzögen von Jülich verwandt ist. Zwei weitere Besitzerfamilien gehen aus denen von Weisweiler hervor, zum einen die dem Niederadel angehörigen von Verken, zum anderen die Familie Zevel. Letztere scheint nicht dem Adel angehörig zu sein, trotz ihrer entfernten Verwandtschaft zu denen von Weisweiler. Aus der Familie Zevel gehen mehrere Schultheiße von Pier hervor, sie spielen demnach eine bedeutende Rolle in Pier. Die letzte der vier auszumachenden Besitzerfamilien von Haus Pesch sind die von Müllenark, eine Niederadelsfamilie in Abhängigkeit von den Herzögen von Jülich.35 Es kristallisieren sich so Teile der lokalen sozialen Schichtung heraus. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Haus Pesch zu Beginn ein Herrschaftssitz von Niederadeligen, von welchen allerdings der Name des Geschlechts, auf Grund der sehr übersichtlichen Quellenlage, nicht mehr nachvollzogen werden kann. Zu ihnen gehören die lokalen Eliten, wie der Schultheiß und die Schöffen des Dingstuhles Pier/Merken. Diese Eliten bewohnten möglicherweise die anderen wasserumwehrten Höfe am Schlichbach.

5.

Fazit

Haus Pesch ist als Symbol der Macht auf lokaler Ebene des Hochmittelalters bis in die Frühe Neuzeit hinein zu betrachten. Dabei ist Haus Pesch ein wichtiger Rechtsgegenstand, welcher Abgaben erheben und über sowohl menschliche als auch materielle Ressourcen verfügen konnte. Die Rechte waren an die Anlage selbst gebunden und nicht an die Besitzer. Hierbei kommt Haus Pesch Bedeutung als Schnittpunkt verwandtschaftlicher Netzwerke und Teil sozialer Strategien einer vielschichtigen lokalen Elite zu. Die schriftliche Überlieferung zeigt, wie diese Eliten, von den Herzögen von Jülich bis zur lokalen nichtadeligen Elite, verwandt und verschwägert waren. Haus Pesch ist ein Sinnbild für diese ineinander verflochtenen Stränge aus familiärer Herrschaftsausübung über alle Ebenen hinweg, welche sich im ständigen Wettbewerb befanden.

35 Eine detaillierte Darlegung aller verwandtschaftlichen Beziehungen, Heiraten, etc. würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden an dieser Stelle die familiären Verhältnisse stark vereinfacht und auf die Kernaussagen reduziert.

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Abb. 1: Gesamtplan der Grabungsflächen von Inden-Pier mit dem rot gekennzeichneten Untersuchungsraum.

Abb. 2: Übersicht der Holzbauphase von Haus Pesch.

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Abb. 3: Übersicht der Steinbauphase von Haus Pesch.

Abb. 4: Rekonstruktionsvorschlag des Untersuchungsraumes.

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Quellenverzeichnis Duisburg, Landesarchiv Nordrheinwestfalen, Abteilung Rheinland, Paffendorf, Urkunden AA 0608 Nr. 232. Walter Kaemmerer, Urkundenbuch der Stadt Düren 748–1500 (Beiträge zur Geschichte des Dürener Landes 12), 2 Bde., Bd. 1.1: Urkundentexte von 1400–1500 mit 11 Urkunden-Abbildungen, Düren 1974. Leonard Korth, Das gräflich von mirbach’sche Archiv zu Harff. Urkunden und Akten zur Geschichte rheinischer und niederländischer Gebiete (Analen des historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiöcese Köln 57), 2 Bde., Bd. 2: 1431 bis 1599, Köln 1894. 285. (Hanxler 22) 1179. Friedrich W. Oedinger (ed.), Die Erzdiözese Köln um 1300. Erstes Heft. Der Liber Valoris (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichte. Erläuterungen zum geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz 9), Bonn 1967. Otto R. Redlich, Jülich-Bergische Kirchenpolitik am Ausgange des Mittelalters und in der Reformationszeit (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XXVIII), 6 Bde., Bd. 2: Visitationsprotokolle und Berichte. Erster Teil: Jülich (1533– 1589). Mit urkundlichen Beilagen von 1424–1559, Bonn 1911 (ND Düsseldorf 1986). Herbert M. Schleicher, Ernst von Oidtman und seine genealogisch-heraldische Sammlung in der Universitäts-Bibliothek zu Köln. Aus den handschriftlichen Aufzeichnungen für den Druck bearbeitet, ergänzt und mit Registern versehen, 18 Bde., Bd. 5, Köln 1994.

Literaturverzeichnis Kurt Andermann, Vasallität zwischen Nicht-Adel und Adel. Bauernlehen im Spiegel hohenlohischer Überlieferung, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 69 (2013), 107–126. Alfred Blömer, Das Geschlecht von Weisweiler zu Pier und Birkesdorf. Untersuchungen zu einer spätmittelalterlichen Beamtenfamilie im Herzogtum Jülich, in: Dürener Geschichtsblätter. Mitteilungen des Dürener Geschichtsvereins 67 (1978), 107–124. Günter Breuer, Die Ortsnamen des Kreises Düren. Ein Beitrag zur Namen- und Siedlungsgeschichte, Aachen 2009. Paul Hartmann/Edmund Renard, Die Kunstdenkmäler des Kreises Düren (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz 9), Düsseldorf 1910. Adolf Herrenbrodt, Der Husterknupp. Eine niederrheinische Burganlage des frühen Mittelalters (Beihefte der Bonner Jahrbücher 6), Köln/Graz 1958. Hermann Hinz, Motte und Donjon. Zur Frühgeschichte der mittelalterlichen Adelsburg (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters Beiheft 1), Bonn 1981. Helmut Hundsbichler, Sachen und Menschen. Das Konzept Realienkunde, in: Helmut Hundsbichler/Gerhard Jaritz/Thomas Kühtreiber (edd.), Die Vielfalt der Dinge. Neue Wege zur Analyse mittelalterlicher Sachkultur. Internationaler Kongress Krems an der Donau 4. bis 7. Oktober 1994. Gedenkschrift. In Memoriam Harry Kühnel

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(Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 3), Wien 1998, 29–62. Ellen Igelmund, Ein möglicher hochmittelalterlicher Adelssitz bei Inden-Pier, Kr. Düren. Unveröffentlichte Bachelorarbeit, Bonn 2016. Lutz Janssen, Der Burghof in Belmen, in: Jürgen Kunow et al. (edd.), Dorfarchäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Elfgen und Belmen. Die Ausgrabungen in der Pfarrkirche Sankt Georg und den Kölner Lehenshöfen (Rheinische Ausgrabungen 68), Darmstadt 2014, 133–252. Wilhelm Kaspers, Die Ortsnamen der Dürener Gegend. In ihrer Siedlungsgeschichtlichen Bedeutung (Beiträge zur Geschichte des Dürener Landes 5), Düren 1949. Hagen Keller, Die Entfaltung der mittelalterlichen Schriftkultur im europäischen Kontext. Schriftgebrauch und Kommunikationsverhalten im gesellschaftlich-kulturellen Wandel vom 5. bis 13. Jahrhundert, in: Reinhard Härtel et al. (edd.), Schriftkultur zwischen Donau und Adria bis zum 13. Jahrhundert. Akten der Akademie Friesach »Stadt und Kultur im Mittelalter« Friesach (Kärnten), 11.–15. September 2002 (Schriftenreihe der Akademie Friesach 8), Klagen/Celovec 2008, 15–48. Hans Krawarik, Siedlungstypen und Lebensformen im Mittelalter (Austria: Forschung und Wissenschaft. Geschichte 15), Wien 2016. Tilman Mittelstrass, Eschelbronn. Entstehung, Entwicklung und Ende eines Niederadelssitzes im Kraichgau (12. – 18. Jahrhundert) (Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 17), Stuttgart 1996. Torsten Rünger, Gesellschaft und Gewerbe im ländlichen Raum des 12. Jahrhunderts. Die Siedlung am Rand von Pier, Gemeinde Inden, Rheinland (Bonner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie 21), Bonn 2019. Peter Staatz, Geschichte zwischen Rur und Inde. Der Raum Pier/Vilvenich von den Anfängen bis zur Umsiedlung, Essen 2013. Heiko Steuer, Archäologie und Realität mittelalterlichen Alltagslebens, in: Helmut Hundsbichler/Gerhard Jaritz/Thomas Kühtreiber (edd.), Die Vielfalt der Dinge. Neue Wege zur Analyse mittelalterlicher Sachkultur. Internationaler Kongress Krems an der Donau 4. bis 7. Oktober 1994. Gedenkschrift. In Memoriam Harry Kühnel (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 3), Wien 1998, 399–428. Teilprojekt Bremer, https://www.sfb1167.uni-bonn.de/teilprojekte/tp-bremer (18. 06. 2019). Tobias Vogelfänger, Nordrheinische Flurnamen und digitale Sprachgeographie. Sprachliche Vielfalt in räumlicher Verbreitung (Rheinisches Archiv. Veröffentlichung der Abteilung Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn 155), Köln 2010. Günther Walzik, Siedlungsgeschichtlicher Ertrag archäologischer Untersuchungen an ländlichen Pfarrkirchen des Rheinlandes (Reihe mittelalterlicher Geschichte 2), Bonn 1981.

Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi

Das Zentrum von der Peripherie aus kommentieren. Die Aufzeichnungen des Augsburger Juweliers Hans Georg Peyerle über die Hochzeit des ›Falschen Dmitrij‹ in Moskau im Jahre 1606

Teilprojekt ›Samoderzˇcy i edinoderzˇavie – Die Begründung des zentralistischen Alleinherrschaftsanspruches der russischen Zaren in der »Zeit der Wirren« unter besonderer Berücksichtigung der Auswahl- und Berufungsverfahren von Boris Godunov und Michail Romanov‹ (Leitung: Prof. Dr. Dittmar Dahlmann, Osteuropäische Geschichte)

Zu den unterschiedlichen Quellengattungen, die nicht nur in der Geschichtswissenschaft seit langer Zeit genutzt werden, gehören Reise- und Zeitzeugenberichte. Sie sind seit der Antike überliefert und können unter spezifischen Gesichtspunkten als Quelle dienen. Einerseits können sie unter den Fragestellungen der neueren Kulturgeschichte für das vom Autor vermittelte ›Bild‹ des dargestellten Gegenstandes (Osteuropa- oder Russlandbild) herangezogen werden, andererseits stehen sie für die Herkunftskultur und für das Weltbild des Verfassers und drittens schließlich zeigen sie die Geschichte der bereisten und im Bericht dargestellten Länder.1 Häufiger kommt es vor, dass der reisende Autor seine Perspektive wechselt. Was zunächst an der Peripherie lag, wird im Verlauf der Darstellung mehr und mehr zum Zentrum des Geschehens. Im Zuge der Rückreise und in der Betrachtung aus der zeitlichen Distanz wandelt sich der Blick erneut und aus dem Zentrum wird wiederum die Peripherie.

1 Vgl. Peter J. Brenner (ed.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a. Main 2007; Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800, Köln/Wien/Weimar 2002; zu den Reisen nach Moskowien vgl. Gabriele Scheidegger, Perverses Abendland – barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse, Zürich 1993; Marshall Poe, A People Born to Slavery. Russia in Early Modern European Ethnography, 1476–1748, Ithaca, NY 2000.

222

1.

Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi

Der ›Zentrum-Peripherie‹-Ansatz in der Osteuropäischen Geschichte

Die Thematisierung der Begriffe ›Zentrum und Peripherie‹ führt uns unmittelbar zum Gebiet der Geschichte des Raumes, dem damit verbundenen spatial turn und dem mental mapping, weitergehend hin zu den Debatten um Eurozentrismus im Kontext der Empire History und der postcolonial studies. Osteuropa als das Untersuchungsobjekt der Osteuropäischen Geschichte ist dabei, ganz im Sinne Fernand Braudels,2 einem der wichtigsten Vertreter der zweiten Generation der sogenannten Annales-Schule, sowohl Zentrum als auch Peripherie. Allerdings benutzte Braudel in seiner ›Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts‹ diese Begrifflichkeit nicht. Er, für den ›Raum‹ eine der zentralen Kategorien seiner Überlegungen war, sprach stattdessen von unterschiedlichen ›Weltwirtschaften‹, die in einer Zone aneinander grenzen. Russland sah er als eine ›eigenständige Weltwirtschaft‹, die allerdings in beständigem Austausch mit dem Westen, Osten und Süden stand.3 Bei der Definition von ›Raum‹ orientieren wir uns an den Ausführungen, die für das Spannungsfeld ›Zentrum und Peripherie‹ im Einrichtungsantrag des SFBs 1167 erarbeitet wurden. Danach werden Raumtheorien in den Natur- und Sozialwissenschaften entweder einer absolutistisch-substantiellen oder einer relativistisch-relationalen Tradition zugeordnet. Die Geschichtswissenschaften und insbesondere die Osteuropäische Geschichte ordnen sich grundsätzlich dem relativistischen Konzept zu. Spätestens seit dem spatial turn wird ›Raum‹ als mentales Konstrukt behandelt, der durch verschiedene Akteure mit unterschiedlicher Bedeutung beladen werden kann, wodurch z. B. der gleiche geografische Ort – abhängig von der Perspektive des Betrachters – sowohl Zentrum als auch Peripherie sein kann.4 Hinsichtlich des spatial turn hat Martina Winkler, eine Osteuropahistorikerin, dies auf folgende Weise kurz zusammengefasst: 2 Vgl. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts, 3 Bde., Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, München 1986. Das französische Original erschien unter dem Titel ›Civilisation matérielle, économie et capitalisme‹, Paris 1979. Braudel, dies sei hier angemerkt, wird von vielen Vertretern des ›spatial turn‹ meist nur peripher zur Kenntnis genommen, obwohl er mit seiner ›Geschichte des Mittelmeerraumes‹ wohl eine der ersten ›Raumgeschichten‹ publiziert hat. Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt a. Main 1990; die frz. Erstausgabe: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philipp II, erschien Paris 1949. Die deutsche Übersetzung folgt der vierten durchgesehenen und berichtigten Auflage, Paris 1979. Vgl. beispielsweise Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. 3 Vgl. Braudel 1986, Bd. 3, 23, 492–520. 4 Vgl. Einrichtungsantrag ›SFB 1167. Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‹, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2015, 25 [unveröffentlichtes Manuskript].

Das Zentrum von der Peripherie aus kommentieren

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»›Raum‹ kann von Historikern nicht allein als passive Bühne für menschliche Akteure betrachtet werden und muss vielmehr als historische Kategorie verstanden werden. Zugleich gilt: ›Räume sind nicht, Räume werden gemacht.‹«5 Eng verbunden ist damit das Konzept der mental map (der kognitiven Landkarte), welches als Forschungsgegenstand der europäischen Geschichte in Anwendung auf Osteuropa vor allem von Frithjof Benjamin Schenk bearbeitet und erläutert wurde: »Eine kognitive Karte hilft dem Menschen, sich in seiner räumlichen Umgebung zu orientieren.«6 Kognitives Kartieren wird definiert als »ein abstrakter Begriff, welcher jene kognitiven oder geistigen Fähigkeiten umfasst, die es uns ermöglichen Informationen über die räumliche Welt zu sammeln, zu ordnen, abzurufen oder zu speichern.«7 Eine kognitive Karte ist demzufolge »eines Menschen strukturierte Abbildung eines Teils der räumlichen Umwelt […]. Sie spiegelt die Welt so wider, wie ein Mensch glaubt, dass sie ist, sie muss nicht korrekt sein. Tatsächlich sind die Verzerrungen sehr wahrscheinlich.«8 Historische Mental-Maps-Forschung stellt die Frage in den Mittelpunkt, »wie persönliche Raumvorstellungen durch kulturell vermittelte (Welt-)Bilder beeinflusst werden«.9 Einschlägig und wichtig ist es, hier den folgenden Aspekt zu betonen: »Wenn in historischen Studien z. B. nach der ›Erfindung Osteuropas‹ gefragt wird, geht es nicht in erster Linie darum, entsprechende Raumbilder mit einer ›objektiven Wirklichkeit‹ abzugleichen. Vielmehr werden die in diesen Vorstellungen manifestierten Repräsentationen der räumlichen Umwelt als eigene historische ›Wirklichkeit‹ ernst genommen und nach ihrer handlungsleitenden Kraft für historische Akteure befragt.«10 Dabei richtet sich die historische Analyse der Konstruktion entsprechender Raumvorstellungen nach dem Er-

5 Martina Winkler, Das Imperium und die Seeotter. Die Expansion Russlands in den nordpazifischen Raum, 1700–1867, Göttingen 2016, 18, mit Bezug auf Hans-Dietrich Schultz, »Räume sind nicht, Räume werden gemacht.« Zur Genese »Mitteleuropas« in der deutschen Geographie, in: Europa Regional 5,1 (1997), 2–14. 6 Frithjof B. Schenk, Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 28 (2002), 493–514, hier 494. 7 Roger M. Downs/David Stea, Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, New York 1982, 23. Zit. nach Schenk 2002, 494. 8 Schenk 2002, 494. 9 Frithjof B. Schenk, Mental Maps: Die kognitive Kartierung des Kontinents als Forschungsgegenstand der europäischen Geschichte, in: EGO – Europäische Geschichte online (2013), http://ieg-ego.eu/de/threads/theorien-und-methoden/mental-maps/frithjof-benjaminschenk-mental-maps-die-kognitive-kartierung-des-kontinents-als-forschungsgegenstand -der-europaeischen-geschichte (27. 08. 2019). 10 Ebd.

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Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi

gebnis der Wechselwirkungen von Fremd- und Selbstzuschreibungen in Bezug auf eine bestimmte Region bzw. einen wie auch immer erfassten Raum.11

2.

Texte: ›Ego-Dokumente‹ als Quellen des Teilprojektes

Für unser Teilprojekt haben wir fünf Reise- oder Zeitzeugenberichte von Ausländern ausgewählt, die sich während der ›Zeit der Wirren‹, also der Phase der Thronvakanz in Moskowien zwischen 1598 und 1613, dort aufhielten. Diese fünf Berichte stammen von zwei Deutschen (Hans Georg Peyerle und Conrad Bussow), einem Niederländer (Isaac Massa), einem Schweden (Peter Petrejus oder Peer Persson de Erlesunda) und einem Franzosen (Jacques Margeret). Peyerle und Massa waren Kaufleute, Bussow und Margeret Söldner und Petrejus Diplomat und Historiker. Die Berichte von Margeret und Petrejus wurden zeitgenössisch publiziert, die drei anderen sind nur als Manuskripte überliefert und erschienen erst seit dem 18. Jahrhundert in gedruckter Form.12 Die Verfasser gehörten zudem unterschiedlichen Generationen an, Massa und Peyerle, Mitte der 1580er Jahre geboren, waren gerade Anfang 20, als sie die Unruhen in Moskowien erlebten, die drei anderen wurden zwischen Anfang der 1550er Jahre und 1570 geboren, wobei Bussow der Älteste und Petrejus der Jüngste war; für Margeret wird als Geburtsjahr 1565 angeführt. Auch dies sollte bei einer Quelleninterpretation Berücksichtigung finden. Keiner dieser Berichte kann als klassischer Reisebericht bezeichnet werden, denn die Reise selbst spielt bei allen Autoren kaum eine Rolle. Zunächst haben Andreas Kappeler und Frank Kämpfer in den 1980er Jahren diese auf Moskowien bezogenen Berichte als »Augenzeugenberichte« bezeichnet, was den Sachverhalt jedoch nur bedingt charakterisiert.13 Hans Medick und Benigna von Krusenstjern sprachen in den 1990er Jahren von »Zeitzeugnissen« und »Selbstzeugnissen«. Die Bezeichnung »Zeitzeugenbericht« erscheint erheblich treffsicherer, denn berichtet wird überwiegend über Gesehenes und Gehörtes während des Aufent11 Vgl. ebd. 12 Dittmar Dahlmann, »Waß nun weitter darauß wirt werden eröfnet die Zeit«. Deutschsprachige Zeitzeugenberichte in der ›Zeit der Wirren‹ (1598–1613), in: Dittmar Dahlmann/ Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ›Zeit der Wirren‹ 1598–1613, Göttingen 2019, 13–55, hier 17–19. 13 Andreas Kappeler, Die deutschen Russlandschriften der Zeit Ivans des Schrecklichen, in: Friedhelm B. Kaiser/Bernhard Stasiewski (edd.), Reiseberichte von Deutschen über Russland und von Russen über Deutschland, Köln/Wien 1980, 1–23, hier 4; erweiterte Fassung: Ders., Die deutschen Flugschriften über die Moskowiter und Iwan den Schrecklichen im Rahmen der Rußlandliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Mechthild Keller et al. (edd.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert, 2. Aufl., München 1988, 150– 182, hier 154. Vgl. dazu Dahlmann 2019, 16.

Das Zentrum von der Peripherie aus kommentieren

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haltes in Moskowien.14 Dabei sind Lebenswelt und Lebensweise der einheimischen Bevölkerung, also Sitten, Gebräuche, Wirtschaft, Religion und auch die Natur, wie sie ansonsten in Reiseberichten der Zeit beschrieben wurden, kaum von Bedeutung. Zu sehen ist dies im Kontext der Diskussionen über ›Ego-Dokumente‹. Seit den späten 1950er Jahren entwickelte sich, ausgehend von dem niederländischen Historiker Jacob Presser und fortgeführt von seinem Landsmann Rudolf Dekker, der Begriff der ›Ego-Dokumente‹ oder Selbstzeugnisse, der dann seit den 1990er Jahren allgemeine Verbreitung fand, wobei die Begrifflichkeit nicht immer einheitlich war. Gemeint sind alle Formen historischer Autobiographik, Zeugnisse der Selbstwahrnehmung, wie dies vor allem Winfried Schulze, Hans Medick und Alf Lüdtke, um nur einige zu nennen, vorgetragen haben. Diese Selbstwahrnehmung soll sich nicht nur auf solche Ausführungen, die bewusst über das persönliche Leben und die eigenen Gefühle berichten, beziehen, sondern auch auf »unabsichtliche« Enthüllungen oder bewusst Verborgenes.15 Im Kern also geht es darum, ob und in welchem Maße die Persönlichkeit oder zumindest einige Charakteristika des Autors aus dem Zeitzeugenbericht heraustreten und dem Leser etwas über ihn und seine »Empfindungen« mitteilen.16 Es kann hier nicht der Ort sein, um ausführlich auf alle Texte einzugehen. Die Überlieferungslage ist in allen Fällen durchaus komplex. So liegen von Bussows Bericht sechs Manuskripte vor, die in den Jahren zwischen 1612 und 1617 erstellt wurden. Nur bei jenem Manuskript, das Bussow Ende 1612 Herzog August von Braunschweig-Wolfenbüttel zusandte, können wir einigermaßen sicher sein, dass diese Version von Bussow autorisiert wurde.17 Massas Text ist nur in einer Fassung bekannt, die mit einiger Gewissheit von ihm selbst verfasst und dann an den Statthalter Fürst Moritz von Oranien gesandt wurde. Sie blieb bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts unpubliziert und erschien zunächst in einer russischen Übersetzung, dann im niederländischen Original und in französischer Über14 Zum Begriff ›Zeitzeugnis‹ vgl. Hans Medick, Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt, 2. Aufl., Göttingen 2018, 11. Vgl. dazu Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 462–471; Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: Zeitenblicke 1,2 (2002), http://www.zeitenblicke.de/20 02/02/rutz/rutz.pdf (24. 04. 2020); Winfried Schulze (ed.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser (edd.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Köln et al. 2012; die Diskussion über ›Ego-Dokumente‹ fassen zusammen: Michael Mascuch/Rudolf Dekker/ Arianne Baggerman, Egodocuments and History: A Short Account of the Longue Durée, in: The Historian 78 (2016), 11–56. 15 Vgl. Schulze 1996, 14. 16 Vgl. ebd., 24–30. 17 Dazu ausführlich Dahlmann 2019.

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Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi

setzung, bevor schließlich 1982 auch eine englische Fassung erschien.18 Der Bericht des Augsburger Juweliers Hans Georg Peyerle, der in zwei weitgehend identischen Manuskriptfassungen erhalten ist, erschien erstmals in den 1770er Jahren in einem vollständigen Abdruck, danach 1832 in einer russischen Übersetzung und schließlich 1997 in einer deutschsprachigen Neuedition mit zahlreichen Lesefehlern und einer englischen Übersetzung.19 Grundsätzlich handelt es sich bei den vorliegenden Texten der ausländischen Autoren um ›Sachberichte‹. Die Verfasser teilen mit, sie gäben nur wieder, was sie »warhaftiges gehört, gesehen und erfahren« hätten, wie es im Titel der Peyerleschen Aufzeichnung heißt.20 Bei Conrad Bussow heißt es in einem der Titel, es handele sich »um ein gar genaues TageBuche, der gleichen particulariteten sonst nirgends beschrieben«. Sie seien »mit aufrichtiger Feder meist gegenwärtig auffgezeichnet« worden.21 Die Texte erheben teils also schon in ihrem Titel den Anspruch der Authentizität und Objektivität, der Wahrheit, zumindest der Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit, denn die Autoren seien »gegenwärtig« gewesen, hätten alles gehört und gesehen. Suggeriert wird zugleich, die Autoren seien, wenn auch nicht immer, so doch meist dort »gegenwärtig« gewesen, wo sich das relevante Geschehen abgespielt habe, also im Zentrum der Ereignisse. Dies jedoch war meist gerade nicht der Fall. Viele relevante Ereignisse erlebten sie nicht im Zentrum, sondern eher am Rande des Geschehens, also an der Peripherie, und gaben wieder, was sie von anderen »gehört« und »erfahren« hatten. Zumeist allerdings waren sie, nicht nur aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse, kaum in der Lage, Gehörtes und Erfahrenes zu überprüfen. Die Informationsquellen waren einseitig und nicht immer sehr zuverlässig.

18 Vgl. Isaac Massa, A Short History of the Beginnings and Origins of These Present Wars in Moscow under the Reign of Various Sovereigns down to the Year 1610, trans. by G. Edward Orchard, Toronto/Buffalo/London 1982, XXI–XXIV. 19 Vgl. Hans G. Peyerle, Journey to Moscow. Beschreibung der Moßcuitterischen Rayß, welche ich Hanns Georg Peyerle von Augspurg mit herrn Andreasen Nathan und Matheo Bernhardt Manlichen dem Jüngeren, Ady 19 Marty Ao 1606 von Crachaw aus, angefangen und was wir wahrhafftiges gehört, gesehen und erfahren, alles aufs kürzest beschriben, bis zue unserer Gott lob wieder dahin ankunft den 15 Decembris Anno 1608, ed., trans. and annotated by G. Edward Orchard (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 5), Münster 1997. 20 Ebd. 21 Dahlmann 2019, 40.

Das Zentrum von der Peripherie aus kommentieren

3.

Peyerles Text

3.1

Historischer Kontext und thematische Schwerpunkte

227

Als ein gutes Beispiel wählen wir den erwähnten Text des jungen Augsburger Juweliers Hans Georg Peyerle, geboren um 1584 und gestorben 1649 in seiner Heimatstadt. Sein Vater Georg und sein Onkel Simon, beide ebenfalls Juweliere und Goldschmiede, unterhielten gute Geschäftsverbindungen zum polnischen König Sigismund III. Wasa (1566–1632, reg. 1587–1632), aber auch zu Kaiser Rudolf II. (1552–1612, reg. 1576–1612) und zum bayerischen Herzog Maximilian I. (1573–1651, reg. 1597–1651).22 Ende des Jahres 1605 reiste der junge Hans Georg Peyerle mit zwei Begleitern aus seiner Heimatstadt, die aus alteingesessenen Kaufmanns- bzw. Goldschmiedefamilien stammten, an den Hof des polnischen Königs, um dort Geschäfte zu machen. Am Hofe ließen sich die drei Augsburger von dem Gesandten des russischen Thronprätendenten Dmitrij überreden, zu dessen bevorstehender Hochzeit mit einer polnischen Adeligen an den Zarenhof nach Moskau zu reisen, um dort ihre Waren zu verkaufen.23 In Moskau angekommen, gerieten die Kaufleute im Mai 1606 in die Wirren der Kämpfe um den russischen Zarenthron. Dmitrij und seine Entourage wurden von einer Verschwörergruppe aus den Reihen des russischen Hochadels grausam ermordet; zugleich kam es zu Verfolgungen und Ermordungen der in Moskau anwesenden Polen und anderer Ausländer. Einige von ihnen, darunter auch die drei Augsburger Juweliere und Kaufleute, konnten sich auf das Anwesen des polnischen Gesandten flüchten. Dort verbrachten sie rund zweieinhalb Jahre, in denen Russen und Polen unter Einschaltung des Kaisers diplomatische Verhandlungen über die Bezahlung bzw. Rückgabe der Waren, die an Dmitrij verkauft worden waren, bzw. über Friedenschlüsse führten. Erst Mitte Dezember 1608 erreichten Peyerle und seine Gefährten wieder die polnische Königsstadt Krakau.24 22 Vgl. dazu ausführlicher Dahlmann 2019, 41–43. 23 Es kann hier nicht der Ort sein, die zu jener Zeit in Russland herrschenden Verhältnisse ausführlich zu schildern. Der Zeitraum zwischen 1598 und 1613 wird als ›Zeit der Wirren‹ (russ.: ›smuta‹ oder ›smutnoe vremja‹) bezeichnet. Der Thronprätendent, dessen Identität auch heute noch nicht endgültig geklärt ist, gab vor, der jüngste Sohn Ivans IV. des Schrecklichen zu sein, dem letzten russischen Herrscher aus dem Geschlecht der Rjurikiden. Er sei 1591 einem Mordanschlag von Boris Godunov entkommen und habe sich nach Polen retten können. Nach dem Tode von Boris Godunov und seinem Sohn herrschte jener falsche Dmitrij (Pseudodemetrius) seit Juni 1605. Zu Dmitrij vgl. Jan Kusber, Demetrius, der falsche Zar, in: Christine Strobl/Michael Neumann (edd.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Renaissance, Regensburg 2006, 174–195. 24 Vgl. Peyerle 1997, Titelseite. Zum Sachverhalt vgl. Walter Leitsch, Moskau und die Politik des Kaiserhofes im XVII. Jahrhundert. I. Teil 1604–1654, Graz/Köln 1960, 43–46; Ders.,

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Peyerles ›Beschreibung der moßcouitterischen Rayß‹ ist in jenen zwei Manuskriptfassungen überliefert, die sich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel befinden und geringfügig voneinander abweichen. Über ihre Entstehungszeit wissen wir nichts, können also nur darüber spekulieren, ob der Verfasser seinen Text unmittelbar unter dem Eindruck der Ereignisse geschrieben hat oder erst Jahre oder Jahrzehnte später. Immerhin überlebte er das Geschehen um mehr als 40 Jahre. Bekannt ist nur, dass einer der beiden Texte erst kurz vor Peyerles Tod in die Bibliothek nach Wolfenbüttel gelangte und zu einem Konvolut von Dokumenten gehörte, das sein ihm gut bekannter Landsmann Philip Hainhofer, Patrizier, Kaufmann, Agent mehrerer Herzöge, Kunst- und Nachrichtenhändler, 1648 an Herzog August den Jüngeren verkaufte.25 Die Plastizität der Schilderungen sowie die Tatsache, dass im Text keine Ereignisse erwähnt werden, die nach 1608 geschahen, legt die Vermutung nahe, dass Peyerle seinen Text noch während oder bald nach seinem mehr als zweijährigen Zwangsaufenthalt in Moskau geschrieben hat. Peyerle befand sich zwar im Prinzip und durchaus real gemeinsam mit seinen Mitinternierten im Zentrum des Geschehens, jedoch lebte er de facto an der äußersten Peripherie, denn seine gesamten Kenntnisse über die Ereignisse in Moskau und in Russland erhielt er entweder von den russischen Wachen an den Toren des Gesandtschaftsanwesens oder von den polnischen Diplomaten über ihre Gespräche mit der russischen Seite. Eine eigene Anschauung konnte er nicht gewinnen, da er das Gelände nicht verlassen durfte. Darüber hinaus war er weder des Russischen noch des Polnischen mächtig und konnte sich daher auch nur rudimentär verständigen. Es kann daher nicht verwundern, dass Peyerles Bericht eine sehr deutliche pro-polnische Sicht aufweist. Die russische Seite schilderte er als wenig kompromissbereit und verstockt und für vernünftige Argumente kaum zugänglich. Sie zeigten, so schreibt er mehrfach, eine »unnötige halßstarrigkheit«.26 Vom Alltag der Bevölkerung Moskaus, von ihren Sitten, Gebräuchen und Gewohnheiten, erhielt er kaum Kenntnisse und schien sich dafür auch nicht sonderlich zu interessieren. Bisweilen berichtete er über die Fastenbräuche und beklagte schlechtes Essen, lobte dann aber wieder den moskowitischen Großfürsten, wenn er besonders gute Speisen und Getränke in den Hof des Gesandten schickte.

Westeuropäische Reiseberichte über den Moskauer Staat, in: Antoni Ma˛czak/Hans J. Teuteberg (edd.), Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, Wolfenbüttel 1982, 153–176. 25 Vgl. Dahlmann 2019, 35. 26 Peyerle 1997, 163.

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3.2

229

Textauszug27

Moßcowitterische Hochzeit Den andern tag ist die hochzeit gehalten worden (welche under andern dises gehabt, daß sonderlich zue merckhen, nemblichen daß sie auf einen frejtag celebriert worden. Es sei dann daß sie also vermainten, daß diser tag der bösste darzue were, weilln er vonn den hayden der göttin Veneri ist dediciert worden). Zue welcher hochzeit sein auch gebedten worden die herrn gesandten. Sie aber haben nit kommen wollen, deßwegen, daß man inen nit ein solchen orth zue sizen geben wolt, alß der Athanasius Wlaseioff, deß großfl gesandter, auß sonderlichen gnaden und gunsten, auf der hochzeit Irer Kön: Mt. inn Pollen gehabt hatte, dann derselbe sasse an der Königl. Taffel, mit andern kayserlichen königlichen und fürstlichen legaten, ob zwar sonst wol nit der brauch ist, daß die moßcouitterische gesandten an die taffel deß königs sondern an ein andere darneben gesezt werden. Diser obgemelten ursach wegen, haben sie sich etlich tag zuuor nit vergleichen könden, dann der großfürsts widersprachs, daß man seinen gesandten an keinen andern orth hette sezen mügen, alß da man andere königliche und fürstliche legaten gesezet hat. Wann aber dasselbig auß underschied, und auß freyem willen geschicht, kan man kein notwendigkeit viel weniger ein gesaz darauß machen. Welchs die gesandte weißlich und verstentlich widerlegt haben, jedoch haben sie für guet befunden der halstarrigkeit und hoffarth deß großfürsten plaz zugeben, und mehr achtung darauf geben, die geschäfte deß gemainen nuzens füeglich zuuolffüern, alß auf die unnötig und uberfliessig ceremonien, durch welche der weeg guete sachen zuuerichten, mögte verschlossen werden. Auf daß hat der herr Gonsofskj den gewohnlichen orth da die gesante sonsten pflegen zue sizen angenummen, der ander gesante aber herr Olesnizki alß der vornembste, ist an einem sonderlichen tisch nit weit underschiden von deß großfürsten auf seiner rechten seiten, wider allen gebrauch und gewonheit, alein gesezt worden. Es wäre zwar dasselbige, dem gesandten von Irer Kön: May: also comendieret worden, daß sie auf offentlichen panckheten, nirgent anders sich sezten, als bej dem großfürsten selbsten an seine tafel. Aber gewise be[v]elh kinden mit ungewisen zuefellen, durch herrschung der Zeit, und mannicherlay ursachen halben, der unbestendigkheit, accomodiert werden. So ist es biß weiln vonnöthen, daß man die rhatschläg verendern thue, durch underschied der zeiten, und weißlich ist der schief patron, der schief inn ungestümmigkheit deß meers zu moderiern waist, dann es geschicht viel, daß 27 Auszug aus Hans G. Peyerle, Journey to Moscow. Beschreibung der Moßcuitterischen Rayß, welche ich Hanns Georg Peyerle von Augspurg mit herrn Andreasen Nathan und Matheo Bernhardt Manlichen dem Jüngeren, Ady 19 Marty Ao 1606 von Crachaw aus, angefangen und was wir wahrhafftiges gehört, gesehen und erfahren, alles aufs kürzest beschriben, bis zue unserer Gott lob wieder dahin ankunft den 15 Decembris Anno 1608, ed., trans. and annotated by G. Edward Orchard (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 5), Münster 1997, 115– 117. Korrigiert anhand der beiden in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vorhandenen Handschriften: Codex Guelf. 32.5 Aug 2o und Codex Guelf. Extravagantes 41. Um das Verständnis des Textes zu erleichtern, wurde an einigen Stellen ein durch eckige Klammern gekennzeichnetes »v« anstelle des im Original stehenden »u« gesetzt.

230

Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi

wann die gesandten nun sehr zue embfig sein, auf den be[v]elhen en irer Königin, viel guete gelegenheiten dardurch versaumbt werden, und hernacher solche verlorne gelegenheiten, die fürsten selber hefftig beklagen, deßwegen werden die Römer gelobt, daß sie ihre gesante gemaincklich mit diser einzigen vermahnung, ihre sachen zuuerrichten verschickt haben? Sie sollen sehen darauf, daß sie alleß dem gemeinen nuzen zue guetem richten, daß derselbe kein nachteil empfahe. Der orth dises pankhets, war inn obgemeltenn audienz saal, inn welches mitten stuende ein grose saul, bej derselbigen ein großer tisch, der war mit ganz gueldinen und silbernen ganz verguelten geschirren, bestellet, von unden biß oben auf, voll und dicht an einand. Über daß lagen vor dem saal, silberne geschierr gleich wie stein hauffer auf einander, derer grose sich verglichen unsern aymer kesseln, unnd fäßlen. An dem höchsten orth dieses saals, ist der tisch des großfürsten und der großfürstinn gestanden, welche sassen mit ihren cronen auf den häuptern inn pollnischer khleidung, die von golt, perlen und edelgesteinen also gezieret waren, daß sie einen grosen glanz von sich gaben. Nit weitt von der rechten hant des großfüsten, ist der herr gesant Olesnizki, an einem sonderlichen tisch, wie obgemelt, allein gesezt worden, die andere herrn und gäst sassen zur linckhen und rechten hant, an langen schmalen tafflen, wie auch etliche fürneme moßcouitterische Senatorn, under welchen hat den obersten orth, der ander königlich abgesant, herr Gonsofski, auf den tischen waren weder teller noch leffel gelegt, und zuem ersten wuerde einem jeden branntwein zue trinckhen dargereicht, nach dem haben sie schön weißbrot aufgesezt, neben vil underschiedlichen trachten, der maiste theilß von taig und schlechten pastetten, auch grose brot holl außgebacken, und voller khleinen fischlinn.

4.

Zu den Inhalten von Peyerles ›Beschreibung der moßcouitterischen Rayß‹ und zu ihrer Bedeutung für das Teilprojekt

In vielerlei Hinsicht bot Peyerles Text Erzählungen über Ereignisse und Begebenheiten, die er nicht miterlebt hatte, und über Sachverhalte, die er nicht kannte. Zudem erzählte er von Orten, an denen er nie gewesen war. Dennoch bietet der Text eine ganze Reihe von Beobachtungen und Informationen, die für die Fragestellung des Sonderforschungsbereiches ›Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‹ von erheblicher Bedeutung sind. Nach seiner Ankunft und in den Tagen der Hochzeitsfeierlichkeiten stand Peyerle als Juwelier jedoch im Zentrum des Interesses und damit auch im Zentrum der Macht, denn, wie aus seinem Bericht hervorgeht, nahm er an den Empfängen und Zeremonien vor, während und nach der Hochzeit teil. Hier zeigte sich der junge Augsburger Juwelier als aufmerksamer Zeitzeuge und genauer Beobachter der Aushandlung von Macht und Herrschaft durch Rituale, Symbole und Repräsentationen.

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Ausführlich schilderte Peyerle den Konflikt um die Titulatur des russischen Zaren mit den Gesandten des polnischen Königs Sigismund III. Wasa. Die polnische Seite, obwohl doch mit dem neuen Herrscher, dem ›Falschen Dmitrij‹ verbündet, verweigerte ihm in dem persönlichen Schreiben des Königs die Anrede als ›Kaiser‹, lehnte damit also eine ›Erhöhung‹ seines Ansehens und damit auch seiner Macht ab. Um eine Eskalation zu vermeiden, gab Dmitrij schließlich nach und nahm den Brief an.28 Dennoch wollte der neue Zar »inn wehrung diser ceremonien seine magnificenz (sonderlich vor dem herrn gesandten)« beweisen und behandelte bei diesem Empfang die höchsten Vertreter des russischen Adels als seien sie seine Knechte. Peyerle kommentierte, dass dies »schlechte sachen« seien, dass »unsere potentaten und fürsten, iren schlechtesten edelknaben nit solten be[v]ehlen. Da solches die herrn gesandten, und andere pollnische herrn sahen, hatten sie ursach zue den discoursen mit einander, daß sie hatten Gott dem Allmechtigen zu dancken, wegen irer freyheiten, so sie inn irem vatterlant hatten.«29 Wenige Tage später entzündete sich der nächste Konflikt an der Sitzordnung für die polnische Delegation bei dem Bankett anlässlich der Hochzeitsfeierlichkeiten Dmitrijs und seiner polnischen Braut Maryna Mniszech. Den polnischen Gesandten wurde mit fadenscheinigen Argumenten ein Platz an der Tafel des Großfürsten verweigert, was zu entsprechenden Debatten führte. Peyerle sprach von »unnötig und uberfliessig ceremonien« und bezeichnete Dmitrijs Verhalten als »halstarrigkeit und hoffarth«.30 Der zuvor häufiger vom Chronisten gelobte neue Monarch, der doch Reformen einführen wollte, hatte inzwischen offensichtlich an Ansehen verloren. »Welchs die gesandte weißlich und verstentlich widerlegt haben, jedoch haben sie für guet befunden der halstarrigkeit und hoffahrt des großfürsten plaz zugeben, und mehr achtung darauf geben, die geschäfte des gemainen nuzens füeglich zuvolffüern, alß auf die unnötig und uberfliessig ceremonien, durch welce der weeg guete sachen zuverrichten, mögte verschlossen werden.«31 Der Text, auch wenn er notgedrungen in einer peripheren Lage geschrieben wurde, behandelt dennoch sehr aufschlussreich und scharfsichtig die Situation im Zentrum von Macht und Herrschaft. Peyerle war übrigens einer der wenigen, wenn nicht sogar der einzige Zeitzeuge, der diese negativen Verhaltensweisen des ›Falschen Dmitrij‹ ausführlich schilderte und kommentierte. Wir finden dies weder bei Bussow noch bei Massa oder anderen auswärtigen Chronisten. Von daher ist das Urteil der bisherigen Historiographie, Peyerle habe eine »Scheu28 29 30 31

Vgl. ebd., 110–113. Ebd., 114. Ebd., 116. Ebd., 116.

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Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi

klappenperspektive« gehabt und sei »ahnungslos« gewesen,32 grundlegend zu revidieren. Vielmehr beschrieb er im Detail seine eigene ›subjektive Wirklichkeit‹ im Moskowien der damaligen Zeit, was seine Aufzeichnungen zu einer wertvollen historischen Quelle macht. Er verurteilte nicht nur die Rückständigkeit des russischen Herrschers, sondern des Zentrums Moskowiens insgesamt. Durch seine expliziten Vergleiche des zarischen Verhaltens mit dem Verhalten westeuropäischer Fürsten degradierte er die russische Hauptstadt zur eindeutigen Peripherie des gesamteuropäischen Raumes. Da eine Peripherie meistens vom Zentrum aus und oft durch die klassische Abgrenzung des ›Eigenen‹ von den ›Anderen‹ definiert wird, demonstrierte er hier eine klare eurozentrische Weltanschauung, die für damalige europäische Reisende so typisch war und stets bei Quellenanalysen berücksichtigt werden muss. Daran kann zudem veranschaulicht werden, dass eine Peripherie stets eine sehr relative Erscheinung bleibt, die meistens überwiegend durch Fremdzuschreibungen zustande kommt. Auch die Überwindung eines rein eurozentristischen Ansatzes bildet eine der wichtigsten und unverzichtbaren Grundlagen für das wissenschaftliche Arbeiten mit dem Konzept von Zentrum und Peripherie, die nicht nur als rein mentale, sondern vor allem als sehr flexible und sich stets verändernde Konstrukte zu verstehen sind.

Quellenverzeichnis Isaac Massa, A Short History of the Beginnings and Origins of These Present Wars in Moscow under the Reign of Various Sovereigns down to the Year 1610, trans. by G. Edward Orchard, Toronto/Buffalo/London 1982. Hans G. Peyerle, Journey to Moscow. Beschreibung der Moßcuitterischen Rayß, welche ich Hanns Georg Peyerle von Augspurg mit herrn Andreasen Nathan und Matheo Bernhardt Manlichen dem Jüngeren, Ady 19 Marty Ao 1606 von Crachaw aus, angefangen und was wir wahrhafftiges gehört, gesehen und erfahren, alles aufs kürzest beschriben, bis zue unserer Gott lob wieder dahin ankunft den 15 Decembris Anno 1608, ed., trans. and annotated by G. Edward Orchard (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 5), Münster 1997.

32 Frank Kämpfer, Deutsche Augenzeugenberichte über die »Zeit der Wirren«, in: Kaiser/ Stasiewski (edd.) 1980, 24–42, hier 31; Ders., Facetten eines deutschen »Rußlandbildes« um 1600, in: Keller et al. (edd.) 1988, 206–222, hier 214; vgl. auch Ders., Der Moskauer Kreml – seine Wahrnehmung von außen, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (ed.), Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht. Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, 13. 2. bis 31. 5. 2004, München 2004, 157–171.

Das Zentrum von der Peripherie aus kommentieren

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Literaturverzeichnis Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philipp II, Paris 1949. Fernand Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, Paris 1979. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts, 3 Bde., Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, München 1986. Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt a. Main 1990. Peter J. Brenner (ed.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a. Main 2007. Dittmar Dahlmann, »Waß nun weitter darauß wirt werden eröfnet die Zeit«. Deutschsprachige Zeitzeugenberichte in der ›Zeit der Wirren‹ (1598–1613), in: Dittmar Dahlmann/Diana Ordubadi (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ›Zeit der Wirren‹ 1598–1613, Göttingen 2019, 13–55. Roger M. Downs/David Stea, Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, New York 1982. Einrichtungsantrag ›SFB 1167. Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‹, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2015. Andreas Kappeler, Die deutschen Russlandschriften der Zeit Ivans des Schrecklichen, in: Friedhelm B. Kaiser/Bernhard Stasiewski (edd.), Reiseberichte von Deutschen über Russland und von Russen über Deutschland, Köln/Wien 1980, 1–23. Andreas Kappeler, Die deutschen Flugschriften über die Moskowiter und Iwan den Schrecklichen im Rahmen der Rußlandliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Mechthild Keller et al. (edd.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert, 2. Aufl., München 1988, 150–182. Frank Kämpfer, Deutsche Augenzeugenberichte über die »Zeit der Wirren«, in: Friedhelm B. Kaiser/Bernhard Stasiewski (edd.), Reiseberichte von Deutschen über Russland und von Russen über Deutschland, Köln/Wien 1980, 24–42. Frank Kämpfer, Facetten eines deutschen »Rußlandbildes« um 1600, in: Mechthild Keller et al. (edd.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert, 2. Aufl., München 1988, 206–222. Frank Kämpfer, Der Moskauer Kreml – seine Wahrnehmung von außen, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (ed.), Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht. Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, 13. 2. bis 31. 5. 2004, München 2004, 157–171. Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 462–471. Jan Kusber, Demetrius, der falsche Zar, in: Christine Strobl/Michael Neumann (edd.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Renaissance, Regensburg 2006, 174–195. Walter Leitsch, Moskau und die Politik des Kaiserhofes im XVII. Jahrhundert. I. Teil 1604–1654, Graz/Köln 1960.

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Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi

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Marian Kasprowski

Gesandtschaftswesen und diplomatisches Zeremoniell der Qing-Zeit in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹

Teilprojekt ›Empfang von Gesandtschaften in China als Legitimationsinstrument und Ausdruck von Herrschaftsbewusstsein‹ (Leitung: Prof. Dr. Ralph Kauz, Sinologie)

1.

Die ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ und die Gattung der Ritualtexte

Beschäftigt man sich mit dem diplomatischen Zeremoniell des chinesischen Kaiserhofs im Allgemeinen und dem Qing-zeitlichen Gastritual im Speziellen, dann kommt man nicht umhin, das ›Gastriten‹-Kapitel in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ (Da Qing tongli 大清通禮) zu konsultieren. Bei dieser Quelle handelt es sich nämlich um die detaillierteste normative Schilderung des Ablaufs einer Tributaudienz am Qing-Hof, die uns zur Verfügung steht. 1736, im ersten Jahr seiner Amtszeit, befahl der Qianlong Kaiser 乾隆 (reg. 1711–1799) ein Ritenhandbuch zu verfassen, um »im Volk Ordnung herzustellen, Verschwendung vorzubeugen und es vor dem Verfall zu bewahren.«1 In dem gleichen Edikt weist der Kaiser seine Beamten an, bei der Kompilation nach den folgenden Maßgaben vorzugehen: »Die Ritenbücher vergangener Dynastien und die gesammelten Statuten unserer Dynastie sollen zusammengetragen werden, um die zeremoniellen Vorschriften für Bekappungen2, Hochzeiten, Beerdigungen und 1 Vgl. ›Vorwort‹ des Qianlong Kaisers in Da Qing Tongli 大清通禮 [Umfassende Riten der großen Qing], ed. Mukedenge 穆克登額 et al., 54 juan, Peking 1824. Sofern nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen vom Verfasser. 2 Das Bekappungsritual, chin. guan li 冠禮, war das traditionelle Übergangsritual für männliche Heranwachsende im chinesischen Kaiserreich. Die betreffende Person war in der Regel 20 Jahre alt, wenn das Ritual durchgeführt wurde. Via Divination wurden ein günstiger Zeitpunkt und die Gäste, die an der Zeremonie teilnehmen sollten, bestimmt. Das Ritual an sich umfasste folgende Elemente: Das Zusammenbinden der Haare auf dem Kopf des Jungen, das Aufsetzen der Kappe durch einen ranghohen Gast und nach der Bekappung die Verleihung eines sogenannten Großjährigkeitsnamen, chin. biaozi 表字. Ein entsprechendes Übergangsritual für weibliche Heranwachsende wurde ji li 笄禮 genannt.

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Marian Kasprowski

Opferungen auf ihre Vor- und Nachteile hin abzuwägen und sie dann in einem Buch zu vereinheitlichen. Das Ganze muss dabei gut verständlich sein, damit es den Gelehrten leicht fällt, die Regeln einzuhalten.« Im Jahr 1759 wurde das Kompilationsprojekt fertiggestellt und im Jahr 1818 gedruckt.3 Später wird das 50 Kapitel (chin. juan 卷) umfassende Werk unter dem Titel ›Auf kaiserlichen Befehl kompilierte umfassende Riten der großen Qing‹ (Qinding Da Qing tongli 欽 定大清通禮) in die Büchersammlung ›Vollständige Schriften der Vier Schatzkammern‹ (Siku Quanshu 四庫全書) aufgenommen.4 Die Redakteure der ›Siku Quanshu‹ haben das Werk der Kategorie ›Historiographien‹ (shibu 史部) und der Unterkategorie ›bürokratische Schriften‹ (zhengshulei shiliao 政書類) zugerechnet, was im weitesten Sinne alle Vorschriftensammlungen bzw. Leitfäden für Beamte von Regierungsinstitutionen umfasst. Diese Art von Beamtenhandbüchern umfasste meist politische Richtlinien und Vorschriften für eine bestimmte Behörde sowie Anweisungen für deren praktische Umsetzung. Die hier behandelte bürokratische Quelle fällt dabei in die Unter-Unterkategorie ›Ritenwesen‹ (yizhi zhi shu 儀製之屬).5 1819 wurde eine zweite Auflage der ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ in Auftrag gegeben und 1824 unter Leitung des Ritenministers Mukodengo fertiggestellt. Diese Neuauflage umfasste nun ein zusätzliches Kapitel zu Opferriten und drei zusätzliche Kapitel zu Audienzriten.6 Inhaltlich werden in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ zunächst die Staatsriten vorgestellt, die im Ahnentempel vollzogen werden. Danach geht das Werk der Reihe nach auf die traditionellen Ritualkategorien des Konfuzianismus, die sogenannten Fünf Riten (wuli 五禮), ein. Diese gliedern sich in die folgenden Kategorien: Opferriten ( jili 吉禮), Audienzriten ( jiali 嘉禮), Gastriten (binli 賓禮), Militärriten ( junli 軍禮) sowie Trauerriten (xiongli 凶禮). Die Opferriten – oder wörtlich übersetzt die »Glücksverheißenden Riten« – umfassen Riten, bei denen der Kaiser in seiner Funktion als Mittler zwischen den Menschen und der übermenschlichen Sphäre, Himmel und Erde, opfert. Die Audienzriten 3 Vgl. Feng Erkang 馮爾康, Qing shi shiliao xue 清史史料學 [Studies of Qing Dynasty Historical Sources], Shenyang 2004, 84; Richard J. Smith, Ritual in Qing Culture, in: Kwang-Ching Liu (ed.), Orthodoxy in Late Imperial China, Berkeley/London 1990, 5. 4 Die ›Siku Quanshu‹ sind eine 10.000 Titel umfassende Enzyklopädie, deren Kompilation im Jahr 1772 auf Befehl des Qianlong Kaisers begonnen wurde. Die enthaltenen Titel sind in vier Sammlungen bzw. ›Kammern‹ (ku 庫) aufgeteilt: »Klassiker« ( jing 經), »Historiographien« (shi 史), »Meister« (zi 子) sowie »Sammelwerke« ( ji 集). Die Sammlungen sind weiter unterteilt in 44 Unterkategorien (lei 類). 5 Vgl. Siku quanshu zongmu tiyao zhengli ben 四庫全書總目提要整理本 [Gesamtkatalog der Siku Quanshu, überarbeitete Ausgabe], ed. Lu Guangming 盧光明 et al., 2 Bde., Bd. 1, Peking 1997. 6 Vgl. Angela Zito, Of Body and Brush – Grand Sacrifice as Text/Performance in EighteenthCentury China, Chicago 1997, 242.

Gesandtschaftswesen und diplomatisches Zeremoniell der Qing-Zeit

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– oder wörtlich übersetzt »Preisungsriten« – umfassen die Versammlung der Beamtenschaft vor dem Kaiser, die Präsentation von Throneingaben vor dem Kaiser sowie den Erlass von kaiserlichen Edikten. Wo Opferriten also die Beziehungen zwischen dem Hof und den übermenschlichen Instanzen Himmel und Erde regulieren, regulieren die Audienzriten die intrahöfischen Beziehungen. Die Gastriten, welche uns vornehmlich interessieren, regulieren primär die Beziehungen zwischen dem Kaiser und extrahöfischen Eliten und umfassen sowohl das diplomatische Protokoll betreffende Regularien als auch Regeln der Begegnungsetikette für reichsinterne Eliten. Die Militärriten umfassen die Abnahme von Paraden, das Entsenden von Truppen, das Führen eines Straffeldzugs, kaiserliche Schießwettbewerbe und ähnliche militärische Zeremonien, bei denen der Kaiser in seiner Rolle als oberster Krieger inszeniert wird. Die ›Trauerriten‹ – oder wörtlich übersetzt »Unheilriten« – umfassen schließlich die rituellen Vorschriften für Trauerzeremonien nach Katastrophen und anderen unheilvollen Ereignissen. So gibt es Vorschriften für Trauerzeremonien bei Ernteausfällen (huangli 荒禮), bei Epidemien (zhali 札禮), bei militärischen Niederlagen (guili 禬禮) sowie bei Rebellionen und Banditenüberfällen (xuli 恤禮). Darüber hinaus regeln die Trauerriten primär Begräbnisvorschriften (sangli 喪禮).7 Man findet in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ allerdings nur normative Beschreibungen in Hinblick auf die praktische Durchführung der fünf oben beschriebenen Ritenarten. Dabei wird nicht auf die historische Entwicklung der Riten eingegangen, da diese bereits in dem anderen großen Qing-zeitlichen Ritenhandbuch, den ›Gesammelten Statuten der großen Qing‹ (Da qing huidian 大清會典) erläutert wird. In Bezug auf das Studium Qing-zeitlicher Riten und Zeremonien handelt es sich bei den ›Gesammelten Statuten der großen Qing‹ und den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ um komplementäre Werke, die beide essentielle Informationen zum besseren Verständnis des Qing-zeitlichen Ritualwesens enthalten. Ergänzend können noch Bildquellen wie die ›Illustrierten Regularien zu den zeremoniellen Paraphernalien der Dynastie‹ (Huangchao liqi tushi 皇朝禮器圖式) herangezogen werden. Dort findet man Zeichnungen von Ritualgegenständen, Hofregalien und Hofgewändern. Die nachfolgend abgedruckte deutsche Übersetzung des Kapitels ›Gastriten‹ (binli 賓禮) basiert auf der Ausgabe von 1824 und wurde vom Verfasser für diesen Beitrag angefertigt. Die Übersetzung beschränkt sich auf die erste Hälfte des Kapitels, welche die Bestimmungen betreffs des Empfangs von Tributgesandtschaften aus Vasallenländern enthält und somit die diplomatisch-außenpolitische Dimension der Gastriten behandelt. Dazu gehören auch die in Folge beschriebenen Zeremonien im Zusammenhang mit der Belehnung von Herr7 Vgl. Wuli Tongkao 五禮通考 [Umfassende Untersuchung der fünf Riten], ed. Qin Huitian 秦 蕙田, 1761.

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schaftseliten aus Vasallenländern, welche aber hier ausgeklammert werden. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird die innenpolitisch-soziale Dimension der Gastriten in Form von Regularien für die Begegnungsetikette der Herrschaftseliten innerhalb des Qing-Reichs geschildert. Im Rahmen des Spannungsfeldes ›Zentrum und Peripherie‹ des Sonderforschungsbereichs ›Macht und Herrschaft – Vormoderne Transfigurationen in transkultureller Perspektive‹ sind die rituellen Vorschriften für das diplomatische Zeremoniell, wie sie in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ beschrieben werden, von besonderer Relevanz und werden daher hier als Quellenbeispiel vorgestellt. Im dritten Abschnitt erfolgt eine inhaltliche Analyse und eine ideengeschichtliche Einordnung, um die Quelle für die transdisziplinäre Arbeit fruchtbar zu machen.

2.

Text und Übersetzung 大清通禮卷之四十五8 賓禮 周禮◦大行人掌賓客之禮儀。九州以外。謂之蕃國。各以其貴寳為摯。國家聲敎 暨訖。四夷來賓。徼外山海諸國。典之禮部。百餘年來。勅封燕賚諸典。儀文詳 洽爰輯為賓禮。而百官士民相見儀節。以類附於後。朝貢之禮。凡四夷屬國。按 期修職貢。 遣其陪臣◦齎表文◦方物。 來朝京師。 貢使将入境。 [朝鮮◦渡鴨綠 江。由鳳凰城入山海關。琉球航海。 由福建閩南鎮入境。 越南◦由陸路至廣西憑 祥州◦入鎮南關。 南掌。 由陸路至雲南永昌府入境。 暹羅航海。 由廣東虎門入 境。緬甸渡江。由陸路至雲南普。洱府入境。蘇祿。航海涉重洋。由福建廈門入 境。荷蘭航海。至廣東入境。西洋諸國。俱由廣東澳門入境。]由所在將軍◦督撫 ◦具提。 由部覆准。 皆給以郵符。 遴選文武官弁三人◦或二人◦伴送。 [朝鮮入 貢。由鳳凰城城守尉派防禦一人伴送。]經過地方。有司供其次舍廪餼。舟車夫馬 並遣屬吏◦及官軍護送。按途更代以達於京畿。禮部豫行工部修飾館舍。備器用 薪炭。戸部給粟米芻豆。光禄寺給牲魚酒漿蔬果之屬。既至。提督㑹同四譯館鴻 臚寺少卿[以禮部滿漢郎中◦員外郎◦遴選奏請欽命。 ]飭屬延接入館。 以時稽其 人衆。均其飲食。 右迎來 貢使就館。翼日。撿其方物表文。暨從官各服本國朝服以竢。禮部儀制司官◦設 表案於堂上正中。黎眀。館卿朝服。率貢使詣部。由左角門入。恭竢階下之左。 正使奉表在前。副使次之從官在後。禮部侍郎一人。出。詣案左立。儀制司官二

8 Der Text enthält Kommentare, welche für die Auflage von 1824 angefertigt wurden und im Originaltext in einer kleineren Schriftzeichengröße wiedergegeben werden. Hier werden die textinternen Kommentare stattdessen durch eckige Klammern kenntlich gemacht. Die im Text enthaltenen Unterkapitelüberschriften sind wie auch im Originaldokument durch Einrücken bezeichnet.

Gesandtschaftswesen und diplomatisches Zeremoniell der Qing-Zeit

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人。分立於左右楹南。均朝服館卿先升階。立左楹之西。同事序班各二人。引貢 使升階。 副使從升。 少後。 從官随序立。 皆跪。 正使舉表。 館卿恭接。 以授侍 郎。侍郎受表。陳於案正中復位。正使以下行三跪九叩禮。興。序班引退。館卿 率以出儀制司官送表内閣。竢命下。禮部以方物分納所司。 右進表貢方物 貢使上表訖。恭遇大朝常朝。皇帝御太和殿。百官行禮时。序班引貢使◦暨從官 ◦詣丹墀西班末。聽贊◦行禮。如儀。[詳見嘉禮]若不遇朝期。由禮部奏請。或奉 㫖召見。 館卿豫戒貢使◦及通事官◦習肄禮儀。 至日。 率貢使◦服其國朝服。 通 事補服。 詣宫門外祗竢。 皇帝常服。 御便殿。 領侍衛内大臣◦内大臣◦侍衛◦左 右侍立。如常儀。禮部尚書一人。蟒袍補服。引貢使入。通事随入。至丹墀西。 行三跪九叩禮。 畢。 引由西階升。 通事一人從升。 至殿門外。 跪。 皇帝降㫖慰 問。 禮部尚書承傳。 通事轉諭貢使。 貢使對辭。 通事譯言。 禮部尚書代奏。 禮 畢。興。引自西階降。出。退。如待以優禮。是日。皇帝御便殿。侍衛如前。八旗 大臣◦咸蟒袍補服。 入殿。 按翼侍立。 禮部尚書◦引貢使至丹墀西。 行三跪九叩 禮。興。引由西階升入殿右門。立右翼大臣之末。通事随入。稍後立。皇帝有㫖 賜坐。 領侍衛内大臣◦内大臣◦八旗都統◦副都統◦禮部尚書◦就立位一叩。 序 坐。貢使随跪◦叩。坐。迺賜茶。尚茶進皇帝茶。衆跪◦叩。侍衛徧授大臣◦及貢 使◦茶。咸跪受。一叩。坐飲。畢。跪◦叩◦如初。皇帝降㫖慰問。貢使跪聆◦答 奏。 皆禮部尚書承傳。 通事譯言。 如前儀。 禮畢。 禮部尚書◦引貢使出◦至朝 房。承㫖賜貢使尚方飲食。訖。館卿率以退。翼日黎眀。領赴午門外謝恩。鴻臚 寺傳贊。序班引班。貢使就丹墀西。北面。行三跪九叩禮。如儀。退。 右朝見 朝貢禮畢。 禮部疏請頒賜國王◦並燕賚貢使◦及其從官◦從人。 既得㫖。 移諸司 供備。屆日。所司陳賜物於午門外道左。皮◦幣◦布◦帛◦白金◦陳於案。馬◦陳 於庭。鞍◦轡◦具。[惟朝鮮國王◦及貢使◦賜馬。]館卿朝服。率貢使◦暨從官各 服其國朝服。 由東長安門◦天安門◦端門◦至西朝房前。 東面序立祇候。 禮部侍 郎一人。立案南。西面。主客司官從立。御史四人。鴻臚寺鳴贊二人。分立御道 左右。東西面。序班二人。立貢使之北。東面。均朝服。鳴贊贊齊班。序班引貢 使至西丹墀内。以次序立。北面東上。贊進。衆進。贊跪叩興。行三跪九叩禮。 畢。主客司官奉頒給國王賜物。前授貢使。貢使跪受。轉授從人。迺以次頒貢使 ◦及從官◦從人◦賜物。主客吏奉授。各跪受。訖。贊叩◦興。復行三跪九叩禮。 興。引退。館卿率貢使◦及從官從人出。賜燕於禮部。如儀 [詳見嘉禮。] 畢。皆退。 右燕賚 事竣。 貢使将回國。 光禄寺備牲酒果蔬。 禮部侍郎一人。 詣館舍筵燕。 如在部 儀。仍由原遣伴送官護送歸國。兵部換給勘合。朝鮮則換給山海關路引。禮部以 起程日期◦移知各將軍◦督◦撫。 沿途供館舍舟車◦飲食。 官軍防䕶。 如初來 禮。至貢道所經省㑹。賜燕。司道一人主之。儀與禮部燕同。既遣歸。以貢使出 境日期◦具蔬題聞。

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Umfassende Riten der großen Qing, Kapitel 459 Gastriten Den ›Riten der Zhou‹10 zufolge war der Audienzaufseher11 für die Gastriten und -zeremonien zuständig. [Die Gebiete, die] außerhalb der Neun Provinzen liegen, werden [in den ›Riten der Zhou‹] als fremde Länder bezeichnet. Jedes dieser Länder bringt seine kostbarsten Güter als Audienzgeschenk dar. Der Ruhm und der Einfluss12 unseres Landes reichen überall hin. So kommen die Barbaren der vier Himmelsrichtungen aus vielerlei Ländern, die in den Bergen und Meeren 9 Die Übersetzung basiert auf Da Qing tongli 大清通禮 [Umfassende Riten der großen Qing], ed. Mukedenge 穆克登額 et al., 54 juan, Peking 1824, 45.1a–6a. Vgl. auch James Hevia, Imperial Guest Ritual, in: Donald S. Lopez (ed.), Religions of China in Practice, Princeton 1996, 471–489, hier 477–487 für eine alternative Übersetzung ins Englische. 10 Bei den ›Riten der Zhou‹ (Zhouli 周禮) handelt es sich um einen grundlegenden Text der chinesischen Staatsführung, welcher schematische Beschreibungen zu Regierungsämtern sowie deren Funktion enthält. Zur Editionsgeschichte und zur historischen Bedeutung des Werks vgl. Benjamin A. Elman/Martin Kern (edd.), Statecraft and Classical Learning: The Rituals of the Zhou in East Asian History, Leiden 2010. 11 In den ›Riten der Zhou‹ im Abschnitt ›Justizminister im Herbstamt‹ (Zhouli qiu guan si kou 周禮秋官司寇) liest man folgende Amtsbeschreibung für den Audienzaufseher (chin. da xingren 大行人): »Der Audienzaufseher ist zuständig für die Durchführung der Riten für die großen bin 賓sowie die Zeremonien der großen ke 客, um dadurch gute (Herrschafts-) Beziehungen zu den Fürsten der Regionalländer herzustellen.« Der Han-zeitliche Gelehrte Zheng Xuan 鄭玄 schreibt in seinem Kommentar in Bezug auf diese Textstelle, dass die Bezeichnung ›große bin‹ die Regionalfürsten selbst in ihrer Rolle als Gast in der Audienz beim Zhou-König meint und ›große ke‹ die hochrangigen Beamten vom Hof der Regionalfürsten. Dem Subkommentar des Qing-zeitlichen Gelehrten Sun Yirang 孫詒讓 zufolge werden die Riten, welche für die Regionalfürsten sowie deren hohe Beamte abgehalten werden, wenn sie zur Audienz beim Monarchen erscheinen, zusammenfassend als Gastriten bezeichnet. Hieraus wird ersichtlich, dass das Gastritualwesen des Qing-Hofs seinen ideologischen Ursprung in jenem diplomatischen Zeremoniell hatte, welches die Beziehungen zwischen den Königen der späten Zhou-Zeit und ihren Vasallen regeln sollte. Vgl. Sun Yirang 孫詒讓, Zhouli zhengyi 周禮正義 [Orthodoxe Bedeutung der Riten der Zhou], Peking 2013, 2945. 12 Die Phrase shengjiao 聲教, »Ruhm und Einfluss« ist eine Anspielung auf das Kapitel ›Tribute des Yu‹ (Yu gong 禹貢) aus der Sektion ›Dokumente der Xia‹ (xia shu夏書) in den ›Verehrten Dokumenten‹ (Shangshu 尚書), in welchem man mit Bezug auf den titelgebenden mythischen Kaiser Yu 禹 folgende Phrase findet: »Sein Ruhm und sein Einfluss reichen bis zu den vier Meeren« (shengjiao qi yu sihai聲教訖于四海). Yu gilt in der chinesischen Historiographie als erster Kaiser der semi-legendären Xia-Dynastie und wurde als Kulturstifter und moralisches Vorbild verehrt. Im Kapitel ›Tribute des Yu‹ wir erzählt, dass Yu die Flüsse und Berge des Landes vermaß und das Land teile und dass er Verbesserungsarbeiten, wie etwa Maßnahmen zur Flutkontrolle, in den verschiedenen Regionen des Reichs durchführte. Entscheidend ist, dass hier zum ersten Mal das Konzept entworfen wird, dass periphere Völker dem chinesischen Kaiser regionale Produkte als Tribut bringen (sollen), was den Text zu einer der wichtigsten ideellen Grundlagen der vormodernen diplomatischen Ordnung des chinesischen Kaiserreichs macht, welche in Form der Gastriten als pragmatische Handlungsanweisungen für Beamte des Ritenministeriums verschriftlicht wurde.

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außerhalb der Grenze liegen, als Gäste zu uns. Diese Besuche wurden vom Ritenministerium seit über 100 Jahren aufgezeichnet. Bezüglich kaiserlicher Erlasse, Belehnung, Bankettierung und Beschenkung existieren kanonische Schriften. Diese Ritentexte wurden sorgfältig untersucht, kombiniert und als Gastriten kompiliert. Die verschiedenen zeremoniellen Vorschriften, die die Begegnungen zwischen Beamten und dem einfachen Volk regeln, wurden am Ende dieses Kapitels als Anhang angefügt. Das Ritual des Tributbringens: Die Vasallen der vier Himmelsrichtungen sollen jeweils zur korrekten Jahreszeit Tribut entrichten. Hierzu sollen sie ihre Diener zur Audienz in unsere Hauptstadt schicken, um Throneingaben und lokale Produkte darzubieten. Wenn die Tributgesandten unsere Grenze überschreiten, Kommentar13: [Der Gesandte aus] Korea überquert den Yalu-Fluss und durchquert von der Stadt Fenghuang aus den Shanhai-Pass. [Der Gesandte aus] Ryu¯kyu¯ überquert das Meer und die Grenze bei der Stadt Min-An in der Provinz Fujian. [Der Gesandte aus] Vietnam erreicht die Stadt Pingxiang in der Provinz Guanxi über den Landweg und übertritt beim Zhen-Nan Pass die Grenze. [Der Gesandte aus] Nanchang erreicht die Präfektur Yongchang in der Provinz Yunnan über den Landweg und übertritt hier unsere Grenze. [Der Gesandte aus] Siam übertritt die Grenze am Tigertor in Guangdong, nachdem er das Meer überquert hat. [Der Gesandte aus] Myanmar überquert den Fluss und erreicht über den Landweg die Präfektur Pu’er in Yunnan, wo er die Grenze übertritt. [Der Gesandte aus] Sulu überquert Meere und Ozeane und betritt unser Land über Xiamen in der Provinz Fujian. Die Holländer kommen über den Seeweg und übertreten die Grenze in Guangdong. Alle Länder des westlichen Ozeans betreten unser Land bei Macao in der Provinz Guangdong.14

soll der General oder Generalgouverneur vor Ort in ihrem Namen eine Throneingabe einreichen.15 Diese soll vom Ritenministerium geprüft und bestätigt 13 Die Edition von 1824 enthält an verschiedenen Stellen erläuternde Kommentare der Herausgeber. Diese sind hier aus layouttechnischen Gründen nicht wie in der zitierten Ausgabe in einer kleineren Schriftgröße dargestellt, sondern eingerückt. 14 Abweichend von der Edition von 1824 findet man an dieser Stelle in der Qianlong-Edition von 1759 folgenden Kommentar: »Im Fall von Korea begrüßen zwei Mitglieder des Ritenministeriums den Gesandten in der Stadt Fenghuang. Im Fall von Annam, Ryu¯kyu¯, Burma, Siam, Holland, Sulu und Nanchang deputiert der Generalgouverneur der Provinz, welche auf der [vorgeschriebenen] Tributroute [von der jeweiligen Gesandtschaft] durchquert wird, einen Beamten, um sie an der Grenze zu begrüßen. Für Länder des westlichen Ozeans gilt, dass ein Mitglied der Abteilung des kaiserlichen Haushalts und ein Europäer aus der Astronomie-Behörde sie in Guangdong begrüßt.« Vgl. Da Qing tongli 大清通禮 [Umfassende Riten der großen Qing], ed. Lai Bao 來保 et al., 50 juan, Peking 1759, 43.1b. 15 In der Qing-Dynastie wurden offizielle Dokumente (gongwen 公文), welche als Korrespondenzen an den Kaiser adressiert wurden, allesamt als ›Throneingaben‹ bezeichnet. Das traditionelle Übermittlungssystem der Alltagsbürokratie wurde Thronbericht-System (benzhang zhidu 本章制度) genannt und enthielt zwei Arten von Throneingaben – die tiben 題本 und zouben 奏本 Throneingaben. Die Ersteren übertrugen offizielle Ereignisse und waren mit offiziellen Stempeln des Berichterstatters versehen, die Letzteren übermittelten private

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werden.16 Alle Gesandtschaftsmitglieder bekommen Autorisierungsplaketten für die Post-Relaisstationen.17 Es werden zwei oder drei niederrangige Zivil- und Militärbeamte ausgewählt, um sie zu eskortieren. Kommentar: Wenn Korea Tribut schickt, wird vom Magistrat der Stadt Fenghuang eine Wache entsendet, um die Gesandtschaft zu begleiten.

In jeder Gegend des Reichs, die die Gesandtschaft durchquert, soll der jeweils zuständige Beamte vor Ort sie mit Unterkunft, Verpflegung, Booten, Wagen und Pferden versorgen und Beamte und Sekretäre schicken, um sie zu eskortieren und zu begleiten bis sie die Hauptstadt erreicht haben. Das Ritenministerium soll frühzeitig das Ministerium für öffentliche Arbeiten damit beauftragen, die Gasthäuser in Stand zu setzen und zu schmücken sowie Geschirr, Gerätschaften und Brennholz zur Verfügung zu stellen. Das Finanzministerium liefere Hirse, Reis, Bohnen und Heu. Das Amt der kaiserlichen Tafel liefere Fleisch, Fisch,

Berichte ohne Stempel. Diese zwei Arten von Throneingaben wurden zuerst beim Großen Sekretariat (neige 內閣) eingereicht, wo man sie öffnete und mit einem Eingabevermerk (piaoni 票拟) versah und dann zur kaiserlichen Durchsicht vorlegte. Die Berichte von lokalen Beamten wurden von Transmissionsbeamten, den tongzhengsi 通政司, dem Großen Sekretariat in Form von Papierblättern übermittelt. Nach der kaiserlichen Durchsicht gingen die Anträge mit kaiserlichen Anmerkungen, die mit roter Tusche angebracht wurden, den sogenannten zhupi 朱批, an das Große Sekretariat zurück und dieses schickte sie zum Kopieren und Bekanntmachen an seine Unterabteilungen – die sechs Abteilungen (liuke 六科). Dieses traditionelle Throneingaben-System hatte die Qing-Dynastie von der vorherigen Ming-Dynastie übernommen, parallel dazu aber noch ihr eigenes Übermittlungssystem entwickelt. Dabei handelte es sich um das System der geheimen Thronberichte (mizhe 密折), bei dem ein Bericht an den Kaiser in einen Faltbogen, genannt zouzhe 奏折, geschrieben wurde. Der Kaiser verlangte von den Berichterstattern streng, geheime zouzhe persönlich zu schreiben. Doch nicht nur der Inhalt dieser Faltbögen sollte geheim bleiben, sondern auch die Zustellungsweise. Sie wurden auf inoffizielle Weise direkt zum Kaiser persönlich geleitet, unter Umgehung des Großen Sekretariats und von anderen Würdenträgern und Beamten. Nach dem Lesen und dem Hinzufügen von kaiserlichen Randbemerkungen wurden die zouzhe auf dieselbe Weise – durch das persönliche Dienstpersonal des Berichterstatters – zurückgebracht. Eine weitere Besonderheit der geheimen Throneingaben war, dass die Berichterstatter mit niedrigeren Dienstgraden auch dafür zugelassen waren. Im Militär durfte sogar der Oberst, im Zivildienst der Vize-Präfekt und in den Bannern der Feldwebel geheim berichterstatten. Das System hatte den Zweck der breiten Information des Kaisers und sollte geopolitisch sensible Informationen vor der mehrheitlich Han-chinesischen Beamtenschaft des äußeren Hofs geheim halten. Vgl. Zhuang Jifa 莊吉發, Qing chao zouzhe zhidu 清朝奏折制 度 [Das Qing-zeitliche System der Throneingaben], Peking 2016, 109–110; Wu Shuhui, Die Eroberung von Qinghai unter Berücksichtigung von Tibet und Khams, 1717–1727 – Anhand der Throneingaben des Großfeldherrn Nian Gengyao, Wiesbaden 1995, XV–XVII. 16 Die ersten beiden Sätze hinter dem Kommentar fehlen in der Qianlong-Ausgabe von 1759. 17 Bei diesen youfu 邮符 handelte es sich um Bescheinigungen, die es dem Träger erlaubten, Unterkunft und Verpflegung sowie Pferde und Wagen der das ganze Reich überspannenden Post-Relaisstationen in Anspruch zu nehmen.

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Wein, Soßen, Gemüse und Früchte.18 Sobald sie in der Hauptstadt ankommen, fällt es in die Verantwortung der Vizedirektoren des Amtes für das Staatszeremoniell19 und des Büros für Dolmetscher und Übersetzer,20 die Gesandten zu empfangen und zu überwachen. Kommentar: Durch das Ritenministerium werden mandschurische und Han-chinesische Beamte ausgewählt und per Throneingabe kaiserliche Anweisung erbeten.

Sie weisen ihre Untergebenen an, die Gäste zu empfangen und in ihre Unterkünfte zu bringen. Gemäß den zeitlichen Vorschriften sollen die Gesandtschaftsmitglieder sich versammeln. Ihnen sollen Getränke und Speisen in gleicher Menge gegeben werden. Von Westen willkommen heißen21 Am Tag nachdem der Gesandte seine Unterkunft bezogen hat, werden die von ihm mitgebrachten Tributobjekte und Bittschriften sowie seine Gefolgschaft inspiziert. Jedes Gesandtschaftsmitglied soll sich in der Audienzrobe seines Heimatlandes kleiden und warten. Ein Beamter der Abteilung für das Hofzeremoniell des Ritenministeriums22 soll in der oberen Mitte der Halle einen Tisch für die Bittschriften aufstellen. Bei Morgengrauen des nächsten Tages soll ein in 18 Das guanglusi 光禄寺genannte Amt war eines der neun traditionellen Dienstämter ( jiusi 九 寺) am chinesischen Kaiserhof. Hierzu zählten das Amt des kaiserlichen Opfers, das Amt der kaiserlichen Tafel, das Amt des kaiserlichen Clans, die kaiserliche Stallung, die kaiserliche Schatzkammer, das Amt der kaiserlichen Regalien, das kaiserliche Zeremonialamt, das Amt der kaiserlichen Kornkammer und das Amt des höchsten Gerichts. Das Amt der kaiserlichen Tafel war verantwortlich für die Verpflegung des kaiserlichen Haushalts, der Beamten der Zentralregierung, sowie für kaiserliche Bankette zu Ehren von ausländischen Gesandten und anderen Würdenträgern und unterstand in der Qing-Dynastie dem Kaiserlichen Haushaltsamt (neiwufu 内务府). Vgl. Charles O. Hucker, A Dictionary of Official Titles in Imperial China, Stanford, CA 1985, 288. 19 Das sogenannte Amt für das Staatszeremoniell (honglusi 鴻臚寺) war verantwortlich für Audienzen von ausländischen Würdenträgern, Tributgesandtschaften aus den Grenzmarken des Reichs, Staatsbegräbnisse und andere große Zeremonien, die das ganze Reich betrafen. Das Amt wurde im ersten Jahr der Herrschaft des Kaisers Shunzhi (1644) gegründet und parallel von jeweils einem Mandschu und einem Han-Chinesen geleitet. Vgl. ebd., 264. 20 Bei dem Büro für Dolmetscher und Übersetzer (huitong siyi guan 會同四譯館) handelte es sich um eine Behörde, die speziell dazu diente ausländische Gäste, die als Teil einer Tributgesandtschaft ins chinesische Kaiserreich kamen, zu betreuen. Dabei fielen vor allem übersetzerische und dolmetscherische Dienste in den Aufgabenbereich der hier angestellten Beamten. So gaben sie auch mehrsprachige Wörterbücher, die sogenannten huayi yiyu 華夷譯 語 Manuskripte, heraus. Vgl. ebd. 21 Das ›Gastriten‹-Kapitel ist an verschiedenen Stellen durch blumige Überschriften unterteilt. 22 Die Abteilung für das Hofzeremoniell (yizhi si 仪制司) war eine Unterabteilung des Ritenministeriums und speziell zuständig für Ritualtexte, Belehnung, die Beamtenprüfung und das Schulwesen.

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Hofgewänder gekleideter hochrangiger Beamter des Gästehotels den Tributgesandten zum Ritenministerium führen. Sie sollen durch die Tür in der linken Ecke eintreten, wo der Abgesandte respektvoll links von den Stufen warten soll. Der Gesandte soll die Throneingabe seines Herrn vor sich halten, hinter ihm stellt sich der Vize-Gesandte auf, hinter diesem der Rest der Gesandtschaftsmitglieder. Einer der beiden stellvertretenden Minister des Ritenministeriums tritt heraus und stellt sich links vom Tisch auf. Zwei Beamte der Abteilung fürs Hofzeremoniell stehen getrennt, jeweils südlich der linken und rechten Hauptsäule.23 Der in eine Hofrobe gekleidete hohe Beamte des Gasthotels steigt zuerst die Stufen hinauf und stellt sich westlich der linken Hauptsäule auf. Je zwei Übersetzer und zwei Platzanweiser führen den Gesandten die Treppe hinauf. Der Vize-Gesandte folgt ihnen mit etwas Abstand. Der Rest der Gefolgschaft stellt sich nach Rang auf. Alle knien. Der Hauptgesandte bietet ehrerbietig die Bittschrift seines Herrn an. Der hohe Beamte des Gasthotels nimmt die Bittschrift höflich entgegen und reicht sie dem stellvertretenden Direktor des Ritenministeriums. Dieser nimmt die Petition entgegen und stellt sie auf dem Tisch zur Schau, dann nimmt er wieder seinen Platz ein. Der Gesandte und seine Gefolgschaft vollziehen den vollen Kotau.24 Sie erheben sich und der Platzanweiser führt sie zurück. Der hohe Minister des Gasthotels führt sie hinaus. Der Beamte der Abteilung des Hofzeremoniells bringt die Bittschrift des Gesandten zum Großen Sekretariat und wartet auf einen kaiserlichen Befehl. Das Ritenministerium teilt die Tributobjekte auf und reicht sie bei den zuständigen Stellen ein. Von Westen die Bittschrift einreichen und lokale Produkte als Tribut darbieten. Nachdem der Tributgesandte seine Bittschrift eingereicht hat, kann er ehrerbietig an einer großen oder regulären Audienz teilnehmen. Der Kaiser lässt sich auf seiner Sänfte zur Halle der höchsten Harmonie tragen.25 Zur Zeit der ›Ze23 Die Hauptsäulen sind ein Säulenpaar, welches sich meist vorne im Eingangsbereich einer traditionellen chinesischen Halle befindet. Es handelt sich dabei um tragende Säulen. Man findet an ihnen oft dekorative Schnitzereien angebracht. 24 Der volle Kotau, chin. san gui jiu kou zhi li三跪九叩之禮 (wtl. »das Ritual des dreifachen Niederkniens und des neunfachen Berührens des Bodens [mit der Stirn]«) meint die feierlichste Form des Kotau, bei dem derjenige, der den Kotau vollzieht, dreimal auf beiden Beinen niederkniet und jedes Mal dreimal den Boden mit seiner Stirn berührt. Diese ehrerbietige Begrüßungsgeste ist ein Kernelement des Gastrituals. 25 Die Halle der höchsten Harmonie (taihe dian 太和殿) wurde 1420 erbaut, hat eine Höhe von 35 Metern und ist mit 2400 Quadratmetern die größte Halle in der verbotenen Stadt. Hier wurden die wichtigsten kaiserlichen Zeremonien abgehalten. Auch in den ›Myriaden von Ländern kommen zur Audienz‹ betitelten Gemälden, welche zur Zeit des Qianlong Kaisers produziert wurden und auf denen auf idealisierte Weise der Empfang von ausländischen Tributgesandtschaften zum Neujahrsfest inszeniert wurde, befindet sich die Halle der höchsten Harmonie prominent im Bild.

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remonie des Empfangs der 100 Beamten‹ führt der Platzanweiser den Tributgesandten und seine Gefolgschaft hinein. Sie sollen sich auf der Westseite der Steinterrasse vor der Halle am Ende der Reihe aufstellen und wie schon bei den vorhergegangenen Zeremonien auf das Kommando warten, das Ritual zu vollziehen. Kommentar: Für Detailfragen siehe ›Audienzriten‹.

Für den Fall, dass es nicht die Zeit für eine Audienz ist, soll vom Ritenministerium eine Anfrage eingereicht werden. In der Regel erfolgt daraufhin ein Edikt vom Kaiser [mit dem Befehl], dass er den Gesandten empfangen will. Es obliegt den Beamten des Gasthauses, den Gesandten vor der Audienz zu bewachen, und den Übersetzern, die Ritualhandlungen mit ihm einzuüben. Am Tag der Audienz soll der Gesandte, gekleidet in seine traditionelle Landestracht, herbeigeführt werden. Der Übersetzer trägt eine Beamtenrobe. Der Tributgesandte soll respektvoll darum gebeten werden, vor den Palasttoren zu warten. Der Kaiser trägt eine informelle Robe und wird mit der Sänfte zum kaiserlichen Aufenthaltsraum gebracht. Ein Minister des Kaiserlichen Haushaltsamts und der kaiserlichen Leibwache, dessen Assistenten sowie die Offiziere der Palastgarde26 stellen sich links und rechts zur Wache auf, wie bei einer regulären Audienz. Der Ritenminister soll in Schlangenrobe27 gekleidet den Tributgesandten hineinführen. Der 26 Die Palastgarde der Qing-Dynastie (shiwei侍衛) war eine Eliteeinheit aus mandschurischen und mongolischen Bannertruppen, welche verantwortlich war für die Bewachung des Kaisers, der kaiserlichen Familie und der Verbotenen Stadt. Die Garde war aufgeteilt in drei Gruppen, die regulären Wachttruppen (mand. bayara, chin. hunjun 護軍), die Vorhut (mand. gabsihiyan, chin. qianfeng 前鋒) und die elitären kaiserlichen Leibwächter (mand. hiya, chin. lingshiwei 领侍衛). Unter anderem war die Palastgarde auch dafür zuständig, Beamte zur Audienz mit dem Kaiser zu begleiten und während der Audienz links und rechts aufgereiht Wache zu stehen, nicht zuletzt, um die Audienzgäste an die militärische Überlegenheit des Kaiserhofs zu erinnern. Das Amt des ling shiwei nei dachen 領侍衛內大臣, vom Autor hier als »Minister des Kaiserlichen Haushaltsamts und der kaiserlichen Leibwache« übersetzt, war das höchste militärische Amt. Auf dieses Amt wurden sechs Männer berufen, jeweils zwei aus jedem der drei oberen Banner. Die Assistenz-Minister des Kaiserlichen Haushaltsamts und der kaiserlichen Leibwache (nei dachen 内大臣) waren als persönliche Assistenten der Minister des Kaiserlichen Haushaltsamts und der kaiserlichen Leibwache damit beauftragt, diesen bei der Führung der kaiserlichen Leibgarde und Bewachung des Kaisers zu assistieren. Auch für dieses Amt entsendeten die oberen drei Banner jeweils zwei Männer. Vgl. Evelyn S. Rawski, The Last Emperors: A Social History of Qing Imperial Institutions, Berkeley/Los Angeles 1998, 160. 27 Die Roben, die bei Hof getragen wurden, fungierten als wichtige Statussymbole, die Rang und Position des Trägers anzeigten. Hier wird im Text darauf hingewiesen, dass der Ritenminister eine mangpao bufu 蟒袍补服 trägt. Die Bufu wurde bis zur Ming-Dynastie als normale Beamtenrobe (guanchangfu 官常服) bezeichnet, ab der Qing-Dynastie aber in Anlehnung an das auf die Brust und den Rücken gestickte Tiersymbol, welches als Rangstufe anzeigendes Emblem diente und buzi 补子 genannt wird, als »Robe mit Erkennungsmarke« (bufu 补服) bezeichnet. Dieses Emblem ist im Westen auch als Mandarintuch oder Mandarin-Quadrat

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Übersetzer folgt. Sobald sie auf der Westseite der Steinterrasse vor der Audienzhalle angekommen sind, vollziehen sie den vollen Kotau. Nachdem das Ritual beendet ist, wird der Gesandte zur westlichen Treppe geführt und steigt hinauf. Ein Übersetzer folgt ihm die Treppe hinauf. Wenn sie am Eingang zur Audienzhalle angekommen sind, knien sie nieder. Der Kaiser lässt ein Edikt mit tröstenden Worten hinabreichen. Der Ritenminister gibt diese an den Übersetzer weiter, welcher sich umdreht und sie dem Tributgesandten mitteilt. Der Gesandte antwortet und der Übersetzer übersetzt seine Rede. Der Ritenminister reicht im Namen des Gesandten eine Throneingabe mit der Antwort ein, womit das Ritual beendet ist. Alle erheben sich. Der Gesandte wird die westlichen Stufen wieder hinab geführt, verlässt die Audienzhalle und zieht sich zurück. Falls für den Tributgesandten noch eine besondere Zeremonie abgehalten wird, soll der Kaiser an dem festgelegten Tag in seiner Sänfte zum kaiserlichen Vorbereitungsraum gebracht werden. Für die Palastwachen gelten die gleichen Regularien wie zuvor. Die hohen Beamten der acht Banner kleiden sich alle in Schlangenroben und betreten die Audienzhalle, wo sie sich, an den Dachschwingen orientiert, zu beiden Seiten aufstellen. Der Ritenminister führt den Tributgesandten zu einem Platz westlich der Steinstufen vor der Audienzhalle, wo dieser das Ritual des dreifachen Niederkniens und neunfachen Boden-mit-der-Stirn-Berührens vollzieht. Danach stehen alle auf und der Gesandte wird die westlichen Stufen hinaufgeführt und betritt die Audienzhalle über den rechten Eingang, um sich auf der rechten Seite am Ende der Reihe von Banneroffizieren aufzustellen. Der Übersetzer folgt ihm und stellt sich mit etwas Abstand hinter dem Gesandten auf. Falls ein kaiserliches Edikt für die Verleihung eines Sitzplatzes vorliegt, so sollen der Minister des kaiserlichen Haushaltsamts und der kaiserlichen Leibwache, dessen Assistent, die Oberbefehlshaber der Banner, deren Stellvertreter sowie auch der Ritenminister sich alle an ihren Platz begeben, einen Kotau machen und sich dann nach der Rangfolge hinsetzen. Danach lädt der Kaiser sie zum Teetrinken ein. Tee wird ehrerbietig hineingebracht. Der Kaiser trinkt den Tee. Die ganze Gruppe kniet nieder und vollzieht den Kotau. Die Palastwachen schenken den hohen Beamten und dem Tributgesandten Tee ein, diese empfangen ihn kniend und vollziehen ein weiteres Mal einen Kotau. Danach setzen sie sich hin und trinken den Tee. Damit ist die Zeremonie beendet und wie am Anfang knien alle nieder und machen einen Kotau. Bei all dem soll, wie schon bei den vorherigen Zeremonien, der Ritenminister das Geschriebene übermitteln und der bekannt. Die sogenannte Schlangenrobe war dabei eine sehr feierliche Robe, auf die ein vierklauiger Drache gestickt war. Sie war nur hohen Beamten vorbehalten, welche sie an besonderen Anlässen trugen. Das Emblem des fünfklauigen Drachen war nur dem Kaiser selbst vorbehalten und eine solche Robe wurde Drachenrobe genannt. Vgl. Huangchao liqi tushi 皇朝禮器圖式 [Illustrierte Regularien zu den zeremoniellen Paraphernalien der Dynastie], ed. Yun Lu 允祿, Peking 1766, juan 7.

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Übersetzer es übersetzen. Damit ist die Zeremonie beendet. Der Ritenminister führt den Tributgesandten hinaus in einen Nebenraum der Audienzhalle. Dort nimmt der Gesandte besondere lokale Speisen und Getränke entgegen, die ihm vom Kaiser gewährt wurden. Sobald er fertig ist, eskortiert ein Beamter des Gasthauses ihn hinaus. Beim nächsten Tagesanbruch soll die Tributgesandtschaft zum Meridian-Tor28 geführt werden, um sich hier für die kaiserliche Gunsterweisung zu bedanken.29 Ein Beamter aus dem Amt für das Staatszeremoniell soll eine Lobschrift an den Hof weiterleiten. Ein Platzanweiser aus dem Amt für das Staatszeremoniell führt die Gesandtschaftsgruppe zur Audienzhalle. Der Tributgesandte begibt sich zu einer Stelle westlich der Steinstufen vor der Audienzhalle und wendet sein Gesicht gen Norden. Er vollzieht wie bei der Zeremonie den vollen Kotau und zieht sich dann zurück. Westliche Audienz Nachdem die Zeremonie der Tributdarbringung beendet ist, reicht das Ritenministerium eine Throneingabe ein mit der Bitte, den Tributkönig zu beschenken und für den Tributgesandten sowie die ihn begleitenden Beamten und Diener ein Bankett ausrichten zu dürfen. Sobald sie die kaiserliche Antwortschrift erhalten haben, wird diese an die zuständigen Ämter weitergeleitet, damit diese die nötigen Waren zur Verfügung stellen und sich vorbereiten. Am Fälligkeitstag stellen die zuständigen Beamten die Geschenke [für den Tributkönig] östlich der Straße, außerhalb des Meridian-Tors, auf. Felle, Seide, Stoffe und Silber werden auf Tischen zur Schau gestellt. Pferde werden gesattelt und gezäumt im Hof zur Schau gestellt. Kommentar: Nur die Könige aus Korea und ihre Tributgesandten bekommen Pferde geschenkt.30

28 Das Meridian-Tor (wumen午门) ist der Haupteingang zur Verbotenen Stadt, dem zentralen Palastkomplex der Kaiserhauptstadt. 29 Das Ritual der »Dankbarkeit für die [empfangene kaiserliche] Gnade« (xie’en 謝恩) war fester Bestandteil jeder Tributaudienz, sei es nach dem Empfang von kaiserlichen Geschenken oder nachdem der Kaiser dem Gast einen Titel verliehen hat. 30 Aufgrund der gemeinsamen konfuzianischen Kultur bestanden seit der Ming-Zeit besonders enge politische, kulturelle und wirtschaftliche Bande zwischen dem chinesischen Kaiserhof und Joseon-Korea. Unter den Vasallenländern des Qing-Hofs befanden sich die JoseonMonarchen somit auch im Rahmen der Tributbeziehungen zu China in einer privilegierten Stellung. Dies schlug sich zum einen in der Erlaubnis nieder, öfter und mit höherer Mannschaftsstärke Gesandtschaften nach Peking zu entsenden, und zum anderen zeigte es sich in der höheren Qualität und Quantität von kaiserlichen Geschenken. Vgl. Chun Hae-jong, Sino-Korean Tributary Relations in the Ch’ing Period, in: John K. Fairbank (ed.), The Chinese World Order – Traditional China’s Foreign Relations, Cambridge, MA 1968, 90–111.

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Der hohe Beamte aus dem Gasthotel erscheint in Hofrobe und führt den Gesandten zusammen mit seiner Gefolgschaft, welche in lokale Hofgewänder gekleidet ist, östlich durch das Tor des Langanhaltenden Friedens (changan men 長安門), das Tor des Himmlischen Friedens (tianan men 天安門) und das Aufrechte Tor (duan men 端門) bis vor das westliche Audienzwartezimmer (chao fang 朝房). Nach Osten schauend und in Rangfolge stehend, warten sie respektvoll. Ein stellvertretender Minister des Ritenministeriums steht westlich eines Tisches, das Gesicht nach Westen gewandt. Ein Beamter aus der Abteilung für Gastempfänge31 folgt ihm und stellt sich auf. Vier kaiserliche Zensoren und zwei Verkünder aus dem Amt für das Staatszeremoniell teilen sich auf und stellen sich links und rechts vom kaiserlichen Weg auf. Ihre Gesichter sind dabei nach Osten respektive Westen gewandt. Zwei Platzanweiser stehen nördlich vom Tributgesandten mit dem Gesicht nach Osten gewandt. Alle sind in Hofrobe gekleidet. Die Verkünder rufen dazu auf, sich nach Rang aufzustellen. Ein Platzanweiser führt den Tributgesandten auf die westliche Terrasse vor der Audienzhalle. Sie stellen sich, mit dem Gesicht gen Norden gewandt, der Rangfolge nach auf. Die höchste Position ist im Osten. Der Verkünder sagt: ›Eintreten‹. Die Gruppe tritt ein. Der Verkünder sagt: ›Niederknien, Kotau machen, aufstehen‹ und der volle Kotau wird vollzogen. Ende. Dem Tributgesandten werden [stellvertretend für seinen König] von einem Beamten des Amts für Gastempfänge Geschenke verliehen. Er tritt nach vorne und überreicht sie dem Tributgesandten. Dieser kniet nieder und nimmt sie entgegen. Er dreht sich herum und übergibt sie einem Gefolgsmann. Daraufhin werden der Reihe nach dem Tributgesandten und den Beamten und Bediensteten aus seiner Gefolgschaft Geschenke verliehen. Ein niederer Beamter aus dem Amt für Gastempfänge übergibt mit ausgestreckten Armen die Geschenke. Ein jeder nimmt seines kniend entgegen. Wenn alles vorbei ist, sagt der Verkünder: ›Kotau machen und erheben.‹ Die Gesandtschaft vollzieht noch ein weiteres Mal das komplette Ritual des dreifachen Niederkniens und neunfachen Boden-mit-der-Stirn-Berührens, erhebt sich und wird dann weggeführt. Ein hoher Beamter des Gasthotels führt den

31 Bei der Abteilung für Gastempfänge (zhukesi 主客司) handelt es sich im Kontext von Tributaudienzen wohl um die wichtigste Abteilung des Ritenministeriums. Die Abteilung für Gastempfänge wurde in der Ming-Dynastie 1373 als Ministerium für Gastempfänge (zhukesi 主客部) gegründet und 1396 unter Kaiser Hongwu in die »Nicht-korrumpierbare Abteilung für Gastempfänge« (zhuke qingli si 主客清吏司) umbenannt. Es war verantwortlich für den Empfang sowie die Beschenkung von Tributgesandtschaften von Vasallen, Stammeshäuptlingen (aus dem Südwesten des Reichs) und Eliten aus den sogenannten äußeren Schutzgebieten. Die Qing übernahmen 1644 die Abteilung und ließen sie fortan von jeweils einem mandschurischen, einem mongolischen und einem Han-chinesischen Direktor führen. Es gab Unterabteilungen für die Fachbereiche Beschenkung, Übersetzung, Tee und Küche. Vgl. Hucker 1985, 181.

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Tributgesandten, seine Beamten und Bediensteten hinaus. In Übereinstimmung mit den Riten wird im Ritenministerium für sie ein Bankett veranstaltet. Kommentar: Für Detailfragen siehe ›Opferriten‹.

Wenn das Bankett beendet ist, ziehen sich alle zurück. Westliches Bankett Wenn alles erledigt ist und der Tributgesandte bald in sein Land zurückkehrt, bereitet das Amt der kaiserlichen Tafel32 Tieropfer, Wein, Früchte und Gemüse vor. Ein stellvertretender Minister des Ritenministeriums besucht die Gesandten im Gästehotel zum Bankett. Falls das Bankett aber im Ministerium stattfindet, dann gemäß der gleichen Ritenvorschriften wie zuvor. Die Beamten, die als Eskorte abgestellt wurden, sollen die Gesandten bei ihrer Abreise beschützen und begleiten. Das Ritenministerium gibt ihnen die Autorisierungsplaketten zurück. Kommentar: Koreanische Gesandtschaften bekommen auch eine Reiseerlaubnis für den Shanhai-Pass ausgehändigt.

Um den Abreisetermin zu planen, benachrichtigt das Ritenministerium die zuständigen Generäle und Gouverneure, die unterwegs Unterkunft, Schiffe, Wagen und Verpflegung sowie Beamte und Soldaten als Eskorte bereitstellen, so wie es auch auf dem Hinweg zur Audienz der Fall war. In den Provinzhauptstädten, die sie auf der Tributroute33 durchqueren, sollen ihnen Bankette bereitet werden. Einer der verantwortlichen Provinzbeamten fungiert dabei als Gastgeber. Zeremoniell sind dabei die gleichen Vorschriften zu beachten, die auch für das Bankett im Ritenministerium gelten. Am Tag, an dem der Gesandte die Reichsgrenze übertritt, wird ein Bericht angefertigt, in dem alle Neuigkeiten [bezüglich der Gesandtschaft] aufgeschrieben werden.

32 Das Amt der kaiserlichen Tafel (guanglu si 光禄寺, wtl. übersetzt »Amt des glanzvollen Glücks«) ist vergleichbar mit dem Truchsess-Amt des europäischen Mittelalters. Es war zuständig für das Bankettwesen und die Verpflegung der kaiserlichen Familie. Vgl. Hucker 1985, 188. 33 Gemeint sind die in den ›Gesammelten Statuten der großen Qing‹ für die einzelnen Tributländer genau festgelegten Routen, über welche die Tributgesandtschaften auf dem Weg nach Peking reisen sollten. Vgl. He Xinhua 何新华, Zuihou de tianchao: Qing dai chaogong zhidu yanjiu 最後的天朝:清代朝貢制度研究 [The Last Celestial Empire: A Study on the Tributary System in Qing Dynasty], Peking 2012, 85–98.

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Analyse

Direkt am Anfang des ›Gastriten‹-Kapitels findet man eine Referenz auf die ›Riten der Zhou‹, womit sowohl das Kompilationsprojekt, welches der Entstehung der ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ zugrunde lag, als auch der Kontext, in dem das Thema Gastriten präsentiert wird, verortet werden sollen. Die Autoren beginnen mit der Feststellung, dass alles, was außerhalb der sogenannten Neun Provinzen ( jiuzhou 九州) liegt, »fremde Länder« (fanguo 藩国) sind. Um ein besseres Verständnis für die spezielle Ordnungs- und Raumvorstellung zu erlangen, auf welche die Autoren hier anspielen, lohnt es sich, einen näheren Blick in den Text zu werfen, auf den hier referiert wird. In den ›Riten der Zhou‹ findet man mehrere Passagen, in denen eine räumliche Aufteilung der Welt beschrieben wird. Geographisch wird die Welt als in neun Provinzen unterteilt dargestellt, wobei alle Provinzen durch eine Beschreibung ihrer geographischen Beschaffenheit und landestypischen Produkte voneinander differenziert werden. Man findet hier auch ein Modell der Welt, in dem diese in konzentrische Zonen, die »neun [Kreise der] Unterwerfungen« ( jiu fu 九服) eingeteilt werden, welche ringförmig um ein Zentrum herum angeordnet sind, das die königliche Domäne ist.34 Diesem Modell folgend, ist die Distanz zum Zentrum, also zum Monarchen, entscheidend für den politischen Status der Bewohner der jeweiligen Unterwerfungszone, wobei sich der Status mit abnehmender Nähe zum Zentrum verringert. Das Kreismodell beginnt mit dem Herrschaftszentrum, also der Hauptstadtregion, und bewegt sich dann weiter über die Region unter der direkten Kontrolle der königstreuen Eliten bis hin zu Zonen, über die der Herrschaftsverband nur noch indirekte Herrschaft ausübt. Die äußeren drei Zonen im Neun-Zonen-Modell, nämlich die Zone der Barbaren (yifu 夷服), die garnisonierte Zone (zhenfu 鎮服) und die äußerste Zone, die sogenannte Grenzzone (fanfu 藩服), werden in den ›Riten der Zhou‹ als außerhalb der als ›Neun Provinzen‹ identifizierten Welt liegend beschrieben. Damit befinden sie sich außerhalb der politischen, gesetzgeberischen und kulturellen Einflusszone des Kaiserhofs, womit sie als fremde Länder (fanguo 藩国) gelten. Den ›Riten der Zhou‹ folgend, sind diese Länder verpflichtet, ihre kostbarsten 34 Im Kapitel ›Tribute des Yu‹ (Yu gong 禹貢) im ›Verehrte Dokumente‹ (Shangshu 尚書) findet man in leichter Abwandlung von den ›Riten der Zhou‹ noch ein früheres Modell dieser konzentrischen Weltordnung, welches nur fünf Zonen kannte. Dabei ist es offensichtlich, dass sowohl die Zahl Fünf als auch die Zahl Neun bei der Konstruktion dieser gedachten Weltordnung auf Grund ihrer numerologischen Bedeutung ausgewählt wurden. Dabei basieren beide auf einem, die tatsächlichen politischen Verhältnisse wohl besser reflektierenden, Drei-Zonen-Modell, welches von politischen Denkern aus der Zeit der streitenden Reiche entworfen wurde. Dieses Drei-Zonen-Modell unterteilte die Welt in die königliche Domäne, die Länder der Regionalfürsten und die Territorien unter der Kontrolle der ›Barbaren‹. Vgl. Mark E. Lewis, The Construction of Space in Early China, Albany 2006, 271.

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lokalen Güter im regelmäßigen Abstand als Tribut zur königlichen Domäne zu bringen. Eng verknüpft mit dieser Vorstellung ist auch das konfuzianische Konzept ›Alles unter dem Himmel‹ (tianxia 天下), ein Weltbild, welches keine harte Grenze, sondern nur graduelle Abstufungen zwischen der ›chinesisch-konfuzianischen Zivilisation‹ (huaxia 華夏) im Zentrum und den ›Barbaren in den vier Himmelsrichtungen‹ (siyi 四夷) zulässt. Zentrum und Peripherie sind geeint unter der wohlwollenden Herrschaft (wangdao 王道) des Kaisers, der als rechtmäßiger Träger des Himmlischen Mandats (tianming 天 命) legitimiert ist, tianxia zu beherrschen, und verpflichtet ist, seine Tugend und die Lehre der konfuzianischen Riten in alle vier Himmelsrichtungen zu projizieren und die Barbaren in der Peripherie so durch die konfuzianische Lehre zu transformieren ( jiaohua 教化).35 Das gleiche Narrativ finden wir in abgewandelter Form auch am Anfang des behandelten Kapitels aus den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ wieder. Die Autoren entwerfen eine Herrschaftsordnung, die gekennzeichnet ist durch die Unterwerfung der Landesfürsten der Peripherie unter die Suzeränität des Qing-Kaisers. Dieser ist in seiner Rolle als ›göttlicher Herrscher‹ (huangdi 皇帝) der Mittelpunkt der gedachten Herrschaftsordnung. Diese wird durch die Teilnahme der unterworfenen peripheren Eliten an den Audienzen am Kaiserhof immer wieder neu ausgehandelt und konstituiert. Die Übergabe der mitgebrachten Throneingabe, die Ausführung des Kotau sowie die Präsentation von lokalen, landestypischen Produkten als Tribut auf der einen Seite und der Empfang von kaiserlicher Gunsterweisung (in Form von prestigeträchtigen Geschenken und der Belehnung mit Titeln und Ämtern) auf der anderen Seite sind die zentralen Elemente, durch welche die Vasallen an das Zentrum gebunden und in die Hierarchie des Qing-Hofs eingebunden werden. Dabei wird die Akzeptanz der Hegemonialstellung des chinesischen Kaiserhofs im Zentrum dieser tributären Ordnung durch den performativen Akt des Reisens von der Peripherie ins Zentrum immer wieder symbolisch inszeniert. Wie der vorliegende Text zeigt, hat man sich daher bei den bürokratischen Vorschriften bezüglich der Reiserouten und Reisevorkehrungen für die Tributgesandtschaften ausführliche Gedanken gemacht. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Die Bewegung durch Raum und Zeit war genau reguliert. Doch auch nach der Ankunft der Gesandtschaften in der Kaiserhauptstadt war zumindest theoretisch alles genau durchgeplant und der Text lässt uns wissen, dass die verschiedenen Behörden dafür Sorge trugen, dass es den Teilnehmern an nichts fehlte. Im ›Von Westen willkommen heißen‹ betitelten Abschnitt wird beschrieben, wie die mitgebrachten Tributobjekte von dem dafür verantwortlichen Personal 35 Vgl. John K. Fairbank, A Preliminary Framework, in: Ders. (ed.), The Chinese World Order – Traditional China’s Foreign Relations, Cambridge, MA 1968, 1–19.

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genau inspiziert, katalogisiert und an die verantwortlichen Stellen weitergeleitet wird. Sowohl in den kommentierten ›Riten der Zhou‹ als auch in anderen altertümlichen Texten, wie den ›Verlorenen Dokumenten der Zhou-Dynastie‹ (Yi Zhou shu 逸周書), werden die umgebenden Länder in ihrer Partikularität nur durch die Auflistung der speziell in der jeweiligen Region produzierten lokalen Güter beschrieben, welche in Form von Tributen alle im Zentrum zusammenströmen. Dadurch werden die lokalen Besonderheiten der ›Barbaren der vier Himmelsrichtungen‹ relativiert und als gleichwertig ins Ganze integriert.36 Auch spätere Ritualhandbücher, wie die hier behandelten ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ oder die ›Gesammelten Statuten der großen Qing‹, die detaillierter auf die Tributgüter eingehen, sprechen in Bezug auf die Tributobjekte immer explizit von lokalen Produkten (fangwu 方物). Es ging also keinesfalls um den materiellen Wert der zu leistenden Tribute, sondern um den rituellen und symbolischen Wert als repräsentatives Objekt der speziellen Region, welche durch die Tributgesandtschaft am Hof vertreten wurde. Die Tributgüter, welche bei den Gastritualen für die Begutachtung durch den Kaiser ausgestellt wurden, symbolisierten die Integration der Peripherie ins Zentrum und die Anerkennung der Universalherrschaft des Kaisers. Aus dem gleichen Grund wird auch mehrmals im Text darauf hingewiesen, dass die Gesandtschaftsteilnehmer sich bei der Audienz in repräsentative Tracht ihres Heimatlandes kleiden sollten. Hier wurde der legitimatorische Topos der ›großen Vereinigung (von Zentrum und Peripherie)‹ (dayitong 大一統), auf den der Qianlong Kaiser oft in seinen Edikten rekurriert, bewusst politisch inszeniert. Im Rahmen des größeren Legitimationsdiskurses der mandschurischen Fremdherrscher in China wurden diese narrativen Muster vom Qianlong Kaiser in seinen Edikten bewusst immer wieder herangezogen. Der Kaiser inszenierte sich als Einiger der Völker und des Reichs. Das Narrativ von den fremden und exotischen Völkern, die angezogen durch die kulturelle Überlegenheit und den Glanz des prosperierenden Qing-Reichs zur Audienz in die Kaiserstadt strömen, war ein wichtiges Element der Legitimationsstrategie des Hofes und fand in verschiedenen propagandistischen Werken Verbreitung. Versinnbildlicht findet man diese Vorstellung z. B. im Gemäldezyklus ›Myriaden Länder kommen zur Audienz‹ (wanguo laichao tu 萬國來朝 圖).37 Hierbei handelt es sich um eine Reihe von Illustrationen mit idealisierter Darstellung von Tributgesandtschaften, die anlässlich der Neujahrsfeierlichkeiten zur Audienz am Hof des Qianlong Kaisers erscheinen und sich außerhalb vom Tor der höchsten Harmonie (taihe men 太和門) im Vorhof der Verbotenen 36 Vgl. Lewis 2006, 272–273. 37 ›Myriaden Länder kommen zur Audienz‹ (wanguo laichao tu 萬國來朝圖), 1760, unbekannte Hofmaler, Palastmuseum Peking. Vgl. Museum für Ostasiatische Kunst Köln (ed.), Glanz der Kaiser von China – Kunst und Leben in der Verbotenen Stadt, Köln/ Heidelberg 2012, 65–67.

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Stadt versammeln. Die Gesandten sind gekleidet in landesübliche Tracht und tragen bunte Standarten mit den Flaggen ihrer Länder sowie verschiedene kostbare Tributgüter bei sich. Die anonymen Hofmaler versuchten hier, dem Betrachter mit allen Mitteln die Pracht der kosmopolitischen Hauptstadt des Kaiserreichs zu vermitteln und zu suggerieren, dass aus aller Herren Länder Tribute zum Kaiserhof der Qing gesandt wurden. Auch die ›Beschreibungen der dem Qing-Hof tributpflichtigen Völker‹ (Huang Qing zhigong tu 皇清職貢圖)38, eine auf Befehl von Kaiser Qianlong kompilierte und 1769 publizierte protoethnologische Sammlung von Porträts und Begleittexten zu all jenen Gemeinwesen, welche Tributbeziehungen mit dem Qing-Reich pflegten, zeugt von den Bemühungen der Qing-Kaiser, die nach Peking entsendeten Tributmissionen in ihrer Vielfalt festzuhalten und zu katalogisieren. In insgesamt 550 Gemälden werden 275 Gemeinwesen – je ein Mann und eine Frau – porträtiert, mit denen der Qing-Hof Beziehungen pflegte. In den begleitenden Texten wird genau unterschieden, ob es sich dabei um ferne Länder, Vasallen der Qing oder Stämme aus der Grenzregion des Reichs handelt. Neben allgemeinen Informationen zur geographischen Lage und politischen Organisation der vorgestellten Gemeinwesen wird auch auf ihre historischen Beziehungen zu China eingegangen, besonders in Bezug auf Zeit und Umstand vergangener Tributgesandtschaften. Ein 1751 verfasstes Edikt des Qianlong Kaisers gibt Aufschluss über die Intention hinter diesem Projekt: My dynasty has united the vast expanses. Of all the inner and outer barbarians (nei wai miao yi) belonging under its jurisdiction, there are none that have not sincerely turned toward Us and been transformed. As for their clothing, caps, appearance, and bearing, each [group] has its differences [from the other groups]. Now although we have likenesses (tuxiang) from several places, they are not yet uniform and complete.39

Hier wird wieder das gleiche, mit dem Gastritual in engem Zusammenhang stehende, politische Narrativ aufgegriffen wie am Anfang des ›Gastriten‹-Kapitels in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹: Die ›Pax Manjurica‹, also die durch die Integration der umgebenden Territorien ins Qing-Reich und die friedliche Vereinigung der Völker unter seiner Herrschaft herbeigeführte Friedensordnung, schuf die Bedingungen für einen Prozess, im Zuge dessen sich die Gemeinwesen aus der Peripherie, angezogen durch den materiellen Reichtum und die kulturelle Überlegenheit Chinas, in Richtung Peking orientieren und (durch die Tugend des Kaisers) transformiert werden. 38 Vgl. Zhuang Jifa 莊吉發, Xiesui Zhigong Tu Manwen Tushuo Jiaozhu 謝遂職貢圖滿文圖說 校注 [›Darstellungen der tributpflichtigen Völker‹ von Xiesui mit mandschurischen Anmerkungen in Wort und Bild], Taipei 1989. 39 Zitiert nach Laura Hostetler, Qing Colonial Enterprise – Ethnography and Cartography in Early Modern China, Chicago/London 2001, 45.

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Das Kernelement jeder Tributgesandtschaft war die mehrfach im Text erwähnte Ausführung des Kotau.40 Bei dieser ehrerbietigen Begrüßungsgeste, welche an die Prosternation der römisch-katholischen Kirche erinnert, handelte es sich um die im chinesischen Kaiserreich übliche Begrüßungsform gegenüber dem Kaiser und hohen Würdenträgern. Die Tributgesandten mussten im Rahmen des Gastrituals mehrfach den Kotau vor dem Kaiser vollziehen, um durch diesen performativen Akt der Unterwerfung und Huldigung ihre Loyalität gegenüber dem Kaiser zu bekunden und ihn als Suzerän zu bestätigen. Zu Anfang des ›Von Westen die Bittschrift einreichen und lokale Produkte als Tribut darbieten‹ überschriebenen Textabschnitts wird erwähnt, dass der Gesandte an der großen bzw. regulären Audienz teilnehmen darf. Ein erläuternder Kommentar verweist dann auf das ›Audienzriten‹-Kapitel in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹. Dies liegt darin begründet, dass die Tributgesandtschaften oft im Rahmen von Festtagen an den sogenannten großen Audienzen am Qing-Hof teilnehmen durften. Es wurden drei Typen von Audienzen unterschieden, die Geschäftsaudienz, die reguläre Audienz und die große Audienz. Bei der Geschäftsaudienz wurden zwischen dem Kaiser und seinem Beamtenapparat die laufenden Staatsgeschäfte diskutiert, Throneingaben eingereicht und Edikte des Kaisers verkündet.41 Die große Audienz dagegen meint großangelegte, offizielle Audienzen, die an den drei höchsten Festtagen abgehalten wurden: zum Neujahrsfest, zur kaiserlichen Geburtstagsfeier und zur Wintersonnenwende. Außerdem wurde dreimal im Monat die sogenannte reguläre Audienz (changchao 常朝) abgehalten, welche formal an die großen Audienzen angelehnt war.42 Durch die Teilnahme an der großen Audienz, an der außer ihnen noch die mandschurischen und mongolischen Adeligen des Reichs, Han-chinesische Literati und andere Großwürdenträger des Qing-Reichs teilnahmen, wurden die Tributgesandten und die Herrscher, die sie vertraten, in die hierarchische Herrschaftsordnung des Reichs integriert. Im ›Westliche Audienz‹ überschriebenen Abschnitt des besprochenen Quellentexts wird nun die Belohnung der Tributgesandten durch Festbankette und Geschenke beschrieben. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt, denn nach der auf die chinesische Antike zurückgehenden Idealvorstellung einer Herrschaftsord40 Lehnwort, abgeleitet von Kantonesisch kau tau. Hochchinesisch ketou 磕頭, »mit dem Kopf anstoßen«. 41 In ihrer standardisierten Form wurde die Geschäftsaudienz abgekürzt Yumen 御門 genannt, was für Yumen Tingzheng 御門聽政 steht (wtl. »der Kaiser erscheint am Tor, hört sich die Berichte seiner Beamten an und regiert«). Die Geschäftsaudienz wurde in der Regel im Morgengrauen am Tor der himmlischen Reinheit (Qianqing men 乾清門) abgehalten, dem Haupttor zum inneren Hof der Verbotenen Stadt. Teilnehmen durften in der Regel nur ausgewählte hochrangige Zivilbeamte. Vgl. Christian Jochim, Imperial Audience Ceremonies of the Ch’ing Dynasty, in: Society for the Study of Chinese Religions 7 (1979), 90. 42 Vgl. ebd., 89.

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nung soll die Unterwerfung der Regionalfürsten aus der Peripherie nicht auf militärischer Gewalt beruhen, sondern auf der kulturellen und materiellen Anziehungskraft Chinas. Der Topos ›Fremde hegen und gefügig machen‹ (huairou yuanren 懷柔遠人), den man im Zusammenhang mit den Tributgesandtschaften immer wieder in den Quellen findet, verkörpert diesen Gedanken der gewaltlosen Unterwerfung beispielhaft. So liest man zum Beispiel in einem Edikt des ersten Ming-Kaisers Folgendes: »All die Oberhäupter der Barbaren kommen zur Audienz und durchqueren dabei Berge und Meere und legen viele 10.000 Li zurück. Wenn sie sich uns mit Hochachtung und Aufrichtigkeit unterwerfen, dann sollen die Geschenke, die wir ihnen geben, auch ausreichend zahlreich sein, um so unser Wohlwollen ihnen gegenüber zum Ausdruck zu bringen.«43

Eng im Zusammenhang damit steht der Topos, die Gäste aus der Ferne ›mit wenig [Tributen] kommen und mit reichlich [Geschenken] gehen‹ (houwangbolai 厚往 薄来) zu lassen. Im Abschnitt ›Westliche Audienz‹ erfährt man, dass der Hof die Tributgesandten ihres Vasallen am Ende der Audienz reich beschenkt: »Felle, Seide, Stoffe und Silber werden auf Tischen zur Schau gestellt. Pferde werden gesattelt und gezäumt im Hof zur Schau gestellt« heißt es dort. Selbst die einfachen Gesandtschaftsmitglieder bekommen Geschenke zum Abschied. Teil dieser Politik der Umgarnung, die den Vasallen die Teilnahme an den Gastritualen schmackhaft machen sollte, war auch das Bankettwesen, welches im Abschnitt ›Westliches Bankett‹, aber auch schon vorher im Text Erwähnung findet. Auch wenn auf die Gesandten kein direkter militärischer Druck ausgeübt wurde, sich an das vorgegebene Hofprotokoll zu halten, so stellte man die eigene militärische Überlegenheit während der Tributaudienzen doch zumindest passiv zur Schau. Das behandelte Textbeispiel erwähnt an mehreren Stellen die Anwesenheit von Palastgarden sowie mandschurischen Banneroffizieren während der Audienzen. Dazu kommen noch die Palastwachen und Eskorten, welche mit der Überwachung der Gesandtschaftsteilnehmer beauftragt waren. Auch die Bilder aus dem Gemäldezyklus ›Myriaden Länder kommen zur Audienz‹ zeugen von der Anwesenheit bewaffneter Palastgarden, wie sie die Schriftquellen erwähnen. Diese Zurschaustellung von militärischer Macht während der großen Audienzen war Bestandteil der Selbstinszenierung des Qing-Hofs und wird den anwesenden Gesandtschaftsmitgliedern nicht entgangen sein. Es seien noch einige Anmerkungen zum Zusammenhang von Performanz und Raum im Gastritual gestattet, wie es uns in den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ präsentiert wird: Alle Ritualanweisungen, die wir im ›Gastriten‹-Kapitel

43 Vgl. Ming taizu shilu 明太祖實錄 [Die wahrhaftigen Aufzeichnungen der Ming-Dynastie], edd. Dong Lun 董伦/Wang Jingzhang 王景彰, Peking 1418, juan 154.

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finden, sind aus der Perspektive des Kaisers geschrieben, der auf der Nordseite der Audienzhalle auf dem Drachenthron sitzt. Wie aus dem vorgestellten Text deutlich hervorgeht, wurde den Teilnehmern während der Audienz die Westseite bzw. aus Sicht des Kaisers die rechte Seite der Audienzhallen, Vorhöfe und Treppen zugewiesen.44 Nach traditioneller konfuzianischer Kosmologie wird die westliche Seite dabei dem militärischen Aspekt (wu 武) in Abgrenzung zum zivilen Aspekt (wen 文) zugeordnet. Während der Audienzen teilten sich die ausländischen Gesandtschaftsmitglieder damit die rechte Seite mit den anwesenden Militärbeamten der Bannertruppen sowie anderen Militäreliten des Qing-Reichs, während sich auf der Ostseite das Zivilbeamtentum des äußeren Hofs aufreihte. Die verschiedenen Ritualteilnehmer hatten sich dabei, so geht es auch aus dem Text hervor, in Rangfolge aufzustellen, wobei die höchstrangigen Eliten sich im Norden mit größter Nähe zum Kaiser platzierten. Die Mittellinie der Audienzhallen vom Thron bis zum Eingangstor der Verbotenen Stadt war rituell für die Bewegung des Kaisers sowie der Dokumente, welche auf Tabletts zu ihm hin- und von ihm weggetragen wurden, reserviert. Während der Audienzen trat der Kaiser in seiner Funktion als der ›nach Süden blickende Monarch‹ (nan mian wang 南面王) auf; das heißt als Herrscher, der seine gesamte Ökumene bzw. ›Alles unter dem Himmel‹ (tianxia 天下) adressiert und seine Beamten unterweist, tadelt, lobt und belohnt.45 Neben dem rituellen Aspekt gibt uns der Text aber auch einen detaillierten Einblick in die institutionelle Organisation des Gastrituals. Aus dem Text geht hervor, dass das Ritenministerium, das Ministerium für öffentliche Arbeiten sowie das Finanzministerium bei der Organisation des Gastrituals arbeitsteilig vorgingen, wobei das Ritenministerium mit seiner Abteilung für das Hofzeremoniell sowie der Abteilung für Gastempfänge die Hauptverantwortung für die Planung und Durchführung der Gastriten trug. Auch das Büro für Dolmetscher und Übersetzer, das Amt der kaiserlichen Tafel sowie das Amt für das Staatszeremoniell standen unter der Aufsicht des Ritenministeriums und spielten, wie der Text illustriert, bei der Betreuung und Vorbereitung der Gäste für die verschiedenen Riten eine zentrale Rolle. Die Wachen und Eskorten, welche die Gesandtschaftsteilnehmer während ihres Aufenthalts im Qing-Reich sowohl schützen als auch bewachen sollten, wurden von der Palastgarde gestellt. Insgesamt muss man feststellen, dass die Planung und Durchführung der Gastriten offensichtlich mit einem erheblichen bürokratischen, personellen und finanziellen Aufwand verbunden war, woraus man

44 Nur in der im Abschnitt ›Von Westen willkommen heißen‹ beschriebenen ersten Zeremonie im Ritenministerium wird den Gesandtschaftsteilnehmern abweichend von dieser Regel die linke Seite zugewiesen. 45 Vgl. Hevia 1996, 475.

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schlussfolgern kann, dass der Kaiserhof den Gastriten als herrschaftsstabilisierender und -legitimierender Institution eine große Bedeutung zumaß.

4.

Bedeutung des Textes für das Teilprojekt und für das Spannungsfeld ›Zentrum und Peripherie‹

Auf Grund der Tatsache, dass die Autoren bei der Kompilation der ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ auf ein Jahrhunderte altes Korpus von Ritualtexten zurückgegriffen haben, ist der Text nicht nur eine essentielle Quelle für das Verständnis der politischen Ordnung im Qing-Reich, sondern auch für die Erforschung des kaiserzeitlichen Ritualwesens. Beim Gastritual bzw. beim Tributsystem handelt es sich um eine Institution der indirekten Herrschaftsausübung, deren ideologisches Fundament bis in die Zhou-Zeit zurückreicht. Im Kern hat man es dabei mit einem System von Leistungen und Gegenleistungen zu tun, in dessen Rahmen die Herrschaftsbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie regelmäßig neu ausgehandelt und erneuert wurden. Aus Sicht des Kaiserhofs war die zentrale politische Funktion dieser Institution die Anerkennung der kaiserlichen Suzeränität durch periphere Regionalfürsten. Während der großen Audienzen, an denen Gesandtschaften in der Regel teilnahmen, führte die Darbietung von lokalen Gütern als Tribut und ritualisierte Loyalitätsbekundung zur symbolischen Integration der Peripherie in das Zentrum. Auf der anderen Seite suchten die lokalen Herrscher nach Möglichkeiten der Repräsentation und Teilhabe an der kaiserlichen Autorität. Der Kaiserhof würdigte dieses Bedürfnis durch die Verleihung von Titeln, durch Prestigeobjekte, feierliche Empfänge und die Organisation von Banketten. Neben dem geopolitischen Ziel, durch die im Rahmen der Gastriten etablierten Beziehungen die Peripherie des Reichs besser kontrollieren zu können und Konflikte zu vermeiden, verfolgte der Qing-Hof aber auch eine Politik der kulturellen Hegemonie. Vasallen, die besonders gute Beziehungen zum chinesischen Kaiserhof unterhielten, wie Jeoson-Korea, das Königreich Ryu¯kyu¯ oder Vietnam, übernahmen den chinesischen Kalender, die chinesische Schrift und den Konfuzianismus als Staatsideologie. Auf der ideologisch-kulturellen Ebene verfolgte der Kaiserhof das Ziel kultureller Deutungshoheit. Zu diesem Zweck gab der Kaiserhof Gemälde, proto-ethnologische Bildersammlungen, Landkarten und andere kulturelle Erzeugnisse in Auftrag, in denen die Tributbeziehungen zu Nachbarländern legitimatorisch instrumentalisiert und propagandistisch inszeniert wurden.

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Auch wenn die hier vorgestellte, auf der konfuzianischen Staatsideologie basierende, tributäre Herrschaftsordnung46 sicherlich eine Spezifik der chinesischen Geschichte war, so lassen sich fast alle Elemente, aus denen die Gastriten sich konstituieren – Audienzwesen, Tribut, Gabentausch, Begrüßungszeremonien, Bankettwesen – in der ein oder anderen Zusammensetzung auch in anderen vormodernen Gemeinwesen wiederfinden. Es stellt sich die Frage, in welcher Weise sich andere vormoderne Herrschaftsordnungen von der tributären Herrschaftsordnung chinesischer Ausprägung unterschieden haben und ob vergleichbare ordnungsstiftende Institutionen existierten. Das ›Gastriten‹-Kapitel aus den ›Umfassenden Riten der großen Qing‹ ist in der Detailliertheit seiner Beschreibungen in jedem Fall eine unerlässliche Quelle zur Erforschung des Ritualwesens, Gesandtschaftswesens und der Herrschaftsordnung im späten chinesischen Kaiserreich.

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Ludwig D. Morenz / David Sabel

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie. Zum zentralstaatlichen Ägypten im späten 4. Jahrtausend v. Chr.

Teilprojekt ›Vom doppelten Horus. Königsideologische Arbeit in der formativen Phase des ägyptischen Königtums und ihre Inszenierung‹ (Leitung: Prof. Dr. Ludwig D. Morenz, Ägyptologie)

1.

Einleitung: Der globalgeschichtlich erste Territorialstaat

Während der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends v. Chr. wurde im Niltal der erste bekannte Territorialstaat1 der Weltgeschichte mit einer Nord-Süd-Ausdehnung vom Nildelta bis Elephantine, also über immerhin etwa 800 Kilometer Entfernung, geschaffen (siehe Abbildung 1). In einem ägyptisch-eigenbegrifflichen Ansatz gehören insbesondere vier mentalitätsgeschichtliche Aspekte dazu: a) eine geo-politische Dimension: tA.wj – »die beiden Länder«, verstanden als eine Art Staatsgebiet2 b) eine stratifizierte Gesellschaftsordnung mit einem ›Horus‹-König an der Spitze c) die Götterwelt als ein überregionaler Bezugshorizont3

1 Zum problematischen Begriff der Staatlichkeit und seiner Anwendbarkeit auf frühe Gesellschaften vgl. Stefan Breuer, Der charismatische Staat. Ursprünge und Frühformen staatlicher Herrschaft, Darmstadt 2014. 2 Ist tA.wj als ein Intensitätsdual im Sinne einer spezifischen Markierung des Staatsgebietes zu verstehen? 3 Hier scheint uns besonders interessant, dass wir mit der Herausbildung des Territorialstaates auch die Schöpfung von Gottheiten mit besonders staatsrelevanten Aspekten beobachten können, so Ptah als Gott der in der frühen I. Dynastie neu gegründeten Residenz (siehe Ludwig Morenz, Der erste ägyptische Territorialstaat und seine neue Hauptstadt, in: Göttinger Miszellen 235 (2012), 63–74), Sopdu als Verkörperung des herrscherlichen Gewaltpotentials nach außen und Mafdet als Verkörperung des herrscherlichen Gewaltpotentials nach innen (siehe Ludwig Morenz, Kultur- und mediengeschichtliche Essays zu einer Archäologie der Schrift. Von den frühneolithischen Zeichensystemen bis zu den frühen Schriftsystemen in

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Ludwig D. Morenz / David Sabel

d) die ägyptische Sprache und bestimmte überregional geteilte Kulturtechniken wie Schreiben, Messen und Zählen4

Buto Tell el Farkha Bubastis Kairo

‘En Besor

Sinai

Memphis Wadi Ameyra

l Ni

Abydos Naqada Koptos Hierakonpolis Adaima Hamdulab Assuan

Elephantine

Abb. 1: Karte des Niltals mit den im Beitrag angesprochenen Orten.

Dieser neue und seinerzeit globalgeschichtlich völlig neuartige monarchische Staat mit dem Horus-König an der Spitze der Gesellschaft entstand in einer breit gefächerten sozio-ökonomischen und mentalitätsgeschichtlichen, aber auch medialen Entwicklung über mehrere Jahrhunderte, die ereignisgeschichtlich in der sogenannten Reichseinigung (ägyptisch: smA-tAwj – »Vereinigen der beiden Länder«) unter dem König Nar-mer (siehe Abbildung 2)5 kulminierte. Die Schaffung des seinerzeit neuartigen Einheitsstaates korrespondierte mit verschiedenen Zentralisierungstendenzen im sozio-ökonomischen, im büro-

Ägypten und dem Vorderen Orient [Thot. Beiträge zur historischen Epistemologie und Medienarchäologie 4], Berlin 2013a, 307–332). 4 Ludwig Morenz, Bild-Buchstaben und symbolische Zeichen. Die Herausbildung der Schrift in der hohen Kultur Altägyptens (Orbis Biblicus et Orientalis 205), Fribourg 2004; Ders., Zählen, Vorstellen, Darstellen. Eine Archäologie der altägyptischen Zahlen (Bonner Ägyptologische Beiträge 1), Berlin 2013; Morenz 2013a. 5 Toby A. H. Wilkinson, What a King is This: Narmer and the Concept of the Ruler, in: The Journal of Egyptian Archaeology 86 (2000), 22–32; Robert Kuhn, Nar(-mer). Ein frühzeitliches Königsleben, in: Antike Welt (1/2016), 23–26.

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

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Abb. 2: Prunk-Palette des Königs Nar-mer. Egyptian Museum Cairo, JE 32169.

kratischen und im ideologischen Bereich.6 Während auch in den vorausgehenden kleinen Häuptlingstümern (oder wie auch immer wir diese sozio-ökonomischen Entitäten genauer nennen wollen) und einer Art Regionalstaaten (vergleichbar den kontemporären sumerischen Stadtstaaten mit dem Uruk-System) 7 zwar die Gesellschaft bereits stärker stratifiziert war,8 wurde mit dem Horus-König des Territorialstaates ein machtpolitisch und ideologisch völlig neuartiges und dabei stark personalisiertes Herrschaftskonzept in die soziale Praxis gesetzt. Diese ideologische Rolle ›Horus-König‹ war in einer politischen Doppelnatur zum einen als Mensch und zum anderen als Gott gedacht und sie war in der herrscherlichen Spannung von Personalität und Transpersonalität als das absolute

6 Dies zeigt sich verwaltungsmäßig etwa in der Ausbildung der sogenannten »Gaue« (ägyptischer Terminus: spA.t), Eva Maria Engel, Die Entwicklung des Systems der ägyptischen Nomoi in der Frühzeit, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Abteilung Kairo 62 (2006), 151–160. 7 Hans J. Nissen/Peter Damerow/Robert K. Englund, Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient: Informationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jahren, Bad Salzdetfurth/Berlin 1991. 8 Vgl. etwa Barry Kemp, Ancient Egypt: Anatomy of a Civilization, London/New York 1989.

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personale Zentrum von Herrschaft im Niltal konzipiert, das im Status zwischen Gott und Mensch oszilliert.9 Verbunden mit der Herausbildung des Territorialstaates können wir seit etwa der Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. eine enorme Entwicklung in den Techniken der Kommunikation, nicht zuletzt in Bild und Schrift,10 fassen. Dabei wurde auch das Dezimalsystem geschaffen11 und Maße und Gewichte wurden vereinheitlicht.12 In der Darstellung in Bild und Schrift spielten die Inszenierung von Herrscher und Herrschaft, die Welt des Sakralen (nicht zuletzt der Kontakt mit den Göttern) sowie verschiedene Aspekte von Verwaltung und auch soziales Prestige eine große Rolle. Verlässliche Daten zur Bevölkerungsdichte im Niltal des späten 4. Jahrtausends v. Chr. kennen wir leider nicht. Jedenfalls sind die wenigen konkreten Zahlen, wie die Beute- und Gefangenenangaben auf der Prunk-Keule des Königs Nar-mer (siehe Abbildung 3), der königsideologischen Überhöhung verdächtig und damit quellenkritisch ausgesprochen problematisch und zugleich für uns historisch unüberprüfbar.13

Abb. 3: Beute- und Gefangenenangaben auf der Prunk-Keule des Königs Nar-mer.

Das späte 4. Jahrtausend v. Chr. ließe sich als großflächiger sozio-historischer Wendepunkt im Sinne von Klimawandel,14 Bevölkerungsentwicklung,15 techno9 Diesem Phänomen ist unser SFB-Teilprojekt ›Vom doppelten Horus. Königsideologische Arbeit in der formativen Phase des ägyptischen Königtums und ihre Inszenierung‹ gewidmet. 10 Morenz 2013a; Ludwig Morenz/Andréas Stauder (edd.), Niltal und Zweistromland (Thot. Beiträge zur historischen Epistemologie und Medienarchäologie 3), Berlin [im Druck]. 11 Morenz 2013b. 12 Tanja Pommerening, Die altägyptischen Hohlmaße (Studien zur altägyptischen Kultur, Beihefte 10), Hamburg 2005. 13 Diskussion in Morenz 2013b, 88–92. 14 Klimaveränderungen im 4. Jahrtausend v. Chr. im Niltal sind bisher allerdings nur sehr partiell zu fassen. 15 Hier wissen wir leider wenig Konkretes. Die Daten von Karl Butzer (siehe Karl Butzer, Early Hydraulic Civilisation in Egypt. A Study in Cultural Ecology, Chicago/London 1976) sind extrem hypothetisch-spekulativ und kaum überprüfbar. Über bestimmte lokale Verhältnisse

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logischen Innovationen16 und Sozialorganisation17 im Niltal beschreiben, der letztlich im Territorialstaat kulminierte. Dabei interessiert uns hier insbesondere die massive Erweiterung der Einflusssphäre des Herrschers über den lokalen Bereich hinaus in den Territorialstaat und damit auch speziell die Frage einer Art Binnen-Kolonisierung im Niltal. In diesem Sinn ist weiter auszuloten, wie weit die Herausbildung des Staates im Niltal zwar nicht im radikalen Sinne von Karl Wittfogels orientalischer Wasserdespotie,18 aber doch u. a. auch als eine besondere Form der Bewältigung Malthusianischer Krisen19 verstanden werden könnte. Tatsächlich beruhte wohl auch in diesem Fall ein allzu monokausaler Erklärungsansatz auf einer Unterschätzung der sozio-kulturellen Komplexität in dieser Zeit. Ohne diesen Pfad hier weiter verfolgen zu können, ist wenigstens an die Problematik von Stabilität versus Fragilität dieses ersten Territorialstaates zu erinnern. Dies hat sich, insbesondere mit Norman Yoffee verbunden, zu einer stärkeren archäologischen Fragestellung mit partiellem Perspektivwechsel entwickelt.20 Zwar im Prinzip interessant, aber angesichts der Beleglage nur schwer entscheidbar ist die Frage nach der kulturellen Homogenität bzw. Diversität der Bevölkerung im seinerzeit neuen Territorialstaat. Ein gewisser Sprachenpluralismus scheint uns anhand der Toponyme erschließbar, die zum Teil eine klare ägyptische Etymologie aufweisen (so z. B. Abw [»Elephantine«] oder nxn [»Hierakonpolis«]), zum Teil aber auch nichtägyptisch wirken (so z. B. AbDw [»Abydos«] oder bAst [»Bubastis«]).21

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(etwa Hierakonpolis, Tell el Farcha oder Adaima) wissen wir inzwischen mehr, aber für Fragen der Bevölkerungsentwicklung immer noch sehr wenig. Auch können die Daten kaum begründet sauber extrapoliert werden. Dazu gehört etwa auch die Erfindung von Papyrus als Schriftträger: Beryl Büma, Costly Signaling. Vom Innovationsdruck sozialer Komplexität, in: Ludwig Morenz/Andréas Stauder (edd.), Niltal und Zweistromland (Thot. Beiträge zur historischen Epistemologie und Medienarchäologie 3), Berlin [im Druck]. Ausbildung der Administration (für uns insbesondere in Titeln fassbar), Aufbau eines Nomos-Systems (Engel 2006) zur Zentralverwaltung des Landes. Karl A. Wittfogel, Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power, New Haven 1957; kritisch dazu aus ägyptologischer Perspektive: Erika Endesfelder, Zur Frage der Bewässerung im pharaonischen Ägypten, in: Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde 106 (1979), 37–51; Wolfgang Schenkel, Die Bewässerungsrevolution im Alten Ägypten, Mainz 1978. Diese Denkfigur ist eng mit Arnold Toynbees geschichtserklärender Dichotomie von Challenge and Response verbunden (als durchgängiges Prinzip ausgearbeitet in: Arnold J. Toynbee, A Study of History, Bd. I–X, London 1934–1954). Zur Problematik genüge ein Verweis auf Norman Yoffee (ed.), The Evolution of Fragility: Setting the Terms, Cambridge 2019. Diskussion in: Ludwig Morenz, Phonographische Lesungen bereits um 3200 v. Chr.?, in: Ludwig Morenz/Andréas Stauder (edd.), Niltal und Zweistromland (Thot. Beiträge zur historischen Epistemologie und Medienarchäologie 3), Berlin [im Druck].

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2.

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Zentrums-Fragen

In aller Vereinfachung können wir uns die Hohe Kultur im proto- und frühdynastischen Niltal als ein eher dünnes Netzwerk besonders elaborierter Kulturtechniken und Zivilisationsmuster vorstellen, das über eine seinerzeit überwiegend rural geprägte Gesellschaft mit Familie und ›Dorf‹ als Bezugsgröße(n)22 gelegt war. Dabei ist eine gewisse kulturelle Normierung sowohl in als auch durch Bildlichkeit und Schriftlichkeit deutlich. Tatsächlich kennen wir aber auch schon aus der dem Territorialstaat vorausgehenden Zeit verschiedene das Niltal überspannende kulturelle Gemeinsamkeiten, etwa in der Keramikproduktion, aber auch in partiell geteilten symbolischen Welten.23 Sozio-ökonomisch mit der Herausbildung des weit ausgedehnten Territorialstaates und der Stratifizierung der Gesellschaft einher ging die Ausbildung besonderer sakraler, ökonomischer und sozialer Zentren im Niltal, die ihrerseits weiter gestaffelt waren. Wie weit wir dabei in einem spezifischeren Sinn von ›Städten‹ sprechen können, bleibt im Konkreten eher eine von der Definition abhängige Frage.24 Jedenfalls können wir Siedlungen von signifikant unterschiedlicher Größe, Komplexität, Dichte und Funktion unterscheiden. Insbesondere betrifft diese Siedlungshierarchie die bisher weder durch Inschriften noch archäologisch geklärte Frage, wie stark wir für die frühdynastische Zeit im Niltal von einer Hauptstadt bzw. einem System von unterschiedlich gewichtigen Hauptstädten, an denen der König bei Reisen durch das Land weilte,25 ausgehen können. Immerhin sprechen die königlichen Standarten (auf hohen Stäben angebrachte und damit weithin sichtbare, oft symbolstarke und prägnante Zeichen),26 wie etwa auf der Nar-mer-Palette (siehe Abbildung 2), für eine Art Doppelresidenz Abydos-Hierakonpolis.27 Zugleich wissen wir aus der Archäologie, dass Abydos die Nekropole der Herrscher der I. und II. Dynastie sowie ihres engen Umkreises war, während wir die zugehörige ›Stadt‹ bisher nicht

22 Christopher Eyre, Peasant and ›Modern‹ Leasing Strategies in Ancient Egypt, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 40,4 (1997), 367–390. 23 David Wengrow, The Archaeology of Early Egypt: Social Transformations in North-East Africa, 10000 to 2650 BC, Cambridge 2006. 24 Renate Müller-Wollermann, Präliminarien zur ägyptischen Stadt, in: Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde 118 (1991), 48–54. 25 Ägyptisch ist dafür auf den Begriff des Horus-Gefolges (Smsw Hr) zu verweisen. 26 Der Untersuchung der Standarten in der proto- und frühdynastischen Zeit ist das Dissertationsprojekt von David Sabel gewidmet. 27 Interpretationsvorschlag in Ludwig Morenz, Die Standarten des Königsgeleits: Repräsentanten von Abydos und Hierakonpolis als den beiden herrscherlichen Residenzen?, in: Studien zur Altägyptischen Kultur 30 (2002), 277–283.

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

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sicher identifizieren können.28 Große Elitebestattungen kennen wir aber auch aus Memphis und aus Negade.29 Verschiedene archäologische und bildliche Quellen aus unterschiedlichen Orten zeigen zum Schutz ummauerte Siedlungen, die diese gegen das unbefestigte Umland abhoben (siehe Abbildung 4).30

Abb. 4: Buto-Palette; rechts unten Arme im Zählgestus, als Rebus geschriebenes Toponym ( j)p zu lesen, Egyptian Museum Cairo, JE 27434.

Diese ikonographischen Daten können partiell mit archäologischen31 korreliert werden und die Hauptstadt des neuen Territorialstaates (spätes 4. und frühes

28 Überblick bei David B. O’Connor, Abydos. Egypt’s First Pharaohs and the Cult of Osiris, London 2011. 29 Überblick bei Wilkinson 1999. 30 Die Arme im Zählgestus können als eine Rebus-Schreibung jp (»zählen«) für das Toponym p (= »Buto«) stehen, Diskussion in Morenz 2013a, 252–257. 31 Nadine Moeller, The Archaeology of Urbanism in Ancient Egypt: From the Predynastic Period to the End of the Middle Kingdom, Cambridge 2016.

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3. Jahrtausend v. Chr.) trug den programmatischen Namen »Mauern der Keule/ Weiße Mauern«.32 Diese Zentren wiesen in der Regel einen sakralen Raum (›Tempel‹) auf, wie wir dies archäologisch besonders für Hierakonpolis fassen können.33 Dabei konnten die Bereiche ›Palast‹ und ›Tempel‹ auch miteinander kombiniert sein. Von den bildlichen Darstellungen, etwa auf Siegeln oder Elfenbeintäfelchen, kennen wir verschiedene Tempelformen, wobei es sich insbesondere um repräsentative Holz-Matten-Bauten handelte, die eine bestimmte symbolische Form (etwa eine Tierform wie das ›Per-wer‹ [»Haus des Großen«] von Hierakonpolis, siehe Abbildung 5) aufwiesen.34

Abb. 5: Per-wer von Hierakonpolis (oben) in Darstellungen auf Etiketten aus der frühdynastischen Zeit.

3.

Nachgeordnete Zentren im Niltal

Zu den Zentralorten35 kommen weniger zentrale und schließlich die weite Landschaft (im Sinne der griechischen Chora) mit ihren Dörfern, Gehöften usw.;36 wobei wir darüber aus der frühen Zeit besonders wenig, tatsächlich fast nichts, wissen. 32 Morenz 2012. 33 Renée Friedman, Hierakonpolis Locality HK29A: The Predynastic Ceremonial Center Revisited, in: Journal of the American Research Center in Egypt 45 (2009), 79–103. 34 Diverse Beispiele in Peter Kaplony, Die Inschriften der Ägyptischen Frühzeit, Wiesbaden 1963. 35 Klassisch ist die Darstellung von Walter Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Jena 1933; zugleich besteht unser analytisches Problem beispielsweise in der Differenzierung Territorialstaat versus Netzwerk etc., wie auch im Beitrag von Anna Flückiger im Rahmen der Spannungsfeldtagung ›Core, Periphery, Frontier – Spatial Patterns of Power‹ angeklungen ist (Anna Flückiger, Kritische Gedanken zu Zentrum und Peripherie in der [vor- und] frühgeschichtlichen Archäologie, in: Jan Bemmann/Dittmar Dahlmann/Detlev Taranczewski [edd.], Core, Periphery, Frontier – Spatial Patterns of Power [Macht und Herrschaft 14], Göttingen 2021, 77– 99).

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

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Gemäß den archäologischen Daten und der wissenschaftlichen Erforschung ist die sozio-kulturelle Peripherie mit ihren regionalen Zentren und im Spannungsverhältnis zum Territorialstaat mit dem gott-menschlichen Horus-König an der Spitze weit weniger bekannt als die großen Nekropolen. Tatsächlich haben die Forschungen der letzten Jahre und Jahrzehnte allerdings eine verhältnismäßig große archäologische Datenmenge und viele neue Einsichten geliefert.37 Dazu gehören die sensationellen Funde der polnischen Kollegen in Tell el Farcha und seiner Umgebung38 oder die Erforschung des oberägyptischen Adaima.39 Auch die Assuaner Region im Bereich der Südgrenze des ägyptischen Territorialstaates weist bemerkenswert viele Zeugnisse aus der prä-, proto- und frühdynastischen Zeit auf. So kann die Nilinsel Elephantine archäologisch bis in die Negade-Zeit zurückverfolgt werden40 und wir kennen von dort einen der frühesten Tempel Ägyptens um 3000 v. Chr.41 Ins Neolithikum zurückreichende Felsbilder sind zahlreich im Osten und auch im Westen Assuans, und in der Forschung der letzten Jahre haben insbesondere die (heute nur noch sehr partiell erhaltenen) Felsbilder aus Hamdulab nordwestlich von Assuan mit ihren frühen Herrscherdarstellungen42 Aufmerksamkeit gefunden. Bei den Felsbildern aus Hamdulab fragt sich, ob es sich hier tatsächlich um besonders frühe Darstellungen handelt,43 oder ob wir – wie wir vermuten – die Stilistik eher mit der Lage in der kulturellen Peripherie und einer nur partiellen Vertrautheit der Bildgestalter mit den seinerzeit neuartigen ikonographischen und stilistischen Traditionen erklären können. Solange uns harte Daten fehlen, sollten wir aufgrund der verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten jedenfalls mit einer etwas breiteren

36 Eine gewisse Vorstellung davon bietet die Selbst-Präsentation des Anchtifi von Hefat mit ihren verschiedenen spezifisch lokalen Referenzen, Diskussion in Ludwig Morenz, Die Zeit der Regionen im Spiegel der Gebelein-Region. Kulturgeschichtliche Rekonstruktionen (Probleme der Ägyptologie 27), Leiden 2010. Kronzeuge aus dem Neuen Reich ist für uns der pWilbour. 37 Einblicke in die Vielfalt der Forschung bieten die Origins-Tagungsbände. 38 Marek Chłodnicki/Krzysztof M. Ciałowicz/Agnieszka Ma˛czyn´ska, Tell El-Farkha I. Excavations 1998–2011, Poznan/Kraków 2012. 39 Beatrix Midant-Reynes, The Predynastic Site of Adaima (Upper Egypt), Poznan 1996; Beatrix Midant-Reynes et al., Adaïma: 1997–2002, in: Archéo-Nil 12 (2002), 69–86. 40 Peter Kopp, Elephantine XXXII: Die Siedlung der Naqadazeit (Archäologische Veröffentlichungen 118), Mainz 2006, 28–38. 41 Günter Dreyer, Elephantine VIII. Der Tempel der Satet (Archäologische Veröffentlichungen 39), Mainz a. Rhein 1986; Richard Bussmann, Die Provinztempel Ägyptens von der 0. bis zur 11. Dynastie: Archäologie und Geschichte einer gesellschaftlichen Institution zwischen Residenz und Provinz (Probleme der Ägyptologie 30), 2 Bde., Boston/Köln 2010. 42 Stan Hendrickx/John C. Darnell/Maria C. Gatto, The Earliest Representations of Royal Power in Egypt: the Rock Drawings of Nag el-Hamdulab (Aswan), in: Antiquity 86 (2012), 1068–1083. 43 Hendrickx/Darnell/Gatto 2012.

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Datierungsspanne rechnen. Die Forschung ist noch im Fluss, die Datenlage sehr ungleichmäßig und der Überlieferungszufall bleibt schwer kalkulierbar.

4.

Periphere Regionen jenseits des Zentralstaates

Der SW-Sinai gehörte für die Ägypter nicht zu ihrem ›Staat‹, sondern wurde in der proto- und frühdynastischen Zeit anscheinend als eine Art kolonisiertes Ausland behandelt. Dementsprechend wurde auf das herrscherliche Gewaltpotential rekurriert, wie es die ikonische Szene ›Herrscher-erschlägt-Feinde‹ des Königs Djer aus Wadi Ameyra zeigt (siehe Abbildung 6a).

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Abb. 6a und b: Felsrelief aus Wadi Ameyra: Links: Erschlagen der Feinde (doc. 306–308), rechts oben: Detail – Bildtypus »befriedeter« Asiat.

Diese Erschlagungsszene ist mit einer Beischrift kombiniert, die wir folgendermaßen lesen können: »Erschlagen der Mauer-Leute«.44 Zusätzlich ist auf diesem Felstableau korrespondierend mit dieser Szene der Bildtypus ›befriedeter Asiat‹ dargestellt (siehe Abbildung 6b). Schwieriger zu bestimmen scheint mir die sozio-politische Situation in der Levante und insbesondere im Gebiet des heutigen Südisrael. Hier wurden an 44 Pierre Tallet, La zone minière pharaonique du Sud-Sinaï 2. Les inscriptions pré- et protodynastiques du Ouadi Ameyra (Mémoires publiés par les membres de l’Institut français d’archéologie orientale 132), Le Caire 2015, 26; Interpretation bei Ludwig Morenz, Sinai und Alphabetschrift. Die frühesten alphabetischen Inschriften und ihr kanaanäisch-ägyptischer Entstehungshorizont im Zweiten Jahrtausend v. Chr., mit Beiträgen von David Sabel (Studia Sinaitica 3), Berlin 2019, 60–61.

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

271

verschiedenen Orten ägyptische Inschriften insbesondere des Königs Nar-mer gefunden45 und ein Ort wie ’En Besor wird in der archäologischen Literatur manchmal als eine Art frühägyptisches Handelsemporium interpretiert.46 Wir könnten alternativ dazu von einer größeren Extension des ägyptischen Staatsgebietes unter Nar-mer und seinen unmittelbaren Nachfolgern ausgehen,47 das danach zu einer klaren Kontur vom Nildelta im Norden bis Elephantine als ›staatliche‹ Südgrenze kontrahierte. Tatsächlich sollten wir sowohl geopolitisch als auch ägyptisch-eigenbegrifflich48 bezüglich unserer modernen Begrifflichkeit mit durchaus fließenden Grenzen rechnen.

5.

Zentrale Einschreibungen in die Peripherie

Die mehr oder weniger staatliche Gliederung der Gesellschaft im Niltal und den angrenzenden Regionen korrespondiert medial mit der sehr unterschiedlichen Dichte des Gebrauchs hochkultureller Techniken wie Bild und Schrift. Dieser war anscheinend auf wenige Zentren im Niltal beschränkt; wir kennen insbesondere Funde aus zentralen Orten wie Abydos, Hierakonpolis oder Buto. Demgegenüber finden sich in weniger zentralen Bereichen neben punktuellen Schriftverwendungen vor allem auch Formen von Imitation dieser besonderen und herrschaftsaffinen Kulturtechniken, etwa an Orten wie Adaima in Oberägypten.49 Diese sozial gestaffelte Teilhabe zeigt ein breiteres Interesse und ausgeprägtes soziales Prestige der hohen Kultur auch über die wenigen ›großen‹ Zentren hinaus und dabei zugleich die sozio-kulturelle Spannung Zentrum – Peripherie. 45 Dazu gehört z. B. Arad im Negev: Ruth Amiran/Ornit Ilan, Arad. Eine 5000 Jahre alte Stadt in der Wüste Negev, Israel, Neumünster 1992. Zudem können wir in Arad lokale Adaptionen der ägyptischen Bildlichkeit und Schriftlichkeit annehmen: Ludwig Morenz, Ein ornamentalisiertes ERSCHLAGEN DER FEINDE (?). Zur Adaption einer ägyptischen Bildformel im frühbronzezeitlichen Negev, in: Göttinger Miszellen 241 (2014), 45–53. Neben Interferenzen in der materiellen Kultur, insbesondere der Keramik, sowohl mit Ägypten als auch mit dem vorderasiatischen Bereich erweist sich Arad als bemerkenswert interkulturell geöffnet; zur Interpretation des frühbronzezeitlichen Arad als »Stadt der Nomaden«: Israel Finkelstein, Early Arad. Urbanism of the Nomads, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 106 (1990), 34–50. 46 Ram Gophna, Excavations at ’En Besor, Tel Aviv 1995. 47 Für den Süden ist auf die Felsreliefs vom Gebel Scheich Suleiman hinzuweisen, zuletzt: Claire Somaglino/Pierre Tallet, Gebel Sheikh Suleiman: a First Dynasty Relief after All…, in: Archéo-Nil 25 (2015), 122–136. 48 Zu ägyptischen Grenzkonzepten und deren sprachlichem Ausdruck: Stephen Quirke, Frontier or Border? The Northeastern Delta in Middle Kingdom Texts, in: Alessandra Nibbi (ed.), Proceedings of the Colloquium The Archaeology, Geography and History of the Egyptian Delta in Pharaonic Times, Wadham College, 29–31 August, 1988, Oxford 1989, 261– 274. 49 Midant-Reynes 1996.

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Bestimmte Netzwerke dieser kulturellen Zentren im Niltal werden durch Darstellungen mehrerer und dabei semiotisch klar unterscheidbarer Standarten im Bild gezeigt.50 Diese Standarten zeigen ein charakteristisches Element eines solchen regionalen Zentrums, etwa das sogenannte MIN-Zeichen, das für die Stadt Koptos, dessen Hauptgott Min51 war, steht (siehe Abbildung 7).

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Abb. 7: Min/Koptos-Standarten aus dem Wadi Ameyra, SW Sinai.

Tatsächlich reichte diese kulturelle Einschreibung von Herrschaft weit über das Niltal hinaus, betraf Expeditionsrouten52 und bestimmte durch ihre Rohstoffe reizvolle Expeditionsgebiete wie den SW-Sinai. Hier kennen wir aus dem Wadi Ameyra eine Inschriftenserie, die von der protodynastischen Zeit bis zum Ende der II. Dynastie reicht.53 Im Rahmen dieser Expeditionen spielte Koptos in der proto- und frühdynastischen Zeit mit seiner Lage am Weg zum Wadi Hammamat eine herausragende Rolle und dies wird sowohl durch eindrückliche Monumentalskulpturen, wie die Min-Kolosse (siehe Abbildung 8), als auch durch Inschriften in den jeweiligen Regionen, wie sie die Min-Standarte im Wadi Ameyra, bezeugt. Dabei steht auf den Min-Kolossen in früher monumentaler

50 Dieser Frage ist, wie gesagt, das Dissertationsprojekt von D. Sabel gewidmet. 51 Ann Macfarlane, The God Min to the End of the Old Kingdom (Australian Centre for Egyptology Sydney Studies 3), Sydney 1995. 52 Ein Beispiel bietet die Nar-mer Inschrift in Wadi Ameyra, siehe Tallet 2015, 18–20. 53 Tallet 2015.

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

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Schrift sogar die Expeditionsroute von Koptos über das Wadi Hammamat bis zum Roten Meer aufgeschrieben.54

Abb. 8: Kolossalfigur des Min und Inschrift auf der abgebundenen Phallustasche.

In Monumentalobjekten wie diesen manifestierte sich die intendierte Relation von stadtartigem Zentrum im Niltal und spezifisch wirtschaftlich interessanter Randregion direkt, und gerade Koptos erscheint in der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends als eine Expeditionsstadt von überregionaler Bedeutung.

54 Deutung in Morenz 2004. Diese Inschrift steht nicht einfach auf dem Körper, sondern als markantem Textträger auf der abgebundenen Phallustasche. Dieses Detail wird u. a. diskutiert in Günter Dreyer, Die Datierung der Min-Statuen von Koptos, in: Deutsches Archäologisches Institut Kairo (ed.), Kunst des Alten Reiches. Symposium im Deutschen Archäologischen Institut Kairo, am 29. und 30. Oktober 1991, Mainz a. Rhein 1995, 49–56.

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6.

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Domänen – Königliche Inseln einer Staatlichkeit in der Peripherie

In dem neuen sozio-ökonomischen Bezugsrahmen des Territorialstaates mit dem Horus-König an der Spitze wurden in der proto- und frühdynastischen Zeit sogenannte Königsdomänen55 auf- und ausgebaut, also landwirtschaftliche Einheiten, die König und/oder hoher Elite zur Nutzung unterstanden. Damit stehen sie im sozio-ökonomischen Problemfeld der redistributiven Wirtschaft im Sinne Karl Polyanis, wobei die Redistribution strukturell an ein sozio-politisches Oberhaupt geknüpft ist.56

Abb. 9: Domänennamen von Inschriften der frühdynastischen Zeit.

Inschriftliche Belege für ›Domänen‹ kennen wir seit der I. Dynastie (siehe Abbildung 9)57 und können sie darüber hinaus bis zu den sogenannten PFLANZUNGEN der archaischen Warenetiketten aus dem Grab Abydos U-j58 aus der Zeit um 3200 v. Chr.59 verfolgen (siehe Abbildung 10). Tatsächlich können wir wahrscheinlich davon ausgehen, dass das hieroglyphische Zeichen der frühesten Inschriften für die Bedeutung »Pflanzung« im Sinne von »Domäne« stand. Ab der I. Dynastie wurden die Domänennamen in das Zeichen einer Ummauerung eingeschrieben. Diese inschriftlich gut fassbaren Domänennamen prägen unser Bild von der Wirtschaft des frühen ägyptischen Staates, doch erfahren wir jenseits der Namen und der Nennung der Produkte nur wenig bis gar nichts.

55 Helen Jacquet-Gordon, Les Nomes des Domaines funéraires sous l’ancien empire égyptien, Le Caire 1962. 56 Karl Polanyi, The Great Transformation. The Political and Economic Origins of our Time, Boston 2001. 57 Kaplony 1963. 58 Günter Dreyer, Umm el-Qaab. 1: Das prädynastische Königsgrab U-j und seine frühen Schriftzeugnisse (Archäologische Veröffentlichungen 86), Mainz a. Rhein 1998; Morenz 2004. 59 Zur Diskussion der Datierung vgl. Dreyer 1998.

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

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Abb. 10: Archaische Etiketten aus dem Grab Abydos U-j.

7.

Die erste lokalisierbare Königsdomäne. Close reading einer neu entdeckten Felsinschrift

Bisher kannten wir diese ›Domänen‹ nur inschriftlich, aber ein – bisher noch unpublizierter, sensationeller – Neufund60 aus einem Gebiet nordöstlich von Assuan soll hier in unserem ersten Deutungsansatz vorgestellt werden (siehe Abbildung 11). Diese monumentale Felsinschrift bezeichnet offenbar genau das Gebiet, in dem eine Domäne angelegt worden war. Damit ist sie der inschriftliche und archäologische Nachweis für eine konkret lokalisierte Königsdomäne und insofern von einer kulturhistorisch herausragenden Bedeutung. Die aus insgesamt vier Zeichen bestehende Inschrift, die hoffentlich bald in konkreter epigraphischer Aufnahme genauer publiziert werden kann, enthält die Hieroglyphen PFLANZE, ROSETTE, SKORPION und DOPPELKREIS. Hier handelte es sich um eine Art ältestes Ortsnamensschild der Welt. 60 Über die archäologische Entdeckung dieses Gebietes informiert eine Pressemitteilung des Antikenministeriums.

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Abb. 11: Vorläufige Umzeichnung der neuentdeckten Inschrift in Wadi el Malik.

Den DOPPELKREIS können wir als Siedlungszeichen (vgl. die spätere Hieroglyphe O49 61) verstehen. In der Hieroglyphe ROSETTE ist der archaische ägyptische Königstitel zu erkennen, der anscheinend nur bei den frühen Königen SKORPION und Nar-mer aus der Übergangszeit von der proto- zur frühdynastischen Zeit belegt ist (siehe Abbildung 12). Exkurs: Die ROSETTE, eine – kurzfristige – Königshieroglyphe? Im Rahmen des ägyptisch-sumerischen und protoelamischen Kulturkontaktes62 könnte dieses Zeichen plausibel mit dem sumerischen DINGIR-Zeichen (Formerklärung als Stern und/oder Rosette63) verbunden werden (siehe Abbildung 13).64

61 Zu frühen Belegen und Formvarianten: Ilona Regulski, A Paleographic Study of Early Writing in Egypt (Orientalia Lovaniensia Analecta 195), Leuven 2010, 162–163. 62 Etwa Uwe Sievertsen, Das Messer vom Gebel el-Arak, in: Bagdader Mitteilungen 23 (1992), 1–75. 63 Ursula Moortgat-Correns, Die Rosette – ein Schriftzeichen? Die Geburt des Sterns aus dem Geiste der Rosette, in: Altorientalische Forschungen 21,2 (1994), 359–371. 64 Die Frage sumerisch-ägyptischer Kulturkontakte im Hinblick auf die frühe Schrift ist noch genauer zu diskutieren.

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

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Abb. 12: Links: Nar-mer; rechts: Die Hieroglyphe ROSETTE bei SKORPION.

Abb. 13: Ein Vorbild des Sumerischen DINGIR-Zeichen auf dem ›Uruk-Trog‹.

Zugleich hat das Zeichen ROSETTE im Bildrepertoire der Negade II-Zeit etwa auf der Dekoration der Prunk-Messergriffe (z. B. dem von Gebel el Tarif, siehe Abbildung 14) oder auch auf Prunk-Kämmen (etwa dem Davis-Comb) verschiedene Parallelen. Der Zeichenursprung erlaubt also zwei durchaus plausible Ableitungen, die einander nicht einmal völlig ausschließen. Wenn die Hieroglyphe ROSETTE dann als ein Königs-Semogramm nach einer Laufzeit von nur zwei Generationen bereits nach Nar-mer wieder aufgegeben wurde, können wir dies vielleicht spezifischer mit der damaligen Entwicklung des

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nsw-Königstitels verbinden.65 Sofern der mit der sw-Pflanze geschriebene nsw-Königstitel nicht früher belegt ist, könnten wir erwägen, ob der königliche nsw-Titel und die Schreibung mit der sw-Pflanze66 gleichsam ein Nachfolger des Königstitels mit ROSETTE war, wobei der jeweilige Bezug auf die Pflanzlichkeit eine Bedeutung getragen haben könnte. Vor allem aber können wir den Horus-Titel (geschrieben mit der Hieroglyphe FALKE) als Nachfolger ansehen und zudem festhalten, dass in der ersten Dynastie mehr als ein Königstitel gleichzeitig in Gebrauch war.

Abb. 14: Prunk-Messergriff von Gebel el Tarif mit Rosetten-Darstellungen.

Die besprochene Zeichenkombination dieses Ortsnamensschildes mit der Hieroglyphe PFLANZE am Anfang findet engste Parallelen in den Inschriften auf den archaischen Etiketten aus dem Grab U-j von Abydos (siehe Abbildung 10).67Auf diesen Warenetiketten stehen sowohl Orts- als auch Herrschernamen.68 Vergleichbar zu den frühen Etiketteninschriften aus dem Herrschergrab in Abydos können wir auch in der Felsinschrift in dem Gebiet nordöstlich von Assuan »Pflanzung/Siedlung des Königs SKORPION« lesen. Während die archaischen Etiketten die Warenherkunft kennzeichnen, bezeichnet die besprochene immobile Felsinschrift ein landschaftliches Gebiet und ist damit die erste Königsdomäne, die wir tatsächlich genau lokalisieren können. Damit bekommen auch die Toponyme auf den Etiketteninschriften ein stärkeres kulturhistorisches Kolorit, denn eine Besonderheit und spezifische Bedeutung dieser Inschrift liegt darin, dass sich das von den kleinen mobilen Etiketten aus dem Grab Abydos U-j 65 Der älteste Beleg stammt von einer Siegelabrollung aus der Zeit des Königs Aha, dem Nachfolger von Nar-mer, vgl. Regulski 2010, 140. 66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Dreyer 1998; Morenz 2004. 68 Vgl. Morenz 2004.

Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

279

bekannte Toponymmuster hier ganz konkret und ortsfest sowie ortskonkret in einer Felsinschrift findet. Diese Beschriftung war sakro-politisch motiviert und diente der Identitätsstiftung. Wurde diese Inschrift vielleicht nicht lokal angefertigt, sondern war ein Produkt der Zentrale, das eventuell sogar bei einem Herrscherbesuch angebracht wurde? Dabei sind auch verschiedene Stufen der Rezeption denkbar, bis hin zur Erkennbarkeit durch Illiteraten. Diese und weitere Fragen an die Inschrift und ihren archäologischen Nahkontext sollen in näherer Zukunft genauer verfolgt werden. Ob wir bei der Hieroglyphe PFLANZE spezifischer an ein landwirtschaftlich kultiviertes Gebiet oder auch allgemeiner eine Bezeichnung im Sinne von Siedlung denken sollen – und wie genau überhaupt die Kategorienbildung in dieser Zeit aussah – können wir mangels hinreichend spezifischer Belege u. E. bisher noch nicht sicher sagen. Immerhin dürfte es sich um eine Wirtschaftseinheit handeln, wobei wir bisher noch nicht wissen, was in dieser Königsdomäne produziert wurde. Dafür ist zunächst einmal archäologische Basisforschung gefragt. Diese Domäneninschrift eröffnet uns ein Fenster in die formative Phase der ägyptischen Kultur mit der Ausbildung des ersten Territorialstaates der Weltgeschichte. Aufschlussreich ist es insbesondere bezüglich der Frage nach Binnenkolonisierung und Territorialgestaltung im Spannungsfeld Zentrum versus Peripherie. Als Arbeitshypothese können wir zudem annehmen, dass hier ein Austauschplatz Domäne – Zentrale markiert wurde. Allerdings bedarf eben dies noch der weiteren Erforschung, und dafür entwickelt die Bonner Abteilung für Ägyptologie in enger Kooperation mit dem Antikenministerium und speziell dem Inspektorat Assuan – insbesondere dem Direktor Abdelmonem Said – ein archäologisches Feldforschungsprojekt.

8.

Coda/Relevanz für das Teilprojekt

Die im Umkreis des Niltals während der proto- und frühdynastischen Zeit binnenkolonisierten Königsdomänen liegen in Bereichen, die zunächst einmal als kulturelle Peripherie beschrieben werden können. Kernpunkt dieses Artikels ist der Nachweis einer Königsdomäne aus der formativen Phase des ägyptischen Territorialstaates, die konkret mit dem König namens SKORPION vom Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. verbunden ist. Durch die immobile Felsinschrift lernen wir erstmals die genaue Lokalisierung einer Königsdomäne kennen, und darin steckt ein hohes Potential für künftige archäologische Feldforschung, gerade im Hinblick auf die Fragen des Teilprojekts ›Vom doppelten Horus. Königsideologische Arbeit in der formativen Phase des ägyptischen Königtums und ihre Inszenierung‹ zu dem im Spannungsfeld ›Zentrum und Peripherie‹ behandelten

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Ludwig D. Morenz / David Sabel

Themenkomplex. Während bis dato der Nachweis der Existenz der Domänen und PFLANZUNGEN nur mittels Kleinfunden in den Zentren erbracht werden konnte – vereinfacht gesagt also die Peripherie nur durch die Brille des Zentrums in den Blick kam –, eröffnet sich nun die einzigartige Möglichkeit, die Fragestellungen direkt in die Peripherie zu tragen.

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Zentrale Einschreibungen in die sozio-kulturelle Peripherie

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Zeichnung: David Sabel. Abb. 2: Wikimedia commons – gemeinfrei. Abb. 3: Zeichnung: Leonie Muschiol. Abb. 4: Photo: David Sabel. Abb. 5: Günter Dreyer, Umm el Qaab. 1: Das prädynastische Königsgrab U j und seine frühen Schriftzeugnisse (Archäologische Veröffentlichungen 86), Mainz a. Rhein 1998, 122, Abb. 77, Nummern 63, 64, 66. Abb. 6a und b: Zeichnungen: Susanne Groschel. Abb. 7: Zeichnungen: Leonie Muschiol. Abb. 8: Egyptian Museum Cairo, JE 30770 (courtesy of Andrew Boyce, aus Barry Kemp, The Colossi from the Early Shrine at Coptos in Egypt, in: Cambridge Archaeological Journal 10,2 (2000), 211–242, hier 213, figure 3). Abb. 9: Zeichnungen: David Sabel. Abb. 10: Günter Dreyer, Umm el Qaab. 1: Das prädynastische Königsgrab U j und seine frühen Schriftzeugnisse (Archäologische Veröffentlichungen 86), Mainz a. Rhein 1998, 119, Abb. 76–77, Nummern 59, 60, 75–77. Abb. 11: Zeichnung: David Sabel. Abb. 12: Links: Ashmolean Museum Oxford, AN1896.1908.E.3632, rechts: Egyptian Museum Cairo, JE 32169, Photo: David Sabel. Abb. 13: British Museum, BM 120000 (© The Trustees of the British Museum). Abb. 14: Egyptian Museum Cairo, CG 14265, Photo: David Sabel.

Harald Wolter-von dem Knesebeck

Die Wandmalereien des Adlerturms der bischöflichen Burg von Trento/Trient als Beispiel für den Umgang mit Zentrum und Peripherie in auf einen (königlichen) Gast bezogenen bzw. beziehbaren Wandmalereien

Teilprojekt ›Der König als Gast. Haus und Herrschaft in der profanen Wandmalerei‹ (Leitung: Prof. Dr. Harald Wolter-von dem Knesebeck, Kunstgeschichte)

1.

Der Adlerturm und seine Wandmalerei: Lage, Auftraggeber und Entstehung

Der Adlerturm ist der südlich der Bischöflichen Burg, dem Castello del Buonconsiglio, in Trient über dem östlichen Stadttor, dem Adlertor, gelegene Stadtturm (Abb. 1).1 Er ist über den Laufgang auf der Stadtmauer und einen zwischen beiden angelegten Garten mit der Residenz verbunden, in die er kurz vor der Entstehung der Wandmalereien integriert und vom Bischof ausgebaut wurde. 1 Grundlegend Enrico Castelnuovo, I Mesi di Trento. Gli affreschi di torre Aquila e il gotico internazionale, Trient 1986 (ND Trient 2018), dort auch 247–264 zu den bereits im Cinquecento fassbaren Restaurierungen und den heutigen Befunden, sowie Diane E. Booton, Pictorial Seasons: A Cultural Study of the Cycle of Calendar Paintings in the Torre dell’Aquila, New York 1994, jeweils mit älterer Literatur. Jüngere Zusammenfassungen bei Steffi Röttgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, 2 Bde., Bd. 1: Anfänge und Entfaltung 1400–1470, München 1996, 28–31, und in Laura Dal Prà/Ezio Chini/Marina Botteri Ottaviani (edd.), Le vie del Gotico. Il Trentino fra Trecento e Quattrocento (Beni Artistici e Storici del Trentino. Quaderni 8), Trient 2002, 600–609, Kat. Nr. 21 (Francesca de Gramatica), sowie Enrica Cozzi, Il mondo cavalleresco. L’Italia nord-orientale, in: Enrico Castelnuovo/Francesca de Gramatica (edd.), Il Gotico nelle Alpi 1350–1450 (Ausst.-Kat. Trient, Museo Diocesano Tridentino), Trient 2002, 238–251; Francesca de Gramatica, Il ciclo dei Mesi di Torre Aquila, in: Castelnuovo/de Gramatica 2002, 342–365, zu Georg von Lichtenstein vgl. Evelin Wetter, Il mondo di Giorgio di Liechtenstein. L’internazionalità come programma, in: Castelnuovo/de Gramatica 2002, 322–338, zur Frage nach dem möglicherweise im Adlerturm tätigen Meister Wenzel vgl. auch Emanuele Curzel, Venceslao pittore a Trento. Un nuovo documento per l’attribuzione dei »Mesi« di Torre Aquila?, in: Castelnuovo/de Gramatica 2002, 339–341, und Castelnuovo/de Gramatica 2002, Kat. Nr. 48 (Emanuele Curzel). Mein Dank für die Hilfe bei der Abbildungsbeschaffung gilt dem Team des Castello del Buonconsiglio in Trento, Lucia Longo Endres von der Università di Trento und in Bonn Jean-Luc Ikelle-Matiba sowie last but not least dem Bonner Sonderforschungsbereich 1167.

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Harald Wolter-von dem Knesebeck

Der Auftraggeber dieser Baumaßnahmen und der Wandmalereien des Adlerturms war der ab 1391 bis 1407 amtierende Trienter Bischof Georg von Liechtenstein. In ihm sind wie bei keinem zweiten Auftraggeber der Region die internationalen Impulse gebündelt, die damals entlang des Etschtales die Kunstproduktion auf höchstem Niveau bestimmten. Dabei dürfte der Bischof für diesen Prozess selbst eine wesentliche Rolle gespielt haben. Um 1360 geboren, verhalfen ihm 1381 die guten Kontakte seiner Familie, der Liechtenstein von Nikolsburg in Morawien, zu den Habsburgern auf den Posten des Propstes der Kirche St. Stefan in Wien.2 Neben diesem höchsten kirchlichen Amt, das die Herzogsresidenz zu bieten hatte, war er auch Kanzler der Wiener Universität. Diese guten Beziehungen dürften ganz wesentlich dazu beigetragen haben, dass er 1391 auf den Trienter Bischofsstuhl berufen wurde. Trient war ein zentraler Ort in den Alpen und als Sitz eines alten Bistums auf einer der Hauptalpentraversalen von Bedeutung, konnte aber ähnlich wie Brixen aufgrund seiner Lage in den Bergen im Mittelalter als entlegener Ort in der Wildnis verstanden bzw. dargestellt werden.3 Der von Georg von Liechtenstein mit Erfolg betriebene Ausbau der Landesherrschaft des Trienter Bischofsstuhles brachte ihn nicht nur in Konflikt mit den Tiroler Habsburgern, sondern ebenso mit der eigenen Bevölkerung, vor allem in Trient als zentralem Ort des Territoriums des Bistums selbst, welche die Hauptlast dieser Politik in Form von hohen Steuern zu tragen hatte.4 Dieses und angebliche Vetternwirtschaft führten Anfang 1407 zur Revolte der Trientiner gegen ihren Bischof, den sie mit der Hilfe von Herzog Friedrich IV. absetzen und vertreiben konnten.5 Der Adlerturm (Abb. 1) wurde noch vor Georgs Vertreibung 1407 umgebaut und ausgemalt, wie seine Wappen in den Wandmalereien (Abb. 2–5) und ein 2 Zu Georg von Liechtenstein vgl. Castelnuovo 1986, 25–31; Booton 1994, 155–164, 166–172; Wetter 2002; de Gramatica 2002, 343–344. 3 Vgl. Rangerius episcopus Lucensis, Vita Anselmi Lucensis episcopi, ed. Roger Wilmans, in: Monumenta Germaniae Historica (Scriptores XII), Hannover 1856, 13–35, bes. 19, Abschnitt 19, 13–16, https://www.dmgh.de/de/fs1/object/display/bsb00001081_00029.html (18. 07. 2019). Zu Anselm vgl. Cinzio Violante, Anselmo da Baggio, in: Dizionario Biografico degli Italiani 3 (1961), 399–407. Vgl. allgemein hierzu Ludwig Tavernier, Der Dombezirk von Brixen im Mittelalter. Bauhistorische Studien zur Gestalt, Funktion und Bedeutung (Schlern-Schriften 294), Innsbruck 1996, 16–17, nach dem diese Schilderung Brixens als entlegener Ort in der Wildnis nicht allein als Ausdruck der Geringschätzung des aus der Toskana stammenden Bischofs verstanden werden kann, die sich zudem seiner Papsttreue und damit dem Gegensatz zu dieser Synode verdankte, sondern vielmehr den erheblichen Temperaturund Witterungsunterschieden zwischen der Toskana und Brixen aufgrund von dessen Gebirgslage zwischen über 2500 Meter hohen, oft auch im Sommer schneebedeckten Bergen. 4 Zu den Städten der Alpen im Spätmittelalter und zu dem mit ca. 4500–5000 Bewohnern am Beginn des 16. Jahrhunderts vergleichsweise großen Trient vgl. Gian Maria Varanini, Città alpine del tardo medioevo, in: Castelnuovo/de Gramatica 2002, 34–51, bes. 39. 5 Vgl. ausführlich bei Booton 1994, 164–172.

Die Wandmalereien des Adlerturms der bischöflichen Burg von Trento/Trient

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1407 datiertes Graffito auf ihnen belegen.6 Georg besaß neben einer reich gefüllten Kleider- und Silberkammer auch eine umfangreiche Bibliothek.7 Darunter befand sich eine reich illuminierte Handschrift des ›Tacuinum sanitatis‹,8 die zahlreiche in Landschaftswiedergaben eingebettete Darstellungen von Menschen, Tieren und gerade auch Pflanzen bietet, die schon lange als wesentliches Vorbild für die Wandmalereien im Adlerturm und ihren Detailrealismus erkannt wurden. Georg besaß darüber hinaus französische Teppiche, denen sich der Gesamtaufbau der Bilder im Adlerturm anzunähern scheint.9 Für solche Arbeiten verfügte Georg über den ersten Hofmaler, den man in dieser Region seit dem Maler Hugo des Brixener Bischofs Konrad von Rodank vom Beginn des 13. Jahrhunderts fassen kann. Der Hof scheint somit einen Maler aus dem Zentrum damaliger Kunstproduktion im deutschsprachigen Bereich nach Trient gezogen zu haben, lässt doch schon sein Name Wenzel eine böhmische Herkunft vermuten, ebenso wie auch die Wandmalereien im Adlerturm Übereinstimmungen mit herausragenden Werken der böhmischen Malerei der Zeit wie der nach dem böhmischen König benannten Wenzelsbibel aufweisen.10 Daher ist es sehr naheliegend, in ihm auch den verantwortlichen Maler des Adlerturmes zu sehen.11 6 Vgl. Castelnuovo 1986, 10; Wetter 2002, 323–324. 7 Vgl. hierzu und dem Folgenden zuletzt Wetter 2002. 8 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. S. N. 2644, vgl. Tacuinum Sanitatis in medicina, 1966. Am einfachsten greifbar in der Edition: Franz Unterkircher, Das Hausbuch der Cerruti: nach den Handschriften in d. Österr. Nationalbibliothek. Übertr. aus d. Lat. u. Nachw. Vollständige Wiedergabe der Miniaturen des Codex Vindobonensis »Tacuinum sanitatis in medicina«, Dortmund 1979. 9 Vgl. Wetter 2002, 334. 10 Zu den Bezügen zur Wenzelsbibel in Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 2759–2764, vgl. Castelnuovo 1986, 39–40. Eine Urkunde von 1397 zeigt, dass Wenzel durch Georg von Liechtenstein in einem Haus nahe zum Adlerturm in Trient untergebracht wurde, vgl. Curzel 2002, zur Wenzelsbibel vgl. Wenzelsbibel. Vollständige Faksimile-Ausgabe der Cod. Vindobonenses 2759–2764, ed. Franz Unterkircher (Codices selecti. 70. 1–8), Graz 1981–1988 (ND Dortmund 1990, Die bibliophilen Taschenbücher, 1001/2001). 11 Zu dem Problem insgesamt und demjenigen mit der Zuschreibung von Riffian vgl. de Gramatica 2002, 362–363; Wetter 2002, 334–337. Dass die eng verwandten, aber nicht unbedingt von derselben Hand stammenden Wandmalereien in der Friedhofskapelle von Riffian bei Meran, vgl. Silvia Spada Pintarelli, Fresken in Südtirol, übers. v. Maria Pia de Martin, München 1997 (ital. Originalausg. Venedig 1997), 186–191, mit großen Farbabbildungen, ebenfalls mit dem Namen Wenzel signiert und auf 1415 datiert sind, möchte ich dabei eher in der Richtung verstehen, dass sich hier vielleicht inzwischen eine Art ›Werkstattname‹ entwickelt hatte, unter dem verschiedene Kräfte aus dem Umkreis des Hofkünstlers bei der Realisierung seiner Aufträge tätig werden konnten. Unabhängig von solchen Überlegungen sind die Wandmalereien von Riffian und diejenigen von Pergine und Dermulo Zeugnisse der Ausstrahlung, welche das Werk des Trienter Meisters hatte, vgl. zu diesem weiteren Umfeld zuletzt Ezio Chini, Il Gotico in Trentino. La pittura di tema religioso dal primo Trecento al tardo Quattrocento, in: Castelnuovo/de Gramatica 2002, 252–287, hier 276–281. Vgl. jetzt auch Leo Andergassen, Stiltransfer zwischen Prag und Verona. Meister

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Der Adlerturm erhielt bei den Umbauten drei Kammern übereinander. Von diesen wurde die mittlere direkt über den Wehrgang von der Burg aus (Abb. 1) am östlichen Ende ihrer Nordwand erschlossen. Sie weist den Monatszyklus auf, um den es hier gehen soll (Abb. 2–5). Von den beiden weiteren, über eine Treppenspindel in der Südostecke des Turmes gegenüber diesem Eingang erreichbaren Geschossen besitzt das obere sehr fragmentarisch erhaltene Wandmalereien von derselben Werkstatt.12 In den Wandmalereien der direkt vom Wehrgang aus erreichbaren Turmkammer (ca. 8 x 7 m, Höhe ca. 5,5 m) trennen dünne Spiralsäulchen als auf ein Mindestmaß reduzierte Rahmenelemente die Felder der einzelnen Monatsbeschäftigungen (Abb. 2–5).13 Sie befinden sich auf der ca. 2,27 m hohen Brüstung aus imitierten Marmorplatten – die im Cinquecento bis auf ihren oberen Abschluss durch die rotweißen Brokatbehänge ersetzt wurde –, so dass die Säulen deutlich in eine vordere Raumschicht vor die Darstellungen rücken.14 Nach oben hin grenzt die ursprüngliche Holzdecke auf vier großen Balken in Nord-Süd-Richtung und zehn kleineren über ihnen in Ost-Westrichtung den Raum ab.15

2.

Beschreibung und Kommentierung der Wandmalereien zu den Monaten des Adlerturms

Mit den Monatsarbeiten ist im Adlerturm die Verbildlichung konventionellen Ordnungs- und Handlungswissens über die Welt, wie es die Kalendarien in den Handschriften ebenso wie in den Wandmalereien in den Kirchen und Privathäusern boten,16 aus den zuvor vorherrschenden engen Medaillon- oder Kas-

12 13

14 15 16

Wenzeslaus und die Ausmalung der Heilig-Kreuz-Kapelle in Riffian von 1415, in: Wolfgang Augustyn/Ulrich Söding (edd.), Dialog – Transfer – Konflikt. Künstlerische Wechselbeziehungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 33), Passau 2014, 329–362. Vgl. Castelnuovo 1986, 32–33; de Gramatica 2002, 346. Zu den Säulen und ihren Vorläufern im Trecento vgl. Castelnuovo 1986, 12; Hans-Rudolf Meier, Dekorationssysteme profaner Raumausstattungen im ausgehenden Mittelalter, in: Eckart C. Lutz/Johann Thali/René Wetzel (edd.), Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation (Burgdorfer Colloquium 2001), 2 Bde., Bd. 2, Tübingen 2005, 393–418, hier 412–413. Vgl. Castelnuvo 1986, 14. Vgl. Castelnuovo 1986, 14. Vgl. Cozzi 2002, 239, zu den Kalendarien in drei Privathäusern in Verona (Turmhaus im vicolo Due Mori), Treviso (Casa Coghetto) und Trient (aus der Via Oriolo, jetzt im Museum des Castello del Buonconsiglio), die aus dem 13. Jahrhundert bzw. das letztgenannte aus der Zeit um 1330 stammen. Zu letzterem auch Castelnuovo/de Gramatica 2002, Kat. Nr. 5 (Francesca de Gramatica). Ein interessanter Vorläufer könnten die möglicherweise ebenfalls ehemals einen Monatszyklus bildenden Wandmalereien aus dem Udineser Palazzo

Die Wandmalereien des Adlerturms der bischöflichen Burg von Trento/Trient

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tenschemata in weite Landschaften mit hochliegendem Horizont überführt.17 Aber auch die im höfischen Bildkreis so dominanten Jagdszenen, die in großer Variationsfülle ausgebreitete Pflanzen- und Tierwelt, die verschiedenen Hausformen und Gerätetypen und deren Handhabung sind aus enzyklopädischen Zusammenhängen, wie sie das den Wandmalereien eng verbundene ›Tacuinum sanitatis‹ zu Fragen der Gesundheit und Lebensführung enthält, in diesen freieren Rahmen einer Großlandschaft überführt. Die Kalenderlandschaft im Adlerturm führt eine Vielzahl von Kalendermotiven erstmals in monumentaler Form in einer auf jeder Wand durchgehenden Landschaft zusammen, wobei mit großer Beobachtungsgabe etwa komplexe Gerätschaften wie die Kelter im Oktober (Abb. 5) bzw. das Schleifen der Sensen im Juli (Abb. 4) wiedergegeben und dabei die unterschiedlichen Architekturen und Bekleidungen sowie Beschäftigungen den verschiedenen Ständen zugewiesen werden.18 Zu den in den Kalendarien üblichen Motiven aus der Landwirtschaft und den wenigen bisher verbreiteten Chiffren für Hofkultur wie dem Reiter im Frühjahr kommen zahlreiche weitere Darstellungen des höfischen Bilderkreises hinzu.19 Rücken die landwirtschaftlichen Aktivitäten mehrheitlich in den Hintergrund der Landschaften, so ist dem hier erstmals fassbaren eigenen höfischen Schwerpunkt der Vordergrund mit entsprechend größer dimensionierten Figuren eingeräumt. Meier wies zu Recht darauf hin, dass die Landschaften nur zum Teil durchgehen und es zugleich eine gegenläufige Tendenz zur bildhaften Aussonderung des jeweiligen Bildfeldes aus dem Kontinuum gibt, d. h. viele Motive eben nicht von einem Bildfeld zum anderen weitergeführt werden.20 Thematisch stehen ohnehin gerade die Unterschiede der Monate im Vordergrund, die sich aber als geschlossenes Ganzes wieder zu einem ganzheitlichen Weltentwurf zusammenfügen. Hierbei scheinen sich mir im Sinne der Prämisse einer raumbezogenen Anordnung von Wandmalereien noch einmal Untergruppen nach den einzelnen Wänden zu bilden, wie die folgende kurze Beschreibung verdeutlichen soll.

17 18 19 20

Antonini Perusini der Via Savorgnana aus dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts sein, die sich seit dem zweiten Weltkrieg von ihren Wänden abgenommen im Besitz des städtischen Museums von Udine befinden, vgl. Castelnuovo/de Gramatica 2002, Kat. Nr. 6 (Enrica Cozzi). Vgl. Otto Pächt, Early Italian Nature Studies and the Early Calendar Landscape, in: Journal of the Warburg and Courtault Institutes 13 (1950), 13–47, hier 13, spricht von »tapestry landscape«. Vgl. Castelnuovo 1986, 16–23; Booton 1994; im Vergleich mit den Angaben bei Pier de’Crescenzi vgl. Booton 1994, 184–222, unter realienkundlichen Gesichtspunkten vgl. Giuseppe Seˇbesta, Il lavoro dell’uomo nel ciclo dei Mesi di Torre Aquila, Trient 1996. Vgl. Booton 1994 untersucht detailliert die Bildtraditionen der landwirtschaftlichen und der höfischen Beschäftigungen in ihrem Zusammenhang mit den Wandmalereien. Vgl. Meier 2005, 412–413, vgl. Castelnuovo 1986, 12–14.

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Die Monatsfolge beginnt am nördlichen Ende der Ostwand (Abb. 2), also an dem Wandstück, das der über den Wehrgang von der Burg her Eintretende als erstes neben sich sieht, und läuft dann im Uhrzeigersinn um. Im Januar- und Februarbild finden sich jeweils ausführliche Architekturwiedergaben. Im Januarfeld ist es die detailliert wiedergegebene bischöfliche Burg Stenico. Hier wird der Gegensatz zwischen der verschneiten Umgebung der Burg und dem Burggarten ausgespielt, der, auch um überhaupt erkennbar zu sein, grün wiedergegeben ist. Auch Details wie die deutliche Zäsur zwischen dem alten Wohnbau der Burg links und dem strahlend weißen mit den modernen Kreuzstockfenstern rechts werden erkennbar, wobei der moderne Bauteil erst unter Georg von Liechtenstein errichtet worden war, dessen Fahne über dem kleinen Turm der Vorburg weht.21 Die an das Burgtor klopfende Figur konnte Booton mit Janusdarstellungen in Kalendarien verbinden, bei denen Anklopfenden zum Jahresbeginn die Tür geöffnet wird.22 Dieses den Jahreswechsel begleitende, transitorische Motiv ist auch in der Januarminiatur der ›Très Riches Heures‹ zu finden, wo ein Kämmerer mit den in Goldschrift gegebenen Worten »Approche, approche« (»Tretet näher, tretet näher«) die aus der Kälte kommenden Gäste zum Kamin, dem Herz des gastlichen Hauses, einlädt, von denen sich auch einige bereits ihre Hände an ihm wärmen.23 Im Februar (Abb. 2), der einzigen Monatsdarstellung ohne jede Landschaftsangabe, bildet die Stadtmauer die Kulisse für ein Turnier vor derselben. Zugleich ist sie der Ort, an dem die dem Turnier zusehenden Damen stehen, die in ihren Gesichtern allerdings stark übermalt sind.24 Auf geschickte Weise wurde dabei nicht nur die an sich unglückliche Lage des Bildfeldes über dem Fenster der Ostwand und neben der Treppenspindel in der Südostecke des Raumes überspielt. Zugleich schaute der Betrachter wie die Damen auf der Stadtmauer im Bild aus der Stadt heraus, wenn er durch dieses Fenster unter der Turnierszene sah, da der Adlerturm, wie gesagt, in die Stadtmauer integriert ist.25 Mit dieser auch

21 Vgl. Castelnuovo 1986, 26, 57, 60. Die Identifikation erstmals bei A. de Gozzaldi, Il castello di Stenico e un affresco nella Torre dell’Aquila a Trento, in: Trentino 7 (1931), 55–59. Mit jüngster Literatur vgl. de Gramatica 2002, 349. 22 Vgl. Booton 1994, 92–94. 23 Chantilly, Musée Condé, Ms. 65, fol. 2r, vgl. Jean Longnon/Raymond Cazelles, Die Très Riches Heures des Jean Duc de Berry im Musée Condé Chantilly. Einführung und Bilderläuterungen von Jean Longnon und Raymond Cazelles, München 1989 [Sonderausgabe der ersten deutschen Ausgabe von 1973, amerikanische Ausgabe New York 1969, französische Ausgabe Montrouge 1970], 171. 24 Zu den Übermalungen vgl. Castelnuovo 1986, 259. 25 Castelnuovo 1986, 71 vermutete in den beiden Türmen der Stadtmauer, aus denen die Damen hervorsehen, den Adlerturm und den »torresello de mezzo«, der auf halbem Weg zu ersterem in die Stadtmauer integriert ist und heute mit einer umlaufenden Jagdlandschaft aus dem 16. Jahrhundert ausgemalt ist, die sozusagen das Renaissance-Äquivalent zum Adler-

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anderenorts in der profanen Wandmalerei anzutreffenden Einbindung des Betrachters in die ihn umgebende Bilderwelt scheint mir dieser wie ein Festteilnehmer in die Festkultur am Hofe des Georg von Liechtenstein integriert worden zu sein. Nur wird hier gerade auch der Blick nach draußen thematisiert. Darüber hinaus könnte dies einen Hinweis auf eine intendierte Nutzung des Raumes geben: Er sollte wahrscheinlich als eine Art vergrößerter Sitzerker zum Hinaussehen dienen, und wenn möglich der Betrachtung von Festen und Turnieren.26 Mir scheinen somit im Februarbild Burg, Stadtmauer und Türme selbst zu Festarchitektur umgedeutet zu sein. Analog hierzu bilden fast alle folgenden Landschaften im Vordergrund die Bühne für jeweils passende Formen der Selbstdarstellung und des Vergnügens des Adels. Dies gilt schon für das Januarbild, der ersten Schneelandschaft noch vor den ›Très Riches Heures‹ des Duc de Berry,27 bei dem die möglicherweise auch in den Tuchlauben 19 in Wien wiedergegebene Schneeballschlacht zwischen vornehmen Damen und Herren eine Art humorvollen Kommentar zu dem Turnier daneben abgeben könnte.28 Auch im Bereich der Arbeit der unteren Stände sind die beiden Monate der Ostwand kontrastierend aufeinander bezogen. Die Jäger im tiefverschneiten Wald mit ihren Hunden, die ihrer Kleidung nach Berufsjäger, wohl in Diensten des Bischofs, sein sollen,29 stehen mit ihrer Tätigkeit in der Kälte dem Schmied des Februars gegenüber, der mit hochgekrempelten Ärmeln in seiner warmen Schmiede am Amboss arbeitet und wohl die bei einem Turnier anfallenden Reparaturarbeiten an den Rüstungen erledigt. Da für den Schmied nur das Restfeld rechts neben dem Fenster blieb, ist hier einmal die Arbeitsdarstellung in den unteren, d. h. vorderen Teil des Bildes gerutscht, in dem sich sonst vorrangig der Adel tummelt. Sind auf diese Weise die beiden Bildfelder der Ostwand vielfach miteinander verbunden, so lässt sich über die Darstellung zum März, die sich auf der heute erneuerten Treppenspindel befand, und ihr Verhältnis zu den benachbarten Wänden aufgrund ihres Totalverlustes keine Aussage mehr machen. Lediglich die Fortsetzung des Weidenzaunes des Februarbildes (Abb. 2) im nun schon auf der Südwand gelegenen April (Abb. 3) könnte nahelegen, dass dieser auch auf

26 27 28

29

turm bietet, vgl. etwa Christoph Gasser/Helmut Stampfer, Die Jagd in der Kunst Alttirols, Bozen 1994, 94, 168–171. Castelnuovo 1986, 9, spricht hier nur sehr allgemein von einem »avamposto solitario di belvedere«. Vgl. Castelnuovo 1986, 57, 66, der auf ein Gedicht des Folgore von San Gimignano verweist, in dem zum Januar eine Schneeballschlacht mit jungen Mädchen erwähnt wird. Vgl. etwa Gertrud Blaschitz/Barbara Schedl, Die Ausstattung eines Festsaales im mittelalterlichen Wien. Eine ikonologische und textkritische Untersuchung der Wandmalereien des Hauses »Tuchlauben 1)«, in: Gertrud Blaschitz (ed.), Neidhartrezeption in Wort und Bild (Medium Aevum Quotidianum. Sonderbd. 10), Krems 2000, 84–111. Vgl. Booton 1994, 185–186.

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dem Märzbild unten umlief, was einen gewissen Hinweis auf Arbeiten in Gärten oder auf dem abgezäunten Acker geben würde,30 wie sie das Aprilbild zeigt. Die höfische Sphäre auf den anschließenden Bildern scheint hingegen einen Zaun ausgeschlossen zu haben. Auf der Südwand (Abb. 3) wurden die drei Monate April, Mai und Juni im Vordergrund in dem Motiv der höfischen Vergnügungen im Grünen zusammengefasst, wobei die beiden vornehm gekleideten Damen des Aprilfeldes zu den Szenen der Begrüßung, Bekränzung und Konversation im Mai eilen, an die sich im Juni der hier einmal nicht in langer, friesförmiger Reihung, sondern entsprechend dem hochrechteckigen Feld in einem Bogen geführte Reigentanz zur Musik einer kleinen Kapelle anschließt.31 Acker- und Gartenarbeiten rund um ein kleines Gebirgsdorf mit einer eigenen Mühle und einer kleinen Kirche im April stehen den Arbeiten der Viehwirtschaft auf der Alm oben im Juni gegenüber. Hingegen ist der Mai als der höfische Monat par excellence auch im oberen Bereich über der Rosenhecke neben der Wiedergabe einer Stadt mit weißem Dom mit Lustbarkeiten versehen. Es fehlen aber landwirtschaftliche Betätigungen, da auch in den Kalendarien die höfischen Themen besonders dem Mai vorbehalten waren. An einem locus amoenus mit gefasster Quelle versammeln sich an einem reich gedeckten runden Tisch beim Essen und Trinken zwei vergnügte Paare vor einem felsdurchzogenen dichten Wald. Im Juni ist der Almwirtschaft eine weitere Stadt gegenübergestellt. Sie scheint als gastfreundlich ausgewiesen, verlassen sie doch Richtung Reigentanz hintereinander ein vornehm gekleideter Herr mit einem Doppelkopf-Trinkgefäß und vor ihm eine ebensolche Dame mit zwei übereinandergesetzten Schalen, die vermutlich Essbares bergen. Begleitet werden sie von kleinen Hunden, die vor ihnen am Wege Wachteln aufspüren. Die beiden Hunde unten links vor den Musikern bringen hingegen eine komische Note ins Bild, da sie zu deren Musik miteinander tanzen. Die Westwand des Raumes (Abb. 4) löst das Problem mit dem hier auf die Stadt gehenden Fenster dadurch, dass nur die beiden Monate Juli und August wiedergegeben sind. Sie erhalten dadurch ausreichend Platz, um die Feldarbeit darzustellen und im Juli noch im Mittelgrund den See mit den Fischern und im August an derselben Stelle die Landstraße mit dem Korntransport aufzunehmen. Im Vordergrund wird das mit den Wachteln bereits im Juni erstmals thematisierte höfische Vergnügen der Vogelbeize behandelt, der auch die links bzw. rechts außen sowie links über dem Fenster zu sehenden Burgen zugeordnet sind. 30 Vgl. auch Booton 1994, 28, vgl. auch Castelnuovo 1986, 100. 31 Insbesondere die Kapelle und einzelne der Paare im Juni sind im Cinquecento übermalt worden, vgl. Castelnuovo 1986, 125, wie die Imprese des Fürstbischof Cles auf der Brust des Trommlers und die Einfügung seiner Person bei dem ersten tanzenden Paar links besonders deutlich zeigen, wobei letzteres zudem noch dazu führte, dass die Dame am Arm des Bischofs in einen Mann umgewandelt wurde.

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Eine weitere Burg ist als Ruine auf einem der schroffen Felsen ganz oben genau hinter der Säule zu sehen, welche die beiden Bildfelder über dem Fenster trennt. Sie hebt sich schon durch ihre ›dramatische‹ Lage und ihre kleineren Dimensionen von den ansitzartigen ›Lustburgen‹ auf dem Lande im Vordergrund ab, auf deren linker die Klapperstörche ihre Nester errichtet haben. Bei der Ruine scheint mir die schon bei der ›Iniustitia‹ Giottos in der Arenakapelle anklingende Verbindung von Ruinen, Raub bzw. Raubrittertum und Wildnis im Hintergrund zu stehen.32 Ihre Zerstörung zeigt hier den befriedeten Zustand des Landes, den sich der Bischof als Verdienst seiner Territorialpolitik anrechnen konnte. Die von der Peripherie drohende Gefahr hat er beseitigen lassen. Dieses Schutzes erfreut sich auch die Kirche, die im August in dem Dorf mit dem Brevier lesenden Pfarrherrn in seinem Pfarrhaus gegenüber von der Kirche vertreten ist.33 Das allgemeine Gedeihen in Zeiten des Friedens verdeutlichen auch die prallen Korngarben, die auf dem Feld geerntet, mit mehreren Wägen in die Scheunen weggebracht werden müssen. Die größte geschlossene Wandfläche des Raumes, die Nordwand (Abb. 5) über dem Eingang von der Burg her, konnte alle vier noch fehlenden Monate des Jahres gemeinsam und in gleichmäßig geschnittenen Feldern aufnehmen. Dennoch ist hier der Zusammenhang zwischen den Bildfeldern am geringsten ausgeprägt und eigentlich nur durch die durchgehende Felsenreihe im Hintergrund und einzelne Grundmotive der Bodengestaltung gewährleistet. Vor allem der September scheint kompositorisch und inhaltlich über Eck eng mit dem auf der Westwand vorausgehenden August verbunden, setzt sich doch in ihm unten die Burg des Augustes ebenso fort wie oben das Dorf. Zudem hängen die Themen Ackerbau mit dem Pflügen oben und der Beizjagd unten jeweils wieder zusammen. Ich frage mich daher, ob hier ein bereits vorliegender, auf jeweils drei Felder pro Wand berechneter Zyklus in der zweiten Jahreshälfte an die konkreten Verhältnisse des Adlerturms angepasst wurde. Dass es solche Zyklen auch in monumentaler Größe gab, belegt die Erwähnung einer Teppichfolge zu den zwölf Monaten im Besitz des französischen Königs Charles V. (er amtierte 1367– 1380).34 Einer solch gleichmäßigen Verteilung der zwölf Monate auf die vier Wände eines Raumes würde auch das Faktum entsprechen, dass die drei letzten Monate des Jahres wiederum einen engeren Zusammenhang untereinander bieten. Sie sind kompositorisch mit den diagonal nach oben gezogenen Landschaftsstreifen im Oktober und November sowie der Wiedergabe der Stadt Trient in November und Dezember stärker verklammert. Inhaltlich verbinden sie sich 32 Vgl. Joachim Poeschke, Wandmalerei der Giottozeit in Italien, 1280–1400, München 2003, 184–223, bes. 189–192, Taf. 121. 33 Vgl. Castelnuovo 1986, 168, zum Brevier. 34 Vgl. Wetter 2002, 335: Item, ung autre tappiz à ouvraige, où sont les Douze moys de l’an.

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m. E. durch eine gemeinsame Themenstellung: die Versorgung des bischöflichen Hofes und seiner Stadt Trient für die Wintermonate. So wird der Wein, dessen Lese und Kelterung im Oktober so viel Platz einnimmt, im Dezember in Fässern auf dem Rücken von Tragtieren direkt in das Castello del Buonconsiglio über der Stadt gebracht.35 Im November treiben die Schweinehirten ihre Herde von der Herbstmast in den Wäldern in die Stadt und im Dezember werden die im Wald gefällten Bäume als Brennholz auf Ochsenkarren durch das Stadttor gefahren. Die Mühle, die sich dort unten rechts außerhalb der Stadtmauer befindet, verweist zurück auf die Kornernte der Monate der Westwand. Höfisches Personal tritt in diesen Monaten nur mehr vereinzelt auf. Im Oktober beschränkt es sich auf zwei vornehme Damen, die sich Trauben reichen lassen, im November sind es die vornehmen Jäger am Feuer und die beiden Reiter mit Speeren, welche die Jagd auf eine Bärin mit ihren Jungen leiten, im Dezember die aus dem Stadttor reitenden drei Herren. Der Monatssaal des Adlerturmes bietet somit als Ganzes (Abb. 2–5) einen Ausblick wie aus einer Loggia auf eine Art Weltlandschaft, die sich im Laufe des Jahres vor dem Betrachter verändert, um dann über der Eingangstür den Kreis zu schließen. Dies gibt bereits einen Hinweis darauf, dass es wie auch bei anderen Ausmalungen solcher Räume die Türen und Fenster des Raumes sind, die eine besondere Funktion haben und die dementsprechend im Hinblick auf den Bildschmuck eine spezifische Akzentuierung erhalten. Über der Tür zum Wehrgang erscheint die bischöfliche Residenzstadt (Abb. 5) mit der Burg des Bischofs, dem Castello del Buonconsiglio, selber in beherrschender Lage über der Stadt. Sie wird mit den gegenüber dem älteren, linear geprägten Stil der Hochgotik bei der Darstellung von Architektur und Landschaft erheblich gewachsenen Möglichkeiten der internationalen Gotik, wenn auch in schematischer Form, so wiedergegeben, wie man sie in etwa damals hätte sehen können, wenn man durch eben diese Tür nach draußen getreten wäre. Im Dezemberfeld ist die bischöfliche Burg am linken Rand wiedergegeben, während die Burgen etwa in den ›Très Riches Heures‹ fast immer das Zentrum des Hintergrundes einnehmen.36 Stattdessen rückt hier derjenige Stadttorturm in die Mitte des Dezemberfeldes, in dem man nach seiner Lage zur Burg das Adlertor bzw. den Adlerturm selbst sehen musste. Zwar teilt er mit den anderen Stadttortürmen die auf ein Satteldach über einer hohen Türöffnung reduzierte Form, die eigentlich nichts mit der turmartig 35 Dass hier die Stadt Trient und das Castello del Buonconsiglio dargestellt sind, vermutet etwa Castelnuovo 1986, 215, 233. 36 Zu den Burgen der ›Très Riches Heures‹ in Chantilly, Musée Condé, Ms. 65, vgl. Matthias Müller, Das irdische Territorium als Abbild eines himmlischen. Überlegungen zu den Monatsbildern in den Très Riches Heures des Herzogs von Berry, in: Andreas Beyer (ed.), Bildnis, Fürst und Territorium (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur 2), München/ Berlin 2000, 11–29.

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295

mehrgeschossigen Erscheinung des Adlerturmes zu tun hat. Anders als diese Stadttortürme weist dieser aber ein Fenster auf, was neben der Lage einen weiteren Hinweis auf seine Identität mit dem Adlerturm gibt. Dieser Turm kehrt zudem in dem Februarbild (Abb. 2) in vergleichbarer Konstellation wieder, ist er doch dort, wie dargelegt, Teil des Mauerstücks, von dem die Damen dem Turnier vor der Stadtmauer ebenso zusehen wie es ein Besucher des Saales durch das Fenster der Ostwand genau unter diesem Bild tun könnte.

3.

Zur Funktion des Raumes mit den Wandmalereien

Zur Funktion des Raumes mit dem Monatszyklus bzw. die drei durch die Wendeltreppe miteinander verbundenen Räume im Adlerturm (Abb. 1) gibt es eine ganze Reihe von Vorschlägen. Von diesen ist nur der einer permanenten Wohnung des Bischofs von vornherein auszuschließen, da es hierfür weder ausreichende Heizmöglichkeiten noch sanitäre Einrichtungen gab.37 So ist nur mit einem zeitweiligen Aufenthalt des Bischofs oder seiner Gäste in der warmen Jahreszeit zu rechnen. Hierfür spricht auch ein Bett, das zumindest in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts erwähnt wird.38 Es stellt sich aber ohnehin die Frage, ob für einen solchen prachtvollen »Vorzeigeraum«39 nicht noch mit anderen Nutzungen gerechnet werden muss. So scheint seine Vorführung vor Gästen naheliegender, und in der Tat ist die zeitweilige Unterbringung von Gästen zumindest für das 16. Jahrhundert bezeugt.40 Zudem war es ja gerade die Nutzung von Turm und Stadtmauer als eine Art Tribünenersatz für zuschauende Gäste, die sich aus den Wandmalereien selbst im Februarbild (Abb. 2) in seiner 37 Vgl. auch Cord Meckseper, Wandmalerei im funktionalen Zusammenhang ihres architektonisch-räumlichen Orts, in: Eckart C. Lutz/Johanna Thali/René Wetzel (edd.), Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter (Freiburger Colloquium 1998), 2 Bde., Bd. 1, Tübingen 2002, 255–281, hier 264, der gegen eine Hauptnutzung als Wohnung des Bischofs auf die ausgesetzte Lage des Turms und die anhaltenden Spannungen mit der Stadt hinweist. Castelnuovo 1986, 9, sieht in dem Turm ein »belvedere«, darüber hinaus aber auch »una sorta di residenza privata e non ufficiale« des Bischofs, Booton 1994, 293–294, ähnlich einen semiprivaten und intimen Raum zur Erholung und Vergnügung des Bischofs und einer beschränkten Gruppe von Gästen, während Wetter 2002, 330, im ersten Stock die Wachen und auch die Vestimenta des Bischofs vermutet und darüber die »stanze private del vescovo«, de Gramatica 2002, 343, aber vermutet, dass der Adlerturm aus einem einfachen Stadttor in eine »raffinata dimora principesca« umgeformt wurde, auch um den Bischof der Kontrolle des Tiroler Hauptmanns zu entziehen, der als Repräsentant der Habsburgischen Herzöge das Recht zur Unterbringung in der Burg besaß. 38 Vgl. Wetter 2002, 330. 39 Meckseper 2002, 272. 40 Vgl. Wetter 2002, 330.

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Bindung zu Fenster und Umfeld des Turmes erschließen lässt. Der Adlerturm weist damit auf Anlagen wie das Goldene Dachl Kaiser Maximilians I. in Innsbruck voraus, das ein solcher Ausblick, zugleich allerdings auch im Gegensatz zu dem Adlerturm ein Ort der Selbstdarstellung nach außen war, ein Aspekt, der hier schon aufgrund des gespannten Verhältnisses des Georg von Liechtenberg zu der Trienter Stadtbevölkerung und seiner Rolle als Bischof ohnehin nur wenig Sinn gemacht hätte.41 Und so dürfte gerade auch das Hinaussehen aus dem Turm ein nicht unwesentlicher Bestandteil seiner Funktion gewesen sein. Hierbei sollte dem Betrachter die oben umrissene spezifische Deutung der umgebenden Welt in den mit ihr gerade an den Wandöffnungen verbundenen Wandmalereien auch dank des hierfür nötigen Detailrealismus nahegebracht werden. Die zeitweilige Öffnung für Gäste, denen der Raum vorgezeigt wird, wäre aber zugleich mit einer Nutzung als zeitweiligem Rückzugsort kombinierbar gewesen. Möglicherweise war dieser Raum daher zugleich eine Art studium des Bischofs für die schöne Jahreszeit.42 Wie schon das große Vorbild solcher Räume in dem Turm des Papstes am Papstpalast in Avignon, böte ein solches studium ebenso im Adlerturm einen Blick auf den sich hier zur Burg hin erstreckenden Garten, der möglicherweise im dritten Stock in den dortigen stark fragmentierten Wandmalereien derselben Zeit wie des Monatszyklus auch dargestellt wurde.43 So kann mit den Wandmalereien dort ein Gegenstück zur ›Chambre du cerf‹ im Papstpalast zu Avignon verloren gegangen sein, die ebenfalls mit dem Garten unterhalb des Turmes inhaltlich verbunden erscheint.

4.

Bedeutung der Wandmalereien des Adlerturms für das Teilprojekt

In der über ein ganzes Jahr ausgebreiteten Weltlandschaft rückt das mit dem Adlerturm kombinierte Castello del Buonconsiglio zusammen mit der bischöflichen Burg Stenico im Januar und der Stadtmauer im Februar an eine durch den Eintritt in den Raum und den Blick nach draußen jenseits der Stadtmauer zentralen Ort des Raumes. Die Bauten nehmen hier die Stelle des Hauses ein, das in den Kalenderzyklen die Wintermonate beherrscht, wie etwa das Beispiel im Züricher Haus ›Zum langen Keller‹, einem Hauptbeispiel für die Thematisierung des Königs als Gast in der profanen Wandmalerei, exemplarisch verdeutlichen 41 Zum Goldenen Dachl in Innsbruck und seinem Programm vgl. Erwin Pokorny, Minne und Torheit unter dem Goldenen Dachl. Zur Ikonographie des Prunkerkers Maximilians I. in Innsbruck, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 4/5 (2002/2003), 30–45. 42 Vgl. auch de Gramatica 2002, 344. 43 Vgl. allgemein Michel Laclotte/Dominique Thiebaut, L’école d’Avignon, Paris 1983.

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297

kann.44 Damit rückt der Trienter Bischof an die Stelle des Hausherrn, der als Ordnungsmacht hinter all den zu koordinierenden Arbeiten steht, die auf das Haus des Bischofs, seine Residenz und darüber hinaus entsprechend der Herrschaftsform des Bischofs auch die Stadt Trient und ihre Versorgung gerichtet sind. Seine Burgen inklusive dem Adlerturm und auch die Residenzstadt Trient sind die Zentralorte dieser Herrschaft und als solche in den Wandmalereien wie im Raumgefüge und seinen Verbindungen zum Außenraum entsprechend an ebenso zentralen wie passenden Stellen platziert. Hierbei war es nicht nötig, dass der Bischof als Hausherr direkt dargestellt wurde, was ohnehin im Rahmen der Kalendarien nicht üblich war. Trifft man einmal auf einen Hausherrn wie den Herzog von Berry in der Januarminiatur seiner ›Très Riches Heures‹, so schlüpft er in die Rolle des sich am Kamin wärmenden Alten dieses Monats, wenn er dabei auch zum Zentrum eines weit ausgeschmückten Neujahrsfestes wird. In der profanen Wandmalerei reicht sowohl im Adlerturm wie auch im Hause der Bilgeri in Zürich prinzipiell die Bindung des Zyklus an ein bestimmtes Haus, um in ihm und seinem wirt die Ordnungsmacht zu erkennen, die mit der Darstellung der im Jahresrhythmus geordneten Arbeiten des Kalenders das Verfügen über konventionelles Ordnungswissen dokumentierte, das erst zur Herrschaft und Gastfreundschaft befähigt und damit dem Haus seine Hausehre gibt.45 Dabei ist es im Prinzip einerlei, ob sich diese Herrschaft nur auf ein Haus oder aber auf ein größeres Gemeinwesen bis hin zu einem staatlichen Gebilde erstreckte, da es wiederum Hausherrschaft und Hausehre waren, die überhaupt erst zu einer über sie hinausgehenden Herrschaft befähigten. Im Adlerturm tritt der Bischof zudem, über die im geregelten Ablauf der Arbeiten liegende Ordnung seines Hauses und seiner Herrschaft hinaus, mehrfach in indirekter Form in Erscheinung. Neben die deutlich erkennbaren, in ihrer Anordnung in der dargestellten Weise mit der Außenwelt um den Saal herum verklammerten Wohn- und Amtssitze des Bischofs, treten heraldische Hinweise wie etwa die Fahne auf der Burg Stenico (Abb. 2), die allerdings sehr zurückge44 Vgl. Harald Wolter-von dem Knesebeck, Der König als Gast. Formen der Vergegenwärtigung und Indienstnahme königlicher Präsenz in der profanen Wandmalerei der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Stefanie Rüther (ed.), Integration und Konkurrenz. Symbolische Kommunikation in der spätmittelalterlichen Stadt (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496. 21), Münster 2009, 111–129, Abb. 1–13, bes. 121–129. 45 Vgl. Wolter-von dem Knesebeck 2009, bes. 121–129, zur Hausehre in diesem Zusammenhang auch Harald Wolter-von dem Knesebeck, »Hûsêre« and the »Topography of Contrasts« in 15th Century Mural Paintings from Tyrol and Trentino, in: Luís Urbano Afonso/Vítor Serrão (edd.), Out of the Stream: Studies in Medieval and Renaissance Mural Painting, Cambridge 2007, 22–41; Harald Wolter-von dem Knesebeck, Secular Iconography, in: Colum Hourihane (ed.), The Routledge Companion to Medieval Iconography, London and New York 2017, 251–266.

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Harald Wolter-von dem Knesebeck

nommen sind. Hinzu kommen solch indirekte Hinweise auf seine Territorialpolitik wie die gebrochene ›Raubritterburg‹ der Herrschaftsperipherie der Westwand (Abb. 4) und die in jeder Stadt und jedem Dorf an markanter Stelle vorhandene Kirche, welche die geistliche Seite des bischöflichen Regiments herausstreicht. Schließlich ist es die dem Bischof zugeordnete Welt seines Adels, die gleichsam seinen Hof verkörpert, welche für die Gastfreundschaft des Bischofs und damit für seine Hausehre steht. Diese Gastfreundschaft wird durch die Schneeballschlacht vor Stenico ebenso wie durch das Turnier vor der vollbesetzten Stadtmauer (Abb. 2) verkörpert, ebenso durch die Weinprobe im Oktober und die Weinfässer, die im Dezember (Abb. 5) in das Castello del Buonconsiglio gebracht werden, schließlich prinzipiell auch in der Jagd und den Vergnügungen, denen der Adel im Territorium des Bischofs nachgehen kann. Besonders ist sie aber in den Wintermonaten zentriert, wie ja auch in den ›Très Riches Heures‹ im Januarbild beim Neujahrsfest zugleich die Gastfreundschaft des Herzogs von Berry gefeiert wird. Und es ist wohl auch der Aspekt der Gastfreundschaft, mit der die ansonsten menschenleer erscheinenden Städte in diesen Gesellschaftsentwurf integriert werden, wenn im Juni (Abb. 3) aus ihnen Essen und Trinken herbeigeschafft wird. Deutlich wird bei all dem der utopische Charakter dieses Gesellschaftsentwurfes, wie bereits Booton erkannte: »In their reductive portrayal of social hierarchy, the Torre dell’Aquila paintings represent intentionally a view at medieval society devoid of realistic social complexity. The three estates become a pictorial formula, a means to present a concept in ›shorthand‹ and to make it easily recognized and understood.«46 Insbesondere die realen Machthaber der Region, die Tiroler Habsburger, aber ebenso auch die Stadtbevölkerung bleiben bei diesem utopischen Konzept ausgeblendet, und die Bauern werden zur gefügigen Masse stilisiert. Umso bezeichnender ist es, dass es gerade die beiden erstgenannten Kräfte waren, welche schließlich der Herrschaft des Bischofs 1407 ein Ende bereiteten. Zu Recht sprach daher Castelnuovo im Zusammenhang mit der Interpretation der Wandmalereien von einem scheiternden »disegno di restaurazione feudale perseguito da Giorgio di Liechtenstein e che si era espresso nel cosmo ben ordinato e gerarchizzato del ciclo dei mesi«, während Booton zudem in einer nostalgischen Grundeinstellung des Bischofs einen Beweggrund für die Entstehung der Wandmalereien ausmachen möchte.47 Gerade in dieser utopischen und zugleich nostalgischen Darstellung der Welt, die zwischen den aus der Peripherie gut versorgten bischöflichen Zentralorten, allen voran dem Castello mit dem Adlerturm in Trient selbst, und der bezwungenen gefährlichen Peripherie in der Ruine der ›Raubritterburg‹ oszilliert, wird der Gastfreundschaft 46 Vgl. Booton 1994, bes. 223–225, Zitat S. 225. 47 Castelnuovo 1986, 28; vgl. Booton 1994, 298.

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als Frucht dieser Ordnung im Raum ein nicht zu unterschätzender Rang als Bindeglied zwischen dem Bischof und seinem nächsten Umkreis in der Adelsgesellschaft eingeräumt. Dies wäre auch die Botschaft an einen hochstehenden, auch einen königlichen Gast, der diesen Raum in der Bischofsburg vorgeführt bekäme. Vergleicht man vor diesem Hintergrund andere säkulare Verbildlichungen der Verfasstheit der menschlichen Gesellschaft mit dem Adlerturm, für die ich neben dem Haus ›Zum Langen Keller‹und dem Sieneser Buon Governo aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts noch die bald nach dem Adlerturm entstandenen Miniaturen aus dem Kalender der ›Très Riches Heures‹ des Herzogs von Berry anführen möchte, so zeigt sich eines deutlich: Es kommen trotz der vergleichbaren Einzelelemente, zu denen auch in Siena die Kalenderzyklen ebenso wie der Themenkreis der höfischen Vergnügungen ihren Beitrag leisten, ganz dem jeweiligen Kontext geschuldete, eigenständige Aussagen zustande. Dabei haben alle ihre jeweils charakteristischen Leerstellen, insbesondere die zwei nicht städtischen Programme in Trient und den ›Très Riches Heures‹. Letztere blenden die Stadt bzw. die Stadtbevölkerung aus, wenn auch in Trient ein ähnlich dienendes Verhältnis des Umlandes zur Stadt und eine ähnliche Wirksamkeit der Ordnungskraft im Land unter dem Gesichtspunkt der Friedenssicherung geboten wird wie bei dem Sieneser Beispiel. Dort ist es die Securitas mit dem Galgen, in Trient aber die gebrochene Felsenburg, die für den in und gegenüber der Peripherie gewonnenen Frieden steht. Die Burgen des Trienter Kirchenfürsten erscheinen nicht so sehr dem himmlischen Jerusalem angenähert wie in den ›Très Riches Heures‹,48 sondern viel nüchterner und detaillierter wiedergegeben, etwa durch die Eiszapfen am Castello del Buonconsiglio (Abb. 5) im Dezember und durch die Reihen hölzerner Aborterker an der Burg Stenico (Abb. 2). Und so entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der anschauungsgesättigten und hierdurch ganz im Sinne des Auftraggebers Anspruch auf Authentizität erhebenden Bildsprache und dem komplexen Gegenstand, der Welt in ihrer Verfasstheit unter einem Herrscher wie dem Trienter Bischof, dessen Herrschaft hier als Zusammenspiel zentraler bischöflicher Orte und ihres räumlichen und sozialen Umfelds bis hin zur bezwungenen Peripherie der ›Raubritterburg‹ (Abb. 4) reicht.

48 Vgl. Müller 2000.

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Abb. 1: Trient, Castello del Buonconsiglio, Adlerturm über dem östlichen Stadttor, dem Adlertor, Ansicht der Ostseite mit der Sala dei Mesi hinter dem großen Kreuzstockfenster.

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Abb. 2: Trient, Castello del Buonconsiglio, Adlerturm, Sala dei Mesi, Wandmalereien der Ostwand, die Monate Januar und Februar.

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Abb. 3: Trient, Castello del Buonconsiglio, Sala dei Mesi, Adlerturm, Wandmalereien der Südwand, die Monate April, Mai und Juni.

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Abb. 4: Trient, Castello del Buonconsiglio, Adlerturm, Sala dei Mesi, Wandmalereien der Westwand, die Monate Juli und August.

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Abb. 5: Trient, Castello del Buonconsiglio, Adlerturm, Sala dei Mesi, Wandmalereien der Nordwand mit dem Durchgang zur Burg, die Monate September, Oktober, November und Dezember.

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Die Wandmalereien des Adlerturms der bischöflichen Burg von Trento/Trient

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Harald Wolter-von dem Knesebeck

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Die Wandmalereien des Adlerturms der bischöflichen Burg von Trento/Trient

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Harald Wolter-von dem Knesebeck, Bonn, digital überarbeitet von Jean-Luc IkelleMatiba, Kunsthistorisches Institut der Universität Bonn. Abb. 2: Gardaphoto, 2015 – © Castello del Buonconsiglio, Trento – Italy. Abb. 3: Gardaphoto, 2015 – © Castello del Buonconsiglio, Trento – Italy. Abb. 4: Gardaphoto, 2015 – © Castello del Buonconsiglio, Trento – Italy. Abb. 5: Gardaphoto, 2015 – © Castello del Buonconsiglio, Trento – Italy.

Kritik und Idealisierung

Ulrike Becker

Wenn der König sich fürchtet: Kritik und Idealisierung des Herrschers in einer Erzählung aus ›Calila e Dimna‹

Teilprojekt ›Macht und Herrschaft in der novellistischen Weisheitsliteratur Kastiliens (1250–1350)‹ (Leitung: Prof. Dr. Mechthild Albert, Romanistik)

1.

Der Text und seine Geschichte: Datierung, Überlieferung, historischer Kontext und literarische Einordnung

Der Titel des Primärtextes, ›Calila e Dimna‹, rückt zwei Akteure (Schakalbrüder) der ersten auf die Einleitungskapitel folgenden Erzählung von insgesamt sechzehn Kapiteln ins Zentrum. Dabei handelt es sich um die Geschichte ›Del leon e del buey‹ (»Vom Löwen und vom Ochsen«), die einen aufstrebenden Höfling, Dimna, dessen ihn kritisierenden Bruder, Calila, sowie den Ochsen als von Dimna neu eingeführten und zum ›Freund‹ des Königs, dem Löwen, avancierenden Berater und ihre Schicksale thematisiert. Bereits in der Spannung zwischen dem traditionell Tugenden und Pflichten inszenierenden Genre des Fürstenspiegels, dem ›Calila e Dimna‹ zuzuordnen ist (hierzu siehe im Folgenden), und der exponierten Nennung von Berater bzw. Kritik übenden Protagonisten im Titel wird die den gesamten Text charakterisierende Koppelung von Kritik und Idealisierung offensichtlich; eine Konstellation, die sich auch in der Rückschau auf die transkulturelle Rezeption und Fortschreibung des Textes bestätigt und in Bezug auf Textgeschichte und Überlieferung im Weiteren noch genauer ausgeführt werden wird. Für die Datierung und Lokalisierung des Textes ist für das sich der novellistischen Weisheitsliteratur Kastiliens (1250–1350) widmende Teilprojekt der Zeitpunkt der Übersetzung aus dem Arabischen ins Kastilische zur zeitlichen Bestimmung des Primärtextes entscheidend: ›Calila e Dimna‹ ist das erste narrative Prosawerk in kastilischer Sprache. Nach heutigem Forschungsstand erfolgte die Übersetzung im Jahr 1251 im Auftrag von Alfons X., zu diesem Zeit-

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punkt noch Thronfolger, später el Sabio (»der Weise«) genannt.1 Der Text liegt in edierter Form vor, die auf der Basis von zwei erhaltenen Manuskripten sowie unter Berücksichtigung eines Fragmentes entstanden ist.2 Manuskript A wird auf den Beginn des 15. Jahrhunderts datiert, Manuskript B stammt aus dem Jahr 1467.3 Die kritische Edition von Hans-Jörg Döhla leistet zugleich die Datierung bestimmter Begriffe bezüglich ihrer Zuordnung in den Zeitraum der Übersetzung (1251) oder der Manuskripte (15. Jahrhundert).4 Der ursprünglich von einer Gruppe von Übersetzern am Hof Alfons des Weisen angefertigte Text ist ebenso verloren wie die konkrete Fassung des arabischen Ursprungstexts ›Kalı¯la wa-Dimna‹. Dabei handelt es sich seinerseits um eine Übersetzung bzw. Kompilation durch Abdallah Rozbih Ibn al-Muqaffa (ca. 750 n. Chr.) unter Verwendung mittelpersischer bzw. syrischer Versionen, die wiederum auf Sanskrit-Vorlagen indischer Provenienz (u. a. ›Panchatantra‹) zurückgriffen. In der Folgezeit entstanden zahlreiche Manuskripte und Kopien. ›Kalı¯la wa-Dimna‹ ist der erste nicht-religiöse narrative Prosatext in arabischer Sprache. Als Fürstenspiegel entstand er nach dem Machtwechsel von den Umayyaden zu den Abbasiden durch den nach seiner Konvertierung zum Islam im Dienst des Kalifen als Sekretär arbeitenden Ibn al-Muqaffa. Die Spannung zwischen Kritik und Idealisierung, zwischen Herrscher und Berater ist ›Kalı¯la wa-Dimna‹, und durch die transkulturelle Übertragung auch ›Calila e Dimna‹, somit von Anfang an eingeschrieben. Ibn al-Muqaffa, später wohl aufgrund seiner Beteiligung an einem Aufstand gegen den Kalifen zum Tode verurteilt, verfasste ein zusätzliches eigenes Vorwort und fügte einige weitere, wohl aus anderen Quellen stammende Kapitel hinzu. Zur historischen Kontextualisierung von ›Calila e Dimna‹ muss die besondere Situation Spaniens im Mittelalter berücksichtigt werden, deren Ursprung in der 711 n. Chr. beginnenden und später nahezu die vollständige Iberische Halbinsel umfassenden arabisch-maurischen Eroberung liegt. Auf das anfänglich eher friedvolle Nebeneinander folgte mit Beginn des 11. Jahrhunderts die intensivierte Rückeroberung (Reconquista) durch die Christen.5 Arabisches Wissen, Weisheit und Kultur standen in der Folge zunehmend auch durch Übersetzungen von 1 Zur kontroversen Datierung der Übersetzung siehe Hans-Jörg Döhla, El libro de Calila e Dimna (1251). Edición nueva de los dos manuscritos castellanos, Zaragoza 2009, 66f. Vorformen von ›Calila e Dimna‹, speziell die arabischen Übersetzungsvorlagen, dienen dem Hinweis auf überzeitliche sowie transkulturelle Idealisierungen und Kritikpunkte. 2 Beide Manuskripte liegen in der Biblioteca del Real Monasterio de San Lorenzo del Escorial, vgl. Döhla 2009, 62f. Manuskript A wurde ebenfalls kritisch ediert von Juan M. Cacho Blecua/María J. Lacarra (edd.), Calila e Dimna, Madrid 1984. 3 Vgl. Döhla 2009, 66. 4 Bezüglich seiner Methodik siehe Döhla 2009, 67. 5 Zur Geschichte Spaniens im Mittelalter siehe Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006.

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Manuskripten, zunächst vom Arabischen ins Lateinische (u. a. im Rahmen der sogenannten Übersetzerschule von Toledo), später auf Bestreben Alfons’ des Weisen vom Arabischen ins Kastilische, zur Verfügung.6 Im Hinblick auf die Bedeutung von ›Calila e Dimna‹ für Macht und Herrschaft stehen vor allem Zeit, Politik und Hof von Alfons dem Weisen (1252–1284) im Zentrum. Nach Barbara Schlieben stellt der (Reise-)Hof von Alfons ein vom Kulturkontakt und -transfer zwischen Orient und Okzident geprägtes Herrschafts- und Wissenszentrum dar, wobei von einer »Ungeschiedenheit« des politischen und kulturellen Bereiches auszugehen ist.7 Ein individueller Autor ist im Hinblick auf ›Calila e Dimna‹ nicht zu benennen, allerdings sind der Übersetzungszeitpunkt und das (höfische) Umfeld entsprechend aufschlussreich. Da es der Thronfolger selbst ist (Alfons), der somit schon im Blick auf den anstehenden Herrschaftsübergang den Auftrag zur Übersetzung gibt, ist davon auszugehen, dass er den Fürstenspiegel als Handbuch des praktischen politischen Wissens und des ›guten‹ Regierens versteht. Dies bestätigt sich auch durch die anderen von ihm veranlassten Übersetzungen bzw. Werke wissenschaftlicher wie politischer Natur. In diesem Zusammenhang sind auch die Etablierung und Entwicklung des Kastilischen als Verwaltungs- wie Kultursprache im Kontakt mit dem älteren, weiter entwickelten Arabischen zu sehen. Zwar ist der Übersetzer (oder vielleicht das Übersetzer-Team) des ›Calila e Dimna‹ nicht namentlich überliefert, nachgewiesen ist allerdings, dass die Übersetzer des Corpus Alphonsinum vielfach »Funktionsträger des ›politischen‹ Hofes«8 waren. Ein vergleichbarer situativer Kontext findet sich auch zum Entstehungszeitpunkt der arabischen Version ›Kalı¯la wa-Dimna‹, als es in der Folge des Herrschaftsüberganges von den Umayyaden zu den Abbasiden im Zuge des Umbaus des Verwaltungsapparates zum Ausbau des Arabischen durch den Kontakt mit dem Griechischen, Syrischen, Pahlevi und Sanskrit kam – eben jenen Sprachen, aus denen zahlreiche wissenschaftliche wie philosophische Manuskripte zu dieser Zeit ins Arabische übersetzt wurden. In diesem Klima arbeitete Ibn al-Muqaffa als Übersetzer und Sekretär im Dienste abbasidischer Prinzen.9 6 Grundlegend hierzu Klaus Herbers, Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen, in: Ursula Schaefer (ed.), Artes im Mittelalter, Berlin 1999, 232–248. 7 Barbara Schlieben, Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons’ X. (1252–1284), Berlin 2009, 12. 8 Schlieben 2009, 157. Zum Verhältnis von Weisheitsliteratur und Macht siehe Hugo O. Bizzarri, Las colecciones sapienciales castellanas en el proceso de reafirmación del poder monárquico (siglos XII y XIV), in: Cahiers de linguistique hispanique médiévale 20 (1995), 35– 73, http://www.persee.fr/doc/cehm_0396-9045_1995_num_20_1_931 (06. 01. 2019). 9 Vgl. Wolfram Drews, Die Karolinger und die Abbasiden von Bagdad. Legitimationsstrategien frühmittelalterlicher Herrschaftsdynastien im transkulturellen Vergleich, Berlin 2009, 219.

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Genaue Angaben über die Rezipienten des ›Calila e Dimna‹ sind nicht überliefert, es ist allerdings davon auszugehen, dass, abgesehen vom Thronfolger selbst, die Hofgesellschaft bzw. eine den orientalischen Texten gegenüber im Allgemeinen aufgeschlossene Klientel die Rezipientenschaft bildete. Da neben der komplexen, moralisch-politischen Lesart ebenfalls eine explizit ›einfache Lektüre‹10 möglich ist, wird sowohl ›Kalı¯la wa-Dimna‹ als auch ›Calila e Dimna‹ bis heute zudem als Kinder- und Fabelbuch rezipiert. Als Fürstenspiegel steht die Erzählsammlung ›Calila e Dimna‹, welche die arabische Ausprägung dieser Gattung im 8. Jahrhundert als ›Kalı¯la wa-Dimna‹ gleichermaßen mit begründete,11 in einer breiten transkulturellen Tradition sowohl der Antike und Byzanz’ als auch des Orients, wobei gerade das Hochmittelalter dieses Genre besonders schätzen und weiterentwickeln wird (u. a. Gottfried von Viterbo, Vinzenz von Beauvais, Thomas von Aquin, Aegidius Romanus). Als kritisches, zu ›guter‹ Herrschaft mahnendes, insofern auch idealisierendes Genre didaktischer Prägung können die Fürstenspiegel im Auftrag des Herrschers, aber auch mit Abstand vom Hof entstehen. Durch die Präsenz entsprechender literarischer Vorbilder arabisch-islamischer Prägung auf der Iberischen Halbinsel12 schreibt Spanien seine Sonderstellung fort, indem es sich der orientalischen Überlieferung narrativ didaktischer Literatur respektive der Weisheitsliteratur öffnet.13 Ergänzend ist ein wichtiger Aspekt die sogenannte Adab-Literatur, in die sich ›Kalı¯la wa-Dimna‹ als Fürstenspiegel eingliedert,14 die Wissen, Verhaltensanweisungen sowie Muster ›guten Benehmens‹ nicht nur der Herrscher und ihrer Nachfolger, sondern auch der Hofeliten bzw. des Adels beschreibt15 und nicht zuletzt unterhaltende Funktion übernimmt. In dieser Kontinuität der arabischen wie kastilischen Version des ›Calila e Dimna‹ öffnet 10 Vgl. Döhla 2009, 114. 11 Zu Fürstenspiegeln und politischer Literatur im persischen wie arabischen Kontext siehe Mohsen Zakeri, A Proposal for the Classification of Political Literature in Arabic and Persian: Folk Narratives as a Source of Political Thought?, in: Regula Forster/Neguin Yavari (edd.), Global Medieval. Mirrors for Princes Reconsidered, Boston et al. 2015, 174–197, zu ›Kalı¯la wa-Dimna‹ insbesondere 183f. 12 Bereits Ibn Abd Rabbihi (860–940) nutzt Zitate aus ›Kalı¯la wa-Dimna‹ für sein Adab-Werk ›Al-ˁIqd al-farı¯d‹ (»Das einzigartige Halsband«). 13 Vgl. grundsätzlich María J. Lacarra, Cuentística medieval en España: los orígenes, Zaragoza 1979; etwa auch die Ursprünge von Petrus Alfonsi, ›Disciplina clericalis‹. 14 Zu adab bei Ibn al-Muqaffa siehe István T. Kristó-Nagy, La pensée d’Ibn al-Muqaffaʿ. Un »agent double« dans le monde persan et arabe, Paris 2013, 182f., der dessen Quellen (»des collections de gnomologia et des écoles de rhétorique grecques […], la littérature de sagesse de la période antérieure, les recueils d’aphorismes et les andarz pehlevi«) ebenso wie dessen Wirkung aufzeigt: »De ces inspirations mixtes, il a synthétisé une pensée à part et un style qui serait de modèle pour la prose arabe.« 15 Vgl. Döhla 2009, 25, bzw. Wiebke Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur. Von der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart, München 2004, 113.

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sich die Rezipientenschaft vom Herrscher und den Thronfolgern auf die sie umgebenden Eliten und verbindet infolgedessen Fürsten- und Beraterspiegel, indem sie beiden Gruppen konkrete Handlungsanweisungen liefert – ein vielfach heikles, weil gelegentlich doppelkodiertes Spannungsverhältnis von Kritik und Idealisierung. Hinsichtlich der literaturgeschichtlichen Einordnung ist für ›Calila e Dimna‹ zu vermerken, dass es als erstes narratives Prosawerk in Kastilisch sowohl für die Sprache als Instrument der Kulturpolitik und politischen Kultur als auch für die spanische Literaturgeschichte wegweisend war. Die verschachtelte Struktur von Rahmen- und Binnenerzählungen indisch-orientalischer Provenienz (Frametale Narratives16) wurde zum impulsgebenden Muster der europäischen Novellistik (›Il Decamerone‹; ›The Canterbury Tales‹; Novellensammlungen des spanischen Siglo de Oro u. a.) wie auch der Fabel- und Exempelliteratur im Hinblick auf orientalische Motive. Im Bezug zur Semantik von Macht- und Herrschaftsstrukturen ist besonders die Rolle des ›Calila e Dimna‹ im Zuge der Akkulturierung des Spanischen zu unterstreichen, da ihm schon von seinen Ursprüngen an im ›Kalı¯la wa-Dimna‹ politische Wirkkraft eingeschrieben war. Akkulturierung bezeichnet dabei nach Georg Bossong den Prozess, der ausgelöst wird, wenn eine »kulturell noch wenig entwickelte Gemeinschaft, deren Sprache bis dahin nur als ein lokales vernácular verwendet worden und daher in ihren Ausdrucksmitteln wie in ihrer Verwendbarkeit beschränkt geblieben ist, […] in Kontakt mit einer hoch entwickelten Gemeinschaft und ihrer Sprache, die als Trägerin einer umfassenden Kultur über eine reiche und differenzierte Ausdrucksskala verfügt, [kommt]«.17 Gerade Übersetzungen, wie ›Calila e Dimna‹, wirken als Impulsgeber für entsprechende semantische wie strukturelle Entwicklungen bzw. Ausweitungen der Zielsprache, führen zur »Präzisierung ihres begrifflichen Instrumentariums, [zur] Schaffung neuer Terminologien«.18 Darüber hinaus sind in der transkulturellen Zusammenschau die Geschicke der unterschiedlichen Überlieferungsstränge des Textes eine Erfolgsgeschichte, wurde der Text doch von Spanien bis Malaysia bis zum 19. Jahrhundert in mehr als 40 Sprachen übersetzt.19 Die aktuelle Übersetzung (2016) ins heutige Spanisch 16 Vgl. David A. Wacks, Framing Iberia. Maqa¯ma¯t and Frametale Narratives in Medieval Spain, Leiden/Boston 2007, 5. 17 Georg Bossong, Probleme der Übersetzung wissenschaftlicher Werke aus dem Arabischen in das Altspanische zur Zeit Alfons des Weisen, Tübingen 1979, 3. 18 Bossong 1979, 3. Zur Bedeutung von Sprache siehe Olivier Biaggini, Le roi et la parole dans quelques recueils d’exempla castillans des XIIIe et XIVe siècles, in: e-Spania, Revue interdisciplinaire d’études hispaniques médiévales et modernes 4 (2007), https://journals.openediti on.org/e-spania/1272 (06. 01. 2019). 19 Vgl. Beatrice Gründler, Kalı¯la wa-Dimna: A Unique Work of World Literature, in: Verena M. Lepper (ed.), Arab and German Tales. Transcending Cultures, Berlin 2018, 67–68, 175– 177, hier 67f., https://www.geschkult.fu-berlin.de/en/e/kalila-wa-dimna/_inhaltselemen

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weist ›Calila y Dimna‹ explizit als Monument und als Klassiker der spanischen Literatur aus.20

2.

Inhalt und thematische Schwerpunkte des Textes

Gemäß dem vom Übersetzer Ibn al-Muqaffa verfassten Prolog handelt es sich bei ›Calila e Dimna‹ um ein ›Buch der Weisheit‹, das ein Arzt im Auftrag seines Herrschers auf der Suche nach einem Pharmakon, einer ›Kräutermischung des ewigen Lebens‹, aus Indien mitgebracht hat, wobei unter ewigem Leben die Weisheit bzw. das Ideal einer von Weisheit bestimmten Herrschaft zu verstehen sei. Nach dem Schachtelprinzip russischer Puppen sind Exempel und Tierfabeln in die Rahmenhandlung eines didaktisch intendierten Dialoges zwischen einem König und seinem Ratgeber, einem Philosophen, eingelassen, der sich mit den Anforderungen an einen Herrscher, der Bildung eines funktionierenden Hofstaates, der Auswahl von Beratern oder auch außenpolitischen Herausforderungen befasst. Kritik und Idealisierung gehen Hand in Hand mit der didaktischen Intention des Genres. Thematisch werden durch die vielschichtige Kodierung als Fürsten- wie Beraterspiegel auf der Basis expliziter und impliziter Ratschläge für beide Personengruppen narrative Momente von Kritik und Idealisierung konstruiert.21 Die Handlungsräume variieren entsprechend dem Rahmen und der jeweiligen Binnenerzählung. Sie sind vereinzelt explizit indisch konnotiert, manchmal unspezifisch ›orientalisch‹ durch den Kontext (Bezeichnungen, Ausstattung, Tierarten), sowie am Hof oder in Städten/Siedlungen, bei Fabeln etwa auch in der Natur verortet. Bezüglich der Figuren muss zwischen Rahmenhandlung und Binnenerzählungen unterschieden werden. In der (äußeren) Rahmenhandlung agieren ein König (rrey) – je nach Version namens Dexerbe, Sirechuel, Nixhuen – und ein Philosoph (filósofo) – Berzebuy, Berzebuey –, in den jeweiligen (Binnen-)Erzählungen unterschiedliche Protagonisten, wobei die Vielfalt eines breiten politischen Spektrums (Thronfolger, Feinde, Freunde, Berater, Verräter, Verbündete …) zum Einsatz kommt. In bestimmten Erzählungen wird auch das Handeln von Müttern und Ehefrauen als kritische Beraterinnen thematisiert.

te-rd/spotlight_anonymclassic/Gruendler-_2018__-Kalila-wa-Dimna_-a-unique-work. pdf (06. 01. 2019). 20 José M. Merino (ed.), Calila y Dimna, Madrid 2016, 9. 21 Vgl. Rita Moucannas Mazen, Kalila et Dimna arabe, in: Cahiers de linguistique et de civilisation hispaniques médiévales 25 (2002), 267–281, hier 279.

Wenn der König sich fürchtet

3.

317

Ausgewählte Textstelle

Die im Folgenden ausgewählte Textstelle stammt aus dem Kapitel I, ›Del león y del buey‹ (»Vom Löwen und vom Ochsen«), Abschnitte 11c–32 (mit Auslassungen) des Manuskriptes A, S. 157–165.22 Notwendig zum Verständnis der nachfolgend präsentierten Textstelle ist es, diese zu kontextualisieren und mit dem Beginn des rahmenden Kapitels in Bezug zu setzen. Hier fordert der König vom Philosophen eine Exempelerzählung, die die Hinterlist eines »mesturero, falso, mentiroso«23 (»Intriganten, Falschen, Lügners«) thematisiert, der die idealisierte, gerade auch politische Beziehung von amor (»Liebe«) und amistad (»Freundschaft«) zwischen zwei Personen (d. h. Herrscher und Vertrautem) zerstört. Da dies eine Gefahr für Körper und Geist und damit auch für die Herrschaft darstelle, müssten Intriganten verabscheut bzw. gemieden werden »commo la viganbre«24 – wie das Gift. Bestimmte Schwächen, aber auch das fehlende Vermögen eines Herrschers, einen solchen mesturero (»Intriganten«) in seinem Handeln bzw. eine Intrige entlarven zu können, ermöglichen allerdings überhaupt erst dessen Nähe zum Herrscher, sodass es zur Einflussnahme kommen kann. Das entsprechende Handlungsdispositiv entwirft die Erzählung ›Del león y del buey‹: Ein Ochse wird von einem Bauern im Herrschaftsgebiet eines Löwen/Königs zurückgelassen. Der Löwe ist zwar ein starker Herrscher, bekommt aber Angst, als er ein ihm unbekanntes Geräusch – das Brüllen des Ochsen – hört. Mit diesem Satz setzt die unten wiedergegebene Textstelle ein. Die Beteiligten sind nach der Reihenfolge ihres Auftritts: Löwe – Er ist der König in seinem Herrschaftsbereich. Dimna/Dina/Digna (alle drei Bezeichnungen finden sich im Text) – Ein Schakal aus dem Volk, listig, ehrgeizig, bislang kein Mitglied des Hofstaats, strebt dieses aber an. Calila – Ebenfalls ein Schakal, Bruder von Dimna, ›Berater‹ bzw. Kritiker seines Bruders, ebenfalls dem Volk zugehörig und auch nicht im Hofstaat. (11c) E quando oya la boz de commo el buey bramaua, en que non / tal cosa avia oydo, espantaua_se mucho, mas non queria que ge / lo sopiesen sus vasallos.

(11c) Und als er hörte, wie der Ochse brüllte, erschreckte er sich sehr, da er so etwas noch nicht gehört hatte, aber er wollte nicht, dass seine Vasallen das erführen.

22 Zu Transkriptionsregeln, Majuskeln und Unterstrichen siehe Döhla 2009, 103f. Auf die Kenntlichmachung rekonstruierter Buchstaben u. Ä. wird in der ausgewählten Textstelle verzichtet. 23 Döhla 2009, 153. 24 Ebd.

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(12a) Et entre los OTROS VASALLOS qu’el ALLY / tenia, avia dos lobos çervales, et al vno dizian Dina e al / otro Calila. (b) E eran muy ardides e agudos, e era Dina de mas / noble coraçon e de mayor fazienda e el que menos se tenia por {8v} pagado del estado en que era. (c) Et el leon non los avia conosçido / NIN ERA[N] DE_LA PRIUANÇA FASTA ALLI.

(12a) Und unter den anderen Vasallen, die er dort hatte, waren zwei Schakale, und der eine hieß Dina und der andere Calila. (b) Und sie waren sehr listig und schlau und Dina war von edlerem Herzen und ambitionierter und der, der sich in seiner Lage für weniger angemessen behandelt hielt. (c) Und der Löwe kannte sie bisher nicht. Noch gehörten sie bis dahin zu seinen Vertrauten.

(13) Dixo Dina a_Calila: »Ya vees / commo esta el leon en su lugar rrecachado, que non se mueue / nin se solaza commo solia fazer.«

(13) Dina sagte zu Calila: »Du siehst doch, wie der Löwe sich bei sich verbirgt, dass er sich nicht bewegt noch sich erfreut, wie er es sonst zu tun pflegte.«

(14a) Dixo Calila: »E tu, hermano, / ¿que as que preguntas lo que non as menester nin te tiene pro en_lo / preguntar? (b) Nos estamos en buen estado e estamos a_la / puerta de nuestro rrey e tomamos lo que queremos e non nos fa/lleçe nada de lo que avemos menester e non somos de_los que fab/lan con_el rrey sus fechos. (c) E dexate desto e sabe que el que se / entremete de dezir e de fazer lo que non es para el, que le acaesçe / lo que acaesçio a vn ximio artero que se entremetio de_lo que non era suyo nin le pertenesçia.«

(14a) Calila sagte: »Und du, Bruder, was hast du, dass du nach Sachen fragst, derer du weder bedarfst, noch die dir einen Vorteil bringen? (b) Uns geht es gut und wir halten uns an der Pforte unseres Königs auf und nehmen, was uns gefällt und uns fehlt es an nichts von dem, was wir brauchen und wir gehören nicht zu denen, die mit dem König seine Belange besprechen. (c) Und hör damit auf und wisse, dass dem, der sich einmischt, indem er sagt oder macht, was ihm nicht zusteht, das widerfährt, was einem dreisten Affen passierte, der sich bei etwas einmischte, das nicht Seins war noch ihm zugehörte.« (15) Dina sagte: »Wie war das?«

(15) Dixo Dina: »¿Commo fue esto?« […]

[hier folgt die Fabel eines Affen, der sich in einem gespaltenen Balken einklemmt]

319

Wenn der König sich fürchtet

(17a) E dixo Dina: »En/tendido te_he lo que me dexiste, e oy el enxenplo que me dexiste. / (b) Mas todos los que a_los rreyes se llegan, non lo fazen tan sola / mente por FENCHIR sus vientres, que los vientres en cada lugar / se pueden fenchir, mas trabaja el omne en mejorar su fazien/da, por que aya lugar de fazer plazer a_sus amigos e el contra/rio a_sus enemigos. (c) Et los omnes viles son aquellos que se tienen por / abondados con poca cosa e alegran_se con ella, asy commo el can / que falla el hueso seco e se alegra con_el. (d) Et los omnes de grant / coraçon non se tienen por pagados de_lo poco; ante trabajan que sus {9r} coraçones llegue[n] a_lo que quieren, asy commo el leon que prende la liebre, / e quando vee el cabron, dexa_la e va en_pos del. […]«

(17a) Und Dina sagte: »Ich habe verstanden, was du mir gesagt hast, und ich habe das Beispiel, das du mir erzählt hast, gehört. (b) Aber nicht alle, die sich den Königen nähern, machen das nur, um sich den Bauch zu füllen, Bäuche kann man überall füllen, aber der Mensch arbeitet, um seine Position zu verbessern, um in der Lage zu sein, seinen Freunden Freude zu machen und das Gegenteil seinen Feinden. (c) Und die gemeinen Menschen sind jene, die sich mit wenig zufriedengeben und sich daran erfreuen wie der Hund, der an einem trockenen Knochen seine Freude findet. (d) Und beherzte, verdienstvolle Menschen geben sich nicht mit wenig zufrieden, eher bemühen sie sich, dass ihre Herzen das erreichen, was sie möchten, so wie der Löwe, der den Hasen fängt, ihn aber wieder laufen lässt, sobald er einen Bock sieht und diesen jagt. […]«

(18a) Dixo Calila: »Entendido he lo que me dexiste; (b) mas torrna en tu entendimiento / e sabe que cada vn omne a_su medida e a_su prez, e quando se quiere / tener con ella, deue_se tener por pagado con_ella. (c) E nos non ave/mos por que nos quexar deste estado en que estamos, ca cunple_nos.«

(18a) Calila sagte: »Ich habe verstanden, was du mir gesagt hast; (b) aber überlege noch einmal und wisse, dass jeder Mensch ein eigenes Maß und ein Ansehen hat, und wenn er diese erhalten will, sollte er sich mit diesen zufrieden geben. (c) Und wir haben keinen Grund, uns über unsere Situation zu beklagen, denn sie passt zu uns.«

[…]

[…]

(20) Dixo Calila: »Pues, ¿en que acuerdas?«

(20) Calila sagte: »Nun, was hast du also vor?«

(21a) Diz: »Quiero_me mostrar al leon / en tal rrazon; ca el es de flaco consejo E DE FLACO CORAÇON e es / escandalizado en_su fazienda con sus vasallos. (b) E por aventura / en llegandome a_el en_este punto, avere del alguna dignidat o al/guna honrra e avere del lo que he menester.«

(21a) [Er] sagte: »Ich will mich dem Löwen aus folgendem Grunde nähern; es mangelt ihm an Rat und er hat ein ängstliches Herz und er fühlt sich in keiner guten Verfassung mit seinen Vasallen. (b) Und mit etwas Glück und wenn ich mich ihm in dieser Sache nähere, wird mir von ihm vielleicht ein würdiger Posten zugewiesen oder Ehre zuteil und ich werde bekommen, was ich brauche.«

320

Ulrike Becker

(22) Dixo Calila: »¿Onde sabes / que el leon esta asy commo tu dizes?«

(22) Calila sagte: »Woher weißt du, dass es sich mit dem Löwen so verhält, wie du sagst?«

(23) E dixo Digna: »Cuydol’ e tengo / que es asy; que el omne agudo [e] de buen entendimiento a_las vezes sabe {9v} el estado de_sus amigos e su poridat, por lo que le semeja e por lo / que vee de su estado e de su fazienda, E PONIENDO SE EN_ELLO, SABE_LO / ÇIERTO.«

(23) Und Digna sagte: »Ich denke darüber nach und komme zu dem Schluss, dass es so sein muss; denn ein schlauer und intelligenter Mensch kennt sowohl die Situation seiner Freunde wie auch seine eigenen Geheimnisse, wenn er es vergleicht und sieht, wie es um sie bestellt ist und ihnen geht, und wenn er sich hineinversetzt, weiß er es mit Sicherheit.«

(24) Dixo Calila: »¿Commo esperas tu de aver dignidat del leon, / non aviendo tu nunca avido conpañia NIN PRIUANÇA de ningunt / rrey, nin sabiendo lo seruir nin sabiendo lo que le plaze de_sy nin de / los otros?«

(24) Calila sagte: »Wie kannst du auf die Gunst des Löwen hoffen, wo du doch niemals einen König begleitet noch Vertrauter irgendeines Königs gewesen bist, [also] weder wissend, wie man ihm dient, noch was ihm oder den anderen gefällt?«

[…]

[…]

(26a) Dixo Calila: »El rrey non honrra/ra al atreuido por su atreuençia, mas honrra AL VERDADERO E al / çercano del. (b) Ca dizen los sabios que el que es de_la conpañia del / rrey e de_la muger, que non lo allegan a_sy por mayor bondat, mas / por que esta mas çercano que otro; (c) bien asy commo la vid que se non / traua al mayor arbol, mas al que mas açerca le esta.« (d) Dixo / Calila: »¿Que te semeja, sy el leon non te llegare a_sy nin pudieres / fablar quando quisieres con_el? ¿Que sera de ty?«

(26a) Calila sagte: »Ein König achtet den Mutigen nicht wegen seines Mutes, er schätzt mehr den Wahrhaften und den ihm Nahestehenden. (b) Denn die Weisen sagen, die, an denen Könige und Frauen sich halten, sind dies nicht aufgrund ihrer größeren Güte, sondern weil sie ihnen näher sind als andere; (c) genauso wie der wilde Wein sich nicht am größten Baum, sondern an dem, der ihm am nächsten ist, hochrankt.« (d) Calila sagte: »Was meinst du, wenn der Löwe dich weder an sich herankommen lässt noch du mit ihm sprechen kannst, wenn du möchtest? Was wird dann aus dir?«

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(27a) Dixo Digna: »Asi es co/mmo tu dizes; mas sepas que los que son con_el rrey, non fueron / con_el sienpre, mas con su femençia alcançaron las dignida/des del rrey e son con_el e llegan_se a_el despues que son lluene / del. (b) Et yo trabajar me_he de fazer otro tal e guisare commo / llegue a_ello, ca dizen que non es ninguno que llegue a_la puerta / del rrey e dure y mucho, consentido a_ser mal traydo e enpu/xado, e sufra mucho pesar e encubra su fazienda e trayga / su fazienda mansamente, que non llegue a_lo que quiere.«

(27a) Digna sagte: »Es stimmt, was du sagst; aber du weißt, dass die, die beim König sind, nicht immer bei ihm waren, vielmehr erreichten sie durch ihre Insistenz die Gunst des Königs und sind in seiner Nähe und kehren immer wieder zu ihm zurück. (b) Und ich muss mich anstrengen und es genauso machen und mich mühen, wie ich an ihn herankomme, denn sie sagen, dass niemand, der einmal an der Pforte des Königs angelangt ist und für den Erhalt dieser Nähe einerseits in Kauf nimmt, schlecht behandelt zu werden, und andererseits viel Mühe auf sich nimmt, sein Bestreben zu verbergen und mit Sanftmut und Verstellung vorzugehen, daran scheitern würde, seinen Willen durchzusetzen.«

(28) Dixo Calila: / »Pongamos que as llegado al leon, ¿commo trayras tu fazienda con / el o con_los que as esperança de aver dignidat?«

(28) Calila sagte: »Nehmen wir mal an, du bist bis zum König gelangt, wie willst du dann mit deinem Anliegen bei ihm oder jenen, deren Anerkennung du erstrebst, vorgehen?«

(29a) Dixo Digna: »Sy me / yo oviese llegado al leon e conosçiese sus costunbres, guisaria / commo syguiese su voluntad, e que non fuese con[tra] el; (b) asy que, quando quisiese / fazer alguna cosa derecha mente, afeytar_ge_la ya, fasta que la fizie{10r}se e que acresçiese su plazer en_ella e la cunpliese; e quando quisiese fa/zer alguna cosa que yo entendiese que le podria traer daño, fazer / lo_ya entender el mal que ouiese, lo mas manso que yo pudiese. (c) E yo he / esperança qu’el sera mejor seruido que de otros algunos; ca el omne fal/drido e sabio e manso, sy quisiere desfazer la verdat e averiguar / la mentira, a_las vezes fazer lo ya; (d) asy commo el buen pintor / que pinta las ymagenes en_la pared que semejan a_omne que sale della, / e pintan otras que semejan eso mesmo, e non es asy.«

(29a) Digna sagte: »Wenn ich bis zum Löwen gelangt sein sollte und seine Gewohnheiten kennengelernt hätte, folgte ich seinem Willen und wäre nicht gegen ihn: (b) dergestalt dass, wenn er etwas richtig machen wollte, dann würde ich ihm dazu raten, es zu tun, sodass sein Gefallen daran wächst und er es ausführt; und wenn er etwas machen wollte, das nach meinem Dafürhalten ihm einen Schaden zufügen könnte, dann würde ich ihm dieses Risiko so vorsichtig wie möglich zu verstehen geben. (c) Und ich hoffe, dass ihm durch mich besser gedient sein wird als durch manche andere; denn der geschickte und weise und ausgeglichene Mensch, wenn er die Wahrheit herausstellen und eine Lüge enttarnen will, tut dies manchmal (d) so, wie ein guter Maler, der Bilder an die Wand malt, die dem Menschen, den sie darstellen, ähnlich sind, während dies bei anderen nicht so ist.«

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(30a) Dixo Calila: »Pues / esto tienes asy a coraçon, quiero te fazer temer seruiçio del rrey por / el grant peligro que y ha; que dizen los sabios que tres cosas son a_que_se / non atreue sy non omne loco nin estuerçe dellas sy non el sabio: la vna es / seruir rrey; la otra es meter las mugeres en_su poridat; la terçera / beuer vidiganbre a_prueva. (b) Et los sabios fazian semejança del rrey / e de su priuança al monte muy agro en que ha las sabrosas frutas, / et es manidade las bestias fieras, onde subir a_el es muy fuerte cosa, / et estar syn el bien que en_el ha, es mas AMARGO E MAS fuerte.«

(30a) Calila sagte: »Nun, wenn dir das so am Herzen liegt, dann möchte ich erreichen, dass du den Dienst beim König fürchtest, denn darin liegt große Gefahr; denn die Weisen sagen, dass es allein drei Dinge gibt, die sich nur ein Verrückter wagt und von denen sich ein Weiser fernhält: das eine ist, einem König zu dienen; das andere, eine Frau in die eigenen Geheimnisse einzuweihen; und das dritte, freiwillig Gift zu trinken. (b) Und die Weisen vergleichen einen König und seine Vertrauten mit einem wilden Berg, auf dem köstliche Früchte und wilde Tiere heimisch sind, dessen Aufstieg sehr schwierig ist, und [dann noch] ohne das Gute zu sein, das es dort gibt, ist noch bitterer und noch schlimmer.«

(31a) Dixo / Digna: »Entendido he lo que dexiste, dizes verdad en quanto dizes; […] (c) Et dizen que tres cosas son / que non puede fazer ninguno sy non con ayuda de noble coraçon e a_gran / peligro: la vna es ofiçio del rrey, la otra mercaduria sobre mar, / e la otra lidiar con enemigo. (d) Et dizen los sabios otrosy que el omne / de noble coraçon non deve ser visto sy non en dos lugares, que_l’ non / pertenesçe ser en otros: o ser / con_los rreyes muy honrrado, o_ser / con los rreligiosos muy apartado; (e) asy commo el elefante que sola mente / su beldad e su fermosura es en_dos lugares: ·o en_el canpo seyendo / saluage, o_seyendo cavalgadura de_los rreyes.«

(31a) Digna sagte: »Ich habe verstanden, was du gesagt hast, du sprichst die Wahrheit, in dem, was du sagst; […]. (c) Und sie sagen, es gibt drei Dinge, die niemand ohne ein edles Herz und nur unter großer Gefahr tun kann: das eine ist der Dienst für einen König, das andere der Seehandel, und [noch] ein anderes, mit einem Feind zu kämpfen. (d) Und die Weisen sagen weiterhin, dass ein Mensch mit edlem Herzen nur an zwei Orten gesehen werden sollte, denn nur dort allein gehört er hin: entweder hoch angesehen bei den Königen oder weit entfernt mit Mönchen; (e) wie der Elefant, dessen Schönheit und Herrlichkeit nur zwei Orte entsprechen: entweder im Freien wild oder als Reittier von Königen.«

(32) Dixo Calila: »HERMANO, / Dios te_lo ençime en bien esto que tu quieres fazer.«

(32) Calila sagte: »Bruder, möge Gott bei dem, was du machen möchtest, die Hand über dich halten.«25

Im weiteren Handlungsverlauf gelingt Dimnas Plan: Er wird zum Vertrauten des Königs, bis er den Ochsen beim König einführt, der daraufhin zum Freund des Königs avanciert. Dimnas Bedeutung rückt damit in den Hintergrund. Von Eifersucht getrieben, plant er eine Intrige gegen den Ochsen, die der König nicht als solche erkennt. Infolgedessen wird der Ochse vom König selbst in einem Wutausbruch getötet. Der König bedauert dies zwar im Nachhinein, verharrt aber in Passivität. Erst durch das Eingreifen der Mutter des Löwen und die Durchfüh25 Übersetzung ins Deutsche im Teilprojekt Albert; in Zweifelsfällen wurde die Edition von José M. Merino (2016) in modernem Spanisch zugrunde gelegt.

Wenn der König sich fürchtet

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rung einer Untersuchung bzw. eines Gerichtsverfahrens wird Dimna einer Strafe zugeführt und die Ordnung im Königreich wiederhergestellt.

4.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt ›Macht und Herrschaft in der novellistischen Weisheitsliteratur Kastiliens (1250–1350)‹ und das Spannungsfeld ›Kritik und Idealisierung‹

In dem Beispiel wird die für den gesamten Text und damit auch für das Teilprojekt ›Macht und Herrschaft in der novellistischen Weisheitsliteratur Kastiliens (1250–1350)‹ insgesamt relevante, enge und letztlich vitale Verbindung zwischen der Macht des Herrschers, der Qualität seiner Herrschaft und der Bedeutung von guten und schlechten Beratern – auch als mögliches Korrektiv – thematisiert. Die jeweilige Eignung von Beratern bzw. einen Intriganten und die von ihm ausgehende Gefahr zu erkennen, ist Teil eines idealisierten Herrscherbildes, wozu auch das Wissen um die ›richtigen‹ Beraterqualitäten und die entsprechende Auswahl eben der Berater gehören. Kritik und Idealisierung greifen ineinander, wie es dem Genre eines Fürstenspiegels entspricht. Anhand des mehrfachen expliziten Hinweises auf die Gefahr des Dienstes beim König wird in dem Textbeispiel auch die mehrschichtige Kodierung von ›Calila e Dimna‹ als Fürsten- und zugleich Beraterspiegel in aller Konsequenz offensichtlich. Als inhaltlicher Ausgangspunkt dient in diesem Textbeispiel das missliche, schwache, inadäquate Verhalten des Königs, das sich auch in der Semantik niederschlägt, wie es die Wortfolgen de flaco consejo (fehlender Rat), de flaco coraçon (verängstigt) und escandalizado en su fazienda con sus vasallos (verunsichert im Umgang mit seinen Vasallen) verdeutlichen. Im Gegenzug ist eine Idealisierung im Konzept des noble coraçon zu erkennen sowie in dem Hinweis, jeder Mensch habe ein eigenes Maß und sein eigenes Ansehen (cada vn omne a su medida e a su prez), beides im Textbeispiel aus dem Mund des Beraters oder in Bezug auf diesen gesagt.26 Aufschlussreich sind ebenfalls die Differenzierungen hinsichtlich der Nähe zum König als Maßstab (otros vasallos und priuança) bzw. der Zugang zu ihm (la puerta del rrey) sowie die traditionelle Zugehörigkeit oder überkommene Gewohnheit als hinreichender Grund dafür. Andererseits werden die Möglichkeiten 26 Siehe auch Ibn al-Muqaffas Auffassung, der ›intelligente/geschickte‹ Mensch, wie etwa Dimna ihn verkörpert, vermag sich schneller auf Wechselfälle des (politischen) Schicksals einzustellen, Kristó-Nagy 2013, 136: »Le destin a ses caprices, mais l’homme intelligent a plus de chance de les reconnaître et d’en profiter ou de s’en défendre. Ne pas aspirer à ce qui est impossible, mais ne pas rester dans le fatalisme non plus.«

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einer Veränderung im engsten Umfeld des Herrschers, hier der Neuzugang eines Beraters, ausgeführt. Explizit und mehrfach genannt wird die Gunst des Königs (las dignidades del rrey) als Weg respektive Medium der Einflussnahme. Als Methode werden die Erlangung genauer Kenntnis der herrscherlichen Gewohnheiten, Anpassungsfähigkeit und letztlich geschicktes, das heißt je nach Anlass motivierendes oder moderat kritisierendes Beraten und Besprechen (fablar) expliziert. Die besagten Kriterien können, je nach Ausgestaltung, einen Idealzustand beschreiben oder Anlass zur Kritik liefern. Anforderungen an einen idealen Berater aufgrund von Eignung sowie Meritokratie bzw. die subtile Kritik an einer auf Gewohnheit, Tradition und Nähe basierenden Auswahl von Beratern sind bereits dem Ursprungstext ›Kalı¯la wa-Dimna‹ eingeschrieben.27 Durch den Kontakt mit Herrschern und aufgrund ihrer tendenziell misstrauischen, negativen Sicht auf Machtausübung waren die Autoren der älteren arabischen Fürstenspiegel zur Zusammenarbeit mit denselben bereit.28 Dies bestätigt die grundsätzliche Annahme bezüglich des Spannungsfeldes ›Kritik und Idealisierung‹, dass Formen der Kritik und Idealisierung mit den real erlebten Formen der Ausübung von Macht und Herrschaft interagieren, ebenso für den arabischen Ausgangstext wie im Hinblick auf ›Calila e Dimna‹, dessen Übersetzung Alfons im Blick auf seine Herrschaft veranlasst. Während seiner Herrschaft wird jedoch ein neuer Aspekt von Kritik und Idealisierung im Verhältnis zu realer Machtausübung offenbar, wenn man die oben erläuterten Kritikpunkte an seine eigene politische Agenda zurückbindet. Seine Herrschaft ist nämlich durch den Versuch gekennzeichnet, vererbte und traditionell bestimmten Adelsfamilien sowie deren Verwandten zugesprochene Funktionen zu reduzieren, diese Personengruppen vom Hof zu verdrängen und stattdessen eine durch ihre Bildung bzw. Eignung für bestimmte Ämter qualifizierte Elite – zu der auch die Übersetzer und Sekretäre gehören – zu berücksichtigen.29 Die damit einhergehende Professionalisierung klingt im obigen Textbeispiel vermittels der Formulierung ofiçio del rrey bereits an.

27 Vgl. hierzu Drews 2009, 222, der darauf verweist, dass es »im islamischen Bereich nach 750 keine erbliche Aristokratie als politische Führungsschicht« mehr gibt, bzw. 223, hinsichtlich der wachsenden Bedeutung der Sekretäre nach der Verlagerung des Regierungszentrums. Siehe auch Moucannas Mazen 2002, 279, zu den politischen Zielen Ibn al-Muqaffas: »[Il] cherche, en vain, à institutionaliser la fonction de conseiller. Il tente de mettre en place le vizirat. Mais il échoue: Dimna sera condamné à mort, lui aussi.« 28 Vgl. Moucannas Mazen 2002, 280: »Les auteurs de ›Miroirs de princes‹, malgré leur vision bien négative du pouvoir, voire même à cause de cette vision, acceptent de collaborer avec lui.« 29 Schlieben 2009, 194f. Siehe auch Georges Martin, Alphonse X ou la science politique. (Septénaire, 1–11), in: Cahiers de linguistique hispanique médiévale 20 (1995), 7–33, hier 29, https://www.persee.fr/doc/cehm_0396-9045_1995_num_20_1_930 (06. 01. 2019).

Wenn der König sich fürchtet

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Das Textbeispiel ist auch insofern von übergreifender Bedeutung, als es einen Hinweis auf den Umgang mit transpersonalen Aspekten liefert, wenn etwa Calila die kritische Frage aufwirft, wie sich Dimna denn Erfolg versprechen könne, wo er »doch niemals einen König begleitet noch Vertrauter irgendeines Königs gewesen [sei], [also] weder wissend, wie man ihm dient noch was ihm oder den anderen gefällt?« Deutlich wird hier die Facette eines überzeitlichen, überindividuellen Verständnisses von ›König‹. Das im Verlauf der Tradierung übermittelte Herrscherideal ist in seiner Abstraktion und Überzeitlichkeit als transpersonales Moment bereits in den indischen Ursprüngen des ›Panchatantra‹ angelegt und lässt sich als solches gleichermaßen in ›Kalı¯la wa-Dimna‹ wie in ›Calila e Dimna‹ ausmachen.

Quellenverzeichnis Calila e Dimna, edd. Juan M. Cacho Blecua/María J. Lacarra, Madrid 1984. El libro de Calila e Dimna (1251). Edición nueva de los dos manuscritos castellanos, ed. Hans-Jörg Döhla, Zaragoza 2009. Calila y Dimna, ed. José M. Merino, Madrid 2016.

Literaturverzeichnis Olivier Biaggini, Le roi et la parole dans quelques recueils d’exempla castillans des XIIIe et XIVe siècles, in: e-Spania, Revue interdisciplinaire d’études hispaniques médiévales et modernes 4 (2007), https://journals.openedition.org/e-spania/1272 (06. 01. 2019). Hugo O. Bizzarri, Las colecciones sapienciales castellanas en el proceso de reafirmación del poder monárquico (siglos XIII y XIV), in: Cahiers de linguistique hispanique médiévale 20 (1995), 35–73, http://www.persee.fr/doc/cehm_0396-9045_1995_num_20 _1_931 (06. 01. 2019). Georg Bossong, Probleme der Übersetzung wissenschaftlicher Werke aus dem Arabischen in das Altspanische zur Zeit Alfons des Weisen, Tübingen 1979. Wolfram Drews, Die Karolinger und die Abbasiden von Bagdad. Legitimationsstrategien frühmittelalterlicher Herrschaftsdynastien im transkulturellen Vergleich, Berlin 2009. Beatrice Gründler, Kalı¯la wa-Dimna: A Unique Work of World Literature, in: Verena M. Lepper (ed.), Arab and German Tales. Transcending Cultures, Berlin 2018, 67–68, 175– 177, https://www.geschkult.fu-berlin.de/en/e/kalila-wa-dimna/_inhaltselemente-rd /spotlight_anonymclassic/Gruendler-_2018__-Kalila-wa-Dimna_-a-unique-work.pdf (06. 01. 2019). Klaus Herbers, Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache, Verbreitung und Reaktionen, in: Ursula Schaefer (ed.), Artes im Mittelalter, Berlin 1999, 232–248.

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Ulrike Becker

Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006. István T. Kristó-Nagy, La pensée d’Ibn al-Muqaffaʿ. Un »agent double« dans le monde persan et arabe, Paris 2013. María J. Lacarra, Cuentística medieval en España: los orígenes, Zaragoza 1979. Georges Martin, Alphonse X ou la science politique. (Septénaire, 1–11), in: Cahiers de linguistique hispanique médiévale 20 (1995), 7–33, https://www.persee.fr/doc/cehm_0 396-9045_1995_num_20_1_930 (06. 01. 2019). Rita Moucannas Mazen, Kalila et Dimna arabe, in: Cahiers de linguistique et de civilisation hispaniques médiévales 25 (2002), 267–281. Barbara Schlieben, Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons’ X. (1252–1284), Berlin 2009. David A. Wacks, Framing Iberia. Maqa¯ma¯t and Frametale Narratives in Medieval Spain, Leiden/Boston 2007. Wiebke Walther, Kleine Geschichte der arabischen Literatur. Von der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart, München 2004. Mohsen Zakeri, A Proposal for the Classification of Political Literature in Arabic and Persian: Folk Narratives as a Source of Political Thought?, in: Regula Forster/Neguin Yavari (edd.), Global Medieval. Mirrors for Princes Reconsidered, Boston et al. 2015, 174–197.

Ann-Kathrin Deininger / Jasmin Leuchtenberg

Der Großzügige gegen den Geizigen – Kritik und Idealisierung im ›König Rother‹

Teilprojekt: ›Kaiser und Könige. Macht und Herrschaft im Reflexionsmedium deutschsprachiger Literatur des Mittelalters‹ (Leitung: Prof. Dr. Elke Brüggen, Germanistische Mediävistik)

1.

Der Text

1.1

Titel

Der Titel des Textes, ›König Rother‹1, referiert auf die Hauptfigur der Erzählung; diese wird gleich zu Beginn genannt und in der apulischen Stadt Bari verortet (V. 1–5). Es handelt sich dabei um eine Zutat der Editionswissenschaft, denn in der einzigen nahezu vollständigen Handschrift setzt der Text ohne eine Überschrift ein.

1.2

Datierung

Der ›König Rother‹ dürfte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden sein. Die Datierungsvorschläge stützen sich ausschließlich auf textinterne Angaben, die sich historisch verifizieren lassen. So wird z. B. der wichtigste Ratgeber Rothers, Berchter, mit dem Titel grave (zuerst in V. 473) bzw. herzoge von Meran (zuerst in V. 699) versehen. Erst mit der Verleihung des Meraner Herzogstitels an den Grafen Konrad II. von Dachau 1152 gewann dieser im bayrischen Raum, in

1 Wir zitieren den Text des ›König Rother‹ nach folgender Ausgabe: König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein, ed. Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit von Beatrix Koll und Ruth Weichselbaumer (Reclams Universal-Bibliothek 18047), Stuttgart 2000.

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Ann-Kathrin Deininger / Jasmin Leuchtenberg

dem der ›König Rother‹ vermutlich entstanden ist, an Bedeutung. Daher kann angenommen werden, dass der Text nach 1152 entstanden sein muss.2 Schwieriger ist dagegen die Bestimmung eines terminus ante quem. Joachim Bumke hat die Verleihung des Meraner Herzogstitel an die Grafen von Andechs Dießen um 1180 erwogen. Im ›König Rother‹ sei von einem Kampf der Gefolgsleute Rothers, zu denen auch die Söhne des Herzogs von Meran gehören, gegen einen Herzog von Dießen die Rede (V. 2947–2986), ein Vorgang, von dem der Erzähler nach der Verleihung von 1180 kaum hätte berichten können.3 Hans Szklenar hat zudem auf die Heiligsprechung Karls des Großen 1165 durch den Gegenpapst Paschalis III. verwiesen: Da Karl im ›König Rother‹ noch nicht als heilig bezeichnet werde, lasse sich eine Entstehung des Textes vor 1165 ableiten.4 Beide Versuche erweisen sich jedoch, wie Markus Stock herausgestellt hat, als hypothetisch, so dass über die ungefähre Datierung des ältesten Schriftzeugnisses, des sog. ›Ermlitzer Fragments‹, hinaus keine genauen Angaben zu einem terminus ante quem gemacht werden können.5

1.3

Überlieferung

Der Text ist in einer annähernd vollständigen Handschrift und in fünf Fragmenten überliefert. Die Haupthandschrift (Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 390, Sigle H) stammt wohl aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts.6 Um 1200 wird das Bruchstück M, das sog. ›Ermlitzer Fragment‹ (Bayerische Staatsbibliothek München, cgm 5249/1), datiert.7 Drei Fragmente einer Handschrift vom Ende des 13. Jahrhunderts befinden sich unter den Signaturen Ms. 170/112 2 Zur Verleihung des Meraner Herzogstitels 1152 als terminus post quem für die Entstehung des ›König Rother‹ vgl. insbesondere Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979, hier 92. 3 Vgl. ebd., 92, sowie die Ausführungen hierzu bei Markus Stock, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ›Straßburger Alexander‹, im ›Herzog Ernst B‹ und im ›König Rother‹ (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 123), Tübingen 2002, hier 231f. 4 Vgl. Hans Szklenar, König Rother, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 5 (1985), 82–94, hier 90. 5 Vgl. Stock 2002, 231f. 6 Vgl. Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, 113f. Eine genaue Beschreibung der Handschrift findet sich im sog. Handschriftencensus: Joachim Heinzle et al., Handschriftencensus. Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts, Marburg 2004–2009, http://www.mr1314.de (17. 06. 2020), im Folgenden verkürzend als ›Handschriftencensus‹ zitiert; hier http://www.mr1314.de/1293 (17. 06. 2020). 7 Vgl. Szklenar 1985, Sp. 82f., sowie Schneider 1987, 233f., Anm. 117, und Handschriftencensus 2004–2009, http://www.mr1314.de/1178 (17. 06. 2020).

Der Großzügige gegen den Geizigen – Kritik und Idealisierung im ›König Rother‹

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in der Charles E. Young Research Library der University of California/Los Angeles, Cgm 8797, in der Bayerischen Staatsbibliothek München sowie Hs. 27744 in der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Das Fragment B [A] schließlich (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, mgf 923, Nr. 20 [ehemals Arnswaldt]) gehört in das 14. Jahrhundert.8

1.4

Autor, Ort und Rezipienten

Überlegungen zu den Größen ›Verfasser‹, ›Entstehungsort‹, ›Auftraggeber‹ bzw. ›Adressaten‹ und ›Rezipienten‹ des ›König Rother‹ sind von großer Unsicherheit geprägt. Der Text ist anonym überliefert. Es gibt weder einen Prolog noch einen Epilog, in dem sich ein Dichter nennen würde, und auch die übrigen Textpartien liefern die gewünschte Information nicht. Gelehrte und religiöse Reminiszenzen und Erörterungen lassen auf einen hohen Bildungsgrad des Verfassers schließen; wahrscheinlich handelte es sich um einen Kleriker. Man vermutet seine Auftraggeber in Kreisen des bayrischen Adels, da bestimmte bayrische Geschlechter in die Erzählung eingebunden werden, ohne dass dies für die Handlung notwendig wäre. Aufgrund der detailreichen Schilderung der Stadt Konstantinopel wird angenommen, dass der Text in einem städtischen Zentrum entstanden ist – als Abfassungsorte wurden vor allem Mainz und Regensburg erwogen.9

8 Vgl. Szklenar 1985, Sp. 82f., sowie Schneider 1987, 233f., Anm. 117; zudem Handschriftencensus 2004–2009, http://www.mr1314.de/1177 (17. 06. 2020) und zum Fragment B [A] Handschriftencensus 2004–2009 http://www.mr1314.de/2351 (17. 06. 2020). Der Text der Fragmente ist (mit Ausnahme von Ms. 170/112, Los Angeles) in der zitierten Textausgabe, 390– 433, abgedruckt und auch ins Neuhochdeutsche übersetzt, detaillierte Angaben zu den Handschriften finden sich zudem in der Einleitung, 20–22. 9 Vgl. Szklenar 1985, Sp. 87–89. Vermutet wurden die Auftraggeber im bayrischen Adelsgeschlecht der Tengelinger, das im ›König Rother‹ besonders hervorgehoben wird. Der Text wurde daher von Ferdinand Urbanek sogar als »Tengelingen-Dichtung« bezeichnet, Ferdinand Urbanek, Grafen und Mäzene im ›König Rother‹ (Philologische Studien und Quellen 71), Berlin 1976, hier 215. Auch Uwe Meves spricht sich für die Tengelinger als Adressaten des Textes aus, vgl. Uwe Meves, Studien zu König Rother, Herzog Ernst und Grauer Rock (Orendel) (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Literatur und Germanistik 181), Frankfurt a. Main/Bern 1976, hier 79–95; ähnlich auch bei Wilhelm Störmer, »Spielmannsdichtung« und Geschichte. Die Beispiele ›Herzog Ernst‹ und ›König Rother‹, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 43 (1980), 551–574, hier 561–565.

330 1.5

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Gattung

Der Text wird der sogenannten ›Spielmannsepik‹ zugerechnet,10 also einer Gruppe von Texten des 12. Jahrhunderts (neben dem ›König Rother‹ zählen dazu ›Herzog Ernst‹, ›Oswald‹, ›Orendel‹, ›Salman und Morolf‹), die sich durch bestimmte Merkmale auszeichnen: Es handelt sich um weltliche Dichtungen, die sich im Gegensatz zu anderen Texten der Zeit keiner französischen Vorlage bedienen, sondern auf mündliche Stofftraditionen zurückzugehen scheinen.11 Oft ist eine gewisse Nähe zur Heldendichtung festzustellen. Die Texte verwenden häufig das Motiv der gefährlichen Brautwerbung:12 Der Protagonist zieht aus, um eine ihm angemessene Ehefrau zu finden, und auf dieser Reise muss er verschiedene Hindernisse überwinden. Zudem eint die Texte die Verwendung komisch-burlesker Elemente; immer wieder gelingt es den Protagonisten, sich mittels kluger List durchzusetzen. Die Texte dürften daher für das zeitgenössische Publikum einen großen Unterhaltungswert gehabt haben. In der älteren Forschung wurden sie ohne sicheren Beleg fahrenden Sängern zugeschrieben – daher der Begriff ›Spielmannsepik‹.13 Insbesondere im Vergleich mit den großen höfischen Epen aus der Zeit um 1200 wurden diese ›vorhöfischen‹ Texte in der Vergangenheit häufiger abwertend beurteilt; indem sie neue Fragestellungen verfolgt hat, ist es der jüngeren Forschung indes gelungen, für die poetische Eigenart und den Reiz dieser frühen Texte zu sensibilisieren. 10 Der Herkunft und Problematik der Gattungsbezeichnung ›Spielmanns- bzw. Brautwerbungsepik‹ widmet sich Sarah Bowden ausführlich im ersten Kapitel ihrer Dissertation: Sarah Bowden, Bridal-Quest Epics in Medieval Germany. A Revisionary Approach (Modern Humanities Research Association. Texts and Dissertations 85) (Institute of Germanic and Romance Studies. Bithel Series of Dissertations 40), London 2012, hier 1–34. 11 Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Erzählen von ›König Rother‹, vgl. Hans Fromm, Die Erzählkunst des Rother-Epikers, in: Euphorion 54 (1960), 347–379; Silvia Schmitz, War umbe ich die rede han ir hauen. Erzählen im ›König Rother‹, in: Ludger Lieb/ Stephan Müller (edd.), Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Literatur und Kulturgeschichte 20), Berlin/New York, NY 2002, 167–190; Christian Kiening, Arbeit am Muster. Literarisierungsstrategien im ›König Rother‹, in: Wolfram-Studien 15 (1996), 211–244. 12 Die Texte werden daher auch gerne als ›Brautwerbungsepen‹ bezeichnet, insbesondere der ›König Rother‹ gilt als »musterhaft erzählte Brautwerbungsgeschichte« (Monika Schulz, Eherechtsdiskurse. Studien zu König Rother, Partonopier und Meliur, Arabel, Der guote Gêrhart, Der Ring [Beiträge zur älteren Literaturgeschichte], Heidelberg 2005, hier 27). – Zum literarischen Muster vgl. Kiening, 1996, 212f., sowie Monika Schulz, Die falsche Braut. Imperative feudaler Herrschaft in Texten um 1200. Zur Instrumentalisierung des nudus consensus in den sogenannten ›Spielmannsepen‹, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2000), 1–20, hier 1–4. 13 Einen Überblick über die Herkunft der Spielmann-These in der älteren Forschung gibt Rabea Kohnen, Die Braut des Königs. Zur interreligiösen Dynamik der mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen (Hermaea. Germanistische Forschungen. N. F. 133), Berlin/ Boston, MA 2014, hier 7–13.

Der Großzügige gegen den Geizigen – Kritik und Idealisierung im ›König Rother‹

1.6

331

Historische Bezüge

Der ›König Rother‹ spielt zu großen Teilen in Konstantinopel als einer Stadt an der Grenze zwischen Okzident und Orient und beschreibt die Auseinandersetzungen zwischen dem fiktiven, im Westen verorteten und in der Hafenstadt Bari residierenden Herrscher König Rother und seinem östlichen Gegenspieler Kaiser Konstantin. Damit nimmt der Text, wenngleich in sehr allgemeiner Form, auf historische Spannungen zwischen dem weströmischen und dem oströmischen Reich Bezug. Wenn aus der Verbindung Rothers mit der Tochter Konstantins deren Sohn Pippin hervorgeht, wird zudem auf das auf Pippin III. zurückgehende Geschlecht der Karolinger verwiesen; der Text gibt damit das Frankenreich unter Pippin und Karl dem Großen als Fortsetzung der Herrschaft Rothers aus. Solche Bezüge verleihen dem ›König Rother‹ eine gewisse Bedeutung in der politischen Diskussion seiner Entstehungszeit, in der sich die Staufer, die sich selbst wiederum in der Nachfolge Karls des Großen sehen, in den Spannungen zwischen Ost und West günstig zu positionieren suchten. Der ›König Rother‹ ist daher als ein propagandistisches Werk verstanden worden, »das den staufischen Anspruch auf Vorherrschaft in der Rivalität zwischen Ost- und Weströmischem Reich rechtfertigt«.14

2.

Inhalt und thematische Schwerpunkte des Textes

2.1

Inhalt

Erzählt wird von der Brautwerbung des weströmischen Königs Rother von Bari um die Tochter des oströmischen Kaisers Konstantin. Nachdem er sich mit seinen Fürsten beraten hat, schickt Rother zunächst Boten an Konstantins Hof. Als diese von Konstantin gefangengesetzt werden, begibt er sich selbst unter der Tarnidentität des von Rother vertriebenen Dietrich auf die Reise nach Konstantinopel. Mit dieser List ist er erfolgreich: Er kann die Boten befreien und die Braut entführen. Als Rother Bari dann aber verlässt, da er sich um Aufständische im Reich kümmern muss, gelingt es einem von Konstantin beauftragten Kaufmann, die Kaisertochter erneut zu entführen und nach Konstantinopel zurück zu bringen. Rother zieht daraufhin ein weiteres Mal nach Konstantinopel, gewinnt wiederum die Braut für sich und kehrt mit ihr in die Heimat zurück, schluss14 Christa Ortmann, Brautwerbungsschema, Reichsherrschaft und Staufische Politik. Zur politischen Bezeichnungsfähigkeit literarischer Strukturmuster am Beispiel des König Rother, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), 321–343, hier 321; ähnlich auch Störmer 1980, 566f. – Zum Hintergrund der Spannungen zwischen Ost und West vgl. Schulz 2005, 27–38; sowie Kohnen 2014, 148–157 und 219–232.

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endlich sogar mit dem – wenn auch nur widerstrebend gewährten – Segen Konstantins versehen. Aus der Verbindung Rothers mit der Tochter Konstantins geht dann mit der Geburt des Sohnes Pippin das Karlsgeschlecht hervor.15

2.2

Themen

Thematisch verhandelt der Text mit den Antipoden Rother/Dietrich und Konstantin das problematische Verhältnis zwischen weströmischem und oströmischem Reich sowie dem von Ymelot vertretenen fernen Orient und gibt damit Aufschluss über zeitgenössische Konzepte von Macht und Herrschaft. Wenn dann von politischen Spannungen erzählt wird, die aus dem Agieren aufständischer Fürsten resultieren, welche während der Abwesenheit König Rothers versuchen, die Macht zu ergreifen und einen Gegenkönig zu ernennen, erweist sich die Thematik überdies für die literarische Modellierung der sozialen Verhältnisse in Rothers Heimat als bedeutsam. Ein solcher Umsturz wird jedoch durch die Treue der engsten Vasallen Rothers verhindert, die der Text in geradezu programmatischer Weise ausstellt.

2.3

Räume

Konstantinopel als Haupthandlungsraum liegt genau zwischen Orient und Okzident und hat Anteile an beiden Kulturbereichen. Es ist gleichzeitig ein eigener Herrschaftsraum unter Kaiser Konstantin.16 Hinzu kommen der von Ymelot vertretene ferne Orient, den vor allem seine fehlende Zugehörigkeit zum Christentum kennzeichnet, sowie das christliche, weströmische Reich unter Rother

15 Eine ausführlichere Inhaltsangabe findet sich bei Hubertus Fischer, Gewalt und ihre Alternativen. Erzähltes politisches Handeln im ›König Rother‹, in: Günther Mensching (ed.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter. Symposium des Philosophischen Seminars der Universität Hannover vom 26. bis 28. Februar 2002. Würzburg 2003, 204–234, hier 206–209. 16 Vgl. Seraina Plotke, Narrative Negotiations of Sovereign Power in ›King Rother‹, in: Mechthild Albert/Elke Brüggen/Konrad Klaus (edd.), Die Macht des Herrschers. Personale und transpersonale Aspekte (Macht und Herrschaft 4), Göttingen 2019, 299–312, hier 300–302; sowie Seraina Plotke, Kulturgeographische Begegnungsmodelle. Reise-Narrative und Verhandlungsräume im ›König Rother‹ und im ›Herzog Ernst B‹, in: Alexander Honold (ed.), Ost-westliche Kulturtransfers. Orient – Amerika, Bielefeld 2011, 51–73, hier 70f. – Zum Handlungsraum Konstantinopel im ›König Rother‹ vgl. zudem Markus Stock, Sich sehen lassen. Die Visibilität des Helden und der höfische Sichtraum im König Rother, in: Ricarda Bauschke/Sebastian Coxon/Martin H. Jones (edd.), Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German-Colloquium London 2009, Berlin 2011, 228– 239, hier 230–234.

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mit dem Hauptsitz Bari, das durch die Einführung von Rothers Sohn Pippin als Vorläufer des späteren Frankenreichs imaginiert wird.

2.4

Figuren

König Rother wird von Beginn an als idealer Herrscher dargestellt. Ihm dienen 72 Könige. Seine Vasallen folgen ihm bereitwillig, weil er sie zum einen stets großzügig belohnt und zum anderen regelmäßig an seiner Herrschaft partizipieren lässt; so fällt er keine Entscheidung, ohne zuvor ihren Rat eingeholt zu haben. Der heidnische Ymelot ist als komplementäre, spiegelbildliche Figur angelegt. Er verfügt über vergleichbare militärische und finanzielle Ressourcen; zudem ist er ebenso wie Rother an einer Heirat mit der Tochter Konstantins interessiert. Eine direkte Auseinandersetzung zwischen Rother und Ymelot gibt es im Text allerdings nicht, da der auch geographisch zwischen den beiden Königen verortete Konstantin als Gegenspieler Rothers aufgebaut wird.17 Eine Sonderrolle kommt dabei der Ehefrau Konstantins zu: Sie erscheint als außergewöhnlich aktiv und tritt immer wieder selbstbewusst als Ratgeberin, vor allem aber als Kritikerin ihres Mannes auf. Ihre oft spöttischen Bemerkungen, mit denen sie ihren Mann entlarvt und bloßstellt, tragen zum Unterhaltungswert der Dichtung bei.

3.

Ausgewählte Textstelle

3.1

Kontextualisierung

Als die von ihm ausgesandten Brautwerber auch nach einem Jahr noch nicht vom Hof Konstantins zurückgekehrt sind, beschließt Rother, selbst dorthin zu ziehen. Auf Rat seiner Gefolgsleute tut er dies jedoch unter Annahme einer Tarnidentität: Er gibt sich als ein Landfremder mit Namen Dietrich aus, der von Rother vertrieben wurde. Er findet bei Kaiser Konstantin vor allem deshalb Aufnahme, weil man sich vor den Riesen in seinem Gefolge fürchtet. Dietrich/Rother wird eine Residenz zugewiesen, in die er sich zurückzieht. Dort beginnt er mit der Verteilung umfangreicher finanzieller Mittel. Dadurch gelingt es ihm, sich vor allem bei anderen Flüchtlingen beliebt zu machen, die am Hofe Konstantins bis dahin unter ihrem Stand leben mussten. Sie schließen sich nun ihm an. Auch Graf Arnold, ein vertriebener Graf, der am Hof Konstantins keine Aufnahme gefun-

17 Vgl. Plotke 2011, 71f.

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Ann-Kathrin Deininger / Jasmin Leuchtenberg

den hat, hört von der großen milte des Dietrich/Rother und macht ihm seine Aufwartung. Hier beginnt die vorliegende Textstelle.

3.2

Beteiligte (nach der Reihenfolge ihres Auftretens)

Graf Arnold: Dietrich: Berchter: Asprian: Konstantin: Die (namenlose) Königin:

Ein vertriebener Graf, der am Hofe von Kaiser Konstantin in Konstantinopel um Aufnahme sucht. Vorgeblich ein von König Rother vertriebener Fürst; Rother wählt diese Identität, um sich zu tarnen. Herzog von Meran, wichtigster Vasall Rothers/Dietrichs. Vasall Rothers/Dietrichs, Anführer der Riesen in Rothers/Dietrichs Gefolge. König in Konstantinopel, Brautvater und Gegenspieler Rothers. Ehefrau Kaiser Konstantins und Mutter der Braut; sie fungiert als bedeutende Ratgeberin Konstantins und wird zugleich als seine größte Kritikerin profiliert.

3.3

Die Textstelle (V. 1421–1522)

1421

Der ellende18 grave nam sine mage unde vor vore Dietheriche. der intfenc ene vrumeliche19

Der heimatvertriebene Graf nahm seine Verwandten (und Gefolgsleute) und begab sich vor Dietrich. Dieser nahm ihn hilfsbereit auf

18 Die Übersetzung ›heimatvertrieben‹ kann nicht das gesamte in diesem Zusammenhang relevante Bedeutungsspektrum des Wortes ellende umfassen. Das mittelhochdeutsche Adjektiv meint ›fremd‹ oder ›in der Fremde‹, aber auch ›verbannt‹, und bezeichnet damit das Geschiedensein von einem angestammten Hofverbund, der in der mittelalterlichen Lebenswelt essentiell ist. Damit kann durchaus auch ein Gefühl des Unglücklichseins verbunden sein, eine Semantik, die sich in dem neuhochdeutschen Wort ›elend‹ erhalten hat. Vgl. auch Georg Friedrich Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854–1866, http://woerterbuchnetz.de/BMZ (06. 06. 2020); hier http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=ellende (06. 06. 2020) und Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke, 3 Bde., Leipzig, 1869–1878, http://woerterbuchnetz.de/lexer (02. 05. 2018); hier http://www. woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=ellende (28. 11. 2018). ›Fremd‹ kann man nicht nur in dem Sinne sein, dass man sich nicht am Ort seines Herkommens befindet; wer keinen Zugang zu dem Hof hat, an dem er sich aufhält, ist insofern ellende, als er ›einsam‹ ist, ›alleinstehend‹, ›nicht eingegliedert in den Hof‹ – und das gilt sehr wohl für den Grafen, obwohl dieser in Begleitung seines Gefolges auftritt. 19 Die Adverben vrümeclîche(n) und vrumelîche(n) leiten sich vom Adjektiv vrümec, vrumec, vrumic ab, das ›gut‹, ›brav‹, ›tüchtig‹, ›tapfer‹ meint, vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–

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335

1425

mit godeme gebare unde vragete ene, wie her ware. do sprach her trorande: »mich hant mine viande virtriven dur iren overmot:

mit höflichem Zuvorkommen und fragte ihn, wer er sei. Da sprach der Graf bedrückt: »Mich haben meine Feinde in ihrer frevlerischen Gesinnung vertrieben:

1430

nu is mir thure daz got. swe arm so ich si, ich bin doch von minin magen vri unde han durch genade20 her zo der gevragit.«

Nun mangelt es mir an Mitteln. So mittellos ich auch jetzt sein mag, so bin ich doch von freier Abkunft und habe mich, um Hilfe zu erlangen, hierher zu dir durchgefragt.«

1435

»die vindistu«, sprach Dietherich. mit Berker besprach her sich, waz sie deme herren solden geven, daz her mit eren mochte nemen. alsus riet do der alde man:

»Die sollst du finden«, sprach Dietrich. Er beriet sich mit Berchter, was sie dem Herren schenken sollten, das er mit Anstand annehmen könne. Folgendes schlug da der erfahrene alte Mann vor:

1440

»got hat vil wole zo dir getan mit grozeme gote: nu helf in uzir der note! unde wiltus minen rad haven

»Gott hat dir große Wohltat erwiesen mit reichem Vermögen: Hilf ihnen jetzt aus ihrer Bedrängnis! Und wenn du in dieser Frage meinen Rat haben willst, so lasse dir jetzt deinen Schatz herbeitragen:

so heiz den schaz her vore tragin: 1445

hir newirt der bosheit21 nicht geplegen! man sal en dusint marc geven unde itwaz geven mere: so helfet iz ouh den herren, daz her den bestin hof 22 gewinne

Knausrigkeit hat hier nichts zu suchen! Man möge ihnen tausend Mark schenken und darüber hinaus noch einiges mehr; das ermöglicht es dem Herrn auch, daß er sich den besten Hof halten kann,

1866, http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=vruemec (06. 06. 2020) und Lexer 1869– 1878, http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=vruemec (02. 05. 2018). Es ist hier also das redliche, höfische, anständige, gute Verhalten gemeint. 20 genade wird hier als Bezeichnung für eine Handlungsweise verwendet, mit der einem Rangniedrigeren oder Unterlegenen geholfen wird; sie ist Teil des tugendhaften Verhaltens, das von einem guten Herrscher erwartet wird. 21 bosheit meint hier untugendhaftes, verwerfliches und damit unhöfisches Denken und Handeln, vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?le mma=bosheit (06. 06. 2020) und Lexer 1869–1878, http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer? lemma=bosheit (06. 06. 2020). 22 Der hof ist der Aufenthaltsort des Herrschers und Herrn; darüber hinaus bezeichnet das Wort den engsten Personenkreis um den jeweiligen Herrn, den Verbund, in dem er agiert und in dem er sich als Herrscher, nicht zuletzt über eine gute Hofhaltung, profilieren kann.

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1450

den man in der stat vinde.« »in trowen«, sprach Asprian, »her sal ouch einen (22r) han! dar inne wil ich ime, daz is war, drizich rittare vazzen ein iar!«

den man in der Stadt findet.« »Meiner Treu«, sprach Asprian, »er w i r d einen haben! An diesem will ich ihm wahrhaftig dreißig Ritter ein Jahr lang halten!«

1455

Dietheriche duchte die rede got. den meren schaz man vor in troch inde gaf deme edelen23 manne. do vor her vroliche danne hinne vor Constantinin

Dietrich hielt diese Worte für gut. Man brachte den berühmten Schatz vor ihn und beschenkte den vornehmen Mann. Da zog er beglückt von dannen hin vor Konstantin

1460

unde sagete ime unde den sinen: »diz hat mir Dietherich gegevin, got laze ene mit genaden lieven!« do sprach de edile kuningin: »weiz got, her mach wol edile sin!

und berichtete diesem und den Seinen: »Dies hat mir Dietrich geschenkt, Gott segne seinen Lebenslauf!« Da sprach die edle Königin: »Gott, wie vornehm er sein muß!

1465

hir schinit Constantinis sin!

Daran wird Konstantins Haltung erst richtig deutlich! Weh mir Armer, wie unglücklich ich dadurch bin, daß meine Tochter dem verwehrt wurde, der einen Helden wie diesen vertrieben hat! Dieser (schon) handelt so vortrefflich:

eya, arme, wie ich nu virstozin bin, daz min thochtir deme virsagit wart, der diesen helit virtrieven hat! dirre tod so vrumichliche: 1470

ich weiz wol, Rother der ist riche24 unde mac wol gewalt25 han.« do sprachen Constantinis man: »vrowe, u ist der ride not! der tuvil tho en den dot,

Ich ersehe daraus deutlich, daß Rother vermögend ist und wohl auch mächtig.« Da sprachen Konstantins Vasallen: »Herrin, Ihr habt allen Grund, das zu sagen! Der Teufel möge jene holen,

23 Das Adjektiv edel(e) impliziert sowohl eine gehobene Abkunft im Sinne von ›adelig‹ als auch eine Auszeichnung mit Blick auf Wesensart und Verhalten. Damit entspricht das Wort dem mittelalterlichen Kalokagathie-Verständnis, vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=edele (06. 06. 2020) und Lexer 1869–1878, http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=edel (02. 05. 2018). 24 Das Adjektiv rîch(e) meint neben ›reich‹, ›kostbar‹ in erster Linie ›mächtig‹ oder ›gewaltig‹, ›kräftig‹ und schließt auch die vornehme Abkunft ein. Das Wort begegnet häufiger in der formelhaften Gegenüberstellung von arm und rîch. Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854– 1866, http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=riche (06. 06. 2020) und Lexer 1869– 1878, http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=riche (02. 05. 2018). Das Substantiv rîche bezeichnet das ›Reich‹ und kann metonymisch für den Herrscher selbst stehen. 25 [G]ewalt ist hier wie auch sonst des Öfteren durchaus nicht im Sinne von ›Gewaltausübung‹ oder ›-anwendung‹ und keineswegs pejorativ gemeint, sondern bezieht sich zumeist vor allem auf die Herrschaft und die Befugnis oder das Vermögen, Macht auszuüben.

Der Großzügige gegen den Geizigen – Kritik und Idealisierung im ›König Rother‹

1475

die iz ie irwantin! wir weren uz deme lande mit deme kuninc Rothere. der hette unsich widir over mere gesant mit grozen eren26.

1480

nu dunkit uns bezzere, nu des nicht nemach irgan, daz wer werden Dietherchis man. her gevet uns vromeliche unde machit uns (22v) alle riche.«

1485

Die ellende grave nam sine mage

337

die das je verhindert haben! Wir wären (dann nämlich) außer Landes (gezogen) mit dem König Rother. Der hätte uns (dann) wieder über das Meer zurück gesandt in großem Ansehen. Nun halten wir es für richtiger, da dies nun einmal nicht geschehen kann, daß wir Dietrichs Vasallen werden. Er wird uns großzügig beschenken und uns alle vermögend machen.«

unde vor vur Dietheriche. her entfienc sie vrumicliche unde sante in vor in de stat.

Der heimatlose Graf nahm seine Verwandten und Gefolgsleute und begab sich vor Dietrich. Dieser empfing sie zuvorkommend und sandte ihn voraus in die Stadt.

1490

Berker ime einin hof gab. dar zo gab ime Asprian drizzic ritar lossam27 mit grozime gote28. do wart vaste zo mote

Berchter übergab ihm dort einen Hof. Dazu verschaffte ihm Asprian dreißig prächtige Ritter mit ansehnlichem Vermögen. Da faßten einen festen Entschluß

1495

des kuningis ingesinde: sie newoldin niht irwenden, sie newurdin Dietherichis man29. dar begunden vrige herren30 gan,

die Gefolgsleute des Königs: Sie wollten davon nicht abstehen, Dietrichs Vasallen zu werden. Zunächst begannen die edelfreien Herren zu ihm überzuwechseln, danach die vornehmen Grafen

dar nach die edelin graven

26 Das mittelhochdeutsche Wort êre umfasst ein breit gefächertes Bedeutungsspektrum, welches weit mehr Dimensionen enthält als die neuhochdeutschen Begriffe ›Ehre‹ oder ›Ansehen‹, vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=ere (06. 06. 2020) und Lexer 1869–1878, http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=ere (06. 06. 2020). 27 Das Adjektiv lossam, lussam, lustsam bedeutet ›anmutig‹, ›lieblich‹; das Wort lossam ist hier aufwertend gebraucht. Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woer terbuchnetz.de/BMZ?lemma=lustsam (06. 06. 2020) und Lexer 1869–1878, http://www. woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=lustsam (06. 06. 2020). 28 Das Wort guot schließt ›Gut‹ und ›Besitz‹ im Allgemeinen ein und kann auch die Verfügung über Land oder Lehen meinen. Das Adjektiv grôʒ im Sinne von ›groß‹ ist hier wohl eher bildlich als eigentlich zu verstehen. 29 [M]an, stm., hier im Nom. Pl., bezeichnet zunächst den Mann im geschlechtlichen Sinne und überdies den erwachsenen Menschen männlichen Geschlechts in Abgrenzung zum Jugendlichen. Das Substantiv kann darüber hinaus auch den ›Mann‹ in der Verbindung mit einer

338 1500

Ann-Kathrin Deininger / Jasmin Leuchtenberg

unde alle die da waren in Constantinis hove, ane die ricken herzogen31: die irlazit is daz liet32, sie ne tadens ouch nicht.

und (schließlich) alle, die da zu Konstantins Hof gehörten, mit Ausnahme der mächtigen (und begüterten) Herzöge: Ihnen erspart die Erzählung (den Wechsel), sie verhielten sich ja auch nicht so.

1505

swaz der anderen vrome was, die zugin hin mit heres craft zo Dietheriche. her gab en tageliche mit golde deme rotin

Alle anderen aber, die etwas taugten, die wechselten in Scharen zu Dietrich über. Er schenkte ihnen tagtäglich zusammen mit dem rötlich schimmernden Gold

1510

de pellele ungescrotin, dar zo mantele snevare: dar nach hoven sie sic dare.

unzerschnittene Seidenstoffe und dazu noch schneeweiße Umhänge: Um dieser Dinge willen hatten sie sich zu ihm begeben. Da mußte der Riese Asprian immer wieder in die Schatzkammer gehen,

do moste der riese Asprian dicke zo der kameren gan, 1515

30

31 32

33

biz her sie gewerte des sie an den herren gerten. do lovete33 men Dietheriche, die herren al geliche. dar newas ouh niehein man,

bis er ihnen alles erfüllt hatte, was sie von dem Herrn begehrten. Da pries man Dietrich, alle Ritter einhellig. Da gab es auch keinen dieser Gefolgsmannen,

Frau bezeichnen oder eben, wie hier, jemanden, der zu einem herren in einem Dienst-, Lehens- oder Vasallitätsverhältnis steht. Vgl. auch Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=man (06. 06. 2020) und Lexer 1869–1878, http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=man (02. 05. 2018). Ein hêrre ist nicht nur jemand, der in einem Superioritätsverhältnis Untergebenen gegenübersteht, sondern kann auch den Ehemann oder, wie hier, einen Mann von adeliger Abkunft meinen. Gestützt wird diese Lesart durch die Verbindung mit dem Adjektiv vrî, das in diesem Fall für ›frei‹ im Sinne von ›nicht gebunden‹ oder ›von freier Geburt‹ steht. Das Adjektiv rîche ist hier in zweifacher Bedeutung als ›mächtig‹ und ›reich‹ übersetzt. Die Herzöge stehen wohl zu hoch in der Hierarchie, um die Seiten zu wechseln. Hier wird eine Metaebene eröffnet, die Erzählung bezieht sich auf sich selbst zurück. Das Wort liet kann sich auf ein strophisches oder ein unstrophisches Gedicht (u. U. mit einer Begleitung durch Gesang) beziehen. Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http:// www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=liet (06. 06. 2020) und Lexer 1869–1878, http://www. woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=liet_des (02. 05. 2018). Das Verb loben schließt vor allem den Lobpreis ein; Dietrich/Rothers Vorbildlichkeit wird somit öffentlich bestätigt.

Der Großzügige gegen den Geizigen – Kritik und Idealisierung im ›König Rother‹

1520

her ne mochte mit erin bestan, ob se virsant waren, die sinen schaz namen.

339

der nicht angesehen leben konnte, auch wenn sie Vertriebene waren, die seine Geschenke angenommen hatten.

Nicht nur die Vasallen Konstantins hören von Dietrichs/Rothers Freigebigkeit, auch die Königstochter erfährt davon und beschließt daraufhin, den Fremden kennenlernen zu wollen. Damit wird die Liebesbeziehung zwischen den beiden vorbereitet.

4.

Kommentierung der Textstelle

Die vorliegende Textstelle arbeitet mit einer Kontrastierung verschiedener Orte, welche mit einer bestimmten Figurenkonstellation verbunden wird. Auf der einen Seite haben wir den Hof des Kaisers Konstantin; ihm sind als maßgebliche Figuren der Kaiser selbst, dessen Ehefrau sowie verschiedene Gruppen von Vasallen zugeordnet. Eigens erwähnt werden die mächtigen Herzöge (V. 1502) und die offenbar weniger bedeutenden Vasallen, die noch auf Entfaltungsmöglichkeiten (sowie die dafür nötigen Mittel) hoffen. Auf der anderen Seite präsentiert der Text den Hof Rothers bzw. Dietrichs, der in einiger Entfernung vom kaiserlichen Hof zu denken ist; zu ihm gehören die Vasallen Berchter und Asprian, die vor allem in beratender Funktion gezeigt werden. Zwischen diesen Polen befindet sich der vertriebene Graf Arnold, der mit seinen Leuten in Konstantinopel um Aufnahme sucht, sich im Verlauf der in der vorgestellten Textstelle entfalteten Handlung gleich mehrfach zwischen den Höfen hin und her bewegt und dem Rezipienten damit einen direkten Vergleich beider ermöglicht. Als ins Exil vertriebener Kämpfer steht Arnold zunächst außerhalb des Netzwerks feudaler Bindungen, das im Text entworfen wird: Er gehört weder zur römischen Partei Rothers, noch zur griechischen Partei Konstantins noch zur heidnischen Partei Ymelots. Diese Figur ermöglicht somit einen Blick auf beide Höfe und erlaubt ein Urteil über die Fähigkeit der ihnen jeweils vorstehenden Herrscherpersönlichkeiten, Ritter für sich zu gewinnen.34 Nachdem Arnold bei Konstantin zunächst gescheitert ist – bzw. nicht einmal bis zu diesem vordringen konnte –, begibt er sich an den Hof Dietrichs, wo er reich beschenkt wird. Diese Ausstattung durch Dietrich ermöglicht ihm nun den Zugang zu Konstantins Hof, so dass er dort als Vermittler von Rothers Freigebigkeit in Erscheinung treten kann. Was er über Dietrich/Rother erzählt, wird aufmerksam aufgenommen und führt zu einer harschen Kritik der Königin an 34 Vgl. Thomas Kerth, King Rother and His Bride. Quest and Counter-Quests (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), New York, NY 2010, 101.

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ihrem Ehemann, die vor allem von den niederen Vasallen geteilt wird. Arnold begibt sich daraufhin wieder an Dietrichs Hof. Über die Figur des Grafen erlangt der Rezipient somit Einblick in das Funktionieren beider Höfe, die aus der Perspektive Arnolds wahrgenommen werden. Wenn seine Erzählung von Dietrichs milte nicht nur zur Kritik an Konstantin, sondern überdies zum Auszug von Konstantins Vasallen führt, rückt damit die Freigebigkeit Dietrichs, von der zuvor schon berichtet worden war, ganz besonders in den Fokus. Im Gegensatz zur Schilderung von Dietrichs Freigebigkeit gegenüber den namenlos bleibenden Vertriebenen, von der im Vorfeld der vorliegenden Textstelle die Rede ist, wird hier nun mit dem Grafen Arnold ein namentlich bezeichneter Akteur fassbar. Die Situation des vertriebenen Grafen am Hof Konstantins wird genutzt, um am Umgang mit diesem Grafen Herrscherqualitäten vorzuführen. Dietrich/Rother erkennt die existenzielle Notlage des Grafen und seines Gefolges und ist bereit, diese mit eigenen Mitteln abzuwenden. Dadurch tritt er in einen direkten Gegensatz zu Konstantin, von dessen Hof im Vorfeld zu erfahren ist, dass den Vertriebenen dort aufgrund ihrer ärmlichen Kleidung der Zutritt verweigert wird.35 Über Arnold und seine Leute heißt es überdies, dass sie niedergeschlagen und beschämt durch die Stadt laufen, weil niemand bereit ist, ihnen etwas zu geben (V. 1400–1402). Konstantin wird damit als Herrscher dargestellt, der den Vertriebenen keine Hilfe zu teil werden lässt und ihre Notlage durch die am Hof geltenden Regularien gar nicht wahrnimmt oder sogar bewusst ignoriert. Wie schwer die Not des Grafen und seiner Gefolgsleute wiegt, zeigen die zahlreichen Ausdrücke, die ihn als Leidenden kennzeichnen: Arnold ist ellende (V. 1421), virtriven (V. 1429), arm (V. 1431), in note36 (V. 1411 und 1442), er spricht trorande37 (V. 1427) und jegliche Mittel sind ihm thure38 (V. 1430), weshalb er vor Dietrich um genade (V. 1433) bittet. Das verwendete Vokabular stellt 35 sie ne hatten die kleider noch die ros, / darumbe verbot man en Constantinis hof. – »Sie besaßen weder standesgemäße Kleidung noch Pferde, weshalb man ihnen den Zutritt zu Konstantins Hof verwehrte« (V. 1317f.). 36 Die not des Grafen, seine Bedrängnis oder die Mühe, die er erleidet, erwächst aus seinem Status als ellender. Vgl. auch Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woerter buchnetz.de/BMZ?lemma=not (17. 06. 2020); Lexer 1869–78, http://www.woerterbuchnetz. de/Lexer?lemma=not (25. 04. 2020). 37 Hier ist das Partizip Präsens zum Verbum trûren verwendet, der Graf spricht also in bekümmerter Weise. Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woerterbuch netz.de/BMZ?lemma=trure (17. 06. 2020); Lexer 1869–78, http://www.woerterbuchnetz.de/ Lexer?lemma=truren (25. 04. 2020). 38 Das Adjektiv tiure hat in aller Regel die Bedeutung ›kostbar‹ oder ›wertvoll‹, kann jedoch, wenn es, wie hier, mit dem Dativ konstruiert wird, auf einen Mangel an etwas verweisen und bedeutet dann ›selten‹ oder ›in geringem Maße vorhanden‹. Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=tiure (17. 06. 2020), Lexer 1869–78, http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=tiure (25. 04. 2020).

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die Barmherzigkeit in Dietrichs Handlungsweise ganz besonders heraus und beleuchtet seine Gabenpolitik in einer neuen Weise. Bei seiner Ausfahrt aus Bari lässt Dietrich/Rother seine Schiffe mit allen Schätzen und Reichtümern beladen, die ihm zur Verfügung stehen (V. 785–801). In Konstantinopel nutzt er diese Mittel mit machtstrategischem Kalkül in der Absicht,39 Gefolgsleute für sich zu gewinnen, was ihm auch innerhalb kürzester Zeit gelingt.40 Dass sogar Konstantins niedere Vasallen ihren Herren verlassen und die Seiten wechseln, weil sie sich davon materiellen Gewinn versprechen, lässt die Großzügigkeit Dietrichs, wie Sarah Bowden angemerkt hat, als stärker manipulativ erscheinen – »similar to bribery«41 –, zumal Dietrich nicht die Absicht hat, diese Vasallen dauerhaft an seinen Hof zu binden, weshalb er sie bei seiner Abreise aus Konstantinopel zurücklässt. Dietrichs Handlungsweise erwächst aber nicht bloß aus politischen Beweggründen, sondern ist durchaus auch altruistisch motiviert, wie nun insbesondere die zitierte Textstelle um die Beschenkung des verarmten Grafen Arnold zeigt.42 Dadurch wird die Sympathie der Rezipienten in eine bestimmte Richtung gelenkt, zumal Rother/Dietrich nicht nur weiß, dass ein Herrscher idealerweise geben sollte, sondern auch, wie ein Herrscher gibt: Dem Rat seiner Vasallen folgend, teilt er dem Grafen ein Vermögen von 1000 Mark zu (V. 1446) und schickt ihm 30 Ritter zur Begründung eines eigenen Hofes (V. 1453f.). Diese genaue Bemessung der Gaben ist wohlüberlegt, denn es ist das erklärte Ziel der Beratung, festzustellen, was man dem Grafen geben kann, so dass er in der Lage ist, es mit Ehren anzunehmen (V. 1437f.). Dietrich beschenkt Arnold reich, aber nicht beschämend, und beweist dadurch seine Urteilsfähigkeit, die hier regelrecht in Zahlen gegossen wird. Gleichzeitig ist die Freigebigkeit Dietrichs aber auch ein wichtiges Indiz für seine Macht: Seine Hilfeleistung gegenüber Arnold ist ein Versprechen an andere Vertriebene, dass ihnen eine ebensolche zuteilwerden kann. Freigebigkeit erweist sich als ein adäquates Mittel, um Vasallen an 39 Vgl. Stephan Fuchs-Jolie, Rother, Roland und die Rituale. Repräsentation und Narration in der frühhöfischen Epik, in: Caspar Ehlers/Jörg Jarnut/Matthias Wemhoff (edd.), Zentren herrschaftlicher Repräsentation im Hochmittelalter. Geschichte, Architektur und Zeremoniell (Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung 7), Göttingen 2007, 171–188, hier 181 sowie Rita Zimmermann, Herrschaft und Ehe. Die Logik der Brautwerbung im König Rother (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1422), Frankfurt a. Main et al. 1993, 100; Sarah Bowden spricht in diesem Zusammenhang von »strategic manipulation of milte« durch Rother, Bowden 2012, 52. 40 Vgl. hierzu V. 1387–1392: Do ne stund iz borlange, / er Dietherich der manne / ses dusint gewan, / die ime waren underdan / mit dieniste aller tagelich: / sin ingesinde was herlich. – Da dauerte es nicht sehr lange, bis Dietrich an Gefolgsleuten sechstausend gewonnen hatte, die loyal zu ihm standen in ihrer täglichen neuen Dienstbereitschaft: er verfügte über ein herrscherliches Gefolge. 41 Bowden 2012, 52. 42 Vgl. hierzu Bowden 2012, 52f.

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den eigenen Hof zu ziehen, sie an sich zu binden und über diese Beziehungen die eigenen Interessen – in diesem Fall die Befreiung der Boten und die Hochzeit mit der Königstochter – voranzutreiben. In der Öffentlichkeit von Konstantins Hof fasst Arnold seine Dankbarkeit gegenüber Dietrich in Worte: »diz hat mir Dietherich gegevin / got laze ene mit genaden lieven!« (V. 1461f.). Vor dem König, zu dem ihm bislang aufgrund seines ärmlichen Äußeren der Zugang verwehrt blieb, empfiehlt er jenen anderen Herrscher Gottes Gnade an, da dieser seinen inneren Adel erkannt und ihn angemessen behandelt hat. Beide Herrscher werden einander gegenübergestellt: Der eine ist physisch anwesend, der andere über seine Fama repräsentiert. Dass durchaus ein direkter Vergleich intendiert ist, zeigt die Rede der Königin, die auf die Erzählung Arnolds folgt. Dieser hatte zwar idealisierend von Dietrich gesprochen, Konstantin indes nicht einmal erwähnt. Dies ändert die Königin, die ihren Mann namentlich nennt: »weiz got, her mach wol edile sin! / hir schinit Constantinis sin! […]« (V. 1464f.). Sie liest also Konstantins Haltung auf der Folie des gerade gelobten Dietrich/Rother und formuliert daraus ihre sehr direkte Kritik: »[…]eya, arme, wie ich nu virstozin bin, / daz min thochtir deme virsagit wart / der diesen helit virtrieven hat! […]« (V. 1466–1468). Die Vorbildlichkeit des (angeblich) von Rother vertriebenen Dietrich wird nun zum wichtigsten Indiz für Rothers eigene Machtfülle: Wenn schon Dietrich sowohl militärisch (durch die Riesen in seinem Gefolge) als auch finanziell (durch seine Freigebigkeit) Konstantin überlegen ist, wie übermächtig muss dann erst jener Rother sein, dem es gelang, Dietrich ins Exil zu schicken? Konstantin hat Rother offenbar völlig falsch eingeschätzt, als er die Brautwerbung ablehnte.43 Die Königin kritisiert die Verweigerungshaltung Konstantins allerdings nicht nur aufgrund der daraus entstehenden Gefahr durch Rothers Gegnerschaft, sondern vor allem, weil ihr selbst und den Vasallen am Hofe dadurch Entfaltungsmöglichkeiten verwehrt werden. Wenn sie sich selbst als virstozin44 (V. 1466) bezeichnet, beklagt sie damit vor allem den »Zuwachs an Macht und Ansehen, der ihrer Herrschaft durch das abgelehnte Bündnis mit Rother verlorengegangen ist«45. Diese Wortwahl über43 Ähnlich formuliert auch Scott E. Pincikowski: »An Konstantin macht der Dichter dem Publikum die Gefahren des Selbstbetrugs besonders deutlich, indem er kommentiert, wie dessen Unfähigkeit, die Grenzen seiner Macht zu erkennen, die Ursache für sein Verkennen überlegener Gegner ist.« Scott E. Pincikowski, Wahre Lügen: Das Erkennen und Verkennen von Verstellung und Betrug in ›Herzog Ernst B‹, ›Kudrun‹ und ›König Rother‹, in: Matthias Meyer/Alexander Sager (edd.), Verstellung und Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur (Aventiuren 7), Göttingen 2015, 175–193, hier 190. 44 verstôzen wird zunächst in der Bedeutung ›wegstoßen‹ verwendet, dann aber auch als ›vertreiben, berauben, enterben‹. Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, http://www.woer terbuchnetz.de/BMZ?lemma=verstoze (17. 06. 2020); Lexer 1869–1878, http://www.woerter buchnetz.de/Lexer?lemma=verstozen (25. 04. 2020). 45 Zimmermann 1993, 107.

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rascht insofern, als dass sie ein semantisches Feld aufruft, das bisher vor allem zur Beschreibung der Fremden in Konstantinopel benutzt wurde: Die ellenden sind virtriven46 (V. 1429) bzw. versant (V. 1521), auch Dietrich selbst wird bei seinem ersten Auftritt an Konstantins Hof als der virtrivene (V. 1136) bezeichnet. Die Königin verteidigt also nicht nur die Sache der Vertriebenen, sie ordnet sich selbst dieser Partei zu. Dies wird von den konstantinischen Vasallen aufgegriffen, die daraufhin – den Vertriebenen gleich – an Dietrichs Hof ziehen. In der Rede der Königin fällt zudem erneut auf, wie stark Dietrich/Rother idealisiert wird. Zwar nennt sie Konstantin beim Namen, nimmt aber ansonsten nicht weiter auf ihn Bezug, während sie Dietrich/Rother mit lobenden Adjektiven hervorhebt: Dietrich ist diese[r] helit (V. 1468), der vrumichliche (V. 1469) handelt, Rother ist riche (V. 1470) und hat gewalt (V. 1471). Dieses Vorgehen findet in der Rede der Vasallen seine Fortsetzung. Bezeichneten der Graf und die Königin Dietrich jeweils als gottgefällig und empfahlen ihn Gottes Gnade an, so wünschen die Vasallen Konstantins ihrem eigenen Herrn den Teufel an den Hals: vrowe, u ist der ride not! / der tuvil tho en den dot, / die iz ie irwantin! (V. 1473–1475). Zwar nennen sie Konstantin nicht beim Namen, sie nehmen aber ausdrücklich Bezug auf die Rede der Königin, in der er nicht nur genannt, sondern maßgeblich als derjenige identifiziert wurde, der für die Ablehnung der Brautwerbung Rothers verantwortlich zeichnet. Es verwundert daher wenig, dass die Vasallen ihrem Herrn den Rücken kehren, um an Dietrichs Hof eine Chance auf jene Entfaltungsmöglichkeiten zu erhalten, die ihnen bei Konstantin verwehrt bleiben. Dietrich macht seinem Ruf alle Ehre und übt sich in nahezu grenzenloser Freigebigkeit, bis alle ihre Wünsche erfüllt sind (V. 1508– 1516).47 Während man Dietrich für sein vorbildliches Verhalten lovet[] (V. 1517), wird Konstantin sogar von der eigenen Ehefrau scharf kritisiert: Sein Verhalten gegenüber den Boten Rothers war nicht angemessen, seine Reaktion auf die Brautwerbung überzogen, eigenmächtig und gefährlich, seine Ignoranz gegenüber dem Leid der Vertriebenen, vor allem dem Schicksal des Grafen Arnold, tadelnswert. Die Idealisierung Rothers verschärft dabei noch einmal die Kritik an Konstantin, neben dessen strahlender Vorbildlichkeit er regelrecht verblasst.48 46 Das Verb vertrîben entspricht dem nhd. ›vertreiben‹ und ist damit mit dem zuvor verwendeten verstôzen bzw. versenden bedeutungsgleich. Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 1854– 1866, http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ?lemma=vertribe (17. 06. 2020); Lexer 1869– 1878, http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma=vertriben (25. 04. 2020). 47 Mit kritischem Blick auf Dietrichs Freigebigkeit im Sinne politischer Manipulation Bowden 2012, 52f. 48 Anders sieht dies Rita Zimmermann (Zimmermann 1993, 109–113), die zwar anerkennt, dass »Dietrich im Vergleich mit Constantin den Ruf größerer Freigebigkeit genießt« (109), aber konstatiert, dass sich Constantin ebenfalls äußerst freigebig zeige. Sie führt dafür die Beschenkung Dietrichs (V. 978f.), die Ausrichtung des Hoffestes (V. 1566–1592) sowie die

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5.

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Terminologie des Textbeispiels

Der gewählte Textabschnitt weist ein reiches begriffliches Spektrum auf, das für die Terminologie von Macht und Herrschaft im Mittelhochdeutschen bedeutungsvoll ist; es kann hier nicht vollständig entfaltet werden. Legt man den Fokus der terminologischen Betrachtung auf die Frage nach Kritik und Idealisierung, so zeigt es sich allerdings sehr schnell, dass unsere Interpretation des Textauszugs von der Ebene der Semantik mitgetragen wird. Was die Gegenüberstellung der Figuren Dietrich/Rother und Konstantin im Spannungsfeld von Kritik und Idealisierung anbelangt, so ist augenfällig, dass Ersterer mit positiv besetzten Begriffen attribuiert und dementsprechend vor der Folie der dahinter liegenden Konzepte von idealer Herrschaft betrachtet werden muss, während entsprechende Begriffe in Bezug auf Konstantin fehlen. Dies beginnt gleich mit Dietrichs erster Nennung im Textabschnitt (vgl. V. 1423f.): Jemanden zu ›empfangen‹, enphâhen, meint im höfischen Kontext auch immer, ihm Sicherheit, Gewaltfreiheit, Aufnahme und angemessene Behandlung zu garantieren. Das zweimalige gemeinsame Auftreten (Kollokation) des Verbums enphâhen mit dem Adjektiv vrumelîche oder vrumeclîche in den Versen 1424 und 1488 unterstreicht noch einmal, dass der Empfang nicht nur bloße Formalität ist, sondern in genau der richtigen Weise zu erfolgen hat und auch erfolgt. Ein weiteres Mal taucht das Adverb in der Form vromeliche (V. 1483) im Zusammenhang mit einer Form des Verbums gёben auf (gevet, V. 1483). In Vers 1469 steht vrumichliche in Verbindung mit Dietrichs Tun (dirre tod so vrumichliche), also seinem Handeln und Verhalten. Auch das Adjektiv guot wird auf Dietrichs Benehmen bezogen (mit godeme gebaren, V. 1425). Durch die Wortwahl wird damit mehrfach nahegelegt, dass Dietrich/Rother sich in höfisch-idealer Weise verhält. So muss es geradezu ins Auge springen, dass keines dieser Wörter in Bezug auf Konstantin gebraucht wird, obwohl dieser als kuning[] (V. 1495),49 als König, bezeichnet wird und derartige Auszeichnungen mit Bezug auf die höchststehende Person erwartbar

Belohnung der Kämpfer nach dem Kriegszug gegen Ymelot (V. 3042–3059) an. Diesen Episoden ist aber gemeinsam, dass Konstantin sich hier entweder erst unter dem Eindruck übermächtiger Gewalt (Beschenkung Dietrichs sowie Belohnung der Kämpfer) für diese Handlungsweise entscheidet, oder von seiner Tochter (im Falle des Hoffestes) dazu überredet werden muss. Eine eigene Initiative zur Freigebigkeit, wie sie von Rother und seinen Vasallen demonstriert wird, fehlt bei Konstantin. 49 Das Wort keiser ist im ›König Rother‹ selten belegt, anders etwa als im ›Herzog Ernst‹, wo Konstantin als keiser bezeichnet wird. Im vorliegenden Textauszug, in dem er nicht selbst als Figur auftaucht, wird Konstantin zudem im Gegensatz zu anderen höfischen Figuren wie dem verarmten Grafen (V. 1457) oder den Grafen aus Konstantins Gefolge (V. 1499), der Königin (V. 1463) und Dietrich/Rother selbst (V. 1464) weder auf Figuren- noch der Erzählerebene als edel bezeichnet.

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wären. Auf das Geben und die Herrschertugend der Freigebigkeit50 wird hier im Rahmen der Kontrastierung der Figuren Dietrich/Rother und Konstantin besonderen Wert gelegt. Acht Mal tauchen Wortformen von gёben in diesem kurzen Textauszug auf, und jedes Mal beziehen sie sich auf Dietrich/Rother oder einen seiner Stellvertreter.51 Der ellende grave (V. 1421) befindet sich in einer unglücklichen Lage, weil er virtriven (V. 1429), also aus seinem Machtbereich und vertrieben und von einer Hofgemeinschaft ausgeschlossen wurde.52 Diese nôt (vgl. V. 1442) kann Dietrich/Rother durch Gaben und angemessene Behandlung in êre umwandeln, sofern der Graf und diejenigen Männer, die virsant (V. 1521) worden sind, seine angemessenen und in der richtigen Weise übergebenen Geschenke annehmen.53 Er erweist anderen genade (V. 1433), indem er hilft,54 und das ist im Gegenzug auch das, was man ihm in Form himmlischer Gnade wünscht (V. 1462). In den Kontext der Idealisierung der Dietrich/Rother-Figur fällt in diesem Textabschnitt zudem das Wortfeld um Rat und Beratung, denn es zeichnet sie aus, auf den richtigen Ratgeber zu hören und entsprechende Entscheidungen zu treffen (vgl. V. 1435, V. 1439, 1443). Hinzu tritt der Begriff êre, der für den Gebenden und für die Empfänger der Gaben gleichermaßen verwendet wird, sowie für das, was als Lohn vom Umgang mit Dietrich beziehungsweise Rother zu erhoffen ist und auch erwartet wird (vgl. V. 1479, V. 1520). Dietrich wird als edile (V. 1464) bezeichnet, Rother als jemand, der riche ist und gewalt hat (V. 1470f.), also als reicher und mächtiger Herrscher. Zugleich wird Rother aber auch zu50 Das zugehörige Programmwort heißt milte. Die herrscherliche Eigenschaft der milte im Sinne von ›Freigebigkeit‹ ist wesentlich für das Funktionieren eines Hofes; der entsprechende Begriff kommt im vorliegenden Ausschnitt allerdings nicht vor. 51 In den Versen 1437, 1446, 1447, 1457, 1461 mit direktem Bezug auf die Figur Dietrich/Rother; in Vers 1490 ›gibt‹ oder ›übergibt‹ Berchter dem Grafen einen Hof als Stellvertreter Dietrichs/ Rothers und in Vers 1491 stellt der Riese Asprian aus seinem Gefolge ihm Ritter. Die Riesen sind exotisch und damit Zeichen der Exzeptionalität Dietrichs/Rothers, dessen Gefolge sie angehören. Dass selbst die Riesen, die zuvor auch durch spezifisch wildes und unhöfisches Gebaren aufgefallen sind, dem verarmten Grafen entgegenkommen, lässt Konstantins Verhalten umso unziemlicher erscheinen. Dietrich/Rother gibt jedoch auch den Gefolgsmännern Konstantins, die ihn ohne akute Not aufsuchen (vgl. V. 1508). Dafür werden sie, die mit here craft (V. 1506) zu ihm überlaufen, seine man (V. 1497). Das bedeutet, Dietrich/Rother bindet diese Männer mit Hilfe angemessener Gaben an sich; sie treten in ein Loyalitätsverhältnis zu ihm und statten ihn nicht zuletzt auch mit militärischer Gewalt aus, wodurch er seinen Einflussbereich erheblich vergrößert. 52 Bemerkenswerterweise wird die Tatsache, dass Rother offenbar in der Lage war, einen vortrefflichen höfischen Helden wie Dietrich zu virtrieven (V. 1468), diesem von der Königin als Ausweis seiner großen Macht zugerechnet und nicht negativ ausgelegt. Sie erlebt die Abweisung Rothers durch Konstantin als eine verpasste Gelegenheit, die sie ihrerseits von ihrem Hof entfremdet, denn sie bezeichnet sich nun selbst als virstozin (V. 1466). 53 Die jeweiligen Hintergründe für den Ausschluss dieser Männer aus der Hofgemeinschaft werden dabei nicht thematisiert und in ihrer möglichen Berechtigung hinterfragt. 54 Vgl. die verschiedenen Wortformen des Verbs hëlfen in Vers 1442 und 1448.

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geschrieben, dass er andere auszeichnen und riche (V. 1484) machen kann. Dietrichs/Rothers Vorzüglichkeit wird mithin durch Lobpreis (vgl. V. 1517) von außen und damit öffentlich bestätigt. Die bosheit (V. 1445) hingegen, das unhöfische, böse, verwerfliche Verhalten und eine ebensolche Einstellung, erscheinen als etwas, das in Dietrichs/Rothers Hofhaltung keine Rolle spielt; dieses lässt sich wiederum als indirekte Kritik an Konstantin auffassen, die in der Figurenrede auch in direkter Form artikuliert wird.

6.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt

Der ›König Rother‹ diskutiert in besonderer Weise, wie Herrschaft idealerweise gestaltet sein sollte. Dafür werden die beiden gegensätzlichen Figuren Konstantin und Rother genutzt, von denen der eine, Rother, das Ideal verkörpert, während der andere, Konstantin, durchgängig der Kritik ausgesetzt ist. Damit erweist sich der Text für unser Teilprojekt wie auch für das Spannungsfeld ›Kritik und Idealisierung‹ als eine ergiebige Quelle literarischer Herrschaftsdarstellung. Durch die Verortung der Handlung an die Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, zwischen Heiden- und Christentum, wird der Text zudem als Erzählung einer Begegnung zweier Kulturräume für die transkulturelle Ausrichtung des Sonderforschungsbereichs interessant. An der ausgewählten Textstelle werden die Kritik an Konstantin und die Idealisierung Dietrich/Rothers zusammengeführt. Über den Grafen Arnold, der nach einer am konstantinischen Hof erfahrenen Abweisung an Rothers Hof reich und seinem sozialen Status entsprechend beschenkt wird, wird für die Rezipienten ein direkter Vergleich beider Höfe möglich. Wenn der Graf dann am Hof Konstantins von Dietrich/Rother erzählt, werden die Unterschiede im Herrschaftsverständnis und in der Herrschaftspraxis auch auf der Figurenebene thematisch. Der in der Textpassage abwesende Dietrich/Rother wird dabei durch die Rede Arnolds als Träger von Freigebigkeit modelliert, während Konstantin, der als anwesend vorgestellt ist, sich selbst durch seinen Geiz diskreditiert und dafür auch angegriffen wird.55 Für das Spannungsfeld ›Kritik und Idealisierung‹ ist unsere Textstelle aber auch noch in anderer Hinsicht relevant: Sie führt vor, dass und wie Dietrich/ Rother sich mit seinen wichtigsten Vasallen berät, um angemessen auf die Si55 Dass beide Figuren nicht nur hinsichtlich der milte-Thematik einander gegenübergestellt, sondern auch über das Moment des Zorns vergleichbar werden, hat Evamaria Freienhofer herausgestellt. Während die Riesen in Rothers Gefolge als machtvolle Verkörperung von Zorn erscheinen, zeigt Konstantin den machtlosen Zorn. Vgl. Evamaria Freienhofer, Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts (Trends in Medieval Philology 32), Berlin/Boston, MA 2016, hier 165–186.

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tuation des Grafen reagieren zu können; er räumt ihnen einmal mehr eine Partizipation an seiner Herrschaft ein und agiert im Konsens mit seinen Fürsten.56 Dagegen verweigert Konstantin seinen Vasallen die Mitsprache. An seinem Hof gibt es keine vergleichbare Beratung.57 Lediglich die Ehefrau Konstantins nimmt es sich – ungefragt und mit wenig Erfolg – heraus, ihren Mann zu beraten; damit tritt sie als außergewöhnlich aktive Frauenfigur in Erscheinung, zu der es an Dietrichs/Rothers Hof kein Äquivalent gibt. Während hier die Beratung zudem bestimmten Regularien folgt und damit geordnet erscheint – so werden die Ratgeber von Dietrich eigens aufgefordert, zu raten, und erheben ihre Stimme ihrer Rangfolge entsprechend (V. 1436–1454) – spricht die Königin und Gemahlin Konstantins unaufgefordert, gleichsam ›spontan‹, woraufhin ihr die namenlos bleibenden Vasallen beipflichten. Auf diese Weise entsteht der Eindruck eines Gemeinwesens, dem es aufgrund der Defizienzen der Führungspersönlichkeit an einer festen Organisation mangelt.

56 Dietrich/Rother tut dies nicht nur in dieser Episode, sondern jedes Mal, wenn eine wichtige politische Entscheidung getroffen werden muss. Damit entspricht sein Handeln dem Konzept von ›konsensualer Herrschaft‹, wie es Bernd Schneidmüller beschrieben hat. Vgl. Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter. In: Paul-Joachim Heinig et al. (edd.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und früher Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, 53–87; vgl. auch Steffen Patzold, Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept in der Mediävistik, in: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), 75–103. – Zum Thema ›Rat‹ und ›Beratung‹ im Sinne konsensualer Herrschaft vgl. zudem Gerd Althoff, Colloquium familiare – Colloquium secretum – Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), 145–167 sowie Gerd Althoff, Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter, Darmstadt 2016. – Zur Inszenierung von Rat vgl. Gerd Althoff, Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), 27–50 sowie Jan-Dirk Müller, Ratgeber und Wissende in heroischer Epik, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), 124–146. 57 Zumindest in dieser Episode berät sich Konstantin nicht mit seinen Fürsten. An anderer Stelle werden im Text Beratungen Konstatins mit seinen engsten Verwandten erwähnt, z. B. als es um die Aufnahme des (vorgeblich) Verstoßenen Dietrich geht, vgl. V. 934–991. In seiner Rede an Dietrich, mit der er die Entscheidung verkündet, lässt Konstantin allerdings durchaus die Möglichkeit anklingen, auch gegen den Rat seiner Fürsten zu agieren, sollte ihm dieser nicht gefallen – wenngleich er das dann nur ungern täte, wie er sagt (V. 971f.), behält er sich diese Option vor. Mehrfach wird Konstatin, wie auch in der vorliegenden Textstelle, dafür kritisiert, in der Frage der Werbung Rothers eigenmächtig entschieden zu haben.

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Quellenverzeichnis König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein, ed. Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit von Beatrix Koll und Ruth Weichselbaumer (Reclams Universal-Bibliothek 18047), Stuttgart 2000.

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Der Großzügige gegen den Geizigen – Kritik und Idealisierung im ›König Rother‹

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Florian Saalfeld / Tilmann Trausch

Das Ideal eines Herrschers: Narrative Strategien zur Legitimation eines zukünftigen Sultans

Teilprojekt ›Macht und Herrschaft in indo-persischen historiographischen Texten aus der Zeit des Delhisultanates (1206–1526)‹ (Leitung: Prof. Dr. Stephan Conermann, Islamwissenschaft)

ˇ u¯zgˇa¯nı¯) Das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ (Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ ˙ Das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ (»Die na¯sirı¯dischen Schichten«) des Minha¯gˇ ad-Dı¯n ˇ u¯zgˇa¯˙nı¯ liegt heute ˙in Form zweier˙ nicht vollständiger Editionen vor, die auf gut G zehn Abschriften beruhen. Bei dem hier vorgestellten Textbeispiel handelt es sich um einen digitalisierten und zur Vereinfachung leicht bearbeiteten Auszug aus ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯, ed. ʿAbd al-Haiy der jüngeren Edition: Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ ˙ ˙ Habı¯bı¯, 2 Bde., Bd. 2, Kabul 1964, 47–51. Die beigefügte, möglichst textnahe ˙ Übersetzung ist unsere eigene, es existiert jedoch auch eine – ebenfalls nicht vollständige – englischsprachige Gesamtübersetzung aus dem 19. Jahrhundert.1

1.

Der Text

ˇ u¯zgˇa¯nı¯ ist einer der heute weniger Das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ des Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ ˙ bekannten historiographischen Texte der vormodernen persophonen Welt.2 Es handelt sich um eine Universalgeschichte, die zu großen Teilen im Jahr 1259/603 ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯, ed. William Nassau Lees (Bi1 Erste Textausgabe: Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ ˙ bliotheca Indica), Kalkutta 1864. Englischsprachige Übersetzung, basierend auf verschiedenen ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaka¯t-i-Na¯sirı¯. A Geˇ Manuskripten und der ersten Textausgabe: Minha¯g ad-Dı¯n G ¨ ˙ From˙ A.H. 194 neral History of the Muhammadan Dynasties of Asia, Including Hindustan. (810 A.D.) to A.H. 658 (1260 A.D.) and the Irruption of the Infidel Mughals into Islam, übers. v. Henry G. Raverty, 2 Bde., Kalkutta 1881 (ND New Delhi 1970). 2 Zum Konzept der persophonen Welt vgl. zuletzt die Beiträge in Abbas Amanat/Assef Ashraf (edd.), The Persianate World. Rethinking a Shared Sphere (Iran Studies 18), Leiden 2018.

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Florian Saalfeld / Tilmann Trausch

abgefasst und Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h (r. 1246–1266), einem Herrscher des ˙ ˙ Sultanats von Delhi, gewidmet ist.4 Der zweite Bestandteil des Titels drückt diese Widmung aus. ˇ u¯zgˇa¯nı¯, ist in Umrissen bekannt. Dass diese Sein Autor, Minha¯gˇ ad-Dı¯n G Kenntnisse allein auf dem Selbstbild, das sich nach seinem Werk zeichnen lässt, ˇ u¯zgˇa¯nı¯ stammt basieren, ist für diese Zeit und Region nicht ungewöhnlich. G demnach aus dem zentralafghanischen Hochland, als Geburtsjahr findet sich in der Literatur meist das Jahr 1193.5 Um das Jahr 1227 verlässt er Hura¯sa¯n, das ˘ historische Kulturland im Osten der islamischen Welt, und bricht in deren Grenzregionen nach Nordindien auf. Im Jahr 1228 erreicht er schließlich Delhi. Dort herrschen die Sˇamsı¯-Sultane über das Sultanat von Delhi, benannt nach dem Beinamen ihres ersten Sultans, Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ (r. 1210–1236). ˇ u¯zgˇa¯nı¯ in Delhi aufhält, herrschen dort nach Iltutmisˇ dessen Während sich G Kinder, am längsten von ihnen Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h von 1246 bis 1266. ˙ ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ gestorben ist, Wann und wo G ist unbekannt. Über die Rezipienten des ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ lassen sich allenfalls Vermutungen ˙ ˙ anstellen, basierend wiederum auf dem Werk selbst. Dieses richtet sich an Leser oder Hörer, die einer gehobeneren Form des klassischen Persisch mächtig sind. Neben einem Interesse für politisch-militärische Details ist auf Seiten der Rezipienten zudem eine gewisse Kenntnis der iranischen Tradition hilfreich, auf die sich das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ auch in den Passagen über die islamische Geschichte ˙ ˙ zahlreich bezieht. Wer jedoch im Nordindien des 13. Jahrhunderts diese Kriterien erfüllt, wer unter den Zeitgenossen Zugang zu Abschriften historiographischer Texte hat, wer überhaupt lesen kann, oder ob solche Werke, wie es etwa für Gedichte, Epen oder performative Geschichten (naqqa¯lı¯) bekannt ist, in einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit vorgelesen werden, ist ebenfalls nur in Umrissen bekannt. Als gesichert darf gelten, dass sich das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ an ˙ ˙ Mitglieder der politischen Eliten richtet, die im 13. Jahrhundert noch weit überwiegend aus Zuwanderern aus den Kernländern der östlichen islamischen Welt und ihren Nachfahren bestehen.

3 Alle Jahres- und Datumsangaben entsprechen dem gregorianischen Kalender nach Christus und nicht dem islamischen Kalender, sofern dies nicht anders vermerkt wurde. 4 Für eine knappe Einführung in die politische Geschichte des Delhisultanats siehe Peter Jackson, Muslim India. The Delhi Sultanate, in: David O. Morgan/Anthony Reid (edd.), The Eastern Islamic World, Eleventh to Eighteenth Centuries (The New Cambridge History of Islam 3), Cambridge 2010, 100–127. Ausführlicher behandelt und mit dynastischen Tafeln versehen in Peter Jackson, The Delhi Sultanate. A Political and Military History (Cambridge Studies in Islamic Civilization), Cambridge 1999. 5 Siehe Iqtidar H. Siddiqui, Indo-Persian Historiography to the Fourteenth Century, Delhi 2014, 94.

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Heute sind gut zehn Abschriften dieses Werks identifiziert.6 Ein Autograph ist nicht erhalten, zudem liegen einige Jahrzehnte zwischen den Lebzeiten des Autors und den ersten Abschriften. Diejenige, die heute als die älteste erhaltene gilt, wird in das 14. Jahrhundert datiert.7 Die Textgeschichte des ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ ist ˙ ˙ bislang nur in Ansätzen untersucht, wie insbesondere die beiden vorliegenden Editionen widerspiegeln. Zudem liegt die englische Übersetzung aus der britischen Kolonialzeit vor, die jedoch ebenfalls ihre Schwächen hat und unvollständig bleibt. Das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ ist ein Werk der tabaqa-Literatur, eine ursprünglich ˙ ˙ ˙ arabische Gattung biographischer Literatur.8 Die entsprechenden Werke sind in Generationen bekannter Personen wie etwa Gelehrten oder Poeten organisiert. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ adaptiert dieses Gliederungsprinzip für Herrscherhäuser, entlang derer G er seine Erzählung organisiert. Da dynastische Kategorien auch in anderen Gattungen islamisch-persischer Geschichtsschreibung zur Gliederung genutzt werden, etwa den ta¯rı¯h- und ahba¯r-Werken,9 sind die Grenzen zu diesen Gat˘ ˘ tungen fließend.10 In der Literatur wird das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ in Ermangelung ˙ ˙ ausführlicherer Forschung zu arabischen und vor allem persischen Gattungen historiographischer Texte in aller Regel als Chronik bezeichnet. Nach der Eroberung der iranischen Welt durch muslimische Araber im 7. und 8. Jahrhundert ist zunächst das Arabische die Sprache der Geschichtsschreibung. Dabei entwickelt sich eines der bekannteren Produkte dieser Geschichtsschreiˇ aʿfar Muhammad bung, das ›Ta¯rı¯h ar-rusul wa-l-mulu¯k wa-l-hulafa¯ʾ‹ des Abu¯ G ˙ ˘ ˘ at-Tabarı¯, in späterer Zeit zum Muster unzähliger historiographischer Texte, so ˙ ˙ auch für das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹. Ab dem 10. Jahrhundert und ausgehend von ˙ ˙ Transoxanien beginnen Historiographen der östlichen islamischen Welt auch das Persische zu nutzen, um Vergangenes in eine Erzählform zu bringen. Im 13. Jahrhundert ist es dann bereits größtenteils üblich, Geschichte auf Persisch niederzuschreiben. Die Gründe hierfür sind viel diskutiert.11 Als eines der ersten Werke dieser persischen historiographischen Tradition gilt Abu¯ ʿAlı¯ Balʿamı¯s 6 Dazu siehe Charles A. Storey, Persian Literature. A Bio-Bibliographical Survey, 5 Bde., Bd. 2,1: General History. The Prophets and Early Islam, London 1935, 68–70. ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯, Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek, 7 Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ Ms. Chanykov 68, 181 fol. ˙ 8 Dazu siehe etwa Jawid Mojaddedi, The Biographical Tradition in Sufism. The Tabaqat Genre from al-Sulami to Jami (Routledge Studies in Asian Religion), Hoboken 2013. 9 Das heißt im weitesten Sinne historiographischer Literatur. 10 Siehe überblickshaft zur persischen Historiographie Tilmann Trausch, Persische Historiographie, in: Ludwig Paul (ed.), Handbuch der Iranistik, 2 Bde., Bd. 2, Wiesbaden 2017, 67– 73. 11 Siehe beispielhaft Julie Meisami, Why Write History in Persian? Historical Writing in the Samanid Period, in: Carole Hillenbrand (ed.), Studies in Honour of Clifford Edmund Bosworth, 2 Bde., Bd. 2: The Sultan’s Turret – Studies in Persian and Turkish Culture, Leiden et al. 2000, 348–374.

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›Ta¯rı¯h-i Balʿamı¯‹, eine Übersetzung, die de facto eine Bearbeitung von at-Tabarı¯ ˙ ˘ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ eher diese als˙ Muster ins Persische ist. Es ist davon auszugehen, dass G genutzt hat als das arabische Original.12 Bei einer diachronen Betrachtung der persischen historiographischen Tradition fallen zwei Entwicklungen ins Auge. Die erste, die jedoch weder linear noch einheitlich verläuft, betrifft die sprachliche Form historiographischer Produktion. Während die frühen Werke,13 etwa das ›Ta¯rı¯h‹ des Balʿamı¯ oder das ›Ta¯rı¯h-i ˘ ˘ Baihaqı¯‹ des Abu¯ l-Faz˙l Muhammad Baihaqı¯,14 in vergleichsweise einfacher ˙ Sprache verfasst sind, weicht diese im Laufe der Zeit immer komplexeren Formen gebundener Rede. Das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ repräsentiert, entsprechend seiner ˙ ˙ Entstehungszeit im 13. Jahrhundert, eine Zwischenstufe dieser Entwicklung. ˇ u¯zgˇa¯nı¯, von einigen Obwohl durchaus in gehobener Sprache schreibend, nutzt G Ausnahmen abgesehen, insgesamt doch eine vergleichsweise einfache Form der berichtenden Prosa.15 Dies fällt insbesondere dann auf, wenn man das ›Tabaqa¯t-i ˙ Na¯sirı¯‹ mit späteren Universalgeschichten vergleicht, die überwiegend in mit˙ 16 unter hoch komplexen Formen gereimter Prosa verfasst sind, etwa das ›Tagˇziyat al-amsa¯r va tazgˇiyat al-aʿsa¯r‹ des ʿAbdalla¯h Sˇaraf ad-Dı¯n Sˇ¯ıra¯zı¯, bekannt als ˙ ˙ Vassa¯f, aus dem 14. Jahrhundert oder das ›Futu¯ha¯t-i ˇsa¯hı¯‹ des Ibra¯hı¯m Amı¯nı¯ ˙ ˙˙ Haravı¯ aus dem frühen 16. Jahrhundert. Dass diese Entwicklung nicht einheitlich verläuft, belegt ein Text, der nur einige Jahrzehnte vor dem ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ zweifelsohne gekannt ˙und benutzt ˙hat, geschrieben worden ist und den G das ›Ta¯gˇ al-maʾası¯r‹ des Hasan Niza¯mı¯.17 Dieses ist in einer äußerst wortreichen ˙ ˙ und sprachlich komplexen Form gereimter Prosa geschrieben und enthält unzählige Gedichte, sowohl in persischer als auch in arabischer Sprache. Da es zudem in noch vielfältigerer Weise auf die iranische Tradition Bezug nimmt als das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ und somit ungleich höhere Anforderungen an die Vor˙ ˙ bildung des Lesers stellt, wird man sich die Kreise möglicher Rezipienten historiographischer Texte im frühen Sultanat von Delhi als nicht allzu einheitlich vorstellen dürfen. Die zweite Entwicklung innerhalb der persischen historiographischen Tradition betrifft die Größe des dargestellten (Zeit-)Raums. Während, anfangend mit Balʿamı¯, in den frühen Jahrhunderten die Universalgeschichte die rein quanti12 Siehe Clifford E. Bosworth, Tabaqa¯t-e Na¯seri, in: Encyclopædia Iranica. Online Edition ˙ ˙ (2016), www.iranicaonline.org/articles/tabaqat-naseri (12. 12. 2018). 13 Zu den frühen Entwicklungen persischer Historiographie siehe Julie Meisami, Persian Historiography. To the End of the Twelfth Century (Islamic Surveys), Edinburgh 1999, das weiterhin als Standardwerk gelten darf. 14 Siehe Julie Meisami, History as Literature, in: Iranian Studies 33/1,2 (2000), 15–30, hier 21f. 15 Siehe Muhammad T. Baha¯r, Sabk-sˇina¯sı¯ ya¯ ta¯rı¯h-i tatauvur-i nasr-i fa¯rsı¯, 3 Bde., Bd. 2, ¯ ˙ h. sˇ. [1958], 229–231. ˙ ˘ Teheran 1337 16 Siehe Baha¯r 1337 h. sˇ. [1958], Bd. 3, 144–181. 17 Siehe einführend zu diesem Werk Siddiqui 2014, 40–54.

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tativ bestimmende Art chronikaler Geschichtsschreibung darstellt, wird diese ab dem späteren 16. Jahrhundert zunehmend von Dynastiegeschichten verdrängt.18 Da es sich auch beim ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ um eine Universalgeschichte handelt, ˙ ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Werk auch darf G in dieser Hinsicht als ›klassischer‹ Vertreter der vormodernen persischen historiographischen Literatur seiner Zeit gelten. Die Verortung des ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ innerhalb der historiographischen Li˙ ˙ teratur des Sultanats von Delhi selbst ist weniger eindeutig. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es überhaupt nur wenige Texte gibt, die zudem alles andere als einheitlich sind.19 Dies betrifft inhaltliche und stilistische Fragen ebenso wie gattungsspezifische. Zudem scheint es im Laufe der Sultanatszeit verschiedene indigene Einflüsse auch auf die Texte persischer Historiographie gegeben zu haben, welche die historiographischen Werke des 14. Jahrhunderts mitunter deutlich von den ›klassischen‹ Vertretern persischer Historiographie abweichen lassen. Das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ hingegen steht noch eindeutig in der Tradition ˙ ˙ Hura¯sa¯ns. Zu dieser gehört, dass Geschichte vor allem im Umfeld überregionaler ˘ Herrscherhöfe geschrieben wird. Obwohl die Unterschiede zwischen höfischer Geschichtsschreibung auf der einen Seite und etwa lokaler Geschichtsschreibung auf der anderen spätestens seit dem 11. Jahrhundert nicht mehr absolut sind,20 handelt es sich auch beim ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ eindeutig um ein Produkt höfischer ˙ ˙ Geschichtsschreibung; die Perspektive der Erzählung ist entsprechend geprägt. Aussagen zu den historischen Bezügen des ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ sind nicht un˙ ˙ problematisch und hängen nicht unmaßgeblich vom gewählten Zugang ab. Für ˇ u¯zgˇa¯nı¯s ist eine äußerste Quellenarmut zu konstatieren, die noch weit die Zeit G über das hinausgeht, was generell für die ohnehin nicht übermäßig quellenreiche östliche islamische Welt konstatiert werden muss. So existieren aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lediglich zwei weitere historiographische Textquellen, die einen gewissen Umfang aufweisen und als mehr oder weniger zeitgenössisch zum ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ bezeichnet werden können: die Einleitung des ˙ ˙ ›Sˇagˇara-yi ansa¯b‹ des Fahr-i Mudabbir und das ›Ta¯gˇ al-maʾası¯r‹ des Hasan Ni˙ ˘ ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Werk, za¯mı¯. Wählt man also einen ›historischen‹ Zugang zu G stellen ˙ insbesondere für die Jahrzehnte nach dem Jahr 1217/29, in dem die Darstellung des ›Ta¯gˇ al-maʾası¯r‹ endet,21 die Inhalte der historischen Erzählung des ›Tabaqa¯t-i ˙ 18 Mögliche Gründe diskutiert Sholeh Quinn, Historical Writing during the Reign of Shah ʿAbbas. Ideology, Imitation and Legitimacy in Safavid Chronicles, Salt Lake City 2000, 28f. 19 Zur indo-persischen Historiographie aus der Zeit des Sultanats von Delhi vgl. Stephan Conermann, Indo-Persische Chronistik, in: Gerhard Wolf/Norbert H. Ott (edd.), Handbuch. Chroniken des Mittelalters, Berlin/Boston 2016, 951–988. 20 Bezüglich der Zwecklosigkeit entsprechend starrer Klassifizierungen siehe Charles Melville, Persian Local Histories. Views from the Wings, in: Iranian Studies 33/1,2 (2000), 7–14. 21 Die heute noch existenten Manuskripte des ›Ta¯gˇ al-maʾas¯ır‹ enden im Jahr 1217. Sir Henry ¯ Elliot nutzte noch im vergangenen Jahrhundert eine Version, die bis 1229 fortgeführt worden sein soll. Leider ist dieses Manuskript verschollen und es liegen unglücklicherweise außer

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Na¯sirı¯‹ zugleich den einzig vorhandenen historischen Bezug für ebendiese his˙ torische Erzählung dar. Die diesbezüglichen Probleme liegen auf der Hand. Wählt man hingegen einen literaturwissenschaftlichen Zugang, treten die historischen Bezüge etwa zugunsten der intertextuellen in den Hintergrund. Angesichts der höchst problematischen Quellenlage erscheint dieser Weg zumindest bislang als der gangbarere.

2.

Inhalt und thematische Schwerpunkte des Textes

Beim ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ handelt es sich um eine Universalgeschichte, die de facto ˙ ˙ jedoch auf die islamische Welt beschränkt ist, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf deren östlichem Teil liegt, den Regionen des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Nordindiens. Die Darstellung umfasst 23 Kapitel und beginnt bei Adam, den Propheten des Alten Testaments, den Vorfahren Muhammads ˙ (Kapitel 1) sowie den vier Rechtgeleiteten Kalifen des sunnitischen Islams und den Anhängern Muhammads (Kapitel 2) einerseits und den vorislamischen ˙ Herrschern des alten Iran (Kapitel 5) andererseits.22 Sie endet zu Lebzeiten des ˇ u¯zgˇa¯nı¯ die Verfassers im Jahr 1259/60. In den übrigen 20 Kapiteln behandelt G Geschichte der Kalifate der Umaiyaden (Kapitel 3) und Abbasiden (Kapitel 4) sowie der verschiedenen regionalen und überregionalen Herrscherhäuser der östlichen islamischen Welt. Bereits ab Kapitel 7 verengt sich die Erzählung zunehmend auf die Herrscher des östlichen iranischen sowie des afghanischen Hochlandes (Ausnahmen bilden etwa Teile des Kapitels 12 zu den Ru¯m-Seldschuken West- und Zentralanatoliens sowie das Kapitel 15 zu den kurdischen Herrschern Syriens), aus denen auch die Eliten des Sultanats von Delhi zu überwiegenden Teilen stammen. Ab dem Ende des Kapitels 19 schließlich läuft ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Erzählung, auch dies ist ein Charakteristikum persischer UniversalG geschichten, auf die Familie seines Patrons Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h und damit ˙ ˙ den nordindischen Raum zu. Mit deren Darstellung und einer Schilderung der mongolischen Feldzüge in Nordindien schließt die Erzählung. Rein quantitativ machen die späteren Kapitel einen Großteil des Textes aus.

einer sehr kurzen Zusammenfassung davon in Elliots Werk selbst keine weiteren Informationen darüber vor. Siehe für die inhaltliche Zusammenfassung Henry M. Elliot/John Dowson, The History of India as Told by Its Own Historians. The Muhammadan Period, 8 Bde., Bd. 2, London 1869, 240–242. Siehe zudem Jackson 1999, 8, Anm. 10. 22 Bezüglich dieser in der persischen Historiographie nicht unüblichen chronologischen Ordnung sowie der ihr zugrundeliegenden Zeitstränge siehe Shahzad Bashir, On Islamic Time. Rethinking Chronology in the Historiography of Muslim Societies, in: History and Theory 53 (2014), 519–544, hier 531–535.

Das Ideal eines Herrschers

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ˇ u¯zgˇa¯nı¯, auch dies ist nicht unüblich, auf TheThematisch beschränkt sich G men, die für ein höfisches Umfeld relevant sind, insbesondere solche aus dem politisch-militärischen Bereich. Zudem lässt sich ein besonderes Interesse an Namen und Personen erkennen, von denen das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ deutlich mehr ˙ ˙ enthält als vergleichbare Texte der persischen Tradition. In diesem Zusammenhang wird meist auf das 22. Kapitel verwiesen, welches zahlreiche Biographien hoher Mitglieder der Eliten der Sˇamsı¯-Sultane enthält. Ob persönliches Interesse des Schreibers für diese thematische Schwerpunktsetzung verantwortlich zeichnet oder schlicht Aspekte des älteren arabischen Genres der Biographiensammlungen Eingang in sein Werk gefunden haben, ist bislang nicht untersucht.

3.

Eine ausgewählte Textstelle

Kontext: Die ausgewählte Textstelle befindet sich am Ende dieses 22. Kapitels. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ im 21. Kapitel chronologisch die Sˇamsı¯-Sultane Delhis Zuvor beschreibt G ˇ von Iltutmis bis Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h, der zur Zeit der Abfassung des Werks ˙ ˙ amtiert. Im 22. Kapitel folgen dann die Einzeldarstellungen bestimmter politischer Würdenträger. Am Ende dieses Kapitels steht als letzter Eintrag die Darstellung eines Mannes namens Ulug˙ Ha¯n. Dieser tritt ungefähr sechs Jahre, ˘ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ seine Chronik fertiggestellt nachdem G hat, die Nachfolge Na¯sir ad-Dı¯ns ˙ an und etabliert unter seinem Regierungsnamen G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban (reg. 1266– ¯ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ hat neben der Patronage 1287) die Herrschaft seiner eigenen Familie. G ˙ Na¯sir ad-Dı¯ns auch die Patronage Giya¯s ad-Dı¯n Balbans genossen, dementspre¯ ˙ chend bildet dessen Beschreibung den mit Abstand längsten Einzelartikel der kompletten Chronik. Der im Folgenden vorgestellte Text ist der ungekürzte Anfang der Darstellung Balbans in eigener Übersetzung.23

23 Bei der hier wiedergegebenen Edition handelt es sich um einen digitalisierten und zur Verˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯, ed. einfachung leicht bearbeiteten Auszug aus: Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ ˙ ʿAbd al-Haiy Habı¯bı¯, 2 Bde., Bd. 2, Kabul 1964, 47–51. ˙ ˙

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25: Der große ha¯qa¯n24 (der größte ha¯n25 Balban), ˘ ˘ ˙ Ha¯n, [der der Glanz des Rechts und Glaubens, Ulug ˘ Sklave] des Sultans Der große ha¯qa¯n, Ulug˙, der größte der ha¯ne, stammte ˘ ˘ aus dem Geschlecht der als Ilbarı¯ bekannten ha¯ne. Der ˘ Vater Sˇ¯ır Ha¯ns und der Vater des Sultans26 hatten die ˘ gleiche Mutter und den gleichen Vater. Der Vater dieser beiden stammte von den Ilbarı¯-ha¯nen ab, die ˘ etwa 10.000 Haushalte anführten – 48 –

– 48 –

und deren Verwandtschaft zu den Ilbarı¯s Turkista¯ns ist unter den Turk-Stämmen wohlbekannt. Zu dieser Zeit hatten die Söhne seines [Ulug˙ Ha¯ns] Onkels noch immer einen großen Namen unter˘ jenen Stämmen. Diese Begebenheit ist [uns] von Kurı¯t Ha¯n Sangˇar ˘ zugetragen worden, Gott erbarme sich seiner.

24 »Oberster Herrscher«, ein ursprünglich von den spätantiken chinesischen Rouran durch die Turkstämme übernommener Titel, der im Falle des hier auszugsweise übersetzten Textes in der Hierarchie noch über dem ha¯n steht. Siehe Gerhard Doerfer, Türkische und mongo˘ unter besonderer Berücksichtigung älterer neupersischer lische Elemente im Neupersischen Geschichtsquellen vor allem der Mongolen- und Timuridenzeit (Veröffentlichungen der orientalischen Kommission 20), 4 Bde., Bd. 3, Wiesbaden 1967, 141–179. 25 »Herrscher, Herr«, Bezeichnung von dem Herrscher untergeordneten Machthabern. Im Falle des Delhisultanates folgt dem Sultan in der Hierarchie in der Regel der han, dem sowohl der ˘ der Eliten tragen malik als auch der amı¯r untergeordnet sind. Die wichtigsten Angehörigen diesen Titel. Dazu siehe Doerfer 1967, Bd. 3, 141–179. 26 In früheren Handschriften findet sich hier statt »Sultan« der korrekte Name »Ulug˙ Ha¯n«. ˘ In späteren Abschriften, auf denen auch die Edition basiert, die hier in Vereinfachung wiedergegeben wird, findet sich jedoch »Sultan«. Diese Vorwegnahme der späteren Entwicklungen dürfte durch Kopisten vorgenommen worden sein, denen bekannt war, dass Ulug˙ Ha¯n schließlich als G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban zum Sultan wurde. Die in der erzählten Welt ¯ ˘ anachronistische Nutzung von Titeln eines späteren Amtsträgers ist typisch für die persische Historiographie: Auch Ulug˙ Ha¯n wird schon in der Beschreibung seiner Jugend als ha¯n betitelt, obwohl er diesen Rang˘erst am Ende seiner im Text beschriebenen Laufbahn ˘erreicht. Aus späterer Perspektive ist seine Betitelung als Sultan also konsequent. 27 Dieser Titel taucht in verschiedenen Kontexten auf und kann unterschiedliche Bedeutungen haben. In frühen Texten bezeichnet ein hwa¯gˇa zumeist einen Gelehrten oder Lehrer, oft auch Händler oder Minister. Er wird auch für˘– meist führende – Angehörige der Verwaltung eines Reiches verwendet. Auch Schriftsteller und andere Angehörige der geistigen Elite können als hwa¯gˇa bezeichnet werden. ˘ 28 Der letzte Bestandteil des Namens, die nisba, bezeichnet die Herkunft einer Person. Der ›Basrı¯‹ kommt dem Namen nach also aus Basra im Gebiet des heutigen Irak. ˙ ˙ 29 1232/33 n. Chr. 30 Der Terminus bezeichnet einen persönlichen Diener/Assistenten des Sultans. 31 Damit ist der für das Militär als Kammerherr verantwortliche Offizier des Sultanats gemeint, der die Truppen des Sultans im Kampf kommandierte.

359

Das Ideal eines Herrschers

Was den Willen des erhabenen Gottes betraf, die Beständigkeit des Islams und die Macht der muhammadanischen Religion zu schützen, in den Tagen˙ des Weltendes einen Schatten des Schutzes auszuwerfen und Hindu¯sta¯n in der Sphäre seiner Gunst und seines Schutzes zu bewahren, so riss er Ulug˙ Ha¯n während seiner Jugend aus Turkista¯n fort. Mittels˘ der mongolischen Eroberungen jener Gebiete trennte er ihn von Stamm und Familie, von Volk und Verwandtschaft, um ihn nach Bagdad zu bringen und danach von ˇ ama¯l ad-Dı¯n Basrı¯28, Bagdad nach Gugˇara¯t. Hwa¯gˇa27 G ˙ ˘ möge er in Frieden ruhen, der für seine Frömmigkeit, Redlichkeit und Würde sowie für sein Pflichtbewusstsein bekannt war, kaufte ihn und zog ihn wie einen Sohn in den Hallen seiner Barmherzigkeit auf. Als sich auf seiner gesegneten Stirn die Anzeichen der Reife und Erhabenheit hell leuchtend zeigten und weil er ˇ ama¯l ad-Dı¯n] ihm sehr gewogen war und ihn [G besonders schätzte, brachte er ihn in den Monaten des Jahres 630 [h. q.]29 nach Delhi. Zu jener Zeit wurde der herrscherliche Thron mit dem königlichen Glanz des erhabenen Sultans Sˇams ad-Dunya¯ wa-d-Dı¯n [Iltutmisˇ] geschmückt, möge er in Frieden ruhen. Zusammen mit einigen anderen Türken wurde er [Ulug˙ Ha¯n] vor den Sultan gebracht. Als der gesegnete ˘ erhabenen Sultans auf ihn fiel, da wurden Blick des alle anderen Türken aufgrund seiner Erhabenheit weiterverkauft. Er [ jedoch] wurde für den Dienst vor dem Thron für fähig befunden und als der Glanz der Glückseligkeit und das Licht der Wonne auf seiner Stirn offenbar wurden, da machte er [der Sultan] ihn zum ha¯sa-da¯r30. Er hatte sozusagen den Adler des ˘ ˙auf seine Hand gesetzt und das bedeutete, Reiches dass er [durch ihn] die Feinde des Reiches in der Zeit seiner Nachkommenschaft von Gewalt und Ungerechtigkeit abhalten konnte. Und so kam es [auch], sodass der Glanz der Herrschaft der Sˇamsı¯s vom Horizont herableuchtete. In jenem Amt diente er weiter. Durch den himmlischen Willen fand er seinen Bruder Kasˇlı¯ Ha¯n, den amı¯r-i ha¯gˇib31, wieder. Aufgrund dessen ˘Auftauchens war˙ er hocherfreut und wurde davon sehr gestärkt. Als die Führung des Reiches an Sultan Rukn ad-Dı¯n

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– 49 –

– 49 – überging, verließ er die Hauptstadt inmitten der Türken in Richtung Hindu¯sta¯n.32 Als die Türken wieder herbeigeholt wurden, kam auch er als Teil ihres Regiments zurück in die Stadt. Er wurde für einige Tage eingekerkert und sein gesegnetes Gesicht war von Unglück gezeichnet. Der Sinn dieser Begebenheit könnte darin gelegen haben, – Gott weiß es am besten – dass er das Maß der Qualen der Notleidenden erleben konnte, damit er, sobald er zu Macht und Befehlsgewalt käme, eben jener Gruppe Barmherzigkeit entgegenbringen könne und damit ihn Dank für die Gabe der Herrschaft erfüllen würde.

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Anekdote Man sagt, dass es [einmal] einen König gab, der auf dem Gipfel der Herrschaft und dem Höhepunkt [seiner] Regierungszeit angelangt war. Er hatte einen Sohn von äußerster Schönheit und höchstem Scharfsinn, großer Reife des Geistes und reinster Unverdorbenheit. Der König gab den Befehl, dass man, wo auch immer es weise, kluge, gelehrte und vollkommene Personen gebe, diese zum Zwecke der Ausbildung jenes Sohnes zusammenbringe. Einen von diesen Vollkommenen, der in allen Belangen der Gelehrsamkeit und des Wissens und in allen Kategorien des Verstands und der Kenntnisse allen anderen überlegen war, wählte er aus und übertrug ihm die Verantwortung für die Ausbildung des eigenen Trostes der Augen [seines Sohnes]. Er befahl: »Es ist erforderlich, dass dieser Junge sich durch deine Erläuterungen und Einflößungen, deine Ausbildung und Bestärkung mit allen Wahrheiten über die Religion, die Feinheiten der Macht und die Geheimnisse des Verstands, den Schätzen der Tradition, den Verpflichtungen der Herrschaft, den Wegen des Glücks, dem Umgang mit den Angelegenheiten der Untertanen und den Regeln der Rechtsprechung vertraut macht sowie über die Strömungen und Wirrungen all jener [Bereiche] Informationen erhält!«

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32 Dies steht im Zusammenhang mit einer politischen Affäre innerhalb der Eliten Delhis, in deren Rahmen es zur zeitweisen Verbannung einiger Personen kommt. Auch Ulug˙ Ha¯n ist ˘ von dieser Aktion betroffen.

361

Das Ideal eines Herrschers

Jener Vollkommene senkte sein Gesicht in Einverständnis und Verbeugung zu Boden und machte sich an die Arbeit. Als die Zeit der Ausbildung zu Ende ging, ging die Saat der Unterweisung auf und jener Sohn, der die Frucht des königlichen Baumes war, erreichte in allen Belangen die höchsten Sphären. Der König wurde vom Zustand der Vollkommenheit seines Sohnes unterrichtet und befahl: »Jener Lehrmeister soll sich morgen früh im Sultanspalast einfinden. Den Prinzen soll er auch mitbringen, damit er all die Kenntnisse, die er erwarb, aufgereiht wie an einer Perlenkette darlegen kann und zwar so, dass allen, den Eliten wie auch dem einfachen Volk, die Vollkommenheit des Verstandes, die Schönheit des Wissens, die hohen Sphären der Intelligenz und die wahre Natur der Geschicke meines Sohnes offenbar werden und dass sie davon erleuchtet werden!« Als dieser Befehl ausgegeben wurde, da erbat sich jener Lehrmeister als Gefälligkeit vom König einen Aufschub von drei Tagen.

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– 50 – Als er die Einwilligung erhielt, sattelte er am Beginn des [folgenden] Tages ein Pferd und nahm den Prinzen auf einen Streifzug außerhalb der Stadt mit. Als er die besiedelten Orte hinter sich gelassen hatte, ließ er den Prinzen zu Fuß gehen und vor seinem kanternden Pferd einige farsang33 voranlaufen, bis der anmutige Körper des Prinzen von den außerordentlichen Strapazen des Laufens zu Fuße schwer gezeichnet war. Dann brachte er ihn in die Stadt zurück. Am zweiten Tag kam er in den Unterrichtsraum und befahl dem Prinzen: »Steh auf und bleib stehen!« Und so ließ er ihn den ganzen Tag lang stehen, sodass dem zarten Körper des Prinzen viele Strapazen zuteilwurden. Am dritten Tag kam er in den Unterrichtsraum und befahl [allen], jenen Ort zu räumen. Er fesselte den Königssohn an Händen und Füßen und schlug ihn mehr als 100 Mal mit dem Stock. Von den harten Schlägen und bedingt durch die Anzahl der Stockhiebe trug dieser an allen Gliedern Verletzungen davon. So gefesselt ließ er ihn zurück, rezitierte schnell einen Vers und verschwand. Als einige Diener jener Situation gewahr wurden, befreiten sie den Königssohn von seinen Fesseln. Sie suchten nach dem Lehrmeister, [doch]

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33 Ein traditionelles iranisches Längenmaß, das einen nicht klar zu bestimmenden Teil der Distanz angibt, die eine Person an einem Tag marschieren kann. Angaben über das genaue Maß eines farsang variieren in unterschiedlichen Quellen. Im Mittel dürfte es einer Distanz von etwa vier bis sechs Kilometern entsprechen.

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fanden ihn nicht. So wurden sie einer Audienz beim Herrscher würdig und er befahl ihnen, dass man ihm den Sohn vorstellig mache und in allen Fachgebieten befrage. Man befand, dass es keine größere Perfektion in [allen] Fähigkeiten geben könnte, als die seine. Dazu bemerkte der Herrscher: »Der Lehrmeister hat bei der Ausbildung, der Wissensvermittlung und dem zur Vollkommenheit Führen [seines] Schülers mit der Hilfe des Schöpfers kein einziges Detail vernachlässigt. Es wäre interessant zu erfahren, was der Grund für jene Schläge und Peinigungen war – und welchen Anlass zur Flucht er hatte!« So befahl er [seinen Bediensteten] und sie zeigten großen Eifer bei der Suche. Nach einiger Zeit, nachdem ein langer Zeitraum [vergangen war], fanden sie ihn und brachten ihn vor den Herrscher. Dieser erwies ihm an seiner Pforte große Ehrerbietung und Hochachtung und erkundigte sich nach dem Grund jenes langen Laufens am ersten Tag, des Stehens am zweiten Tag und der zahlreichen Schläge am dritten Tag sowie nach dem Anlass der [anschließenden] Flucht. Der Lehrmeister senkte sein Gesicht dienstbeflissen zu Boden und antwortete: »Möge Eure Herrschaft ewig andauern! Dem erhabenen Gemüt wird es bestimmt sein, dass dem Machthaber die Umstände der Begünstigten wie auch der Erbitterten bekannt sein müssen, damit er [in allem], was

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– 51 –

– 51 – er befiehlt, das passende Maß einhält und niemals, egal ob in Zufriedenheit oder im Zorn, vom rechten Maß abweicht. [Dein] Sklave [der Lehrmeister] wollte den Prinzen mit der Situation der Unterdrückten und Gefangenen, jenen Menschen, die zu Fuß vor dem Pferd laufen [müssen], jenen, die stehenbleiben sollen, jenen, die eine Strafe verdienen und öffentlich bestraft werden, vertraut machen, damit [er weiß], welches Leid er ihrem Körper und ihrem Verstand zuteilwerden lässt, wenn er seinen königlichen Zorn [auf sie] lenkt. Wenn ihm [nur] ein wenig von der Qual und der Belastung jener Strapazen bekannt ist, dann ist jenes, was er an Schlägen, Strafen, Laufen und [dauerhaftem] Stehen verhängt, in einem [für die Betroffenen noch] zu ertragenden Ausmaß. Was den Grund für jene [meine] Flucht und das Verschwinden betrifft, so war es Besorgnis vor euren Hochwürden. Der zarte Körper des Prinzen hatte [Leid] erfahren müssen und es durfte [nun] nicht passieren, dass jener [Prinz] väterliches Mitleid des Herrschers erfährt,

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Das Ideal eines Herrschers

der dem Sklaven in Vergeltung jener Handlungen [womöglich] eine Lektion erteilt hätte, womit [aber alle] Mühen des Sklaven vergeblich gewesen wären.« Diese Anekdote passt zum Fall des erhabenen Ulug˙ Hans, möge er für immer herrschen, und auf das ˘ Ausmaß der Qualen, die ihm zuteilwurden, als er inmitten der Türken in die Stadt [Delhi] zurückgebracht wurde, sodass er, als er es zu Amt und Würden und zur Vizeregentschaft des Sultanats gebracht hatte, den Umständen der Armen gewahr werden [konnte] und über die Schwierigkeiten der Unterdrückten Bescheid wusste. Möge der Allmächtige Gnade und Gerechtigkeit zum Begleiter all seiner Taten, Worte und Umstände machen! Wir sind [nun] zum Vorhaben zurückgekehrt, die Geschichte zu erzählen: Als die Herrschaft an Sultan Raz˙¯ıya überging […]

4.

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Kommentar der Textstelle

Die meisten der in den Kapiteln 19 bis 21 zu findenden Unterabschnitte, die sich jeweils mit einer bestimmten Person beschäftigen, sind vergleichsweise kurz. Im Gegensatz dazu ist der vorliegende Textausschnitt nur ein kleiner Auszug aus ˇ u¯zgˇa¯nı¯ hier also dem mit Abstand längsten Unterabschnitt des Texts. Obwohl G sehr viel ausführlicher berichtet als sonst, weist auch dieser Abschnitt eine für das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ typische Textstruktur auf. Untypisch ist in diesem Fall lediglich ˙ ˙ die ausführliche Anekdote. Diese dient offenkundig der Relativierung einer Schwäche beziehungsweise einer nicht dem Ideal entsprechenden Handlung Ulug˙ Ha¯ns, als sich dieser während der Regierungszeit Rukn ad-Dı¯ns den op˘ ponierenden Eliten anschließt. Diese unterliegen zunächst und müssen Delhi ˇ u¯zgˇa¯nı¯s zufolge verlassen. Bei seiner Rückkehr wird Ulug˙ Ha¯n dem Bericht G ˘ schließlich für einige Zeit inhaftiert. Die Strategie, die Schilderung dieser Umstände in Form eines didaktischen Narrativs unter Verwendung einer Anekdote umzusetzen, ist einer von mehreren Gründen für den im Vergleich zu anderen Personenberichten großen Umfang des Unterabschnitts zu Ulug˙ Ha¯n. Rein ˘ quantitativ betrachtet hat das System: Insbesondere die Abschnitte zu den Personen, deren Legitimation nicht mittels der gängigen Muster erfolgen kann und die entsprechend in ein positiveres Licht gerückt werden müssen, sind durchgängig umfangreicher. Trotzdem folgen auch diese Artikel einem Muster, das sich durch alle Abschnitte zieht: Ein Artikel beginnt mit einer Nummerierung sowie der Nennung eines möglichst vollständigen Namens der beschriebenen Person, inklusive aller

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ˇ u¯zgˇa¯nı¯ die Titel, die dieser zugeschrieben werden. Unmittelbar danach erläutert G Herkunft der entsprechenden Person. Dies hat eine zentrale Bedeutung für die Legitimation sowohl eines Sultans als auch weiterer Angehöriger der politischen und militärischen Eliten Delhis, denn sie erfolgt in der Frühphase des Sultanats unter anderem über die genealogische Abstammung von den türkischstämmigen Gruppen Zentralasiens. Die Zuordnung zu einer dieser Gruppen grenzt die vergleichsweise kleine Schicht der Einwanderer und ihrer Nachfahren im ethnisch sehr viel komplexeren Indien des dreizehnten Jahrhunderts klar vom Rest der Bevölkerung ab und definiert ihren Status als Elite zu einem beträchtlichen Teil.34 Im Anschluss an die Beschreibung der Herkunft schließt sich zumeist ein Lob an, in dem die besonders positiven Eigenschaften der jeweiligen Person ˇ u¯zgˇa¯nı¯, wie andere Exponenten hervorgehoben werden. Jedoch beschreibt auch G der persischen historiographischen Tradition es ebenfalls tun, eher idealtypisch als individuell. In der Zusammenschau mit anderen Abschnitten scheinen die Eigenschaften, die den beschriebenen Personen zugeschrieben werden, etwa in Abhängigkeit zu Position oder Amt und Herkunft zu stehen. Recht systematisch ˇ u¯zgˇa¯nı¯ regelmäßig verwendet, ergeben sich somit ›Sets‹ an Eigenschaften, die G sodass auch das Lob letztlich als Teil einer legitimierenden Textfunktion verstanden werden kann. Diesem Lob folgt eine Schilderung der Karriere der beschriebenen Person an den Höfen der unterschiedlichen Machthaber, die zumeist nach den Regierungsperioden der Sultane geordnet ist und oft lange Zeiträume eher kursorisch behandelt, um dann ausführlicher über Einzelereignisse zu berichten, die meistens der Bekräftigung einer präsentierten besonderen Qualität der beschriebenen Person dienen. Teil dieser Schilderungen sind immer auch die konkreten Amtsbezeichnungen von übernommenen Funktionen. Anekdoten jedoch finden sich lediglich bei einigen wenigen Personen besonderer Bedeutung oder bei im Grunde nicht legitimen Herrschafts- beziehungsweise Machtübergängen. Nur im Falle Ulug˙ Ha¯ns ist eine solche so um˘ fassend und durch eine eigene Zwischenüberschrift formal vom Rest der Erzählung abgesetzt, wie es im vorliegenden Textbeispiel der Fall ist. Wie für eine Chronik üblich, erfolgt die Beschreibung der meisten Personen im ›Tabaqa¯t-i ˙ Na¯sirı¯‹ retrospektiv. Dementsprechend schließen die meisten Artikel mit einer ˙ Schilderung der Todesumstände und im Falle von Sultanen der Angabe der Dauer ihrer Herrschaft. Lediglich im Falle des amtierenden Sultans Na¯sir ad-Dı¯n, ˙ 34 Dazu siehe unter anderen Jackson 1999, insbesondere 41–43, 61–82; Sunil Kumar, The Emergence of the Delhi Sultanate. 1192–1286, Ranikhet 2007, insbesondere 46–188; Ders., The Ignored Elites. Turks, Mongols, and a Persian Secretarial Class in the Early Delhi Sultanate, in: Modern Asian Studies 43,1 (2009), 45–77 und Ders., Trans-regional Contacts and Relationships. Turks, Mongols, and the Delhi Sultanate in the Thirteenth and Fourteenth Centuries, in: Ismail K. Poonawala (ed.), Turks in the Indian Subcontinent, Central and West Asia. The Turkish Presence in the Islamic World, New Delhi 2017, 161–190.

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bei Ulug˙ Ha¯n sowie einigen weiteren maliks, die zur Abfassungszeit des ˘ ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ noch am Leben sind, schließen die Kapitel ohne diese Angabe. ˙ ˙ Die Abschnitte Na¯sir ad-Dı¯ns und Ulug˙ Ha¯ns sind mit Abstand am umfang˙ ˘ reichsten und stechen in dieser Hinsicht zusammen mit nur wenigen anderen Artikeln (u. a. zu Iltutmisˇ) heraus. Ulug˙ Ha¯n nimmt jedoch in beiden Ab˘ schnitten eine sehr umfassende Rolle ein und wird als nahezu perfekter Herrscher, gleichzeitig aber auch ergebener Diener des Sultans dargestellt. Circa sechs Jahre nach der Fertigstellung des ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ tritt er – rein dynastisch ˙ ˙ betrachtet – die ›illegitime‹ Nachfolge Na¯sir ad-Dı¯ns an und gründet unter sei˙ nem Regierungsnamen G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban (1266–1287) seine eigene Dynastie. ¯ Dies stellt einen unüblichen Fall der Herrscherfolge in der bisherigen Geschichte des noch jungen Delhisultanats dar: Nach dem Tod des ersten Sultans Iltutmisˇ werden dessen Nachkommen als Marionettensultane durch die übermächtigen Eliten des Hofes nahezu nach Belieben ein- und abgesetzt. Dies betrifft neben Na¯sir ad-Dı¯n als fünftem Nachfolger seines Vaters auch alle zuvor eingesetzten ˙ Söhne und eine Tochter.35 Die eigentliche Macht liegt in dieser Periode sehr oft bei Personen aus den Rängen unterhalb des Sultans, den Eliten des Reiches. Vor Ulug˙ Ha¯n griffen diese jedoch nie erfolgreich selbst nach der Macht. Ulug˙ Ha¯n ˘ ˘ hingegen kommt als Militärsklave36 an den Hof Iltutmisˇ’ und gelangt unter Na¯sir ˙ ad-Dı¯n schließlich an die Position des Vizeregenten des Reiches – offiziell wird er ˇ u¯zgˇa¯nı¯ als Na¯sir ad-Dı¯ns wichtigster Minister, Berater und Schwiegervater von G ˙ dargestellt. Es darf jedoch als gesichert gelten, dass er bereits zur Abfassungszeit ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Text der eigentliche Machthaber des Sultanats ist. Er hat sich zu von G dieser Zeit bereits aller innenpolitischer Feinde entledigt und sein Machtanspruch scheint – zumindest aus der Retrospektive – unanfechtbar. Des Weiteren 35 Dies sind: Rukn ad-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯h (r. 1236), Raz˙¯ıya (r. 1236–1240), Muʿizz ad-Dı¯n Bahra¯m Sˇa¯h (r. 1240–1242) und ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Masʿu¯d Sˇa¯h (r. 1242–1246). 36 ›Sklave‹ meint in diesem Zusammenhang Militärsklave (mamlu¯k/g˙ula¯m). Aus Gründen der Loyalitätssicherung wurden durch die Herrschaftsträger zumeist junge Männer aus entfernten Regionen Zentralasiens oder des Kaukasus an den Haushalt eines Herrschers geholt, zum Übertritt zum Islam angehalten oder gezwungen und umfassend militärisch und politisch ausgebildet, um anschließend im Apparat des Herrschers als Amtsträger eingesetzt zu werden. Zwischen Herrscher und Sklave bestand zumeist ein enges Abhängigkeitsverhältnis. Speziell zur Bedeutung dieses Systems für das Sultanat von Delhi siehe unter anderen: Gavin R. G. Hambly, Who Were the Chihilga¯nı¯, the Forty Slaves of Sulta¯n Shams al-Dı¯n Iltutmish of Delhi?, in: Iran 10 (1972), 57–62; Peter Jackson, The Mamlu¯k˙ Institution in Early Muslim India, in: Journal of the Royal Asiatic Society 2 (1990), 340–358; Sunil Kumar, When Slaves Were Nobles. The Shamsî Bandagân in the Early Delhi Sultanate, in: Studies in History 10,1 (1994), 23–52; Ders., Service, Status, and Military Slavery in the Delhi Sultanate. Thirteenth and Fourteenth Centuries, in: Indrani Chatterjee/Richard M. Eaton (edd.), Slavery & South Asian History, Indiana 2006, 83–114 und Ders., Bandagı¯ and Naukarı¯. Studying Transitions in Political Culture and Service under the North Indian Sultanates, Thirteenth– Sixteenth Centuries, in: Francesca Orsini/Samira Sheikh (edd.), After Timur Left. Culture and Circulation in Fifteenth-Century North India, New Delhi 2014, 60–108.

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ˇ u¯zgˇa¯nı¯s. Seine äußerst poist er noch vor Na¯sir ad-Dı¯n der wichtigste Patron G ˙ sitive Darstellung im ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ überrascht demnach nicht.37 ˙ ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ offenbar, mögliche Schwächen Auch aus diesen Gründen versucht G Ulug˙ Ha¯ns durch den Einbau literarischer Elemente zu kompensieren. Die ein˘ gangs erwähnte Situation während der Regierungszeit Rukn ad-Dı¯ns erklärt er mittels der obigen Anekdote, die er sehr deutlich rahmt: »Der Sinn dieser Begebenheit könnte darin gelegen haben, – Gott weiß es am besten – dass er das Maß der Qualen der Notleidenden erleben konnte, damit er, sobald er zu Macht und Befehlsgewalt käme, eben jener Gruppe Barmherzigkeit entgegenbringen könne und damit ihn Dank für die Gabe der Herrschaft erfüllen würde.«

[Hier folgt die obige Anekdote.] »Diese Anekdote passt zum Fall des erhabenen Ulug˙ Ha¯ns, möge er für immer herr˘ schen, und auf das Ausmaß der Qualen, die ihm zuteilwurden, als er inmitten der Türken in die Stadt [Delhi] zurückgebracht wurde, sodass er, als er es zu Amt und Würden und zur Vizeregentschaft des Sultanats gebracht hatte, den Umständen der Armen gewahr werden [konnte] und über die Schwierigkeiten der Unterdrückten Bescheid wusste. Möge der Allmächtige Gnade und Gerechtigkeit zum Begleiter all seiner Taten, Worte und Umstände machen! Wir sind [nun] zum Vorhaben zurückgekehrt, die Geschichte zu erzählen. Als die Herrschaft an Sultan Raz˙¯ıya überging […].«

Das innerhalb der Anekdote erkennbare didaktische Narrativ wird somit unmittelbar für die Relativierung der nicht dem Ideal entsprechenden Eigenschaften Ulug˙ Ha¯ns nutzbar gemacht. Die Teilnahme an einer Revolte und auch ˘ der dahinterstehende Hang zur Machtbesessenheit passen ebenso wenig in ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Darstellung wie die Tatsache, dass der dem Sultan ergebene Diener G einst aus der Hauptstadt verbannt worden ist und später im Gefängnis saß. Da diese Umstände jedoch zumindest einigen Zeitgenossen, die man zu den möglichen Rezipienten des ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ wird zählen müssen, in Erinnerung ˙ ˇ ˙u¯zgˇa¯nı¯ der Anekdote und des rahmenden geblieben sein dürften, scheint es für G Analogieschlusses auf Ulug˙ Ha¯n zu bedürfen, um den Geschehnissen eine po˘ sitive Konnotation zu geben. Weiterhin wird Ulug˙ Ha¯n auf diese Weise mit der ˘ Figur des in der Anekdote dargestellten Königssohns verknüpft, der als Inbegriff des perfekten Herrschers dargestellt wird und der dank seiner Ausbildung und Erfahrungen nicht nur alle herrscherlichen Qualitäten besitzt, sondern auch das Schicksal der Untergebenen, Elite wie Volk, im Blick hat und immer das rechte Maß hält. 37 Zu Balban und seiner besonderen Darstellung im ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ siehe ferner Florian ˙ ˙ ¯ s al-Dı¯n Balban in the Saalfeld, How to Herald a Future Ruler. The Depiction of Ghiya ¯ Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯’ of Minha¯j al-Dı¯n Ju¯zja¯nı¯, in: Tilmann Trausch (ed.), Norm, Normabwei˙ ˙ chung und Praxis des Herrschaftsübergangs in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 3), Göttingen 2019, 63–103.

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Abschließend ist noch der religiöse Aspekt von Relevanz: Die Anekdote selbst beinhaltet nahezu keine religiösen Bezüge, sondern hebt auf ein Königsideal ab, das vor allem der vorislamisch-iranischen Tradition entstammt. Dazu passend wird im Textbeispiel – noch vor der Anekdote – zudem die Einhaltung der dynastischen Erbfolge wie auch die wichtige Rolle der Idoneität bei der Legitimation eines Herrschers thematisiert. Beides sind typische Elemente der persischen Erzähltradition. Dem gegenüber steht der religiöse Aspekt, der die absolute Frömmigkeit und Rechtgläubigkeit des Herrschers sowie seine Befähigung zum Schutz des Islams und der Gemeinschaft der Gläubigen betont. Dieser wird, wenig überraschend, nicht in der Anekdote selbst beleuchtet, sondern findet sich bereits in der Einleitung des Abschnitts zu Ulug˙ Ha¯n: Göttlicher Wille und ˘ Vorhersehung werden gleich nach der Erläuterung seiner Herkunft angeführt, um aufzuzeigen, dass die Entwicklung Ulug˙ Ha¯ns von Beginn an darauf ausgelegt ˘ gewesen ist, ihn in die höchsten Ämter zu führen. Die Verknüpfung beider Aspekte ist notwendig, um einen möglichen Herrscher innerhalb der Eliten Delhis legitimieren zu können.

5.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt

Als eine der wenigen Schriftquellen, die über die frühe Sultanatszeit berichtet, ist ˇ u¯zgˇa¯nı¯s ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ für das Teilprojekt von zentraler Relevanz, zumal es G ˙ ˙ für die Zeit nach 1217 die einzig bekannte Textquelle darstellt. Als solche ist das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ schon häufig auf seine historischen Bezüge hin untersucht ˙ ˙ worden, und Darstellungen zur Geschichte des Delhisultanats fußen in weiten Teilen auf der enthaltenen historischen Erzählung.38 Diesen Erkenntnissen wird mangels weiterer Quellen wenig hinzuzufügen sein – gewinnbringender scheint hier ein literaturwissenschaftlicher Zugang zu sein, denn schon der vergleichsˇ u¯zgˇa¯nı¯s Text zeigt, welche Erkenntnisse gewonnen weise kurze Auszug aus G werden können, wenn man den Hof des Sultans als Interaktions- und Kommunikationsraum verschiedener Protagonisten versteht, die im wechselseitigen Kontakt stehen und ihre Wahrnehmungen und Motivationen im Rückgriff auf diskursive Traditionen und Strategien in Texten verarbeiten. Spuren dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen geben uns fern von universalen historischen ›Wahrheiten‹ Einblick in Prozesse, die Teil der Entwicklung des Sultanats sind. Letztlich lassen sich so auch Rückschlüsse auf die mögliche Zusammensetzung der Elite des Sultanats ziehen, an die sich das ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ richtet. ˙ ˙ 38 Siehe zuletzt insbesondere Fouzia Farooq Ahmed, Muslim Rule in Medieval India. Power and Religion in the Delhi Sultanate (Library of Islamic Law 8), London/New York 2016, 59–97.

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Florian Saalfeld / Tilmann Trausch

ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Text beispielsweise die LegitimationsAuf diese Weise werden aus G faktoren ersichtlich, die innerhalb dieser vorerst nicht näher zu bestimmenden Machtelite von Relevanz gewesen sein dürften. Neben der Konstruktion einer entsprechenden Genealogie und Idoneität eines Herrschers spielt auch dessen Rechtgläubigkeit eine Rolle, wobei jedoch beide Aspekte unterschiedlich in die Erzählungen eingeflochten werden. Die damit einhergehenden Idealvorstellungen eines legitimen und fähigen Herrschers speisen sich somit gleichermaßen aus iranischer und islamischer Erzähltradition. Im Vergleich zu späteren Texten, die im weitesten Sinne als historiographisch verstanden werden können, ergeben sich hier interessante Vergleichsmöglichkeiten, die Aufschluss darüber geben, wie im Spannungsfeld von Kritik und Idealisierung insbesondere im Falle der Idealisierung verfahren wurde. Dessen ungeachtet ist jedoch auch der Umgang mit eigentlich kritikwürdigen Punkten einzelner Personen im ›Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯‹ von Bedeutung: Bis auf wenige ˙ ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ direkte Ausnahmen meidet G Formen der Kritik und bevorzugt es, im Sinne der Erzählung bei nahezu allen Charakteren entweder ganz über diese hinwegzugehen oder aber sie an wenig prominenter Stelle im fortlaufenden Text nur kurz zu erwähnen. Im Falle Ulug˙ Ha¯ns ergänzt er dieses Vorgehen um den ˘ Einsatz von narrativen Strategien (u. a. dem Einsatz von Anekdoten in didaktischen Rahmungen, siehe oben) zur Relativierung von Kritikpunkten oder gar zu deren Umformung in positive Aspekte. Der literarische Charakter des ›Tabaqa¯t-i ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ präsentiert eine historische Erzählung, Na¯sirı¯‹ wird hier offensichtlich: G ˙ die weniger der Faktentreue verpflichtet ist als der Intention, mit der Darstellung bestimmten Erwartungen an eine Person, die ein Amt ausfüllen soll, zu entsprechen. Wenngleich in einzelnen Werken unterschiedlich ausgeprägt, so ist auch dies ein Charakteristikum der persischen historiographischen Tradition,39 und so haben spätere historiographische Texte aus dem Sultanat eine vergleichbare Funktion, unterscheiden sich jedoch mitunter in den Motiven und Zugängen. Sie präsentieren beispielsweise Kritik sehr viel deutlicher und nutzen didaktische Narrative weitaus intensiver.40 Derlei Differenzierungen helfen mangels einer vorliegenden umfassenden indo-persischen Literaturgeschichte dabei, das Quellenmaterial präziser verorten zu können und Unterschiede wie 39 Siehe etwa Meisami 2000. 40 Ein Beispiel ist Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯s ›Ta¯rı¯h-i Fı¯ru¯z Sˇa¯hı¯‹, die in zwei verschiedenen Fassungen ˘ Diese Fassungen unterscheiden sich in ihrer in verschiedenen Handschriften vorliegt. Struktur und auch im Ton der Kritik voneinander. Die erste Fassung liegt lediglich in einer (pseudo-)Faksimileedition vor: Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯, Ta¯rı¯h-i Fı¯ru¯z Sˇa¯hı¯, ed. Azizuddin ˘ Husain, Rampur 2013. Die zweite Fassung liegt in wenig zufriedenstellenden Editionen und einer wissenschaftlich nur eingeschränkt nutzbaren englischen Übersetzung vor: Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯, Ta¯rı¯h-i Fı¯ru¯z Sˇa¯hı¯, ed. Saiyid A. Ha¯n (Bibliotheca Indica), Kalkutta 1862 (ND ˘ Ta¯rı¯h-i Fı¯ru¯z Sˇa¯hı¯, ed. ˘Sˇaih ʿAbd ar-Rasˇ¯ıd, Aligarh 1957; Ders., Aligarh 2005); Ders., ˘ Delhi 2015. Tarikh-i Firoz Shahi, übers.˘v. Ishtiyaq A. Zilli, New

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auch Gemeinsamkeiten zur ›klassischen‹ persischen Historiographie klarer bestimmen zu können. Letztlich ist hiermit auch der weiteren Unterscheidung von Textsorten innerhalb der persischen Historiographie gedient, da die genannten Texte trotz ihrer Unterschiede bisher schlicht als ›Chroniken‹ eingeordnet werden.

Quellenverzeichnis Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯, Ta¯rı¯h-i Fı¯ru¯z Sˇa¯hı¯, ed. Saiyid A. Ha¯n (Bibliotheca Indica), Kalkutta ˘ ˘ 1862 (ND Aligarh 2005). Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯, Ta¯rı¯h-i Fı¯ru¯z Sˇa¯hı¯, ed. Sˇaih ʿAbd ar-Rasˇ¯ıd, Aligarh 1957. ˘ ˘ Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯, Ta¯rı¯h-i Fı¯ru¯z Sˇa¯hı¯, ed. Azizuddin Husain, Rampur 2013. ˘ Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯, Tarikh-i Firoz Shahi, übers. v. Ishtiyaq A. Zilli, New Delhi 2015. ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯, Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ ˙ Ms. Chanykov 68, 181 fol. ˇ Minha¯gˇ ad-Dı¯n Gu¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯, ed. William Nassau Lees (Bibliotheca Indica), ˙ ˙ Kalkutta 1864. ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaka¯t-i-Na¯sirı¯. A General History of the Muhammadan DyMinha¯gˇ ad-Dı¯n G ¨ ˙ ˙ nasties of Asia, Including Hindustan. From A.H. 194 (810 A.D.) to A.H. 658 (1260 A.D) and the Irruption of the Infidel Mughals into Islam, übers. v. Henry G. Raverty, 2 Bde., Kalkutta 1881 (ND New Delhi 1970). ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i Na¯sirı¯, ed. ʿAbd al-Haiy Habı¯bı¯, 2 Bde., Kabul 1963/64. Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ ˙ ˙ ˙

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Konrad Klaus / Theresa Wilke

König Cakravarman (reg. 923–933, 935 und 936–937): Held in der Schlacht – Versager auf dem Thron

Teilprojekt ›Königsherrschaft im mittelalterlichen Kaschmir, dargestellt nach der ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ des Kalhana‹ (Leitung: Prof. Dr. Konrad Klaus, Indologie) ˙ ˙

1.

Der Text: Die ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ des Kalhana ˙ ˙

Bei dem Wort ra¯jatarangin¯ı- f., mit dem der dem Teilprojekt zugrunde liegende ˙ ˙ Quellentext betitelt ist, handelt es sich um ein aus den beiden Gliedern ra¯ja° (< ra¯jan- m. »König«) und °taran˙gin¯ı (< taran˙gin¯ı- f. »Fluss, Strom«) zusam˙ ˙ mengesetztes Kompositum, das mit »Strom der Könige« übersetzt werden kann. Dabei sind mit den Königen konkret die Könige gemeint, die seit grauer Vorzeit bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts über das im äußersten Nordwesten Indiens gelegene Kaschmirtal geherrscht haben. taran˙gin¯ı- f. »Fluss, Strom« bedeutet ganz wörtlich: ˙ »die durch Wellen [taran˙ga- m. »Welle, Woge«] Charakterisierte«, und die Verwendung dieses Wortes, anstelle etwa von nadı¯- f. oder sarit- f., beide ebenfalls »Fluss, Strom«, dürfte auf jeden Fall mit Bedacht erfolgt sein. Abgesehen davon, dass taran˙ga- m. »Welle, Woge« auch als Bezeichnung der einzelnen Bücher oder Kapitel dient, in die die ›Ra¯jatarangin¯ı‹ eingeteilt ist, verweist der Titel nicht nur auf ˙ ˙ die Tatsache, dass in der Geschichte ein König auf den nächsten folgt, sondern auch auf die mal stärkere, mal schwächere Wellenbewegung, auf das stetige Auf und Ab in der Geschichte der Könige des Kaschmirtals, das in der ›Ra¯jatarangin¯ı‹ im ˙ ˙ Großen wie im Kleinen zur Darstellung kommt.1 Der Text wurde in S´rı¯nagara, der Hauptstadt des Königreichs Kaschmir, um die Mitte des 12. Jahrhunderts in sog. klassischem Sanskrit verfasst und wahrscheinlich 1150, spätestens 1151 n. Chr. zum Abschluss gebracht. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts sind von ihm insgesamt mehr als 30 Handschriften be1 Zu einer anderen Deutung des Titels vgl. Walter Slaje, ›In the Guise of Poetry‹ – Kalhana ˙ Reconsidered, in: Ders. (ed.), S´a¯stra¯rambha. Inquiries into the Preamble in Sanskrit (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes LXII), Wiesbaden 2008, 207–244, hier 231.

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Konrad Klaus / Theresa Wilke

kanntgeworden, von denen manche vollständig, andere nur fragmentarisch erhalten geblieben sind, manche den gesamten Text, andere nur Teile davon enthalten, manche heute noch erhalten, andere dagegen irgendwann nach dem Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens verschollen sind. Für die Rekonstruktion des Archetypus wirklich von Bedeutung sind allerdings nur drei, die üblicherweise mit den Sigeln A, L und M bezeichnet werden, wobei A und L heute verschollen sind und nur noch durch die Angaben in der Ausgabe und der Übersetzung von M. A. Stein dokumentiert werden.2 Die ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ ist von einem Mann namens Kalhana verfasst worden, ˙ ˙ einem Angehörigen des Brahmanenstandes, der zum Ende der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts hin als Poeta doctus in den literarischen Zirkeln S´rı¯nagaras aufgetreten und wahrscheinlich von hohen Würdenträgern am kaschmirischen Königshof gefördert worden ist. Nach allem, was wir wissen, stand er nicht als Dichter oder Gelehrter in Diensten des zu seiner Zeit regierenden Königs 141Jayasimha3 (reg. 1128–1155) und anders als sein Vater Canpaka ˙ ˙ spielte er auch keine politische Rolle am kaschmirischen Königshof. Was die Rezeption des Werkes betrifft, so ist davon auszugehen, dass Kalhana ˙ sich an alle gegenwärtigen und zukünftigen »Kenner« (sat)4 wendet, an die Connaisseure, die die Finessen eines Ka¯vya (siehe sogleich) zu würdigen wissen. Im Prolog des Werkes in der Strophe I, 24 spricht er diese direkt an und bittet sie, wörtlich übersetzt, »den ›Strom der Könige‹ durch die Höhlung der Ohrmuscheln zu trinken« (iyam nipı¯yata¯m ´srotras´uktiputaih […] ra¯jataran˙gin¯ı). ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ Die ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ ist der sog. Ka¯vya-Literatur zuzurechnen, d. h. der Lite˙ ratur im engeren Sinn, der ›schönen‹ Literatur, die den Anspruch erhebt, Kunst zu sein. Es ist nicht ganz einfach, in wenigen Sätzen zu erklären, worauf im vormodernen Indien ein solcher Anspruch gründen konnte. Im Hinblick auf das Verständnis des hier präsentierten Textauszugs erscheinen zwei Dinge besonders wichtig. Zunächst einmal muss eine sprachliche Äußerung nach indischer Auffassung auf irgendeine Weise »geschmückt« sein, um als Dichtung gelten zu können, wobei zwei Arten von »Schmuckstücken« (alamka¯ra) unterschieden ˙ werden, nämlich »Lautschmuckstücke« (s´abda¯lamka¯ra) wie beispielsweise ˙ Stabreime oder Wortspiele und »Sinnschmuckstücke« (artha¯lamka¯ra) wie Ver˙ 2 Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı or Chronicle of the Kings of Kashmir, ed. by Marc A. Stein., vol. 1: ˙ Text with Critical ˙ Sanskrit Notes, Bombay 1892; Marc A. Stein, Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı. A ˙ Chronicle of the Kings of Kas´mı¯r. Translated, With an Introduction, Commentary, and˙ Appendices, 2 vols., Westminster 1900. – Eine gute Übersicht über die Handschriften und Editionen der ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ bietet Bernhard Kölver, Textkritische und philologische Unter˙˙ gin¯ı des Kalhana (Verzeichnis der orientalischen Handschriften in suchungen zur Ra¯jataran ˙ 12), Wiesbaden ˙ Deutschland. Supplementband 1971, 13–78. 3 Die tiefgestellte Ziffer vor dem Namen eines Königs gibt an, welchen Platz er der ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ zufolge in der langen Reihe der kaschmirischen Könige einnimmt. ˙¯ jataran˙gin¯ı I, 6 und 8. 4 Vgl. Ra ˙

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gleiche, Metaphern, Hyperbeln und viele, viele andere. Darüber hinaus soll nach den zur Zeit Kalhanas gültigen Lehren der altindischen Poetik ein Werk der ˙ Dichtkunst im Rezipienten eine bestimmte Stimmung (rasa) evozieren – vorzugsweise eine erotische oder eine heroische –, die ihn entzückt und ihn gewissermaßen aus seinem Alltag heraushebt. Die in der ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ vorherr˙ schende Stimmung ist die seit etwa dem 8. oder 9. Jahrhundert besonders in Kaschmir geschätzte Stimmung des Beruhigtseins, des inneren Friedens (s´a¯ntarasa), die sich einstellt, wenn man die Kontingenz und die Flüchtigkeit des gesamten Weltgeschehens durchschaut und infolgedessen aufhört, irgendwelche Erwartungen an die Welt zu richten.5 Inwieweit Kalhana mit seinem Werk da˙ neben auch politische Absichten verfolgt hat, ist eine offene Frage. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hielten viele, vornehmlich westliche, Indologen es für ausgemacht, dass es in Indien kein historisches Bewusstsein gegeben habe, ehe dort zu Beginn des 2. Jahrtausends verstärkt islamischer Einfluss zur Geltung kam. Ablesbar schien dieser Sachverhalt vor allem an der Tatsache, dass es innerhalb der ansonsten überaus vielfältigen und reichhaltigen klassischen Sanskritliteratur kaum historiographische Werke gibt, die den antiken und mittelalterlichen europäischen vergleichbar sind. Vor diesem Hintergrund galt dann die ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ des Kalhana den einen als die große Ausnahme, die die Regel ˙ ˙ bestätigt, und den anderen als der unwiderlegbare Beweis dafür, dass vom Fehlen eines historischen Bewusstseins im alten Indien gar keine Rede sein kann. Heute stellt sich die Sachlage dagegen so dar, dass »the historicity of human existence was cognized, appropriated, and processed in traditional India as elsewhere. But this took place according to a special modality, and subject to categories, ideas, and constraints peculiar to traditional India, with the result that the ›historiographical‹ end-products often differ from what we encounter elsewhere in antiquity.«6 Vor diesem veränderten Hintergrund lässt sich die ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ literaturgeschicht˙ lich als dasjenige unter den Werken der indischen Geschichtsschreibung einordnen, das »mit einigem Abstand dem am nächsten kommt, was in der von abendländischen Vorstellungen geprägten Forschung als Historiographie gilt.«7 Anders als gelegentlich behauptet, überschreibt das historiographische Profil das dichterische keineswegs.8 Vielmehr weist die ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ eine Doppelnatur auf: In ihr ˙ 5 Vgl. dazu Konrad Klaus, Kalhanas ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹: ein indisches Pendant zur ›Kaiserchro˙ ˙ und Herrschaft. Die ›Kaiserchronik‹ im nik‹?, in: Elke Brüggen (ed.), Erzählen von Macht Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung (Macht und Herrschaft 5), Göttingen 2019, 133–160, hier 152–157, und die dort genannte Literatur. 6 Sheldon Pollock, zitiert nach Walter Slaje, Kaschmir im Mittelalter und die Quellen der Geschichtswissenschaft, in: Indo-Iranian Journal 48 (2005), 1–70, Zitat 3, Anm. 9. Vgl. auch ebd., 3f., und die weitere dort genannte Literatur. 7 Klaus 2019, 150. 8 Vgl. etwa Hermann Kulke, Indische Geschichte bis 1750 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 34), München 2005, 112, unter Verweis auf Christiane Schnellenbach, Geschichte

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erscheinen dichterische und historiographische, epische und chronikalische Elemente zu einer untrennbaren Einheit vermischt.

2.

Inhalt und thematische Schwerpunkte der ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ ˙

In der ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ wird in nicht ganz 8000 Strophen die Geschichte der ˙ Herrscher von Kaschmir von einer mythischen Anfangszeit an bis hin zur Abfassungszeit des Werkes erzählt. Insgesamt umfasst sie einen Zeitraum von fast 3600 Jahren, konkret die Zeit von – umgerechnet – 2448 v. Chr., dem Jahr der Weihe des ersten kaschmirischen Königs, bis 1149/50 n. Chr., dem Jahr, in dem Kalhana das Werk zum Abschluss gebracht hat. Im Text lassen sich deutlich zwei ˙ Teile voneinander unterscheiden, ein erster, vergangenheitshistorischer Teil, der gut ein Drittel, und ein zweiter, zeitgeschichtlicher Teil, der knapp zwei Drittel des Gesamtumfangs ausmacht. Der erste Teil, der die Strophen I, 48 bis VII, 229 umfasst und die Geschichte des Kaschmirtals bis zum Jahr 1063 n. Chr. behandelt, setzt sich im Wesentlichen aus einer langen Reihe von Herrscherporträts zusammen, die gleichermaßen auf diversen schriftlichen Quellen und mündlich überliefertem Erzählgut basieren und nach Art und Umfang sehr unterschiedlich ausfallen. Beim zweiten Teil, der die Strophen VII, 230 bis VIII, 3406 umfasst, handelt es sich dagegen um eine zusammenhängende, sich über die Jahre 1063 bis 1149 erstreckende, für indische Verhältnisse vergleichsweise realistische Darstellung der wichtigsten politischen Ereignisse in Kaschmir, die im Wesentlichen auf Augenzeugenberichten aus erster und zweiter Hand basieren dürfte und in die die Porträts der insgesamt neun in diesem Zeitraum regierenden Könige gewissermaßen eingewoben sind.9 Hervorzuheben ist darüber hinaus die Tatsache, dass Kalhana – anders als die ˙ Autoren anderer, etwa der in Indien weit verbreiteten panegyrischen Dichtungswerke – nicht nur von Königen erzählt, die in mustergültiger Weise die für das Königtum im vormodernen Indien geltenden Normen erfüllen,10 sondern als »Gegengeschichte«? Historiographie in Kalhanas Ra¯jataran˙gin¯ı (Edition Wissenschaft, ˙ Reihe Orientalistik 3), Marburg 1996 (Microfiche-Ausgabe): »[…]˙ zeigt sie, dass Kalhanas ˙ Kaschmir-Chronik entgegen indologisch-historischer Deutung […] allenfalls nominell der Ka¯vya-Kunstdichtung zuzuordnen ist.« 9 Bei den Strophen I, 1f., handelt es sich um zwei Segensstrophen (man˙gala), von denen die erste das gesamte Werk, die zweite das erste Buch eröffnet, bei den Strophen I, 3–47 um einen Prolog, in dem Kalhana u. a. das Anliegen erklärt, mit dem er die ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ verfasst hat, ˙ ˙ und seine Quellen vorstellt, bei den Strophen VIII, 3407–3448 um eine Art Abspann, in dem er alle Könige des Kaschmirtals noch einmal kurz Revue passieren lässt, und bei der Strophe VIII, 3449 um die Schlussstrophe des gesamten Werkes. 10 Eine Studie der Königsdarstellungen in den zahlreich erhaltenen Werken der auf Sanskrit verfassten epischen Kunstdichtung steht noch aus. Vgl. vorläufig Moriz Winternitz, Re-

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ebenso von scheiternden Königen, von solchen, die mit der ihnen durch ihre hervorgehobene Stellung zuwachsenden Verantwortung nicht zurechtkommen, von paranoiden Versagern, sexsüchtigen Verschwendern und grausamen Tyrannen. Neben ›Lichtgestalten‹ wie 108Avantivarman, der im Jahr 883 »geläuterten Geistes« (bha¯vita¯tman) sein Leben ausklingen lässt,11 nachdem er zuvor 28 Jahre lang die Erde wie der mythische König Ma¯ndha¯tr regiert und das goldene Zeit˙ alter (krtayuga) zurückgebracht hat,12 stehen Sadisten wie 118Unmatta¯vanti ˙ (reg. 937–939), »der irre Avanti(varman)«, »der allerniedrigste der Könige« (nrpa¯dhama), der schwangeren Frauen den Bauch aufschlitzen lässt, um sich den ˙ Fötus anzuschauen, und Arbeitern die Gliedmaßen ausreißen, um deren Festigkeit zu untersuchen. Und solchen Extremen nach beiden Seiten hin steht wiederum die große Mehrzahl der Herrscher gegenüber, bei denen Licht und Schatten in einem je eigenen Mischungsverhältnis miteinander verbunden sind. Dabei ist stets im Blick zu behalten, dass das Erzählen vergangener Ereignisse für Kalhana kein Selbstzweck ist, sondern er, wie bereits erwähnt, den Lesern ˙ seines Werkes am Beispiel des Schicksals der kaschmirischen Könige und der sie umgebenden Personen die Flüchtigkeit und die Kontingenz des Weltgeschehens vor Augen führen und sie zur Abkehr von der Welt bewegen will.

3.

Textauszug: ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ V, 306–41613 ˙

Im Verlauf der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts konnten sich auf der politischen Bühne des Kaschmirtals für etwa drei Jahrzehnte neben der königlichen Familie zwei weitere Gruppen von Akteuren etablieren, einerseits die Tantrins, eine gut organisierte Truppe (kula) von Fußsoldaten (pada¯ti),14 und andererseits eine Ministerriege um die beiden Brüder S´an˙karavardhana und 117S´ambhuvardhana. Nachdem die Hauptlinie der damals herrschenden Utpala-Dynastie ausgestorben war, setzten die Tantrins im Jahr 906 kurzerhand 113Pa¯rtha auf den Thron, einen zehnjährigen Knaben, der aus einer Nebenlinie des Königshauses stammte und der zunächst unter der Vormundschaft seines Vaters 114Nirjitavarman stand. In dem Maße, wie 113Pa¯rtha erwachsen wurde, kam es zu Strei-

11 12 13

14

zension zu Stein 1900, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 16 (1902), 405– 419, hier 405–408, und Schnellenbach 1996, 129–146. Vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı V, 125f. Vgl. Ra¯jataran˙gin˙ ¯ı V, 122. ˙ ˙ gin¯ı of Kalhana, ed., crit., and annotated … by Vishva Bandhu, Textausgabe: Ra¯jataran ˙ Übersetzung ˙ 2 pts., Hoshiarpur 1963–1965. von Konrad Klaus unter Einbeziehung der älteren Übersetzungen von Marc Aurel Stein (1900) und Ranjit Sitaram Pandit, Ra¯jataran˙gin¯ı, the ˙ ˙ skrta, Allahabad 1935 (Reprint Saga of the Kings of Kas´mı¯r. Translated from the Original Sam ˙ New Delhi 1968). Vgl. Stein 1900 (1), 219, Anm. zu V, 248.

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tigkeiten zwischen ihm und seinem Vater, die die Tantrins und die Minister für sich auszunutzen verstanden, indem sie sich von Vater und Sohn wechselseitig ihre Unterstützung abkaufen ließen und gleichzeitig von beiden ungehindert die Bevölkerung des Kaschmirtals ausplünderten. Im Jahr 921 gelang es schließlich ˙ gu) nannten, weil er die 114Nirjitavarman, den alle nur »den Fußkranken« (pan Tage im Bett verbrachte, nachdem er sich nachts Ausschweifungen hingegeben hatte, mithilfe der Tantrins, seinen Sohn 113Pa¯rtha endgültig zu vertreiben und selbst König zu werden. Allerdings starb er schon zwei Jahre später, nachdem er zuvor seinen noch minderjährigen Sohn 115Cakravarman, einen jüngeren Halbbruder 113Pa¯rthas, auf den Thron gesetzt hatte. Dieser stand dann zehn Jahre lang unter der Vormundschaft seiner Großmutter Ksillika¯, ehe die Tantrins im Jahr ˙ 933 auch ihn wieder vertrieben und an seiner Stelle seinen jüngeren Halbbruder ´ ¯ ravarman (I.) als König installierten, nur um bereits ein Jahr später den 116Su Thron erneut an 113Pa¯rtha zu verkaufen. Nachdem dieser sich während seiner zweiten Regierungszeit ebenfalls nur ein Jahr lang auf dem Thron gehalten hatte, verkauften die Tantrins das Königtum im Jahr 935 erneut an 115Cakravarman, jedoch musste dieser schon nach wenigen Monaten, als klar war, dass er die versprochenen Gelder an die Tantrins nicht bezahlen konnte, aus der Hauptstadt S´rı¯nagara in den südlichen Teil des Kaschmirtals fliehen. An dem Punkt hielt der Minister S´an˙karavardhana seine Zeit für gekommen und sandte seinen jüngeren Bruder 117S´ambhuvardhana zu den Tantrins, um mit ihnen in seinem Namen einen Preis für seine Thronbesteigung auszuhandeln. 117S´ambhuvardhana allerdings hinterging ihn und ließ sich im Zuge der Verhandlungen selbst zum König weihen. An dieser Stelle setzt das übersetzte Textstück ein. Beteiligte (nach der Reihenfolge ihres Auftritts): – 115Cakravarman: Siehe den vorherigen Abschnitt. – Samgra¯ma: ein Anführer innerhalb der Gruppe der Da¯maras, d. s. reiche ˙ ˙ Landbesitzer (»Barone«), die sich später, vor allem im 11. und 12. Jahrhundert, der Herrschaft der Könige in S´rı¯nagara weitgehend entziehen.15 – S´an˙karavardhana: Siehe den vorherigen Abschnitt. – 117S´ambhuvardhana: Siehe den vorherigen Abschnitt. – Bhu¯bhata: ein Parteigänger Cakravarmans. ˙ – Ran˙ga: ein fahrender Sänger aus der verachteten Kaste der Dombas. ˙ – Hamsı¯ und Na¯galata¯: zwei Töchter Ran˙gas, die in dessen Truppe als Tänze˙ rinnen auftreten.

15 Vgl. Stein 1900 (2), 304–308.

König Cakravarman: Held in der Schlacht – Versager auf dem Thron

306 bhrastas´rı¯´s Cakravarma¯tha ˙¯dhakkava¯sinah | nis´i S´˙rı ekada¯ D˙ a¯mara¯gryasya˙ Samgra¯˙masya¯vis´ad grham || 307 jña¯˙tva¯ ka¯ntivis´esena ˙ ˙ ˙ | ra¯ja¯nam sa krta¯ñjalih ˙ ˙ pranamya gra¯haya¯m˙ a¯sa sam˙bhrama¯n nijam a¯sanam || ˙ 308 ra¯jyabhram s´a¯divrtta¯ntam ˙ uktva¯ sa¯ha¯˙yaka¯rthinam | tam vipatpes´alam prahvo ˙ ˙ vicintyova ¯ ca Da¯marah || ˙ ˙ va¯ 309 Tantrina¯m va¯ trna¯na¯m ˙¯ gan ˙ ana˙¯ ˙rane ˙| ra¯jan ka ˙ tvatsevana¯rtham sa¯˙marthyam ˙ karmani ||˙ kasmin na mama ˙ 310 pra¯ptotsa¯hah punar nu¯nam ˙ yasi | asma¯n eva hanis ˙ ¯ram hi vismaranty upaka ˙ || krtaka¯rya¯ mahı¯bhujah ˙ ˙ 311 u¯rdhva ¯ rohe ya a¯lambahetur

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bhu¯bhrc chinatti tam | ˙ kutha¯rikas taruskandham ˙ iva¯dhogamanonmukhah || dhı¯dhairya¯diprakarsena˙ yenopakriyate nrpah˙ |˙ ˙ ˙ pra¯ptodayah sa tenaiva ˙ s´an˙kyam vetty upaka¯rinam || ˙ asmin sthite vipad abhu¯˙ d iti samcintya varjyate | ˙ parivrdhair a¯patmu¯dhaih ˙ ˙ galecchubhih ˙˙ ˙ sevako man || sampady a¯patsaha¯yasya ˙ ˙ topakriya¯ nrpa¯h | vismr ˙ prama¯daskhalitam ˙ ˙ madhye utpannam hrdi kurvate || ˙ ˙ ¯ saa¯maya¯rtiriputra ksuda¯dau drstavaikrta¯n | ˙ ˙ ˙ ˙¯bhayena labdhodaya ¯ ˙hrı ksma¯pa¯ ghnanty anuya¯yinah || ˙ ra¯˙jñah sato ’pi na¯´sva¯so ˙ yasyebhasyeva karnayoh | ˙ ˙ avis´uddhaprakrtayo ˙ ¯ iva || dhvananti madhupa divase samnidha¯nena ˙ a¯ prabhoh | pis´unapreran ˙ ¯ıva ˙ ¯ırsya¯luna¯ svairin ˙¯ryate || ˙ itum yadi pa raks ˙ ˙ ra¯jan rajanyupa¯dhya¯yo devı¯ yac chiksayed rahah | ˙ kartum˙ tatra praja¯garah asarvajñair na s´˙akyate ||

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Da trat 115Cakravarman, den das Glück (s´rı¯) verlassen hatte, gelegentlich bei Nacht in das Haus des Da¯maraführers Samgra¯ma, der in S´rı¯dhakka wohn˙ Nachdem dieser˙den König an seiner ˙ besonderen te. Ausstrahlung erkannt hatte, verneigte er sich mit zusammengelegten Handflächen [vor ihm] und ließ ihn beflissen auf seinem eigenen Sitz Platz nehmen. Nachdem [ jener] ihm die Geschichte vom Verlust der Königsherrschaft usw. erzählt hatte und er überlegt hatte, dass jener [nur] um Hilfe bat, weil die Not ihn gefügig gemacht hatte, verbeugte der Da¯mara sich ehrerbietig und sprach: »Sowohl Tan˙ trins als auch Grashalme: Was zählen [die schon] im Kampf, o König? [Und] bei welcher Unternehmung [wäre] ich nicht in der Lage, Dir zu Diensten zu sein? Jedoch wirst Du uns mit Sicherheit töten, [sobald] Du erreicht hast, was du dir vorgenommen hast. Denn Könige vergessen den [ihnen geleisteten] Beistand, [wenn] sie ihr Ziel erreicht haben. Was [für ihn] beim Aufstieg nach oben das Mittel war, woran [er sich] festgehalten hat, das schneidet der König ab, wie der Holzhauer den Ast des Baumes, wenn er dabei ist, [wieder] hinabzusteigen. Weil man einem König durch ein besonderes Maß an Klugheit, Mut usw. Beistand leistet, eben darum hält er, nachdem er den Aufstieg geschafft hat, den, der den Beistand geleistet hat, für jemanden, dem gegenüber er misstrauisch sein muss. Um ihr Glück besorgt, meiden törichte Herren den, der ihnen in der Not zu Diensten war, nachdem sie sich überlegt haben, dass [sie ja in] Schwierigkeiten waren, als er da war. Im Glück vergessen Könige den Beistand des Gefährten in der Not und erinnern sich an einen versehentlichen Fehltritt, der zwischenzeitlich vorgekommen ist. Nachdem ihnen der Aufstieg gelungen ist, töten Könige ihre [früheren] Gefährten aus Furcht vor Scham, weil diese ihre Veränderung im Fall von Krankheit, Leid, Furcht vor Feinden, Hunger usw. gesehen haben. Selbst in einen guten König [darf man] kein Vertrauen [haben], in dessen Ohren unredliche Minister wie Bienen [in die] eines jungen Elefanten summen. Wenn sie am Tag durch ihre Gegenwart die Verführung des Herrschers durch Zuträgerei zu verhüten vermögen wie ein Eifersüchtiger [die] seiner zur Untreue neigenden [Geliebten], [so] sind, o König, [Menschen,] die nicht allwissend sind, [doch] nicht in der Lage, darüber zu wachen, was sein nächtlicher Lehrmeister, die Königin, ihn im Geheimen lehren möchte.

380 319 kathañcid ahni hrdaye kus´alair vinives´ita¯˙ | s´iksa¯ gaurakhareneva ˙ ¯ visma¯ryate ˙nis´i || ra¯jña 320 na ke lobham samutpa¯dya ˙ ¯rghaya¯ | jihvaya¯ snigdhadı pipı¯laka¯ iva grasta¯h ˙ iva || ksma¯pa¯laih s´alyakair ˙ hantavyam 321 ja¯˙na¯ti hantum ˙ du¯ragam | a¯sannam na tu ˙ parah satyam eko bakah ˙ mahı˙¯patih ||˙ drohavrttir ˙ 322 na na¯ma kantaka¯kı¯rn˙ah ˙ ˙ yata¯m˙ nayet ˙ kautilyam laks | ˙ ˙ ˙ ˙ ka¯la¯peks¯ı ksitipatih s´arı¯ram ˙iva ˙ja¯hakah˙ || ˙ 323 namann api harir hanya ¯d a¯s´lisyann api pannagah | ˙ vihasann api veta¯lah ˙ ˙ || stuvann api mahı¯patih ˙ 324 adrohavrttya¯ tasma¯t tvam ˙ asma¯n sada¯ yadi ˙ | draksyasy ˙ sasainyas te tad eso ’ham ˙ pra¯tar eva purassarah || ˙ ˙ 325 tad a¯karnya¯bravı¯d ra¯ja¯ ˙ ¯ dharah | lajja¯smitasita ˙ raksya¯ sva¯tmeva yu¯yam sam ˙ ¯ rin˙ah ||˙ mama pu¯rvopaka ˙ ˙ 326 tato niksipya caranam ˙ ˙i | rakta¯kte˙ mesacarman ˙ ˙ anyonyam kos´am cakratur ˙ gau nrpaDa¯marau ˙|| sakhad ˙ khya˙ ghat˙ita¯sam 327 atha sam ˙ candaD˙a¯maraman d˙ alah | ˙˙ ˙ ˙ ¯tra¯˙ m Cakravarma ¯karod˙ ya ˙ || pratyu¯se nagaronmukhah 328 tasmin˙ ksane puraskrtya ˙ ˙ yoddhum˙ S´˙an˙karavardhanam | ˙ sita¯stamya¯m viniryayuh ˙ ˙ ˙¯ tayah ˙|| caitre Tantripada ˙

Konrad Klaus / Theresa Wilke

Die Lehre, die erfahrene [Leute] mit einiger Mühe am Tag in sein Herz prägen, [die] wird vom König wie von einem falben Wildesel16 in der Nacht [wieder] vergessen. Welche [Personen], wenn sie [einmal] ihre Gier geweckt hatten, sind nicht von Königen wie Termiten von Ameisenigeln mit ihrer langen klebrigen Zunge verschlungen worden? Ein Reiher versteht es, jemanden, den [er] töten will, zu töten, wenn er in der Nähe ist, nicht aber, wenn er in der Ferne weilt, ein König [dagegen auch] einen rechtschaffenen [Mann] in weiter Ferne, [dem er] feindselig gesinnt ist. Von Feinden umringt, dürfte ein König freilich den rechten Zeitpunkt abwarten und seine Hinterlist nicht sehen lassen, wie ein Igel seinen Körper [nicht sehen lässt]. Ein Löwe dürfte [sein Opfer] töten, auch wenn er sich [vor ihm] verneigt, eine Schlange, auch wenn sie [es] umarmt, ein Untoter, auch wenn er lacht, [und] ein König, auch wenn er lobt. Darum: Wenn Du uns [in Zukunft] stets ohne feindselige Gesinnung ansehen wirst, dann marschiere ich hier schon am Morgen mit meinen Truppen vor Dir her.« Nachdem er das gehört hatte, sagte der König, die Lippen weiß von einem verlegenen Lächeln: »Wie mich selbst werde ich Euch beschützen, die [Ihr] mir zuvor Beistand geleistet habt.« Nachdem sie daraufhin [ jeder einen] Fuß auf eine mit Blut beschmierte Widderhaut gesetzt hatten, reichten der König und der Da¯mara, mit ihren Schwertern versehen, einander ˙ den Becher mit dem Eidestrank. Da unternahm Cakravarman, einen Kreis von zahllosen grimmigen Da¯maras um sich geschart, bei ˙ Feldzug in Richtung auf die Tagesanbruch einen [Haupt]stadt [S´rı¯nagara]. Zum selben Zeitpunkt zogen am achten [Tag] der hellen [Hälfte] im [Monat] Caitra die Tantrin-Fußsoldaten mit S´an˙karavardhana an der Spitze [aus der Hauptstadt] aus, um [gegen ihn] zu kämpfen.17

16 Der Khur, die indische Variante des asiatischen Esels (Equus hemionus), gilt in Indien als Sinnbild der Geilheit. Die Strophe schließt damit inhaltlich an die vorhergehende an. 17 S´an˙karavardhana scheint sich danach ob des Verrats seines Bruders nicht lange gegrämt zu haben.

König Cakravarman: Held in der Schlacht – Versager auf dem Thron

329 ka¯la¯nuvrttipracchannam ˙ bha¯vanojjhitam ˙ | tesa¯m sam ˙ ˙ puraskartum sa˙tatvare ˙ Cakravarma¯ svavikramam || 330 atha pravrtte san˙gra¯me ˙ ghore Padmapura ¯d bahih | jagha¯na preritahayah ˙ ˙ pu¯rvam S´an˙karavardhanam || ˙ ¯ dhipe tatra 331 hate sena ´satadha¯ Tantriva¯hinı¯ | prayayau pavana¯gha¯taprerita¯ naur iva¯rnave || ˙ 332 prstha¯nusaranodyukto ˙ ¯harat | ˙ ˙ tesa¯m apa nr˙ pas ˙ ˙ gatim turagavegena s´irah˙s´renim tatha¯sina¯ || ˙ ˙ ˙ samare babhrur 333 bhramatah ˙ vı¯rapatta¯ñcalacchat a¯h | ˙ ˙ ˙ ˙ Cakravarmamrgendrasya ˙ sata¯patalavibhramam || ˙ ˙ 334 kim anyat pañcasa¯ny a¯san ˙ ˙ | sahasra¯ni rana¯n˙gane ˙ ˙ patita¯ni ksana¯d eva ˙ ˙ Tantrina¯m || hata¯na¯m tatra ˙ ˙ 335 Tantrino ranasamrambha˙ ¯ tale | paris´ra¯˙nta¯h ˙ksama grdhrapaks˙ akr˙ taccha¯ye ˙ ˙ s´a¯˙ yitas´ Cakravarman a¯ || ˙ ibhir ´ 336 visuddhavams´yair gun ˙ nihataih sam˙ s´ritaih samam | ˙ ˙ ˙ ´ abhu¯sayad vı¯rasayya¯m ˙ || s´u¯rah˙ S´an˙karavardhanah ˙ samhata¯ eva ˙ 337 udayam ˙¯ eva˙ ca ksayam | samhata ˙ ¯ntah sprhan˙¯ıyatvam praya ˙ na ˙ ¯ gaman ˙ || Tantrinah˙ kasya ˙¯ya˙¯ n adhrsya¯ms´ ca 338 ma¯nanı ˙ ˙ ¯patı ˙ ¯n | maha¯vams´ya¯n mahı ahı¯n iva ˙khilı¯krtya ˙ ane ksane || bhiksayantah ks ˙ ¯˙vrı˙¯da¯m ˙ krı¯daya ˙ ˙ 339 anayan ˙ ˙ ma¯dyanto jı¯vika¯krte | ˙ pra¯g a¯hitundika¯h ˙kru¯ra¯ ˙ ˙ ttayah ˙ iva ye garhyavr || 340 te Tantrinah ks˙ ana¯d ˙dagdha¯ ˙ ˙ a¯˙gnina ˙ ¯| gu¯dhavairavis ˙ ¯ nana¯vivignena ˙ vima Cakravarmamaha¯hina¯ ||

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Cakravarman hatte es eilig, seine eigene Tatkraft unter Beweis zu stellen, die [zuvor] den Zeitumständen entsprechend verborgen geblieben war und von der jene keine hohe Meinung hatten. Als außerhalb von Padmapura18 eine fürchterliche Schlacht begann, da trieb er sein Pferd an und tötete als ersten S´an˙karavardhana. Als ihr Anführer getötet war, lief das Heer der Tantrins dort hundertfach vorwärts wie ein Schiff auf dem Meer, das von Windstößen in Bewegung versetzt wird. Der König nahm sogleich die Verfolgung auf und schnitt ihnen mithilfe der Schnelligkeit seines Pferdes den Weg [und] desgleichen mit dem Schwert eine Menge von Köpfen ab. Während Cakravarman einem Löwen gleich im Kampf umherwirbelte, sah die Masse der Enden seines [um die Stirn gebundenen] Heldenbandes wie eine buschige Mähne aus. Was [geschah] sonst? Fünf- oder sechstausend gefallene Tantrins [lagen] dort schon nach einem Augenblick auf dem Schlachtfeld. Die vom Schlachtgetümmel erschöpften Tantrins ließ Cakravarman sich auf den Erdboden in den Schatten legen, den die Flügel der Geier warfen. Der tapfere S´an˙karavardhana schmückte das Lager der Helden, zusammen mit seinen erschlagenen Verbündeten, [alles] vorzügliche [Männer] aus reinen Familien. Wem erschienen die Tantrins nicht beneidenswert, die eng zusammenhaltend nach oben gekommen und eng zusammenhaltend untergegangen waren? Die Tantrins, die sich zuvor verwerflich wie grausame Schlangenbändiger verhalten hatten, indem sie Respekt verdienende, unnahbare, aus edlen Familien stammende Könige wie Schlangen ihrer Macht beraubt und sie – indem sie sie ein ums andere Mal zu Bettlern machten – sich an ihrem Spiel erfreuend um ihres Lebensunterhaltes willen beschämt hatten, die wurden [nun] von Cakravarman wie von einer großen Schlange, die durch die geringschätzige Behandlung [von ihrer Seite] aufgeregt war, nach einer Weile mit dem Feuer des Giftes verborgener Feindschaft verbrannt.

18 Padmapura liegt ungefähr 11 km südlich der Hauptstadt S´rı¯nagara.

382 341 atha dvitı¯ye divase bhagna¯na¯m api Tantrina¯m | vı¯rah samghatana¯m ya¯˙vad ˙ CHam ˙ ˙ ˙bhuvardhanah akaroc || ˙¯ manta˙ 342 ta¯van militasa sacivAIka¯n˙gala¯litah | sainyair na¯na¯patha¯˙ya¯tair nadadbhir vya¯ptadikpathah || ˙ 343 valgan madhye ’s´vava¯ra¯na¯m nrtyateva¯gryava¯jina¯ | ˙ ˙ ˙ ¯ n˙kenodvahaml lambam valga ´sirastram va¯mapa¯n˙ ina¯ || ˙ ˙ ˙ 344 sasvedetarahasta ¯ gravestanolla¯sanasprs´ah | ˙ ¯ rkasya ˙ ˙ ˙ gasya bimbita khad ˙ bha¯bhir dyotitakundalah || ˙˙ ˙ 345 kavacotsedhasamrabdhakantha¯ya¯sena ta¯˙myata¯ | ˙˙ baddhabhrukut ibandhena vadanena bhaya˙¯ vahah || 346 tarjayan krtahumka¯ra¯˙ ml ˙ ¯pan˙ a¯n | lunthaka¯m˙l lunthita ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ s´iroksisamjñaya¯ trasta-˙ ˙ ˙ tasa¯ntvanah || va¯stavyakr ˙ ´srutim bhindan ˙ 347 bherı¯ravaih ˙ arodhibhih ˙ paura¯´s¯ırghos | ˙´ ˙ ´obha¯n˙kas samgra¯majayas ˙ Cakravarma ¯vis´at puram || 348 tasmin simha¯sanam pra¯jyam ˙ a¯kra¯mati jayorjite |˙ ´ baddhva¯ kutascid a¯ninye BHu¯bhatah S´ambhuvardhanam ˙ ˙ ¯ t tam 349 ra¯jñah purasta ˙ ¯ tabhı¯mı¯liteks ˙ anam | s´astrapa ˙¯pas´ bhaktim pradars´ayan˙ pa Canda¯la˙ iva so ’vadhı¯t || ˙ ˙ ¯m dharmamarya¯da¯m 350 ujjhata ˙¯ m janakopama¯n | ˙ bhrtya¯na ˙ ˙ hantum narendra ¯n drohena ˙ ˙ pra¯rambhah ˙ ˙ S´ambhuvardhanah ˙

Konrad Klaus / Theresa Wilke

Da nun, am nächsten Tag, während der Held S´ambhuvardhana die Tantrins [um sich] versammelte, obwohl sie geschlagen waren, da zog Cakravarman in die [Haupt]stadt [S´rı¯nagara] ein, den Glanz des Sieges in der Schlacht als Kennzeichen tragend; von den versammelten Vasallenfürsten, Ministern und Eka¯n˙gas19 hofiert; mit seinen jubelnden Truppen, die auf verschiedenen Wegen herbeikamen, den Horizont erfüllend; inmitten der Pferdereiter auf einem gleichsam tanzenden vorzüglichen Hengst Sprünge vollführend; mit der linken Hand, in der er die Zügel hielt, den herabrutschenden Helm nach oben schiebend; Ohrringe [tragend], die durch die von seinem Schwert [ausgehenden] Lichtstrahlen blinkten, dessen [Griff] vom Umfassen mit den Fingern der verschwitzten anderen Hand erglänzte und in dessen [Klinge] sich die Sonne spiegelte; furchterregend durch sein Gesicht, das starr war durch die Ermüdung des wegen der Dicke des Panzers geschwollenen Nackens und auf dem sich ein Zusammenziehen der Augenbrauen zeigte; die Plünderer, die Läden geplündert hatten, in Schrecken versetzend, indem er sie hart anfuhr, und die verängstigten Einwohner durch ein Zeichen mit dem Kopf oder den Augen beruhigend; das Hören durch das Dröhnen der Trommeln, das sich dem Ertönen der Segensrufe der Städter entgegenstellte, zweiteilend. Während er durch den Sieg gestärkt auf dem großen Löwensitz (i. e. dem Thron) Platz nahm, brachte Bhu¯bhata von irgend˙ woher 117S´ambhuvardhana herbei, nachdem er ihn gefangen genommen hatte. Während dieser die Augen aus Furcht vor dem Schwerthieb geschlossen hatte, tötete ihn die Kanaille in Gegenwart des Königs wie ein Canda¯la,20 um seine Ergebenheit zu ˙ ˙indem sie die Grenze von Recht zeigen. Dass Diener, und Sitte aufgeben, Könige, die Vätern vergleichbar sind, in verräterischer Weise töten, das fing mit S´ambhuvardhana an.

19 Die Eka¯n˙gas bildeten eine militärisch organisierte Polizeitruppe, die häufig in Thronkämpfe verwickelt war, vgl. Stein 1900 (1), 219f., Anm. zu Ra¯jataran˙gin¯ı V, 249. ˙ Ständeordnung stehenden 20 Als Canda¯las wurden Angehörige von bestimmten, außerhalb der und als˙ ˙›unberührbar‹ geltenden Gruppen der Bevölkerung bezeichnet, die unter anderem auch als Henker fungierten, vgl. Stein 1900 (1), 164, Anm. zu Ra¯jataran˙gin¯ı IV, 475. ˙

König Cakravarman: Held in der Schlacht – Versager auf dem Thron

351 pra¯pya niskantakam ra¯jyam ˙ ˙ ˙ ˙pah krama Cakravarmanr ¯ t |˙ ˙ ˙ aja¯yata dhrtotseko nr´samsavis˙ amakriyah || ˙ ˙ ˙ ˙ 352 svavikramakatha ¯stotraromanthapriyata¯hrtah | ˙ ¯˙diso ’bhavad vitavandya ˙ ca¯tuka¯ravidheyadhı ¯h || ˙ ˙ ¯nam daivatam iva 353 a¯tma ˙ stutimohitacetasah | ˙ s tasya ja¯natah pra¯bhavam ˙ ˙ ¯ h || vivekavigun a¯h kriya ˙ ˙˙ ge Ram ˙ ga¯khyah 354 tasmin prasan prakhya¯to Dombaga¯˙yanah | ˙ ˙ vaides´iko ’bhavad ra¯jña¯ ˙ vitı¯rna¯vasaro bahih || ˙ ¯ n sacivasa¯manta ˙ ¯n 355 pra¯pta vinyasyanto yatha¯kramam | pratı¯ha¯ra¯ nrpasya¯gram ˙ anayanta viviktata ¯ m || 356 vibabhau dhavalosn¯ısa¯ ˙˙ ˙ ¯ | sabha¯ dı¯paprabhojjvala ´Sesas´ayyeva manibhih ˙ ˙ || ˙¯ loka¯ phanodbhavaih krta ˙ ˙ 357 krta¯varodhadhammilla-˙ ˙¯ la¯ndolanakelibhih | ma ˙ pradosapavanais´ cakre s´is´irair˙ ghra¯natarpanam || ˙ a¯na¯m ˙ 358 ja¯tagı¯tadidrks ˙ ˙ babhuh ˙ ˙ gava¯ksa¯valayo | ˙ ˙ a¯sava¯modibhir vaktrair avarodhamrgı¯drs´a¯m || ˙ ¯ ra359 ha¯rakan˙kan˙akeyu ˙´obhina¯ | pa¯riha¯rya¯dis svavrndena¯nuya¯to ’tha ˙´ad Dombaga¯yanah || pra¯vis ˙ ¯˙galata¯ ca¯sya ˙ 360 Hamsı¯ Na ˙ sute lalitalocane | cakratuh kautukodgrı¯va¯m sabha¯m˙citra¯rpita¯m iva ||˙ ˙

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Nachdem König Cakravarman schrittweise erreicht hatte, dass seine Herrschaft ohne Widersacher war, wurde er hochmütig und [beging] niederträchtige und gemeine Taten. Er liebte es, wenn man ihn immer wieder durch Erzählungen über seine Tatkraft pries, und davon eingenommen wurde er jemand, dessen Denken sich von Schranzen, Laudatoren und anderen Schmeichlern lenken ließ. Während er sich selbst für eine Gottheit hielt, weil sein Denken durch die Lobpreisungen verwirrt war, mehrten sich [bei ihm] Taten, denen es an Urteilskraft mangelte. Währenddessen erhielt ein berühmter Domba-Sänger, ein Ausländer mit Namen Ran˙ga,˙ vom König die Gelegenheit, [im] Außen[bezirk des Palastes ein Konzert zu geben].21 Während die Kammerdiener den eingetroffenen Ministern und Vasallenfürsten der Reihe nach die Plätze zuwiesen, ließen sie vor dem König einen freien Raum. Vom Schein der Öllampen erleuchtet, glänzte die Halle mit den weißen Kopfbinden [der männlichen Zuschauer] darin wie das Lager S´esas, das durch die Edelsteine erhellt wird, die an ˙ seinen Hauben hervortreten.22 Die kühle Abendbrise duftete angenehm, indem sie ihr Spiel mit den geflochtenen Haarkränzen der Haremsfrauen trieb, die sie hin und her schaukelte. Die Reihen der Rundfenster leuchteten durch die angenehm nach Likör riechenden Münder der gazellenäugigen Haremsmädchen, die das bevorstehende Konzert sehen wollten. Da trat der Domba-Sänger auf, gefolgt von seiner ˙ eigenen Gruppe, die prächtig geschmückt war mit Perlenketten, Armbändern, Schmuckreifen an Oberarmen und Handgelenken und so weiter. Hamsı¯ und Na¯galata¯, dessen beide schönäugige ˙ Töchter, ließen die in der Audienzhalle Anwesenden wie in einem Bild dargestellt vor Neugier [unverwandt] die Hälse recken.

21 Auch die Dombas waren aus der Sicht der Angehörigen höher stehender Kasten ›Unbe˙ h. Wesen, deren Berührung zu Verunreinigung führte und die rituelle Reinigung rührbare‹, d. des Betroffenen erforderlich machte, vgl. Mikael Aktor, Impurity and Purification: a¯´sauca, ´sauca, in: Patrick Olivelle/Donald. R. Davis (edd.), Hindu Law. A New History of Dharmas´a¯stra, New Delhi 2018, 220–235, hier 226. Wegen der Unberührbarkeit der Dombas fand ˙ das Konzert im äußeren Palastbereich statt. ´ 22 Sesa ist in der indischen Mythologie der Name eines vielköpfigen Schlangenwesens, das die ˙ trägt und während der Ruhephasen zwischen den aufeinanderfolgenden Weltperioden Erde der höchsten Gottheit Visnu als Lager dient. ˙˙

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Konrad Klaus / Theresa Wilke

[361–386: Während des Konzerts verliebte sich 115Cakravarman unsterblich in die beiden Mädchen, ließ sich mit ihnen ein, obwohl sie für ihn wegen ihrer Herkunft aus der Kaste der Dombas eigentlich hätten Tabu sein müssen, und verfiel ihnen ˙ schließlich völlig, als er ihre Liebeskünste kennen lernte.] 387 ra¯ga¯ndhena krta¯ Hamsı¯ ˙ ¯bhuja¯˙ | maha¯devı¯ mahı bheje ra¯javadhu¯madhye va¯lavyajanavı¯janam || 388 tasya¯ yair bhuktam ucchistam te yatha¯ Cakravarmanah |˙ ˙ ˙ nrpa¯ntara¯na¯m anyesa¯˙ m˙ ˙ abhu¯van ˙ sabha¯sadah ˙ apy || 389 mantrina¯m aksapatala- ˙ ˙ ˙ ¯dhika ˙ ¯ rada¯ | prakhyamukhya 390

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Hamsı¯, die der König, blind von leidenschaftlichem ˙ Begehren, zu seiner Hauptgemahlin machte, wurde

in der Mitte der Ehefrauen des Königs das Wedeln mit dem Yakschweifwedel zuteil. Die deren unreine Speisereste aßen, die wurden Mitglieder in den Ratsversammlungen anderer Könige, die folgten, wie [in derjenigen] Cakravarmans. Intrigenspiel beim Bedienen der Dombas verschaffte den Beratern die besten Ämter,˙ ähnlich dem [im] pravrddhihetuta¯m pra¯pa Aksapatala,23 und wurde [so] zur Ursache ihres ˙ ˙ ¯ || ˙ ˙ Dombasevanacakrika Aufstiegs. ˙ maurkhya¯t sacivata¯m kecic Einige Hundekocher24 übernahmen nicht selbst ein ˙ svayam | Ministeramt, weil sie [dazu zu] dumm waren, aber chvapa¯ka¯ na vyadhuh ˙¯ kecit tv akurvan nı¯tijña andere, die etwas von Politik verstanden, versahen ra¯jaka¯rya¯ni mantrivat || wie Berater die Geschäfte des Königs. mantrinas˙ taskara¯ ra¯jñı¯ Verbrecher als Berater, eine Hundekocherin als s´vapa¯kı¯˙ s´vapaca¯h priya¯h | Königin, Hundekocher als Günstlinge: Was gab es ˙ abhu˙¯ d kim na lokottaram nicht an Absonderlichem [an] König Cakravarmans ˙¯ pates´ Cakravarmanah || [Hof]? Die Hundekocherin gab ihre Kleider hin, die bhu rtusna¯ta¯rtava¯n˙ka¯ni ˙ ˙ nach dem Menstruationsbad mit dem Menstrualblut gekennzeichnet waren, [und] die Berater bes´˙ vapa¯kı¯ sva¯ms´uka¯ny ada¯t | ˙ pteccha¯ traten die Ratsversammlung mit dem stolzen tada¯ccha¯danadr ˙ ´an sabha¯m || Wunsch, sich damit zu bedecken. mantrinah pra¯vis kais´ cit˙ks˙itibhuja¯ vairam Einige wenige, die nicht die unreinen Speisereste an˙gı¯krtya¯˙pi tatksanam | der Hundekocher aßen, auch wenn sie [dadurch] ˙¯ s´i ´svapacocchis ˙ ˙ tam yair na sogleich die Feindschaft des Königs auf sich zogen, ˙ ˙ ¯h te ’bhu¯van somapaih ˙sama die wurden Somatrinkern gleich.25 ˙ ¯ vogra¯˙ mandale ’smin prabha Gewiss lebten damals in diesem Land hier keine ˙ ˙ ¯ nyavasan dhruvam | na deva Götter, die durch ihre Macht schrecklich waren. Wie tadves´ma¯ni tada¯ no cec hätte andernfalls die Hundekocherin deren Tempel chvapa¯kı¯ pra¯vis´et katham || betreten können?

23 Beim Aksapatala handelt es sich um eine Einrichtung, in der über die Einnahmen und Ausgaben˙ des˙Staates Buch geführt wurde, vgl. Stein 1900 (1), 223f., Anm. zu Ra¯jataran˙gin¯ı V, 301; Patrick Olivelle (ed.), A Sanskrit Dictionary of Law and Statecraft, Delhi 2015, 5, s. ˙v. aksapatala. ˙ ¯ ka, ˙ »Hundekocher«, ist eine von Kalhana des Öfteren verwendete abfällige Bezeichnung 24 S´vapa ˙ zu Ra¯jataran˙gin¯ı V, 218. für die Dombas, vgl. Stein 1900 (1), 216, Anm. ˙ häufig zu einer Gottheit 25 D. h. sie˙ genossen höchsten Respekt? Soma ist der Name eines hypostasierten Rauschtranks, dessen Herstellung, Opferung und Genuss insbesondere in der Frühzeit der indischen Religionsgeschichte Bestandteile mehrerer sehr elaborierter und für den Veranstalter kostspieliger Rituale waren. Zu Kalhanas Zeiten dürfte ein solches Ritual nur ˙ sehr prestigeträchtig gewesen sein. höchst selten stattgefunden haben und seine Ausrichtung

König Cakravarman: Held in der Schlacht – Versager auf dem Thron

395 ta¯m Ranasva¯minam drastum ˙ ¯ das ˙ ´y ahe gata ˙ ¯ m |˙ ˙ ˙ Tiladva sa¯mantebhyah sa¯bhima¯na¯ ˙ ¯ h param || na¯nvayur Da¯mara ˙ ˙ ¯ na¯m 396 ra¯jakautumbyadr pta ˙ ˙ ¯t | ˙ Domba¯na¯m nirgata¯ mukha ˙¯ jña¯m iva¯˙jña¯ durlan˙ghya¯ ra na kena¯py udalan˙ghyata || 397 ra¯jña¯ pradatte Ran˙ga¯ya Helugra¯me ’graha¯ravat | lilekha pattopa¯dhya¯yo na yada¯ da˙¯˙napattakam || ˙ ¯ 398 tada¯ksapatalam ˙gatva ˙ kopa ˙ ¯ t ˙tam abravı¯t | Ran˙gah Ran˙gah˙ sa Helu dinneti ˙ na likhyate˙ ˙|| da¯sı¯suta 399 lilekha so ’tha samtra¯sa¯d ˙ ran˙gabhru¯bhan˙gatarjitah | ko na ra¯jani durvrtte ˙ ˙ bhaven nı¯tivyatikramah || 400 antya¯gamanapa¯pasya ˙ pa¯pah prcchan sa niskrtim | ˙ ˙ vitair˙ha¯˙sya¯vaha¯ny eva ˙¯yas´citta¯ni ka¯ritah || pra 401 himenaiva himam s´a˙¯ myed duskrtenaiva dus˙krtam | ˙ ´isto vitair˙ evam ˙ so ˙’nus ˙ || ˙ ˙¯ marasa ˙ ¯rata¯m dadhat pa ´ ´ 402 pavitra¯sparsato ’sprsya¯˙ a¯ | spars´apa¯pam jihı¯rsun ˙ ˙ tena¯du¯syata viprasya˙ ˙ ¯ sopava¯sinah || yosin ma ˙ ˙ ’pi pa¯pino ’bhu¯van 403 tato ke ’pi tasmin ksane dvija¯h | ˙ ˙¯ ra¯n ye ˙ tasma¯d apy agraha jagrhur grhabhojinah || ˙ Cakramat ˙ 404 cakre ham ˙so ’pi ˙ ˙ pa¯pah Pa¯´supata¯s´rayam | ˙ hate ’rdhanispannam tasmin ˙ tadvadhu¯r yam ayojayat || ˙

385

Als sie am Tiladva¯das´¯ı-Tag26 ging, um [Visnu] ˙˙ Ranasva¯min zu sehen,27 folgten ihr von den Vasal˙ lenfürsten nur die Da¯maras nicht nach, die [noch] ˙ Selbstachtung besaßen. Über Befehle, die aus dem Mund der Dombas hervorkamen, die stolz auf ihre ˙ zur Königsfamilie waren, setzte sich Zugehörigkeit niemand hinweg, wie über diejenigen von Königen, über die man sich [nur] schwer hinwegsetzen kann. Als der Urkundenmeister, nachdem der König Ran˙ga das Dorf Helu wie ein Grundstück geschenkt hatte, nicht die Schenkungsurkunde schrieb, da ging Ran˙ga zum Aksapatala und sprach voller ˙ einer ˙ Zorn zu ihm: »Du Sohn Sklavin, [warum] schreibst du nicht: ›Helu wird Ran˙ga geschenkt.‹« Da schrieb jener aus Angst [die Urkunde] nieder, durch Ran˙gas Runzeln der Augenbrauen in Aufregung versetzt. Was dürfte es an Überschreitung des Anstands nicht geben, wenn der König sich schlecht beträgt? Als dieser böse [König] nach einer Tilgung des Bösen fragte, [das aus] dem Beischlaf mit einer Frau aus der niedrigsten Kaste [resultierte], da hießen ihn die Schranzen lächerliche Sühnungen vollziehen. »Wie man Schnee mit Schnee stillen möchte, ebenso eine Übeltat mit einer Übeltat.« So belehrten ihn die Schranzen, während er den Inbegriff eines Scheusals abgab. Weil er durch die Berührung eines Reinigers das Böse der Berührung von etwas, das nicht berührt werden darf, zu beseitigen wünschte, schändete er die Frau eines Brahmanen, der gerade einen Monat lang fastete. Zu der Zeit waren einige Brahmanen noch böser als er und nahmen, während sie in seinem Haus Speise aßen, selbst von ihm Landschenkungen entgegen. Auch dieser Böse erbaute als Stützpunkt für Pa¯´supata[-Asketen] den Cakramatha,28 den seine ˙ worden war, Ehefrau, nachdem er [selbst] getötet halb fertig in Gebrauch nehmen ließ.

26 Der Tiladva¯das´¯ı-Tag ist ein im Winter stattfindender Festtag, bei dem im Rahmen verschiedener Rituale Sesamkörner (tila) geopfert werden, vgl. Stein 1900 (1), 228, Anm. zu Ra¯jataran˙gin¯ı V, 395. 27 D. h. um den˙ Tempel zu besuchen, in dem Ranasva¯min verehrt wurde, eine Form des Gottes ˙ Visnu, die König 89Rana¯ditya und seine Gemahlin Rana¯rambha¯ unter von Legenden um˙ ˙ ˙ rankten Umständen gestiftet hatten, vgl. Ra¯jataran˙gin¯ı ˙III, 439–458. 28 Die Pa¯s´upatas waren eine spezielle Gruppierung von˙ Anhängern des Gottes S´iva. – Cakramatha bedeutet »das [von] Cakra[varman gestiftete] Kloster«. ˙

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405 pu¯rvopaka¯ra¯n vismrtya ˙ | Da¯mara¯n sa nira¯gasah ˙ patih s´vapaca¯ka¯mı¯ ˙ nr ˙´vasta ˙¯ m´s chadmana¯vadhı¯t || vis 406 hantum ˙vya¯jena vis´vasta¯h kecid D˙ a¯marataskara¯h | ˙ ˙ ˙ ˙ tasya¯ntike drohatasthus cchidra¯n ehahpratı¯ksinah || 407 s´vapa¯kı¯´sayana˙¯ va¯sa¯- ˙ ˙ ˙ sanna¯vaskaramandire | s´aucasthitam tam nis´s´astram te ra¯trau pra¯˙ pur ˙ekada¯ || ˙ 408 atha taih pra¯ptasamayair akasma¯t˙ tasya sarvatah | ksipram nyapa¯tyata¯´ses˙ a˙ s´a¯˙tas´astraparam para¯ ||˙ ˙ 409 suptas tata¯d dhrade bhrasta ˙ ˙˙ iva nidra¯laseks anah | ˙ ˙ ˙ prabuddhah s´astrapa¯taih sa ˙ ˙¯ n || vyamucad bhairava ¯n rava 410 nis´s´astrah s´astram anvisyan ˙ ksaratksatajanirjharah |˙ ˙ ˙ ˙ anudruto ’ribhir dha¯vañ chayya¯ves´ma vives´a tat || 411 apra¯ptahetim krandantya¯ ˙ ¯ n˙gakam | s´vapa¯kya¯lin˙gita tatkucotsan˙galagna¯n˙gam ˙ || jaghnus te ’nupravis´ya tam 412 svair eva prerita¯ da¯rais te tasya nrpateh kila | ˙ ¯ svairam mumu¯rsor˙ ja¯nunı ˙ s´ilaya¯ samacu ¯ rnayan || ˙ ˙ thasya 413 trayodas´a¯bde Jyais ˙ ˙ ¯ ksane | s´ukla¯stamya¯m ksapa ˙ ˙sa s´veva ˙ ˙ ¯˙vas´vapa¯˙kabhogyah ˙ skare taskarair hatah || ˙

4.

Nachdem er ihre früheren Dienste vergessen hatte, tötete dieser König, der Liebhaber einer Hundekocherin, Da¯maras, die sich nichts hatten zuschulden kommen˙ lassen und [ihm] vertrauten, mit Hinterlist. Um ihn hinterrücks zu töten, hielten sich einige verbrecherische Da¯maras, denen er vertraute, in ˙ warteten auf eine Gelegenheit seiner Nähe auf und für [ihren] Verrat. Einmal trafen sie ihn des Nachts unbewaffnet an, als er sich gerade auf der Toilette, die nahe bei dem Schlafgemach der Hundekocherin lag, reinigte. Da war ihre Zeit gekommen, [und] sie schlugen rasch [und für ihn] völlig überraschend von allen Seiten in ununterbrochener Folge mit all [ihren] scharfen Waffen auf ihn ein. Die Augen [noch] träge vom Schlaf, [doch] von den Streichen der Waffen erwacht, stieß er schreckliche Schreie aus, wie jemand, der im Schlaf vom Ufer in einen Teich gefallen ist. Unbewaffnet nach einer Waffe suchend, von Blut überströmt, rannte er [und] gelangte in das Schlafgemach, von den Feinden verfolgt. Sie drangen nach ihm ein und während die schreiende Hundekocherin seinen Körper umschlungen hielt und sein Kopf zwischen ihren Brüsten lag, töteten sie ihn, da er keine Waffe fand. Es heißt, sie hätten ohne jede Hemmung mit einem Stein die Knie des im Sterben liegenden Königs zerschmettert, von seinen eigenen Frauen aufgehetzt. [Zuvor lange] von den Hundekochern ausgenutzt, wurde er am achten [Tag] der hellen [Hälfte] des [Monats] Jyaistha im Jahr [40]1329 des nachts ˙ ˙ Verbrechern wie ein Hund auf der Toilette von getötet.

Interpretation des Textauszugs

Im Rahmen dieses Beitrags ist es nicht möglich, eine umfassende Interpretation des zuvor übersetzen Textabschnitts zu liefern, nur einige wenige Dinge können ins Licht gerückt werden. So ist zunächst einmal festzustellen, dass das Textbeispiel eine klare Gliederung aufweist. Zur Darstellung kommen am Anfang der Aufstieg 115Cakravarmans, dann seine Herrschaft und schließlich sein Untergang, wobei sich die Darstellungen des Aufstiegs und der Herrschaft 29 Das heißt nach unserer Zeitrechnung am 20. Mai des Jahres 937.

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jeweils noch weiter unterteilen lassen und jeweils einen längeren Exkurs enthalten. 1. Aufstieg (306–350) – Zusammentreffen und Bündnisschließung mit dem Da¯maraführer Sam˙ ˙ gra¯ma (306–326) – Exkurs: Die Undankbarkeit von Königen (310–323) – Schlacht gegen die Tantrins (327–340) – triumphaler Einzug in die Hauptstadt und Thronbesteigung (341–350) 2. Herrschaft (351–404) – allgemeine negative Charakterisierung der Herrschaft (351–353) – Konkretisierung der schlechten Herrschaft am Beispiel der von 115Cakravarman zu verantwortenden, zum Teil von ihm aktiv beförderten völligen Auflösung der sozialen Ordnung (354–402) – Aufstieg der Dombas (354–399) ˙ Exkurs: Die Verführungs- und Liebeskünste der beiden Domba-Mäd˙ chen (361–387) – Schändung der Brahmanenfrau (400–402) – Stiftungstätigkeit (403) – Bautätigkeit (404) 3. Untergang (405–413) Zu Beginn, in Strophe 306, ist 115Cakravarman an einem Tiefpunkt innerhalb seines insgesamt nur kurzen Lebens angelangt.30 Sein Herrscherglück hat ihn verlassen, er ist allein und muss bei Nacht in einem fremden Haus Unterschlupf suchen. Doch schon in Strophe 307 beginnt sich das Blatt für ihn zum Besseren zu wenden. Er findet in dem fremden Haus gastliche Aufnahme, und auch wenn sein Gastgeber zwischenzeitlich aus seiner Skepsis ihm gegenüber keinen Hehl macht und ihn in arge Verlegenheit bringt (325): Am Ende stehen sich 115Cakravarman und sein neuer Bündnispartner auf Augenhöhe gegenüber und schwören sich gegenseitige Treue (326). In den Strophen 327 und 328 sehen wir dann, wie die beiden Heere der Da¯maras und der Tantrins sich aufeinander zubewegen. Hier wird 115Cakravar˙ man noch als von den Truppen, die Samgra¯ma ihm zur Verfügung gestellt hat, ˙ umgeben dargestellt (327), doch von Strophe 329 an richtet sich der Fokus ganz auf ihn: Kalhana erzählt von der Schlacht so, als habe 115Cakravarman die Tan˙ trins ganz allein besiegt, vgl. insbesondere die schön ›geschmückte‹ Strophe 335

30

Cakravarman ist während seiner dritten Regierungszeit schätzungsweise 20, maximal 22 Jahre alt, möglicherweise auch jünger. 115

388

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und das sehr aufwendig gestaltete abschließende Strophentripel (tilaka, 338– 340). Die Darstellung des Aufstiegs 115Cakravarmans endet mit der Schilderung seines triumphalen Einzugs in S´rı¯nagara und seiner Thronbesteigung (341–350). Beide Ereignisse haben ihre Grundlage in dem Sieg, den er zuvor aufgrund seiner persönlichen Tatkraft und Tapferkeit (vikrama, 329) erlangt hat: Beim Einzug in die Stadt »[trägt er] den Glanz des Sieges in der Schlacht als Kennzeichen« (samgra¯majayas´obha¯n˙ka, 347) und den Thron besteigt er »durch den Sieg ge˙ stärkt« ( jayorjita, 348). Nur zwei Tage, nachdem er mittel- und hilflos in ein fremdes Haus eingetreten ist, befindet er sich auf dem absoluten Höhepunkt seiner Macht: Vasallenfürsten, Minister und Eka¯n˙gas, praktisch die gesamte Elite des Reiches hofiert ihn (342); es genügt ein scharfes Wort von ihm, um die Plünderer in seinen Reihen in die Schranken zu weisen, und ein Kopfnicken, um die verängstigten Bewohner der Stadt zu beruhigen (346). Aber schon in dem Moment, in dem er den Thron besteigt, deutet sich unvermittelt die soziale Unordnung an, die in der Folgezeit seine Herrschaft kennzeichnet, indem ein »Diener« (bhrtya) in seiner Gegenwart seinen Vorgänger 117S´ambhuvardhana ˙ tötet, um ihm, 115Cakravarman, als neuem Herrn seine Ergebenheit zu beweisen, und damit die Grenze von Recht und Sitte verletzt (349–350), auch wenn ´ 117Sambhuvardhana in den Augen Kalhanas eigentlich nicht legitimiert war, die ˙ Herrschaft auszuüben. Die Darstellung der Herrschaft 115Cakravarmans beginnt mit einer allgemeinen negativen Charakterisierung (351–353): Die praktisch uneingeschränkte Machtfülle, die er durch den Sieg in der Schlacht gegen die Tantrins und die anschließende Eliminierung sämtlicher Widersacher erwirbt, tut ihm nicht gut; er verfällt der Hybris und verliert das auf der Unterscheidung von gut und schlecht, von richtig und falsch beruhende Urteilsvermögen (viveka, 353). In der Folge kommt es zu einer völligen Auflösung der hergebrachten sozialen Ordnung, auf die näher einzugehen an dieser Stelle zu weit führen würde. Die abschließende Darstellung von 115Cakravarmans Untergang erfolgt in wenigen Strophen (405–413) unter deutlichem Rückbezug auf die Darstellung seines Aufstiegs. Was ihn ins Verderben stürzt, ist sein Verrat an den Da¯maras, ˙ gepaart mit seinem gerade erwähnten mangelnden Urteilsvermögen. In Strophe 405 vermerkt Kalhana zunächst mit der ihm eigenen lakonischen Kürze, dass ˙ ¯ ra), die ihm die Da¯maras bei seiner Rücker115Cakravarman die Dienste (upaka ˙ oberung des Throns geleistet hatten, vergisst (vismrtya < vi-√smr) und diese in ˙ ˙ betrügerischer Weise (chadmana¯), d. h. unter Brechung seines Schwurs, tötet (avadhı¯t < √vadh, Komplement zu √han). Damit bewahrheitet sich – sozusagen wortwörtlich – die Voraussage, die Samgra¯ma in Strophe 310 mit Bezug auf ihn ˙ gemacht hatte, dass er nämlich die Da¯maras töten werde (hanisyasi < √han), weil ˙ ˙ Könige die Hilfe (upaka¯ra), die man ihnen bei der Gewinnung des Throns ge-

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leistet hat, vergessen (vismaranti < vi-√smr), wenn sie erst einmal auf demselben ˙ sitzen. Auch hierbei kommt 115Cakravarmans fehlendes Urteilsvermögen zur Geltung. Er vergreift sich an Da¯maras, »die sich nichts haben zuschulden kom˙ men lassen« (nira¯gas) und die ihm vertrauen (vis´vasta), vertraut (vis´vasta) aber selbst, wie wir aus Strophe 406 erfahren, »verbrecherischen Da¯maras« (da¯ma˙ ˙ rataskara), die nur auf eine Gelegenheit warten, ihm »hinterrücks« (vya¯jena) den Garaus zu machen. So nimmt denn das Schicksal seinen Lauf und der Held 115Cakravarman, der auf dem Schlachtfeld wie ein Löwe erscheint, während er reihenweise die Köpfe seiner Feinde abschlägt, der auf einem feurigen Hengst reitend, einen schweren Panzer tragend und sein sich in der Sonne spiegelndes Schwert in der Hand haltend unter Trommelschlag und Jubelrufen in die Stadt einzieht, verwandelt sich in Kalhanas Darstellung in ein Mitleid erregendes, vor ˙ Schreck schreiendes, barfuß rennendes, wenn überhaupt etwas, dann allenfalls einen Wickelrock tragendes, verzweifelt nach einer Waffe suchendes Wesen, das von seinen Feinden bei Nacht auf der Toilette attackiert und schließlich in den Armen einer Frau liegend wie ein Hund erschlagen wird. Und selbst die grausame Ermordung S´ambhuvardhanas während seiner Thronbesteigung fällt ganz am Ende noch auf ihn zurück, indem seine Feinde ihm mit einem Stein die Knie zerschmettern, während er im Sterben liegt. Das Textbeispiel zeigt sehr schön, wie Hoch und Tief im Leben 115Cakravarmans aufeinander folgen, beziehungsweise genauer: zeigt am Beispiel 115Cakravarmans sehr schön, wie im Leben eines jeden, selbst eines Königs, Hoch und Tief aufeinander folgen können. Allerdings markiert seine Ermordung nur für 115 Cakravarman persönlich den Endpunkt, an dem die Welle am Ufer bricht. In der Geschichte Kaschmirs ist mit seiner nur wenige Monate dauernden dritten Regierungszeit noch kein Tiefpunkt erreicht, sondern dieser folgt erst während der Regierungszeit seines Neffen 118Unmatta¯vanti(varman), des bereits erwähnten »irren Avanti(varman)«: 414 Unmatta¯vantina¯ma¯tha Pa¯rthasu¯nur dura¯s´ayah | ˙ abhyasicyata vaidheyaih ˙ S´arvata¯dibhih ||˙ sacivaih ˙ pa¯pe ˙ 415 s´vapa¯kı¯˙ka¯muke nihate nis´i taskaraih | praja¯na¯m pa¯pmana¯˙ so ’bhu¯t pa¯pa¯t pa¯˙pataro nrpah || ˙¯ pa˙ 416 sthagita¯ tatkatha¯pa spars´abhı¯tya¯ sarasvatı¯ | kathamcit trasnur as´veva seyam˙prastha¯pyate maya¯ || ˙

Da nun weihten S´arvata und weitere törichte Mi˙ nister den übel veranlagten Sohn des 113Pa¯rtha mit Namen 118Unmatta¯vanti [zum König]. Nachdem der böse Liebhaber der Hundekocherin bei Nacht von Verbrechern erschlagen worden war, wurde durch das Böse der Untertanen [ jemand] König, der noch böser als böse war. Meine Rede stockt aus Furcht davor, mit dem Bösen in der Erzählung über ihn in Kontakt zu kommen; wie eine scheuende Stute treibe ich sie nur mit Mühe zum Laufen an.

390

5.

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Bedeutung des Textauszugs für das Teilprojekt

In unserem Teilprojekt geht es weniger um eine spezielle Fragestellung im Kontext von Macht und Herrschaft, sondern mehr darum, ausgehend von einer genauen, narratologisch informierten Analyse und Beschreibung dessen, was in der ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ aus dem bzw. über das Leben der Herrscher von Kaschmir ˙ erzählt wird, und der Art und Weise, wie es erzählt wird, sämtliche von Kalhana ˙ zur Sprache gebrachten Formen, Praktiken, Aspekte der Ausübung von dem, was wir Macht und Herrschaft nennen, durch den König zu erfassen und im Hinblick auf die übergeordneten Fragestellungen des Sonderforschungsbereichs auszuwerten. Von dem reichen Datenmaterial, das das Textbeispiel in dieser Hinsicht liefert, seien hier nur einige wenige Dinge hervorgehoben: – In Strophe 307 heißt es, dass Samgra¯ma 115Cakravarman, als dieser in sein ˙ Haus tritt, an einer besonderen Art (°vis´esena) von Ausstrahlung (ka¯nti°) als ˙ ˙ König erkennt. Diese Aussage ist bereits ganz allgemein im Hinblick auf die Frage nach der äußeren Erscheinung eines Königs von Interesse, doch kommt ihr hier noch einmal eine spezielle Wichtigkeit zu, weil zuvor in Strophe 306 gesagt wird, dass 115Cakravarman jemand ist, »den sein Herrscherglück verlassen hat« (bhrastas´rı¯h). Das Wort ´srı¯- f., das wir hier vorläufig mit »[Herr˙˙ ˙ scher]glück« übersetzt haben, bezeichnet eine Eigenschaft, die keineswegs nur Königen, vor allem aber ihnen eignet und die gleichermaßen ihren Wohlstand, den von ihnen ausgehenden Glanz, die sie umgebende Pracht, das Ansehen, das sie innerhalb der Gemeinschaft genießen, ihre Majestät, ihre Fortune und überhaupt ihr glückhaftes Dasein im weitesten Sinn umfasst. Häufig wird diese Eigenschaft als eine Frau vorgestellt, die sehr launisch ist und mit deren dauerhafter Treue nicht sicher gerechnet werden kann. Der Umstand, dass ein sehr junger, noch kaum profilierter König, dem seine ´srı¯ abhandengekommen ist, trotzdem fernab seines Palastes für einen Fremden als König erkennbar ist, erscheint gleichermaßen bemerkenswert und erklärungsbedürftig. – Die Strophen 317–319 verdeutlichen sehr schön den großen, von niemandem kontrollierbaren Einfluss, den die Königsgemahlin aufgrund ihres intimen Verhältnisses zum König auch im mittelalterlichen Kaschmir auf eben jenen hat. Darüber hinaus sind sie für die Analyse der Diskursebene wichtig, insofern sie einen deutlich ironischen Unterton aufweisen und von daher Anlass geben, hier und da auch an anderen Stellen bei der Interpretation einen solchen in Erwägung zu ziehen. – Der Strophe 326 lassen sich Details über das Ritual zur Besiegelung eines Bündnisvertrags entnehmen.31

31 Vgl. Kölver 1971, 174–186, besonders 178 und 184, sowie Thomas Oberlies, Milch und

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391

– Die Strophe 353 ist im Zusammenhang mit der Frage nach der Göttlichkeit oder Heiligkeit des Königs im mittelalterlichen Kaschmir von Bedeutung,32 insofern sie impliziert, dass er im Normalfall nicht als Gottheit oder als heilig galt. – Die Strophen 355 und 387 liefern Mosaiksteinchen für die Rekonstruktion der Etikette am kaschmirischen Königshof.

6.

Bedeutung des Textauszugs für das Teilprojekt in Bezug auf das Spannungsfeld ›Kritik und Idealisierung‹

Als besonders ergiebig erweist sich der hier vorgeführte Textabschnitt im Hinblick auf die Fragen, die uns im Spannungsfeld ›Kritik und Idealisierung‹ beschäftigen. Aus der Sicht Kalhanas bescherte das Königsamt demjenigen, der es ˙ bekleidete, ein weitgehendes Nutzungsrecht des Landes und eine weitgehende Weisungsbefugnis gegenüber seinen Bewohnern, erlegte ihm aber genauso auch eine weitgehende Fürsorgepflicht für das Land und seine Bewohner auf, und danach, wie sozial verträglich er von dem Nutzungsrecht und der Weisungsbefugnis Gebrauch machte und wie engagiert er seiner Fürsorgepflicht nachkam, wurde ein jeder König von Kalhana beurteilt, so dass sich aus der ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ ˙ ˙ als Ganzer ein sehr umfassendes und klares Bild von dem ergibt, was er für gute und für schlechte Herrschaft hielt. Dabei werden viele Dinge im Text klar benannt, etwa wenn Kalhana 115Cakravarman zu Beginn der Schilderung der ˙ Schlacht vikrama- m., wörtlich »(energisches, zielstrebiges) Ausschreiten«, freier »entschlossenes, energisches, kraftvolles, mutiges Auftreten«, attestiert (329, vgl. auch 352) oder wenn er im Kontext der Charakterisierung von dessen Herrschaft sagt, dass er nach der Konsolidierung derselben ein dhrtotseka- wurde, »jemand, ˙ der Übermut, Hochmut, Überheblichkeit (°utseka)« wörtlich: »an sich trug (dhrta°)« (351). Andere Dinge werden umschrieben, so etwa 115Cakravarmans ˙ Hybris, die sich an der Aussage ablesen lässt, dass er »sich selbst für eine Gottheit hielt« (a¯tma¯nam daivatam iva … ja¯natah, 353), und wieder anderes begegnet ˙ ˙ uns im Erzählerdiskurs gut versteckt. Die Tatsache etwa, dass Kalhana in die ˙ Beschreibung von 115Cakravarmans triumphalem Einzug in die Hauptstadt beiläufig einfließen lässt, dass ihm wegen der unruhigen Bewegungen seines Pferdes der Helm herabzurutschen drohte (343) und sein dicker Panzer ihm Probleme bereitete (345), lässt sich kaum anders deuten denn als Hinweis darauf, dass er Soma – Die Formalien eines Vertragsschlusses, in: Studien zur Indologie und Iranistik 23 (2002), 71–89, besonders 83. 32 Vgl. dazu zusammenfassend Hartmut Scharfe, The State in Indian Tradition (Handbuch der Orientalistik, 2. Abt., Bd. 3), Leiden et al. 1989, 92–106.

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bei aller Führungskraft, die er zuvor auf dem Schlachtfeld gezeigt hatte, das Amt des Königs nicht wirklich auszufüllen vermochte, dass ihm dieses sozusagen ›eine Nummer zu groß‹ war. Eine zweite Ebene der Kritik (seltener des Lobes), sei es am Verhalten eines einzelnen Königs, sei es am Königtum überhaupt, findet sich innerhalb der erzählten Welt. Hier ist es nicht nur von Interesse festzustellen, was inhaltlich an Kritik geäußert wird, sondern auch, wer in welcher Situation und auf welche Weise Kritik äußert. Im Textauszug ist es beispielsweise die elaborierte Kritik an der Undankbarkeit von Königen, die der Da¯mara Samgra¯ma ˙ ˙ 115Cakravarman gegenüber vorträgt (310–323), ebenso aber auch die Kritik an der von 115Cakravarman teils nur zugelassenen, teils aktiv beförderten sozialen Unordnung durch die Da¯maras, die sich dadurch äußert, dass sie Hamsı¯ nicht bei ˙ ˙ ihrem Besuch des Ranasva¯min-Tempels begleiten (395), die es zu verzeichnen ˙ gilt. Aufs Ganze gesehen vermittelt die ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹ damit nicht nur einen sehr ˙ genauen Eindruck davon, was einem gelehrten Brahmanen Mitte des 12. Jahrhunderts n. Chr. als gute bzw. als schlechte Herrschaft galt, sondern auch davon, wer zu dieser Zeit über genügend Wissen über Herrschaft verfügte, um einen König und sein Handeln loben oder kritisieren zu können.

Quellenverzeichnis MDhS´ (Ma¯nava Dharmas´a¯stra) P. Olivelle, The Law Code of Manu, Oxford 2009. Ranjit Sitaram Pandit, Ra¯jataran˙gin¯ı, the Saga of the Kings of Kas´mı¯r. Translated from the ˙ ˙ skrta, Allahabad 1935 (Reprint New Delhi 1968). Original Sam ˙ Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı or Chronicle of the Kings of Kashmir, ed. by Marc A. Stein, vol. 1: ˙ ˙ Sanskrit Text with Critical Notes, Bombay 1892. Marc A. Stein, Kalhana’s Ra¯jataran˙gin¯ı. A Chronicle of the Kings of Kas´mı¯r. Translated, ˙ ˙ With an Introduction, Commentary, and Appendices, 2 vols., Westminster 1900. Ra¯jataran˙gin¯ı of Kalhana, ed., crit., and annotated … by Vishva Bandhu, 2 pts., Hos˙ ˙ hiarpur 1963–1965.

Literaturverzeichnis Mikael Aktor, Impurity and Purification: a¯´sauca, ´sauca, in: Patrick Olivelle/Donald. R. Davis (edd.), Hindu Law. A New History of Dharmas´a¯stra, New Delhi 2018, 220–235. Konrad Klaus, Kalhanas ›Ra¯jataran˙gin¯ı‹: ein indisches Pendant zur ›Kaiserchronik‹?, in: ˙ ˙ Elke Brüggen (ed.), Erzählen von Macht und Herrschaft. Die ›Kaiserchronik‹ im Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung (Macht und Herrschaft 5), Göttingen 2019, 133–160.

König Cakravarman: Held in der Schlacht – Versager auf dem Thron

393

Bernhard Kölver, Textkritische und philologische Untersuchungen zur Ra¯jataran˙gin¯ı des ˙ Kalhana (Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland. Supplement˙ band 12), Wiesbaden 1971. Hermann Kulke, Indische Geschichte bis 1750 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 34), München 2005. Thomas Oberlies, Milch und Soma – Die Formalien eines Vertragsschlusses, in: Studien zur Indologie und Iranistik 23 (2002), 71–89. Patrick Olivelle (ed.), A Sanskrit Dictionary of Law and Statecraft, Delhi 2015. Hartmut Scharfe, The State in Indian Tradition (Handbuch der Orientalistik, 2. Abt., Bd. 3), Leiden et al. 1989. Christiane Schnellenbach, Geschichte als »Gegengeschichte«? Historiographie in Kalhanas Ra¯jataran˙gin¯ı (Edition Wissenschaft, Reihe Orientalistik 3), Marburg 1996 ˙ ˙ (Microfiche-Ausgabe). Walter Slaje, Kaschmir im Mittelalter und die Quellen der Geschichtswissenschaft, in: Indo-Iranian Journal 48 (2005), 1–70. Walter Slaje, ›In the Guise of Poetry‹ – Kalhana Reconsidered, in: Ders. (ed.), ˙ S´a¯stra¯rambha. Inquiries into the Preamble in Sanskrit (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes LXII), Wiesbaden 2008, 207–244. Moriz Winternitz, Rezension zu Stein 1900, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 16 (1902), 405–419.

Dominik Büschken / Alheydis Plassmann

Narrative Kritik am Beispiel der ›Gesta Regum Anglorum‹ Wilhelms von Malmesbury1

Teilprojekt ›Englische Königsherrschaft im Spiegel der Tyrannenschelte‹ (Leitung: PD Dr. Alheydis Plassmann, Mittelalterliche Geschichte/Rheinische Landesgesschichte)

1.

Die Quelle

Die ›Taten der englischen Könige‹ des Benediktinermönches Wilhelm von Malmesbury (c. 1095–c. 1143) sind für das Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs 1167 ›Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‹ zum Thema der ›Englischen Königsherrschaft im Spiegel der Tyrannenschelte‹ von zentraler Bedeutung, da Wilhelm von Malmesbury als Geschichtsschreiber einen herausragenden Stellenwert für die Erforschung des englischen Hochmittelalters insgesamt einnimmt.2 Die ›Gesta Regum Anglorum‹ wurden um 1120 von Wilhelm im Kloster Malmesbury verfasst und um 1127 erneut redigiert. Inhaltlich widmen sie sich der Geschichte Englands ab 447 bis zur Lebenszeit des Autors. Es handelt sich also um eine historiographische Schrift, die das Ziel verfolgt, die politische Geschichte zu tradieren. Für den Bereich Kirchengeschichte legte Wilhelm ein eigenes Werk an (›Gesta pontificum Anglorum‹). Dennoch tritt der Wertekanon des Benediktiners auch im Hintergrund der ›Gesta Regum Anglorum‹ oft deutlich erkennbar zutage, insbesondere wenn es um andere Ordensgemeinschaften geht. Im Auftrag seines Abtes und nach umfangreichen Studienreisen durch die Bibliotheken der englischen Klöster verfasste Wilhelm seine Geschichte der englischen Könige, die er explizit von Beda Venerabilis’ (c. 672–735) ›Kirchengeschichte des englischen Volkes‹ inspiriert sehen wollte. Während die ersten beiden Bücher die angelsächsische Geschichte (5.–11. Jahrhundert) behandeln, 1 Edition: Gesta Regum Anglorum, ed. und übers. Roger A. B. Mynors/Rodney M. Thomson/ Michael Winterbottom (Oxford Medieval Texts), Oxford 1998. 2 Siehe zu Wilhelms Rolle in der Forschung u. a. Emily Dolmans/Rodney M. Thompson/Emily A. Winkler (edd.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017.

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die Wilhelm aus zum Teil heute verlorenen Quellen rekonstruierte, wird Wilhelm ab Buch IV, also mit der Regierungszeit Wilhelms II. Rufus (1087–1100), zur eigenständigen Autorität. Das beabsichtigte Publikum ist indes unsicher. Mit 25 Handschriften ist das Werk recht breit überliefert. Teil des Werkes sind auch drei Widmungsbriefe, einer ist adressiert an König David von Schottland (1124– 1153), den Onkel der Mathilde (c. 1102–1167), der Tochter Heinrichs I., die Anspruch auf den englischen Königsthron hatte und der der zweite Brief gewidmet ist, und einer richtet sich in der zweiten Redaktion an Graf Robert von Gloucester (c. 1100–1147), den unehelichen Sohn Heinrichs I. und treuesten Parteigänger der Mathilde.3 Diese Konstellation verortet Wilhelm für die Zeit der sogenannten Anarchie (1135–1153) eindeutig in der Partei Mathildes, die zur Abfassungszeit indes noch nicht voll ausgebildet war. Denn die ›Gesta‹ sind in der Zeit Heinrichs I. (1100–1135) verfasst worden, einer außerordentlich friedlichen Zeit in England, in der Wilhelm sich intensiv mit den Bedingungen erfolgreicher und guter Königsherrschaft auseinandersetzte.4

2.

Inhalt und thematische Schwerpunkte der ›Gesta Regum Anglorum‹

Wilhelm erzählt von den politischen Ereignissen in England, indem er sie in eine Traditionslinie mit der angelsächsischen Geschichte stellt. Damit stellt er die anglo-normannischen Könige in einen von drei möglichen historischen Zusammenhängen (die britische, die angelsächsische oder die normannische Tradition). Daraus resultiert auch die Abhandlung kirchengeschichtlicher Ereignisse, sofern sie für das politische Geschehen Relevanz besaßen, gerade weil Wilhelm sich Bedas Kirchengeschichte zum Vorbild genommen hatte. Die Perspektive und der Fokus auf England schließt die Behandlung der Geschichten anderer Länder nicht aus, bedeutet aber, dass sie größtenteils als Kontrast im Rahmen eines Vergleichs verwendet werden. Zugleich finden sich Kreuzzugsberichte in Wilhelms Werk, die den Handlungsraum zwar stark ausweiten, dabei aber über die Figurenkonstellation dennoch eine englische Perspektive beibehalten. Die Figuren sind bei Wilhelm in der Regel historische Akteure, die namentlich genannt werden, wozu insbesondere Könige, Erzbischöfe und weitere wichtige 3 Zur Überlieferung vgl. ausführlich das Vorwort in der Edition. 4 Siehe dazu Alheydis Plassmann, Bedingungen und Strukturen von Machtausübung bei Wilhelm von Malmesbury und Heinrich von Huntingdon, in: Norbert Kersken/Vercamer Grischa (edd.), Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Quellen und Studien. Deutsches Historisches Institut Warschau 27), Wiesbaden 2013, 145–171.

Narrative Kritik am Beispiel der ›Gesta Regum Anglorum‹

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Personen der politischen Geschichte gehören. Explizit beansprucht die Schrift historische Korrektheit, die Wilhelm mit seinem Verweis auf Beda Venerabilis und dessen Geschichtsverständnis grundlegt.5 Dennoch lebt das Werk auch von seinem Anekdotenreichtum. Das gehobene Niveau des Lateinischen, das im Überlieferungskontext seiner Zeit durchaus hervorsticht, macht das Werk auch zu einem sprachlich-literarisch bemerkenswerten Zeugnis. Auffallend ist weiterhin, dass Wilhelm nur sehr selten Augenzeugenschaft beansprucht und bemüht ist, seine Quellen oder zumindest die Herkunft seiner Informationen zu verifizieren und seiner Darstellung und seinen Einschätzungen somit besondere Legitimität und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Wilhelms Werk ist auch deshalb von so großer Bedeutung, da er es chronologisch, so weit dies zu beurteilen ist, sehr korrekt gliederte, und er, in dem von ihm bekundeten Willen, die Wahrheit wiederzugeben, nicht seine persönliche Wertung die Auswahl der geschilderten Ereignisse bestimmen ließ – jedenfalls ist dies der Eindruck, den Wilhelm seinen Lesern vermitteln möchte. Sicherlich muss auch die Schrift Wilhelms mit der gebotenen Distanz rezipiert werden. Zwar kennzeichnet der Geschichtsschreiber persönliche Einschätzungen und Perspektiven zumeist als solche und verquickt sie scheinbar nicht mit der Ereignisdarstellung, doch lenkt er dennoch sehr geschickt die Wahrnehmung seines Publikums. Von anderen zeitgenössischen Verfassern unterscheidet ihn, dass eine klare heilsgeschichtliche Konzeption in seiner Schrift nicht erkennbar ist. Diese Eigenschaft Wilhelms, auch Zwischentöne zuzulassen, Königsherrschaft nicht nur aus einer monastischen, sondern durchaus auch aus einer sehr pragmatischen Perspektive zu beurteilen, ist im Überlieferungskontext bemerkenswert und steigert gleichzeitig das Vergnügen an der Lektüre. In dieser Tradition steht auch die hier ausgewählte Textstelle aus dem Buch IV der ›Gesta Regum Anglorum‹, Kapitel 313.

5 Alheydis Plassmann, Bede’s Legacy in William of Malmesbury and Henry of Huntingdon, in: David Bates/Edoardo d’Angelo/Elisabeth van Houts (edd.), People, Texts, and Artefacts. Cultural Transmission in the Medieval Norman Worlds, London 2018, 171–192.

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3.

Die Textstelle: lib. IV, c. 313

3.1

Kontext

Wilhelm II. Rufus war der drittälteste Sohn des ersten normannischen Königs von England, Wilhelm I. des Eroberers (c. 1028–1087), der 1066 Englands Krone auf dem Schlachtfeld errungen hatte.6 Nach dem Tode seines Vaters trat Wilhelm II. 1087 vor seinem überlebenden ältesten Bruder Robert Courthose die Nachfolge seines Vaters an und regierte England bis zu seinem eigenen plötzlichen Tod nach einem Jagdunfall im Jahr 1100. Die Regierungszeit Wilhelms II. Rufus wird von zeitgenössischen Kommentatoren gemeinhin als ›schlecht‹ beschrieben, was nicht selten direkt mit seiner Person und seinen Charaktereigenschaften verknüpft wird.7 Wilhelms in den erzählenden Quellen entworfenes Bild entsprach keineswegs dem Idealtyp eines demütigen christlichen Friedensfürsten, sondern vielmehr dem Gegenteil. Die Forschung widerspricht diesem größtenteils von klerikalen Quellen entworfenen Bild.8 In die Zeit von Wilhelms Herrschaft fallen Innovationen der königlichen Besteuerungsgebote. Steuern waren ein maßgebliches königliches Herrschaftsinstrument, das den Interessen des Klerus, insbesondere der weitgehenden finanziellen und personellen Unabhängigkeit der Kirche, oftmals zuwiderlief. Die allermeisten klerikalen und monastischen Schreiber beschieden Rufus vor diesem Hintergrund eine schlechte Herrschaft, was maßgeblich Einfluss auf die Beurteilung seines Wirkens hatte. Kompetenz wurde Rufus so nur für seine administrativen und militärischen Fähigkeiten zugeschrieben. Weiterhin hat Rufus’ Unfalltod die nachträgliche Interpretation seiner Herrschaft als die eines Tyrannen begünstigt und die Meistererzählung über seine Tyrannei verfestigt.9 Der plötzliche Tod, noch dazu auf der Jagd, galt vielen Schreibern als negatives Urteil Gottes über seine Person, aber auch sein Leben und in weiterem Sinne seine Herrschaft.10 Das unerwartete Ableben 6 Zur normannischen Eroberung 1066 siehe u. a. Jörg Peltzer, 1066. Der Kampf um Englands Krone, München 2016; David Bates (ed.), 1066 in Perspective (Royal Armouries Conference Proceedings), Leeds 2018. 7 Beispiele für diese Charakterisierung bieten etwa der Chronist Heinrich von Huntingdon in seiner zwischen 1129 und 1154 in verschiedenen Versionen verfassten ›Historia Anglorum‹: Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum, ed. und übers. Diana E. Greenway (Oxford Medieval Texts), Oxford 1996, hier lib. VII, c. 22, 447f.; sowie der hier ausführlich behandelte Wilhelm von Malmesbury. 8 Frank Barlow, William Rufus, 2. Aufl., London 2000; John Gillingham, William II. The Red King, London 2015. 9 Vgl. Alheydis Plassmann, Die Normannen. Erobern – Herrschen – Integrieren, Stuttgart 2008, hier 193f. 10 Vgl. Alheydis Plassmann, Sudden Death. Kontingenz des Todes und Legitimation von Herrschaft, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft (Macht und Herrschaft 11), Göttingen 2019, 95–122.

Narrative Kritik am Beispiel der ›Gesta Regum Anglorum‹

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konnte leicht für eine negative Deutung nutzbar gemacht werden. Auch Wilhelm von Malmesbury baute Wilhelm II. im gesamten Werk, das aus der Rückschau berichtet und von den schon verfestigten Verurteilungen von Rufus’ Herrschaft von solch wichtigen Geschichtsschreibern wie Eadmer (c. 1060–c. 1126) beeinflusst ist, als Negativbeispiel königlicher Herrschaft auf. In weitgehender Abwesenheit von Fürstenspiegelliteratur, die erst ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts anzutreffen ist, sind die erzählenden Quellen mit ihren Anekdoten und Einordnungen durch die klerikalen und dadurch auch moralisch eindeutig legitimierten Verfasser wichtige Spiegel zeitgenössischer Wertungen und Ansprüche an die Person des Königs und an Königsherrschaft insgesamt. Neben dem unterhaltenden Charakter der Anekdoten besitzen sie in ihrer Zuspitzung auch einen klaren pädagogischen Auftrag, Handlungserwartungen zu vermitteln und anschaulich für die Leserschaft zu transportieren. Wilhelm arbeitet dabei nicht nur mit Negativbeispielen, sondern spannt auch Kontrastfolien auf, indem er etwa die Belesenheit Heinrichs I., des Nachfolgers von Wilhelm II. Rufus, als positive Eigenschaft hervorhebt.11 In den zwei ausgewählten Kapiteln der ›Gesta‹ berichtet Wilhelm von Malmesbury von einem Dialog, der sich zwischen Wilhelm II. und einem seiner Diener entsponnen habe. Die Laster und Fehler, die Wilhelm II. zum Vorwurf gemacht werden, manifestieren sich dabei im Rahmen einer szenischen Einbettung des Dialogs. In der im Folgenden wiedergegebenen Textstelle sind Wilhelm II. Rufus und sein Kammerdiener die Gesprächspartner. Neben diesen wird noch eine undefinierte Anzahl von Rittern erwähnt, die vor allem die Funktion übernehmen, für Wilhelms folgende Handlungen verantwortlich zu zeichnen.

11 Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, lib. V, c. 390, 710.

400 3.2

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Die Textstelle12

Sunt enim duo omnino genera largorum: alteri prodigi, alteri liberales dicuntur. Prodigi sunt qui in ea pecunias suas effundunt quorum memoriam aut breuem aut nullam omnino sunt relicturi in seculo, nec elemosinam habituri in Deo; liberales sunt qui captos a predonibus redimunt aut inopes subleuant aut aes alienum arnicorum suscipiunt. Est ergo largiendum, sed diligenter et moderate; plures enim patrimonia sua effudere inconsulte largiendo.

There are in the main two kinds of generous men: the prodigal, as we call him, and the liberal. The prodigals are those who pour out their money on purposes of which they will leave a brief memorial in this world or none at all, nor will they win with God the credit of almsgiving; the liberal is he who ransoms a captive from the hands of pirates, or helps the poor, or takes upon himself the debts of his friends. We ought therefore to be generous, but carefully and in moderation, for many men by inconsiderate generosity have poured away their patrimony.

Quid uero est stultius quam quod libenter fatias, curare ne diutius facere possis? Itaque quidam, cum non habeant quod dent, ad rapinas conuertuntur, maiusque odium assecuntur ab his quibus auferunt quam benefitium ab his quibus contulerunt.

And what can be more foolish than to go out of the way to make yourself incapable of any longer doing what you love to do? Thus it is that some men, when they have nothing to give away, betake themselves to violence, and the hatred they earn from the victims of their rapine is greater than the benefit they confer on the recipients of their bounty.

Quod huic regi accidisse dolemus. Namque cum primis initiis regni metu turbarum milites congregasset, nichil illis denegandum putabat, maiora in futurum pollicitus. Itaque quia paternos thesauros euacuarat et modicae ei tune pensiones numerabantur, iam substantia defecerat; sed animus largiendi non deerat, quod usum donandi pene in naturam uerterat, homo qui nesciret cuiuscumque rei effringere pretium uel estimare commertium, sed cui pro libito uenditor distraheret mercimonium et miles pacisceretur stipendium. Vestium suarum pretium in immensum extolli uolebat, dedignans si quis alleuiasset.

So it was, regrettably, with William Rufus. When at the first beginning of his reign he had recruited knights for fear of popular disorders, he thought that nothing should be denied them, and promised still greater things for the future. Consequently, as he had exhausted his father’s treasure, and his own cash income at the time was but modest, his resources had already failed; but his lavish intentions were unfailing, for he had turned the habit of giving almost into second nature, ignorant as he was how to beat down the price of anything or judge its proper value: the seller could dispose of his wares, the knight contract for his services, at a price of their own choosing. The cost of his clothes he liked to be immensely inflated, and spurned them if anyone reduced it.

12 Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, lib. IV, c. 313, 556–559.

Narrative Kritik am Beispiel der ›Gesta Regum Anglorum‹

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Denique quodam mane, cum calciaretur nouas caligas, interrogauit cubicularium quanti constitissent. Cum ille respondisset tres solidos, indignabundus et fremens ›Fili‹ ait ›meretricis, ex quo habet rex caligas tam exilis pretii? Vade, et affer michi emptas marca argenti.‹ Iuit ille, et multo uiliores afferens, quanti preceperat emptas ementitus est.

For instance, one morning when he was putting on some new shoes, he asked his valet what they had cost. ›Three shillings‹, the man replied, at which the king flew into a rage. ›You son of a bitch!‹, he cried; ›since when has a king worn such trumpery shoes? Go and get me some that cost a mark of silver.‹ The servant went off and returned with a much cheaper pair, pretending they had been bought at the price specified.

›Atqui‹ inquit rex ›istae regiae conueniunt maieslati.‹ lta cubicularius ex co pretium uestimentorum eius pro uoluntate numerabat, multa perinde suis utilitatibus nundinatus.

›Why‹ said the king, ›these are a good fit for the royal majesty.‹ So the servant henceforward paid what price he liked for the royal wardrobe, and made a good thing out of it.

4.

Kommentierung der Textstelle

Die ausgewählte Textpassage offenbart dem modernen Leser eine zentrale narrative Strategie des Verfassers Wilhelm von Malmesbury, mit der er über eine bloße Schilderung der Ereignisse hinausgeht und sein Publikum subtil lenkt. König Wilhelm II. Rufus wird in dieser Erzählung als Repräsentant kritikwürdiger weltlicher Königsherrschaft identifiziert und vor dem Hintergrund des im Werk des Verfassers implizit wirksamen monastischen Wertekanons als Beispiel lasterhaften Verhaltens stilisiert. Explizit wird in der Passage die Verschwendungssucht angesprochen, noch ohne direkten Bezug zu Wilhelm II., dessen Handeln aber dann durch Verschwendungs- und Prunksucht bestimmt wird.13 In der Einführung der Passage unterscheidet Wilhelm von Malmesbury zwei grundlegende Kategorien des großzügigen Mannes (genera largorum) und gibt dem Leser so eine Orientierung, wie Wilhelm II. in diesen Kontext einzuordnen ist. Die Textpassage hat auch deshalb besondere Aufmerksamkeit verdient, weil sie den moralischen Wertekatalog des Verfassers in Bezug auf königliche Herrschaft aufscheinen lässt und Kritikmuster offenbart, die auch an anderen Stellen des Werkes verwendet werden.14 Als Negativqualitäten des Königs erscheinen hier auf dichtestem Raum: Reizbarkeit (indignabundus et fremens), Luxussucht, Eitelkeit, Dummheit und die explizit genannte Verschwendungssucht. Wilhelm lenkt seine Rezipienten in die Richtung, die Anekdote als Beleg für die explizit angesprochene Ver13 Vgl. Wilhelm von Malmesbury, Gesta regum Anglorum, lib. IV, c. 313, 556. 14 Zu diesem Ethos siehe Sigbjørn Sønnesyn, William of Malmesbury and the Ethics of History, Woodbridge 2012.

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schwendungssucht des Königs zu verstehen.15 Gleichzeitig offenbart die Anekdote unterschwellig den Zusammenhang, die enge Verbindung und die gegenseitige Abhängigkeit weiterer Laster.16 Die Verschwendungssucht wird neben die fehlende Selbstkontrolle gestellt, welche nicht ausdrücklich als Versagen genannt wird. So wird ein impliziter Zusammenhang zwischen Verschwendungssucht und ungerechter Herrschaft hergestellt.17 Prima vista wird lediglich die Verschwendungssucht des Königs gegeißelt, aber der Kontext der Quellenstelle deckt in der Tiefe weitere Untugenden auf, deren Zusammenspiel den König als charakterschwachen Menschen dastehen lässt. Die Königstugend des rechten Maßhaltens wird Wilhelm II. Rufus schon deshalb abgesprochen, weil er sie auf dem Felde der rechten Beschränkung der Geldausgaben nicht einhalten kann. In der Hinleitung zur Anekdote wird zwar nur die Verschwendungssucht angesprochen, es kommen aber durch die geschickte Darstellung des königlichen Verhaltens in der Anekdote selbst auch weitere Untugenden zum Vorschein. Ganz offensichtlich zeigt der Wunsch nach luxuriöser Kleidung, von der der König trotz knapper Kassen nicht lassen kann, sowohl dessen Luxussucht als auch seine Eitelkeit. Sein Aufbrausen gegenüber dem Diener zeigt seine Unbeherrschtheit und seinen Jähzorn. Des Weiteren entlarvt die gewählte Figurenkonstellation die Begriffsstutzigkeit des Königs. Der auch aus Märchen bekannte Topos des hierarchisch höherstehenden ›Dummen‹, der von einem pfiffigen Untergebenen überlistet wird, wird von Wilhelm hier sicher bewusst ausgekostet. Der offensichtliche Triumph des Dieners, der sich fortan selbst bereichern kann, deckt die Dummheit des Königs nur implizit auf. Gleichzeitig wird das Verhalten Wilhelms II. Rufus geradezu ins Absurde verzerrt. Über diese Negativzeichnung Wilhelms II. Rufus lassen sich sodann Rückschlüsse auf eine dem Verfasser eigene idealtypische Vorstellung eines guten Herrschers ziehen. In Widerspruch zu den Wilhelm II. Rufus attestierten Lastern gelten dem Verfasser Tugenden wie Klugheit, Beherrschtheit, Demut und eine maßvolle Großzügigkeit, im Sinne einer nicht geizigen Geschenkepraxis, als ideale Eigenschaften eines Königs. Daraus können Stereotype der Herrscherkritik abgeleitet werden. Die schon genannte Verschwendungssucht ist ein zentraler Vorwurf an den König, der insbesondere dann zum Tragen kommt, wenn 15 Wilhelm von Malmesbury, Gesta regum Anglorum, lib. IV, c. 313, 556: Itaque quidam ad rapinas conuertuntur, maiusque odium assecuntur ab his quibus auferunt quam benefitium ab his quibus contulerunt. Quod huic regi accidisse dolemus. 16 Vgl. ebd.: […] nichil illis denegandum putabat […]. […] sed animus largiendi non deerat […] homo qui nesciret […] Vestium suarum pretium in immensum extolli uolebat […]. 17 Siehe zu Wilhelms Vorstellungen gerechter Königsherrschaft Björn Weiler, Royal Justice and Royal Virtue in William of Malmesbury’s Historia Novella and Walter Map’s De Nugis Curialium, in: István Bejczy/Richard Newhauser (edd.), Virtue and Ethics in the Twelfth Century (Brill’s Studies in Intellectual History Online 130), Leiden 2005, 317–339.

Narrative Kritik am Beispiel der ›Gesta Regum Anglorum‹

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die Geldknappheit den König zur faktischen Besteuerung der Kirche durch Nichtbesetzung der Bischofsstühle zwingt.18 Darüber hinaus zeigt Wilhelm Rufus seine Unwissenheit, die im krassen Widerspruch zu Wilhelms Ideal eines gebildeten und klugen Herrschers steht.19 Die weiteren vorgebrachten Kritikpunkte ergeben sich gewissermaßen aus den genannten Lastern Wilhelms. Die Loyalität der Ritter, die Wilhelm II. Rufus als Stütze für seine Herrschaft benötigt, wird mit Geld erkauft. Geld kann aber in der Umgebung eines verschwendungssüchtigen Herrschers gar nicht ausreichend vorhanden sein. Nachdem Wilhelm von Malmesbury die Verschwendungssucht dargelegt hat, muss er auf die Brüchigkeit der Situation gar nicht mehr gesondert hinweisen. Die an König Wilhelm exemplifizierten Vorhaltungen spiegeln generelle Trends der Hofkritik wider und offenbaren ein Stück weit das Toposhafte der Anekdote und ihrer Rahmung, die dadurch unterstrichen wird, dass der Verfasser keinerlei Angaben zur Herkunft seines Wissens um die im Detail beschriebene Szene macht. Die Verurteilung von Luxus und Mode am (königlichen) Hof ist ein oft genutztes Muster der Kritik geistlicher und insbesondere monastischer Schreiber, welche die Protzerei zum höfischen Habitus erklärten.20 Die kurze Szene zwischen Wilhelm und seinem Diener vereint all diese Stränge auf knapp 14 Zeilen, diskreditiert Wilhelm II. Rufus in Hinblick auf königliche Tugenden und kritisiert den höfischen Habitus. Implizites Gegenbild ist der beherrschte, maßhaltende, kluge, demütige Herrscher, der es nicht nötig hat, sich Loyalität zu erkaufen.

5.

Bedeutung des Textbeispiels für das Teilprojekt

Eine große Stärke von Wilhelm von Malmesbury ist die oft in dichter Erzählung vorgetragene Herrscherkritik, in der in literarischer Überformung Argumentationsmuster verwendet werden, die im untersuchten Zeitraum gängig waren. Die vorgebrachte Kritik kann indes nur vor dem Hintergrund einer verfestigten Vorstellung des idealen Herrschers funktionieren; Wilhelm von Malmesbury benötigt und verwendet sie, damit seine in Teilen indirekte Ermahnung ihre Wirkung entfalten kann. Die Idealvorstellungen von erfolgreicher Herrschaft treten im Werk Wilhelms von Malmesbury und in der Anekdote deutlich hervor. 18 Vgl. Alheydis Plassmann, Bedingungen und Strukturen von Machtausübung bei Wilhelm von Malmesbury und Heinrich von Huntingdon, 145–171. 19 Vgl. Wilhelm von Malmsebury, Gesta regum anglorum, lib. V, c. 390, 710: […] rex illiteratus asinus coronatus. 20 Grundlegend Claus Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 56), Berlin/New York 1973.

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Dies unterstreicht den Wert der Quelle für Fragestellungen, die im Spannungsfeld von Kritik und Idealisierung verortet sind, und dies umso mehr, als Wilhelm von Malmesbury kraft seiner Autorität eine für das 12. Jahrhundert sehr wichtige und für uns wertvolle Quelle verfasst hat und dementsprechend ein zentraler Autor für die Arbeit im Teilprojekt ist.21 Dass die Passage auch vom Verfasser als Kritik verstanden werden wollte, macht die ausgefeilte Konstruktion der Anekdote recht deutlich, die besonders an der expliziten Hinleitung auf ein bestimmtes Laster und der impliziten Thematisierung weiterer Laster offenbar wird. In der Komposition der ›Gesta‹ geht die vorgestellte Anekdote dem Kapitel 314, das die Steuerpolitik des Königs gegenüber der Kirche als Maßnahme unverhohlen angreift, voran; auf diese Weise wird der durch die Anekdote gewünschte Effekt verstärkt. Eine oberflächliche Lesart der Kritik an königlicher Verschwendungssucht wird durch die implizit und eher subversiv wirkenden Kritikmuster, die zur offensichtlichen Kritik hinzutreten, komplementiert. Die so generierte Vielschichtigkeit ist ein typisches Charakteristikum von Texten des Verfassers und hebt ihn von anderen zeitgenössischen Verfassern deutlich ab. Anhand der vorgestellten Textstelle kann die Arbeit des Teilprojektes zum Thema der Tyrannenschelte auf drei Ebenen veranschaulicht werden. Die literarische Kritik bedient sich erstens der Figurenkonstellation, die auf bekannte und daher verständliche Oppositionen zurückgreift, um die Figur des Königs zu tadeln. Dadurch tritt die Dummheit als zentrales Charakteristikum der Königsfigur hervor. Zweitens zeigt die Textstelle die Bedeutung der Struktur, die der Verfasser seinem Text gegeben hat – sie beeinflusst die Lesart und das Verständnis der einzelnen Textstellen, und es wird deutlich, dass und in welcher Weise Aufbau und Struktur als Instrumente von Königskritik genutzt werden können. Drittens offenbart die Textstelle die Möglichkeiten bildhafter Rede, mit der sich in der anekdotenhaften Darstellung Wilhelms von Malmesbury herrscherliches Handeln problematisieren lässt, ohne es in direkter, unverhohlener Weise anzuprangern. Die im vorliegenden Fall greifbare Verschränkung einer Artikulation von Kritik am Herrscher mit der Evokation eines herrscherlichen Ideals ist exemplarisch für die narrativen Strategien der im Teilprojekt untersuchten Quellen, deren Verfasser ihre Kritik, mal mehr, mal weniger explizit und stringent anhand eines gültigen Ideals formulierten und exemplifizierten. Die Art der Textarbeit, die anhand der ausgewählten Passage vorgestellt werden konnte, gibt einen 21 Zu diesem Wert Wilhelms von Malmesbury vgl. Emily Dolmans/Emily A. Winkler, Discovering William of Malmesbury. The Man and His Works, in: Emily Dolmans/Rodney M. Thomson/Emily A. Winkler (edd.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017, 1–12.

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Einblick in die Methode, mit der im Teilprojekt bei der Freilegung narrativer Strategien der Herrscherkritik in historiographischen Schriften des 12. Jahrhunderts vorgegangen wird.

Quellenverzeichnis Wilhelm von Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, ed. und übers. Roger A. B. Mynors/ Rodney M. Thomson/Michael Winterbottom (Oxford Medieval Texts), Oxford 1998. Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum, ed. und übers. Diana E. Greenway (Oxford Medieval Texts), Oxford 1996.

Literaturverzeichnis Frank Barlow, William Rufus, 2. Aufl., London 2000. Robert Bartlett, England under the Norman and Angevin kings: 1075–1225, Oxford 2000. David R. Bates/Anne E. Curry (edd.), England and Normandy in the Middle Ages, London 1994. David Bates (ed.), 1066 in Perspective (Royal Armouries Conference Proceedings), Leeds 2018. Emily Dolmans/Emily A. Winkler, Discovering William of Malmesbury. The Man and His Works, in: Emily Dolmans/Rodney M. Thomson/Emily A. Winkler (edd.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017, 1–12. Emily Dolmans/Rodney M. Thomson/Emily A. Winkler (edd.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017. John Gillingham, William II. The Red King, London 2015. John Gillingham, The Ironies of History. William of Malmesbury’s View of William II and Henry I, in: Emily Dolmans/Rodney M. Thomson/Emily A. Winkler (edd.), Discovering William of Malmesbury, Woodbridge 2017, 37–48. Edmund King, Medieval England from Hastings to Bosworth, Stroud 2005. Jörg Peltzer, 1066. Der Kampf um Englands Krone, München 2016. Alheydis Plassmann, Die Normannen. Erobern – Herrschen – Integrieren, Stuttgart 2008. Alheydis Plassmann, Bedingungen und Strukturen von Machtausübung bei Wilhelm von Malmesbury und Heinrich von Huntingdon, in: Norbert Kersken/Vercamer Grischa (edd.), Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Quellen und Studien. Deutsches Historisches Institut Warschau 27), Wiesbaden 2013, 145–171. Alheydis Plassmann, Bede’s Legacy in William of Malmesbury and Henry of Huntingdon, in: David Bates/Edoardo d’Angelo/Elisabeth van Houts (edd.), People, Texts, and Artefacts. Cultural Transmission in the Medieval Norman Worlds, London 2018, 171–192.

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Alheydis Plassmann, Sudden Death. Kontingenz des Todes und Legitimation von Herrschaft, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft (Macht und Herrschaft 11), Göttingen 2019, 95–122. Sigbjørn Sønnesyn, William of Malmesbury and the Ethics of History, Woodbridge 2012. Rodney M. Thompson, William of Malmesbury, Rochester 2003. Claus Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 56), Berlin/New York 1973. Björn Weiler, Royal Justice and Royal Virtue in William of Malmesbury’s Historia Novella and Walter Map’s De Nugis Curialium, in: István Bejczy/Richard Newhauser (edd.), Virtue and Ethics in the Twelfth Century (Brill’s Studies in Intellectual History Online 130), Leiden 2005, 317–339. Emily A. Winkler, Royal Responsibility in Anglo-Norman Historical Writing (Oxford Historical Monographs), Oxford 2017.

Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Matthias Becher Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] Dr. Ulrike Becker Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Klassische und Romanische Philologie Abteilung für Romanistik Am Hof 1 53113 Bonn [email protected] Felix Bohlen, M. A. Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Ostasienwissenschaften Sektion Sprache und Literatur Chinas Universitätsstraße 134 44780 Bochum [email protected] Prof. Dr. Elke Brüggen Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected]

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Liste der Autorinnen und Autoren

Dr. Dominik Büschken Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte Am Hofgarten 22 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Dittmar Dahlmann Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Osteuropäische Geschichte Adenauerallee 4–6 53113 Bonn [email protected] Dr. Ann-Kathrin Deininger Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected] Dr. Linda Dohmen Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] David Hamacher, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Alte Geschichte Am Hof 1e 53113 Bonn [email protected]

Liste der Autorinnen und Autoren

Britta Hermans, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] Marian Kasprowski, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Sinologie Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] Prof. Dr. Konrad Klaus Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Südasienstudien Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] Jasmin Leuchtenberg, M. St. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected] Simon Lorscheid, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Archäologie und Kulturanthropologie Abteilung für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected]

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Liste der Autorinnen und Autoren

Mareikje Mariak, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Historische Grundwissenschaften und Archivkunde Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Ludwig D. Morenz Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Archäologie und Kulturanthropologie Abteilung für Ägyptologie Brühler Str. 7 53119 Bonn [email protected] Dr. Diana Ordubadi Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Osteuropäische Geschichte Adenauerallee 4–6 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Eva Orthmann Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Iranistik Heinrich-Düker-Weg 14 37073 Göttingen [email protected] PD Dr. Alheydis Plassmann Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte Am Hofgarten 22 53113 Bonn [email protected]

Liste der Autorinnen und Autoren

Sophie Quander, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Abteilung für Germanistische Mediävistik Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected] Dr. Susanne Reichert Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Archäologie und Kulturanthropologie Abteilung Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] Florian Saalfeld, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Islamwissenschaft und Nahostsprachen Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] David Sabel, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Archäologie und Kulturanthropologie Abteilung Ägyptologie Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] Prof. Dr. Peter Schwieger Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Mongolistik und Tibetstudien Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected]

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Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Andrea Stieldorf Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Historische Grundwissenschaften und Archivkunde Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] Maximilian Stimpert, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Historische Grundwissenschaften und Archivkunde Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] PD Dr. Detlev Taranczewski Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Japanologie und Koreanistik Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] Dr. Tilmann Trausch Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Islamwissenschaft und Nahostsprachen Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected] Dr. Theresa Wilke Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Orient- und Asienwissenschaften Abteilung für Südasienstudien Brühler Straße 7 53119 Bonn [email protected]

Liste der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Harald Wolter-von dem Knesebeck Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Kunsthistorisches Institut Regina-Pacis-Weg 1 53113 Bonn [email protected]

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