Tod im Staatsrecht: Sterben in der Demokratie. Befehl, Erlaubnis, Vermeidung, Folgen – Überwindung? [1 ed.] 9783428549535, 9783428149537

Tod ist für alle Menschen das sicherste Ereignis ihres Lebens, die schwerste ihnen – und ihrem Staat – drohende Gefahr.

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Tod im Staatsrecht: Sterben in der Demokratie. Befehl, Erlaubnis, Vermeidung, Folgen – Überwindung? [1 ed.]
 9783428549535, 9783428149537

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1318

Tod im Staatsrecht Sterben in der Demokratie Befehl, Erlaubnis, Vermeidung, Folgen – Überwindung?

Von

Walter Leisner

Duncker & Humblot · Berlin

WALTER LEISNER

Tod im Staatsrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1318

Tod im Staatsrecht Sterben in der Demokratie Befehl, Erlaubnis, Vermeidung, Folgen – Überwindung?

Von

Walter Leisner

Duncker & Humblot · Berlin

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© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14953-7 (Print) ISBN 978-3-428-54953-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84953-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Vorwort Der Verfasser fragte einmal einen alten Freund, der sich seinem hundertsten Geburtstag näherte, wie er den Tod sehe. „Tod? Denk’ ich nicht dran!“ Dies sprach ein bedeutender Antiquar, der ein Leben verbracht hatte zwischen Büchern, in denen Tote … weiterwirken. Das Staatsrecht, diese Umwelt des Autors – gibt es nicht eine ähnliche Antwort? Nur selten, meist eher marginal, begegnet hier dieses Stichwort1, in der Behandlung einzelner Rand-, Folgeerscheinungen, im Übrigen in Verweisungen auf Ökonomie, Medizin – und Theologie. Etwas wie eine rechtliche Berührungsangst scheint zu herrschen: Lässt sich „das Ende ordnen“? Trägt nicht der Tod, das einzig Sichere im menschlichen Leben, schon alle Bestimmtheit(en) faktisch in sich, um die sich „das Recht“ wesentlich und laufend bemüht – und „die Macht“? Muss nicht ihre einzige Antwort lauten: Hier nicht schaffen, gestalten – sondern einfach kapitulieren, hinnehmen, den Tod aus dem Staatsrecht verdrängen? Wenn dieses Staatsrecht die Höchstform ordnenden menschlichen Willens ist – kann er hier nicht nur in einem sich äußern: im Negativen, im Wegschauen, möglichst weit? Die Demokratie stellt den Menschen an ihre Spitze, in Art. 1 des Grundgesetzes. Dort steht also, unverrückbar, auch das ewig Sichere an ihm: der Tod. „Mensch bin ich – nichts Menschliches ist mir fremd2“ – das muss eben auch für das „eindeutig Menschliche“ gelten. Eine Staatsform, die in ihrer Solidarität alle lehren will, „nicht wegzuschauen“, nie – für sie gerade muss der Tod ein Freund sein, den sie aufnimmt in ihre Hallen, ordnet und ehrt – verehrt, nicht ignoriert, damit gedanklich (ver-) meidet. Deshalb darf (sich) ein Verfasser, der solchem Ende nahe ist, diese(r) Frage stellen. Zu ihr gibt es keine Antworten, nur einige Gedanken, in Annäherung. Darzustellen ist, wie das deutsche Staatsrecht der Gegenwart, trotz oder gerade in seiner Distanz zum Ende des Menschen, dieses eben doch sieht und beurteilt, in seiner Erscheinungsform, seinen Gründen, Vermeidungen und Folgen. Kritischer Betrachtung all dieser rechtlichen Erscheinungen soll dann eine Darstellung folgen, welche dies zu sehen versucht im Lichte der verfassungsrechtlichen Grundent1 Roellecke, G., Staat und Tod, Schönburger Gespräche zu Recht und Staat, 2004 behandelt es unter anderen Perspektiven als die folgende Betrachtung: Leben und Lebensphilosophie. Tötung und Selbstmord werden kurz (S. 52) nach der damals h. Auffassungsform, in ihrer Beziehung zum staatlichen Recht dargestellt. Allenfalls fallen rechtsphilosophische Schlaglichter auf Einzelthemen des Folgenden, vgl. etwa: Der Tod als Problem der Lebenden, S. 27 ff., Tötungen S. 50 f., Selbstmord und Terror, S. 52 ff. 2 Terentius, Heaut, I., 26.

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Vorwort

scheidungen des Grundgesetzes: zu Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit, Demokratie – und in Achtung von Jenseitsvorstellungen. Eine ganze Reihe von Problemkreisen werden hier also anzusprechen und zusammenzuordnen sein, um das Zentrum des Todes, von der Todesstrafe bis zum Erbrecht, von Gesundheitsvorsorge und Existenzminimum bis zur Abtreibung. Vertiefende Einzelbehandlungen sind in diesem Rahmen nicht möglich, stets muss auf herrschende Lehren und Entwicklungen zurückgegriffen werden, wenn auch in kritischer Behandlung. Am Ende kann nicht einmal etwas geboten werden wie Ansätze zu einer „Mortaldogmatik“ des Staatsrechts. Größere Züge aber werden vielleicht deutlich, Anregungen, wie Gleise für etwas zu legen wären wie eine Verfassungsordnung des Todes. Wenn das heute so oft missbrauchte Wort von der „Offenheit“ Sinn behält, so hier, in der rechtlichen Betrachtung einer so deutlich „endlichen“, gerade darin aber einer wahrhaft unendlich mächtigen Erscheinung3: des Endes des Menschen, in seinem Sein, seinem Denken. Der Tod verlangt keine Nach-Sicht: er kennt sie nicht. Auch der Verfasser darf sie nicht fordern für diese Blätter. Jeder wird ihren Gegenstand anders sehen im Leben, jeder wird ihn aber – erleben. München, im Februar 2016

Walter Leisner

3 Denn „unendlich“ sind ihre Wirkungen auf das Leben des Menschen, in dem ja auch, wie viele glauben – und nach dem Grundgesetz – etwas „Unendliches“ liegt: Eine Würde, die nie vergeht.

Inhaltsverzeichnis A. Tod als Thema des Staatsrechts: Eine Dimension eigener Art . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Tod: Das Sicherste im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Ein vielschichtiger Ordnungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Tod als „sicherer“ faktischer Vorgang – Grenzen einer rechtlichen Ausgestalt-, Regelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 II. Des Todes staatsrechtliche Fundamentalbedeutung – „Das Wichtigste“ . . . . . . . 16 1. „Todesüberwindung“ im transpersonalen Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Die „personalistische Wendung“ in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 III. Der Tod als drohende Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1. Tod – „Gefahr für das Leben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Gleichmäßig-kontinuierliche Gefährdung in der Zeit – „Lebenserwartung“

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3. Wahrscheinlichkeit des Eintritts – „Wirkungsnähe der Todesgefahr“ . . . . . . . 20 4. Schwere der Todesgefahr – nach Schutzgut und Eintrittswahrscheinlichkeit 22 IV. Tod als höchstwertiger rechtlicher Ordnungsgegenstand: Keine Verdrängung, sondern hochrangige Regelungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Kein „Wegschauen vom Sterben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Notwendigkeit einer Intensivierung von Einzelregelungen über das Sterben und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 V. Ziele und Vorgehen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Keine Darstellung aller todesbezogenen (rechtlichen) Regelungen . . . . . . . . 26 2. Lösungslinien aus verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen . . . . . . . . . . 27 3. Entfaltungsschritte einer rechtlichen Ordnung des Lebensendes . . . . . . . . . . 28 4. „Geschlossene rechtliche Prüfungsordnung des Lebensendes? . . . . . . . . . . . . 29 B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I. Rechtlich regelungsfähige/-bedürftige Bereiche einer „Todesordnung“ . . . . . . . 31 1. Bestimmung des Todeszustandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Rechtliche Beurteilung der Todesursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Bemühungen um Todesvermeidung/-verzögerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 4. Todesfolgen – rechtliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

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Inhaltsverzeichnis II. Wertigkeiten eines verfassungsrechtlichen Schutzes im Regelungsbereich des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Grundsätzlich absolute Höchstwertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Differenzierte Bedeutung der einzelnen Regelungskomplexe um das Sterben 33 III. Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. „Würde“ – ein neuer staatsrechtlicher Begriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. „Würde“: Ein aristokratisch-monarchischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. „Verdienstlose Würde“? Die Wende zur „Menschenwürde“ . . . . . . . . . . . . . . 36 4. Menschenwürdiger Tod – Schutzausprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 5. Begründung der Menschenwürde aus dem „Menschsein als solchem“ . . . . . . 40 6. Ergebnis: Menschenwürde: Verfassungsrechtliche Leitlinie für eine „Todesordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 IV. Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Tod: „Das“ rechtliche Gleichheitsphänomen, „die“ Egalitätsmacht . . . . . . . . 43 2. „Recht gegen Tod“ in einer Gleichheitsordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Todesgleichheit: Nivellierende Wirkungen auf rechtliche Ordnungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4. Abschwächung „todesüberwindender“ staatsrechtlicher Erscheinungen und Regelungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5. Gleichheit und Schutz des „Rechts auf Leben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 6. „Gleichheit gegen Tod“ – Todesvermeidung in Sozialstaatlichkeit . . . . . . . . . 50 7. Das Ziel: Eine „Todesordnung“ aus verfassungsrechtlicher Gleichheit . . . . . 51 V. Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Freiheit als Verfassungsgrundentscheidung und „Rechtliche Todesordnung“

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2. Menschliche (Verfassungs-)Freiheit gegenüber dem Unabänderlichen . . . . . . 53 3. Freiheit: gegen fremdbestimmtes Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4. Freiheit der Entscheidung über den eigenen Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 5. Schwangerschaftsabbruch: Tod im Namen der Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . 57 6. Todesordnung: ein Feld der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 VI. Demokratie und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Tod des Einzelnen – Sterben des Volkssouveräns? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. „Sterben des Volkes“ – des Volkssouveräns in Migrationen, (Völker-)Wanderungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3. Demokratisches (Weiter-)Leben nach dem normativen Willen (längst) Verstorbener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Tod: Kein „Staatsunfall“; ausgeblendet, überholt, überhöht in Demokratie 62 VII. Religionsfreiheit, Staatskirchenrecht und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Verfassungsschutz für Jenseitsglauben und Jenseitsleugnung . . . . . . . . . . . . . 63

Inhaltsverzeichnis

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2. Religiöse Jenseitsüberzeugungen: Staats-Fundament oder Staats-Gefahr? . . . 64 3. Wirkungen einer Todesordnung in staatskirchenrechtlicher Dimension . . . . . 65 VIII. Ergebnis: Die Grundentscheidungen des Grundgesetzes: Entwicklungsräume einer verfassungsrechtlichen Todesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 I. Todeseintritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Vorgang – Eintrittszeitpunkt – Feststellung des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3. Bedeutung der Regelungen des Todeseintritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 II. Todesursachen: Gegenstände einer Todesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. „Abwägung Leben – Leben“: quantitativ, qualitativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2. Der finale Todes-(Rettungs-)Schuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3. Abwägung Mensch – Staat: Der Todesbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4. Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Ein Problem der Todesbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 b) Missbrauch der Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 c) Rechtsfertigungsversuche der Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 d) Irreparabilität der Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 e) „Leben – nicht vom Staat gegeben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 f) Vernichtung auch der letzten menschlichen Freiheit durch die Todesstrafe 80 5. Staatserlaubte, staatsgeschaffene Todesgefahr: der „Atomtod“ . . . . . . . . . . . . 80 6. „Sterbenlassen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 a) Beurteilungsgesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 b) Entscheidungsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 7. Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Der Mensch – Herr seines Lebens: Vorrangige Entscheidungsbefugnis . . . 84 b) Grenzen der menschlichen Erkenntnis/Einsichtsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . 85 c) Schranken der Rechte anderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 d) Schranken der öffentlichen Sicherheit und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 e) Zwangsernährung/-behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 8. Fazit: Richter und Arzt als rechtliche Letztentscheider über das Leben – Folgen für Ausbildungsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

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Inhaltsverzeichnis 9. Sterben mit Hilfe Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Exkurs: Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Exkurs: Schwangerschaftsverhütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 III. Todesvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Kein eigenständiger Topos des allgemeinen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . 92 2. Die „abschreckenden Rechtsfolgen“ der Regelungen von Todesursachen . . . 92 3. Körperliche Unversehrtheit – Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Sozialrecht – Existenzminimumsschutz und Todesvermeidung . . . . . . . . . . . 95 a) Kein Recht auf Wohlbefinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Trennung von „Lebenserhaltung“ und „Lebensverbesserung“ – „Sozialmedizin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 c) Das Phänomen der „sozialen Verzweiflung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 d) Existenzsicherung als Todesvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5. Exkurs: Überstaatliche Bemühungen um Todesvermeidung . . . . . . . . . . . . . . 97 IV. Todesfolgen und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Bedeutung von Todesfolgen für eine „Todesordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. „Nachwirkende Schutzpflichten“ des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Leichnamsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Andenken Verstorbener – Ehrenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) Renaissance der Majestät des Todes – der „Unbekannte Soldat“ . . . . . . . . 102 3. „Tod“: Lösung rechtlicher Bindungen – „Vorbehalt der Rechtsgeltung“? . . . 103 a) Rechtsgeltung – auf Willen gegründet: „Wegfall im Sterben“? . . . . . . . . . 103 b) „Private Normgeltung“: Todesübergreifend: Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Demokratische Kontinuitätswirkung in todesübergreifendem Normwillen 104 d) Ende der Rechtsgeltung: Sterben des „obsoleten“ Rechts in Faktizität . . . 104 e) Fazit: Rechtsgeltung als todestranszendente Rechtserscheinung . . . . . . . . 105 4. Erbrecht: Tod als Wechsel des Rechtssubjekts – Weitergeltung des Rechts 106 a) Erbrecht: „Die“ Todesfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Das Erbordnungsrecht des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Testierfreiheit und Verwandtenerbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 d) Erbschaftsteuer als Todesfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

D. Ausblick: Das Staatsrecht im Angesicht des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. Den Tod vor Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 II. Mehr, intensivere rechtliche Ordnung des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 III. Normativ hochrangige Ordnung des Sterbens; verfassungsgerichtliche Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Inhaltsverzeichnis

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IV. Inhalt einer „Todesordnung“: zwischen menschlicher Endlichkeit und Unendlichkeiten des Normdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 V. Der Tod als Relativierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 VI. Tod als Relativierung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 VII. Schlussergebnis: Grundlinien einer verfassungsrechtlichen Todesordnung . . . . 119 Schlusswort: Stirb und Werde! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

A. Tod als Thema des Staatsrechts: Eine Dimension eigener Art I. Tod: Das Sicherste im Recht 1. Ein vielschichtiger Ordnungsgegenstand Wenn es überhaupt etwas von Bedeutung gibt in der Welt des Rechts, in der Form einer „tatsächlichen Vorgabe eines Regelungsgegenstands für dessen Ordnung“, so ist es das Erscheinen und Verschwinden seines natürlichen Rechtsträgers, des Menschen. Als Rechtssubjekt ist er die Quelle all dieses Ordnens, das mit ihm beginnt und aufhört; es kann sich nur auf sein Verhalten beziehen, in einer faktischen Welt, die auf ihn wirkt, die er (mit-)gestaltet. Als solches, in seinem Kern, seinem Wesen, bleibt dieses Leben aber für ihn Vorgabe, eben ein „Datum“, etwas VorGegebenes, ein Geschenktes, wie es der lateinische Doppelsinn jenes Wortes ausdrückt. a) Der Eintritt des Menschen in diese seine Rechtswelt, das Faktum der „Beendigung der Geburt“4, lässt sich unschwer erkennen, vorherbestimmen, in engen zeitlichen Grenzen. Darin ist dieser Vorgang ein rechtlich ohne weiteres „regelbarer“. Hier genügt auch ein ergänzender Einzelrückgriff auf die außerrechtliche Disziplin der Medizin, um den tatsächlichen Vorgang in einer rechtlichen Regelbarkeit zu bestimmen. „Nach dem Lebensbeginn entsprechend Biologie/Medizin“ übernimmt alles Übrige – das Recht. b) Der lebensbeendende faktische Vorgang des Todes zeigt, in der Sicht des Rechts, ein weit komplexeres Bild. Zwar lässt auch er sich, als tatsächliches Geschehen, nach Ablauf, Eintritt, physischer Wirksamkeit ähnlich „bestimmen“, damit auch rechtlich regeln5 wie die Geburt. Doch seine Ursachen werfen bereits zahlreiche Bestimmungsfragen auf, erst recht gilt dies für seine Vermeidung; sie erschöpft sich nicht, wie beim Eintritt ins Leben, in Verhinderung der Empfängnis. Bereits die kausalen Formen des Todes, von der Abtreibung über Todesstrafe, Todesschuss, Sterbehilfe bis zum Selbstmord, stellen weit zahlreichere, komplexere, tiefere rechtliche Regelungsfragen. Sie führen weiter zu den jeweiligen Vermeidungsmöglichkeiten und Wirkungsverzögerungen dieser Todesgründe, in der Sicherung eines „Rechts auf Leben“, vom „gesunden Vegetieren“ bis zum „sozialen Exis4 Das Menschsein beginnt daher nicht mehr als solches „mit der Geburt“. Vgl. Exkurs nach C. II. 9. 5 S. unten B. I.

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A. Tod als Thema des Staatsrechts: Eine Dimension eigener Art

tenzminimum“. All dies sind bekannte, täglich sich stellende Ordnungsfragen der Rechtswelt. Das Recht ist es schließlich, welches die speziellen Rechtsfolgen des Sterbens zu regeln hat, vor allem im Erbrecht. Hier kann nicht, wie bei der Geburt, ein einfacher, globaler Hinweis auf (den Beginn) eine(r) Rechtssubjektivität genügen. c) Insgesamt ist also „der Tod“ von einer völlig anderen Art, als Regelungsgegenstand des Rechts, von einer unvergleichbar stärker differenzierten rechtlichen Wirkungspotenzialität als der Beginn des menschlichen Lebens. Da er sich aber auf das „fundamentale rechtliche Datum Mensch“ bezieht, auf den letztlich einzigen Rechtsträger, auf das Rechtssubjekt, kommt ihm unter der unendlichen Vielzahl der tatsächlichen juristischen Regelungsvorgaben eine einzigartige Bedeutung zu. In dieser soll er im Folgenden betrachtet werden, in Zusammenschau seiner wichtigsten Probleme, im Zusammenklang ihrer Lösungen.

2. Tod als „sicherer“ faktischer Vorgang – Grenzen einer rechtlichen Ausgestalt-, Regelbarkeit a) Der Tod ist eine absolut sichere, unabänderliche, als solche vom Rechts nicht auszuschließende, zu negierende Tatsache: Beendigung jedes menschlichen Lebens, dessen Endlichkeit6 als Grenze jeder natürlichen Rechtsträgerschaft – dies certus an incertus quando, unsicher, unbekannt nur in seinem Zeitpunkt. Dieser ist aber ebenfalls, nach Erfahrung und exakten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, in gewissem Umfang eingrenzbar, in einem relativ engen Zeitrahmen. Im Einzelnen und mit Genauigkeit ist allerdings der Eintritt des Ereignisses innerhalb dieser Zeitspanne zwar als solcher unbestimmbar, nur abschätzbar, nach Wahrscheinlichkeiten. Weiter verengte zeitliche Räume ergeben sich hier aber aus statistischen Erfahrungen, aus biologisch/naturwissenschaftlichen allgemeinen Erkenntnissen und deren konkreten Anwendungen im Einzelfall, im Sinne einer „Todesnähe“. Aus diesen außerrechtlichen Fakten und ihren Begrenzungswirkungen kann das Recht etwas rezipieren, in seiner Ordnung verfestigen. Dies muss sogar geschehen, vor allem in der Weise, dass juristisch auf außerrechtliche Disziplinen und ihre Erkenntnisse verwiesen wird, von der Historie über die Biologie bis zur Medizin und (anderen) Naturwissenschaften. Dies betrifft aber nur den Vorgang des Todes als solchen, seinen Ablauf, seinen Zeitpunkt sowie, kausal, die „Lebensbeendigung“ als juristisch festgestelltes Ergebnis; das alles ist rechtlich unregelbar, natürliche Vorgabe des Rechts. Dies ist der Sinn des „dies incertus quando“. Alles andere bleibt aber rechtlichen Regelungen überlassen, in weiten Spielräumen für deren entscheidende Festlegungen, vor allem: 6 Der Wert des verfassungsgeschützten, konkreten Einzellebens (Art. 2 Abs. 1 GG) ist zwar ein unendlicher. Seine zeitliche Trägerschaft als Grundlage seiner rechtlichen Wirksamkeit ist aber beschränkt, damit ist seine Wert-Wirkung als solche eine endliche.

I. Tod: Das Sicherste im Recht

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- Die Beurteilung der Fakten, welche zum Ableben führen (können; Straftaten, Selbstmord) und deren juristische Folgen für Einzelne und die staatliche Gemeinschaft7; - Regelung von faktischen und rechtlichen Vorkehrungen und Veranstaltungen zur Todesvermeidung (Gesundheits-, Sozialrecht)8, sowie - Festlegung der rechtlichen Folgen des faktischen Vorgangs der Lebensbeendigung (Lösung von vertraglichen Bindungen, erbrechtliche Weiterwirkungen über den Tod hinaus)9. b) Aus diesen sehr allgemeinen Bemerkungen zum Vorgang des Lebensendes, seinen Gründen und Folgen, ergeben sich bereits rechtlich bedeutsame Folgerungen: - Die unumstößliche tatsächliche Sicherheit des Todeseintritts ist zwar als solche, als Ereignis in der Zeit, rechtlich näherer Bestimmung unzugänglich, hier können nur Wahrscheinlichkeitsabschätzungen stattfinden; in ihnen rezipiert das Recht allenfalls Ergebnisse anderer Disziplinen (Medizin, Sozialwissenschaften, Historie). Insoweit wirkt der „dies certus an“, die absolute Sicherheit des Endes des menschlichen Lebens, geradezu als letzte „rechtliche Regelungssperre“, als „rechtlicher Verweisungszwang“ auf extrajuristische Gegebenheiten und Erkenntnisse. Insoweit darf, ja muss gerade auch das Staatsrecht „den Tod ignorieren“. - Die (näheren) Umstände des Sterbens betreffen nicht die faktische absolute Sicherheit des Eintritts des Ereignisses als solchen, sondern die Gegebenheiten, i. S. von Kausalitäten, unter denen dieser erfolgt; sie bestimmen, in den engen kreatürlichen Grenzen, auch dessen genau(er)en Zeitpunkt. Dies alles kommt aus dem näheren, ja nächsten Umfeld dieses Menschen; es ist daher – wenn auch nur in den als solchen rechtlich nicht zu beeinflussenden Grenzen – auch ein Ergebnis bestimmter Verhaltensweisen von (noch weiter) Lebenden. Deshalb und insoweit ist es rechtlich regelungsfähig und regelungsbedürftig. - Die Folgen des Todes eines Menschen als Rechtsträger für seine nähere Umgebung, für solche Individuen, deren Verhalten für ihn todesursächlich war, aber auch für seine weitere gesellschaftliche Umgebung, für all diejenigen, welche er durch sein rechtliches Verhalten „erreichen kann“, von Erben und Vertragspartnern10 über Ehrende und Kritiker bis hin zu allgemeinen Vorbild-Wirkungen11 auf die Gemeinschaft – all dies ist rechtlicher Betrachtung, Beurteilung, Entscheidung 7

Vgl. i. Folg. B. I. 2. Vgl. i. Folg. B. I. 3. 9 Vgl. i. Folg. B. I. 4. 10 Gerade durch sein Sterben und mit (Rechts-)Wirkungen auch noch nach dessen Eintritt, besonders deutlich über den Nachlass. 11 Zum Begriff des „Vorbilds“ vgl. Leisner, W., „Vorbild“ – Ein Rechtsbegriff der Verfassung. Gefährdet – zu beleben? DÖV, 2015, 1002. 8

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zugänglich, bedürftig. Hier eröffnen sich juristische Beurteilungsspielräume in ganz unterschiedlicher, insgesamt aber in bedeutsamer Weite. c) Aus einer Zusammenschau dieser Faktizität (a)) und der juristischen Regelbarkeit des Phänomens„Tod“ (b)) ergibt sich als Ausgangspunkt für die folgenden Untersuchungen: Der Tod als „sichere faktische Vorgabe des Rechts“ schließt eine juristische Betrachtung als solche nicht aus. Seine Kausalitäten und Folgen erlauben sie vielmehr, fordern sie vielleicht sogar, in einer Ordnung für Lebende sub specie mortis. Dies ist daher der rechtlicher Leitbegriff, unter dem alle näheren Umstände des Todes im Einzelnen zu betrachten und, soweit möglich, in systematischen Bezügen zusammenzusehen sind. Die faktische Sicherheit des Todes verlangt, rechtfertigt nicht ein „juristisches Wegschauen von dieser Erscheinung“, sondern eine juristische, rechtlich regelnde Bewältigung des letztlich Unvermeidbaren.

II. Des Todes staatsrechtliche Fundamentalbedeutung – „Das Wichtigste“ 1. „Todesüberwindung“ im transpersonalen Staatsrecht a) Dass der Tod als das faktisch „absolut Sichere“12, nicht nur „Wahrscheinliche“, „Mögliche“, demnach als Vorgang rechtlich regelbar, vielleicht gar weitgehend regelungsbedürftig ist, darin ein Gegenstand des Rechts, ist also Ausgangspunkt dieser Betrachtungen. Dies gilt zuallererst für ein demokratisches Staatsrecht, das nicht transpersonale Ordnungen aufbauen will13, sondern den konkret lebenden – und eben sterbenden – Menschen in seinem Mittelpunkt sieht. Es stellt ihn, gerade in seiner natürlichen Vorgegebenheit, an Basis und Spitze seiner Staats- und Rechtsordnung in Art. 1 GG. Wenn der Mensch in dieser Staats/Rechts-Welt das Wichtigste, das „Maß aller Dinge“ ist, als welches er in der Volkssouveränität gefeiert wird, so muss zu diesem „Wichtigsten im Recht“ auch sein Ende gehören – jedenfalls soweit dieses für das Recht erfassbar, regelbar erscheint. Dass und wieweit dies der Fall ist, haben schon die Betrachtungen zur „Sicherheit dieser rechtlichen Vorgabe“ (vorsteh. I.) gezeigt. Hier steigerte sich bereits, dogmatisch, Regelungsfähigkeit zu Regelungsbedürftigkeit. b) Die demokratische Notwendigkeit, wenn nicht den Tod als solchen, so doch eine Betrachtung sub specie mortis in den Mittelpunkt gerade staatsrechtlichen Interesses zu rücken, zeigt gerade ein Blick auf die Bedeutung dieses Gegenstandes, in Staatsordnungen, in denen Transpersonalität Gegenstand und Ziel staatsrechtli12 Dass die „Praxis des Lebens“, vor allem in Einzelentscheidungen, weithin der Richtschnur folgt: „Alle Menschen müssen sterben, vielleicht auch ich“, ist rechtspsychologisch gewiss bedeutsam, staatsrechtlich-grundsätzlich aber irrelevant. 13 Vgl. dazu die Ausführungen in Leisner, W., Personalismus. Individualethik im Staatsrecht, 2015, S. 19 ff.

II. Des Todes staatsrechtliche Fundamentalbedeutung – „Das Wichtigste“

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chen Ordnens war. Nicht „menschliches Leben als solches“, die Steigerung seiner Qualität14 stehen dort im Vordergrund, sondern eine Werthaltigkeit, zu messen an bestimmten rechtlichen Kriterien. Betrachtet wird diese menschliche Existenz zunächst als Teil einer Kosmologie, deren „natürliche Perfektionsvorstellungen“ auf den Menschen übertragen werden15. In der sokratischen Wende entsteht sodann eine Ethik, in welcher der Tod nur als ein „natürlicher“ – wenn auch vielleicht gewaltsamer – Vorgang erscheint, zu beurteilen allein nach Wertverwirklichung im Leben, sowie in/durch dessen Ende. Dazu allein hat nun das Recht seine Ordnungen, seine normativen Hilfen der Wertverwirklichung bereitzustellen, daran ausschließlich wird deren Güte gemessen. Der Tod ist hier nur „reines Ende“, mehr nicht, für Sokrates weder Unfall noch Tragik, ebenso für einen Seneca – letztlich auch einen Gottessohn, der den Tod in Auferstehung überwindet. Religiöser Transpersonalismus verlangt nicht ein Wegschauen vom Tod, sondern ein „Über ihn Hinwegschauen“. Aristokratismus überhöht ihn in Familientradition16, Monarchismus in einer gottesgleichen Macht auf Erden. „Le Roi est mort. Vive Le Roi!“ Wo Unendlichkeit das Recht erreicht17, „da ist der Tod nicht mehr als solcher“, für die Rechtsordnung bleibt er nur mehr als ein zeitlicher Einschnitt, ein Messpunkt, nicht als solcher Gegenstand oder Kriterium einer Beurteilung, Regelung, Bewertung. Rechtliche Bedeutung hat dann nicht der Tod, sondern die Ordnung. In ihr liegen Weiten, die kein Tod begrenzt.

2. Die „personalistische Wendung“ in der Demokratie a) Dem gegenüber hat die Volksherrschaft „die personalistische Wende“ gebracht. Transpersonalismus konnte an ihren staatsrechtlichen Anfängen noch weiter gefeiert werden, als Tod auf Schlachtfeldern, als „Höchste Liebe in der Hingabe des Lebens für Freunde“, in einem Leben, das „der Güter Höchstes“ nicht sein sollte. Doch historisch/geistig vorgezeichnet war, von Anfang an, der demokratische Weg in eine wahrhaft „ganz andere Rechtswelt“. In ihr ist das Leben das Wichtigste, der Tod daher „Teil dieses Wichtigsten“, als sein Ende: zugleich das Schlimmste, ein wahrer „Endpunkt negativer Rechtsbedeutung“. Er löscht den Menschen aus, den Träger aller rechtlichen Höchstwerte. Und noch weit mehr: Er erschüttert die Basis des Staates, des „permanenten Allgemeinen Willens“: einer seiner Träger bricht weg, viele, am Ende alle. Dieses Ende mag noch nicht „in Sicht sein“; fern am Horizont

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Der ja Grenzen nicht wesentlich gesetzt werden müssen. Darin liegt die unverlorene Bedeutung der griechischen Kosmologie, in der einst griechisches Philosophieren begann. 16 Zu diesen Vorstellungen vgl. Leisner, W., Tradition und Verfassungsrecht. Zwischen Fortschrittshemmung und Überzeugungskraft. Vergangenheit als Zukunft, 2013, S. 36 ff. 17 Dies muss Gegenstand einer weiteren gesonderten rechtsgrundsätzlichen Betrachtung sein. 15

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kündigt es sich aber schon an: im (Aus-)Sterben ganzer Völker, in dessen Beginn in Migration. b) Tod als staatsrechtliche Wandlung – ja Verwandlung – das sind nun wirklich staatsgrundlegende, aber völlig andere Perspektiven als die einer goldschimmernden Monarchie, in welcher „der Mensch – der Todeskandidat“ eben doch nur zählte als einer der unzähligen austauschbaren Stützen eines jederzeit reparaturfähigen Kuppelbaus. Der Herrscher lebte ja gewissermaßen weiter in einem Empyreum gottgestalteter Geschichte. Deshalb ist „Sterben in der Demokratie“ staatsrechtlich von einer wahrhaft „ganz anderen“ Qualität als je zuvor, letztlich in einem Sinn, in welchem Karl Barth diese Worte für den „Ganz Anderen“, für seinen Gott gebraucht hat. Wegschauen von einem Gott, damit vom Volkssouverän als dem „Gott auf Erden“, das kann, das darf kein Staatsrecht. Regeln muss es diesen Tod, und zu vermeiden suchen, mit all seinem dogmatischen Rüstzeug. Sonst stellt es sich außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes (Art. 5 Abs. 3 GG). Ist der Tod nicht etwa gar „Das Wichtigste im Demokratischen Staatsrecht“ – „Anfang vom Ende des Souveräns“?

III. Der Tod als drohende Gefahr 1. Tod – „Gefahr für das Leben“ Nach allgemeinem Sprachgebrauch bereits ist der Tod Folge einer „Gefahr“, meist wird Todesgefahr als die jeweils größtmögliche angesehen, inhaltlich geradezu als Prototyp eben dieses Begriffes, im Sinn eines GAU. Auch rechtlich erfüllt er die Voraussetzungen für einen Gefahrenbegriff, wie dieser gerade im Öffentlichen Recht geläufig ist18. Er bedroht ein Rechtsgut mit „Beendigung“, dem höchstrangige Wertigkeit zukommt, das Leben. Die Unsicherheit seines Eintritts entspricht gerade insoweit den dogmatischen Voraussetzungen des Gefahrenbegriffs: Er „droht“ ja grundsätzlich immer, da er ständig hervortreten kann, vom Beginn bis zum Ende des Lebens. Genauere Betrachtung zeigt allerdings: Nicht „der Tod“ stellt die drohende Gefahr dar, sondern irgendwelche Vorfälle, die ihn zur Folge haben. Er selbst ist nicht „Gefahr“, er „droht“ nicht als unvorhersehbares Ereignis; er bezeichnet dessen Wirkung bei dessen Eintreten. Das „tödliche Ereignis“ ist es also, nicht „der Tod“, um dessen Vermeidung es bei Abwendung und Vermeidung einer Todesgefahr geht. Das von ihr bedrohte Rechtsgut ist das („Weiter-“)Leben. Nicht nur dass „der Tod als 18

Zum Begriff „Gefahr“ im Öffentlichen Recht vgl. für viele neuerdings Gromitsaris, A., Subjektivierung oder Objektivierung im Recht der Gefahrenabwehr, DÖV 2005, 535 ff.; Voßkuhle, A., Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Gefahrbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht, JuS 2007, 908 f.; Krüger, E., Der Gefahrbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht, JuS 2013, 985 ff. Zur Rechtsprechung insb. OVG Hamburg, NordÖR 2015, 332.

III. Der Tod als drohende Gefahr

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solcher“ allgemein unvermeidbar ist, er ist es auch in seinem konkreten Eintritt nur als Folge eines „Ereignisses, das eben zum Tode führt“. Dies allein gilt es daher in Gefahrenabwehr, soweit möglich, zu vermeiden. Allerdings steht bei allen derartigen Bemühungen und Betrachtungen die Wertigkeit des Ergebnisses dieser Vorgänge im Vordergrund – eben „das Ende des Lebens“. Sein Gewicht, damit bereits das seiner Bedrohung, ist von der Wirkung des Todes her zu bestimmen, letztlich also aus der Sicht der Wertigkeit des von der Gefahr damit betroffenen, durch sie aufgehobenen Rechtsguts: des Lebens. „Tod“ ist also „Gefahr“ in der Bedrohung mit dem Ende eines Lebens als eines Höchstwertes in der demokratischen Verfassungsordnung. „Tod“ ist für diese als solcher kein „Wertbegriff“. Todesvermeidung wirft verfassungsrechtlich nur eine Frage auf: Lebensschutz.

2. Gleichmäßig-kontinuierliche Gefährdung in der Zeit – „Lebenserwartung“ Rechtsgutgefährdung „des Lebens“ droht, so lange dies in der Zeit ablaufen kann, grundsätzlich in einer ständig wirkenden Kontinuität derselben: Die besonderen Auswirkungen des Todes sind stets die gleichen, dies gilt auch für sein verfassungsrechtliches (Un-)Wertigkeitsgewicht, gleich wann im Lebensverlauf die Todesfolge eintritt. Daraus folgt bereits grundsätzlich, dass alle Vorkehrungen zur Vermeidung des Sterbens mit gleicher rechtlicher Intensitätswirkung erfolgen müssen – von Verfassungswegen. Dies ist eine ernste, grundgesetzliche Mahnung, die in der Praxis weithin wenn nicht ignoriert, so doch „übergangen“ wird. Eine Bedeutungsabschwächung der Todes- (besser der Lebens-)Gefahr, damit der rechtlich geordneten Form zu deren Vermeidung, darf nicht darauf gestützt, danach bemessen werden, „wie weit das schadenstiftende mögliche Ereignis Tod noch zeitlich entfernt ist“. Abgesehen davon, dass sein Eintritt in der weit überwiegenden Zahl der Fälle auch nicht mit annähernder Sicherheit voraus-feststellbar ist (dies incertus quando), der genaue Todeszeitpunkt nie – Lebenserwartung19 ist vielleicht wirtschaftlich, nicht aber mit Blick auf das Leben als solches ein wertbildender Faktor. Die verbreitete, wenn nicht gängige Praxis der Todesvermeidung nach einem resignativen „es hat doch ohnehin keinen Sinn mehr“ mag sich ökonomisch anbieten, auch menschlich verständlich 19

Im Verfassungsrecht wird der Begriff der Gefahr, auch in seinen Stufungen, näher behandelt im Zusammenhang mit Art. 13 Abs. 2 GG. „Lebenserwartung“ als DurchschnittsAbschätzungsbegriff des Versicherungsrechts hat demgegenüber eine „rechtstechnische“, nicht eine „verfassungswertige“ Bedeutung. Dazu s. Schwintowski, H.-P., Geschlechtsdiskriminierung durch risikobasierte Versicherungstarife? VersR 2011, 164 ff.; Kornes, R., Die Abfindung von Personenschadensersatzansprüchen: Abfindungszins, Lebenserwartung, Sterbetafeln, VersR 2015, 794 ff.; Wandt, M., Prämienanpassung in der Lebensversicherung zum Ausgleich niedriger Kapitalerträge des Versicherers? VersR 2015, 918 ff.

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sein. (Verfassungs-)Rechtlich ist die Todesgefahr für „das Leben“, welches sie bedroht, schon begrifflich immer die gleiche, also gleich gewichtig als solche, sie erfordert gleiche Vermeidungsanstrengungen, solange auch nur eine zeitlich geringe Verlängerung der Lebenserwartung als möglich erscheint. „Lebenserwartung“ ist also als solche kein Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen einer Gefahrenabwehr des Todes, aus der Sicht des stets kontinuierlich gleich ablaufenden, daher immer als solchen gleichwertigen Lebens. Der Säugling darf nicht stärker geschützt werden als der junge Erwachsene, dieser nicht aufwendiger als der Greis. Rettungsanordnungen mit Prioritäten für Kinder rechtfertigen sich nur aus deren geringeren kräftebedingten Überlebenschancen, nie und nicht im Geringsten, aus einer mehr oder minder großen Lebenserwartung. Dies ergibt sich nicht erst aus einer, wie immer zu bestimmenden, Generationengleichheit (vgl. i. Folg. B. II. zur Gleichheit), sondern bereits aus dem öffentlich-rechtlichen Gefahrenbegriff: Hier soll ein Rechtsgut des Lebens geschützt werden, welches als solches „immer dasselbe ist“, stets von gleicher Wertigkeit. Sein Schutz ist daher, in jedem Fall des zeitlichen Gefahreneintritts, von völlig gleicher Wichtigkeit, eine gleichgewichtige Aufgabe im Rahmen der folgenden Betrachtungen. Der „Tod als natürliches Phänomen in der Zeit“ hat keinerlei rechtliche Bedeutung für das rechtliche Gewicht von Todesgründen, Todesvermeidung oder juristischen Todesfolgen.

3. Wahrscheinlichkeit des Eintritts – „Wirkungsnähe der Todesgefahr“ a) Streng zu trennen von der Beurteilung der Wertigkeit des durch das Sterben bedrohten Rechtsguts „Leben“ ist, bei jeder Bewertung des „Vorganges Tod“, der Grad der Wahrscheinlichkeit, mit welcher Wirkungen dieser Gefahr eintreten (könn(t)en). Hier sind alle Kategorien des Öffentlichen Rechts der Gefahrenabwehr im Bereich der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung anzuwenden; denn für diese Letztere konstitutiv ist ja in erster Linie die Fortsetzung des Lebens ohne vermeidbare Beeinträchtigungen. Diese (Un-)Wahrscheinlichkeit eines Todeseintritts ist vorrangiges Kriterium der Beurteilung der Kausalitäten der Vermeidung(smöglichkeit)en, wie der Folgen eines Ablebens in rechtlicher Sicht. Hier sind allgemeine Kategorien der Risikodogmatik einzusetzen20. Im Vordergrund steht dabei der Komplex der möglichen Todesgründe. Es folgt dem bedeutungsmäßig die Beurteilung der Todesvermeidung(schancen), während demgegenüber das Gewicht einer Wahrscheinlichkeit des Todes für dessen rechtliche Folgen eher zurücktritt. b) Unter den Todesgründen scheidet allein die Todesstrafe bei solcher Wahrscheinlichkeitsbeurteilung vollständig, bereits begrifflich aus. Sie zielt ja, – von zu 20 Zum Risiko vgl. grdl. Ipsen, J., VVdStRL 48, 177 (186 f.); Breuer, R., NVwZ 1990, 211 (213 f.). Hier spielt auch der Begriff des „Restrisikos“ eine Rolle, dazu Murswiek, D., HRUR II., 2. Aufl. 1994, Sp. 1719 ff.

III. Der Tod als drohende Gefahr

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vernachlässigenden Vollstreckungsfehlern abgesehen – gerade und wirkungsmäßig mit höchstmöglicher Genauigkeit auf den Erfolg der Lebensbeendigung. Nach ihr zeigt sich jedoch ein Klimax von Todeswahrscheinlichkeiten als Folge menschlicher, öffentlicher und privater Verhaltensweisen, in welchen diese immer weiter abnehmen: - Im Fall von Selbsttötung und Schwangerschaftsabbruch ist der Tod – wenn man ihn als seine Folge sieht – immerhin gewollte und derart (hoch) wahrscheinliche Folge, dass „allerhöchste Erfolgswahrscheinlichkeit der Gefahr besteht“. Das Misslingen derartiger Eingriffe muss als unwahrscheinlich vernachlässigt werden. - In Fällen des gezielten Todes(ab)schusses oder des (militärischen) Einsatzbefehls trotz hoher Wahrscheinlichkeit des Nicht-Überlebens21 wird „der Tod in Kauf genommen, mehr oder weniger“, je nach den Umständen des Einzelfalles. Daran ändert eine verfassungsmäßige Abwägung der zu verletzenden/vernichtenden Rechtsgüter und der zu rettenden nichts. Beim Todesschuss erfolgt sie zwischen individuellen, i. d. R. feststellbaren grundrechtlichen „Einzelwerten des Lebens“, wobei quantitative Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle spielen (können). Beim militärischen „Himmelfahrtskommando“ und auch beim (hoch) gefährlichen Einsatzbefehl wird der Tod des Einzelnen „in Kauf genommen“, zum Schutz einer zahlreichen, zahllosen, i. d. R. jedenfalls nicht näher bestimmbaren Zahl von gefährdeten menschlichen Leben. Dies mag weithin ein globaler Vorwand sein, für Abwägung des „zu opfernden“ Einzellebens gegenüber Existenz, Macht, Glück der Gemeinschaft – im Ergebnis sogar gegenüber einer „Staatserhaltung“. All diese Abwägungen betreffen jedoch die Entscheidungsgründe, nicht die Erfolgswahrscheinlichkeit des Todes. - Weiter unten im Klimax der Todeswahrscheinlichkeit stehen Krankheiten im weiten Sinne der Sozialgesetzgebung. Hier folgt das Recht dem Fachurteil der Medizin im Einzelfall, ihrer Einschätzung der jeweiligen Gefährlichkeitsstufe. Todeswahrscheinlichkeit kann „ganz nahe“ sein – oder gegen Null tendieren. - Am Ende des Klimax finden sich generelle Auswirkungen der wirtschaftlichsozialen Lage auf Lebensgefährdung, damit auch ein Wohlbefinden, bis hin zur „Gesundheit“, in einem (sehr) weiten Sinn. Hier können „Todesursachen“ im eigentlichen Sinn nur im Extremfall festgestellt werden, lassen sich aber als solche kaum unter dem Gesichtspunkt einer Todesvermeidung betrachten. Dennoch spielt hier „der Tod als solcher“ in der sozialpolitischen, mehr noch in der internationalen Diskussion um Existenz(bei)hilfen immer wieder eine beachtliche Rolle. Auch dieser Komplex kann also unter dem Gesichtspunkt der „abstrakten Gefahr“22 hier nicht völlig ausgeblendet werden. 21 22

S. unten C. II. 3. S. etwa BVerwG DÖV 1970, 713 (715) zur abstrakten Gefahr.

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4. Schwere der Todesgefahr – nach Schutzgut und Eintrittswahrscheinlichkeit a) Im Öffentlichen Recht der Gefahrenabwehr gilt allgemein-grundsätzlich die Regel: Die Schwere der Gefahr, damit die Notwendigkeit ihrer Bekämpfung/Vermeidung, ist, von der Bagatelle bis zu einer vernichtenden Wirkung ihres Eintritts, im vollen Wortsinn, zunächst und jedenfalls zu bemessen nach der Wertigkeit der durch sie bedrohten Rechtsgüter. Sodann aber ist die rechtliche Reaktion darauf zu gestalten unter Berücksichtigung der Eintrittswahrscheinlichkeit. Rechtsgutwert und Verletzungswahrscheinlichkeit sind schließlich zusammenzusehen in der Reaktion der Rechtsordnung auf die Gefahr, in einem (gewissen) Kompensationsverhältnis beider Entscheidungselemente23. Je höher die Wertigkeit des bedrohten Rechtsguts ist, desto größer dürfen, müssen vielleicht die Anstrengungen sein, es vor Beeinträchtigungen zu schützen – und umgekehrt: mit umso schwächerer Verfahrensabwehr können sich Gesetzgeber und Verwaltung begnügen, je geringer die Eintrittswahrscheinlichkeit ist. Ein Verhältnismäßigkeitsgrundsatz24 liegt insoweit dem Recht der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung zugrunde. Er entspricht insofern der allgemeinen Begrifflichkeit der Proportionalität, wie sie vor allem im Bereich des Art. 12 GG insoweit entwickelt worden ist, als dabei zwei an sich inhaltlich heterogene Begriffe zu einander in Verbindung zu setzen sind: Fallhäufigkeit und Höhe eines Verletzungsschadens. b) Dies entspricht eben der dogmatischen Struktur des Gefahrenbegriffs als solchen. Es wirft aber an sich schon schwierige Fragen bei einer Abwägung25 auf, wie sie dabei gemeinhin als notwendig erachtet und auch laufend eingesetzt wird. Es muss hier bei der zeitlichen Komponente der Eintrittswahrscheinlichkeit auch zurückgegriffen werden auf den Inhalt des geschützten Rechtsguts; damit können eben letztlich doch wieder Wertigkeiten von Rechtsgütern abwägend verglichen werden. Im Fall des „Lebensschutzes“, der Todesvermeidung i. w. S., kann das Schutzgut, welches die Eintrittswahrscheinlichkeit in ihrem Gewicht immerhin mitbestimmt, nur sein: entweder wiederum (nur) das jeweils zu schützende bedrohte Leben, also ein individualrechtlicher Wert – oder ein „kollektiv“ zu bestimmender Wert, die Öffentliche Sicherheit und Ordnung, also ein Schutzzustand nach dem Willen einer unabsehbar/unbestimmten, zu einer eigenständigen Einheit integrierten Zahl von Individuen. Dieser Begriffsinhalt kann dann „weiter integriert“ werden zu etwas wie einer „funktionierenden Staatlichkeit“, ja zu einem Staat als solchem, als einem Schutzgut in seiner Staatsordnung.

23

Im Schadensersatzrecht werden allgemein Rechtsgutwert und Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens in ein gewisses Abwägungs-Kompensationsverhältnis gebracht. 24 Verhältnismäßigkeit im Sinn der Rechtsprechung des BVerfG E 23, 127 (133 m. Nachw.); 61, 1 (35); 76, 256 (259) st. Rspr. 25 Grds. Leisner, W., Der Abwägungsstaat. Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit, 1997.

III. Der Tod als drohende Gefahr

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c) Angewandt auf das Leben als höchstwertiges verfassungsrechtliches Gut bedeutet dies: Als individuelles Schutzgut ist es rechtlich einer Relativierung nicht zugänglich. Todesvermeidung i. w. S. erscheint daher als ein Begriff von einer geradezu unendlichen Wertigkeit26 des Lebens als des Gegenstandes der Bedrohung. Grundsätzlich müssten also alle denkbaren faktischen und rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, alle auch nur vorstellbaren Maßnahmen ergriffen werden zur Vermeidung des Todes, wie entfernt dessen Eintrittswahrscheinlichkeit auch immer sein mag. Andererseits wird der hinter dieser Wahrscheinlichkeit stehende Schutzzweck der Gewährleistung Öffentlicher Sicherheit und Ordnung, hochgerechnet zu einem „Staatsschutz“, durch Gefährdung oder Verlust eines Lebens als solchen letztlich nur minimal, jedenfalls in rechtlich zu vernachlässigendem Umfang beeinträchtigt. Nur wenn hier die Wahrscheinlichkeit quantitativ derart zunimmt, dass eine große Zahl oder gar eine Mehrheit von Bürgern sich bedroht, also „virtuell betroffen“ sieht oder doch fühlen darf, nimmt auch hier die Schutzwertigkeit des Lebens an Abwägungsgewicht entsprechend zu. Immer aber ist sie es, d. h. die dahinterstehende Lebenswertigkeit als solche, welche als Vergleichsgröße in eine Abwägung einzustellen ist. Damit läuft aber die Abwägung bei todesvermeidenden Veranstaltungen letztlich auf eine „quantitative Beurteilung“ hinaus: Ein Leben darf „geopfert“, sein sicherer Tod in Kauf genommen werden, immer aber auch nur dann, wenn der mögliche Tod vieler anderer dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden wird (werden kann). M. a. W.: Die mögliche Sicherheit ist insoweit abwägungsmäßig wertiger als die tatsächliche, wenn die mögliche Zahl der Wertträger im ersteren Fall quantitativ, zahlenmäßig höher liegt als bei einer verhältnismäßig weit geringeren Zahl. Das Ergebnis mag, bei grundsätzlicher Betrachtung, als paradox erscheinen, aber es ist rechtlich unausweichlich und es entspricht der ganz h. Praxis von jeher: Ein Leben ist weniger wert als mehrere, abgewogen wird letztlich nicht „nach Wahrscheinlichkeiten“, sondern eben doch nach der hinter ihnen stehenden möglichen Zahl der Tode(sfälle). d) Dagegen ist auch, grundsätzlich, kaum etwas einzuwenden: stehen unendliche Wertigkeiten, damit letztlich Unendlichkeiten, neben-, gegeneinander, so gebührt der Vorrang eben der „größeren bedrohten Zahl“. Am Ende entscheidet also doch immer, wie auch (weithin) in der Natur(wissenschaft), das Quantum. Entscheidungsmacht der Abwägung zwischen unendlichen Wertigkeiten kann dann, in einer solchen letzten Quantifizierung, immer nur einem zustehen: dem Staat und seiner Gewalt des Ordnens – sonst gäbe es ein solches überhaupt nicht27.

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Was allerdings in Art. 2 Abs. 1 GG nur in dessen Zusammenhang mit Art. 1 GG normativ bestimmt ist. 27 Dies ist eine Begründungsmöglichkeit für die Allmacht des Staates, als ein echter „Unendlichkeitsbegriff“, der in diesem Zusammenhang noch näher zu behandeln sein wird.

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A. Tod als Thema des Staatsrechts: Eine Dimension eigener Art

IV. Tod als höchstwertiger rechtlicher Ordnungsgegenstand: Keine Verdrängung, sondern hochrangige Regelungsaufgabe Die Bedeutung des Themas, seine bereits unter dem Gesichtspunkt der Todesvermeidung verfassungsmäßige Rechtswertigkeit, damit die Vorrangigkeit dieser Ordnungsaufgabe, sind deutlich geworden. Dies muss sich auf die verfassungspolitische Grundhaltung zu diesem Gegenstand bei den folgenden Betrachtungen bereits allgemein auswirken.

1. Kein „Wegschauen vom Sterben“ Ein „Wegschauen vom Tod“28, so verständlich es sein mag, aus einer Art von existenziellem Schauder vor einer unvermeidbaren Vernichtung, darf die allgemeine Sicht auf das Thema wie die Gestaltung von Vermeidungsstrategien, aber auch von Folgeregelungen des Lebensendes in keiner Weise beeinflussen. Eine derartige verfassungspolitische Grundstimmung würde eines der höchsten Verfassungsziele verfehlen: Ordnung des menschlichen Lebens in seinen wichtigsten individualen Bereichen. Eine Verfassung, die nicht nur in politisch verständlicher Weise, aus ihren Wahlgrundlagen heraus, „das Leben mit all seinen Handlungsmöglichkeiten des Aktivbürgers“29 in den Mittelpunkt stellt, muss sich dennoch immer wieder, ja ständig dem Tod stellen als einem drängenden, unverschiebbaren, weil eben unvermeidbaren Ereignis. Dies ist nicht nur dort Vorrangverpflichtung aus der demokratischen Staatsform heraus, wo es gilt, Todkranke auf ihren letzten Lebenswegen helfend zu begleiten30. „Der Tod“ muss deshalb bereits immer gegenwärtig sein im (Staats-)Recht, in gleicher Fundamentalität, in jedem rechtlichen Ordnen des menschlichen Lebens, weil er eben ein notwendiger Ausdruck der Freiheit ist: schon deshalb, weil ihm diese zu jedem Augenblick im Selbstmord offen steht. Das Recht auf das Lebensende kann ja sogar Grundrechtsqualität gewinnen, zu entwickeln aus einem „Recht auf Leben in Gesundheit“31. Gleichheit der Menschen wird nirgends so

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Beiden: „Weg-Schauen in Schauder“ wie „dem Tod“ ist ja etwas gleichermaßen „Bildliches“ eigen, an sich fern von jeder Form juristischer Gedankenoperation. 29 Deutlich schon im sehr weiten Schutzgegenstand der „Meinung“ in Art. 5 GG, vgl. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 5 Rn. 22 ff., aber auch in dem demokratiegrundlegenden Wahlrecht (Art. 38 GG). 30 Zur Debatte um die Palliativ-Medizin vgl. aus letzter Zeit Oduncu, F., Ärztliche Sterbehilfe im Spannungsfeld von Medizin, Ethik und Recht, MedR 2005, 437 ff.; 516 ff.; Duttge, G., Der assistierte Suizid: Ein Dilemma nicht nur der Ärzteschaft, MedR 2014, 621 ff.; Wienke, A., Einbecker Empfehlungen der DGMR zu aktuellen Rechtsfragen der Palliativversorgung, MedR 2015, 106. 31 S. i. Folg. allgemein B. II., näher zur Freiheit B. V.

IV. Tod als höchstwertiger rechtlicher Ordnungsgegenstand

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deutlich wie gerade hier32. Die Verfassung sieht den Menschen in einer Würde, welche in Spannung, wenn nicht in Gegensatz steht zu seinem so „einfachen“ animalischen Ende33. Schließlich beruhen Verfassung und Staatlichkeit überhaupt darauf, dass dieser Tod „gerade jetzt“ nicht eintritt, später aber (nur) „auf Raten“ – also regelungsfähig, ordnungsbedürftig – zu ordnen. Allein dies sind schon Gründe genug, diesem Phänomen eine Grundsatzbetrachtung aus den Grundentscheidungen der Verfassung heraus (i. Folg. B.) zu widmen. Etwas Wichtigeres gibt es nicht im Recht, nicht für die Verfassung.

2. Notwendigkeit einer Intensivierung von Einzelregelungen über das Sterben und seine Folgen Bei grundsätzlichen Betrachtungen i. S. von vorsteh. 1. darf aber die Darstellung nicht stehen bleiben. Jene mögen Leitlinien erkennen lassen, Richtungen und Dimensionen rechtlicher Gestaltungen. Sie aber dürfen nicht unbestimmt sein, sich etwa gar in Unendlichkeiten verlieren, in Programmen jedenfalls aufgeschoben werden bis zu einem Verdämmern – gerade dieses Endes. Gerade weil gegen den Tod als solchen „wenig zu tun ist“ – jedenfalls am Ende „nichts“ – sind Vor-Kehrungen gefordert – und eine Nach-Kehr – wenn der Leichenzug vorübergegangen ist, jedenfalls in den Formen der Wahrnehmung seiner Dramatik durch die (Über-)Lebenden. Das Recht ist ein Totengräber, der Wichtigste wohl von allen. Doch der Mensch ist erst „aus aller Augen wirklich verschwunden“, wenn niemand mehr sein Grab, seine Rechte und deren Wirkungen auch nur sucht, vermutet. Bis dorthin ist das Recht ordnende Folgenbeseitigung, in zahllosen Einzelheiten – so wie es vor dem Sterben im Grunde nichts war als Todesvermeidung, Todesvorbereitung. Daher muss alles, was den Tod schon sehen lässt am Horizont, was ihn noch erkennen kann in seinem Verschwinden, was eben irgendeinen wesentlichen Bezug hat gerade zu ihm als Ereignis, im Einzelnen betrachtet und, soweit möglich, darin und daraus (dann) zusammengesehen werden. Dies ist denn auch die Mahnung, die von allen Einzelbetrachtungen in einem folgenden Teil C. ausgehen muss: zu Ursachen, Vermeidung, Folgen des Lebensendes. Hier sollte ein geschärftes Rechtsbewusstsein als Todesbewusstsein lebendig sein, gehandelt muss werden, mehr und besser geordnet, sogar in einer letzten Atemlosigkeit, wie sie diesem Vorgang des

32 33

Vgl. i. Folg. B. IV. Vgl. i. Folg. B. I. 1.

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A. Tod als Thema des Staatsrechts: Eine Dimension eigener Art

Sterbens so oft vorausgeht. Verfassung sub specie aeternitatis – das ist eine Mahnung34. Ihr folgt dann die letzte: die allerletzte: sub specie mortis. Eine „rechtliche Gesamtordnung des Todes“ ist daher letztlich gefordert, sie könnte nur eine Aufgabe für die alles Menschliche einbeziehende aber auch übergreifende Verfassungsordnung sein. Es wird sie als solche in absehbarer Zeit kaum geben; gerade die so lebendige demokratische Politik, die (bald) nicht einmal Staatsbegräbnisse mehr kennen wird, die „ewig junge Demokratie“, wird immer nur scheue Blicke auf das werfen, was das Ende all ihrer Träger und Akteure bedeutet, eines Tages auch das ihre sein wird als der „besten möglichen Ordnung“ – bis sie oder doch etwas von ihrem Heute, dann doch wieder aufersteht in der „Renaissance der guten Staatsformen“35. Etwas von einem „Si le grain ne meurt …“, seiner Erinnerung an Tod und Auferstehung, sollte die folgende Gedanken daher begleiten: Damit sie erträglich bleiben für Gläubige, Ungläubige, Nicht-Gläubige. So will es eine Verfassung, die darin wahrhaft vor-nehm ist, dass sie sich „alles vornimmt“. „Das Ende“ – das ist nicht nur das Fürchterliche, sondern auch das „ganz Große“. Richard Wagner hat es in der Götterdämmerung gezeigt. Eine menschenwürdige Volksherrschaft begleitet ihre Bürger in Todesbewusstsein bis dort hin, sie umsorgt sie in ihrem Ende.

V. Ziele und Vorgehen der Untersuchung 1. Keine Darstellung aller todesbezogenen (rechtlichen) Regelungen Gegenstand der folgenden Untersuchung kann es nicht sein, eine auch nur überblickhafte Darstellung aller näher todesbezogenen Probleme und Regelungen zu geben, wie sie sich in der verfassungsmäßigen Ordnung der Demokratie bieten. Insbesondere straf- und zivilrechtliche Einzelregelungen und deren Entwicklung müssen außer Betracht bleiben. Gegenstand sind vielmehr staatsrechtliche Grundentscheidungen der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes – allerdings nicht nur in den, wenigen, verfassungsrechtlichen Bestimmungen mit eindeutigem Todesbezug, sondern auch, ja vor allem, in den Ausstrahlungen der verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen auf das Phänomen menschlichen Sterbens. Es gilt, sie zusammenzusehen in einer staatsgrundsätzlichen Reflexion. Nicht „Tod im Betrieb“, „am Arbeitsplatz“, im „stillen Kämmerlein“, vorzeitig oder im „natürlichen“ Auslaufen im Alter, sind ihre konkreten Gegenstände. Vielmehr ist es hier 34 Diese Mahnung einer Unendlichkeit muss aufgenommen werden in einer grundsätzlichen Behandlung des Begriffs im Staatsrecht. 35 S. dazu Leisner, W., Staatsrenaissance. Die Wiederkehr der „guten Staatsformen“, 1987; 2. Aufl. in: ders., Das Demokratische Reich, Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht, 2004, S. 287 ff.

V. Ziele und Vorgehen der Untersuchung

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wirklich „der Tod als solcher“, der „als Verfassungsphänomen“ in den Blick zu nehmen ist. Die Verfassung, diese höchste, wichtigste, zu Recht gepriesene und wirkungsmäßig gesteigerte Stufe des Rechts ist es, welche als solche Bezugs-, Blickpunkt ist. Dabei ist eines bewusst: Gegenstand der Verfassung ist politisches Gestalten, also der „politische Mensch“ in seinem Handeln, seinem Leben. Dass dies ein Ende nimmt – nimmt er hin, mit ihm „sein“ Grundgesetz. In dieser Sicht ist der Tod stets ein Unfall. Dass er aber, letztlich, nicht zu verhindern ist, bedeutet eben nicht, dass auf ihn hin der Staat ordnungsblind sein dürfte. Die vielen Einzelheiten, die für seine Rechtsordnung „Referenzpunkte des Lebensendes“ darstellen, müssen deshalb, auf höherer normativer Ebene, zusammengesehen werden, weil sie der Mensch auch nur in solcher Globalität als eine „Vorgabe für sein Leben als politisch Handelnder“ erkennen und fruchtbar werden lassen kann. Synopse, darin Systemsuche, nicht Detailbemühung ist daher angesagt im Folgenden – auch wenn der Teufel, dem der Tod ja angelastet wird, gerade darin steckt, im Detail. Dies aber ist das InduktionsSchicksal36, und damit eine der letzten Grenzen aller rechtlichen, gedanklichen Bemühungen.

2. Lösungslinien aus verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen a) Dass auf diesen Wegen die weitreichende bisherige „Verdrängung des Todes“ – verdrängt werden muss, wurde bereits grundsätzlich deutlich37. Hier gilt es, normative, administrative, judikative bisherige Defizite entschlossen aufzufüllen, jedenfalls abzuschwächen, damit nicht der Tod, das „schwarze Loch“, in das alle fallen, schon in Vorwirkungen, im Leben viele dunkle Löcher aufreiße, rechtliche. Die Defizite der rechtlichen Einzelregelungen des Lebensendes müssen daher aufgefüllt werden, soweit dies die Ordnungsmacht zulässt, nein: aufgibt, welche die höhere Macht des Pouvoir constituant den Pouvoirs constitués des Grundgesetzes anvertraut hat. Menschenwürde (Art. 1 GG), Gleichheit (Art. 3 GG), Freiheit (Art. 2 GG), aber auch die Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 1 GG) mit all ihren staatskonstitutiven Handlungsrechten und -pflichten des Bürgers – all dies muss in einem Teil B vorrangig normativ wie systematisch vorgreiflich behandelt werden, in seinen rechtlichen Wirkungen auf eine „Ordnung des Sterbens“. b) Eine solche juristische Höhen- und Gesamtbetrachtung des Todes muss, aus diesen verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen heraus, an manchen Stellen dann mehr und eingehendere Normierungen fordern als bisher. Nicht notwendig auf Verfassungsebene sind hier alle Einzelheiten zu regeln; doch sie müssen sich stets 36 Leisner, W., Institutionelle Evolution. Grundlinien einer Allgemeinen Staatslehre, 2012, S. 82 ff. 37 Vorsteh. III. 1., 2.

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A. Tod als Thema des Staatsrechts: Eine Dimension eigener Art

zusammensehen und systematisch erklären lassen in Lösungslinien des Grundgesetzes, mit Wirkungen bis hinab in untergesetzliche Regelungsebenen. Hier darf nichts mehr oder weniger unbestimmten Vorstellungen einer „allgemeinen Sicherheit und Ordnung“ überlassen werden; der Tod ist nicht wesentlich (nur) ein polizeirelevanter Vorgang, ein Vorfall – Unfall, dessen ordnungsstörende Auswirkungen es möglichst in Grenzen zu halten gilt. So aber wird er heute weitgehend behandelt38, als ein Unfall eben, den man hätte vermeiden können, sollen – oder als ein altersbedingter „natürlicher“ Vorgang, der sich letztlich, in der tatsächlichen Unerbittlichkeit einer Endlösung, rechtlicher, politisch bedeutsamer, damit einer Verfassungsordnung schlechthin entzöge. Gerade hier muss das Verhältnis „Recht und Fakten“ genauer betrachtet werden39; eben in diesem Fall hat zu gelten „ex facto oritur ius“ – das Recht kommt aus der neben der Geburt wichtigsten Tatsache: dem Lebensende, aus dessen doch auch so bedeutsam gemeinschaftsordnender Faktizität.

3. Entfaltungsschritte einer rechtlichen Ordnung des Lebensendes Eine gewisse systematisierende Zusammenschau zu einer Ordnung des Lebensendes darf sich nicht im Aufzeigen von Defiziten des Geltenden erschöpfen, schon gar nicht in Einzelkritik geltender Regelungen, Überzeugungen, Auffassungen. Sie muss eben primär aus den Grundentscheidungen der Verfassung kommen. a) Der erste und wichtigste Schritt ist der einer grundlegenden, vertieften Bewusstwerdung der rechtlichen Phänomene des Todes, damit in dessen voller rechtlicher Bedeutung. Von einem verbreiteten derartigen Bewusstsein kann gegenwärtig kaum gesprochen werden, dies dürfte unbestritten sein. Allein solches zu versuchen, schafft aber bereits eine veränderte rechtliche Grundstimmung, einen anderen Auslegungs-Raum für sehr viele einzelne Ordnungselemente. b) Sodann gilt es, wie bereits erwähnt, aufgrund dieser Neubestimmung der systematischen Grundsatzsicht auf das Lebensende, die normativen Wirkungen der Grundentscheidungen des Grundgesetzes im Einzelnen zum Tragen zu bringen. Dies muss auf den wichtigsten Regelungsfeldern erfolgen, auf welchen das Absterben rechtliche Voraussetzungen aufstellt oder verlangt, die aber bisher weithin nur als solche (rein) faktischer Art angesehen worden sind. Soweit möglich sind sie in juristische Ordnungsgestaltungen zu überführen, wenn auch nur in Formen allgemeiner (verfassungs-) rechtlicher Leitlinien (i. Folg. B.). Daran muss sich anschließen eine Einzelbetrachtung von bisherigen Regelung(sansätz)en (i. Folg. C.); dort sind ja, weithin sogar seit langem, die wichtigsten Ordnungsnotwendigkeiten 38

Der polizeirechtliche Begriff des „Störers“ zeigt es. Das Verhältnis „Recht – Fakten“ muss in einer speziellen Offenheit zur Entwicklung der Realität betrachtet werden, gerade in der Demokratie, vgl. Leisner, W., Institutionelle Evolution, 2012, S. 46 ff. 39

V. Ziele und Vorgehen der Untersuchung

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des Phänomens Lebensende bereits erkannt worden. Rechtliche Regelungsdefizite sind darin im Einzelnen aufzuzeigen, soweit möglich mit Hinweisen auf Notwendigkeit ihrer Auffüllung. Dies kann versucht werden unter Einsatz der Ergebnisse von Teil B., also in deduktiver Methodik aus der Verfassungssystematik heraus, oder aber induktiv unter erweiternder – oder einschränkender – Hochrechnung aus den bisherigen rechtlichen Einzelansätzen. Hier öffnen sich dann bereits beschriebene Wege40 zu einem in rechtlicher Ordnung zu bewältigenden „Phänomen Tod“, aus individuellen, insbesondere gewissensmäßigen Potenzialen der Einzelmenschlichkeit. In einem letzten Teil (i. Folg. D.) sind schließlich die Ergebnisse der Untersuchung nochmals heraus- und zusammenzustellen: Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Todesordnung, damit zugleich letzte Ordnungs-Grenzen des Staates und seines Rechts.

4. „Geschlossene rechtliche Prüfungsordnung des Lebensendes? In all dem dürfen sich aber die folgenden Betrachtungen keine zu hohen Ziele setzen. Jahrhunderte-, jahrtausendealte Entwicklungen, hier sogar weithin in gegenwartsnaher Traditionalität41 verfestigt und fassbar, sprechen vielmehr dafür, dass nur einige Schritte in (mehr als) vorsichtiger Annäherung an die Regelung einer Erscheinung zu erwarten sind, die auch in einer säkularisierten, „rationalisierten“ Welt der Demokratie noch immer vom Schauder des letztlich Unfassbaren, Unannehmbaren umgeben ist. Es wird nicht gelingen, sich einem solchen Ereignis gegenüber in einer immer deutlicher erkannten prae-mortalen Gegenwart „rechtlich häuslich einzurichten“; letztlich wird nach wie vor eine letzte Resignation herrschen im Angesicht dieses größten aller faktischen Gleichheitsphänomene. Freedom from Fear – dieses demokratische All-round-Versprechen, es kann hier nicht eingelöst werden. Gerade für Demokraten steigert sich hier die Todesangst noch in eine höhere, staatsrechtliche Dimension hinein: Ihre Souveränität, ihr Volkssouverän könnte – und er wird! – sterben in Migration, Identitätsverlust, Seuchen, Naturerscheinungen – irgendwann. Der demokratische Bürger mag dies für sein Leben längst nicht so ernst nehmen wie der Untertan eines Monarchen, der mit dessen physischem Ende etwas untergehen sah von der großen Weltordnung, bis in eine Göttlichkeit hinein. Ruhige Gleichgültigkeit, juristischen Gleichmut aber kann es auch in der Rechtswelt der Volksherrschaft nicht geben gegenüber dem Tod. In Deutschland vor allem hat diesem Land, wie allen seinen Bürgern, Dürers Stift dieses Ende vorgezeichnet. 40 Dazu Leisner, Personalismus, FN 13, S. 76 ff., zum Gewissen, zur Persönlichkeit des Einzelmenschen. 41 Zur Macht dieses Herkommens vgl. Leisner, Tradition, FN 16.

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A. Tod als Thema des Staatsrechts: Eine Dimension eigener Art

Wagners Todesmarsch ist in seiner Macht nie übertroffen, überwunden worden. In diesem Lande war man „dem Tod immer wieder so nahe“, in jedem Sinn, wie in nicht vielen anderen unserer Welt. Das „Deutsche Staatsrecht“, lange Zeit eine ganz besondere Gedankenwelt – auch die von „Alberich(en)“ – „denkt an das Ende“. Bleiben wird diese Frage zu allererst im Recht: Kann Verfassung ein juristischer Kreuzweg sein – zum Tode?

B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod I. Rechtlich regelungsfähige/-bedürftige Bereiche einer „Todesordnung“ Betrachtungen um das Problem „(verfassungs-)rechtliche Ordnung des Sterbens“ müssen zunächst die wichtigsten Fragenkreise bestimmen, welche hier Gegenstände rechtlicher Regelungen sein können oder gar solcher bedürfen. In approximativarbeitshypothetischer Form lassen sich für die anzustellenden Untersuchungen folgende Komplexe unterscheiden, mögen sie auch vielfache Verbindungen, ja Verflechtungen untereinander aufweisen:

1. Bestimmung des Todeszustandes Insbesondere der Todeseintritt ist mit optimaler zeitlicher Genauigkeit festzulegen. Hier muss, vom Ergebnis her, die rechtliche Klärung einer Situation erfolgen, welche die zwingende und ausschließliche Voraussetzung aller anschließenden Probleme und ihrer Lösungen darstellt.

2. Rechtliche Beurteilung der Todesursache Zu unterscheiden ist hier insbesondere: - Sterben ohne gezielte Einwirkung Dritter in die unabdingbaren Voraussetzungen eines Weiterlebens (Gesundheits-/elementare Bedürftigkeitslagen: Krankheit, Unfall). - Tod durch Einwirkung des Verstorbenen – Suizid. - Ableben durch Einwirkung oder unter Mithilfe anderer Privater (Sterbehilfe, Schwangerschaftsunterbrechung). - Lebensende aufgrund von staatlich/öffentlich gesetzten Ursachen (Todesstrafe, Todesschuss, „Todesbefehl“).

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

3. Bemühungen um Todesvermeidung/-verzögerung - Das „Recht auf Leben“ als „Gegenrecht zum Tod“ – Allgemeines - Recht auf Gesundheit, insbesondere auf öffentliche Gesundheitsvorsorge und -sicherung. - Sozialrechtliche Bezüge i. w. S.: Sicherung des Existenzminimums, elementare sozialrechtliche Standards. - Grenzüberschreitende Verpflichtungen und Bemühungen, einschließlich der Entwicklungshilfe.

4. Todesfolgen – rechtliche Ordnung - Schutz des Verstorbenen (Leichnam, Ehre, Andenken, Denkmalschutz). - Beendigung rechtlicher Bindungswirkungen (Ehe, Vertrags- und Gesellschaftsrecht). - Rechtswirkungen von Entscheidungen zu Lebzeiten über den Tod hinaus (Erbrecht).

II. Wertigkeiten eines verfassungsrechtlichen Schutzes im Regelungsbereich des Sterbens 1. Grundsätzlich absolute Höchstwertigkeit Der Tod jedes einzelnen Menschen in der staatlichen Gemeinschaft ist für diese wie jenen als Rechtsträger von beispielloser Bedeutung; rechtliche Regelungen betreffen daher hier ein Rechtsgut von allerhöchstem Verfassungsrang42, gleich von wem hier Wirkungen auf dasselbe ausgehen: - Für Private geht es um die Aufhebung fast all ihrer Rechtsbeziehungen, jedenfalls um die Abschwächung etwa den Tod überdauernder Rechts-Wirkungen. Eine höhere Verfassungswertigkeit ist daher in der Sicht der Bedeutungsbeurteilung für die Betroffenen nicht vorstellbar. Da auf jedem von ihnen etwas von dem ruht, von dem ausgeht, worauf die staatliche Gemeinschaft als solche aufruht, jedenfalls in demokratischem Verständnis, ergibt sich allein schon daraus eine absolute Höchstwertigkeit des Schutzgutes Leben, als begrifflichen Gegensatz zum Tod, damit auch für eine Regelung von dessen Ordnung. - Für den Staat und seine öffentlichen Belange ist das Ausscheiden eines einzelnen Mitgliedes aus seinem Verband zwar ebenfalls von Gewicht. Ein solches wird aber 42

Im Sinne von BVerfGE 7, 377, 405 (406) – Apothekenurteil.

II. Wertigkeiten eines verfassungsrechtlichen Schutzes

33

abgemildert durch die dem Staat wesentliche Struktur seiner Kollektivpersönlichkeit. Sie schließt sich nach dem Tod eines Mitgliedes stets „rechtsautomatisch“ zu einer neuen Rechts- und Machtträgerschaft zusammen, unabhängig davon, ob und in wie weit jener Verlust von Mitträgern der Volkssouveränität sogleich durch das Hinzutreten neuer Gemeinschaftsmitglieder ausgeglichen wird. Immerhin aber ist der Gesamtkomplex dieser „Veränderung der Volksgemeinschaft durch den Einzeltod“ schon darin von erheblichem Gewicht, dass der Vorgang als solcher allen Mitgliedern der Gemeinschaft bevorsteht. Sein Eintritt, die näheren Umstände in denen er sich vollzieht wie auch seine rechtlichen Folgen erreichen damit nicht nur insgesamt, sondern auch im einzelnen ein sehr hohes Wertigkeitsgewicht im Verfassungsrecht, als Grundlagen vor allem des gesamten Öffentlichen Rechts, seiner Sicherheit und Ordnung. Insgesamt ist also von einer allerhöchsten Verfassungswertigkeit im Sinne einer wahrhaft grundlegenden Bedeutung des hier behandelten Themas „Tod im Verfassungsrecht“ als solchen auszugehen.

2. Differenzierte Bedeutung der einzelnen Regelungskomplexe um das Sterben Unterschiedlich ist jedoch das Gewicht von rechtlichen Regelungen, ihren gegenwärtigen Defiziten und Normierungsnotwendigkeiten, verschieden damit die Bedeutung einer vertieften Besinnung auf diese Regelungslagen, je nach den einzelnen im Folgenden näher zu betrachtenden Komplexen. Hierbei ist allgemein zu unterscheiden vor allem nach dem Gewicht, welches ihnen zukommt für - die Vermeidung des Todeseintritts als solchen, und - dem Gewicht der rechtlichen Todesfolgen. a) Die „Vermeidungsbedeutung“ des Todes findet ihren gegenständlichen Schwerpunkt vor allem auf zwei Ebenen: - Einerseits im Bereich der „Regelung der Todesursachen“, soweit eine solche im Sinne einer rechtlich gezielten, „direkten“ Einwirkung durch rechtliches Ordnen überhaupt zugänglich ist. Hierbei handelt es sich um etwas wie „rechtliche Todesursachen“; sie werden i. Folg. unter C. II. näher behandelt, von der Todesstrafe bis zur Schwangerschaftsunterbrechung und zum Selbstmord. Hier lässt sich die Todesursache überhaupt durch rechtliche Regelung, insbesondere durch Verbote, beseitigen, oder es können dadurch jedenfalls Motive für ihre Setzung beeinflusst werden. Damit wird „direkter Lebensschutz“ betrieben oder doch angestrebt. - Zum anderen können die nicht durch gezielte rechtliche Gebote und Förderung zu beeinflussenden Ursachen des Lebensendes in ihrer Todesgefährlichkeit wenigstens, wenn auch nur auf Zeit, abgeschwächt werden, durch „Förderung des Lebens“, im Sinn einer Gegenbegrifflichkeit zum Tod. Dies steht dann nicht mehr,

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

wie bei der Ausschaltung oder Abschwächung von Todesursachen, unter dem Oberbegriff eines „Schutzes des Lebens“. Vielmehr handelt es sich um etwas wie „Todesvermeidung durch Lebensförderung“43 ; über den Begriff des Anreizes steht beides in enger Verbindung. Dies zeigt sich bei der Gesundheitsförderung in einem weiteren Sinn und führt darüber hinaus bis zu Verbesserungen sozialer Verhältnisse (i. Folg. C. III.), in Sozialrecht und Entwicklungshilfe. Insgesamt sind also Einflussnahmen durch rechtliche Gestaltungen i. S. einer Todesvermeidung vielfältig und insgesamt von wesentlichem Gewicht, mag dies auch stets, im Vorbehalt eines „nur auf Zeit Wirkens“ eine unüberschreitbare, unveränderliche Grenze finden. Hier gilt aber „Zeit gewonnen“ – „Alles gewonnen“. Dass dieser Erfolg, meist unvorhersehbar, nur selten „quantifizierbar“ ist, das gehört zum Wesen des gesamten Regelungsbereichs des Todes, mit seinem dies incertus quando, aber auch zum Wesen der Förderung als solcher. b) Die Todesfolgen (i. Folg. C. IV.) schließen an diese Todesvermeidung notwendig an; sie gewinnen daraus sogar eine gewisse Dimension höherer rechtlicher Fassbarkeit ihrer verfassungsrechtlichen Wertigkeit. Sie mag immer noch sehr begrenzt sein beim Schutz von Rechten des Verstorbenen selbst (Andenkens-, Ehrenschutz). Ebenso entfaltet unabsehbare, insgesamt aber fundamentale Wirkungen auf die Todesfolgen alles, was den Todeseintritt vermeiden hilft, über die mit dem Ableben verbundene Lösung von rechtlichen Bindungen. Noch deutlicher bestimmbar ergibt sich derartiges über den Eintritt rechtlicher Folgen nach Erbrecht. Hier wird die ganze grundsätzliche Bedeutung der Beeinflussung der Todesursache nach vorsteh. a) in ihren zahlreichen Einzelfall-Gewichtigkeiten deutlich, die sich zu einem großen Gesamtinteresse von nunmehr auch öffentlichem, verfassungsrechtlichem Gewicht steigern und juristisch hochrechnen lassen. c) Aus der – notwendigen – Zusammenschau der unter a) und b) dargestellten rechtlichen Gewichtigkeiten von privaten und öffentlichen Belangen ergibt sich wiederum die insgesamt wahrhaft allerhöchste Bedeutung der Regelung des „Gegenstandes Tod“, i. S. privater wie öffentlicher Interessen. Zugleich lassen sich dann auch einzelne Verbote-Gebote wie auch Förderungsdefizite feststellen, was zu Vorschlägen juristischer (Um-)Gestaltung oder doch (Um-)Gewichtung führen sollte. Die „kreatürlichen Grenzen“, die einst ein Parlamentspräsident einem UraltKanzler entgegenhalten wollte, – sie lassen sich zwar zeitlich nur wenig verschieben; doch dies ist verfassungsrechtlich von höchster Wertigkeit und das Wertvollste für den Menschen: gewonnene Lebenszeit. Was davon auf das Konto direkter (a)) oder indirekter (b)) staatsrechtlich fundierter Einwirkung zu buchen ist, das entscheidet sich wohl am deutlichsten – eben im konkreten Rechts-Fall, im Todesfall.

43 Hier muss also die verfassungsrechtliche Förderungsdogmatik eingreifen, dazu Leisner, W., Der Förderstaat, Grundlagen eines marktkonformen Subventionsrechts, 2010, insb. S. 47 ff.

III. Menschenwürde

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III. Menschenwürde 1. „Würde“ – ein neuer staatsrechtlicher Begriff? Volksherrschaft als Verfassungsordnung musste generationenlang leiden unter dem abwertenden Urteil ihrer „Parvenuhaftigkeit“. „Amerikanisches Benehmen“, von gesellschaftlicher Formlosigkeit bis zu allgemeiner Coolness, galt noch nach dem geistigen verfassungspolitischen Durchbruch der Demokratie nach 1918 den weiter herrschenden Schichten als ein „sans façon“ – bis ins Staatsrecht. „Menschenwürde“, jenes Wort, welches ein beispiellos, wahrhaft vernichtend geschlagenes Volk 1949 an die Spitze seiner neuen Ordnung stellen wollte, hat insoweit wohl keinerlei dogmatisch vergleichbare Vorläufer44 – es ist eben selbst ein „Parvenu“. Selbst in der Bayerischen Verfassung von 1946, stets gepriesen als formulierungsmäßiges Vorbild des Grundgesetzes45, setzte sich dies noch fort, in einer nur sehr allgemeinen Erwähnung der Präambel und in einer Grundrechtsbestimmung, in der die Würde redaktionell nicht hervorgehoben war. Die Erste Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs zeigt noch46 keine klaren Vorstellungen von Menschenwürde: Das Gericht sah in ihr, anders als die gesamte Verfassungsgerichtsbarkeit der Folgezeit, eine „Würde der Menschheit“. „Menschenwürde“ als solche ist also insgesamt wohl doch ein Begriff ohne verdeutlichende, insbesondere demokratische, Verfassungstradition.

2. „Würde“: Ein aristokratisch-monarchischer Begriff a) Dies ist keine Traditionslücke, es ist historisch selbstverständlich. „Würde“ entspricht dem lateinischen, in alle verfassungswichtigen Sprachen mit gleichem Inhalt übersetzten Begriff „dignitas“ (dignity, dignité, dignità). Zur Zeit des verfassungsrechtlichen Durchbruchs der Demokratie im Staatsrecht bezeichnete dignitas folgende Inhalte47:

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„Würde“ begegnet vor 1949 nirgends in dem Verständnis, welches dieser Zentralbegriff im Grundgesetz erlangt hat: Weder in der irischen Verfassung von 1932, wo er nur in wortreich/ unklarer Verbindung zur „Freiheit“ begegnet, noch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948 („die allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde“), noch in der italienischen Verfassung vom 27. 12. 1947, Art. 41: dort findet er sich, unter deutlichen sozialistisch-gewerkschaftlichem Einfluss, nur als eine Richtlinie der Wirtschaftsordnung. 45 Art. 101, 102 BayVerf. 46 BayVerfGHE 1, 1 ff. 47 Sie sind hier der 8. Aufl. von 1913 des Ausführlichen Lateinisch-Deutschen Handwörterbuchs von Karl Ernst und Heinrich Georges zum Stichwort „dignitas“ entnommen.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

(1) Würdig sein, Tüchtigkeit, Verdienst – innere Tüchtigkeit und ihre Folgen, (2) als Folge von (1): Äußere Würde, Ehre, Achtung, Ansehen, (3) Qualität von Sachen und Teilen von solchen, welche solche Achtung verdienen. b) „Würde“ ist also stets und wesentlich inhaltlich achtunggebietend sowie formal eine daraus folgende Achtungsverpflichtung. Insoweit ist dies eindeutig ein Rechtsbegriff, ja eine staatsrechtliche Konzeption: der Inhalt nimmt ja Bezug, er regelt juristisch etwas wie eine „Ehrenstellung“. Eine solche aber kann nur in einer Gemeinschaft vorgestellt werden. Sie lässt sich dann ohne weiteres demokratisch hochrechnen, -denken, in die Staatsverfassung hinein. Deren Organe sind es, welche solche „Würden“ näher bestimmen und verteilen – auch, ja in erster Linie, unter sich selbst, eben aus dieser ihrer würdeverleihenden Mächtigkeit heraus. Damit wird „Würde“ allgemein zur Folge einer dergestalt anerkannten „Tüchtigkeit“ in einer Gemeinschaft von Menschen, zu einer Macht, jedenfalls einer Mächtigkeit in dieser. Insoweit steht „Würde“ in einer eindeutigen staatsrechtlichen Tradition, die bis in die sokratisch-platonischen Arete-Vorstellungen48 zurückreicht. So nur, mit diesem Inhalt, ist „Würde“ staatsrechtlich gedacht worden, von i. w. S. verfassungsrechtlichen Anfängen bis vor wenigen Jahrzehnten: Achtung einer Mächtigkeit aus Tüchtigkeit – Aristokratie.

3. „Verdienstlose Würde“? Die Wende zur „Menschenwürde“ a) Es stellt sich nun die Frage, ob dieser Begriff „Würde“ allen Menschen ohne jede Diskriminierung zukommen kann, unabdingbar, geradezu als Staatsgrundlage. Zur staatsrechtlichen Tradition steht dies jedenfalls in einem deutlichen Widerspruch; es liegt hier ein wahrer Begriffsbruch vor: „Würde“ war jahrtausendelang ein Begriff, der staatsrechtlich aus Aristokratie und Monarchie heraus, nicht in Demokratie gedacht worden ist. Die Aristokraten waren eben die „dignitaires“49. „Würdenträger“ war in Staat und Kirche nicht der Jedermann der Demokratie, sondern Persönlichkeiten in einer gesellschaftlich, machtmäßig herausgehobenen Stellung, eben in ihrer Würde. „Jeden Menschen zum Würdenträger zu ernennen“, wie es aber staatsrechtlich in Art. 1 GG unternommen worden ist – das mag als Reaktion in einem historischen Augenblick verständlich gewesen, ja es mag – eben als Mahnung – noch heute begreiflich sein. b) Zu dem aber, was diese „Menschenwürde“ des Jedermann in staatsrechtlicher Begrifflichkeit bedeuten könnte, ergibt die Verfassungsrechtsprechung seit 70 Jahren 48

S. dazu Leisner, W., Platons Idealstaat und das Staatsrecht der Gegenwart. Vergleiche – Anregungen – Mahnungen in den „Gesetzen“, zu einem Bildungsstaat, 2014, S. 39 ff. 49 Dienstlose Würde war schon für die französischen Revolutionäre nicht das „Menschsein als solches“. In der Großen Enzyklopädie (Diderot/d’Alembert) kommt dieses auch nicht unter dem Stichwort „Dignité“ vor. Im Staatslexikon von Bluntschli, J. C. und Brater, K., 1. Aufl. 1865, findet sich nichts zur „Würde“ und auch nichts zu einer Würde des Staates.

III. Menschenwürde

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allgemein-grundsätzlich, soweit ersichtlich, wenig, nur eines: Diese Würde soll „dem Menschen als solchem“ zukommen, ohne jede Voraussetzung einer Leistung, Tüchtigkeit, Bildung im Sinne der platonischen Paideia oder auch nur einer Befähigung zu ihr. Im Gegenteil: Der „völlig nackte Mensch“ ist Träger dieser Würde, an ihm hat man sich „an ihr versündigt“, mit ihm wurde sie – verbrannt. Würde ist also nichts Verdienbares, sondern (nur) etwas Angeborenes: im Menschsein als solchem und allein. Da es noch nie vorher Gegenstand von Sünde und Verbrechen gewesen sei, in solcher Weise und in solchem Ausmaß wie zur Zeit des Nationalsozialismus, könne, so wurde verfassungspolitisch argumentiert, nur dieses Menschsein als solches „Würde“ beinhalten, mit dem Begriff der Würde rechtlich gekennzeichnet und verfassungsmäßig darin höchstrangig geschützt werden. „Der Mensch als solcher“, das „nackte menschliche Wesen“ allein trägt, rechtfertigt, erzwingt in reinem Menschsein die rechtliche Spitzenwertigkeit im Grundgesetz. Dies allein wurde denn auch über christliche bis in antike Traditionen der Vergangenheit begründet: nicht aus einer staatsrechtlichen Stellung, sondern aus einem „Homo sum – humani nihil a me alienum puto“50. c) Dann aber ist doch zu fragen, ob diese „Würde“ nicht gerade in diesem Sinn zwar erweiternd hinsichtlich ihrer Trägerschaft, was ihren Begriffsinhalt aber anlangt eher einschränkend zu interpretieren ist: als „getragener“ Ausdruck für eine Unantastbarkeit jedes Menschen in seinem vollen, wesentlich eben humanen Sein, aus dem sich selbst für die allmächtige Staatsgewalt unüberschreitbare letzte Grenzen ergeben. Die Folge ist, dass dieses „Menschsein“ näher beschrieben werden muss, in all seinen wertmäßigen Ausprägungen, da es sich nicht mehr aus einer Machtstellung als solcher verfassungsrechtlich ergibt. Dann aber fragt es sich, ob das Lebensende als solches einer „Regelung in Würde“ in diesem Sinn zugänglich ist – gerade in dem der „Menschenwürde“.

4. Menschenwürdiger Tod – Schutzausprägungen a) In der christlich geprägten Tradition hat der Vorgang des Sterbens eine besondere Bedeutung erlangt, in einer wesentlichen Aufwertung der Todesvorbereitung und des Begräbnisses, in geradezu rechtlich institutionalisierten Formen: im Sakrament der Letzten Ölung, in den Beerdigungszeremonien, in denen Priester den Verstorbenen gewissermaßen als Wegbereiter hinüberführen in sein ewiges Fortleben. In ihnen entfaltete dann auch die Majestät des Todes, als Begriff und Vorstellungsinhalt, eindrucksvolle Wirkungen, in Fortsetzung früherer ägyptischer, monarchischer und aristokratischer Gebräuche. Dies wirkte zwar später nicht mehr bis in die Qualifikation der Staatspersönlichkeit hinein: Die republikanischen Staaten der neueren Zeit machen weder das

50

Vgl. FN 1.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Recht noch den Titel Majestät für sich geltend51. Doch noch immer umgibt diesen Staat etwas von Würde52. Die Unsterblichkeit der Staatsmacht nimmt in juristischen Formen das „Le roi est mort – Vive le Roi!“ für sich auf. b) „Majestät des Todes“ hat also zwar im Staatsrecht überlebt, bis in die Demokratie hinein. Dies aber reicht nicht aus, um für diesen Vorgang „besondere würdige Umstände“ rechtlich zu fordern. Überlebt hat eben nur das Wort „Majestät“, nicht aber seine frühere Rechtfertigung und Rechtswirkung (vgl. vorsteh. 3.): Besondere Stellung aus besonderer Leistung. Die Verpflichtung des Staates, einen „würdigen Tod“ Jedermann zu gewährleisten, könnte sich allenfalls daraus ergeben, dass eben selbst, ja gerade in der Demokratie mit ihrer Gleichheitsordnung, Jedermann jedem Toten stets mit einem Zeichen von Verehrung begegnet, sein Haupt senkt vor der Majestät des Todes. Liegt darin nicht die faktische, rechtlich zu achtende Anerkennung einer „Menschenwürde“, die eben über den Tod hinaus wirkt, Achtung gebietet? Vielleicht kommt darin auch nur etwas von jenem existenziellen Schauder zum Ausdruck, in dem Jedermann sein eigenes Ende hier deutlich vorgezeichnet, vorgespielt sieht, in seiner ganzen Unausweichlichkeit, seiner unerbittlichen Gleichheit. Liegt darin aber rechtlich auch ein Anspruch auf besondere Umstände, eine spezielle staatsgestaltete Form dieses Ablebens? Weil hier ein spezieller menschlicher Vorgang stattfindet, mag dies ganz einfach aus dem Begriff des (Allgemein-)Menschlichen heraus bejaht werden. Sterben muss jedes Lebewesen; können aber für sie alle spezifische rechtliche Folgerungen für einen „würdigen Tod“ bestimmt werden? Tierschützer werden dies sicher bejahen. c) Ein Ehrenschutz kommt jedenfalls auch dem Andenken des Verstorbenen zu; dies wird aus der Menschenwürde als solcher (Art. 1 GG) abgeleitet53. Aus diesem Ehrenschutz auch für Verstorbene mag sich ergeben, dass insoweit diese mit Lebenden (noch weiter) rechtlich gleich zu behandeln sind, also darin doch „weiterleben“. Es folgt daraus aber nicht eine besondere Begründung dafür, dass derartiges in (Formen) einer „speziellen Würde nach dem Tode“ zu wirken habe: „Ehre“54 schützt einen weiten Bereich der Persönlichkeit in deren Belangen. Dass dies gleichzeitig oder gar besonders in einem engeren regelungsgegenständlichen Raum „als Würde“ oder in „besonders würdiger Form Toten gegenüber“ zu geschehen habe, lässt sich allerdings nicht ohne weiteres fordern. Die lapidare Aussage „Ehrenschutz geht weiter als Würdeschutz“55 muss so verstanden werden: Ehrenschutz ist Mittel, Umsetzung, Folge eines Schutzes der Würde im traditionellen Sinn (vorsteh. 3.), er umfasst auch die Würde-Position als Gegenstand des Ehrenschutzes. 51 52 53

(380).

Pözl, in: Bluntschli/Brater, Stichwort „Majestät“, S. 532/533. Partsch, K., Von der Würde des Staates, 1967. Zum Ehrenschutz des Andenkens Verstorbener vgl. BVerfGE 30, 173 (194); 75, 369

54 Zum Begriff „Ehre“ nach Verfassungsrecht vgl. allgemein Starck, Chr., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 5 Rn. 211. 55 Starck, FN 54.

III. Menschenwürde

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Aus diesem letzteren aber ergibt sich eine besondere „Würde“ im Sinne von Art. 1 GG nicht. Also kann daraus auch nichts für den Inhalt einer Verfassungsnorm gewonnen werden, welche in besonderer Weise ein „würdiges Sterben“ verlangen könnte. Nicht zu vergessen ist schließlich in diesem Zusammenhang, dass ein „Ehrenschutz Toter“ in der Regel von den Erben geltend gemacht wird. Insoweit ist dieses Ansehen mit all seinen Wirkungen und Wertigkeiten etwas wie ein Bestandteil der Erbmasse in Sinne des BGB. Es handelt sich um ein „(späteres) Recht Lebender aus dem Tod des Abgeschiedenen“; mit einer besonderen „Würde“ dieses letzteren Vorgangs hat es nichts zu tun. d) Nun könnte man die Forderung nach einem „würdigen Tod“ darauf stützen, dass doch das „Andenken des Toten“ als solches ein besonders schutzwürdiger Verfassungswert sei, eine Nachwirkung seines „Würdeschutzes“ zu Lebzeiten, und damit eben auch „todesübergreifend“. Dem steht aber schon entgegen: Eine derartige besonders „gedenk-würdige Würde“, als Grundlage der Forderung eines „würdevollen Sterbens“ könnte eben doch wohl nur im Sinne einer (oben unter 3. erwähnten) „Würde aus Stellung und Verdienst“, auch eine „Würde des Sterbevorgangs“ begründen. Schutz des Andenkens „irgendeines Menschen als solchen“ mag durchaus verfassungsrechtlich gewährt werden. Weder verleiht dies aber als solches diesen Menschen irgendeine spezielle „Würde“, als einen besonderen Inhalt des Andenkens, noch – und erst recht nicht – lässt sich daraus irgendeine Forderung für eine Gestaltung und/oder einen speziellen Schutz „des Todes als Vorgang“ ableiten. e) Im vorliegenden Zusammenhang eines „würdigen Todes“ spielt der Begriff der „Pietät“ eine vielberufene und praktisch bedeutsame Rolle, auch im rechtlichen Sinn. Näher ausgeformt wird er in der Rechtsprechung zum (niederrangigen) Krankenhaus- und Beerdigungsrecht. Nach allgemeinem Wortverständnis geschieht dies wohl in einem Sinn, welcher für Viele in der Nähe von Vorstellungen über einen (menschen-)würdigen Tod stehen mag. Soweit hier allerdings religiös-kirchliche Vorstellungen entscheidend prägen, ist auf die staatskirchenrechtlichen Schutzformen (i. Folg. VII.) zu verweisen. Zum Begriff der „Pietät“ als solcher darf allgemein auf den der lateinischen pietas zurückgegriffen werden56. Ihre Grundbedeutungen57 weisen jedoch keinen nahen Sinnbezug zu einer „Würde“ in dem (oben 3.) charakterisierten Sinn für den Tod auf. Allenfalls lässt sich insoweit ein besonderer Bezug zu familiären Beziehungen und zu engen Freundschaften erkennen. Damit mögen für einen „würdevollen Tod“ familiäre oder gesellschaftlich-schichtenspezifische Vorstellungen eine gewisse Rolle spielen: Den insoweit „Nahestehenden“ steht – schon nach Art. 6 GG – gewiss ein vorrangiges Ausgestaltungsrecht eines „Sterbens in einer sozial/familiär entsprechenden Würde“ zu. Damit wird auch eine Verbindung zur Ausgestaltung nach Leistung und sozialer Stellung gegeben sein. 56 Zu dieser historisch wirksamen Kunstfigur des Pius Aeneas s. Leisner, W., Der Staat des Hohen Rom – Vergil: Vater der Staatsdichtung, in: Der Staat 2012, S. 417 (436 ff.). 57 Georges, Lateinisch-Deutsches Wörterbuch, 1913, „Pietas“.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Eine davon unabhängige Würde lässt sich damit aber nicht rechtlich fassbar mit Sinn erfüllen.

5. Begründung der Menschenwürde aus dem „Menschsein als solchem“ a) Entgegen einem, wohl verbreiteten, ersten Anschein ergibt sich also aus Art. 1 GG aus dem Begriff der „Würde“ kaum etwas Fassbares als mögliche Leitlinie einer näheren rechtlichen Gestaltung eines „Sterbens in Würde“. Der Grund dafür liegt letztlich darin, dass der Würdebegriff als solcher dafür in der Demokratie keinen hinreichenden Ansatz mehr bietet. Seine Erweiterung auf jedes menschliche Wesen verlangt seine Begründung allein aus dessen Menschsein; dieses bietet als solches kein näheres, rechtlich fassbares Ausgestaltungskriterium weder zum Vorgang des Todes selbst noch zur Behandlung von dessen Ursachen (z. B. Selbstmord, Strafen), noch auch der näheren Umstände (etwa Schwangerschaftsabbruch). Aus dem Menschsein als solchem muss sich also die Bedeutung des Art. 1 GG für den Tod ergeben. b) Bisherige Vorstellungen zu dem, was nun als „typisch Menschliches“ eine „Menschenwürde“ inhaltsbegrifflich konstituieren könnte, zeigen sich bisher allerdings als wenig überzeugend begründet, jedenfalls nicht in einer allgemein-grundsätzlichen Sicht: - Aus den Grundrechten allein kann derartiges wohl nicht gelingen, ohne in einem Zirkel zu enden: Menschenwürde als Kern der Grundrechte (Art. 1 GG) – Grundrechte als deren Kriterien oder Elemente? - Nicht weiter führt auch ein Hinweis auf „Humanitäres Internationales Recht“58, damit vor allem auf das Kriegsrecht. Abgesehen von dessen hier sehr begrenzter rechtlicher Fassbarkeit und Wirksamkeit läuft dies allein – allenfalls – auf eine gewisse Zurückhaltung bei (möglichen) Eingriffen in menschliche Persönlichkeitsrechte hinaus. Derartiges aber kann zu einer näheren Bestimmung der „Menschenwürde“ in Art. 1 GG nicht genügen, wird diese doch, umgekehrt, und meist wiederum in Zirkel-Form, gerade unter Hinweis auf innerstaatlich-verfassungsrechtliche Persönlichkeits-Vorstellungen zu bestimmen versucht. c) Begrifflich am nächsten liegt es wohl, „Menschenwürde“ zu erfassen, gerade in ihrem Bezug auf das „Wesen Mensch“, in Abgrenzung gegenüber anderen Lebewesen und Sachen als möglichen Bezugspunkten einer Rechtsträgerschaft mit diesem Inhalt; denn um etwas wie eine derartige „Position in Rechtssubjektivität“ geht es doch ersichtlich, in der Verbindung des „Humanum“ mit dem „Würdebegriff“.

58

„Humanitäres Völkerrecht“ bietet insbesondere das Internationale Kriegsrecht.

III. Menschenwürde

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- Dass „Sachen“, anders als Lebewesen59, etwas wie eine „Würde“ zukommen kann, mag in einem allgemeinen Sprachgebrauch gelegentlich angenommen werden, der etwa von einem „würdigen Ort“, einem „würdigen Bauwerk“ sprechen lässt. Diese „Würdigkeit“, weist aber meist nur hin auf die Würde von Menschen, die sich dort bewegen, diese „Sachen“ nutzen, innehaben, sie eben als Zeichen ihrer Würde zeigen können. In all dem bleibt jedoch „Würde“ wesentlich ein „humanes Attribut“. „Sachen“ scheiden als solche als Bezugsobjekte aus der Bestimmung einer Menschenwürde zwar nicht aus, grenzen diese aber nur negativ ab: Der Mensch darf, gerade im Staatsrecht, eben nicht „zum Objekt“ werden, nicht „wie eine Sache“ behandelt werden – gehandelt, abgeschätzt, einer sachenrechtlichen Verfügungsmacht unterworfen. Die fundamentale Abgrenzung des Zivilrechts zwischen Personen- und Sachenrecht beruht gerade darauf. Menschenunwürdige Behandlung, faktisch wie in rechtlichen Formen, lässt sich am ehesten, und in vielfältiger Genauigkeits-Annäherung, definieren in Abgrenzung zu einem „Menschen als Sache“; und es ist noch gar nicht eine „Geringschätzung“ die darin mitschwingt; es zeigt sich hier eben, ganz einfach, überzeugte juristische Tradition. - Diese Rechtslage wird nicht dadurch grundsätzlich zu ihrer Definitionsbedeutung für das „Menschliche“ verändert, dass nun auch dem „Tier“ etwas zukommen soll wie eine Würde60. Lange, ja traditionell wurden Tiere als Sachen be- und gehandelt. Die neue begriffliche Wende zu „Würde des Tieres“ geht einerseits zurück auf religiöse Schöpfungsvorstellungen, andererseits auf ein Umweltrecht, das aber als solches wieder bezogen ist, legitimiert wird durch die „Umwelt als Raum des Menschen“. Dieser letztere ist es also, welcher geradezu „auch das Tier in humaner Sicht ent-sachlicht“. Den Gegensatz Mensch – Sache hebt dies nicht auf, vielleicht liegt darin sogar seine Bestätigung, ja Verstärkung. d) Dieses „entsachlichte Humanum“ ist also das Constitutivum des Rechtssubjekts, nicht des Rechtsobjektes, Mensch. Daraus ergibt sich allerdings noch nicht etwas wie eine (verfassungs-)rechtliche Höherwertigkeit – aus welchem Bezug(saspekt) sollte eine solche denn abgeleitet werden, wenn nicht aus einem verfassungsrechtlich geltenden „transzendent-religiösen“? Doch ein solches Staatskirchenrecht gibt es nicht mehr. Es bleibt also nur eine ganz andere Rechtfertigung des Höchstranges eines allgemeinen rechtlichen „Humanum“ als Wert: Ableitung aus der Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG). „Der Mensch“ ist in der Demokratie, über die von ihm (mit)getragene Volkssouveränität, die Quelle allen Rechts. Diese Rechts-Rechtfertigung kann zwar dem Menschen als einer solchen Quelle nicht höhere (Verfassungs-)Wertigkeit 59 „Sachen“ – definiert und geregelt in einem besonderen Hauptteil des BGB (Sachenrecht), §§ 903 ff., auf den der grundrechtliche Sachenbegriff der Art. 14 GG verweist. 60 Zur Würde des Tieres vgl. Casper, J./Geissen, M., Das neue Staatsziel „Tierschutz“ in Art. 20a GG, NVwZ 2002, 913 ff.; Richter, D., Die Würde der Kreatur – rechtsvergleichende Betrachtungen, ZaöRV 2007, 319 ff.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

verleihen – im Gegenteil, er ist es ja, von welchem sie ausgeht. Aber gerade dies verbietet grundsätzlich einen „Vorrang von Rechtsmacht“, welche einen Menschen über den anderen stellen, es ihm erlauben wollte, ihn als Objekt seines Willens, einer durch diesen begründeten Rechtsmacht zu behandeln. Rechtssubjekte haben übereinander als solche kein juristisches Bestimmungsrecht, sondern nur über Sachen (c)), nur insoweit können sie Positionen anderer prinzipiell gleichwertiger Lebewesen (mit)bestimmen. Diese Gleichwertigkeit kann aber, und dies ist nun entscheidend, lediglich im Sinn einer gleichen Höchstwertigkeit verstanden werden, weil eben begrifflich kein anderer Wert über ihr denkbar ist. Eine Verbindung von allgemein dogmatischer Rechtssubjektivität und verfassungsrechtlicher Gleichheit allein ist es also, welche letztlich die Besonderheit des Humanum konstituiert, damit eine rechtlich höchstrangige „Menschenwürde“, zu achten (auch) in Staatlichkeit.

6. Ergebnis: Menschenwürde: Verfassungsrechtliche Leitlinie für eine „Todesordnung“ a) Damit kehren die Betrachtungen zu dem Ausgangsthema, „Tod und Menschenwürde“ zurück. Wesen und Wertigkeit der Menschenwürde lassen sich nicht bestimmen aus einer besonderen „Würde“ des Lebewesens Mensch, sondern schlechthin und allein nur aus dessen Menschsein selbst, das im Namen der Gleichheit eine Relativierung verbietet. Was aber bedeutet dann die, hochevidente, Notwendigkeit rechtlicher Regelungen allein aus dem Menschsein als solchem für die Ordnung von dessen Ende? Der Tod ist doch die geradezu allmächtige, rechtlich als solche unvermeidbare Bestätigung gerade von Rechten, aber auch von deren Beschränkungen aus dieser menschlichen Existenz: Sie endet eben in jener Gleichheit, aus der sich ihr Wesen, ihre Wertigkeit begründet. b) An dieser Gleichheit des „Schicksals Tod“ lässt sich grundsätzlich nichts ändern. Es kann dieser Vorgang aber gleichheitskonform rechtlich behandelt, ausgestaltet werden. Dies muss geschehen, „von (Verfassungs-)Rechts wegen“: Gerade im Vorgang des Sterbens, dessen (zeitweiser) Vermeidung und dessen rechtlichen Folgen droht andernfalls nicht etwas „Un-Würdiges“, sondern „etwas Unmenschliches“: „Versachlichung“ des Menschen in einer Über-Unterordnung der Menschen untereinander. Damit kommen bereits und von Anfang an wesentliche Gleichheitsvorstellungen bei der „Menschenwürde“ zum Tragen, aber in einem dogmatisch speziellen und auch wertmäßig besonderen Sinn: dem der gleichen Rechtssubjektivität der Menschen, dieser Träger staatlicher Macht in der Demokratie. c) Dabei ist die Wirkungsvielfalt der Menschenwürde (Art. 1 GG) zu beachten. Dass Richtungen des Schutzes der Menschenwürde zu unterscheiden sind, dass sich daraus auch ein unterschiedlicher Wert, eine zu differenzierende Bedeutung für einzelne Komplexe aus dem Gesamtbereich einer „Rechtlichen Ordnung des Todes“

IV. Gleichheit

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ergeben muss – all dies wurde bereits deutlich61. Schwerpunkte liegen für eine menschenwürdekonforme Ausgestaltung insbesondere bei dem Erfordernis der Verstärkung der Todesvermeidung durch rechtliche Gebote/Verbote, und in einer Abschwächung der Todesfolgen durch Steigerung der menschlichen Weiterwirkungsformen über das Lebensende hinaus. In all dem ist insbesondere möglichst alles zu vermeiden, was zu einer Annäherung menschlicher Interessenlage an Formen einer „sachenrechtlichen Behandlung“ führen könnte. In seinem Leichnam62 wird zwar der Mensch zur „Sache“, ja sogar „verkaufbar“. Aber selbst, ja gerade hier wirkt sein Menschsein noch immer wesentlich aus gleichheitsbegründeter Besonderheit über den Tod hinaus.

IV. Gleichheit 1. Tod: „Das“ rechtliche Gleichheitsphänomen, „die“ Egalitätsmacht a) Der Tod des Menschen, all dessen was lebt im weitesten Sinn, ist die wichtigste faktische Vorgabe, in höchster Eindeutigkeit und Alternativlosigkeit, welche als Gegenstand rechtlicher Betrachtung und Regelung überhaupt vorstellbar ist. Entscheidend geprägt ist ihre Wirkung durch eine absolute Gleichheit. Ungleichheiten zwischen den Menschen mögen tatsächlich noch so zahlreich und weitgehend auffindbar sein und wirken, im (Staats-)Recht des Art. 3 Abs. 1 GG noch so intensiv, im Einzelnen erfolgreich, aufgesucht, gefunden, rechtlich beschrieben und definiert werden können63 : Das menschliche Sterben ist in seinem „Ob“ eine absolute Vorgabe auch für alle diese rechtlichen Regelungen. Ob und wie weit es damit zu etwas wie einer „Vorlage“ für sie wird, welche bestimmend hineinwirkt in die Gestaltung aller rechtlichen Bezüge, mit denen sich das Staatsrecht befasst – das ist eine allgemeine Grundsatzfrage an die folgenden Betrachtungen; sie wollen diese übrigens mehr beleuchten als beantworten. b) Vor allem, nicht selten erstmals, wird „die Gleichheit“ im Tode als einem faktischen allgemeinen Ordnungsvorgang des menschlichen Lebens uns Menschen überhaupt bewusst. Selbst sein unerbittliches „Dass“, nicht nur sein „Wann“, wird in jugendlicher Aktivitätskraft verdrängt, nicht selten bis in eine Unbeachtetheit, nicht allerdings Unbeachtlichkeit, wie sie das Wort ausdrückt „Alle Menschen müssen sterben, vielleicht auch ich“, welches scherzhaft über Todesernst hinweggleitet. 61

Vgl. oben II. 2. Vgl. Nachw. zum Schutz des Leichnams aus Art. 1 GG bei Starck, Chr., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 22, Fn. 94. 63 Zu den verfassungsrechtlich zu berücksichtigenden „natürlichen“ Ungleichheiten vgl. für viele Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 3 Rn. 322, zur Geschlechtergleichheit. 62

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Diese, eindeutig weit verbreitete, (nur) Hintergrundbedeutung des Todes bleibt auch dort meist gewissermaßen an einem fernen Horizont stehen, wo es um die Begründung der verfassungsrechtlichen Gleichheit geht, in Rechtsprechung und Lehre des Staatsrechts. Symptomatisch ist dafür, dass selbst in Großkommentaren zum Grundgesetz zwar das Verhältnis von faktischer und rechtlicher Gleichheit bis in seine staatsrechtlichen Betrachtungsfacetten angesprochen wird, dabei aber die Gleichheit im Sterben, dessen staatsrechtliche Ordnungsbedeutung, auch nur als ein rechtlicher Ordnungsgegenstand, nicht einmal verbal erwähnt wird. Und doch ist das Sterben des Menschen, gerade in der Demokratie, das fundamentale Ausgangsfaktum auch für das eine Gemeinwesen, welches eben ein „Gleichheitsstaat“ sein will, sein soll64 : Je näher ein Ordnungsbereich diesem Vorgang des Ablebens steht, von ihm bewusstseinsmäßig formal oder inhaltlich bestimmt wird, desto deutlicher schlägt dort die faktische Gleichheit durch, auf „Gleichheiten aller Art“. Der Tod wird zu einer wahrhaft fundamentalen Begründungsgrundlage für rechtliche Regelungen aus und in Egalität, welche den Menschen bereits auf der Bahre sehen, im Grab – jedenfalls aber entscheidend in einem eigenartigen „Blick auf das Gleiche bevorstehende Ende“. Hier wirkt dann in voller Überzeugungskraft eine „Gleichheit gedacht wahrhaft bereits in articulo mortis“; die Zeitspanne, die von ihm trennt, trennen könnte – sie wird insoweit geradezu juristisch „extrapoliert“. Im Ergebnis mündet dies in die staatsrechtliche Grundsatzfrage: In diesem Angesicht der faktischen Vorgabe des Todes – soll „Mehr oder Weniger Gleichheit“ sein durch (staats-)rechtliche Gestaltung?

2. „Recht gegen Tod“ in einer Gleichheitsordnung? a) Der Jurist steht hier an einem Scheideweg: Soll er versuchen, das immanente Gleichheitsgewicht des Sterbens einzusetzen zu einer Verstärkung und Vorverlegung von Todeswirkungen hinein ins aktive menschliche Leben, mit rechtlichen Folgen für all dessen Erscheinungsformen? Soll der Zeiger des Staatsrechts sich drehen an einem Stundenziffernblatt, über dem steht „Una ex his (tua) ultima erit“? Oder sollen die Zeiger verdämmern, der Blick von ihnen abgelenkt werden auf das ganze Zifferblatt, das in seiner sich immer mehr schließenden Rundung stets nur Dauer und Neubeginn anzeigt? Bleiben dann die Zeiger doch irgendwann stehen, so ist das eben ein „Betriebsunfall“, der Tod rechtlich nur ein solcher, letztlich, wenn nicht gar grundsätzlich jeder rechtlichen Betrachtung unzugänglich. Laufende Wartung der Mechanik ist nicht angesagt, Rücklagen werden dafür nicht gebildet. Tod im Staatsrecht heißt dann: Keine rechtliche Egalitätswirkung des Sterbens; „Schauen wir einmal, dann sehen wir schon!“. Die Gleichheitswirkung des Sterbens heißt dann

64 Leisner, W., Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung, 1980, 2. Aufl. in: derselbe, Demokratie, Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, S. 197 ff.

IV. Gleichheit

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(es) Abwarten. Und sich nicht davor fürchten. Obwohl: „Wenn es aber kommt, dann laufen wir davon“ – wovor aber, auch vor dem Recht? Wohin – ins Dunkel? b) Die ganze Unausweichlichkeit, Unerbittlichkeit der Todeswirkungen erreicht das Recht über den Gleichheitssatz der Verfassung. In seinem Namen können einzelne Nivellierungswirkungen der Faktizität des Todes gesteigert oder abgeschwächt werden. Nicht nur um Wirkungen auf die Überlebenden geht es dabei, etwa im Erbrecht, sondern auch, oft vor allem, um Vor-Wirkungen auf die Noch-Lebenden. Sie alle können „im Todesfall“ mit mehr oder weniger rechnen, werden zu dem oder jenem gemahnt, angereizt, verpflichtet durch eine (Verfassungs-)Ordnung des Todes. Diese egalitär (verstärkenden) oder antiegalitär (abschwächenden) Rechtswirkungen betreffen die Todesursachen: das Ableben tritt dann vielleicht häufiger oder seltener ein, seine Gleichheitswirkungen sind damit, oder unter Gesichtspunkten der allgemeinen Sicherheit und Ordnung, stärker oder schwächer. Ähnliches gilt durch Verstärkung oder Abbau von Vermeidungsanstrengungen des Todes. Schließlich wirken rechtliche Regelungen der Todesfolgen eindeutig gestaltend auf die Gesamtordnung ein; man denke nur wiederum an das Erbrecht mit seinen Vorwirkungen auf den Erblasser, die Erwartungen der Bedachten. In einer „Ordnung ohne Erbrecht“, der sich etwa der Kommunismus nähern will, ist der Tod eben nur ein Schicksal(sfaktum), dessen Eintritt man abwartet. Für die Markt- und Leistungsordnung des Grundgesetzes aber ist eine rechtliche Ordnung des Todes eine entscheidende Vorgabe. Gleichheit als faktisches absolutes Diktat – oder nur Vorgabe zu rechtlicher Ausgestaltung? Um nicht mehr, nicht weniger geht es.

3. Todesgleichheit: Nivellierende Wirkungen auf rechtliche Ordnungsvorstellungen a) Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes anerkennt zwar, ja sie setzt die Gleichheit rechtlich fest, in einer höchstrangigen Grundentscheidung; dieser Konsens bedarf keines Beleges. Dennoch werden dabei auch Differenzierungsmöglichkeiten geboten, ja zu rechtlichen Unterscheidungspflichten gesteigert, welche sich, „aus der Natur der (Regelungs-)Sache“, vor allem der der menschlichen Existenz, ergeben (sollen). Gerade sie ist es aber auch, welche das Fundamentaldatum des Todes setzt, in eben solcher, und hier nun wirklich eindeutiger Natürlichkeit. Dass natürlich-faktische Gegebenheiten rechtliche Entscheidungsrelevanz besitzen, ist ebenso selbstverständlich wie, umgekehrt, dass rechtliche Gestaltungen deren Wirkungen näher bestimmen, solche zum Tragen bringen oder ignorieren wollen. Das „Natürlich Vorgegebene“ als rechtliche Schranke einer Gleichheitsordnung lässt sich allenfalls in einer sehr allgemeinen Betrachtung des Verhältnisses „Fakten – Recht“ umrisshaft eingrenzen; grundsätzlich gilt ein „Ex facto oritur ius“ nicht zwingend. Wie weit aber gerade die verfassungsrechtliche Gleichheitsordnung

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

„natürlichen Vor-Gegebenheiten einer Egalität“ Rechnung tragen, sie wenigstens berücksichtigen muss – das lässt sich nicht allgemein sagen. Der Kreis solcher Umstände ist sicher, gegenüber der Allmacht als Grenze des rechtlich regelnden Staates, verhältnismäßig gering. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass „Grenzen aus Natur(gegebenheiten)“ in den Kommentierungen zur verfassungsrechtlichen Gleichheit bisher nur eine sehr geringe Rolle spielen, jedenfalls keine systematische. b) Nur in einem Fall hat diese Problematik die Höhe einer verfassungsrechtlichen Regelungsebene erreicht: zum Verhältnis Mann – Frau (Art. 3 Abs. 2 GG). Auch die Regelungsallmacht des Staates, seines höchsten Organs, des Englischen Parlaments, konnte sich jedenfalls nicht „gegen die Natur stemmen“, „to change a man into a woman“ war ihm natürlich-rechtlich versagt. Doch alle nur möglichen Anstrengungen in diesem Sinn unternehmen nun moderne Verfassungen in ihren Gleichberechtigungsbemühungen, um biologischen Unterschieden, d. h. doch naturgegebenen Andersartigkeiten, möglichst auch hier rechtliche Differenzierungswirkungen abzusprechen, sie jedenfalls in engen, geradezu nur medizinisch relevanten Grenzen wirken zu lassen65. In der vielbeachteten Nachtbackentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Auswirkungen solcher biologischer Umstände als „rollenspezifisch“ abgetan66, damit ihrer rechtlichen Einebnung im Namen der Gleichheit die Tore in kaum absehbarer Weise geöffnet. In diesem wichtigen Fall der Gleichberechtigung haben also Verfassunggeber und Verfassungsrichter die Macht des Gleichheitsstaates zur Abschwächung oder gar Aufhebung natürlicher Unterschiede bis an die Grenzen möglicher Wirksamkeit eingesetzt. Alles wirklich nur Denkbare geschieht, in politisch getriebener Angestrengtheit, um das Recht gegen die Natur in Stellung zu bringen, nicht um im Namen eines „Naturgegebenen“ (auch) rechtliche Unterscheidungen zu begründen. c) Ganz anders im Falle des Todes: Hier wird, umgekehrt, eindeutig naturgegebener Gleichheit bisher nicht rechtlich entgegengewirkt, in Ausgestaltung der Vermeidung und der Folgen dieser biologisch vorgegebenen Lage. Vielmehr wird, jedenfalls deutlich in der Politik, gerade aus dieser natürlichen Gleichheit im Sterben, wenn auch oft nur unterschwellig, eher dafür eingetreten, der damit vorgegebenen „letzten Gleichheit“ auch noch in rechtlichen Ausgestaltungen von Todesgründen, Todesvermeidung, Todesfolgen entgegenzukommen, ja sie in ihren Wirkungen zu steigern: Möglichst keine Differenzierung bei Todesgründen, bei Tötungen nach der Person des Getöteten, dessen öffentlicher und sozialer Stellung; möglichst gleiche Anstrengungen zur Todesvermeidung in einem sozialen Gesundheitswesen; eher schwerer belastende Todesfolgen etwa im Erbrecht bei Begüterten. Fazit dieser wenig bemerkten, kaum thematisierten Entwicklungen: Die natürliche Vorgabe Tod wird rechtlich im Namen der Gleichheit in ihren Wirkungen eher verschärft. Am „Gleichschneiden des Todes“ beteiligt sich Verfassungsrecht. 65 66

Zur Rechtsprechung des BVerfG vgl. etwa E 37, 217 (249); 52, 369 (374). BVerfGE 85, 191 (208).

IV. Gleichheit

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4. Abschwächung „todesüberwindender“ staatsrechtlicher Erscheinungen und Regelungskräfte a) „Verfassungsrecht in Gleichheit“, einebnend wirkend durch eine „Todesordnung“ in gegenwärtiger Entwicklung? Diese Frage konnte vorstehend wenigstens allgemein gestellt, aber nur umrisshaft beantwortet werden. Es bedarf dies jedenfalls näherer, hier im Einzelnen nicht zu leistender Untersuchungen all dessen, worin, womit das Recht, umgekehrt, eine „Wirkung des endenden Lebens“, gerade einer bestimmten konkreten Existenz, jeweils über deren Ende hinaus sicherstellen könnte, in Ansätzen oder konkreter Ausgestaltung von Interessenlagen. Die Situationen müssten dann auch noch in ihren Vorwirkungen auf die noch laufende Lebenszeit erfasst und gewichtet werden. Darin könnte ermittelt werden, wie das Verfassungsrecht, in seiner gegenwärtigen Lage wie in seinen Entwicklungstendenzen, die unentrinnbare Gleichheitswirkung des Vorganges „Tod“ so weit kanalisiert, wie dies eben dem Recht in seinem selbst „naturübergreifenden“ Wesen doch möglich ist. Unendliche Gestaltungskraft kann unabwendbares Schicksal zwar nicht aufhalten, dessen Wirkungen, in einem durchaus weiten Sinn, aber beherrschen: Rechtliche Macht gegen Tod. b) Festzustellen ist nun allerdings eine allgemeine, insbesondere eine staatsrechtliche Entwicklung, die deutlich in die Gegenrichtung verläuft: Abschwächung „todesüberwindender“ Erscheinungen und Regelungskräfte“. Sie mag weithin aus außerrechtlichen, „gesellschaftlichen Bereichen“ kommen, wird aber aufgenommen und verfestigt in juristischen Formen, bis in die normativen Höhen des Verfassungsrechts. Solche Wirkungen sind dabei meist weder ausdrücklich gewollt, noch ergeben sie sich auch nur primär aus solchen Entwicklungen. Doch sie lassen sich ihnen deutlich als Sekundärfolgen zurechnen. Einige Beispiele mögen – und müssen hier – genügen; sie zeigen gerade die Wirkungen egalitären Staatsdenkens: - Genereller, ja grundsätzlicher Autoritätsabbau muss die notwendige Folge einer „verfassungsrechtlichen Umwertungs-Demokratie“ notwendig sein. Ihre höchsten Wertigkeiten, die der Grundrechte, sind wesentlich entstanden und erwachsen ständig weiter aus anti-autoritären geistigen Grundströmungen, die sich sogar gegen jede „Würde“ wenden. Der Versuch, aus ihnen nun, umgekehrt, einen Würdebegriff insbesondere für den Tod zu gewinnen (vorsteh. III. 4.), haben den Inhalt dieses Begriffes wesentlich verändert, historisch gesehen geradezu denaturiert: Sie haben ihm eine – entscheidende – autoritätsbegründende Wirkung genommen: Im Namen der Grundentscheidung für eine demokratische Gleichheit. „Autorität“ ist als solche keine kompetenzsichernde, vielleicht gar kompetenzerweiternde Machterscheinung mehr. Sie wird nun umgekehrt, grundsätzlich „hinterfragt“, d. h. doch: in Frage gestellt, in dem Sinn, dass hier verfassungsrechtliche Egalität geradezu als eine „Kompetenz/Macht-Einschränkung in dubio“ in allen staatlichen Ordnungszuständigkeiten mitschwingt, im Namen der Grundrechte, generell bis in das Staatsorganisationsrecht hinein.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Ein solcher Autoritätsabbau hat aber rechtliche Einzelfolgen, gerade auch für die hier untersuchte „Todesordnung“: Autorität bekämpft Todesursachen, verstärkt Todesvermeidung, von Immunität und Personenschutz für Würdenträger bis zur Ehrung in Grabmälern und Denkmalschutz, ja bis zur Wirkung „politischer Testamente“67, Vermächtnisse an Nachfolger. Dies alles verliert sich in einem allgemeinen Persönlichkeitsschutz – im Namen der Gleichheit. - „Autorität“ lässt sich staatsrechtlich hochrechnen zu einer Tradition68, welche durch Autoritäten nicht nur getragen, sondern geschaffen wird. „Männer machen die Geschichte“ hieß es einst, und darin lag mehr als historisierendes Pathos. Gerade die Demokratie stellt zwar jene Akteure, welche alte Autoritäten stürzen halfen, zunächst als ihre eigenen neuen Denkmäler auf69 – um dann aber sogleich selbst diese „Tradition révolutionnaire“70 wieder abzuschwächen in immer neuen und typisch demokratischen Diskontinuitäten71. Die Gleichheit fraß ihre eigenen Kinder: Einem Philippe (d’Orléans) Egalité wurde nicht einmal mehr ein Denkmal gesetzt. Alle staatsrechtlichen Traditionsverluste, -abschwächungen lassen sich auf solche staatsgrundsätzliche Wirkungen der demokratischen Gleichheit zurückführen: Zu einer „Gleichheit in der Zeit“ in Traditionsfortsetzung, hat sich diese nicht (hoch)entwickeln lassen. Im Gegenteil: Demokratische Gleichheit versucht weiterhin, als Erbfeindin staatsrechtlicher Autorität, deren Weiterleben in Tradition zu verhindern, mit all ihren politischen Kräften. - Dem Erbrecht lag ursprünglich ein Kontinuitätsstreben für das Leben zugrunde, über dessen Ende hinaus. Juristen wollten in ihm die Verstorbenen weiterleben lassen, ja ihre Persönlichkeit sollte sich, wenigstens, materiell fortsetzen, in ihrem Besitz: Juristische Güter-Inhaberschaft als Todesüberwindung. Entwickelt hat sich daraus, in neuester Zeit, nicht nur etwas ganz anderes, sondern eine grundsätzliche staatsrechtliche Legitimation für das Gegenteil: In der Erbschaftsteuer72 steigert die demokratische Staatsgewalt nicht nur ihre Einkünfte, finanziell damit ihre Macht; sie verändert auch das vom Erblasser Gewollte, das durch Testament verändernd zu gestaltende Fortleben seiner Persönlichkeit in seinem Vermögen, durch den staatlichen Zugriff auf dieses. Das erfolgt, letztlich, im Namen einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung: einer Gleichheit, in welcher hier eines der wirkmächtigsten Instrumente nivellierender Umverteilung entdeckt worden ist. Die Staatsgewalt mag es nicht immer offen mit dieser staatsgrund67 Das „Politische Testament“ war eine typische todesübergreifende Wirkungsform von Aristokratismus und Monarchismus, nicht nur in den Vermächtnissen der Richelieu-Zeit. 68 S. Leisner, Tradition, FN 16, S. 141 f. 69 Die wahre Monumentalisierung der Umsturzvorgänge und -persönlichkeiten in Frankreich unter der III. Republik ist ein eindrucksvolles Beispiel. 70 Welche als solche in der französischen Allgemeinen Staatslehre eine besondere Rolle spielt, vgl. Leisner, W., Volk und Nation als Rechtsbegriffe der Französischen Revolution. Zur „tradition révolutionnaire“, FS f. Hans Liermann, 1964, S. 96 ff. 71 Dazu Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 153 f., 185 ff. 72 S. Leisner, W., Erbrecht, HbStR3 § 174 Rn. 24 ff.

IV. Gleichheit

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sätzlichen Begründung nutzen; dieser aber entsprechen jedenfalls, und zwar sogar primär, seine Wirkungen. Die Radikal-Egalität lässt sich hier durch vordergründige Hinweise auf finanzielle Staatsbedürfnisse leicht verschleiern. Der Tod wird also durch all dies nicht „überwunden“, in seinen Wirkungen rechtlich abgeschwächt. Diese werden vielmehr gesteigert im Namen einer Gleichheit. Sie kann sich dabei unterschwellig/hintergründig sogar als Testamentsvollstreckerin des Todes zeigen: Er macht doch alle gleich – alles, möglichst alle Vermögen.

5. Gleichheit und Schutz des „Rechts auf Leben“ a) Das verfassungsrechtlich gewährleistete „Recht auf Leben“ ist die einzige Form von Rechtsmächtigkeit, welche die demokratische Staatsform dem Tod juristisch entgegensetzt; so allgemein soll und könnte sie wirksam sein wie die faktische Macht des Todes. Dieses Lebens-Recht wird allerdings, erstaunlicherweise, im Grundgesetz nicht mit einer formell entsprechenden herausgehobenen Wertigkeit ausgestattet73 ; es wird dort sogar, systematisch wenig folgerichtig, unter einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt gestellt. Das aber wird in den Äußerungen zu dieser Verfassungslage nicht einmal in vertiefender Betrachtungskritik angemerkt. Rechtlich gesichert werden sollte hier vielmehr der „prae-mortale Zustand Leben“ nicht in seiner Wertigkeit, in auf diese zu stützenden Vermeidungsanstrengungen des Todes, in Abschwächung von dessen rechtlichen Folgen. Vielmehr beschränkt sich die Behandlung eines „Rechts auf Leben“ im Wesentlichen auf Verbote von Einwirkungen verschiedener Art auf das Weiterleben als solches. Die Wertigkeit des Lebens steht dabei im Vordergrund, aber nicht eine Todesordnung, welche die Auswirkungen von Eingriffen in das Lebensrecht mit der Bedeutung dieser Regelungsmaterie konfrontierte. Dies ermöglicht dann sogar eine juristische Relativierung der Bedeutung des Todes, welche diesen (nur) als „Opfer für die Gemeinschaft“ erfasst74. In der Behandlung und Bewertung des verfassungsrechtlichen Schutzes des Rechts auf Leben zeigt sich also nicht, allgemein, grundsätzlich der Versuch, eine höchstwertige juristische Gegenposition dem mächtigen Faktum Tod entgegenzustellen, dessen Wirkungen und Folgen damit rechtlich abzumildern. Vielmehr setzt sich hier grundsätzlich zunächst sogar jene Schutzabschwächung fort, welche schon vorstehend (unter 4.) im Verfassungsrecht festgestellt worden war. Auch dies lässt sich wohl nur erklären als eine Form von Kapitulation des (Verfassungs-)Rechts vor

73 Die Feststellung, das Leben stelle einen „Höchstwert“ dar (BVerfGE 115, 118 (139)), führt dort nur zu dem banalen Ergebnis, dass dies eben mit dem Tode ende. 74 Etwa bei Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 205 ff.: „dies folgt aus der hohen Bedeutung des Lebens durch das Grundgesetz und der Unwiderruflichkeits seines Verlustes“ – wirklich nur eine „hohe“ Bedeutung, wie hoch?

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

der Faktizität des Todes – im Namen von dessen Gleichheit, die sich bis in die grundsätzliche Relativierung des Lebensrechts hinein verfassungsrechtlich fortsetzt.

6. „Gleichheit gegen Tod“ – Todesvermeidung in Sozialstaatlichkeit a) Doch diese zurückhaltende verfassungsrechtliche Behandlung eines „Rechts auf Leben“ – in Ausführungen, welche die wichtigste ausdrückliche Sedes materiae der vorliegenden Behandlung einer „Ordnung des Todes“ darstellen – zeigt auch einen ganz anderen Aspekt der demokratischen Gleichheit mit eher sogar gegenläufigen Wirkungen auf das Sterben: Eine soziale Gleichheitsordnung75 in Sozialstaatlichkeit, jedenfalls egalisierenden Anstrengungen einer Gestaltung menschlichen Lebens, welche in ihrer Allgemeinheit als todeskonforme Vermeidungsstrategien des Sterbens aufgefasst werden können. „Sozialstaatlichkeit gegen (vorzeitigen) Tod“ – das ist doch eine wahrhaft fundamentale Verfassungsposition, getragen von Gleichheitsdenken, in welcher die Volksherrschaft dem Tod ihrer einzelnen wie ihrer kollektiven Souveränitätsträger entgegentreten will. b) Allgemeine, in voller Gleichheit immer weiter intensivierte Existenzsicherung und Gesundheitsvorsorge ist historischer Ausgangspunkt wie tiefere menschliche Legitimation des Sozialstaats. Hier zeigt sich Verfassungskonsens in einer Allgemeinheit und Indiskutabilität, welche der des notwendigen menschlichen Ablebens entspricht: Auf Rechts-Ebene hat sich etwas entfaltet, das in seinen Wirkung(smächtigkeit)en denen der Faktizität des Endes menschlichen Lebens gleichkommt. Existenzsicherung76 ganz allgemein erfährt hier gewissermaßen eine „Weihe der Todesvermeidung auf Zeit“. Die Verfassung selbst formt dies noch näher aus in „Recht auf körperliche Integrität“77, gesichert im Recht auf „gleiche Gesundheitsvorsorge für alle“. Hier wendet sich die menschliche Gleichheit in ihren unbestrittenen Wertigkeitskern zentral und gezielt gegen das Sterben. Jeder Augenblick des menschlichen Lebens zeigt sich gerade hier in seiner verfassungsrechtlichen Wertigkeit als gleichgewichtig „unmittelbar zum Volkssouverän“: In Existenzsicherung und Todesvermeidung ringt der Gleichheitsstaat der Lebenssicherung dem Tode insbesondere zeitlich Wertigkeiten ab, mindert seine Bedrohungen. Geradezu quantitative Aspekte einer „Todesordnung aus sozialer Gleichheit“ werden hier deutlich.

75 76 77

(302).

Dazu Leisner, Der Gleichheitsstaat, FN 64, S. 116 f., 189 ff. S. grds. Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, insb. S. 150 ff. Etwa in der Selbstbestimmung des Betroffenen bei Heileingriffen, vgl. BVerfGE 128, 282

IV. Gleichheit

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c) All dies setzt sich noch fort in einer Entwicklungshilfe78. Sie findet darin eine besonders hohe wertigkeitsmäßige Legitimation, dass sie gerade aus jener allgemeinmenschlichen Gleichheit kommt, die vor den Wassern des Mittelmeeres nicht Halt macht, das Humanum weltumspannend umfasst. Das Terenzwort, hier sei „nihil a me alienum“79, nichts uns „fremd“ – es soll hier wortwörtlich juristisch-grundsätzlich umgesetzt werden: Einen „Fremden“ gibt es hier nicht mehr. Sogar Eingriffe in fremde Personalsouveränität legitimiert das Asyl: Gleichheit wirkt in Humanität stärker als jede, sogar als die völkerrechtlich legitimierte (doch) allmächtige Staatsgewalt.

7. Das Ziel: Eine „Todesordnung“ aus verfassungsrechtlicher Gleichheit Die Gleichheit hat sich also hier bereits grundsätzlich in all ihren für die Demokratie wahrhaft fundamentalen Bedeutungsrichtungen gezeigt, auch als eine Grundlinie von etwas wie einer rechtlichen Ordnung des Sterbens. Nirgends kommt eben doch wohl das demokratische Verfassungsrecht dem „Menschsein“ so nahe wie gerade in seiner Egalität, in all deren rechtlichen Auswirkungen. Damit erreicht sie selbst die Gräber, muss sie auch an deren Schwellen Halt machen. Eine (verfassungs) rechtliche Todesordnung findet also fassbare rechtliche Inhalts- und Entwicklungspunkte gerade in der Grundentscheidung der Gleichheit. Dabei muss aber vor allem Zweierlei bedacht werden: - Die mächtige Wirkung der Gleichheit gerade in diesem ihrem Zusammenhang mit dem Sterben: Einerseits wird Egalität hier immer politisch beschworen und forciert, verfassungsrechtlich ausgebaut werden als eine Fortsetzung jener Egalität, die nirgends so greifbar wird wie im Tod. Wenn daraus „menschliches Wesen“ abgeleitet wird, so wirkt sie nicht mehr nur als Legitimation, sondern geradezu als ein Aufruf zu einer umverteilenden Nivellierung, selbst bereits im Leben, mit allen sozialstaatlichen Mitteln. Und mit ebensolcher Überzeugungsund politischer Durchschlagskraft, legitimiert, ja potenziert die Gleichheit alles, was in sozialstaatlicher Lebens-, insbesondere Gesundheitsvorsorge der Todesvermeidung dient, in einer wahrhaft humanisierenden Verzögerung des unausweichlichen menschlichen Schicksals. - Diese Todesvermeidung muss in all dem aber als eine „gezielte“ gesehen und verstärkt werden; sie darf nicht ausufern in sozialstaatliche Forderungen nach angenehmen, schönem, „lebenswertem“ Leben. Im Selbstmord mag sich Todesvermeidung mit diesem „begegnen“. Doch nicht ein „nivelliertes schönes

78 Die als solche im Rahmen eines wesentlich „humanitären Völkerrechts“ erfolgt und sich nun zu einem besonderen Aspekt desselben entwickelt. 79 Vgl. FN 1.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Leben für Alle, für Jedermann“ darf hier Gleichheitsziel sein80. Gerade nach dem Grundgesetz darf die Wertigkeit des Lebens nicht in den zu verteilenden, zu genießenden Gütern gesehen werden, sondern allenfalls in dem, was zu diesem Zustand hinführt – damit weg vom Tod: in der nun zu betrachtenden Freiheit.

V. Freiheit 1. Freiheit als Verfassungsgrundentscheidung und „Rechtliche Todesordnung“ a) Während „die Gleichheit“ ausdrücklich als eine Grundentscheidung des geltenden Verfassungsrechts zu Art. 3 Abs 1 GG formuliert ist, daher auch behandelt wird, gilt dies für „die Freiheit“ nicht mit gleicher Deutlichkeit. In der Präambel des Grundgesetzes wird sie nur angesprochen im völkerrechtlichen Sinn der Selbstbestimmung des Volkes als Souveränitätsträger und Deutschlands als eines darin unabhängigen Staates81. Unter den verfassungsrechtlichen Grundprinzipien des Art. 20 GG wird sie als solche nicht erwähnt. Die Grundrechte regeln nur bestimmte Freiheiten. In Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG begegnet nicht „Freiheit“, sondern nur „freiheitlich“, zur näheren Bestimmung einer demokratischen Grundordnung: Dies lässt sich ohne weiteres beziehen – und beschränken – auf die einzelnen Grundrechte. „Freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2 GG) ist mehr Charakterisierung eines Rechtsraums als dogmatische Konstituierung einer einheitlichen verfassungsrechtlichen Freiheit. Dennoch entspricht es verbreiteter verfassungsrechtlicher Betrachtungsweise, von einer einheitlichen Freiheit als Grundentscheidung der Verfassung zu sprechen. Dies soll denn auch im Folgenden geschehen. Denn eine „TodesOrdnung des Verfassungsrechts“ muss „von der Freiheit“ als einer zumindest zusammenfassenden Begrifflichkeit ausgehen, diese auf ihre verschiedenen Regelungsbereiche beziehen können. b) Begründen lassen mag sich die Vorstellung von einer einheitlichen Verfassungs-Grundentscheidung für „die Freiheit“ aus einer induktiven Betrachtung82 der Freiheitsgehalte der einzelnen Grundrechte, verbunden mit den Freiheitsgehalten der sie schützenden staatsorganisatorischen Regelungen. Im Sinne eines neuerdings vertiefend betrachteten „Personalismus im Staatsrecht“83 lässt sich eine Einheit des verfassungsrechtlichen Freiheitsbegriffs auch grundlegen im Schutzzweck einer

80

Jedenfalls wird die Herstellung eines „Wohlbefindens“ als solchen nicht allgemein durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt (vgl. BVerfGE 56, 54 (74 ff.)). 81 Grundgesetz Präambel S. 1. 82 Zur Induktion vgl. Leisner, Institutionelle Evolution, FN 36, S. 82 ff. 83 Leisner, Personalismus, FN 13, S. 126 f., zur „Freiheit“ als einheitlicher Begriff in diesem Zusammenhang.

V. Freiheit

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Persönlichkeit, welche als solche in einer Einheit gesehen werden muss, mag diese sich dann auch in vielfachen Ausstrahlungen bewähren. c) In diesem Sinn ist hier nun nach „der Freiheit“ als einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung zu fragen, welche, als eine solche, Grundlinien auch, ja vor allem zieht für eine verfassungsrechtliche Todesordnung. Dabei geht es nicht um einen Zustand des Betroffenen nach Eintritt des Ereignisses Tod, wohl aber um dessen Vorwirkungen und um „Nachwirkungen“ bereits als Vorwirkungen während des Lebens. Die Betrachtungen beziehen sich dabei, wie schon im Falle der Gleichheit, sowohl auf Ursachen wie auch auf nähere Umstände des Sterbens und dessen Folgen. Ihr Ziel ist gleichfalls wieder die Feststellung von rechtlichen Wirkungen auf die Bedeutung des Todes in dessen faktisch-letztlicher Unausweichlichkeit, eben in der „Verfassungsordnung“ – der Ordnung des Lebens des Menschen, aus dessen Ende heraus.

2. Menschliche (Verfassungs-)Freiheit gegenüber dem Unabänderlichen a) Eine „Freiheit vom Tode“ kann es verfassungsrechtlich nicht geben. In Todesüberwindung mag sich die „Freiheit eines Christenmenschen“ fortsetzen; aus seinem Glauben an die Auferstehung heraus darf er fragen: „Tod, wo ist nun Dein Stachel?“ Alle Religion ist letztlich nichts als organisierte, rechtlich geregelte Todesüberwindung aus Glauben. Eindeutig und ausdrücklich auch als solche wird die religiöse Überzeugung im Staatskirchenrecht verfassungsrechtlich geregelt84, geschützt, mit all ihren individual- und gemeinschaftsgestaltenden Kräften und auch, ja vor allem, ihren rechtlichen Auswirkungen auf die säkulare Ordnung – des Lebens wie des Todes. Damit wird diese Glaubensfreiheit zu einem Constitutivum auch der staatlichen Todes-Ordnung. Es wirkt sich dies aus in einer bedeutsamen Relativierung der Bedeutung des Sterbens für sehr viele Bürger. Auch diejenigen welche dies nicht in kirchlicher Bindung mittragen, leben doch häufig in Überzeugungen über „irgendetwas Postmortales“; auch für sie ändert dies die Bedeutung des Tod meist doch im Sinne einer Abschwächung seiner Wirkungen schon im verfassungsgeregelten Diesseits. Das eingangs erwähnte „Wegschauen vom Tod“ mag praktischpolitisch einen menschlichen Grund in dieser verbreiteten Überzeugungslage in der gegenwärtigen Gemeinschaft finden. Sie aber überholt die vorliegende Problematik nicht allgemein-grundsätzlich in einer „Freiheit vom Tode“, konzentriert deren Bedeutung vielmehr auf die hier betrachteten Problemkreise von Todesvorgang, -umständen, -vermeidung, -folgen. b) Von besonderem praktisch-rechtlichem Gewicht sind hier vor allem die rechtlich-diesseitigen Wirkungen menschlicher Todesfurcht. „Freedom from Fear“ ist noch immer ein auch verfassungsrechtliches Schlagwort. Sub specie mortis macht 84

Vgl. i. Folg. VII.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

jeder verantwortungsvolle Bürger, damit die große Mehrheit der Todgeweihten, Gebrauch von seiner Freiheit im Leben. Nicht für alle Formen, zu allen Zeiten gilt dies, in welchen Freiheit in Anspruch genommen wird. Wohl aber werden alle zentralen Entscheidungen im Leben, eben auch – im wahren Sinne „letztlich“ – mit Blick auf Alter und (damit) Tod getroffen: Ehe, Kinderwunsch, Erziehung, Berufswahl, Ruhestand, letztwillige Verfügungen oder ein Absehen von solchen. Dies alles erfolgt letztlich, aber eben nicht (nur) zuletzt, mit Blick auf die erwähnten Gegenstände einer rechtlichen „Ordnung des Todes“ in einem weiteren Sinn, all dessen, was der Todeskandidat Mensch gerade mit Blick auf dieses Schicksal regeln, ändern, abmildern kann, mit Hilfe seiner von ihm getragenen Staatsgewalt der Demokratie wie auch in seinem „kleinen Kreis“. Dieser verengt hier nicht seinen Sinn, er weitet ihn aus bis in unabsehbare Wirkungen von heute Geregeltem, Beschlossenem, bis in – wahre – zeitliche Unendlichkeiten hinaus…85. „Im Angesicht des Todes“ steht jeder Mensch, in jedem Augenblick seines Lebens, ob er es (an)erkennt oder nicht. Das Staatsrecht versucht – nein: es „ist“ hier, wie auch fast immer, überall: Bewusstwerdung, (Er-)Hebung in diesen Raum, in „höheren Norm(ierung)en“.

3. Freiheit: gegen fremdbestimmtes Sterben a) Freiheit steht wesentlich gegen Fremdbestimmung. In diesem ihrem Grundverständnis ist ihr Sinn, als Verfassungs-Grundentscheidung, eine Absage an fremdgesetztes, aufgezwungenes Sterben, in all dessen möglichen Formen. Nur ein Schicksal soll dies auferlegen dürfen – mehr oder minder blind; und auch das Recht darf hier nicht Ausschau halten nach dem Tod, ihn „herbeiführen wollen“, es muss ihn allerdings „kommen sehen“, „kommen lassen“, wenn der Mensch es will in Freiheit, als Herr seines Schicksals. Fremdbestimmter Tod bleibt also der zentrale Regelungsgegenstand des Verfassungsrechts, sein Ausschluss, seine Vermeidung sein erstes, sein wahrhaft vornehmstes Ziel. Dieses ist gegen eine doppelte Bedrohung abzusichern: Gegen die politische Macht des Staates, den öffentlichen Todesbefehl, und gegen Bedrohungen durch Gleiche: Tod durch Private. b) „Tod durch Staat“ ist das erste Thema einer solchen Betrachtung. Der Staat darf keine Todesursache setzen, denn damit vernichtet er vollständig das Individuum in seiner Freiheit. Freiheit als Schutz gegen „Fremd-Tod“ ist also mehr als eine verfassungsrechtliche Leitlinie, normativ mehr, etwas anderes als eine Grundentscheidung, ein Prinzip, welches (nur) in Annäherung zu verwirklichen wäre. Es kann dies vielmehr lediglich eines bedeuten: Absolutes Verbot jeder Form von „Öffentlichem Todesbefehl“ seitens der Staatsgewalt, ergehe ein solcher rechtlich in Form 85 S. i. Folg. C. IV. 3., 4. – in Normgeltung allgemein, insb. aber über die Letzwilligen Verfügungen.

V. Freiheit

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der Todesstrafe, des militärischen „Himmelfahrtskommandos“, der Weisung zum finalen Todesschuss oder durch faktischen Zwang in den Selbstmord. Selbst gegenüber einer billigenden Inkaufnahme des Sterbens, wie im Falle einer Genehmigung schwerst bedrohlicher Anlagen, muss dann dieses Verbot, aus der grundgesetzlichen Freiheit heraus, gleichermaßen ausnahmslos gelten86. Hier darf allenfalls etwas stattfinden wie eine „Abwägung in Wahrscheinlichkeits-Annäherung“ des Todeseintritts; auch dessen entfernte Drohung könnte aber genügen, um staatliches Verhalten als schwerstwiegend rechtswidrig erscheinen zu lassen. Denn in einer der Waagschalen liegt ja immer ein absoluter verfassungsrechtlicher Höchstwert: der des Lebens, allein schon angesichts der Unmöglichkeit jeder Art von „Korrektur des einmal eingetretenen Todes“. In einer näheren Betrachtung im Folgenden (C.) wird es also nur darum gehen, besondere verfassungsrechtliche Verbotsvorgaben näher zu prüfen, mit dem Ziel der Sicherstellung ihrer Wirkungen. c) Die Staatsgewalt ist es stets, der eine solche Schutzpflicht gegen das Sterben obliegt, in all ihren, auch nur faktisch wirksamen, Verhaltensformen. Dazu gehört aber auch ein „Geschehenlassen“ des Sterbens, welches die Verpflichtung zum Lebensschutz verletzt, wenn eine Vermeidung des Todes durch staatliches Verhalten in einem weiteren Sinn möglich (gewesen) wäre. Zwei Fallgruppen sind hier vor allem zu erwähnen, mögen ihre Todeskausalitäten auch völlig heterogen sein: - Staatliches Sterbenlassen in öffentlichen Einrichtungen oder privaten Wohnungen, gegen den freien Willen des Menschen; - Zulassung nicht-staatlichen Fremdtodes durch Tötung seitens Dritter Privater, durch ungenügende staatliche (Straf-)Ordnung, welche keine ausreichende Abschreckung gewährleistet, damit die Vernichtungswahrscheinlichkeit individueller Freiheit wesentlich erhöht. Da in all diesen und ähnlichen Fällen der Bereich einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ verlassen wird, auch von einem „Inkauf-Nehmen“ durch Staatsverhalten dann kaum mehr die Rede sein kann, eröffnen sich hier, in einer näheren Untersuchung (C.), bedeutsame Räume für Gestaltungen, welche eine bessere, gewissermaßen indirekte Durchsetzung der Verbotslage durch staatliches Verhalten gegenüber dem Sterben immerhin ermöglichen (könnten), insbesondere über abschreckende Vorwirkungen.

4. Freiheit der Entscheidung über den eigenen Tod a) Hier wird das Zentrum des verfassungsrechtlichen Freiheitsschutzes erreicht: Soll es dem Menschen freistehen, über seinen eigenen Tod zu entscheiden, allgemein oder doch in bestimmten, vielleicht nur „extremen“ Situationen? Wo verlaufen hier verfassungsrechtliche Grenzen? 86

Zu all dem näher unter C. II. 5.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

In dieser wahrhaft wert-zentralen Frage für den Menschen schlechthin, zu einer derart fundamentalen Ausprägung einer innersten Freiheit, von der Jedermann jederzeit Gebrauch machen könnte – dazu gibt es traditionelle, aber durchaus widersprüchliche, Einstellungen aus der lange Zeit so oft beschworenen christlichabendländischen Werteordnung heraus: Sie muss, wie die meisten Religionen, den Selbstmord verurteilen, wird hier doch ein nicht menschen-, sondern gottgegebenes Leben ausgelöscht, damit seine Höchstwertigkeit im religiösen Sinn durch ein solches Freiheitsverständnis geleugnet. Andererseits wird der Freitod, selbst aufgezwungen im Schierlingsbecher des Sokrates, im Sterben des Seneca, geachtet, ja bewundert, sie zeigen ein antikes, über humanistische Tradition noch immer wirksames Verständnis der Freiheit: Selbstauslöschung ihres Trägers als ihre höchste, letzte Form. Hier muss und wird sich eine breite, seit langem begonnene staatsrechtliche Diskussion fortsetzen, wieder neu beginnen, über Voraussetzungen, welche der Staat, im Namen seiner Ordnung(sgewalt, damit insbesondere) zum Schutze seiner Bürger, seiner Sicherheit und Ordnung, diesem Freitod setzen darf. Sollte dies nicht eine wahrhaft zentrale, eine höchstrangige Verfassungsfrage sein, müssen hier nicht Grundlinien aus dem Grundgesetz gezogen werden, vielleicht immer neu? Hier sind Lösungen (mehr als) schwierig; Bewusstwerdung aber ist schon ein Anfang. b) Über die Freitod-Entscheidung als solche, in ihrem herkömmlichen engen Verständnis, reicht die hier zu untersuchende Problematik einer Todesordnung jedoch noch weit hinaus. Diese zeigt sich nicht zuletzt als ein mögliches Motivationssystem für zentrale Entscheidungen im Leben selbst: Wie kann aus diesem Leben heraus der Tod in seinen Auswirkungen bereits rechtlich abgeschwächt, im Geiste der stets todesbedrohten Menschen geradezu wirkungsmäßig überwunden werden? Hier muss eine kritische Betrachtung der staatlich-öffentlichen, der verfassungsrechtlichen Regelungen der Todesfolgen einsetzen. Im Mittelpunkt steht die Freiheit des letzten Willens, dessen Wirkungen über den Tod hinaus: die erbrechtliche Freiheit. Sie muss aus einer Randnische des Verfassungsrechts herausgeführt, in den Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Schutzwirkungen überhaupt gestellt werden87. Fast schon absurd ist es, dass diese menschliche Zentralfrage von Wirkungen über den Tod hinaus, diese Form eines „positiven juristischen Selbstmords“ in der freien Gestaltung der Todesfolgen, ständig, ja zunehmend beschränkt wird auf wirtschafts/gesellschaftspolitische Problemwirkungen. Darin wird sie geradezu marginalisiert in ihrem freiheitlichen Gehalt, potenziert umgekehrt zu einem Umverteilungsinstrument. Jedenfalls liegt darin eine wesentliche, „Entfreiheitlichung“ des Sterbens. Hier gilt es einzusetzen in einer verfassungsrechtlichen Bewusstseinswandlung: Im Erbrecht tritt die Majestät des Todes hervor als Majestät menschlicher Freiheit.

87

Zur Bedeutung des Erbrechts Leisner, FN 72, Rn. 1 ff.

V. Freiheit

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5. Schwangerschaftsabbruch: Tod im Namen der Freiheit? a) Schwangerschaftsverhütung und -beendigung sind ein Grundproblem einer jeden verfassungsrechtlichen Todesordnung. Damit stehen sie, in der ganzen Breite der Diskussion um sie, geradezu im Mittelpunkt der Behandlung von Wirkungen der Freiheit auf das menschliche Sterben. Gerade im Namen der Freiheit könnten hier Menschen, viele, potenziell alle, dieses ihr menschliches Wesen zeigen wollen in der Vollendung des eigenen Lebens – und der Beendigung anderen Lebens. Im Folgenden werden hier – wieder einmal – Thesen geboten, Überzeugungen proklamiert werden. In diesem wahrhaft existenziellen Problemkreis geht es um Fragen, die dann, irgendwann, irgendwie, Mehrheiten finden werden in einer Demokratie. Diese hat ihr Bewusstsein dafür wenigstens darin deutlich werden lassen, dass sie Parlamentsentscheidungen über Schwangerschaftsabbruch und Schwangerschaftsverhütung „freigegeben“, aus dem Machtbereich des Fraktionszwangs gelöst hat. Könnte dies nicht Vorbild sein für so manche andere „Freigabe eines Freien Mandats“ aus innerparteilichen Befehlsordnungen? b) So viel sei immerhin schon angedeutet: Ein Abwägungsproblem stellt sich unausweichlich gerade auch hier, wie schon bei der Problematik des Freitodes, ein einmaliges, fundamentales, im Zusammenhang mit einer Todesordnung: Zwischen dem Wichtigsten am Menschsein, seiner Freiheit, und dem Recht auf ihre Beendigung im Tod. Hier könnte die Demokratie beweisen, dass Streitkultur sich nicht wesentlich zu Haushaltsansätzen entwickelt, sondern zu allererst zu tieferen Überzeugungen – eine staatsgrundsätzliche Mahnung vor einem allzu leichten Koalitionsoder Parlamentsfrieden.

6. Todesordnung: ein Feld der Freiheit Die Freiheitsfrage in ihrer ganzen Weite und Tiefe stellt sich also sub specie mortis in einer besonders drängenden Weise. Eine Todesordnung regelt das Ende der menschlichen Freiheit, und dieses ist in Sicht einer demokratischen Verfassung unendlich viel wichtiger als das Ende des Lebens. Insoweit gilt auch in der Demokratie noch immer: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“; die demokratische Antwort lautet aber: Es ist die Freiheit, zum Sterben, in dessen Wirkungen auch über den Tod hinaus. Darin stand und steht die Jurisprudenz noch höher als Medizin, näher bei der Theologie, eben aus der Wertigkeit der Todesfragen heraus. Medizin ist hier Magd der Jurisprudenz; diese ist zwar nicht mehr Magd der Theologie, aber deren säkularisierter Form: in Wissenschaftlichkeit. Darin, wie es der Demokratie gelingt, in ihrer Rechtsordnung ihre Freiheit zum Tragen zu bringen, in Durchsetzung und Abwägung, wird sich ihr politisches

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Schicksal entscheiden. Hier bewährt sie sich nicht in spektakulärer Weise, sondern in tieferem, letztlich überzeugendem und darin durchschlagendem Sinn, vor allem darin, wie sie aus dieser ihrer Freiheit eine verfassungsrechtliche Todesordnung zu gestalten vermag. Wenn Demokratie Diskussion ist, so muss der Tod in beiden nicht am Rande stehen, sondern in einem Mittelpunkt, in den er für alle Menschen alsbald treten wird. Deshalb ist nun das Kapitel über die Grundentscheidungen des Grundgesetzes als Leitlinien einer verfassungsrechtlichen Todesordnung zu schließen mit Betrachtungen über „Demokratie und Tod“. Diese Staatsform hat den Menschen ein volles, ein reiches Leben geschenkt – in Freiheit. Nun ist es Zeit, dass ein Rufer hervortritt mit einem Wort, das gerade der Volksmacht und ihrem Gleichheitsstaat doch so teuer sein sollte. Diese Wort ertönt dann wirklich am Eingang zu heiligen Hallen eines Salzburger Domes, es „ruft zur Ordnung“: „Jedermann“.

VI. Demokratie und Tod 1. Tod des Einzelnen – Sterben des Volkssouveräns? a) Die Demokratie ist eine Ordnung in Diskussion und Streit, also zwischen Einzelnen. Ihre Ordnungsinstanz ist aber „das Volk“88, ein jedenfalls begriffliches, im Staatsrecht aber ein praktisch-politisches Integral aus Menschen, in deren kollektiver Macht. Dass jede der Rechnungseinheiten, aus denen sich dieses „Volk“ aufbaut, einzeln stets vom Tod bedroht, eines Tages mit Sicherheit ihm ausgeliefert (sein) wird, ändert nichts an der „staatsrechtlichen Unsterblichkeit des Volkes“89, an der zeitübergreifenden Kontinuität des Volkssouveräns90. Tod – das ist etwas wie eine „durchlaufende Größe der Demokratie“, wird sie doch in diesem ihrem „Lauf“ immer wieder aufgefüllt durch neues Leben. Und hier gilt das Grundprinzip der Volksherrschaft: „Es zählt die Zahl“, der Zählwert ist hier der Erfolgswert91. Entscheidend ist nicht die „Qualität“, der unauswechselbare Wert, der im Einzelnen liegt, im Sinne des Art. 1 GG (Menschenwürde), ja nicht einmal die absolute, feste Quantität von Lebensträgern als solche. Wie in der Integralrechnung schafft die Demokratie den Sprung des Achilles in dessen Wettlauf mit der Schildkröte: Quantitative Annäherung der Gesamtzahl der Wähler an irgendeine „Zahlengröße Volk“ (an welche übrigens?) genügt bereits. Auf sie wird dann das mathematisch 88

Zu diesem Begriff Leisner, W., Das Volk. Realer oder fiktiver Souverän? 2005, S. 42 ff. Diese Unsterblichkeit des Volkes mag dabei rechtlich begründet werden aus den „natürlichen Elementen einer Volkseinheit“, vgl. Leisner, Das Volk, FN 88, S. 55, von der ethnischen Zusammengehörigkeit bis zum gemeinsamen Wirtschaftsraum. 90 Zum organisationsrechtlichen Verständnis der „Kontinuität des Volkes“ vgl. Leisner, A., Kontinuität, FN 71, S. 393 f. 91 Zur Wahlrechtsproblematik vom Zähl- und Erfolgswert s. Jarass/Pieroth, 12. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 6 m. Nachw. 89

VI. Demokratie und Tod

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klare Prinzip der Mehrheit angewendet. Dass der Tod diese, intern, ständig verschiebt, damit qualitativ grenzenlos, quantitativ jedenfalls in festzustellender Form Größenordnungen prägt, darin also als Gestalter, ja als Herrscher wirkt auf die Majorität – das alles bleibt ein „Internum der Volksherrschaft“, staatsrechtlich ist es geradezu unbeachtlich. b) Das Einzel-Sterben der Menschen ist damit, so scheint es doch, schon grundsätzlich überhaupt kein staatsrechtliches Thema. In ihm stirbt der Volkssouverän nicht, und nicht die Legitimation der Volkssouveränität; als „höchste Gewalt“ kann sie ja gar nicht sterben, als ein Gedanke, wird dieser auch von nur noch wenigen Menschen gedacht, akzeptiert, vielleicht geträumt. Hier steht die Demokratie – erstaunlich – voll in der Kontinuität zu einem Monarchismus. Ihre Devise lautet nicht mehr: „Der König ist tot. Es lebe der König!“, sondern der Mensch stirbt. „Es lebt – es lebe – das Volk!“. „Deutschland soll leben, auch wenn wir sterben müssen“. Unter dieser Fahne sind viele Millionen Menschen gestorben. Das Staatsrecht der Demokratie setzt sich ein weit größeres, dauerndes Denkmal als es je ein militärischer Sieger vermocht hätte: den Menschen in seinem normativ weiterlebendem Willen. Es ist dies das demokratische Staatsrecht als ein „lebendes Denkmal des Menschen“. Muss also nicht die Grundentscheidung des Grundgesetzes zur Demokratie geradezu „ausgeblendet“ werden in einer Betrachtung wie der vorliegenden? Darf sie, wie eine ständig in neuen Geburten auferstehende Ordnung der „Kirche des Auferstandenen“, nicht auch fragen, wo nun der Stachel des Todes sei? Ist sie nicht größer als er, diese Volkssouveränität, welche ihn „durch sich hindurchlaufen lässt“, selbst ohne dass sie Drei Tage im Grab liegen müsste? Warum sollte eine solche Staatsordnung auf dieses Sterben schauen, es auch nur zur Kenntnis nehmen (müssen)?

2. „Sterben des Volkes“ – des Volkssouveräns in Migrationen, (Völker-)Wanderungen? Der Volkssouverän der Demokratie ist einst geboren worden, nach seinem eigenen Verständnis, in etwas wie einer gottähnlichen historischen Niederkunft, aus einem Denken in Nationalstaatlichkeit. „Nation“ und „Volk“ waren daher in der lange das Staatsrecht beherrschenden französischen Staatstradition92 nicht Gegensätze, das demokratische Volk nicht nur ein demokratischer Peuple, lediglich eine staats-positiv-organrechtliche Verengung des umfassenden Begriffs einer „Nation“93. Sie schritt in mächtiger rechtlich-politisch-kultureller Geistigkeit einher durch die Hallen der Historia Magistra, unsterblich wie Ideen(-Gebäude) des Platonismus. 92

S. dazu Leisner, W., Volk und Nation als Rechtsbegriffe der Französischen Revolution. Zur „tradition révolutionnaire“, FS f. Hans Liermann, 1964, S. 96 ff. 93 „Nation“ i. S. v. Carré de Malberg, Contribution à la Théorie générale de l’Etat, vgl. FN 92.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Doch in der Gegenwart gilt nun: „Die Erde hat sie wieder“, diese von Menschen aus ihren Höhlen geschauten Geistes-Gebilde. Sie laufen auf Erden nicht „immer dem Wasser nach“ in Meinungs-Strömen, nicht hinunter, sondern hinauf, die Abhänge der Lebensqualitäten, zum höheren materiellen Glück, in Migration94. „Das Wandern, das Wandern …“. Es erscheint wieder einmal, das Sterben der Völker, der Kulturen, ihre Neugeburt in Amerikanismen, Afrikanismen, Asiatismen. Beherrschbar soll es dennoch bleiben, in einem Verfassungsrecht, das all dies in sich aufnimmt, alle Fremdenfeindlichkeit auszuscheiden vermag in seiner Volkssouveränität, alles Reale, selbst den Tod von Völkern in deren nationaler Identität. Überlebt nicht jedenfalls immer noch etwas wie ein nationales Gen in einem Menschsein in Migration? Hier öffnen sich weitere, bis in Unendlichkeiten95 reichende Dimensionen, in einem gegenwärtig noch immer wahrhaft „erdverbundenen“, „heimatgeprägten“ Staatsrecht. Seine Wirtschaft verlangt nach neuen Arbeitskräften, politische Parteien, Gewerkschaften nach neuen (wählenden) Mitgliedern, sterbende Kirchen nach neuen Gläubigen. Sie alle kämpfen gegen „ihre Tode“, in etwas, das sie in der Historie immer wieder „hat (aufer)stehenlassen“: In Völkerwanderung will der Volkssouverän über seinen Tod hinweggehen, durch ein „Willkommens-Recht“ auferstehen, so wie es ihm schon einmal in der Reichsidee gelungen ist, in der „Translatio Imperii ad Germanos“ – warum nicht in einer Weitergabe der Demokratie an alle, die (aber auch nur) eines tragen: Menschenantlitz? Menschen, bis zur Dekadenz über(ge-)bildete Römer mochten sich einst fragen, ob die Invasoren „unsere Vorfahren, die Germanen“, „nos Ancêtres, les Gaulois“, Menschen seien im Sinn griechischer Statuenhaftigkeit. Solche Fragen96 wurden rasch abgeschnitten, mit siegreichen Schwertern. Deren bedarf es heute nicht mehr, etwa in atomarer Auslöschung. Denn: „Und an das Ende denkt Alberich“ (Richard Wagner), der GeldGoldzählende, in wirtschaftlichem Denken, über den alten Nationalstaat hinweg. Das demokratische Staatsrecht kann selbst den Tod seines Volkes überwinden in der laufenden Auferstehung seines Volkssouveräns in Migration. Bleiben ihm nicht immer die großen Zahlen seiner Menschen, bedarf dieser Staat anderer Legitimationen? Verneinung wie Bejahung solcher Fragen sind hier wohl bereits konsensgetragen. „Er hat Gott gelästert, was wollt ihr mehr?“, so fragten einst Juden; kein Pilatus konnte dem eine Wahrheitsfrage entgegenhalten. Das Sterben fand statt – aber auch die Auferstehung. Das Volk der Demokratie, der Gott auf Erden, spielt diese Tragödie nach, aber nicht nur in ihrem ersten tragischen, sondern nur in ihrem triumphalen Schlussakt der ständigen demokratischen Auferstehung in Wanderung. Die Demokratie hat den Tod überwunden in ihrem Staatsrecht, in Migrationsoffenheit – in einer wahren Un-Endlichkeit.

94 95 96

S. dazu Leisner, Das Volk, FN 88, S. 97 ff. Und in diesem Grundsatz-Zusammenhang zu behandelnde Fragen. Im Grunde schon positiv beantwortet in der „Germania“ des Tacitus.

VI. Demokratie und Tod

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3. Demokratisches (Weiter-)Leben nach dem normativen Willen (längst) Verstorbener Die Normidee ist es, die „Gesetze“, in denen die Volksherrschaft weiterlebt, über den Tod hinaus, indem sie ihr eigenes Sterben überwindet in unablässiger realer Renaissance der Staatsform, im wahren Sinn: „der Menschen“.97 Hier überwinden platonische Ideen den Tod. Vom griechischen statuenhaften Wesen des Menschen hat er sich gelöst, Anthropozentrik wirkt allumfassend im Staatsrecht, weit über das Recht der Umwelt hinaus, will deren globale, universale Unendlichkeiten fassen, verändern. Das Staatsrecht hat, als wahrhaft „Römisches Erbe“, in dessen fassbarstem Vermächtnis hier seit langem gewirkt: in Erbrecht. Alle leben in allem nach dem normativen Willen längst Verstorbener. Die ständige demokratisch grundlegende Auswechselbarkeit, Ersetzbarkeit, Aufhebbarkeit aller Normen ist nur eine (weitere) Dimension einer Vermenschlichung des demokratischen Staatsrechts: Der normative rechtliche Wille kann zwar nach demokratischem Staatrecht zu jedem Zeitpunkt in Selbstaufhebung sterben, diese hinterlässt jedoch eine Selbstverunendlichung, mündet in diese. Die Toten mahnen im Staatsrecht nicht Lebende, sie befehlen ihnen, und dies unaufhebbar (Art. 79 Abs. 3 GG), bis in (die) Ewigkeit(en). Und hier wächst kollektives Staatsrecht aus Individualität, „Staat wie Menschen“98. Todesüberwindung in Testamenten des Erbrechts wächst in die Verfassung hinauf: Staatsrecht als „Testament de tous les jours“ der „Mütter und Väter des Grundgeseztes“. Keiner von ihnen lebt mehr, nicht ihre einstige Mehrheit. Doch in deren Ideen überlebt ihr Wille auf Ewig im Staatsrecht. Mehr noch: Staatsrechtliche Tradition ist nun der Sieg dieser Ordnung über den Tod99 – noch immer „als Recht“, etwa in der „Tradition francaise républicaine et révolutionaire“ (René Capitant). In ihr steht die Demokratie auf, aber nur einmal wie einst der Sohn Gottes. Alle anderen Mächte sind in die Hölle des Vergessens verbannt. Geschichtliche Erziehung darf, muss beginnen mit den Anfängen der Demokratie, es ließe sich hinzufügen: Sie darf sich erschöpfen in der Verurteilung ihrer Gegner in Zeitgeschichte, in ihrer ganz besonderen Form des „Triumphes“100 in Vergangenheitsbewältigung; er wird ganz der ihre sein und bleiben. „Wert und Wesen der Demokratie“ sind nicht Gegenstände vorsichtiger Apologie wie einst bei Hans Kelsen. Der Demokratie darf zugerufen werden wie einst Rom „Du bist eine Welt!“ (Goethe). Volksherrschaft: Das Dritte Rom – in

97 Vgl. dazu grdl. Leisner, W., Staatsrenaissance. Die Wiedergeburt der „guten Staatsformen, 1987, 2. Aufl. in: ders., Das demokratische Reich, 2004, S. 287 ff. 98 „Staat wie Mensch“ – vgl. dazu Leisner, Personalismus, FN 13, S. 60 ff. 99 In der „Verfassung als traditionsbezogener demokratischer Ordnungsform“, im Verfassungrecht als Verfestigung, als „Traditionalisierung dieser Ordnung“, vgl. Leisner, Tradition, FN. 16, S. 25 ff. 100 Leisner, W., Der Triumph. Erfolgsdenken als Staatsgrundlage, 1985, insb. zur Erweiterung des Triumphbegriffs vom Sieg zu den „demokratischen Erfolgen“, S. 75 ff.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Ewigkeit über allen Tod hinweg, auch den all ihrer Menschen, nein: darüber hinaus, hinauf in Staatsmacht.

4. Tod: Kein „Staatsunfall“; ausgeblendet, überholt, überhöht in Demokratie Die Volksherrschaft als Grundentscheidung der Verfassung hat „in diesem unserem Land“, eben „in Amerika, Deutschland und anderswo“101, nach der prophetisch-missionarischen Überzeugung ihrer Anhänger, das Sterben grundsätzlich aus dem staatsrechtlichen Denken eliminiert. Dies mag man ihren „geistigen Sieg über den Tod“ nennen, den ihrer vielen kleinen Souveräne, der Menschen und ihren eigenen: seine Ausblendung in der Kollektivierung der Mehrheit. Tod als Staatsereignis wie in Monarchien, als etwas wie ein Staatsunfall, der die Staatsmechanik stillestehen lässt, unter schwarzen Fahnen – all das gibt es nicht mehr. Staatsbegräbnis102 wird in der Demokratie deren Selbst-Feier als Trägerin eines Vermächtnisses. Sie aber war ja auch nie Gedanke oder Setzung eines „Mannes, der Geschichte macht“, sondern stets des „Volkes“, der in Wahl Gezählten, in ihrem Willen, Unzählbaren, Unzähligen. In ihr allein lebt alle Macht fort, begeistert vielleicht noch an Siegen, letztlich aber nur an sich selbst, als ihr Erbe. Was bedeutet da der Tod eines Führers103, eines Menschen? Für diese Demokratie gilt nicht, zu keinem Augenblick „Trauer muss Elektra tragen“, immer ist sie jung und lebendig, staatsrechtliche Gen-Trägerin Verstorbener. Der Tod ist für sie überhaupt kein staatsrechtlicher Vorgang, ist sie doch wesentlich ewig, weil „Ausdruck von wahrem Gewollten“. Wahr ist sie auch, politisch Gott ähnlich, in ihrer tiefen „Bescheidenheit nur auf Erden“. Gerade auf dieser Erde erreicht sie aber ihr Vorbild, die göttliche Allmacht, im Schutz von Jenseitsvorstellungen, wenn auch nur eingespannt, verbannt in ihr Staatskirchenrecht. Davon sei jetzt noch die Rede, schon jenseits aller übrigen demokratischen Grundentscheidungen. Denn sie, die Volksherrschaft – das darf sie dem Tod staatsrechtlich auf sein Grab schreiben – kennt in ihrer Rechts-Staatlichkeit, in deren Namen, den Tod nicht. Sie hat ihn überwunden in einer jederzeitigen Abänderbarkeit, wahrhaft in Ernest Renans täglichem Plebiszit. Als ewiges Vermächtnis, als das einzige wohl ewig Dauernde an einem „Willen des Menschen“ hat die Demokratie den Rechtsstaat ins Staatsrecht übernommen. In diesem ist er unsterblich geworden: Rechtskräftig, „von Rechts wegen“. 101

aus. 102

Von einer Globalität dieser Ordnung geht ja das Deutsche Staatsrecht juristisch selbst

Das „Staatsbegräbnis“ hat in der Demokratie, soweit ersichtlich, als solches keine vertiefende Behandlung erfahren. 103 Vgl. Leisner, W., Der Führer. Persönliche Gewalt. Staatsrettung oder Staatsdämmerung? 1982; 2. Aufl. in: ders. Demokratie, 1998, S. 789 ff.

VII. Religionsfreiheit, Staatskirchenrecht und Tod

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VII. Religionsfreiheit, Staatskirchenrecht und Tod 1. Verfassungsschutz für Jenseitsglauben und Jenseitsleugnung a) Das Grundgesetz schützt als eine demokratische Verfassung, in deren Grundrechten wie in dem Handeln ihrer Staatsorgane, alle persönlichen Vorstellungen ihrer Bürger über den Tod104. In einer geradezu grenzenlosen Sicherungsvielfalt wirkt sich dies aus, zugleich, in beispielhafter Intensität, in dem gleichmäßigen Schutz von Überzeugungen über ein postmortales Leben, einer Leugnung desselben, oder von Zweifeln und Indifferenz zu diesem menschlichen Grundproblem105. Gerade darin schützt das Verfassungsrecht eine Freiheit des Denkens, das für die Demokratie ebenso lebenswichtig ist wie der Tod lebensbedrohend erscheint für ihre Gewaltunterworfenen. Auch hier zeigt sich eine prinzipielle, freiheitsrechtlich höchstrangig erzwungene demokratische Indifferenz gegenüber dem Phänom Tod; sie wird geradezu als freiheitsrechtliche Wertigkeit dieser Staatsform staatsrechtlich dargestellt und von jeher besonders hoch geschätzt. Jenseitsglaube, Skepsis ihm gegenüber oder seine Ablehnung sind aber von fundamentaler Bedeutung für Erfüllung der „Aufgabe einer Ordnung des Lebens durch den Staat“, in ihren Auswirkungen auf das menschliche Verhalten, tagtäglich wie im Ganzen: b) Der jenseitsgläubige Demokrat wird notwendig sein praemortales Verhalten ausrichten, mehr oder weniger intensiv und/oder weitreichend, mit Blick auf etwas, das ihn in seiner Überzeugung nach dem Tode erwartet. Besonders deutlich ist dies im Falle des kirchlich gebundenen Gläubigen. Für ihn ist sein ganzes Leben eben doch nur etwas wie eine „Durchlaufphase“ in eine „Ewige Heimat“, die er sich „hier unten“ in seinem gesamten Verhalten, ja auch, nach verbreitetem, jedenfalls katholischem, Glauben, sogar verdienen muss. In diesem Lauf, in all seinen Anstrengungen oder deren Nachlassen, ist der Tod nur eine Etappengrenze; der Lauf geht weiter, nicht mehr unter der Schiedsrichterschaft von Menschen, sondern unter der einer höheren Instanz, wie immer diese im Einzelnen vorgestellt werden mag. Nach den Regeln dieses Schiedsgerichts läuft schon auf Erden alles ab. Religiösen Geboten und Ordnungen kommt aber insoweit ein Vorrang zu, gegenüber allem staatlichen Ordnen, erfolge dies selbst im Namen der allgemeinen demokratischen Souveränität auf Erden. „Hier stehe ich…“ (Martin Luther). Im Staatskirchenrecht lässt die Demokratie also der jenseitsrelevanten kirchlichen Gewalt in ihrer Bestimmung menschlichen Verhaltens sogar den staatsrechtlichen Vortritt. Die rechtlichen Auswirkungen dieses Jenseitsglaubens („Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen“), vor dem schauerlichen Bibelszenario eines 104 S. vorsteh. III. bis V. zu den grundrechtlichen Grundentscheidungen, VI. zur demokratischen Staatsorganisation aus überdauerndem Mehrheitswillen als solchem. 105 BVerfGE 93, 1 (16); 122, 89 (119).

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Letzten Gerichts, sind tiefgreifend. Jedermann kennt sie, sie bedürfen keiner Darstellung. Jeder Gläubige darf „sie leben nach seiner Façon“. Der Staat regelt diese Glaubensfreiheit nur in letzten Grenzziehungen, weithin unbemerkt, lediglich aus seinem jeweiligen ordre public heraus106. Wirksame verfassungsrechtliche Schranken gibt es allenfalls darin, dass religiös bestimmtes Verhalten anderer dadurch nicht (wesentlich) gestört werden darf, und nicht die Existenzgrundlagen geltender Staatlichkeit. In einer (noch immer weithin) von religiösen Überzeugungen mit Jenseitsrelevanz geprägten staatlichen Gemeinschaft ist die Bedeutung solcher staatlicher Religionsschranken insgesamt gering, zum Problem wird sie allenfalls in Sonderfällen, vor allem im Sektenbereich.

2. Religiöse Jenseitsüberzeugungen: Staats-Fundament oder Staats-Gefahr? a) Ob Jenseitsüberzeugungen, damit eine gewisse Relativierung des Todes, die staatliche Diesseitsordnung halten, stützen, legitimieren – oder ob umgekehrt Jenseitsleugnung eine Gefährdung für sie darstellen – diese Frage lässt sich nicht aus einer rechtlichen Betrachtung des Todes heraus entscheiden, mag sie auch eine zentrale Folge dieses Vorgangs betreffen. „Todesverachtung“ konnte Soldaten zu Helden werden lassen. „Sterben als Übergang in eine andere Welt“, mit Verantwortungsfolgen für ein Verhalten in dieser, mag hier ein Handeln begünstigen, motivieren, erzwingen, das eben aus todesbereitem Verantwortungsgefühl erwächst. Kontinuitäten, ja Familie und Staat, werden wohl durch ein Erbverhalten von Menschen verstärkt werden, welche hier eine „Dauer über den Tod hinaus“ letztlich als eine Abschwächung der Todesmacht wollen. Ein Leben, das sich in einem Jenseits fortsetzt, hat eben den Tod schon im Diesseits überwunden, mit dem auferstandenen Erlöser oder ohne sein Vorbild. Jenseitsglaube bedeutet „Macht gegen den Tod“, dessen Ordnung im Diesseits hat eine Unendlichkeitdimension107, in sie wächst der Mensch hinein wie sein Staat. b) Doch dieses todesüberwindende Jenseits ist stärker als jede Ordnung auf Erden. Seine Gesetze gehen, in Religion, in Kirchlichkeit, den staatlichen vor. Damit wird der Jenseitsglaube zu „ein’ feste Burg“ für die Civitas Dei, für jede Form von Staatskirche – und zugleich zu einer grundsätzlichen Schwächung aller Macht auf Erden, auch der eines Staates, welcher das Sterben ordnen will. „Mit Hoher Hand“ will jede Staatsgewalt hier wirken – doch eine andere Hand kommt hier dann aus dem Jenseits. Im Letzten wird der Staat des Diesseits in all seinen Befehlen, auch und vor allem in seiner Todesordnung eben doch – zum Gottesstaat.

106 Vgl. dazu m. Nachw. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 4 Rn. 84 ff. 107 „Unendlichkeit als staatsrechtliche Dimension“ ist als solche ein Grundsatzthema.

VII. Religionsfreiheit, Staatskirchenrecht und Tod

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Für die säkulare Demokratie mag dies als eine schwere Gefahr empfunden werden. Sie steuert in Religion nicht mehr ein Staatsschiff auf irdischen Meeren, der Kapitän kommt dann von noch viel weiter her als jeder Fliegende Holländer, „auf seinem Schiffe brennt kein Licht“ – des Diesseits, von staatlicher Energie gespeist. Im Ewigen Kampf von Religion und Staatsmacht wird der Tod zu einem staatsrechtlichen Angelpunkt. Von ihm aus eröffnen sich Tore zu mehr Staatsmacht, wie auch zu ihrem Verdämmern in Jenseitsordnungen. Diese großen Alternativen, Antithesen vielleicht, kann das Staatsrecht aufzeigen, nicht überwinden. Mehr als die physischen Kräfte eines Ordnens kann es im Diesseits nicht einsetzen. In dieser hintergründigen Wirkungsdimension aber müssen staatsgeschützte Religion und Staatskirchenrecht in allem Folgenden stets auch gesehen werden.

3. Wirkungen einer Todesordnung in staatskirchenrechtlicher Dimension a) Jenseitsdenken stützt oder schwächt also, es verändert jedenfalls die Staatlichkeit. Alle Verfassungsgegenstände sind einer Todesordnung aus Jenseitsglauben heraus zugänglich, wenn nicht bedürftig: Der Todesvorgang als solcher wird dabei von diesseitigen Gestaltungen umgeben, die wirken können in allerletzten, besonders gewichtigen Kontakten, Mahnungen, Verfügungen. Todesursachen stehen unter außerstaatlichen Normen, Sterben für die Gemeinschaft, Selbstmord, Schwangerschaftsabbruch. Todesvermeidung findet Bedeutung und Grenzen in der Annahme gottgewollten Leidens als Schicksal. Todesfolgen werden geregelt sub specie aeternitatis, Religionis; in der vorrevolutionären Welt hat all dies die Kirchen zu den reichsten, damit stärksten Potentaten der Gemeinschaft werden lassen, im Namen des Staatsrechts. b) Tod und Staat(s)-Religion: Das ist also ein zentrales Thema des Staatsrechts, historisch und noch heute. Auf bisherige Ansätze einer staatsrechtlichen Todesordnung hat dies in eigenartiger Weise gewirkt: Die Zurückhaltung des Staates in solchen Gestaltungen hat es begünstigt, ja hervorgerufen. Alle weltliche Macht trat und tritt vom Sterbebett zurück, wenn der Priester naht – der „Geistliche“, Vertreter einer höheren Todesordnung. Er dirigiert den letzten (öffentlichen Staats-)Akt des Begräbnisses. Seine Gestalt erscheint in Vielem und für Viele noch immer hinter allem staatlichen Todes-Handeln: Sei es waffenklirrend oder sozialhelfend. Dunkel ist er gekleidet, dieser Künder und Diener des Todes. Dunkel bleiben er und sein Glaube im Staatsrecht. Betrachtungen wie die folgenden können dies alles nicht erhellen. Sie wollen nur zeigen, dass sie es – sehen, wahr-nehmen, dieses Dunkel des Todes im Staatsrecht. Das Letzte Wort gehört hier nicht mehr dem Staat und seinen Richtern, nicht der Jurisprudenz, sondern der Theologie und ihren Gläubigen. Doch das Recht ist in Todesordnung ihre Magd, in der diesseitigen Autonomie der – noch – Lebenden.

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B. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zum Tod

Nun folgen, in voller Rückkehr zum positiven Recht und seinen souveränen Einzelentscheidungen, Behandlungen der bereits angesprochenen Themenbereiche Todesvorgang, Todesursachen, Todesvermeidung, Todesfolgen, in ihren wichtigsten staatsrechtlichen Ausprägungen, ihren beispielhaften Erscheinungen. Ergebnisse des vorstehenden Hauptteils B. sollen dabei begleiten, immer wieder fruchtbar werden, jedenfalls in ihren Dimensionen, oft bis in Detailregelungen hinein. Der folgende Hauptteil C. ist ein Versuch des Aufzeigens von Problemen, nicht von Lösungen. Hier kann demokratisches Staatsrecht zeigen, dass es zu diskutieren vermag, mit dem demokratischen Mut, in solchen Gesprächen stehen zu bleiben – und sie doch „weitergehen zu lassen“ bis zu einem Ende: dem Tod, auch dem der gesprächigen Wanderer …

VIII. Ergebnis: Die Grundentscheidungen des Grundgesetzes: Entwicklungsräume einer verfassungsrechtlichen Todesordnung Die vorstehenden Untersuchungen schienen nicht allzu viel rechtlich Fassbares zu bieten zum Thema dieser Betrachtungen, jedenfalls keinen festen Verfassungsrahmen für eine „Rechtliche Ordnung bezogen auf das Sterben“. Bestätigt hat sich insoweit jenes „Wegschauen vom Ende“ auch für den sonst so entscheidungsfreudigen Grundsatzgesetzgeber der geltenden Verfassung. Dennoch ist einiges klar(er) geworden:

1. Menschenwürde Was eingangs als eine Suche nach Leitlinien für eine Todesordnung angekündigt wurde, hat immerhin einiges erbracht, was diese Bezeichnung verdient: Dies gilt zwar nur in Ansätzen für eine „Menschenwürde“: Hier finden sich Vorstellungen vergangener Staatsordnungen, denen auch politisches Pathos der Demokratie keine fassbaren Inhalte verleiht. Letztlich enden etwa (noch) fassbare Wirkungen eben doch in – Gleichheit und Freiheit. Die normative Volksherrschaft hat mit ihrer Rechtsstaatlichkeit rationale Klarheit gebracht. Dass es ihr auch noch gelingen könnte, über den Begriff Würde etwas von der Majestät der Vergangenheit zurückzubringen, zurückzuholen, „Vergoldung der Macht“ für ihre Kuppelbauten – das war nicht zu erwarten und sollte auch nicht erhofft werden: Verdämmerndes liegt der Macht des Volkes fern. „Opium für das Volk“ darf auch demokratisches Staatsrecht nicht bieten wollen.

VIII. Ergebnis

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2. Freiheit und Gleichheit Verfassungsrechtliche Leitlinien für eine Todesordnung kommen deutlich aus den Grundentscheidungen der Demokratie zu menschlicher Gleichheit und Freiheit; sie zeigen sich hier in vielfachen Verbindungen, vor allem aber auch in den grundsätzlichen Spannungen, in welchen sie das Staatsrecht von seinen modernen Anfängen an gesehen hat. In seiner Egalität führt dieses hier die faktische Todesordnung fort, in der Gleichheit sterbender Menschen, in all ihren Vor-, Vorgangs- und Nachwirkungen zum Ende des Lebens. Zugleich zeigt das Recht aber diesem Fundamental-Faktum auch seine Wirkungsgrenzen auf – auf das (Nach-)Leben. Dieses (Recht auf) Leben emanzipiert sich hier gewissermaßen von Todeszwängen. Im Namen der Libertät des Menschen, seiner „Willensmacht gegen den Tod“, vollendet sich dies dann. In Selbstbeendigung wird sogar der Tod zum Diener seiner Freiheit. Nicht ein müder Schicksalsunterworfener ist dieser demokratische Bürger. Irgendwie macht ihn dieser Tod, über den er mit seinem Willen hinweggeht, sogar größer.

3. Demokratie Der demokratische Staat als solcher blickt dem Tod ins Auge, mit seinen Augen, seinen vielen Armen – Menschen. Er sieht ihn kommen und gehen, er selbst aber kommt immer wieder zurück. Er fühlt sich, setzt sich selbst unsterblich; etwas von dieser Mächtigkeit strahlt sogar ab auf seine Bürger. Für sie, in ihnen ist er „ganz da“, „ganz Gegenwart“, in dieser allmächtig; darin schaut er nicht weg vom Tod, eher über ihn hinweg. In und für die staatsgeschützte Religion schließlich ist dieser demokratische Staat ganz Civitas Dei, Gottesstaat im Herzen gläubiger Bürger, ihr „mächtiger Bau“ am Rand ihres Weges in die Ewigkeit. Gleichheit und Freiheit, Staat im Diesseits und im Jenseits – das wird nun, jeweils in ganz unterschiedlichen Ordnungsmächtigkeiten, die folgenden Einzelblicke richten und begleiten, welche sich öffnen auf – die Landschaft des endenden Lebens.

C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht Vorbemerkung Ziel dieser Betrachtungen zum „Tod im Staatsrecht“ ist nicht, wie bereits eingangs betont, ein handbuchartiger Überblick über alle rechtlichen Probleme, die im Zusammenhang mit dieser faktischen Erscheinung auftreten (können). Wenn vorstehend immer wieder von einer „Todesordnung“ die Rede war, die nach oder ausgehend von Verfassungsrecht entwickelt und, soweit möglich, präzisiert werden sollte, so bedeutet dies auch nicht einen betrachtungsgegenständlichen Anspruch auf Lösungsanregungen für alle oder auch nur die wichtigsten bisher im Zusammenhang mit menschlichem Sterben aufgetretenen Fragen, sub specie Constitutionis. In verschiedenen Bereichen der Rechtsordnung sind schon bisher, oft seit Jahrhunderten, derartige Gegenstände behandelt worden. Teilweise erfolgte dies sehr eingehend, neuerdings auch unter Rückgriff auf Verfassungsrecht, wie etwa im Strafrecht, insbesondere bei den Tötungsdelikten, oder im Zivilrecht der Vermögensnachfolge, vom Gesellschaftsrecht bis zum Erbrecht. Bei all diesen rechtlichen Regelungen, Überlegungen, Vorschlägen war seit über einem Jahrhundert laufender Rückgriff auf höherrechtliche, staatsrechtliche Wertungen eine Selbstverständlichkeit. Eine Aufarbeitung von deren Ergebnissen im Einzelnen, in der Perspektive einer „verfassungsrechtlichen Todesordnung“, würde allerdings jeden monographischen Rahmen sprengen. Derartiges kann also im Folgenden auch nicht ansatzweise versucht werden. Allein schon im Strafrecht müsste hier ein kaum übersehbares Material verarbeitet werden. Dieses bezieht sich allerdings weithin, schwerpunktmäßig sogar, auf ganz andere Problemfelder, nicht zentral auf Beurteilung oder auch nur Behandlung „des Todes als solchen“. Vor allem rechtspolitisch-kriminologische Fragen (Abschreckungswirkung, Verhütung von Straftaten) liegen hier im Gemenge mit der grundsätzlichen Gegenständlichkeit eines menschlichen Sterbens; denn sie haben durchaus auch als solche einen gewissen Grundsatzcharakter. All dies muss hier aber ausgeklammert werden; denn es handelt sich letztlich um Gegenstände spezieller Rechtstechnik und ihrer Wirkungen, vor allem zur Todesvermeidung. Hier dagegen kann eine solche nur in spezifischem Todesbezug, in dieser engen verfassungsrechtlichen Grundsätzlichkeit, angesprochen werden. Nicht anders steht es um einen weiteren großen Ordnungsgegenstand herkömmlichen Gesetzesrecht: Um die zivilrechtlichen, vor allem die erbrechtlichen

I. Todeseintritt

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Todesfolgen. Hier spielen allgemein-gesellschaftsrechtliche, insbesondere wirtschaftsrechtliche Probleme weithin die entscheidende Rolle, nach entsprechenden ökonomischen Leitlinien der Verfassung ist zu beurteilen, nicht (nur) sub specie mortis als solchem. Hier sollen vielmehr im Folgenden nur Beispiele für einige der wichtigsten Problemkreise des traditionellen Verfassungsrechts und lediglich gewisse Lösungslinien zur Diskussion gestellt werden. Auf Ergebnisse in rechtlicher Thesenform muss dabei weitestgehend verzichtet werden; allein der künftige Diskussionsraum der Verfassung sollte deutlich werden. Der Verfasser muss immer wieder sein eigenes, sehr persönliches, Verständnis nicht offen legen, sondern durchscheinen lassen. Als eines aber darf nichts im Folgenden verstanden werden: als etwas wie ein Glaubensbekenntnis in rechtlicher Form. Allenfalls Anregungen zu einer vorsichtigen Rechtspolitik können hier geboten werden, Anrufe zu einer Nachdenklichkeit, wie sie eben dieses Thema verlangt, wie kein anderes.

I. Todeseintritt 1. Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Klärung a) Jede Art rechtlicher Todesordnung muss jedenfalls einen Komplex in rechtsstaatlich präziser Weise regeln: Wie tritt der Tod ein, zu welchem Zeitpunkt entfaltet er rechtliche Wirkungen, wie und von wem wird dies rechtswirksam festgestellt? Hier aber stößt eine Untersuchung sogleich auf einen erstaunlichen Befund: Diese Fragen haben eine höchstrichterliche, verfassungsrechtlich eindeutige Klärung noch nicht erfahren; ihre Behandlung im maßgeblichen verfassungsrechtlichen Schrifttum wird im Wesentlichen zurückgreifen müssen auf Diskussionen der 90iger Jahre108, auf den Zeitpunkt der Erörterung des Organentnahmerechts bei Transplantation. Feststellungen zum Lebensbeginn109 (§ 1 BGB) lassen sich nicht auf das Lebensende übertragen. Mit diesem wird das physische Gebilde „Mensch“ vom höchstrangigen Träger von Verfassungswertigkeiten, als (Grundrechts-)Berechtigter (Art. 1 GG), zur „Sache Leichnam“. Diese mag zwar ebenfalls einen gewissen Würdeschutz genießen110 – wobei unklar bleibt, wann dieser ausläuft, etwa in Fällen sehr viel „späterer“ archäologischer Funde beendet ist. Dieser Schutz und ihr Gegenstand sind aber jedenfalls in ihrer Wertigkeit unvergleichbar mit denen eines lebendigen Rechtsträgers, der noch nach, ja vor allem, bei, in dessen Ende zu (be)achten ist. 108

Vgl. die Nachw. bei Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 203; Lang, H., in: Epping, V./Hillgruber, Chr., Grundgesetz 2009, Art. 2 Rn. 60 f.; Murswiek, D., in: Sachs, M., Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 142 f. 109 BVerfGE 139, 1; 88, 203 ff. (zur Abtreibung). 110 Vgl. dazu bereits oben B. III. 4. ff.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

b) Es ist schlechthin auf Dauer nicht hinzunehmen, dass eine Rechtsstaatlichkeit111, die, kraft einer höchstrangigen Grundentscheidung des Grundgesetzes, die gesamte Rechtsordnung beherrscht, ja durchwirkt, zwar auf der Rechtssubjektivität von deren Trägern aufbaut, diese aber nicht in der von ihr begrifflich geforderten Eindeutigkeit bestimmt. Hier wirkt wohl nichts anderes (nach) als das traditionelle „rechtliche Wegschauen vom Tod“112. Den Verfassunggebern fehlt(e) offenbar der Entscheidungsmut, dies einfach global durch Verweisung auf irgendwelche niederrangige Rechtsvorschriften zu regeln. So bleiben also Fragen, auf deren Beantwortungsergebnisse „am Ende“ die gesamte Verfassungsordnung aufruht, im wahren Wortsinn, grundgesetzlich ungeregelt. Für das „Recht auf Leben“ (Art. 2 Abs. 1 GG) gilt dies in erster Linie, für einen Kernbegriff der Verfassung in einer seiner tragenden Voraussetzungen. All das bleibt einer „Praxis“ weitestgehend überantwortet, irgendwelchen niederrangigen Rechtsregelungen, wenn nicht tatsächlicher Übung. Dieser Zustand ist als solcher, staatsrechtlich-grundsätzlich wie rechtspolitisch, mit der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar, er ist menschlich letztlich unerträglich. Zumindest eine „Verfassungsverweisung auf Gesetz“, von dort aus weiter auf herrschende, vor allem medizinische Vorstellungen, ist verfassungsrechtlich unabdingbar. Vorsichtige Formulierungen sollten sich doch wohl finden – und wenn erforderlich gegebenenfalls auch ändern – lassen.

2. Vorgang – Eintrittszeitpunkt – Feststellung des Todes a) Eine Verweisung auf „Ergebnisse“ der (sog.) „exakten“, außerrechtlichen Wissenschaften ist allerdings schon grundsätzlich nicht unproblematisch, inhaltlich wie in ihren dann rechtlich eben doch erforderlichen Formen. Um nur die bisher verfolgten Lösungslinien zu erwähnen, Hirntod, Kreislaufende u. ä. m.: Medizinische Forschung und Praxis stehen hier, mit all ihren Ausgriffen in Chemie, Physik, Biologie zwar wohl nicht „ganz am Anfang“, wohl aber sicher in Entwicklungen einer dauernden, raschen Wandlung. Ob ihre Ergebnisse rechtsstaatlich erforderliche Eindeutigkeiten bringen können, lässt sich mit Fug bezweifeln; jedenfalls ist es, angesichts solcher wissenschaftlicher Komplexitäten, (mehr als) fraglich. Problematisch wird wohl bleiben, ob die exakten Wissenschaften, hinreichende Genauigkeit ihrer Ergebnisse unterstellt, nicht eben doch nur stets gewisse tatsächliche Symptome überzeugend werden feststellen können. Vor allem „Rückholbarkeiten ins Leben“, aus todesähnlichen, -nahen, -gleichen Zuständen sind, bei allen Versuchen wesentlicher Regelungen, mit solchen Unsicherheiten belastet. 111 Zur Rechtsstaatlichkeit allgemein Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 227 ff., 287 ff. m. Nachw. 112 Zum „Wegschauen vom Tod“ vgl. bereits das Vorwort. Gerade hier, in dieser „nächsten Nähe zum Sterben“ hat wohl auch immer etwas gewirkt wie ein „sakraler Schauder“ vor diesem für so Viele wahrhaft „fürchterlichen“ Ereignis.

I. Todeseintritt

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b) Hier tritt daher die Problematik einer (verfassungs)rechtlichen Verweisung auf Außerrechtlich-Tatsächliches in ihrer vollen Schwere auf. Das Recht muss auch hier letztlich entscheiden, damit werten. Über Verweisungen auf den „Stand der Technik“113, die „anerkannten Regeln der Baukunst“114 und in zahlreichen anderen Bereichen des Technikrechts im weiten Sinne geschieht dies allerdings, rechtlich fixierend, tagtäglich. Das Sozial- und Medizinrecht verlässt sich ständig auf gesundheitsrechtsrelevante Feststellungen von Ärzten und allen im sanitären Bereich Tätigen, mit entscheidenden Auswirkungen auf staatliche Haushalte, staatliche Organisationen und Grundrechtsschutz. Warum sollte dann aber nicht auch hier eine derartige Verweisung auf ärztliche Kompetenz zur Feststellung des Todes stattfinden dürfen? Gerade jener Art. 2 Abs. 1 GG scheint dies doch nahezulegen: In einem Satz nennt er „Recht auf Leben, Gesundheit, körperliche Integrität“. Letztere beide Zustände verweisen doch eindeutig auf den jeweiligen Erkenntnis- und Praxisstand der exakten Wissenschaften, vor allem der Medizin. Kann, soll, darf überhaupt für den „Zustand Leben“ anderes gelten? Wenn der „Stand der Technik“ von jedem Handwerker verantwortlich festgestellt werden kann – muss, so wird man doch wohl dem akademisch ausgebildeten Mediziner die Feststellung des Todes anvertrauen können. Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied: Das Verschwinden eines Rechtssubjekts, mit dem gesamten „Großgepäck“ seiner Menschenwürde, ist als solches, schon nach Art. 1 GG, von einem anderen Gewicht als etwa eine drohende Kurzschlussgefahr; und hinter dem Tod stehen ganz andere zivil-, ja strafrechtliche mögliche Folgen. Dieser Hinweis allein schon zeigt die unvergleichbare Bedeutung eines „Sterbens nach dem Stand der Medizin“ gegenüber etwa einer „Bauabdichtung nach Stand der Technik“. Der „Stand des Staatsrechts“ muss hier berücksichtigt werden: In seiner traditionellen Zurückhaltung gegenüber dem Tod, vor allem im Schrifttum, bietet es aber, mit seinen Wertungen etwa der Medizin, weder Lösungen noch auch nur etwas wie Leitfäden. Muss aber denn doch hier nicht „etwas sich ändern“, verfassungsrechtlich, nicht (nur) medizinethisch, medizinrechtlich? Die Frage ist nicht nur erlaubt, sie ist drängend.

113

Zum „Stand der Technik“ vgl. etwa Feldhaus, G., Beste verfügbare Techniken und Stand der Technik, NVwZ 2001, S. 1 ff.; Eggert, Chr., Stand der Technik und kaufrechtlicher Mangelbegriff, DS 2009, S. 247; Popescu, P., Mangel durch Verwendung über dem Mindeststand der Technik liegender Baustoffe?, NZBau 2009, 692 ff.; Seibel, M., Abgrenzung der „allgemein anerkannten Regeln der Technik“ vom „Stand der Technik“, NJW 2013, S. 3000 ff. 114 Zu den „Anerkannten Regeln der Baukunst“ vgl. etwa Seibel, M., Die allgemeine Anerkennung von technischen Regeln und ihre Feststellbarkeit, ZfBR 2008, 635 ff.; Ziegler, Th., Überlegungen zu Funktion und Feststellung der Anerkannten Regeln der Technik im öffentlichen und privaten Baurecht, ZfBR 2009, 316 ff.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

3. Bedeutung der Regelungen des Todeseintritts Im vorliegenden Zusammenhang können keine rechtstechnischen Lösungsvorschläge geboten werden, wie die Voraussetzungen eines Todeszustandes rechtlich überzeugend zu regeln sind. Normstufen von Regelungen, Feststellungsformen, Kompetenzen – all dies ist in einem, vielleicht laufenden, Dialog zwischen Recht und Medizin zu klären. Nicht entwicklungsoffen, wohl aber entwicklungsbewusst muss der „Todeszustand als ein Verfassungszustand“ behandelt werden. Nicht nur einzelne Probleme und Aspekte sollten dabei geregelt werden, ein rahmenmäßiges Gesamtkonzept ist auf Dauer zu entwickeln. Bewusst muss dabei bleiben, dass es hier oft um Feststellungen geht, die der Jedermann als (zufälliger) Helfer des Arztes, insbesondere vor dessen Hinzutreten, zu treffen hat. Der Bedeutungsrahmen reicht vom Mordverdacht bis zu wirtschaftlichen Interessen, bei einem Übergang von hohen Werten im Erbgang. In diesem Sinn ist der Tod auch des einfachsten Bürgers, schon in seiner Vergleichs- und Beispielbedeutung für andere gleiche Vorgänge, stets und wahrlich „eine Staatsaffäre“. Als Voraussetzung steht diese Todesfeststellung hinter all jenen schwerstwiegenden Problemen, welche im Folgenden anzusprechen, vielleicht auch nur anzudeuten sind. Sollte das Sterben als solches, in seiner Begrifflichkeit, nicht doch einen, seinen Weg ins Grundgesetz finden? Ein römischer Soldat öffnete einst, so heißt es, mit seiner Lanze einem Gott am Kreuz die Seite: War dies nicht ein „Staatsaugenblick“ für weit Späteres, für Untergang, Translatio, vielleicht „Ewigkeit“ seines Imperium Romanum, jedenfalls in einem „Imperialen Denken des Rechts“?115

II. Todesursachen: Gegenstände einer Todesordnung Eine wahrhaft zentrale Aufgabe des Verfassungsrechts ist die Festlegung von Regelungen, oder doch von Leitlinien, zur rechtlichen Behandlung der wichtigsten, häufigsten Todesursachen. Sie sollte in die hier geforderte Todesordnung auf verfassungsrechtlicher Grundlage münden. Dabei sind kausale Konstellationen zu unterscheiden, die sich aus staatlich-öffentlichen Einwirkungen auf den Menschen, in einem weiteren Sinn, ergeben (i. Folg. 1. bis 6.), von solchen, die von ihm selbst, jedenfalls von seinem Verantwortungsbereich ausgehen (i. Folg. 7. bis 9.).

115 Wie es der Verfasser in: Das demokratische Reich. Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht, 2004, in zusammengefassten Monographien darzustellen versucht hat.

II. Todesursachen: Gegenstände einer Todesordnung

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1. „Abwägung Leben – Leben“: quantitativ, qualitativ? a) Fremdverursachter Tod hat immer dasselbe Ergebnis, von wem er auch ausgehen mag, was immer sein Grund, damit meist auch sein Rechtfertigungsversuch sein mag. Diese Ergebnisgleichheit kann allerdings in keiner Weise allgemein daraus erklärt oder damit auch nur ansatzweise legitimiert werden, dass das Lebensende ohnehin allen in gleicher Weise drohe. Vielmehr verlangt das „Zufügen des Todes“, schon aus dessen außerordentlich schwerem Wirken heraus, zwingend, bereits nach dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nach einer ebenso außerordentlichen, überzeugenden Rechtfertigung, nach allgemeiner Dogmatik, eben als Grundrechtseingriff. b) Ein schwerwiegender dogmatischer Verfassungsfehler der grundgesetzlichen Ordnung – so muss man es doch wohl nennen – liegt darin, dass das „Grundrecht auf Leben“ in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG im Verfassungstext, sodann „unversehens“ durch die Verfassungsrechtsprechung unter einfachen Gesetzesvorbehalt (!) gestellt worden ist. Selbst wenn hier nur ein Gesetz im förmlichen Sinn genügen kann, so ist es schlechthin doch unerträglich, dass der Volkssouverän nicht nur das Recht in Anspruch nimmt116, nach seiner Willensentscheidung jedes Mitglied seiner Gemeinschaft „auslöschen“ zu dürfen. Unter Beachtung rechtstaatlicher Form soll er solche Befugnisse sogar weiter delegieren dürfen, bis auf die Satzungsebene117. Bei „Tötung“ ist also lediglich die Verhältnismäßigkeit zu beachten, wobei dem „Leben“, anderen Rechtswerten gegenüber, nicht immer der Vorrang zukommen soll118. Nach dem Bundesverfassungsgericht verbietet dies zwar den Abschuss eines entführten Verkehrsflugzeugs119. Dennoch wird sogar hierzu die Gegenmeinung vertreten120. Dies läuft auf die Frage hinaus, ob Fremdtötung durch qualitative oder quantitative Abwägung überhaupt gerechtfertigt werden kann.

2. Der finale Todes-(Rettungs-)Schuss a) Qualitative wie quantitative Überlegungen sind hier gleichermaßen überaus problematisch. Der finalrettende Todesschuss121 löscht mit Staatsgewalt ein Leben aus, um ein anderes zu retten. Damit wird die Exekutive – in der Regel ein Polizeibeamter – nicht nur zum Richter über Leben und Tod gesetzt. Das Staatsorgan hat 116

BVerfGE 22, 180 (219) st. Rspr. Jarass/Pieroth, GG Art. 2 Rn. 95; a. A. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 198. 118 BVerfGE 88, 203 (253). 119 BVerfGE 115, 118 (153). 120 Murswiek, D., in: Sachs, M., GG 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 182 m. Nachw. 121 Vgl. BayBAG Art. 66 Abs. 3, S. 2; Jakobs, M., Terrorismus und polizeilicher Todesschuss, DVBl. 2006, S. 83 ff.; Arzt, C., Europäische Menschenrechtskonvention und polizeilicher Todesschuss, DÖV 2007, S. 230 ff. 117

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

hier, in überaus schwierigen tatsächlichen Beurteilungssituationen, meist ohnehin nur einen Augenblick näherer Überlegung, um zu entscheiden, welches der beiden, ob wenige oder viele Leben höherwertig sind. Dies bedeutet dann unter Umständen ein (Todes-)Urteil darüber, welches Leben das (vermeintlich) „schuldige“, welches das (angeblich) unschuldige ist – eine mehr als problematische dogmatische Konstruktion. Der Drohende ist doch nicht immer derjenige, welcher am Ende, nach vielleicht monatelanger dauernder richterlicher Untersuchung und Reflexion, der Schuldige sein würde. Gegenüber dem eingreifenden Polizisten gilt auch für ihn zunächst die verfassungsrechtliche Unschuldsvermutung. Sicher ist im Augenblick des Todesschusses nur, dass hier eine „Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ vorliegt. Soll deshalb ein Mensch sterben müssen, dürfen? Genügt hier wirklich ein (Landes-)Polizeiaufgabengesetz zur Rechtfertigung des verfassungsrechtlichen ordre public als Tötungslegitimation, ist eine rechtliche Entscheidung solcher Tragweite richtig, nur weil keine Zeit bleibt abzuwägen, ob sie es ist? Tötung nach erstem Anschein? Hier ist Verfassungsrecht gefordert, dringend. b) In den meisten Fällen läuft eine solche Entscheidung sogar auf eine quantitative Abwägung hinaus, auf ein „Zählen und Abwägen voraussichtlicher Leichen“ – um die ganze Problematik in einem Zynismus offen zu legen. Beim Flugzeugabschuss vor drohendem Terroristenanschlag wird eine (im Wesentlichen bekannte) Zahl von Opfern einer „möglichen (weit) größeren Zahl Geretteter“ geopfert. Gerechnet wird mit (fast nur) unbekannten Größen und Werten. Von einer Abwägung122 kann hier wohl kaum noch die Rede sein. Staatstötung über den Daumen gepeilt? Menschen quantitativ gewogen? Die Mehrheitsdemokratie mag derartiges sogar nahelegen. Bedarf dies alles aber nicht einer Verfassungsordnung? Oder muss die Staatsgewalt nicht etwa gar „dem Schicksal seinen Lauf lassen“, in Achtung vor dem Leben?

3. Abwägung Mensch – Staat: Der Todesbefehl a) Im Falle des „Finalen Rettungsschusses“ gibt eine Staatsinstanz ihren öffentlichen Organen oder deren privaten Helfern „vor Ort“ das Recht zu töten, sie spricht über Störer ein verwaltungsrechtliches Todesurteil, vollzieht dieses sogleich. Ähnliches, wenn nicht (fast schon) Gleiches geschieht im Fall des militärischen Einsatzbefehls, der mit (hoher) Wahrscheinlichkeit im Tode des vom Staat zu seinem und der Gemeinschaft Schutz Eingesetzten enden kann. Dies wurde in früheren – hier ehrlicherem – Zeiten „Himmelfahrtskommando“ genannt. Grundsätzlich kommt es dazu auch in Friedenszeiten, in der dann gewissermaßen als „normal vorgestellten“ Konstellation eines disziplinarisch bindenden Befehls an Polizei, Feuerwehr und vergleichbare Staatsorgane, zu einem Verhalten mit höchster Todesgefahr. Ehrende Begräbnisse, posthume Ordensverleihungen ändern daran nichts: Hier ist dann eine hohe Wahrscheinlichkeit Realität geworden. Eben dies haben die staatlichen An122

Im Sinne der Untersuchungen von Leisner, Der Abwägungsstaat, FN 25.

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ordnungsinstanzen aber „billigend in Kauf genommen“. Damit haben sie einen Todesbefehl gegeben, nach allen Kriterien des Tötungsvorsatzes nach Strafrecht123; und sie waren ihrerseits dazu sogar verpflichtet, kraft Verfassung. b) Soweit Derartiges zur Rettung anderer Leben geschieht, beurteilt sich die Lage ähnlich wie nach vorstehend 1. Im Falle dieses „Sicherheitsbefehls“ mag man von einer impliziten Einwilligung des Staatsdieners ausgehen: Er hat damit einer Fremdtötung zugestimmt, für den Eventualfall. Vielleicht könnte man hier sogar etwas sehen wie einen antizipierten Selbstmord, einen besonders ehrenvollen Freitod. Gleiches lässt sich annehmen für den militärischen Befehl an Angehörige einer Freiwilligenarmee. Nicht gilt dies allerdings für Anordnungen an eine Zivilbevölkerung im Kriegsfall, zu einem etwa lebensbedrohlichen Verhalten, mit dem sie militärischen Einsatz unterstützen soll. In diesem Fall und dem des „Himmelfahrtskommandos an Wehrpflichtige“ liegt nichts anderes vor als ein bedingtes Todesurteil durch militärische Befehlshaber. Sie stehen und befehlen unter keiner der ausgebauten Sicherungen, welche die Gerichtsverfassung bei Richtern für deren weit weniger grundrechtseinschränkende Urteile vorsieht. Dies alles ist, soweit ersichtlich, bisher weder vertiefend dogmatisch durchdacht noch auch nur ansatzweise „gezielt“ gerechtfertigt worden – obwohl doch gerade hier das Opfer nicht selten solchen „Anordnungen zum Sterben“ hilflos unterworfen wird, in der Wirklichkeit also dem Tod ausgeliefert. c) Die eigentliche, grundsätzlich wohl die einzig mögliche Rechtfertigung lässt sich – vielleicht – aus etwas ableiten, das aber so allgemein nicht im Staatsrecht der Demokratie herausgestellt wird: „Deutschland soll leben, auch wenn wir sterben müssen“, wie es früher hieß. Ist es nicht gut, „dass einer für das Volk sterbe“, und sei es auch als dessen Sündenbock nach alttestamentarischem Vorbild? Hoheitsrechtlich, hoheitsvoller heißt dies staatsrechtlich: Insoweit (gegenüber dem Betroffenen total) steht die staatliche Gemeinschaft, ihr Überleben höher als ein Einzelleben, das ihr hier geopfert werden darf, dargebracht werden muss. Dahinter steht nur eine Global/Generalabwägung: Die Gemeinschaft, ihr Fortbestehen gerade in der Rechtsform eben des zur Zeit organisierten Staates, ist von höherem Wert als das Leben des Einzelnen; sie darf also dessen Opfer fordern. Historisch, nach aller politischen Erfahrung, ist diese Entscheidung, diese „Abwägung“ mit schwerster Problematik belastet. Selbst wenn dem militärischen Befehlshaber zugebilligt werden kann, er, der „nicht das Ganze übersieht“, habe bei seinem Befehl von einer unbedingten staatsrettenden Erforderlichkeit ausgehen dürfen – was wäre geschehen, wenn solche Anordnungen nicht erteilt worden wären? Die Historia Magistra124 zeigt es an zahllosen Beispielen: Es wäre, militärisch oder rettungsmäßig, im schlimmsten Fall kapituliert worden – und welche lebensgleichen Werte hätte dies in der Folge vernichtet oder auch nur elementar bedroht? Und wäre 123

Zu Entwicklungen einer „Schuld als billigende Inkaufnahme“ im Strafrecht vgl. FN 121. Vgl. Leisner, A., Historia Magistra des Staatsrechts, Jenaer Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 34, 2004. 124

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

damit eine bestimmte Staatlichkeit zerbrochen – Österreich-Ungarn als Beispielfall 1918 – hätte dies wirklich schwerere staatsrechtliche Wertverluste zur Folge gehabt als die vieler tausender geopferter Menschenleben? Muss hier nicht an 1944/1945 gedacht werden, in einem Staat der Vergangenheitsbewältigung? Was soll hier an nachvollziehbaren juristischen Erwägungsoperationen ablaufen? Derartiges geschieht doch nur, es gründen sich solche Entscheidungen doch allein auf einer These, auf einem staatsrechtlichen Grundsatz: Der Staat ist in seiner (derzeitigen Form der) Erhaltung rechtlich höherwertig als jeder seiner Verteidiger, jeder seiner Bürger. Daher kommt ihm auch das Recht, über deren Existenz zu befinden. Nur so könne er ja, so heißt es, alle (möglichen) Bürgerrechte (weiter) schützen, in dem er eben selbst weiterexistiert. Dies soll in einer Ordnung gelten, welche auf ihre – einzelnen! – Bürger aufgebaut ist in Demokratie, unter einer Staatsform, deren vornehmste Aufgabe es ist, deren Grundrechte zu schützen, bis hin zu Wohnungs- und Koalitionsfreiheit. Dafür darf sie Menschenleben opfern. Soll das ein staatsgrundsätzliches Räsonnement sein, in einer Volksherrschaft, deren absoluter Höchstwert „der Mensch“ ist? Und ist er nicht willig, so braucht sie Gewalt. Immerhin darf sie ihn ja als Fahnenflüchtigen töten, will er schon auf den (höheren) Feldern der Ehre nicht sterben, nicht sein Leben ihren hohen demokratischen Grundsätzen opfern – so gilt es jedenfalls in vielen, in „exemplarischen“ Demokratien. Hier endet alle Abwägung, alle staatsrechtliche Wertphilosophie in etwas wie einer letzten Staats-Theologie. Der „Vater Staat“ hat das Leben ja nicht gegeben, aber es eben doch bisher geschützt. Nun darf er es fordern125. Soll das eine überzeugende Todesordnung sein, abzuleiten allein aus einer Wehroder Dienstpflichtbestimmung, fast schon nur unter dem Vorbehalt einer Gewissensentscheidung als „Ausnahme“ (Art. 4 Abs. 3 GG)? Die Verfassung verleiht zwar das Recht, den Kriegsdienst „mit der Waffe zu verweigern“ (Art. 4 Abs. 2 GG). Sie sichert aber nicht dagegen, im Verteidigungsfall „zum Tode abkommandiert zu werden“, „zu Hilfe“ – wie übrigens jeder Bürger im Kriegsgebiet… Ist hier nicht hoher Verfassungsbedarf nach einer „Regelung der Befehlsverweigerung“ für den Fall akuter, naher „Todesgefahr von Staatswegen“? Ist hier das „Recht auf Leben“ verfassungsrechtlich überhaupt zu Ende gedacht – oder auch nur in Anfängen bewusst? Militärstrafrecht, Strafrecht im Verteidigungsfall ist ein Mittelpunkt jeder staatsrechtlichen Todesordnung. Bedarf es nach dem Grundgesetz nicht einer Überarbeitung, bei der der Verfassunggeber dies nicht als wichtige Aufgabe – wenigstens zur Kenntnis nehmen muss? Ist Neuordnung im Verhältnis Staat – Mensch nicht gerade hier eine drängende Aufgabe, in einer (Neu-)Bewertung ihrer Wertigkeit in der Demokratie, der „besten Staatsform, die dieses unser Land je hatte“? 125 Vgl. zur Wiedereinführung der Todesstrafe Murswiek, D., in: Sachs, M., GG 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 165.

II. Todesursachen: Gegenstände einer Todesordnung

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4. Todesstrafe a) Ein Problem der Todesbeurteilung Die Todesstrafe ist, nach wie vor, ein Grundsatz- und Zentralproblem jeder verfassungsrechtlichen Betrachtung, die sich mit dem Lebensende beschäftigt. Ihre verfassungsrechtliche Verortung ist durch Art. 102 GG gesichert. Es handelt sich hier um ein fremdbestimmtes Sterben, unmittelbar zurückzuführen auf Staatsbefehl. Grund genug, um bei der Suche nach einer verfassungsrechtlichen Todesordnung dieser Rechtsgestaltung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Todesstrafe wird, nach wie vor, in vielen Ländern ausgesprochen und vollstreckt, darunter in Weltmächten mit Vetorecht in den Vereinten Nationen. Müßig ist es daher, gegenwärtig nach internationalen Verboten oder auch nur Ansätzen für solche zu suchen; ebenso würde es den Rahmen dieser Betrachtungen jedenfalls sprengen, besonderen „Humanitätsstandards“ nachzugehen, welche hier vor Gerichten oder für den Strafvollzug in einer bereits fassbaren Entwicklung stehen könnten. Vielmehr geht es um die Todesbeurteilung/bewertung als solche, deren Ergebnis doch Voraussetzung jeder (zu unterstellenden) verfassungsrechtlichen Möglichkeit einer Verhängung oder eines Vollzugs der Strafe sein muss. b) Missbrauch der Todesstrafe In Deutschland wird, seit einiger Zeit, über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert126 ; von einer gewissen politischen Aktualität der Frage ist daher auszugehen. Hier ist es unmöglich, alle Zulässigkeit- oder gar Rechtmäßigkeitsprobleme dieser Erörterung in die Betrachtungen einzubeziehen. Lediglich Grundlinien zur Beurteilung einer Ordnung des Lebensendes gilt es aufzuzeigen. Auszugehen ist von der für Deutschland „einmalig typischen“ Ausgangslage, welche zu einem verfassungsrechtlichen Verbot dieser Strafe in Art. 102 GG geführt hat: Ihr Missbrauch durch das nationalsozialistische Regime127. Dieser verfassungspolitische Anlass, so selbstverständlich er 1949 gewesen sein mag, kann eine gegenwärtige Beurteilung allein nicht tragen; er steht daher heute auch der Wiedereinführung dieses lebensbeendenden Staatsbefehls in Deutschland nicht im Wege, sieht man von – begreiflichen – politischen Emotionen ab. Missbrauchsmöglichkeit, ja -trächtigkeit einer rechtlichen Regelung kann als solche die rechtliche Unzulässigkeit derselben nicht ohne weiteres begründen, es sei denn, es sei derartiges auf keinem rechtlichen Weg in einer noch hinnehmbaren Weise auszuschließen oder in erträglicher Weise zu minimieren. Im Fall der To126 127

Murswiek, FN 125. BVerfGE 39, 1 (26 f.); 45, 187 (285).

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

desstrafe muss dies also jedenfalls zu einer Beurteilung des Todes nach seiner Schwere als Strafe führen, in Gegenüberstellung zu Werten, welche die Todesstrafe rechtfertigen könnten – eben in einer verfassungsrechtlichen „Todesordnung“. Eine ganze Reihe von Beurteilungskriterien des Todes in diesem Zusammenhang werden in Politik, Kriminalistik, Kriminologie und allen Strafrechtswissenschaften seit Langem diskutiert128. Bedeutsam ist dabei, dass es gerade die Demokratie war, eben in ihren humanistisch-antikrechtlich geprägten Anfängen in neuester Zeit, die mit besonderer Strenge, ja in öffentlicher Grausamkeit, hier ihre Todesbeurteilung rechtlich zum Ausdruck bringen wollte, in der blutigen öffentlichen Hinrichtung durch das Fallbeil. Und im Bannerträgerstaat der Volkssouveränität, den Vereinigten Staaten, werden insgesamt mehr Todesstrafen vollstreckt als in manchen autoritären, diktatorialen Regimen. c) Rechtsfertigungsversuche der Todesstrafe Aufgabe der vorliegenden Betrachtungen kann nicht eine vertiefende kritische Darstellung der rechtlichen Rechtfertigung(sversuche) der Todesstrafe sein, insbesondere nicht von deren kriminalpolitisch abschreckenden Wirkungen. Einige kritische Gedanken allgemeiner Art drängen sich aber auf, aus der Sicht gegenwärtiger Verfassungsdogmatik: - Das Talionsprinzip („Wie Du mir…“) ist nicht nur strafrechtlich angreifbar; es kann vor einer verfassungsrechtlichen Wertlehre schlechthin nicht bestehen. Keine Wertvernichtung oder auch nur -leugnung legitimiert als solche rechtlich eine andere, gleichwertige. So weit würde auch bei Tötung das Buß/Vergeltungsprinzip hier nicht tragen, da dessen Subjekt, der Täter vernichtet würde. - Eine quantitative Rechtfertigung der Todesstrafe für den „Massenmörder“ ist erst recht unhaltbar, aus dieser selben demokratischen Wertlehre der Menschenwürde heraus. Zwei Tötungshandlungen können verfassungsrechtlich nicht schwerer wiegen als eine. - Für einen tödlichen Angriff auf die Allgemeinheit gilt Gleiches, ganz abgesehen schon von der Quasi-Unmöglichkeit einer auch nur annähernden quantitativen Beurteilung, wie dann eines „Umschlags in Qualität“ der Tat dadurch, dass hier nun „der Staat getötet werden soll“. Dies verbietet sich schon deshalb, weil es wiederum zu einer generellen Höherbewertung staatlicher Macht gegenüber dem Einzelleben führen müsste (vgl. oben 3.). - Bestrafung „besonders verwerflicher Gesinnung“ mit dem Tod läuft letztlich auf die Taliationsbegründung (vorsteh.) hinaus – ganz abgesehen davon, dass hier die schier unüberwindbare Schwierigkeit einer rechtsstaatlich genauen „Gewissenserforschung des Täters durch die Staatsgewalt“ auftreten würde. 128

Vgl. bereits Calliess, Chr., Die Todesstrafe in der BRD, NJW 1988, S. 849.

II. Todesursachen: Gegenstände einer Todesordnung

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- Die Abschreckungstheorien – wenn sie sich gerade hier überhaupt grundsätzlich vertreten lassen – finden eine Grenze ihrer Überzeugungskraft u. U. bereits in der Person eines Täters, der hier einem schwer überwindlichen inneren Zwang nachgibt. Ein allgemeiner Abschreckungseffekt aber ist nicht nur kaum messbar in rechtsstaatlicher Präzision. Gerade das Auslöschen eines Rechtssubjekts wird sich so kaum überzeugend rechtfertigen lassen. Fazit: Wo immer Legitimationsversuche für die Todesstrafe beginnen – sie enden rasch entweder in quantitativer Leben-Zählung oder in höchst problematischen Überordnungsideen der Staatsgewalt über „den Menschen“. d) Irreparabilität der Todesstrafe Argumentationen von verfassungsrechtlichem Gewicht gegen die Todesstrafe werden damit untermauert, wenn nicht daraus abgeleitet, dass sich eine solche Sanktion nicht rückgängig machen lasse (vgl. vorsteh. c). Dies mag von Gewicht sein, wird damit doch die Eignung dieser obrigkeitlichen Maßnahme in Frage gestellt, die sich dann schon nach rechtsstaatlichen Kriterien nicht mehr leicht würde rechtfertigen lassen. Im Mittelpunkt der Feststellung steht dabei aber das Legalitätsprinzip: Abschreckung, dadurch Lebensschutz, lasse sich auf solche Weise gar nicht wirkungsvoll erreichen. Auf einer dem nahen Ebene bewegen sich Überlegungen, welche auf die Unmöglichkeit hinweisen, hier einen (Justiz-)Irrtum jemals noch korrigieren zu können. Dass dafür posthume Rehabilitierungen, Ehrungen, Leistungen an Hinterbliebenen nicht ausreichen können, liegt auf der Hand. Andererseits lässt sich ein Justizirrtum bei einer u. U. viele Jahre lang vollzogenen Freiheitsstrafe ebenso wenig „wieder gut machen“; und dies mag im Einzelfall (fast) genauso schwer wiegen. „Leben“ ist, verfassungsrechtlich betrachtet, ein Ablauf von rechtlichen Höchstwertigkeiten, in Schicksals-, vor allem in Freiheitschancen. Hier für die Irreparabilität einer Todesstrafe, gegenüber anderen Eingriffen, eine generell andere (Höchst-)Wertigkeit anzunehmen, ist schlechthin, und aus einer wie immer gearteten verfassungsrechtlichen Menschenbildlichkeit heraus, unvollziehbar. e) „Leben – nicht vom Staat gegeben“ Ähnlich unbehilflich sind alle, wie immer begründeten Versuche, die Ablehnung der Todesstrafe damit zu begründen, hier werde Lebenszeit entzogen. Dazu aber sei „keine Gewalt dieser Erde“ berechtigt, da ja auch keine von ihnen „das Leben gegeben habe“: Dann dürfte auch niemandem Eigentum entzogen werden, das er sich etwa selbst gewonnen hätte, wie dies aber die Regel ist. Allein der staatliche Schutz solcher Aktivitäten könnte derartiges dann ebenso wenig legitimieren wie die unbestreitbare Tatsache, dass die Staatsgewalt das Leben schützt, dieses aber eben nicht deshalb auch zur staatlichen Dispositionsmasse einer Todesstrafe machen darf.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

Die Argumentation, der Staat habe das Leben nicht gegeben, er dürfe es also auch nicht nehmen, mag aus gewissen, historisch übrigens kontingenten, theologischen Gedankengängen heraus vorgebracht werden („Ecclesia non sitit sanguinem“). Die großen Weltreligionen, vor allem auch die grundgesetzlich speziell geschützten Religionsgemeinschaften, haben eine solche Auffassung jedoch nie in einer derartigen Absolutheit vertreten, dass schon im Hinblick auf das Staatskirchenrecht der Staat des Grundgesetzes sich dies rechtlich zwingend als Grundentscheidung zu einer „Todesordnung“ zu eigen machen müsste. Alle vorstehenden Betrachtungen sprechen also dafür, die Diskussion über eine Wiedereinführung der Todesstrafe nicht mit den hier bisher im Vordergrund stehenden Überlegungen fortzusetzen, weder pro noch contra. f) Vernichtung auch der letzten menschlichen Freiheit durch die Todesstrafe Diese Betrachtungen sollten den weithin brüchigen Argumentationsketten gegen eine Renaissance der Todesstrafe keine weitere hinzufügen. Wenn überhaupt könnte eine solche aus einer der vorstehend behandelten Grundentscheidungen des Grundgesetzes gewonnen werden. Dabei müsste dann wohl die Freiheit des Menschen129 im Vordergrund stehen, in die auch die Menschenwürde mündet. Denn die Todesstrafe entzieht dem Menschen ja gerade diese „höchstwertige Chance Leben“, in und aus seiner innersten Freiheit heraus ein menschliches Leben zu führen, ein „natürliches Rechtssubjekt“ zu sein, als ein solches zu handeln. Und es könnte wohl argumentiert werden, auch das höchste Recht habe dazu eben keine Legitimation in einer Ordnung der Freiheit. Dann allerdings müssten Vertreter deutscher Demokratie vorsichtiger sein, wenn sie sich auf „Grundwerte westlicher Demokratien“ berufen…130

5. Staatserlaubte, staatsgeschaffene Todesgefahr: der „Atomtod“ a) Der Staat kann den Tod bringen – davon war in den vorstehenden Kapiteln die Rede. Die Diskussion darüber muss versuchen, hier Grundlagen einer verfassungsrechtlichen Todesordnung zu klären, zu schaffen. Dazu konnten hier nur Anregungen gegeben werden. Es wurde klar, dass die Akten über den staatsbefohlenen Tod noch lange nicht geschlossen sind. Ein Kapitel ist auch hier, wie in drängender Aktualität, noch immer offen, mit existenzieller Relevanz für eine verfassungsrechtliche Todesordnung: Schaffung, 129 130

10, 24.

Vgl. vorsteh. B. V., i. V. m. B. III. Hier würde dann gelten: „Naturam expelles furca, tamen usque recurret“, Horaz, Ep., I.,

II. Todesursachen: Gegenstände einer Todesordnung

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Erlaubnis von Anlagen als (mögliche, wahrscheinliche) Todesursachen, seitens der Staatsgewalt131. Dies reicht weit hinein in tagtägliche Praxis, man denke nur an Justizvollzugsanstalten mit Gefangenenisolierung und Zwangsernährung132. An die Stelle der „Todesursache“ tritt damit die (letztlich dann tödliche) Gefährdungslage, vor allem dann auch durch den Bau oder die Genehmigung von Atomanlagen. b) Dies kann nicht einfach als „staatliche Todesursache“ qualifiziert werden, ist doch dieser Erfolg keineswegs sicher – andererseits aber, für den Fall seines Eintritts, besonders schwerwiegend, gerade aus der Sicht des Sterbens. Die Quantität (Vielzahl) möglicher Betroffener darf hierbei, wie schon in den vorstehenden Fallkonstellationen, als solche nicht bereits schlechthin entscheidend sein für die Begründung eines Verbots derartiger Veranstaltungen/Erlaubnisse. Dies allerdings ist die gängige Argumentationslinie; sie darf nicht (allein) weiter verfolgt werden. Vielmehr hat eine Beurteilung zu erfolgen nach den Grundsätzen des Öffentlichen Sicherheitsrechts der Gefahrenabwehr und Haftungsrechts: Eintrittswahrscheinlichkeit und mögliche Schadenshöhe stehen hier, wie auch allgemein, in einem Kompensationsverhältnis, andernfalls dürfte der Staat weder Straßen bauen noch Eisenbahnen betreiben. Viel spricht also dafür, diese Konstellation aus der Problematik der Todesverursachung herauszunehmen, sie vielmehr der davon zu unterscheidenden Risikobeurteilung nach Öffentlichem Recht zuzuordnen. Dies kann dann auch ihr Ausscheiden aus Überlegungen zu einer „Todesordnung“ zur Folge haben. Dafür mag noch sprechen, dass hier der Fall eines GAU eine derart geringe Wahrscheinlichkeit aufweist, dass ihm eben über verfassungsrechtliche „Regelungen“ letztlich nicht beizukommen ist. Folgen aber muss diese Lage eindeutig, auch für eine Todesordnung, darin haben, dass eine Vermeidung noch so geringer Eintrittswahrscheinlich hier zum Verbot führen muss. Dies ist denn auch die Argumentationslinie, welche, wenn auch aus Risikoeinschätzung, nicht aus einer vertieften Todesbetrachtung heraus, zur deutschen Anti-Atom-Entscheidung geführt hat. Sie ist als solche verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, insbesondere dann nicht, wenn ihr nur ökonomische, und seien es auch sehr gewichtige, Argumente entgegenstehen.

6. „Sterbenlassen“ a) Beurteilungsgesichtspunkte Befindet sich ein Mensch, medizinisch gesehen, in einem „hoffnungslosen Zustand“, so erhebt sich die Frage, ob man ihn sterben lassen soll, oder ob noch weitere möglicherweise lebenserhaltende Anstrengungen unternommen werden sollen oder gar müssen. Hier stehen sich als abzuwägende Elemente vor allem gegenüber: Die 131 132

Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starc k, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 217. Starck, FN 131, a.a.O. Rn. 216

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

Restchance einer Überwindung der Todesgefahr, ein etwa zu erwartendes Leiden des Patienten, den man nicht sterben lässt, sowie noch aufzuwendende Kosten. Bei diesen letzteren ist wieder zu unterscheiden, zwischen Belastungen, welche ein Nicht-Sterbenlassen öffentlichen Kassen auferlegt, und solchen, die eventuelle private Rechtsnachfolger des Patienten zu tragen haben, insbesondere voraussichtliche Erbberechtigte. Die Abwägungsentscheidung wird in fast jedem Fall zu den schwierigsten gehören, welche ein Mensch hinsichtlich eines anderen überhaupt zu treffen hat. Letztlich verbindliche Leitlinien müssen dennoch, im Rahmen einer „Todesordnung“, zur Anwendung kommen; hier geht es ja um die allerhöchste Wertigkeit menschlichen Lebens, seiner Verlängerung. Wer auch immer in solchen Fällen jemanden „sterben lässt“, fällt über ihn doch letztlich ein Todesurteil – und vollzieht es sogleich selbst. Vor allem aber: ein solches Recht muss es, wenn überhaupt, grundsätzlich geben, nie aus dem Einzelfall heraus; eine „besondere Lage“ taugt nicht als Grundlage eines „Schiedsgerichtsurteils über das Leben“. b) Entscheidungsberechtigte Zu verfahren ist wohl verfassungsrechtlich nach folgenden Kriterien: - Wenn sachverständige Personen, insbesondere Ärzte, gegenwärtig sind, so haben diese medizinisch haltbare Feststellungen zu dem Gewicht der Überlebenschance wie etwa im Falle des Weiterlebens sich anschließender höchstwahrscheinlicher Leiden zu treffen. Dieser „Verfahrensabschnitt“ hat unbedingten Vorrang vor allen Entscheidungen in einem solchen Fall. Er selbst beinhaltet aber nicht eine Entscheidung über ein „Sterbenlassen“; mit ihm werden nur Voraussetzungen für ein richtiges Urteil über Leben oder Sterben geschaffen. - Soweit der Patient (noch) hinreichend entscheidungsfähig ist, was wiederum in medizinischer Kompetenz festzustellen ist, kommt ihm, der über seine Lage aufzuklären ist, die einzige und ausschließliche Entscheidungszuständigkeit zu. In dieser darf er in keiner Weise weder von medizinischen Fachleuten, noch von Verwandten oder sonst „Nahestehenden“ beeinflusst werden. Finanzielle Überlegungen dürfen dabei nicht die geringste Rolle spielen, geht es doch um eine weit über solchen Interessen stehende Wertigkeit – des Lebens. - Entscheidet sich der Patient dafür, dass man ihn sterben lasse, so muss dieses Verhalten rechtlich dem Beurteilungsbereich des Selbstmordes (vgl. i. Folg. 7.) zugeordnet werden; denn diese Entscheidung erfolgt unter Voraussetzungen und mit Rechtsfolgen, welche sich letztlich von denen der Suizidproblematik nicht unterscheiden. - Ist dagegen der Betroffene nach medizinischer Einschätzung nicht mehr selbst entscheidungsfähig, hat er jedoch, gerade für diesen Fall, eine entsprechende Verfügung getroffen, so hat nun die Subsumtion seines gegenwärtigen Falles unter diese seine Verfügung zu erfolgen. Sie muss nicht etwa im Wege einer „Ge-

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schäftsführung ohne Auftrag“ von anderen getroffen werden: ein solcher „Auftrag“ liegt dann ja vor. - Ist ein solcher Zustand erreicht, die eigentlich problematische Kernsituation des „Sterbenlassens“, so kommen nur zwei Kategorien von Personen als entscheidungsbefugt in Betracht: o In der Praxis wird hier häufig eine Zustimmung „nahestehender Personen“ eingeholt werden, insbesondere von nahen Familienangehörigen. Sie können u. U. darüber Auskunft geben, wie ein etwa „vorletzter Wille“ des Betroffenen in dieser Lage sich (wohl) hätte bilden können. Sie müssten, soweit möglich, von demjenigen befragt werden, der hier tatsächlich die Entscheidung über ein Sterbenlassen vollziehen kann, in aller Regel von einem Arzt. Bindende Vorgaben für ihn durch Äußerungen von „Nahestehenden“ wären jedoch höchst problematisch, nicht nur weil die Gegenwart der Auskunftspersonen Zufall sein kann. Der Inhalt ihrer Aussagen oder Behauptungen ist hier kaum nachprüfbar, Widersprüche drohen, wirtschaftliche Interessen lassen sich kaum ausschließen. Von einer „Entscheidungskompetenz Nahestehender“ als solcher darf daher nicht ausgegangen werden. Mehr als tatsächliche Feststellungshilfen in dieser Situation, damit auch der „Interessenlage des Patienten“, können hier nicht erwartet werden. Von einer grundsätzlichen Entscheidungsbefugnis von Familienangehörigen oder sonst Nahestehenden darf jedenfalls nach Verfassungsrecht nicht ausgegangen werden. Eine entsprechende gesetzliche Berechtigung wäre schon deshalb höchst problematisch, weil die erforderliche rechtsstaatliche Bestimmtheit nicht erreichbar wäre und Interessenkonflikte nicht auszuschließen sein könnten. Auch Art. 6 Abs. 1 GG deckt eine solche Befugnis in keiner Weise. o Es kommen also nur medizinisch sachverständige Personen als Entscheidende über Leben und Tod in Frage, in einer Situation des „Sterbenlassens“. Sie werden damit aus Feststellungsorganen der Voraussetzungen dieser Entscheidung zu Entscheidungsbefugten, ja Entscheidungsverpflichteten. Sie haben allerdings ihr Votum nur in einer Abwägungsentscheidung zwischen Todesvermeidung und zu verhinderndem Leiden zu treffen. Finanzielle Gesichtspunkte dürfen keinerlei Rolle spielen, weder Belastungen Öffentlicher Kassen noch solche etwaiger Rechtsnachfolger. Aus all diesen Gründen bedarf die gegenwärtige Praxis des „Sterbenlassens“ einer durchgreifenden Überprüfung und gegebenenfalls weitreichender Änderung. Diese darf sich nicht nur auf die Verhinderung geschäftsmäßiger Sterbenshilfe beschränken. Die herkömmliche Auffassung, dass „alle Mächtigen dieser Erde vom Sterbebett zurücktreten“ sollten, dass hier ein eigenartiges „Elementarkonsortium“ von „Ärzten und Angehörigen“ in einem im Übrigen rechtsfreien Raum gemeinsam zu entscheiden hätte, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar. Gerade in dieser Situation von allerhöchster auch rechtlicher Bedeutung muss eine verfassungsrechtlich verbindliche Todesordnung Verfahren und Zuständigkeiten klar regeln: in dubio pro

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

medico: Dieser ist der einzig wahrhaft neutrale Entscheidungsträger, darin dem Richter in seiner Unabhängigkeit133 vergleichbar. Der Arzt ist ja letztlich auch praktisch wohl die einzige rechtliche Bezugsperson von etwaigen Haftungsansprüchen. Dass sich im Einzelfall Sonderkonstellationen ergeben können, ist für das Recht hier, wie in zahllosen anderen Fällen, eine Selbstverständlichkeit. Dennoch: Die Rechtsstaatlichkeit verlangt gerade für diese Fälle klare Grundlinien. Denn eine, die entscheidende, endet ja gerade in dieser Lage „vorzeitig“: das ausschließliche letzte Entscheidungsrecht des Menschen über sein Lebensende, als dessen „Vorstufe“ das „Sterbenlassen“ hier zunächst aber zu betrachten war. Nun folgen Überlegungen zu dieser Letztentscheidung, zu einer wahrhaft grundlegenden Problematik einer „Todesordnung des (Verfassungs-)Rechts“.

7. Suizid Die Bedeutung der sprachlichen Form für das Gewicht rechtlicher Regelungen zeigt sich gerade hier: In dem deutschen Wort „Selbstmord“ schwingen Angst, Ablehnungs-, ja Verbotsvorstellungen mit, welche aber gegenwärtigen verfassungsrechtlichen und wohl weitgehend auch gesellschaftlichen Grundvorstellungen nicht (mehr) entsprechen134. Auch wenn von „Selbsttötung“ die Rede ist, ein derartiger Anklang an strafrechtliche Deliktsvorstellungen ist nicht auszuschließen. Verständlich ist es daher – wenn auch bedauerlich – dass in einem so elementaren Bereich auf Fremdsprachlichkeit zurückgegriffen werden muss: Suizid. Dieses Wort erscheint eben, wie so oft, rechtlich offener, weniger vorgeprägt durch traditionell ausgeformte Vorstellungen. Auch hier zeigen sich übrigens letztlich im Sprachlichen Auswirkungen einer späten/verspäteten staatsrechtlichen Verselbständigung im deutsch(rechtlich)en Sprachraum. a) Der Mensch – Herr seines Lebens: Vorrangige Entscheidungsbefugnis Der insoweit entscheidungsfähige Mensch ist Herr seines Lebens. Er darf dieses nach Verfassungsrecht beenden, jederzeit, wann und in welcher Weise er dies auch immer wünscht. Jede rechtliche Bindung dieser Freiheit ist unsittlich (§ 138 BGB),

133 Zur Unabhängigkeit der Richter vgl. Leisner, W., Das Letzte Wort. Der Richter späte Gewalt, 2003: Hier kommt sie wahrhaft spät – zu spät aber darf sie, sollte sie möglichst nicht kommen. 134 Denn mit dem Wort „Tötung“ ist eben die Vorstellung eines „Delikts“ im Sinne des allgemeinen Sprachempfindens wohl untrennbar verbunden.

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verfassungswidrig und damit nichtig. Das „Recht auf Leben“ beinhaltet keinen „Zwang zum Weiterleben“135. Weltanschaulich, religiös, kirchlich begründete Verbote der Selbsttötung genießen den individuellen Grundrechtsschutz der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) wie den kollektiven Schutz des Staatskirchenrechts des Grundgesetzes (Art. 140 GG). Den insoweit Nicht-Gläubigen hindern sie aber nicht daran, seinem Leben in eigener Entscheidung und Verantwortung, gegenüber seiner Umgebung, insbesondere seiner Familie, seiner staatlichen Gemeinschaft, seinem Gott ein Ende zu setzen. Dem Staat steht hier nicht, aus Art. 2 Abs. 1 GG, ein Recht zu, „den Einzelnen vor sich selbst zu schützen“136. Die Entscheidungsbefugnis des Individuums hat unbedingten Vorrang137. Die Grenzen dieser Suizid-Freiheit liegen allerdings dort, wo der Einzelne des „Schutzes seines Lebens gegen sich selbst“ bedarf, ihm also die erforderliche Einsichtsfähigkeit in Wesen und Bedeutung des Lebens und eines Endes desselben fehlt. Hier darf nicht nur, hier muss der Staat eingreifen138. Er hat das Leben zwangsweise zu verlängern, bis, d. h. so lange wie nicht Erkenntnis- und Einsichtsfähigkeit des Betreffenden wieder voll hergestellt sind. Über dies Letztere können nicht irgendwelche Staatsorgane, Angehörige oder „Nahestehende“, es kann darüber wiederum nur der medizinisch sachverständige Arzt entscheiden. Die staatliche Schutzfunktion nach Art. 2 Abs. 1 GG gilt also nicht „dem Leben“ als solchem, sondern allein der Entscheidungsfreiheit des Menschen über dessen Beendigung. b) Grenzen der menschlichen Erkenntnis/Einsichtsfreiheit Eine derartige „Schutznotwendigkeit des Einzelnen vor sich selbst“ darf aber nicht, unter keinen Umständen, nur „vermutet“ werden. Ein „erster Anschein“ mag vielleicht noch einen vorläufigen Polizeieingriff rechtfertigen; er muss aber unverzüglich zu medizinischer Begutachtung führen. Der Suizid-Willige darf nicht etwa „erst einmal längere Zeit ruhig gestellt werden“. Auch ist nicht zu vermuten, dass jeder Suizidbereite allein schon wegen derartiger, äußerlich klar erkennbarer Bereitschaft in irgendeiner Form „unzurechnungsfähig“ sei, weil ja „ein normaler Mensch sich nicht töten wolle“. Zu derartigen Unterstellungen fehlt etwaigen eingriffsbefugten Staatsorganen wie Dritten grundsätzlich jede Berechtigung. Es kann sich allerdings im Einzelfall aus den Umständen ergeben, dass eine „plötzliche geistige Umnachtung“ vorliegt. Selbst und gerade dann muss der unverzüglich einzuschaltende medizinische Sachverstand das entscheidende Wort sprechen. 135 Vgl. dazu etwa Hufen, F., In dubio pro dignitate. Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, 2011. 136 BVerfGE 82, 45 (49). 137 BVerfGE 58, 208 (226 ff.); BVerfG K NJW 98, 1775; 128, 282 (304 ff.). 138 BVerfGE 128, 282 (305 f.).

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

c) Schranken der Rechte anderer Die Staatsgewalt kann aber nicht nur, sie muss eingreifen zum Schutz von Grundrechten anderer Personen, die durch Selbsttötung(sabsichten) verletzt werden könnten. An dieser Grenze endet jede grundrechtliche Entscheidungsfreiheit zur Selbstbeendigung des Lebens; denn sie bezieht sich, schon begrifflich, eben nur auf die Verwirklichung gerade dieses Tatbestands, verleiht aber keinerlei Befugnis zu einer Verletzung von (Grund-)Rechten Dritter. Auch eine Vorrangbeurteilung ist hier nicht zulässig, schon deshalb nicht, weil dem freien Menschen ja immer die Möglichkeit offensteht, seinem Leben ein Ende zu setzen ohne andere zu gefährden. Extremfälle139 müssen hier selbstverständlich außer Betracht bleiben. Dabei geht es dann auch nicht um einen „Schutz des Menschen vor sich selbst“, der aus Gründen eines Personalismus140 problematisch sein könnte, sondern lediglich um den Schutz davon unabhängiger, daher besonders zu beurteilender Rechtsgüter. d) Schranken der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Eingriffsrechte in die traditionelle Suizidfreiheit ergeben sich schon aus der Schutznotwendigkeit von Rechten anderer (vorsteh. c), aber auch in Erweiterung dieser Schutzbereiche aus dem Grundsatz-Begriff der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Zu ihrer Gewährleistung, gegenüber nicht auszuschließenden, u. U. naheliegenden Bedrohungen von Rechtsgütern, also in der „Grauzone von Gefährdungen“, darf die öffentliche Gewalt und es dürfen ihre durch die Rechtsordnung dazu bestimmten Helfer nach den Grundsätzen allgemeiner Gefahrenabwehr eingreifen. Dies setzt der Suizidfreiheit jederzeit und in jeder Konstellation Schranken. Sie sind jedoch stets in enger Vorläufigkeit und nach Kriterien strikter rechtsstaatlicher Erforderlichkeit zu wahren; und hier kommt dann auch einer Verhältnismäßigkeit141 wieder Bedeutung zu, im Namen der Legalität. Der Einzelfallentscheidung gibt das geltende Sicherheitsrecht hier insgesamt hinreichende, verfassungsrechtlich gesicherte Leitlinien vor. Allerdings ist, nach den Vorgaben einer „Todesordnung“, hier die Anwendung polizeilicher Generalklauseln laufend und intensiv gerichtlich zu überprüfen. Gegebenenfalls ist der Suizidfreiheit in dubio Vorrang zu gewähren vor sekundären öffentlichen Sicherheitsinteressen.

139 Eine derartige Problematik stellt sich etwa im Falle der Wegnahme von tödlichen Waffen. 140 Zu einem „Personalismus“ als möglicher Sperre eines „Schutzes des Menschen vor sich selbst“ vgl. allgemein Leisner, Personalismus, FN 13, insb. S. 76 ff. 141 Zur Verhältnismäßigkeit als Kriterium der Gefahrenabwehr im Namen der Öffentlichen Sicherheit – auch als eine Grenze der Suizidfreiheit – s. allgemein Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 308 ff.

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e) Zwangsernährung/-behandlung Für solche immer wieder in ganz unterschiedlichen Konstellationen auftretende Fälle hat das Bundesverfassungsgericht klare Maßstäbe gesetzt142. Es hat dem Vorrang der Suizidfreiheit Rechnung getragen. Seine Leitlinien laufen auf die Entscheidungsbefugnis des Arztes hinaus, die gerade hier sicherzustellen und in möglichster zeitlicher Nähe zu gewährleisten ist.

8. Fazit: Richter und Arzt als rechtliche Letztentscheider über das Leben – Folgen für Ausbildungsordnungen Damit wird letztlich die Suizidfreiheit als solche durchgehend unter medizinischen Vorbehalt gestellt. Der Arzt ist die juristische Letztentscheidungsinstanz über Leben und Tod des Menschen. Bei ihm enden alle verfassungsrechtlichen Leitlinien einer Todesordnung. Diese muss daher gestaltende Auswirkungen auf die ärztlichen Berufsordnungen haben. Das Leben des Menschen liegt letztlich eben in den Händen des juristisch vorgebildeten Richters und des ausgebildeten Mediziners. Für beide müssen daher gleichermaßen strengste Ausbildungsvoraussetzungen gelten, aufrechterhalten, laufend kontrolliert, wenn erforderlich verschärft werden, schon weil für den Todesfall das Zusammenwirken dieser beiden Instanzen unabdingbar erforderlich sein kann. Jede Aufweichung der Ausbildungsvoraussetzungen für Ärzte oder Richter, welche hier höchste fachlich erreichbare Kompetenz nicht sicherstellt, ist ein Attentat auf das menschliche Leben, zugleich auf die Grundlagen der demokratischen Staatsform. Ausbildungsordnungen sind hier kein Experimentierfeld für allgemeine Gesellschafts- oder Kulturvorstellungen und -entwicklungen, oder für eine „Gemeinschaftspolitik“ insgesamt. Um es zugespitzt zu formulieren: Das menschliche Leben darf nicht zur Spielwiese demokratischer Politik werden; hier würde um deren Grundlagen gewürfelt. Recht, Medizin und Theologie, in ihrer staatsgrundsätzlich gesicherten Ausbildungsfunktion von Betreuern des Lebensendes, sind und bleiben die Schlüsselbereiche jeder Verfassungsordnung. Daran hat sich seit dem Altertum nichts geändert.

9. Sterben mit Hilfe Dritter Dies ist eine besondere, eine wahrhaft tragische Regelungsmaterie einer „Todesordnung“. Sie umfasst eine ganze Reihe von Konstellationen, in denen menschliches Sterben gewissermaßen hinausgreift über das Lebensende eines In142

BVerfGE 128, 282 (304) sowie bereits E 89, 120 (131).

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

dividuums, in denen der Tod das Leben Überlebender prägt, in tiefer, wahrhaft schicksalhafter Weise. Nur die praktisch wichtigsten Erscheinungsformen dieses Vorgangs sollen hier angesprochen werden: Todesverfügung, Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen. a) Todesverfügungen, Regelungen des eigenen Sterbens in (einer Art von) testamentarischer Form sind bereits seit einiger Zeit gesetzlich-normativ geregelt143. Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestehen dagegen grundsätzlich keine Bedenken. Dogmatisch handelt es sich dabei um etwas wie ein „Suizid-Testament“, wenn darin Bestimmungen über Voraussetzungen sowie Art und Weise des eigenen Ablebens getroffen werden. Insoweit sind auch alle Dritten, einschließlich des lebensbeendenden Arztes, daran gebunden. Bei Rechtsgültigkeit der Verfügung steht ihnen insoweit ein eigenes Entscheidungsrecht, etwa gar ein Entscheidungsermessen, nicht mehr zu. Diese Materie sollte jedoch, unbedingt, so eingehend wie möglich, in einer „Todesordnung“ geregelt sein. b) Sterbehilfe ist ebenfalls in dieser Weise regelungsfähig und normierungsbedürftig, in Form eines einfachen Gesetzes144. Dies hält sich insoweit im verfassungsrechtlichen Rahmen, als es die grundsätzliche Suizid-Freiheit (vorsteh. 7.) nicht unzulässig einschränkt; denn hier geht es begrifflich um „Beihilfe zur Selbsttötung“: Eine solche kann nur darin als solche strafbar sein, als sie über eindeutigen Vollzug der Entscheidung des Sterbewilligen hinausgeht und/oder aus anderen als dessen Motiven erfolgt. Hier darf, ja muss der einfache Gesetzgeber in normativer Form ordnend abgrenzen, um einem Fehlgebrauch, ja Missbrauch im Bereich der Freiheit des Suizids entgegenzutreten. Dieser darf nur ein wahrer Freitod des Sterbewilligen sein. Die Neuregelung von 2015 ist insoweit vom Grundgesetz gedeckt. Sie entspricht wohlverstandener Suizid-Freiheit. c) Problematisch ist allerdings, nach wie vor, die grundsätzliche Strafbarkeit der „Tötung auf Verlangen“ (§ 216 StGB), im Sinne einer „aktiven Sterbehilfe“145. Nach strafrechtlicher Dogmatik müsste sie ebenso straflos sein wie Suizid als solcher (vgl. oben 7.), aber eben nur, soweit der „Todeshelfer“ sich genau und eindeutig im Rahmen des Willens des Moribunden hält. Hier aber treten – von jeher – in der Praxis 143

Zu den Todesverfügungen vgl. Rausch, H., Verfügungen von Todes wegen unter Ehegatten, FPR 2006, 141 ff.; Baumann, W., Anforderungen an Namensunterschriften unter beurkundeten Verfügungen von Todes wegen, RNotZ 2010, S. 310 ff. 144 Vgl. aus neuester Zeit zur Diskussion um die gesetzliche Regelung Brunhöber, B., Sterbehilfe aus strafrechtlicher und rechtsphilosphischer Sicht, JuS 2011, S. 401 ff.; Magnus, D., Sterbehilfe und Demenz, NStZ 2013, S. 1 ff.; v. Lewinski, M., Sterbehilfe im Bundestag – an den Problemen vorbei, ZRP 2015, S. 26 f.; Boemke, B., Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen, NJW 2015, S. 378 ff.; Jurgeleit, A., Sterbehilfe in Deutschland, NJW 2015, S. 2708 ff. Zur Rechtsprechung etwa BGHZ 202, 226; EGMR, NJW 2015, S. 2715. 145 Die strafrechtliche Diskussion beschäftigt sich hier vor allem mit § 216 StGB.

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schwere, oft unüberbrückbare Nachweisprobleme zur Motivation des „Todesengels“ auf. Obwohl der Gesetzgeber durch die Voraussetzung eines „ausdrücklichen und ernsthaften Verlangens“ bereits Fehlgebrauch und Missbrauch hat ausschließen wollen, bleibt es noch immer in der Praxis häufig schwierig, wenn nicht unmöglich, den „willensvollziehenden Helfer“ von dem eigenwillig-interessierten Handelnden im Sinne einer Tötungsstraftat überzeugend zu unterscheiden. Ein Überblick über das schon im Strafrecht kaum mehr übersehbare Schrifttum der letzten Jahrzehnte zur Sterbehilfe und Tötung auf Verlangen zeigt, dass hier strafrechtliche, kriminologische, rechtsphilosophische und staatsrechtliche Überlegungen nahe beieinander, ja in einem schwer zu entwirrenden Gemenge liegen. Ihre kritische Durch- und Aufarbeitung kann im vorliegenden Zusammenhang nicht unternommen werden, steht aber drängend an. Für sie sollten, zu dieser so wichtigen Materie der Sterbehilfe durch Dritte i. w. S., folgende verfassungsrechtliche Perspektiven maßgebend sein: - Auszugehen ist nicht von irgendwelchen theologischen, weltanschaulichen oder anderen verfassungsexternen Vorstellungen über Ursprung und Wert des Lebens und damit auch von dessen Ende, damit zugleich über ein bestimmtes Wertigkeitsverständnis des Todes. Maßgeblich sind allein die grundsätzlichen GrundWert-Entscheidungen der Verfassung. - Einschränkender Normierung der Suizid-Freiheit aus überzeugenden strafrechtlichen und/oder kriminologischen Gründen, unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit, steht Verfassungsrecht nicht im Wege. Regelpönalisierung einer „Tötung auf Verlangen“, mit Rechtfertigungszwang, ist jedoch verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Sie könnte allenfalls aus überzeugenden Gründen kriminologisch begründeter Zweifel an der Effektivität einer Missbrauchskontrolle bei einer Freigabe dieses Handelns vorgesehen bleiben. Zu rechtfertigen hat sich hier aber nicht der Sterbehelfer, sondern der Gesetzgeber. - Eine „auf Wiederholung angelegte“, insbesondere gewerbsmäßig angebotene Sterbehilfe hat der Bundestag am 06. 11. 2015 unter Strafe gestellt; damit sollte eine seit 2009 andauernde Diskussion um „Sterbehilfe und Palliativmedizin“ beendet werden. Ausdrücklich wurde dabei aber die Suizidfreiheit grundsätzlich bekräftigt146. Ob damit die Diskussion beendet ist, bleibt zweifelhaft. Klar sollte immerhin sein – und bleiben – dass sich Ärzte bei der hier dargestellten rein medizinischen Sterbehilfe nicht strafbar machen. Sie haben stets abzuwägen, lege artis: Heilungs/Besserungschancen und Erträglichkeit von Schmerzen. Dabei haben sie die Letztentscheidung des Patienten zu respektieren, d. h. auch: zu vollziehen, aber nur, wenn sie, ebenfalls lege artis, feststellen, dass dieser Wunsch vom Betroffenen im Vollbesitz seiner Kräfte geäußert worden ist. Wenn dies nicht der Fall ist, so dürfen sie ihn, der ja nicht mehr rechtswirksam entscheiden kann, 146 Vgl. FAZ vom 07. 11. 2015, S. 1 (S. 2, Schmoll, Heike, S. 11 Gey (Kommentator)). Wie hier zutr. anmerkt wird, ist das Verbot in einer Marktwirtschaft bedenklich: Darf man sich nicht auch „einen schönen Tod kaufen“? Sehr strenge Kontrollen könnten u. U. genügen.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

von seinem Leben (er-)lösen, entsprechend der dargestellten Abwägung. Verpflichtet sind sie aber dazu nur, wenn eine diesbezügliche Todesverfügung vorliegt (vorsteh. a)). In allen anderen derartigen Fällen dürfen – und müssen sie rechtlich – nach ihrem Gewissen handeln, nach ihrer ärztlichen Berufsethik. - Eine eigenständige, verfassungsgelöste Ordnungszuständigkeit des Gesetzgebers für bestimmte Bereiche, etwa nach Straf- oder Erbrecht, gibt es nicht. Übergeordnete Kriterien, nach Grundentscheidungen einer verfassungsrechtlichen Todesordnung, sind stets, wenigstens rahmenmäßig, vorrangig. Gerade der jahrzehntelange Streit über die Sinnhaftigkeit einer Strafbarkeit der „Tötung auf Verlangen“ ist hier eine Mahnung.

a) Exkurs: Schwangerschaftsabbruch Schwangerschaftsabbruch ist Gegenstand einer „Todesordnung nach Verfassungsrecht“ insoweit, als hier von Rechtswegen eine Beendigung menschlichen Lebens anzunehmen ist. Davon muss gegenwärtig eindeutig ausgegangen werden. Die frühere zivilrechtliche Vorstellung, „das menschliche Leben beginnt mit der Beendigung der Geburt“, ist eindeutig durch die verfassungsrechtlich bindende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überholt147. Das ungeborene Leben ist grundsätzlich schutzwürdig „als Leben“. Eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs ist nur zum Schutze eines vergleichbar zu bewertenden Rechts zulässig, hier des Lebens und der Gesundheit der Mutter (als deren Lebensgrundlage)148. Dass hier Wahrscheinlichkeitsüberlegungen eine Rolle spielen, liegt in der Natur der Sache. Im Grundsatz ist die Lage aber geklärt und verfassungsrechtlich eindeutig: „Abtreibung“ ist kein Sonderphänomen im Bereich des Lebensschutzes und daher auch nicht für eine Todesordnung. Für letztere gelten die vorstehend dargelegten Grundsätze, mit der Maßgabe allerdings, dass Ungeborene noch nicht nach ihrem eigenen Willen beurteilt werden können. Daher entfallen Überlegungen zu Sterbenlassen und Suizid (vorsteh. 7. und 9.). Dass ein Schwangerschaftsabbruch bei Vergewaltigung zulässig ist, lässt sich überzeugend aus Menschenwürde und Freiheit der Frau begründen. Dass dies auch dann erlaubt sein soll, wenn ein Austragen des Embryos nicht erwartet und letztlich auch nicht rechtlich effektiv durchgesetzt werden kann (kriminologische, embryopathische Indikation)149, ändert an der verfassungsrechtlich-rechtsgrundsätzlichen Lage nichts, es bestätigt diese vielmehr. Ob insoweit eine Aufweichung des Lebensschutzes zu besorgen ist, bleibt eine verfassungspolitische Grenzfrage. Verhinderung einer Ausuferung derartiger Ausnahmen ist hochrangiges Verfassungs147

BVerfGE 39, 1; 88, 203. Überblick bei Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 54. 149 Vgl. BVerfGE 88, 203 (257). 148

II. Todesursachen: Gegenstände einer Todesordnung

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gebot. „Die Abtreibung“ als solche ist gegenwärtig kein primäres Problemfeld einer Todesordnung. Allerdings könnten von ihr aus, bei erheblicher oder gar grundsätzlicher Erweiterung zulässiger Indikationen, die gesamten Grundlagen der bisher erörterten verfassungsrechtlichen Todesordnung in Frage gestellt werden. b) Exkurs: Schwangerschaftsverhütung 1. Begrifflich ist Schwangerschaftsverhütung kein Gegenstand einer wie immer auszugestaltenden Verfassungsordnung des Sterbens: Wo (noch) kein Leben (vorhanden) ist, kann es ein Sterben nicht geben. Selbst bei weitester Auslegung umfasst das grundgesetzlich geschützte Recht auf Leben nicht eine „Chance auf Leben“150, weder für ein (mögliches, künftiges) Kind, noch für dessen Eltern (teile). 2. Eine Analogie zu grundgesetzlichem Schutz von „Chancen auf …“ (Ehe, Art. 6 Abs. 1 GG151, Beruf, Art. 12 GG in Zugang und Ausübung) kann nicht Platz greifen. Denn dort wird stets, im Wege eines „Vorfeldschutzes“, nur die Freiheit des betreffenden Grundrechtsträgers auf (Aufnahme) ein(es) Verhalten(s) gesichert. Die „Freiheit zum (Leben des) Kind(es)“ wird aber durch Möglichkeiten einer Schwangerschaftsverhütung als solche nicht beeinträchtigt, schon weil ein möglicher Grundrechtsträger noch gar nicht vorhanden ist. Es bleibt stets der freien Entscheidung der (potenziellen) Eltern überlassen, ob sie von Mitteln einer Schwangerschaftsverhütung Gebrauch machen wollen. Wenn Empfängnisverhütung im Rahmen einer medizinischen Behandlung, soz. als „vorgezogener Schwangerschaftsabbruch“ verordnet oder durchgeführt werden soll, so gilt Gleiches, nicht aber sind dann Abwägungsgrundsätze des Schwangerschaftsabbruchs maßgebend. 3. Massive Schwangerschaftsverhütung kann allerdings zu einem Vorgang „kollektiven Sterbens einer Gemeinschaft“ führen, damit ihres „Staates“. Eine derartige Entwicklung ist bereits im Lauf. Wenn entscheidende, rechtlich prägende, personale Identitäten dieser Gemeinschaft damit verloren (zu) gehen (drohen) , der Staat also dann nur durch identitätsverändernde Zuwanderung am Leben gehalten werden kann, stellt sich das Migrationsproblem unter dem Gesichtspunkt der staatskontinuierlichen Identitätswahrung152. Diese Fragen betreffen sozio-kulturelle Entwicklungen. Das große historische Lehrstück des Römischen Imperiums, mit seinen Übergängen von Rom nach Byzanz wie der Translatio Imperii ad Germanos, zeigt deutlich, dass hier die Grenzen staatsrechtlicher 150 „Leben“ im Sinne eines „Recht auf Leben“ ist hier schon deshalb kein Schutzgut, weil es einen entsprechenden Grundrechtsträger eben – noch gar nicht gibt, vgl. dazu auch Kutscha, M., Das Grundrecht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt – ein verdrängtes Problem, NVwZ 2004, S. 801 ff. 151 Im Schutze der Ehefreiheit. 152 Das „Staatsvolk“ ist bereits nach internationalem Recht ein Konstitutivelement des Staates.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

Beurteilung überschritten sein könnten, wollte man ein „Staatssterben als Folge sinkender Geburtenraten“ in Zusammenhang mit einer verfassungsrechtlichen Todesordnung bringen.153

III. Todesvermeidung 1. Kein eigenständiger Topos des allgemeinen Verfassungsrechts „Todesvermeidung“, auch nur verstanden in dem Sinn einer Todesverzögerung, ist als solche, soweit ersichtlich, kein Topos des grundgesetzlichen Verfassungsrechts. Dies gilt sowohl im Sinne einer inhaltlichen Begriffskonzentration auf bestimmte Konstellationen oder rechtlich relevante Verhaltensweisen als auch in dem einer etwa übergeordneten zusammenfassenden Begrifflichkeit. Sämtliche unter II. behandelten Todesursachen führen zu ganz unterschiedlichen allgemeinen Gegenstrategien oder gezielten Vermeidungsversuchen ihres Eintritts und Wirkens. Sie sind jeweils, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, rechtlich auf die betreffende Sterbenscausa bezogen, insoweit also einer davon gelösten allgemeinen Betrachtung unter dem Gesichtspunkt einer Todesvermeidung als solcher nicht bedürftig, ja nicht zugänglich. Dies gilt insbesondere etwa für das Verhalten gegenüber Todesgefahren154 wie beim finalen Todesschuss (vorsteh. II. 2.) oder „gefährlichen Anlagen“ (vorsteh. II. 5.), sowie beim „Sterbenlassen“ (vorsteh. II. 5.). Alle diese rechtlichen Regelungen beinhalten stets auch, durch ihre Gebots- wie Verbotsnormen, gewisse konstellationsbezogene abschreckende Wirkungen. Sie können insoweit, sozusagen „im Vorfeld“, einer Todesvermeidung im weiteren Sinne zugeordnet werden. Durch Bekämpfung von Todesgefahren haben sie jeweils sterbensvermeidende Wirkungen.

2. Die „abschreckenden Rechtsfolgen“ der Regelungen von Todesursachen Zusammenfassen lässt sich dies weithin unter dem Begriff der „Abschreckung“, also einem Motivationseffekt auf das Verhalten aller öffentlichen wie privaten Rechtsträger. Dieser Begriff der Abschreckung ist jedoch insbesondere im Straf-

153

Staatsrechtsdogmatisch zeigt die Translatio Imperii ad Germanos im Sinne der Verfassungsgeschichte weniger eine Migrations- als eine Machtkonstellation. 154 Damit im Sinne einer Gefahrenbekämpfung nach dem Gefahren- und Risikobegriff des Verwaltungs- und des Strafrechts (vgl. FN 18).

III. Todesvermeidung

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recht155, aber auch im Zivilrecht wie im Verwaltungsrecht, bisher in solcher Allgemeinheit auf Rechts-(Norm-)Wirkungen bezogen, dass auch er zwar einen Topos der Kriminologie darstellen mag, darüber hinaus aber als solcher keinen solchen im Staatsrecht bietet. Die strafrechtliche Abschreckung(swirkung)156 stellt ihrerseits einen sehr spezifischen kriminalrechtlichen Problembereich dar, dessen einzelne Unterscheidungen sich nicht allgemein, und auch im Einzelnen nicht ohne weiteres, zu einem verfassungsrechtlichen Topos der Todesvermeidung hochrechnen lassen. Der dogmatische Befund „Abschreckung“ ändert also nichts an dem zu vorstehend 1. Dargelegten: Ein eigenständiger allgemeiner Topos „Todesvermeidung“ ist staatsrechtlich nicht feststellbar. Er sollte daher wohl als solcher auch nicht Kategorie in einer „Dogmatik einer Todesordnung“ sein, schon wegen rechtsdogmatisch problematischer Wirkungen.

3. Körperliche Unversehrtheit – Gesundheit Einen besonderen, in diesem Zusammenhang aber zu betrachtenden verfassungsrechtlichen Befund stellt das „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ dar. In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wird es in engem sprachlichen Zusammenhang mit dem „Recht auf Leben“ geschützt. Erstaunlich ist, dass dazu weder in der Verfassungsrechtsprechung157 noch im Schrifttum158 nähere Überlegungen darüber angestellt worden sind, was dies für den Begriff des „Lebensschutzes“, hier also auch für eine „Todesordnung“, verfassungsrechtlich bedeuten könnte. Sehr allgemein wird nur eine „Ergänzung des Rechts auf Leben“ um das der „konkreten Körperlichkeit“ angesprochen159. Unterschieden werden Schutzwirkungen der körperlichen Integrität herkömmlich auf drei Ebenen: a) Schutz vor operativen Eingriffen (i. w. S.) in den körperlichen Bereich als solchen: Derartiges kann der, konkretisiert feststellbaren, Todesvermeidung dienen (Amputationen), ja dafür erforderlich sein. Insoweit unterliegt es dem unabdingbaren primären Erlaubnisrecht des Patienten, da dieser ja einen (möglichen) Suizid einem solchen Eingriff vorziehen könnte (vgl. vorsteh. II. 7.). 155

Im Strafrecht herkömmlich unter dem Gesichtspunkt des Generalprävention im Zusammenhang mit § 46 StGB in einer Fülle von gerichtlichen Entscheidungen behandelt. 156 Dies wurde bereits angesprochen im Zusammenhang mit dem Tod als solchem, II. 4. 157 Die Rechtsprechung beschäftigt sich damit nur selten und eher am Rande, vgl. etwa BVerfGE 56, 54 (74 ff.); 128, 109 (134). 158 Bei Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 2 Rn. 218, wird die Beziehung als solche nicht behandelt. Vgl. auch Di Fabio, U., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 56 ff. 159 Vgl. allgemein-undifferenziert Lang, H., in: Epping/Hillgruber, GG 2009, Art. 2 Rn. 62.; Murswiek, D., in: Sachs, M., GG 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 148.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

b) Allgemeiner Gesundheitsschutz bis hin zu „(höchst)vorsorglicher Vorsorge“ lässt sich von einer Sicherung der körperlichen Unversehrtheit nur schwer begrifflich unterscheiden. Denn aus unterlassener Gesundheitsvorsorge kann rasch und unmittelbar Todesgefahr entstehen, bis hin zu unabwendbarem Sterben. Will man die gesamte menschliche Gesundheitsvorsorge undifferenziert als Gegenstand eines Schutzrechts der körperlichen Unversehrtheit ansehen160, bedeutet dies für den Gesetzgeber einen sehr weiten Beurteilungsspielraum der Notwendigkeit eines Eingreifens (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG). Ebenso weit ist allerdings der mögliche Entscheidungsraum des Betroffenen hinsichtlich einer etwaigen gesundheitlichen Eigenvorsorge, ja eines täglichen Verhaltens in diesem Sinne schlechthin. Staatliche Verbote lebensgefährlichen Verhaltens (Risikosport) sind ebenso legitim wie Gesundheitsgefährdung durch „medizinisch unverantwortliches Verhalten“ verboten werden darf. Letzteres mag zwar durch die Suizid-Freiheit grundsätzlich gedeckt sein (vorsteh. II. 7.); diese verbietet aber auch hier eine staatliche Gefahrenabwehr nicht, wenn der Betroffene nicht (mehr) in der Lage ist, solche Konsequenzen zu erkennen. Eine staatliche Pflicht zu einer Gesundheitsvorsorge aus der Verpflichtung zur Todesvermeidung ist also zwar theoretisch vorstellbar und könnte insoweit, als „Recht auf Gesundheit“, einem Regelungsbereich „Todesordnung“ zugerechnet werden. In aller Regel wird es sich aber hier doch um Extremfälle handeln, in denen ein Recht auf Gesundheit sich zu einem „Recht auf Leben“ verdichten könnte. Grundsätzlich lässt sich ja auch Recht und Pflicht zur Lebensrettung nur als eine enge Sonderkonstellation bereits unmittelbar aus dem Recht auf Leben ableiten. c) Körperliche Integrität als Schutzbereich eines Rechts auf Wohlbefinden mag in Zusammenhalt mit einem Recht auf Gesundheit (vorsteh. b)) Regelungsgegenstand nach Art. 2 Abs. 2 GG sein161; ein rechtlicher „Todesbezug“ lässt sich hier aber wohl ausschließen. Insgesamt wird man also das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nicht als Regelungsgrundlage eines wie weit auch immer zu verstehenden Gegenstandes einer verfassungsrechtlichen Todesordnung anzusehen haben. Es bleibt daher insoweit bei dem Ergebnis (vorsteh. zu 1.): Todesvermeidung stellt bisher keinen eigenständigen Verfassungstopos dar. Sie ist im allgemeinen Rahmen der Regelung der Todesursachen zu ordnen, nicht als ein besonderer Normierungstatbestand.

160

Vgl. immerhin BVerfGE 56, 54 (74). Vgl. allenfalls BVerfGE 56, 54 (74); ablehnend Di Fabio, U., in: Maunz/Dürig, GG 2009, Art. 2 Rn. 56. 161

III. Todesvermeidung

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4. Sozialrecht – Existenzminimumsschutz und Todesvermeidung a) Kein Recht auf Wohlbefinden Das „Recht auf Leben“ schützt vollständig, aber auch nur dieses als einen „vitalen Zustand“ im physiologisch-medizinischen Sinn; der Verfassungsbegriff „Leben“ darf, schon verbal, allein in diesem Verständnis verwendet werden: unter Verweisung auf die (jeweiligen) Ergebnisse naturwissenschaftlicher Disziplinen. Ein „Wohlbefinden“ ist als solches nicht Schutzgegenstand des Grundgesetzes. Dies gilt für eine etwaige Erweiterung des „Lebens“ in einen bestimmten psychischen Zufriedenheitsoder gar Glückszustand hinein; ein solches könnte mit der rechtsstaatlich erforderlichen Genauigkeit gar nicht festgestellt werden, hinge letztlich ab von kaum definierbaren wirtschaftlichen Daten, ja von unüberprüfbaren subjektiven Beurteilungen. Erst wenn die – medizinisch zu bestimmende – psychische Schwelle zur Krankheit überschritten ist, können Überlegungen zur „Gesundheitsvorsorge als Schutzgegenstand einer körperlichen Integrität“ eingreifen (vorsteh. 3. b)), ein Bezug zu einer „Todesvermeidung“ ist jedoch auch insoweit ausgeschlossen. Erst recht kann es hier nicht, isoliert von jeder körperlichen Unversehrtheit, irgendeinen Bezug zur Lebenserhaltung geben162. Es liefe dies geradezu auf den Begriff eines „lebensunwerten Lebens“ hinaus163, das dann allenfalls von dessen Träger beendet werden dürfte. Der staatlichen Gemeinschaft stehen Recht und Pflichten zur Schaffung und Erhaltung eines „Wohlbefindens“ nicht zu. b) Trennung von „Lebenserhaltung“ und „Lebensverbesserung“ – „Sozialmedizin“ Dies begründet grundsätzlich die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung von lebenserhaltenden und lebensverbessernden Maßnahmen, insbesondere auch durch staatliche Leistungen. Eine solche Abschichtung darf auch nicht unter Hinweis auf Suizid-Gefahr unterlaufen werden, durch Druck, den jemand zur Erlangung staatlicher oder privater Leistungen damit ausübt, dass er mit Suizid droht. Erst wenn diese Gefährdung einen krankhaften Charakter aufweist, können unter Umständen wieder Überlegungen zur Todesvermeidung im Krankheitsfall eingreifen. Allgemein könnte eine „Todesgefahr wegen Verelendung“ nicht aus Sozialrecht, sondern lediglich medizinisch begründet werden. Gleitende Übergänge mögen im Bereich einer „Sozialmedizin“ Gegenstand von Untersuchungen zu Leistung(sverpflichtung)en sein.

162

II. 7. 163

Es sei denn im Zusammenhang mit der freien Suizidentscheidung; dazu aber vorsteh. Vgl. Hinw. in Jarass/Pieroth, GG 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 84.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

c) Das Phänomen der „sozialen Verzweiflung“ Hier besteht nun allerdings die Gefahr, dass das verbreitete Phänomen einer „sozialen Verzweiflung“ juristisch ausgeblendet werden könnte. Es kann sich dies ja zu Zuständen steigern, welche die „Suizidschwelle“ verschieben, die Freiheit der Entscheidung zur Selbsttötung beeinträchtigen und sich bis in pathologische Zustände hinein entwickeln. Die Erscheinung „Selbstmord aus wirtschaftlicher Verzweiflung“ hat sich von jeher einer klaren rechtlichen Erfassung entzogen, insbesondere einer solchen unter dem Gesichtspunkt der Todesvermeidung. Es ist zum Gegenstand eines Sozialrechts geworden, welches über alle Unterscheidungen nach Art. 2 Abs. 2 GG zum „Leben“ hinweggeht, allenfalls diese eben in „Sozialmedizin“ zu überwinden sucht. Hier muss jedoch, von Verfassungswegen, eine klare Unterscheidung entwickelt werden, nicht zuletzt mit Blick auf eine „Todesordnung“: „Verhinderung einer Verelendung als Todesvermeidung“ könnte zu einer Verunklarung des Lebensrechts einer-, sozialrechtlicher Verantwortlichkeiten andererseits führen, noch dazu über eine (Über-)Dehnung des Freiheitsbegriffs, die sich damit zum Leistungsanspruch wandeln würde. Ansätze zu einer verfassungsrechtlichen Unterscheidung sind aber bereits erkennbar, es gilt, sie weiter zu entwickeln: d) Existenzsicherung als Todesvermeidung Dies ist Sinn und vor allem drängende Aufgabe einer Weiterentwicklung des Begriffs der „Existenzsicherung“164. Sie muss auch unter dem Gesichtspunkt der Todesvermeidung präzisiert werden. In dieser Begrifflichkeit liegen ja zwei wesensverschiedene Inhalte in einem noch immer weithin unausgeschiedenen Gemenge: - Materielle und geistige Sicherung der Grundlagen einer menschlichen Persönlichkeit als solcher, als Trägerin der verfassungskonstituierenden Freiheit und zugleich als Entscheidungsträgerin der Demokratie. Die Persönlichkeit muss in einem Umfang gesichert werden, welcher die Ausübung dieser Rechte überhaupt erst „tatsächlich“ ermöglicht. Dieser faktische Zustandsbegriff wird damit inhaltlich zum Verfassungsbegriff. - Eine Vorstellung von (elementarer) Gleichheit, welche schon über den Demokratiebegriff die persönlichkeitstragende Freiheit prägt. In der Staatspraxis kommt dies in der Bestimmung des verfassungsrechtlichen Existenzminimums mit Bezug zu, aber auch in Abstand zu einem allgemeinen Wohlstandsniveau zum Ausdruck, welches eine „soziale Ausgrenzung“ als Untergrenze annimmt. Bei deren Unterschreitung drohen dann eben auch zum einen sozialpolitische, staatsgefährdende Unruhen, zum anderen wird auch eine verfassungsrechtliche 164 Dazu allgemein-grundlegend Leisner, W. G., Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007, zur Verelendung etwa S. 48 f.

III. Todesvermeidung

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Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) schwerwiegend verletzt, welche übergroße soziale Unterschiede verbieten soll165. Hier zeigt sich erneut die Problematik des Verhältnisses von Gesundheitsvorsorge – bis zu einer Extremlage der Todesvermeidung – und der sozialrechtlichen allgemeinen Wohlfahrtszielrichtung. Erstere ist aus dem „wahrhaft Existenziellen“ der menschlichen Persönlichkeit heraus zu beurteilen, letztere weist typisch demokratische, politische, letztlich von der individuellen Persönlichkeit unabhängige Züge auf. Die (laufende) Veränderung der Schwelle des Existenzminimums, entsprechend der eines allgemein-durchschnittlichen Wohlstandsniveaus, erfolgt ohne eine Verbindung zu einer wie immer zu bestimmenden Todesgefahr. Sie wird staatsrechtlichkollektiv ausgestaltet, nicht primär mit Blick darauf, dass damit irgendeine Todesvermeidung erfolgen oder gar eine bestimmte Todesursache (Selbstmord) gezielt bekämpft werden soll. Gewiss hängt hier „Alles mit Allem zusammen“, wie es schon das Marx-Wort von den unter Brücken verhungernden Proletariern einst eindrucksvoll ausgedrückt hat. Doch derartige Extremkonstellationen sind gegenwärtig keine Brücken von „Existenzsicherung“ zu „Todesvermeidung“. Erstere wird auch in absehbarer Zukunft unabhängig von letzterer entwickelt werden (müssen). „Der Tod“ als solcher ist nicht mehr ein näherer oder fernerer Hintergrund selbst für Regelungen dieses Kernbereichs des Sozialrechts; er darf auch nicht als politisch montiertes Schreckgespenst zu einer Legitimation sozialer Nivellierung werden. Denn damit würde die individuelle Freiheit gefährdet. Sie eröffnet heute weitgehend die Möglichkeit, sich lebensbedrohenden Sozialzwängen durch eigenes Leistungsverhalten zu entziehen – andererseits bleibt stets die Endlösung des Suizids, auch sie darf den Menschen nicht bevormundend genommen werden. Da ist nicht Zynismus, sondern Libertät – und Freiheit kann grausam sein… Es bleibt also dabei: Sozialrecht ist keine Form der Todesvermeidung, sondern der politischen Gemeinschaftsgestaltung in Freiheit und Gleichheit. Eine Todesordnung nach Verfassungsrecht wird dies in Extremlagen im Auge behalten müssen, nicht aber als bestimmendes Prinzip zugrunde legen.

5. Exkurs: Überstaatliche Bemühungen um Todesvermeidung Diese verfassungsrechtliche Beurteilung kann sich auch nicht dadurch ändern, dass eine innerstaatliche Todesordnung kraft überstaatlichem Recht verpflichtet wäre, spezielle Formen einer Todesvermeidung vorzusehen, welche über geltendes

165 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 GG dürfen eben keine allzu großen sozialen Unterschiede entstehen.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

Verfassungsrecht hinausreichten, dieses überformten. Hierzu mögen hier die folgenden Anmerkungen genügen: 1. Gefahrenabwehr, insbesondere Rettung aus Todesgefahr, ist selbstverständlich auch nach EU- und Völkerrecht (Rettung Schiffbrüchiger) rechtliche Verpflichtung für Staatsinstanzen, wie für all deren Gewaltunterworfene. Die innerstaatliche Rechtsordnung kann dies näher ausformen, immer aber nur im Rahmen der international-rechtlichen Ordnung. Für eine innerstaatliche Todesordnung ergibt sich jedoch daraus, soweit ersichtlich, nichts, was von den bisher hier herausgestellten Ergebnissen abwiche. 2. Für Todesvermeidung durch Konfliktvermeidung gilt Gleiches. Todesursachen mögen hier allgemein gesetzt und auch näher, vor allem völkerrechtlich durch das Recht der Konfliktvermeidung ausgestaltet werden. Ordnungsgegenstände mit einem hier behandelten – näheren – Todesbezug ergeben sich aber allenfalls im kriegsrechtlichen Bereich, vor allem beim militärischen Befehl. Die Frage ist durch das Verfassungsrecht der Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG) entschärft worden. Im Übrigen ist aber auch weiterhin ein Recht der kollektiven, der staatlichen Selbstverteidigung anerkannt166. Was in seinem Rahmen an Todesursachen gesetzt werden darf, vom Einsatzbefehl bis zur Tötungsanordnung, ist auch innerstaatlich nach Verfassungsrecht zulässig (Art. 25 GG), allerdings stets nur im Rahmen der (noch höherrechtlichen) Verfassungsgrundentscheidungen des Grundgesetzes. 3. Entwicklungshilfe setzt bisher internationalrechtlich keine Standards, welche neue Tatbestände der Todesvermeidung begründen könnten. Derartiges könnte allenfalls über Allgemeine Grundsätze des Völkerrechts anzunehmen sein (Art. 25 GG), welche aber auch hier lediglich im Rahmen der ranghöchsten Grundentscheidungen der Verfassung anzuwenden wären (vorsteh. B). Erst recht müsste dies für völkervertragliche Bindungen nach Art. 59 GG gelten. Diese Regelungsräume sind auch ausreichend, um Entwicklungshilfe im bisherigen Sinn zu ermöglichen. Sie folgt den Grundsätzen einer Gefahrenabwehr167, welche eben auch das „Schutzgut Leben“ sichert, insoweit aber keiner besonderen rechtlich-tatbestandlichen Ausformung bedarf. Die Entwicklungsländer können zwar Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch politische Unruhen, damit spezielle Todesgefahren ihrer Bevölkerung und der Besucher aus anderen Ländern hervorrufen; auch insoweit aber gilt für die „Nähe“ solcher Gefahren und die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Vermeidung grundsätzlich nichts anderes als nach internem Verfassungsrecht. Ein besonderer Regelungsbereich „Todesvermeidung in Entwicklungsländern“ – bedeutsam für andere 166 Nach Völkerrecht ist ein Recht des Staates zu kollektiver Selbstverteidigung anerkannt, vgl. etwa Kielmansegg, S., Die verteidigungspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union, EuR 2006, S. 182 ff. 167 Vgl. vorsteh. A. III., B. I. 3.; jede Katastrophenhilfe ist ja eine systematische Anstrengung zur Todesvermeidung.

IV. Todesfolgen und Verfassungsrecht

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Staaten – dürfte sich, von zeitlich begrenzten extremen Ausnahmelagen abgesehen, nicht mit rechtsdogmatischen Grundsatzwirkungen bestimmen lassen. Damit bleibt es insgesamt zum Problemkreis „Todesvermeidung“ dabei: Als besonderer Regelungsgegenstand des Verfassungsrechts ist sie gegenwärtig nicht erfassbar, verfassungsdogmatisch nicht einzuordnen.

IV. Todesfolgen und Verfassungsrecht 1. Bedeutung von Todesfolgen für eine „Todesordnung“ a) In grundgesetzlicher Sicht ist das menschliche Sterben von Bedeutung als Wegfall eines (natürlichen) Rechtssubjekts und damit eines Mit-Trägers dieser staatsrechtlichen Ordnung. Unter beiden Gesichtspunkten findet es aber als solches weder eine ausdrückliche Erwähnung im Text der Verfassung, noch ist es, soweit ersichtlich, Gegenstand vertiefender verfassungsdogmatischer Behandlung. Dies gilt insbesondere für den Bereich jener Grundentscheidungen des Grundgesetzes (vorsteh. B. I. ff.), wo sich derartige dogmatische Vertiefungen finden müssten. b) Bisher ließen sich also nur einzelne, eher disparate, Problemkreise feststellen, in denen ansatzweise Bezüge zu etwas wie einer grundsätzlich-zusammenfassenden „Todesordnung“ festgestellt werden konnten168. Für den Problembereich „Todesvermeidung“ hat sich sogar ergeben169, dass er als solcher verfassungsdogmatisch nicht gegenständlich erfassbar erscheint; aus ihm lässt sich also für etwas wie eine verfassungsrechtliche Todesordnung nichts Wesentliches gewinnen, weder formal noch inhaltlich. Die vorstehend festgestellten Ansätze zu Todeseintritt und Todesursachen könnten nun aber, schon nach geltendem Verfassungsrecht, in Richtung auf etwas wie eine „verfassungsrechtliche Todesordnung“ angereichert werden durch Feststellungen zu Todesfolgen nach geltendem Recht und daraus weiterführenden Überlegungen. c) Auszugehen ist dabei jedoch von Folgendem: Der Text des Grundgesetzes liefert hier keine ausdrücklichen Ausgangspunkte. Nur sehr allgemein wird der Begriff der Rechtsträgerschaft angesprochen, im Grundrechtsbereich, in all jenen Bestimmungen und deren näheren Erläuterungen, in denen von „Grundrechtsträgern“ die Rede ist, seien es die „natürlichen“ oder „verfassungsrechtlich geschaffene/ anerkannte“. Damit ist, einschlussweise, stets auch das Ende dieser (Grund-) Rechtsträgerschaften angesprochen, also auch deren „natürlicher Tod“. Wie aber dessen Eintritt oder seine Ursachen, seine Vermeidungsmöglichkeiten nicht näher oder gar ausdrücklich Gegenstand einer verfassungstextlichen Regelung sind, so 168 169

Vorsteh. C. I., II. C. III.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

lässt sich auch derartiges für Todesfolgen als solche der Verfassung nicht ausdrücklich entnehmen. Allenfalls mag es aus niederrangigem Recht „hochgerechnet“ werden „in die Verfassung hinein“, als deren Legitimationswirkung. Dies gilt jedenfalls für einen rechtlichen Leichen- und Andenkensschutz (i. Folg. 2. und 3.), für die Auflösung rechtlicher Bindungen (i. Folg. 4.). Weithin ist es in diesem Bereich aber gar nicht (mehr) der Tod als solcher, der als Regelungsgegenstand im juristischen Bewusstsein gegenwärtig ist; es geht vielmehr um gewisse Weiterwirkungen früheren Lebens, über das Sterben hinaus. Ausprägungen derartiger Todesüberwindung lassen sich bisher dann aber im Verfassungsrecht vielleicht verorten, nicht aber aus ihm begründen, gerade als solche. Dennoch sind sie nun anzusprechen, und sei es in der möglichen Bedeutung niederrangiger Formen, von „Normwirkungen von unten nach oben“, vom Gesetzes- in das Verfassungsrecht „hinauf“, damit in eine (etwaige) „Todesordnung“ nach diesem. Besondere Beachtung muss jedenfalls die Erbrechtsgarantie finden, in der Sicht möglicher Verfassungsordnung des Todes. Denn dort wird ja, wenn auch nur indirekt und in sektoraler, weithin finanzrechtlicher Ordnungsform, eine grundsätzlich wie praktisch besonders wichtige Todesfolge in der Verfassung angesprochen. Im allgemeinen Bewusstsein der Menschen, der Bürgerschaft, findet sich in Art. 14 Abs. 1 GG doch wohl etwas wie eine folgenmäßige Verortung des Sterbens im Grundgesetz (vgl. i. Folg. 5.).

2. „Nachwirkende Schutzpflichten“ des Lebens Etwas wie „nachwirkende Schutzpflichten des Lebens“ soll es geben170. Die (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit hat bisher kaum Anlass gehabt – oder gesehen – diesen Begriff als solchen näher zu bestimmen oder gar institutionell zu entfalten. Im Schrifttum finden sich etwa folgende Aussagen: Schutz des Andenkens Verstorbener und Leichnamsschutz werden zusammengefasst171. In näherer Behandlung im Schrifttum treten dabei häufig auch widersprüchliche Auffassungen zu Tage. Insgesamt ergibt sich ein Bild von weithin nur beiläufigen Überlegungen. Eine grundsätzliche Orientierung von verfassungskonstruktiven Gedanken zu solchen „Nachwirkungen“ im Sinne einer „Todesüberwindung“, oder auch nur wesentlich todesübergreifender Effekte, sind nicht erkennbar.

170 BVerfGE 30, 173 (194); BVerfG K NVwZ 2008, 550; BVerfG K NJW 2001, 2957; BayVerwGH NJW 2003, 1612 (1620 f.). 171 Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 22.

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a) Leichnamsschutz Besonders deutlich wird dies beim Leichnamsschutz. Er soll eben (nur) eine „bestimmte Zeit“ anhalten172 – wie lange? Man sieht sich an Vorstellungen von einer sich verlierenden „Aura“ des absterbenden Menschen erinnert. Zwar wird allgemein auf „historische Entwicklungen“ Bezug genommen173. Hier könnten Mumien- wie Reliquienvorstellungen verfassungsrechtlich wenn nicht befruchten, so doch beeinflussen; schließlich haben sie doch, über Staatskirchen- wie auch nach Denkmalschutzrecht, noch immer verfassungsrechtliche Relevanz. Auch ließe sich die in diesem Zusammenhang immer wieder174 bemühte Kantische Objektformel als Sinnerfüllung von Art. 1 Abs. 1 GG ins Verfassungsgespräch bringen: Immerhin droht der in seinem Leben doch „unendlich wertvolle Mensch“ gerade durch den Tod als Leichnam „zum Objekt zu werden“. Doch bei Verfassungsgesprächen, Begräbnis-, Friedhofs- und Anatomieordnungen ist es bisher geblieben. Könnte, sollte, müsste vielleicht gar hier etwas beginnen wie eine „demokratische Reliquienverehrung“ des Menschen, aus dessen todesübergreifendem, todesüberwindendem Höchstwert heraus? Ein solches „Verfassungsgespräch“ würde dann wohl hineinführen in ein Todesordnungs-Gespräch. b) Andenken Verstorbener – Ehrenschutz Andenkenschutz Verstorbener erfolgt letztlich von jeher, in ununterbrochener auch staatsrechtlicher Tradition, gerade aus einer Bewahrung des Gedächtnisses an Verstorbene heraus, vor allem mit Blick auf eine „Menschenwürde“ im gegenwärtigen Verständnis175. Der Andenkenschutz reicht jedoch weit über seinen begrifflichen Inhalt hinaus: Insbesondere bis zu einem Ehrenschutz176. Dieser wieder umfasst den Bildnis- (Abbildungs-) Schutz177. Von dort führt ein – noch gar nicht näher erkannter – Schutz-Weg bis zum Denkmalschutz, der zu Unrecht im Wesentlichen verfassungsrechtlich nur einer Sicherung nach Art. 14 GG zugeordnet wird178. Hier begegnen insbesondere ähnliche verfassungsrechtliche Einstellungen der Gegenwart wie zum Leichnamsschutz: Von einem „auslaufenden Schutz“ ist die Rede, der sich dann verliert in etwas wie einer „Verfassungsbedeutung der Tradition“179, solange diese, insbesondere getreu der Vorstellung „Männer machen die 172

Kunig, Ph., in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rn. 15. Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 10. 174 Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 17. 175 Insoweit zutreffend die Verbindung bei Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 22. 176 Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 5 Rn. 209. 177 Starck, Chr., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 5 Rn. 233. 178 Dazu Depenheuer, O., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 351 ff. 179 S. Leisner, Tradition, FN 16, S. 68 ff. 173

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Geschichte“, gepflegt und verfassungsrechtlich kultiviert wird. In demokratischer Verfassungssicht begegnet dies allerdings Bedenken: Einerseits soll danach ja „der Mensch“ etwas wie eine staatsrechtliche Kultfigur sein, andererseits ist er aber, als Einzelperson, einer von Unzähligen, „andenkensunwürdig“, gerade auch als der „Kleine Mann der Demokratie“. Deren Führer legitimieren sich als „Einer von uns“, einer von jenen Unzähligen, haben daher ebenso wenig „Andenkens- oder Denkmalwürdiges“ an sich wie jener Normalbürger, von dem allein sich ihre Legitimation, damit auch ihre Andenkenswürdigkeit, ableiten müsste. Folgerichtig arbeitet denn auch die Staatsform, in ihrem Grundsatzdenken wie ihrer „Denkmalkultur“ – wenn es eine solche denn gibt – nur an kleinen Monumenten, eifrig allerdings an der physischen wie geistigen Demontage so mancher „größeren“ einer Vergangenheit. Ist die Vernichtung von Monumenten durch Fanatiker, so könnte zynisch gefragt werden, nicht als eine letzte, demokratische Denkmalrechtsfolge zu betrachten? c) Renaissance der Majestät des Todes – der „Unbekannte Soldat“ Die Demokratie verdient jedoch Schutz gegen solche Vergleiche. Das Andenken Verstorbener muss, nach allen Grundsatzentscheidungen dieser Staatsform, als solches in besonderer Weise geachtet, eine Achtung „für jeden Toten“ muss verstärkt werden, soweit dies auch nur irgendwie möglich ist. Mahnmale für den „Unbekannten Soldaten“, sind daher monumentaler Ausdruck einer demokratischen Renaissance des „Andenkens Verstorbener“ – und noch weit mehr: Sie zeigen eine Staats-Anstrengung des Andenkens als einen verfassungsrechtlich konsequenten Versuch der „Verdenkmaligung des Menschen als solchen“, des „Einen von uns“, damit von „Uns allen“, als höchstrangige, alternativlose Aufgabe der Volksherrschaft. „Wer Ohren hat zu hören, der höre“, im Lärm demokratischer Diskussionen, den Einzelnen, sich selbst, „uns alle“. Er höre, ganz am Ende, noch seine eigene Stimme, die ihm eines sicher zuruft, „Memento mori“, in einer Weihe demokratischen Verfassungsrechts. In diesem Sinn jedenfalls gilt dann sogar eine individualistische Übertreibung als Staatsgrundsatz: „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“. Vollzieht sich dann nicht etwas historisch ganz Großes, alles Übergreifende: Kehrt nicht in demokratischer Staatsrenaissance180 eine Majestät früherer Staatsordnungen zurück – in der des Todes?

180 Leisner, W., Staatsrenaissance. Die Wiederkehr der „guten Staatsformen“1987; 2. Aufl. in: ders., Das demokratische Reich, 2004, S. 287 ff.

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3. „Tod“: Lösung rechtlicher Bindungen – „Vorbehalt der Rechtsgeltung“? a) Rechtsgeltung – auf Willen gegründet: „Wegfall im Sterben“? Die geltende Verfassungsordnung des Grundgesetzes findet ihre Legitimationsgrundlage in einem grundsätzlich unendlichen Willen, der sie in ihrer Geltung trägt. Diese Grundeinsicht ihres Entscheidungscharakters, Ausdruck eines Dezisionismus im Sinne der Allgemeinen Staatslehre (Carl Schmitt), zeigt die geltende Ordnung in normativen Formen im Sinne des Kelsenianismus und bringt in ihr demokratisch gebildeten Willen in Integration (Smend) zum Ausdruck. In allen ihren Inhalten, all ihren Bindungsformen kommt dieses (Verfassungs-)Recht aus „menschlichem Willen“, vor allem auf seinen höchsten verfassungsrechtlichen Stufen. Daher muss diese ihm wesentliche Bindungswirkung aufhören, wenn die Willenskraft endet, die sie trägt. Notwendige Folge müsste sein: Mit dem „Wegfall“ der diesen Willen tragenden Rechtssubjekte entfällt jede rechtliche Bindungswirkung, es steht also grundsätzlich alle Rechtsgeltung unter diesem großen, grundsätzlichen Vorbehalt. Mit dem „Wegfall“ der voluntativen Basis, des „wollenden Subjekts“, fällt sogleich jeder rechtliche Effekt weg: Jedes Recht stirbt mit dem Tod, ja es stirbt den Tod seines Setzers, des privaten Einzelnen wie des Staates als Normgeber. b) „Private Normgeltung“: Todesübergreifend: Erbrecht Das Recht weiß es anders, vor allem auch das Staatsrecht der Demokratie. Über den Normbegriff hat es eine Rechtswelt geschaffen, welche über dem Rechtschöpfer steht, über diesen hinauswirkt, ja ihn sogar überhaupt als solchen erst konstituiert. Der „letzte Wille“ ist als solcher unsterblich (geworden), in der allgemeinen rechtlichen Grundentscheidung zu einer „Rechtsfigur Vererbung“; konstitutionalisiert ist dies in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG: Der Tod löst als solcher keine rechtliche Bindungswirkung menschlichen Willens, es sei denn, deren Gegenstand erschöpfe sich in „Höchstpersönlichen Effekten“181, wie im Fall der Ehe. Als Grundprinzip des Rechts, übernommen ins Grundgesetz, gilt vielmehr allgemein das Gegenteil: Weitergeltung von Rechtswirkungen, kraft dem „Normativen Geltungsprinzip“. Hintergrund, wenn nicht rechtliche Legitimation, ist dafür die Grundvorstellung von allem Recht als einer Form von, einem Instrument der Kontinuität. Diese kommt gerade im Staatsrecht grundlegend zum Ausdruck182. 181 Der Begriff der „höchstpersönlichen“ Rechte unterliegt also etwas wie einem „normativen Sterben“ – wie der Mensch. 182 Leisner, A., Kontinuität, FN 71.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

c) Demokratische Kontinuitätswirkung in todesübergreifendem Normwillen Dies alles gilt, über Staatsformentwicklungen hinweg, auch, ja erst recht in der Demokratie, mit ihrem normbestimmten Volkswillen. Dieser ist rechtlich relevant nicht als konkret-tatsächlicher Kollektivwille bestimmter Menschen183, sondern allein ebenfalls in jener normativen Form, in welcher er „über die Willenssubjekte hinweg“ wirkt (vgl. vorsteh. b)). Daher berührt der Tod Einzelner, ja der (früher einmal) normsetzenden Mehrheit die Rechtsgeltung staatlicher Normen nicht; das „Sterben“ entfaltet, als solches, überhaupt keine staatsrechtliche Normwirkung. Die Staatsform der Demokratie beruht, ebenso wie alle aristokratischen, monarchischen, „autoritären“ Regierungsformen, eben auf dem bereits dargestellten allgemeinrechtlichen Kontinuitätsbegriff. „Das Recht als solches“ stirbt nicht, es lebt immer weiter in allen seinen Normbindungen im Sinne Kelsens. Eindrucksvoll hat es sogar in seinen Rechtsgedanken ganze historische Perioden überfliegen – überdauern können: Das Römische Recht und seine, „die“ Staatsrenaissance als Beispiel184. d) Ende der Rechtsgeltung: Sterben des „obsoleten“ Rechts in Faktizität Ex facto oritur ius – also auch: in facto moritur; die Folgerung erscheint zwingend. Der Tod aber ist ein solches Faktum. Stirbt mit ihm nicht alle rechtliche Bindung, stets und überall? Auch hier setzt sich jedoch die „kontinuierende“ Wirkung der Normativität durch. Nur wenn auch der Rechtsgegenstand der Ordnung „stirbt“, „untergeht“, „tatsächlich überholt wird“ – wenn das Regelungsobjekt eben stirbt, hört Rechtsgeltung auf, nicht immer schon dann, wenn deren Schöpfer, der Mensch, die Gemeinschaft mit ihrer Willenskraft (ab)sterben. „Obsolet“ wird auch (Verfassungs-)Recht nicht durch den Tod seiner tragenden Subjekte, sondern allein durch den seiner Regelungsobjekte, in inhaltlicher Unanwendbarkeit oder allgemein fehlendem Anwendungswillen. Dieser aber hat mit dem physischen Tod seiner Rechtsetzer, dem Ende ihrer Willensmacht, nichts gemein. Er ist Folge des Endes eines davon unabhängigen Anwendungswillens, der als solcher zwar durch Sterben der Subjekte, vor allem aber auch durch zahllose andere Entwicklungen eintreten kann. Hier gilt also: Nicht der Tod allein beendet prinzipiell Normwirkungen; solche Effekte treten nur norm/rechtsimmanent auf – aber eben auch aus Faktizität heraus.

183

Mag der demokratische Verfassungswille auch als ein kollektiver vertraglich gedeutet werden können, vgl. Leisner, W., Vertragsstaatlichkeit. Die Vereinbarung – eine Grundform des Öffentlichen Rechts, 2009, S. 27 ff. 184 Vgl. Leisner, Staatsrenaissance, FN 97.

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e) Fazit: Rechtsgeltung als todestranszendente Rechtserscheinung Folgerung dieser Feststellungen, letztlich aus dem spezifischen Normcharakter der Rechtsgeltung, ist daher: Voluntarismus bestimmt ihre Inhalte, nicht aber deren rechtliche Wirkungen. Diese entfalten sich „subjektgelöst“, nach juristischen Entwicklungskriterien, insbesondere den kontinuitätssichernden Grundentscheidungen aller Staatsformen, auch der Demokratie. Geltung, Normbindungen und deren Lösungen sind also keine geistigen Konstruktionen, welche als solche unmittelbar auf der physischen Grundlage des menschlichen Lebens beruhten. Daher können sie sich zwar im Tod oder durch den Tod der Menschen lösen oder wesentlich verändern, ohne dass aber der Vorgang des Sterbens als solcher, zu regeln in einer verfassungsrechtlichen „Todesordnung“, auf solche tatsächlichen Befunde entscheidende Rücksicht nehmen, durch sie geprägt werden müsste. Nur dann, wenn die „Verfassungsordnung wesentlich allein unter den jeweils Lebenden gelten“ würde, wären Todeswirkungen auf die Rechtsgeltung in einer Weise feststellbar und zu beachten, welche dazu zwänge, einem Thema „Rechtsgeltung und Tod“ allgemein nähere Aufmerksamkeit zu schenken als bisher nur im Fall von „höchstpersönlichen Rechten“. Zieht man hieraus kelsenianische Schlüsse, so muss sich dies sogleich „hochrechnen“ (lassen) zur „höchsten Rechtsgeltung in/der Staatsexistenz“. Auch die Staatlichkeit als solche ist dann, in ihren Kontinuitätselementen, ihren Veränderungen, ihrem Untergang, kein „Todesthema“ im Sinn des Lebensendes des (einzelnen) Menschen. Wiederum zeigt sich: Rechtliche Todesfolgen sind insoweit nicht als solche Betrachtungsgegenstände einer „Todesordnung“, welche im hier zugrunde gelegten Sinn „Regelungen des Sterbens“ unter Verfassungsaspekten behandeln, ordnen, ja systematisieren sollte. Die Welt der rechtlichen Bindung ist von transzendenter Natur gegenüber der Faktizität des Lebensendes, mag sie dieses auch zur Kenntnis nehmen, daran anknüpfen, wie an so viele andere tatsächliche Gegebenheiten und Entwicklungen. Mehr noch: Das Verfassungsrecht kann hinsichtlich seiner Geltung, seiner Erscheinung in Rechtsfolgen, geradezu als ein großangelegter Versuch zu einem (rechtlichen) Overriding des Todes erscheinen, in einer Welt von Konstruktionen des Geistes, welcher es unternimmt, die höchste, unerbittlichste aller Realitäten zu ignorieren. Stat Ius – das Wort gewinnt hier wahrhaft tiefere Bedeutung: Die Geltung, die rechtliche Konstruktion bleibt stehen, auch wenn ihre Bewohner, ihre Architekten und Bauarbeiter gehen. Das Recht kennt Veränderungen seiner Ordnung, es mag deren Ende sogar zu regeln versuchen, in Anarchie und Revolution. Doch in all dem fällt kein rechtlicher Blick auf das menschliche Sterben in dem Sinn, dass dieses als solches Rechtsinhalte zu verändern vermöchte, die Rechtsordnung in ihrer objektiven Betrachtung.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

4. Erbrecht: Tod als Wechsel des Rechtssubjekts – Weitergeltung des Rechts a) Erbrecht: „Die“ Todesfolge Neben dem Problemkreis „Todesstrafe“ als Ursache des Sterbens begegnet der Tod dem Juristen vor allem im Zusammenhang mit der Vererbung, hier nicht als Ursache, sondern als Folge des Todes. Über die – immerhin allerdings seltenen – Konstellationen von Erbmord und Sterbenlassen aus Erbenhabgier mag es gewisse Motivationsverbindungen von dieser vermögensrechtlichen Konsequenz zum Lebensende geben im Sinn eines Grundes dieses letzteren. Insgesamt aber handelt es sich doch bei der Vererbung um eine eigenständige Folgeerscheinung des Todes als solchen. Ihre große Bedeutung für die tägliche Praxis des Rechts steht allerdings in keinem Verhältnis zu der geringen Aufmerksamkeit, welche das Recht, insbesondere das Verfassungsrecht, im Erbfall dem Tode als solchem schenkt, der jenen doch gerade, notwendig und ausschließlich, auslöst. Dass hier dieser rechtlich so zentralen Folge prägende Bedeutung für Verständnis und Beurteilung für den Tod kaum zuzukommen scheint, mag sich allerdings daraus erklären, dass Eintritt, Gründe, ja Vermeidungsmöglichkeiten des Sterbens nur oder nur in seltensten Fällen bestimmt zu sein scheinen durch diese, als solche doch so zentrale, Todesfolge. Das Lebensende erscheint hier in etwas zu wirken wie in einer reinen Kausalität für eine unentrinnbare, geradezu begrifflich notwendige Folge. Das Erbrecht bietet jedoch eine rechtliche, ja verfassungsrechtliche Todesregelung als solche. Es scheint sich allerdings auf die Sicherung dessen zu beschränken, was ja unabdingbar sein muss beim Wegfall eines Rechtsträgers: eine Grundsatzregelung für die Auswechslung eines Rechtssubjekts, seine Rechtsstellungen, unabhängig geradezu von der Causa, welche derartiges erfordert. Damit erscheint das Erbrecht auf den ersten Blick als eine „Ordnung des Rechtsübergangs“ zwischen Rechtssubjekten, ohne dass dies aber Beurteilungselemente für diesen Vorgang als solchen böte. So wie Rechte übergehen von einem Träger auf den anderen, vertraglich oder gesetzlich, so erfolgt ein derartiger Transfer eben auch hier – verfassungsrechtlich geregelt. Notwendigkeit und Grundlage findet er allerdings – und dies ist nun doch eine bedeutsame Besonderheit – nicht nur in Willensakten von Rechtssubjekten, oder in einem Machtwort der Staatsgewalt wie im Falle des Konkurses. Vielmehr ist es letztlich allein ein faktisches Ereignis, dass den Rechtsübergang zur Folge hat. Es bedarf also dieser Transfer, als wichtigste Todesfolge, doch der rechtlichen Regelung. Hier aber ist etwas gefordert wie eine „Todesordnung“ – und sie wird eben auch geboten in der Garantie des Erbrechts, in der Erbfreiheit zwischen allen Rechtssubjekten. Selbstverständlich sollte es also sein, dass „diese“ Todesfolge aus ihrer Causa, dem Ableben heraus, (verfassungs-) rechtlich ausgestaltet werden muss. Dies gilt es allerdings erst einmal deutlich ins Bewusstsein zu heben: Der Tod ist für das Recht im Wesentlichen, für die ganz große Mehrzahl der Bürger, in erster Linie das, was das Erbrecht in der Gestaltung seiner rechtlichen Folgen daraus macht.

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Es ist daher zu untersuchen, ob dies mit den unter A. und B. entwickelten rechtlichen Grundsätzen einer Todesordnung im Einklang steht, eine derartige gar in besonderer Weise prägen, oder nur umprägen sollte, gegenüber der gegenwärtigen Rechts- insbesondere Verfassungslage. b) Das Erbordnungsrecht des Staates Ein Recht des Staates, den Rechtsübergang für den Todesfall zu regeln, ergibt sich grundsätzlich bereits aus dem Begriff der Rechtssubjekte als Träger von Berechtigungen, insbesondere als Inhaber von Eigentum. Eine Eigentumsordnung, die grundsätzlich den freien Besitz schützt, hat jedenfalls auch das Recht, dessen Zuordnung bei einer Änderung der Rechtssubjektivität neu zu ordnen – allerdings, soweit irgendmöglich, entsprechend dem Willen des Sterbenden, des bisherigen Inhabers. Die Verfassungsordnung braucht – und kann – schon aus immanenten Ordnungsvorstellungen heraus, herrenloses Gut in Form von haereditates iacentes nicht in größerem Umfang hinnehmen. Sie muss daher, schon zur Vermeidung anarchieähnlicher Zustände, beim Ableben neue rechtssubjektive Zuordnungen vorsehen. Dies ist eine elementare Folge aus jener Rechtsstaatlichkeit als Grundentscheidung der Verfassung, die vor allem Bestimmbarkeit der Rechtslagen185 im Güterbereich erfordert. Wenn irgendwo eine solche Verfassungsverpflichtung der staatlichen Gemeinschaft unmittelbar eingreift, so im Falle des Todes. Dieser darf grundsätzlich nicht vom Ende des Menschen zum Ende der Ordnung werden. Allerdings sind dabei die verfassungsrechtlichen Leitlinien und Grundentscheidungen zu beachten, von denen bereits die Rede war, gerade zum Tode (A., B.). Das Erbordnungsrecht des Staates ist daher von einer rechtlichen Qualität, welche als solche schon die Notwendigkeit einer Todesordnung (mit)begründet. c) Testierfreiheit und Verwandtenerbrecht Das Deutsche Staatsrecht gewährleistet traditionell volle Testierfreiheit. Diese unterliegt nur den allgemeinen Vorbehalten des Schutzes menschlicher Freiheit, insbesondere hinsichtlich der Testierfähigkeit. Der Einzelne ist also insoweit in seiner „Freiheit zum Sterben“ (vgl. oben II. 7.) voll gesichert, es droht ihm grundsätzlich kein Druck aus einer Erschwerung der Äußerung seines Letzten Willens. Allerdings stellt das zwingende Verwandtenerbrecht eine gewisse rechtlich-wirtschaftliche Nachrang-Regelung dar, im Ergebnis also doch eine Einschränkung der Testierfreiheit. Sie kann als eine solche der „Herrschaft des Einzelnen über sein Leben und Sterben“ gedeutet werden.

185 S. dazu m. Nachw. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 227 ff.

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Das Verwandtenerbrecht als subsidiäre Ausgestaltung der Erbfolge186 begegnet aber als solches keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Einerseits kann es durch Testierfreiheit in so engen Grenzen gehalten werden, dass es beim Vorrang einer Herrschaft des Menschen über seinen Tod bleibt. Zum anderen darf der staatliche Gesetzgeber tatsächlich-gesellschaftlichen Realitäten jedenfalls insoweit Rechnung tragen, dass er natürlichen Familienbeziehungen, nicht zuletzt unter Vorsorgungsgesichtspunkten und zur Entlastung der Gemeinschaft, ein gewisses freiheitsbegrenzendes Gewicht zuerkennt. Familiärer Grundrechtsschutz aus Art. 6 GG berücksichtigt hier natürliche Gegebenheiten, die auch gegenüber denen des Sterbens Beachtung verdienen. Das Versagungsrecht des Pflichtteils187 ist an so enge Voraussetzungen geknüpft, dass von einer bedeutsamen „Freiheitsbeschränkung zum Sterben“ kaum auszugehen ist. Seine wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Motivation des Menschen, eine Todesentscheidung zu treffen, oder auf Rechte Dritter oder des Staates, einer solchen nicht entgegenzutreten, dürften im Ergebnis so gering sein, dass dadurch insgesamt die Wertigkeiten einer „Todesordnung in Freiheit“ nicht wesentlich verfassungsordnend verschoben werden. Bei einer erheblichen Verstärkung des Pflichtteilrechts könnten hier allerdings Verfassungsprobleme auftauchen. d) Erbschaftsteuer als Todesfolge aa) Tod ist der auslösende Tatbestand der Erbschaftsteuer. In deren Erhebung vor allem tritt er für Jedermann rechtlich in Erscheinung, in ihr juristisches Bewusstsein. Hier insbesondere wird er zum Gegenstand verfassungsrechtlicher Gewährleistungen und verfassungsrechtlicher Erkenntnisse188. Dies vollzieht sich jedoch in „indirekten Formen“: Geordnet wird „der Tod als solcher“ dabei allenfalls subjektiv in Regelung zur Testierfähigkeit, objektiv in einem Eigentumsrecht, welches bereits die Vererbbarkeit der übergehenden Vermögensgegenstände regelt. Insoweit ist das Erbrecht Fortsetzung, Teil eines Eigentumsrechts189, als welches es denn auch in den herkömmlichen Verfassungsvorschriften (Art. 14 Abs. 1 GG) erscheint. Immerhin regelt das Erbrecht als solches aber doch eine als solche typische Konstellation, welche allein durch menschliches Ableben ausgelöst, tatbestandlich damit bestimmt wird – eben als dessen praktisch wichtigste Folge. In der Globalität seiner Übertragungswirkungen unterscheidet es sich auch von fast allen rechtlichen

186

Leisner, Erbrecht, FN 72, § 174, Rn. 20 ff. Leisner, FN 186, Rn. 121 f. 188 Zu den neuesten Entwicklungen im Erbschaftsteuerrecht vgl. Zipfel, L./Lahme, St., DStR 2015, S. 2041 ff.; Kischisch, K./Maiterth, R., DStR 2015, S. 2111; Ortheil, J., BB 2015, S. 2263 ff. Zur Rechtsprechnung insb. BVerfG v. 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12, BStBl II 2015, 50 = DStR 2015, 31. 189 Leisner, FN 186, Rn. 1 ff. 187

IV. Todesfolgen und Verfassungsrecht

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Vorgängen solcher Art190, jedenfalls in seiner todesbedingten Unwiderruflichkeit. Dies alles mag dafür sprechen, gerade auch die Erbschaftsteuer, als praktisch so wichtige wirtschaftliche Folge des Todeseintritts, in besonderer Weise unter Gesichtspunkten einer „Todesordnung“ zu betrachten. bb) Dabei muss aber die dogmatische Konstruktion gerade dieser Abgabe beachtet werden: Sie wird zwar durch den Tod tatbestandlich ausgelöst, belastet aber als solche wirtschaftlich nicht mehr den Verstorbenen, sondern die Anfallberechtigten des Erbes, aller erbrechtlichen Zuwendungen. Auf das Verhalten dieser Personen allgemein, vor allem aber gegenüber dem Erblasser, mag sie motivierende Auswirkungen zeitigen. Diese können für Eintritt und Ursache des Sterbens durchaus im Einzelfall von Bedeutung sein (vgl. vorsteh. I. bis III.). Der „Todesfolge Erbschaftsteuer“ kommt hier allerdings, ebenso wie anderen Todesfolgen, in der Regel allenfalls eine motivierende Randbedeutung zu. Erbschaftsteuer mag – über ein „Interesse am Tod des Erblassers“ – von nicht unerheblichem Gewicht sein; man wird diesem aber kaum eine „todesregelnde Bedeutung“ zuerkennen können. Allenfalls handelt es sich dabei um einen „Ordnungsgegenstand des Verhaltens der Erben in ihrem Verhältnis zur Gemeinschaft“, nicht aber um eine „Ordnung des Todes“. cc) Für den Erblasser selbst hat die Erbschaftsteuer jedoch immerhin erhebliches Gewicht, hinsichtlich dessen, was der (drohende) Tod noch für sein Leben, seine Freiheit und Gleichheit, vielleicht gar seine Menschenwürde bedeuten kann. Es bewirkt diese Abgabe ja etwas wie eine wirtschaftliche „partielle Verfügungssperre“ über sein Eigentum, das er unter ihrem Zwang teilweise der Gemeinschaft überlassen muss. Vor allem tritt diese Wirkung bei höheren Steuersätzen auf. Verfassungsrechtliche Begrenzungen müssen insoweit aber nicht primär mit Blick auf eine „Todesfreiheit“191 beurteilt werden, sondern unter dem Gesichtspunkt einer wie immer näher zu ordnenden Sozialpflichtigkeit (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG). Dies ergibt sich auch aus der Textformulierung des Grundgesetzes. Da diese Sozialbindung hier aber, gezielt und ausschließlich, in der rechtlichen Tatbestandskonstellation des Todes zum Tragen kommt, spricht dies immerhin für einen „todesordnenden Aspekt“, gerade auch der Erbschaftsteuer – eben als einer teilweisen Verfügungssperre für den Todesfall. Beim Erblasser kann dies von erheblichem Motivationsgewicht sein, für im Einzelnen unabsehbare Verhaltensformen und -inhalte, Entscheidungen in seinem ganzen, über sein übriges Leben. Zahlreiche Menschen leben und arbeiten in einer Weise, dass ihr Verhalten sich an einem „Blick auf den Tod als Auslöser der Erbschaftsteuer“ ausrichtet. Mit dieser Abgabe regelt der Staat also – und nicht nur „indirekt“ – doch das Verhalten des Menschen mit Blick auf dieses sein Ende. dd) Diese Bedeutung der Erbschaftsteuer ist bisher wohl noch nicht einmal in Ansätzen erkannt worden. Dies gilt vor allem für die Gesetzgebung, aber auch für 190 Übertragung von einzelnen Vermögensgegenständen, nach Aufhebung der früheren Vorschriften über die „Vermögensübernahme“, § 419 BGB. 191 S. vorsteh. II. 7. zum Suizid.

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C. Einzelaspekte einer Todesordnung im Staatsrecht

eine (Verfassungs-)Rechtsprechung192, welche sich hier fast ausschließlich an ökonomischen, weithin an gesamtwirtschaftlichen Überlegungen orientiert. Es muss also ein rechtlicher Bewusstseinswandel angestrebt werden, mit Blick auf eine „Todesordnung“, die hier, in den rechtlichen Folgen des menschlichen Endes, wesentliche Freiheitsbeschränkungen in Kauf nimmt. Diese sind nicht nur solche des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG). Sie wirken als „Beschränkungen der verfassungsrechtlichen Todesfreiheit“. Ihre grundgesetzliche Sedes materiae finden sie daher in Art 1 bis 3 GG, ja sogar im Demokratiegebot (Art. 20 Abs. 1 GG) des Grundgesetzes, in all dem, was zu einer Todesordnung bereits vorstehend unter B dargelegt worden ist. ee) „Erbschaftsteuer als Regelung der Todes-Bedeutung“, ihre Schrankenwirkungen vor allem als solche der Menschenwürde: Dies also ist es, was der Tod fordert, vom Gesetzgeber der Erbschaftsteuer, vom Richter über deren Verfassungsmäßigkeit. „Leben und Sterben als einzuscharrender Bettler oder als leistungsgeachteter Bürger“: Das sind Todesalternativen, die ausstrahlen tief in das Leben jedes Menschen hinein. Hier kann es dem „Allmächtigen Gesetzgeber“, der Staatsallmacht, nicht von Verfassung wegen freistehen, beliebig hohe Abgabenbelastungen vorzusehen. Grenzen einer Eigentumsordnung zieht eben auch eine verfassungskonforme Todesordnung. In England, einem Ursprungsland demokratischer Freiheit, hat ein sozialistischer Gesetzgeber nach 1945 über Erbschaftsteuer eine ganze Gesellschafts-, damit eine Staatsordnung verändert. Dies war wahrhaft „englische Verfassunggebung über Erbschaftsbesteuerung“. Vergleichbares müsste in Deutschland an verfassungsrechtliche Schranken stoßen193, aus den Grundentscheidungen des Grundgesetzes heraus. Nicht nur um letzte Garantiebereiche des Eigentums geht es dabei, sondern wahrhaft um ein „menschenwürdiges Leben mit Blick auf dessen Ende“. Erbschaftsteuer ist kein Wirtschaftsvehikel, frei zu steuern von politischen Mehrheiten. Hier – vielleicht sogar allein in diesem Bereich – strahlt eine Folge des Sterbens bereits deutlich in das Leben etwas ab und hinein wie eine letzte Achtung vor der Majestät des Todes. Hier muss auch der allmächtige Steuerstaat den Hut ziehen vor dem vom Tode bedrohten, nicht erst vor dem verstorbenen Menschen. Mehr lässt sich dazu hier nicht aussagen, als: Die Erbschaftsteuer zieht wahrhaft eine rote Leitlinie, die keine egalisierende Mehrheit leichthin umprägen darf: politisch. Hier muss Todesordnung Verfassungsschranke der Abgaben-, der wichtigsten StaatsGewalt bleiben – wahrhaft „eine letzte“. Der Staat darf den Toten nicht ausziehen – schon auf dem Totenbett.

192 193

Vgl. FN 188. Grds. dazu Leisner, W., Grenzen der Erbschaftsbesteuerung, 1969.

D. Ausblick: Das Staatsrecht im Angesicht des Todes I. Den Tod vor Augen „Was tun?“ Diese menschliche Zentralfrage hat der Revolutionär Lenin einst mit der grenzenlosen Triebkraft der Radikalität in staatsrechtliche Umlaufbahnen gebracht, wahrhaft in ein unendliches All juristischer Möglichkeiten. Mit einer von ihnen, der Gleichheit, hat er die Welt verändert. „Und sie bewegt sich doch!“ – weiter, sie treibt in immer weitere Unendlichkeiten von Herausforderungen an juristische Gestaltungskräfte. Hier sollte eine solche weitere, bisher nur in marginalen Umrissen deutliche, bewusst(er) werden: „Das Staatsrecht im Angesicht des Todes – Was ist da zu tun?“ – „Solange noch Zeit ist“! Die Antwort mag lauten: Der Staat hat immer Zeit; eine ablaufende Staatszeit gibt es nicht. (Staats-)Recht ordnet Leben, nicht einen Tod, der es aufhebt. Lasst uns also juristisch weiter „Wegschauen vom Sterben“, „Lasst die Toten ihre Toten begraben“. Lasst sie uns nur auf einem letzten Weg begleiten – einem kurzen, in rechtlichen Begräbnis-Friedhofsordnungen. Lasst uns alles Postmortale ordnen in reiner Gegenwärtigkeit, als hätte es Früheres nicht gegeben, „keinen Toten“ – „keinen Tod“! Die Ergebnisse dieser Betrachtungen, etwas wie einer juristischen Reise in das „Reich der Toten“, können, sollten vielleicht doch etwas nahelegen wie eine andere Bewusstseinslage, gerade im Staatsrecht. Und wenn dies nur ein Abstieg wäre in Unterwelten nach antiken Mythen über Odysseus, Aeneas, oder nach christlichem Glauben des Erlösers „zu der Hölle“ – aus solchen Gängen kommen Renaissance-, ja Erlösungskräfte, gerade für den „Staat des Volkes“. Er mag den Goldschimmer weltlicher Autorität ablegen, dessen Majestät verloren geben. Etwas von der ganzen Tiefe dieser früheren Mächtigkeit kommt ihm zurück, richtet er seine Gestaltungen, seine „juristischen Augen“ auf etwas, in dem Unendliches, Unerklärliches hineinragt gerade auch in die Welt dieses Staates: Das Ende jenes Menschen, jener Unzähligen, auf die als solche er sich gründet, mit all seiner Macht. Die Unendlichkeit eines staatsrechtlichen „Blickes nach oben“, in die juristischen Regelungsdimensionen hinein194, jedenfalls in ihrer bewusstseinsbildenden Wirkung, muss bereits hier deutlich werden. Dabei geht es um einen weiteren, wirklich um einen „letzten“ Blick des Staatsrechts auf die zentrale Endlichkeit des Rechts, den menschlichen Tod. Beides wird im Letzten unausdeutbar bleiben für Gedanken des 194

Eine Betrachtungsweise, die dringend erforderlich ist.

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D. Ausblick: Das Staatsrecht im Angesicht des Todes

Rechts. Doch es mögen solche Betrachtungen rechtliches Ordnungsdenken in eine achtungs-, wenn nicht verehrungsvolle Distanz rücken, aus der heraus es natürliche menschliche Vorgegebenheiten humanen Erkennens in juristische Gestaltungen umsetzen kann, im wahren Wortsinn. Von Todesbetrachtungen zum Staatsrecht dürfen nicht rechtspolitische Rezepte erwartet werden, oder auch nur Programme. Eine Grundeinstellung aber muss sich ändern, das hat sich hier gezeigt: „Wegschauen vom Tode gilt nicht“, auch nicht rechtlich. Diese Erscheinung lässt sich nicht „hinwegdenken“, „extrapolieren“. Sie muss jeder menschlichen Betrachtung gegenwärtig sein, „irgendwie“. Der Staat wie seine Gewaltunterworfenen müssen sich immer sehen in „articulo mortis“, wie wenn eben eine der nächsten Stunden ihre letzte wäre.

II. Mehr, intensivere rechtliche Ordnung des Todes Eintritt, Ursachen, Vermeidung, Folgen des Sterbens werden in der Rechtsordnung bisher angesprochen, geregelt in einer disparaten Vielfalt, vom Gesellschaftsrecht bis zum Polizeirecht, vom Strafrecht bis zur Erbschaftsteuer. Von einer „Gesamtordnung“ in auch nur umrisshaftem systematisierbarem Ordnungsbemühen um „den Tod als solchen“, in seinen Erscheinungsformen und Wirkungen, kann auch nicht ansatzweise die Rede sein. Als solcher wird er überhaupt nicht verfassungsrechtlich in den Blick genommen. Regelungen für das (Recht auf) Leben sind kaum bewusst fortgedacht bis zu dessen Ende. Dieser Befund allein ist bereits beunruhigend. Damit wird „das Menschsein“ als solches ignoriert, jedenfalls längst nicht vollständig erfasst. In einer demokratischen Staatsform, welche auf dem Menschen aufbaut, ist dies auf Dauer nicht hinnehmbar. Der Begriff der Menschenwürde eröffnet Dimensionen, die als solche zwar rechtlich nicht voll ausgemessen, ausgefüllt werden könnten. Doch in ihm muss „das Ende“ seinen herausgehobenen Platz einnehmen. Es darf nicht, in reine, einfach als solche „hingenommene“ Faktizität verbannt, allein ein Gegenstand diffuser Angstvorstellungen bleiben. Nur aus einer staatsrechtlichen Todesordnung heraus wird das Leben als solches rechtlich überhaupt sinnerfüllbar. Eine nur verweisende staatsrechtliche Leer-Systematik kann dem nicht gerecht werden. Der Todesbezug muss rechtlich mehr und in intensiveren Regelungen deutlich werden. Das gilt bereichsmäßig vor allem im Gesamtraum des staatlichen Selbstbehauptungs- und Verteidigungsrechts, innerstaatlich in dem der Öffentlichen Ordnung, vor allem im Polizeirecht. Es führt diese Aufgabe weiter hinein in Formen von Leitlinien im Strafrecht und im Zivilrecht, insbesondere: im Erbrecht. Große Teile der juristischen Rechtsordnung sind also todesbewussten Regelungen nicht nur zugänglich, sie sind solcher dringend bedürftig. Allenthalben müssen rechtlich beurteilende Wertungen deutlicher werden, des menschlichen Lebens als solchen, der

III. Normativ hochrangige Ordnung des Sterbens

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Umstände und Formen seiner Beendigung, seines staatlichen Schutzes. Fatalistische Grundeinstellungen von einer schicksalhaften Vorgegebenheit des Todes muss allenthalben, bis hinein vor allem in das Gesundheitsrecht, in das Sozialrecht als solches, entgegengewirkt werden. Die gesamte „Leistungsorientierung auf Effizienz“ in zahllosen Einzelregelungen der Rechtsordnung ist deutlicher auf jene Eigenverantwortung hin zu orientieren, in welcher eben der Einzelne „am Ende dem Tode begegnet“. Der Tod muss allenthalben deutlich präsent sein, in der Rechtsordnung, gerade in ihr dem Menschen (staats-)rechtlich entgegentreten. Von juristischen Ausnahmeregelungen195 sollte sich die Rechtsordnung in Richtung auf eine Lage bewegen, welche den Namen einer Ordnung des Todes verdient. Systematisierbarkeit der notwendigen, zahlreichen und intensiven Regelungen über das Sterben ist unabdingbare Voraussetzung einer derartigen Entwicklung. Diese muss aus fassbaren Wertigkeits- und Bedeutungsvorstellungen über den Tod heraus sich entfalten, so wie dies dem früheren Majestätsbegriff eigentümlich war, entsprechend der hinter ihm stehenden Vorstellung von einer wahren „Machtfülle“. In der Umformung zu einer „Mächtigkeits-“, „Wirkungsfülle“ muss derartige Bedeutung auch für die „Majestät des Todes“ erkannt, ja weithin heute neu entdeckt werden. Aus all dem ergeben sich Einzelforderungen wie, vor allem, Grundtendenzen einer „rechtspolitischen Entwicklung mit dem Tod vor Augen“. Ausgangspunkte sind vorstehend vor allem in Teil C. näher behandelt worden.

III. Normativ hochrangige Ordnung des Sterbens; verfassungsgerichtliche Kompetenz 1. Regelungen, die das Ende des menschlichen Lebens betreffen, sind gegenwärtig weit verstreut: Sie bieten ein Bild unsystematischer Zersplitterung. Es reicht von kommunalen Ordnungen über Gräber bis zum Verfassungsverbot der Todesstrafe. Einheitliche Grundvorstellungen über die Bedeutung, die rechtliche Wertigkeit des Lebensendes, bis hinein in dessen praktisch wichtigste, insbesondere die abgabenrechtlichen, Folgen, sind nicht ersichtlich. Diskussionen im Rechtsbereich finden, immer wieder, nur zu abgegrenzten einzelnen Fallkonstellationen statt. 2. Andererseits ist eine ständig sich verstärkende politische Sensibilität gegenüber diesem menschlichen Fundamentalphänomen feststellbar, wie Regelungen über die Patientenverfügung bis zur Intensivierung einer Palliativmedizin zeigen. Das Thema der vorliegenden Betrachtungen ist daher nicht nur hochaktuell, es ist hohe Zeit, sich ihm in rechtlichem Bewusstsein zu nähern, das, nach Breite und Tiefe, wahrhaft

195 Wie bei der gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe, bei welcher sogar der parlamentarische Fraktionszwang 2015 aufgehoben wurde.

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D. Ausblick: Das Staatsrecht im Angesicht des Todes

grundsätzliche Lösungen, vor allem aber prinzipielle vereinheitlichende Ansatzpunkte für diese fordert. 3. Überstaatliche Entwicklungen können dabei nicht abgewartet werden. Viel zu unterschiedlich sind religiöse, weltanschauliche, wirtschaftliche, medizinische Konstellationen in den einzelnen Ländern, auch in der Europäischen Union, als dass hier ein auch nur elementarer Konsens absehbar wäre. 4. Nur auf innerstaatlicher Verfassungsebene kann also heute eine „Todeskonzeption“ mit ihren zentralen praktisch-rechtlichen Auswirkungen ihren Regelungsraum finden; und ihre wichtigsten Konsequenzen müssen sich bereits deutlich aus ihr ablesen, jedenfalls in Grundsatzentscheidungen ableiten lassen. Dies mag zwar dafür sprechen, Rechtsgrundlagen einer „Todesordnung“ als solche im Grundgesetz textlich zu verankern, von einem Menschenrecht auf freie Entscheidung bis zu Ansprüchen auf Palliativversorgung. Doch der geradezu säkulare „Schauder des Rechts vor dem Tod“ könnte hier zu einer so allgemein schwer zu überwindenden politischen Hürde werden. Es fragt sich, ob Parlamente, die mit der Tagtäglichkeit der Politik befasst, durch diese eben doch bewusstseinsmäßig geprägt sind, optimale Entscheidungsinstanzen für derartige Themen sein oder werden können. Denn gerade hier ist Diskussion in einer Ruhe, einem Ernst unabdingbar, wie sie die üblichen parlamentarischen Entscheidungsfindungen in Diskussion, über Trial and Error kaum zulassen; Aufhebungspraktiken des Fraktionszwangs zeigen es heute bereits bei todesnahen Fragen. Dennoch: das erste, oft entscheidende Wort liegt bei den Vertretern des Volkes. 5. Dies und manch anderes spricht dafür, die Entfaltung eine(r) „Todesordnung“ im hier ausgesprochenen Sinn in der Normenhöhe des Verfassungsrechts zu verorten, sie dann aber letztlich Verfassungsrichtern anzuvertrauen. Hier bleibt einerseits eine gewisse politische Rückbindung gewährleistet; gesichert ist aber auch, zum anderen, jene Unabhängigkeit von Interessenlagen und Streben, mit welcher der Tod einbricht in das menschliche Leben. Vor allem aber bietet die Form der verfassungsgerichtlichen Grundsatzentscheidung nicht nur eine Gewähr letzter Unveränderlichkeit. Sie lässt vor allem entscheiden gerade zu und in jenen Einzelkonstellationen, in welchen sich ja auch bisher schon, diese Betrachtungen haben es gezeigt, die Problematik des Todes im Recht entfaltet hat. Gerade Verfassungsrichter, denen „das Ende ihrer Macht geschrieben vor Augen steht“, werden wesentlich in einer typischen „Endzeitstimmung“ tätig, aus der heraus allein sie aber Linien anlegen können, welche weiterführen in die Grundsätzlichkeit des Todes, über sie hinaus. Grundsatzentscheidung(en) aus Karlsruhe könnte(n) daher Fundamente einer verfassungsrechtlichen Todesordnung legen; demokratische politische Instanzen würden dann, in jeweils gebotener Allgemeinheit, aber auch unter unbedingter Bindungswirkung, für die jeweils naheliegende, erforderliche Umsetzung sorgen (können).

IV. Inhalt einer „Todesordnung“

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Demokratie ist eine Staatsform rechtlicher Grundsätzlichkeiten. Hier könnte sie dies eindrucksvoll zeigen.

IV. Inhalt einer „Todesordnung“: zwischen menschlicher Endlichkeit und Unendlichkeiten des Normdenkens 1. Jede Regelung, die sich auf das Ende menschlichen Lebens bezieht, wird notwendig geprägt von der Erkenntnis einer wesentlichen Endlichkeit des Menschen, in allem und jedem. Die „menschliche Basis“, gerade die der Volksherrschaft, wird damit, im wahren Wortsinn, „redimensioniert“ in Richtung auf diese Begrenztheit. Eine Verfassungsordnung, welche sich dieser Aufgabe regelnd annimmt, leistet damit einen grundsätzlichen Beitrag zur Erkenntnis menschlicher Grenzen überhaupt. Das Staatsrecht entfernt sich von der Euphorie rechtlicher Allmacht des Ordnens, es wird zu einem Medium menschlicher, vor allem auch politischer Bescheidenheit. Dies entspricht dem Wesen der Bestimmtheitsorientierung allen Rechts als solchen196, es wirkt jenem „nos autem semper in infinitum“ entgegen, welches Gegenstand von Betrachtungen zur Unendlichkeit sein muss. 2. Jede, vor allem eine verfassungsrechtliche Form von Todesordnung ruft zu allererst den Mächtigen, der Staatsmacht ein Memento mori zu. Sie wirkt wie jene Oraisons funèbres, in denen einst Bossuet einem Sonnenkönig Sonnenfinsternisse gezeigt hat. Ein sterbensinhaltlicher Verfassungsaufruf zu solcher Bescheidenheit in rechtlicher Selbstbescheidung – einer der ganz großen Kräfte des Rechts – ist vor allem für die Volkssouveränität von unschätzbarer verfassungspolitischer Bedeutung. Demokratie als Staatsform treibt ja das Staatsschiff, alle ihre Bürger als dessen Konstrukteure und Besatzungen, in immer neue Dynamik, in der sie geradezu die unabhängig rollenden Wogen allgemeiner Entwicklung sogar noch überreiten wollen, beherrschen, sich immer neu hervorbringend. In diesem Sinn zeigt die Demokratie etwas wie eine „Offenheit zu Unendlichkeiten“ – Umweltschutz nur als bereichsmäßiges Beispiel197 –, welche Gegenstand weiterführender Betrachtungen sein müssen. Ihre Marktwirtschaft floatet wie alle erkennbaren Tatsachenlagen im Einzelnen und insgesamt. Darin liegen Dimensionen von Unendlichkeiten, welche das bestimmende, bestimmbare Recht gefährden, die, endlich, normativierte Verfassung in politische Pragmatik zurückfallen lassen könnten. Dieser Unendlichkeit tritt in einer Todesordnung in gleicher Form, Intensität und letzter Entschiedenheit, eine „Vision des Endes“ gegenüber. Dies ist ein normativer Hafen, in den hinein die 196

Zur Rechtsstaatlichkeit s. Sommermann, K.-P., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 289 ff. 197 S. Leisner, W., Umweltschutz durch Eigentümer, 1987 – gerade durch die zahllosen „eigentlichen Staatsorgane der Demokratie“, durch die Bürger.

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D. Ausblick: Das Staatsrecht im Angesicht des Todes

Dynamik des Politischen aus-läuft, nicht eine Mauer, welche einem demokratischen Floaten trotzen müsste – könnte. 3. Verfassungsrechtliche Todesordnung muss daher verstanden werden als ein laufender rechtlicher Balanceakt (des Staatsschiffs, welches Fluctuat nec mergitur). Grundsatzabwägungen sind hier immer wieder gefordert, auch, vor allem zwischen den Höchstwerten der „Menschenwürde des Einzelnen“ (Art. 1 GG) und einer demokratischen Ordnungsmacht (Art. 20 GG), die über den Menschen, betrachtet in seinem Ende, normativ hinausreicht und -wirkt. Dieser Staat darf sich „nicht verlieren in Unendlichkeiten“, einer Ordnung der Umwelt, aller menschlichen Bedürfnisse auf Märkten, in einem Weltordnungsstreben beruhigender demokratischer Staats-Glückseligkeiten. Solche Paradiese bleiben auf immer verschlossen, der menschliche Tod wird Tore dahin stets von neuem und unversehens, nicht nur schließen – zuschlagen. Den Menschen aber „vorzustellen“ zwischen seinen Unendlichkeiten in „strebendem Bemühen“ und dessen kreatürlichen Grenzen198 – dies ist nicht nur eine vorrangige, es ist eine höchstrangige Verfassungsaufgabe des Rechts.

V. Der Tod als Relativierung des Rechts 1. Die Erfüllung eben jener Verfassungsaufgabe darf aber „das Recht als solches“ nicht überfordern, auch nicht in dessen höchster, verfassungsnormativer Mächtigkeit. Gerade hier hat es ja zu rezipieren, vielleicht gar nur zu registrieren, die über ihm stehende, seine Ordnungen tragende Macht des Faktischen. Keine tatsächliche Vorgabe ist mächtiger, wahrlich in einem beherrschenden Sinn, als die des sicheren Todes. Wer immer Derartiges rechtlich zu regeln unternimmt, in welchen Formen dies auch geschieht, der muss sich darüber im Klaren sein, dass er hier „Rezeption des Tatsächlichen ins Recht“ zu vollziehen hat. Sehen ist ihm erlaubt, Ordnung aber nur des Geschauten, von etwas als solchem Hinzunehmenden, seinem Wesen nach Unabänderlichen. „Abbild-Vorstellungen“ des Verfassungsrechts treten hier geradezu gebieterisch in ihre Rechte. Das Verfassungsrecht muss die letzte, wesentliche Rechtstranszendenz des „Ordnungsgegenstandes Tod“ (an)erkennen. In Selbstbescheidung muss es darin wahrhaft über sich hinauswachsen, dass es „das Letzte Wort dem Arzt lässt“, vielleicht einem Priester, der noch nach diesem ans Todesbett tritt. 2. Zentralforderung an eine verfassungsrechtliche Todesordnung ist also: Der Menschen sei Herr über seinen Tod; kann er ihn nicht mehr beherrschen, so tritt an seine Stelle ein anderer, und nur er: der Arzt, der „dem Toten endgültig die Augen schließt“, diese Todesfeststellung bestätigt. Davon gibt es so wenige Ausnahmen wie vom Todesgedanken selbst – keine. Der Arzt ist der Richter des Diesseits über den Gang in ein Jenseits – oder ins Nichts. Deshalb sind hier Ausbildung(sordnungen), 198

Wie sie einst ein Bundestagspräsident einem alten Kanzler glaubte vorhalten zu müssen.

V. Der Tod als Relativierung des Rechts

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Verantwortung, Unabhängigkeit nur zu vergleichen mit der des Richters – dies wurde bereits betont. Dem Richter steht allerdings ein allerletztes Wort zu, auch noch über jedes naturwissenschaftliche Urteil. Das Recht ist zwar relativiert durch die Tatsächlichkeit des Todes, in der Verweisung auf die außerrechtlichen Kriterien und Ergebnisse der Naturwissenschaften im weiten Sinn. Diese letzte Arbeitsteilung im Todesfall aber steht doch noch immer unter der Maxime eines „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“. Auf Erkenntnis des Tatsächlichen vertrauen – das ist, mehr als unter jeder anderen Staatsform – Privileg und Legitimation der Demokratie. Gerade hier aber steht und fällt sie mit ihrem allerletzten Halt: wieder mit einem Menschen, dem Richter. Und gerade er weiß in Bescheidenheit, säkulare Erfahren belegen es, fast immer um seine Grenzen, aus seinem Todesbewusstsein heraus. Hier gewinnt das Wort vom „Gouvernement des Juges“199 allerletzte Bestätigung. 3. Eine Verfassungsordnung des Todes muss also, als Beginn eines Dialogs zwischen Recht und Medizin im weitesten Sinne, stets gestaltet und angewendet werden, als fände hier bereits etwas statt wie eine Therapie – und sei es PalliativMedizin. Patient ist hier der (noch) lebende Mensch, im Vollbesitz all seiner Denk- und Gestaltungskräfte. Das Verfassungsrecht spielt eine ihm wesensgemäße Rolle: die der Vorbeugung, in einer Vorausschau, und erfolge diese auch nur von einer Gegenwart aus200. Nicht in Befehlen und Diktaten darf hier geordnet werden, wie ja auch dem Arzt darin, aus seiner Disziplin heraus, Grenzen gesetzt sind. Eine Todesordnung muss jenen ärztlich-beratenden Charakter tragen, welcher eben die Freiheit des Patienten stets über allem stehen lässt – solange er sie noch aus-leben kann. Alles Regelwerk ist zu sehen unter dem Generalvorbehalt der Achtung des Rechts des Menschen über und auf seinen Tod. Rechtliche Vorschriften müssen daher, das sei noch am Ende hinzugefügt, in aller Regel beratend wirken, Angebote bereitstellen für den Menschen. Einer Demokratie sollte dies nicht schwerfallen, welche ja all ihre Herrschaft sehen will als „Angebot“ an ihre Bürger. Volksherrschaft als die große Ordnung eines Endes des (traditionellen) Staatszwangs kann hier – mit dem Ende beginnen, beim Sterben (schon) einsetzen. Sie lässt den Menschen nicht allein in übersteigertem Liberalismus. Ein weiter Raum staatlicher Förderungsmöglichkeiten der Freiheit des Menschen und der medizinischen Begleitung zu seinem Tod ist jedenfalls offenzuhalten. Allgemeine Formulierungen sollten Ärzten und Richtern weiten Raum für rechtliche Fortentwicklungen offen halten.

199

Lambert, Edouard, 1936. Wie alle Prognose, vgl. Leisner, W., Die Prognose im Staatsrecht. Zukunft in Vergegenwärtigung, 2015, vor allem S. 29 ff., 36 ff. 200

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D. Ausblick: Das Staatsrecht im Angesicht des Todes

VI. Tod als Relativierung des Staates 1. Der demokratische Staat baut auf dem Einzelmenschen auf und seinen Entscheidungen, vor allem in Wahlrecht und in der mitbestimmenden Akzeptanz seiner Regelung. Eine Verfassungsordnung, welche das Sterben des Individuums zum Gegenstand hat, wirkt sich daher notwendig auch auf eine derartige Staatsordnung aus, auf den demokratischen Staat als solchen. Durch die Verfassung ist dieser Staat als grundsätzlich unsterblich rechtlich konstituiert und bis in Einzelheiten hinein rechtlich geregelt. Sein Ende in revolutionärem Umsturz kann begrifflich gar nicht geregelt sein; nur Ansätze/Anfänge im Widerstandsrecht sind, über Art. 20 Abs. 4 GG, einer Verfassungsordnung wenigstens ansatzweise zugänglich. Ein „Sterben des Staates“ wird dadurch aber eher rechtlich „wegdefiniert“, als dass es als solches geregelt würde. Notwendig ständig wechselnde Mehrheiten durch Tod der diese Gemeinschaft konstituierenden Bürger führen nicht zu einem „Staats-Sterben der Demokratie“. Die Normkonzeption als solche sichert, wie hier mehrfach dargelegt, über die kontinuierliche Weitergeltung des normtragenden Willens, rechtlich das Überleben des demokratischen Staates, über den Tod (all) seiner (gegenwärtigen) Bürger hinweg. 2. Dies spricht dafür, dass eine „Verfassungsordnung des Todes rechtskonstituierender Menschen“ nicht nur keine grundsätzlichen, sondern überhaupt keine Auswirkungen zeitigt in Hinsicht auf ein „(Ab-)Sterben des Staates“. Der Marxismus hatte einst ein solches dem bürgerlichen Rechtsstaat vorausgesagt. Es sollte aber ein gewaltsames Ende von Staatlichkeit sein – und war es weithin –, nicht im Tod von Menschen – die er in Massen zur Folge hatte – sondern im Neubau des Staates auf anderen Fundamenten. Diese Diskussion will und kann zur Zeit die Demokratie zu den Akten legen. Sie wird auch als Staatsform in all ihren Grundentscheidungen nicht berührt durch den Tod einzelner Menschen, seine Umstände und Folgen. Dieser Staat darf daher als „Herr des Todes“ auftreten, im Erlass einer „Todesordnung“ für seine Bürger. Er muss als solcher nicht besorgen, dass diese, in welcher Form immer, auch auf ihn selbst zur Anwendung kommen könnte. Der Anthropomorphismus des demokratischen Staates findet hier eine grundsätzliche, verfassungsdogmatische Grenze. Sie könnte überschritten, durchbrochen werden allenfalls in massivem, generalisiertem Geltungsverlust demokratischer Rechtsüberzeugungen, etwa auch in extremer Wahlmüdigkeit. All dies stünde jedoch in keinerlei dogmatisch fassbarem Zusammenhang mit dem physischen Tod von Menschen, würde also auch durch eine entsprechende „Todesordnung“ in keiner Weise verfassungsrechtlich geordnet. Gerade hier wirkt die (allzu) vielberufene „Menschennähe“ der demokratischen Staatsform rechtlich nicht. 3. Der demokratische Staat, als der in seinem Selbstverständnis, seinem Wesen nach unsterbliche, kann sich also, in dogmatischer Konsequenz, als Richter verstehen über den Tod seiner Bürger, damit auch eine Kompetenz zum Erlass einer Todesordnung für sie in Anspruch nehmen. Das bedeutet aber nicht, dass seine darin zum

VII. Schlussergebnis

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Ausdruck kommende Grundposition zu einem „Ende von Rechtssubjektivität“ ohne jede Bedeutung wäre für seine eigene (Fort-)Existenz. Auch dieser Staat ist schließlich ja ein Rechtssubjekt, nach Internationalem Recht, das er als Mitglied der Staatengemeinschaft mitbegründet und -gestaltet. Jene Rechtsordnung kennt aber begrifflich ein „Ende von Staatlichkeit“, ein „Sterben von Staaten“ im Sinn eines Wegfalls ihrer internationalen Rechtssubjektivität. Dieser Vorgang mündet dann in das „Recht der Staatennachfolge“, eine Art von völkerrechtlichem Erbrecht; es wirft, wenigstens zum Teil, sogar ähnliche Rechtsprobleme auf wie das Ende menschlichen Lebens, vom Untergang in Totalannexion bis zu staatlicher Selbstauflösung, wie sie sich etwa am Ende der DDR vollzogen hat. Primat der rechtlichen Wirksamkeit von Faktizität und Selbstbestimmung über das eigene Ende sind dabei ebenso Fallkonstellationen wie sie mit physischem Tod eintreten. Sie sind Normierungsgegenstände von allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG), welche wiederum hochrangige Rechtswirkungen verfassungsrechtlich auch für innerstaatliches Recht zeitigen. Insoweit wirkt eine innerstaatliche Todesordnung, insbesondere in ihrer Freiheitsprägung, ihrer Ablehnung fremder Gewalt, in den rechtlichen Vermeidungsstrategien eines Endes von einzelnen Menschen, auch ein auf die Ordnung eines „Staatsendes“, welches der todesbedrohte oder gar -geweihte Staat als solches nicht (mehr) regeln kann. Eine letzte Vergleichbarkeit von Mensch und Staat, gerade in der Demokratie201, über die Beendigung von Rechtssubjektivitäten, ist also selbst hier noch (anzu)erkennen. Dies verleiht einer verfassungsrechtlichen Todesordnung zumindest rechtlich-normative Hintergrundbedeutung auch für jene „Person Staat“, die damit nicht zum generell andersartigen Übermenschen wird. Ihr im Letzten eben doch „menschliches Gesicht“ bleibt, vielfachen Forderungen der Gegenwart entsprechend, auch darin noch sichtbar, dass der Staat selbst im Angesicht (s)eines Endes, eben kein „Ganz Anderer“ ist gegenüber dem Menschen, wie der Schöpfergott in der Vision Karl Barths. Selbst, gerade in seinem (möglichen) Ende bleibt er ein „Humanum“, das der Mensch, seit der Antike, ebenso denken und abbilden darf wie sich selbst – auch Tod ist eben „Nichts ihm Fremdes“ (Terenz).

VII. Schlussergebnis: Grundlinien einer verfassungsrechtlichen Todesordnung Zu folgenden grundsätzlichen Ergebnissen und Vorschlägen haben diese Betrachtungen vor allem hingeführt: 1. Eine rechtliche Ordnung von Fragen um das menschliche Sterben ist erforderlich und drängend. Sie muss sich mit Eintritt, Ursachen, Vermeidung und Folgen

201

S. Leisner, Personalismus, FN 13, S. 60 f.

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D. Ausblick: Das Staatsrecht im Angesicht des Todes

dieses faktischen Ereignisses befassen, vor allem zu Fragen, die hier bereits bisher aufgetreten sind. 2. Eine solche Ordnung hat zumindest Lösungslinien, Lösungsansätze zu regeln, aus welchen sodann Einzelbestimmungen gewonnen werden können. Dies verlangt eine gewisse systematische Geschlossenheit, aus der heraus, in vorsichtiger Entwicklung, deduziert werden kann. 3. Grundlagen eines solchen Systems müssen sich im Verfassungsrecht finden; sie dürfen nicht nur disparat über die Rechtsordnung verstreut, auf allen möglichen normativen Stufen geregelt sein. Eine einheitliche inhaltliche Wertigkeitsbestimmung des Todes muss in dieser Ordnung beurteilungsmäßig zum Ausdruck kommen. 4. Eine derartige Todesordnung kann auch, sollte vielleicht gar zunächst in Grundsatzentscheidungen der Verfassungsgerichtsbarkeit fassbar werden, aus ihnen heraus dann aber systematisch in Gesetzgebung entwickelt werden. 5. Inhaltlich sollte Folgendes vor allem Regelungsgegenstand einer solchen Ordnung des Todes sein: a) Verbot und Verhinderung eines Todeseintritts durch Verhalten, Anordnung, rechtswidrige Duldung seitens von Staatsorganen und Rechtsgenossen. b) Garantie eines Rechts jedes Menschen auf Freiheit zum Sterben, solange in seiner Person die erforderliche volle Selbstbestimmung gesichert ist. c) Verpflichtung jedes Einzelnen wie der Gemeinschaft, alles Erforderliche und Verhältnismäßige zur Vermeidung des Sterbens der Menschen zu unternehmen, unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen. d) Rechtliche Gewährleistungen einer Position des Arztes als letzter Entscheidungsinstanz über menschliches Leben, bei Unmöglichkeit einer Selbstbestimmung darüber (b), in medizinischen Ausbildungsordnungen, Berufsordnungen, Kontrollen, welche dies sicherstellen. 6. Allerletzte Entscheidungsinstanz über Leben und Tod bleibt, in jedem Fall, allein der unabhängige Richter nach der Ordnung des Grundgesetzes. Ihm müssen die notwendigen Entscheidungskriterien zur Verfügung stehen, in verfassungsrechtlich erforderlicher Klarheit, in der Rechtsstaatlichkeit genügenden Formen.

Schlusswort: Stirb und Werde! Das Verfassungsrecht ist eine Ordnung für Lebende, nicht für Tote. Seine Imperiale Rechtsmacht ordnet nicht ein Reich der Toten. „Stirb und Werde!“ – Werden aus Sterben – das steht nicht über seinen Eingängen, nicht in seinen Präambeln. Wege und Hoffnungen dahin überlässt das Staatsrecht den Weltanschauungen und Religionen, deren Freiheit es sichert, deren kirchliches Recht es rezipiert, auch in seiner staatlichen Todesordnung. Diese außerstaatlichen Instanzen und Mächte wollen nicht nur den Tod (zu) überwinden (vorgeben oder lehren), sie leben ja geradezu weithin aus menschlicher Überzeugung, dass neues, höheres, besseres – oder furchtbar strafendes Leben sich gerade (erst) aus dem Tode heraus entfaltet. Dem Staatsrecht sind solche Türen verschlossen: Über seinen Toren steht zum Tod nur Dantes Lasciate ogni speranza – und dieses in einem vollen, endgültigen Sinn. „Das Licht, wann löscht es aus? Wann wird es Nacht im Haus?“ (Richard Wagner, Tristan, 3. Akt). Das Staatsrecht löscht die Lichter – aber doch so, dass nichts verbrennt. Dass auch dieser Staat, dass alle Bürger Walhalls verbrennen – könnten – an dieses, „An das Ende denkt Alberich“ im Weltuntergang, nicht das Recht, das ewig Weiterlebende.

Sachwortverzeichnis Abschreckung 55, 78 f., 92 f. Abwägung 75 f. Aktivbürger 24 Andenken Verstorbener 101 f. – Schutz Aristokratie 17 – Würde 35 f. Asyl 51 „Atomtod“ 80 f. Ausbildungsordnungen – für Ärzte, Juristen 87 Autorität – Abbau 47 f. Bindungswirkung, rechtliche – Wegfall durch Tod 102 f. Demokratie 36, 58 ff., 67, 118 und passim – Abwägung 75 f. – in Kontinuität 103 f. – Staatsform 5 – Sterben in der – und Todesstrafe 78 – Volkssouveränität 18, 29 Denkmalschutz 48, 101 Ehre – Schutz 38, 101 f. Eigentum 107 ff. Entwicklungshilfe 51, 98 Erbrecht 34, 45 f., 48 f., 56, 64, 68 f. – Testierfreiheit 107 f. – als Todesfolge 106 ff. – Verwandtenerbrecht 107 f. Erbschaftsteuer 48 – als Todesfolge 108 f. Existenzsicherung 50 – Existenzminimum 96 f. Fakten 28 – und Recht 45 f., 116

Familie 108 Familienangehörige 83 Freiheit 52 ff. – und Gleichheit 67 – zum Selbstmord 24 Geburt 13 Gefahr – Atomgefahr 81 – Gefahrenabwehr 20, 98 – Selbstmord 86 – Tod als Gefahr 18 ff. – Todesgefahr 92 – Wahrscheinlichkeit 22 Generationengleichheit 20 Gesundheit 21, 24, 31 f., 34, 46, 50 – Gesundheitsschutz, allgemeiner 94 Glaubensfreiheit 53, 63 ff., 69 – und Staatslegitimation 64 f. Gleichheit 24 f., 29, 38, 41 f., 43 ff. – Differenzierungen 45 f. – Existenzsicherung 96 f. – und Freiheit 67 – Geschlechtergleichheit 46 – und Sozialstaatlichkeit 50 f. – Umverteilung 51 – in der Zeit 48 Induktion 53 f. Integrität – Recht auf körperliche Integrität 50 Körperliche Unversehrtheit 93 f. Konfliktvermeidung 98 Kontinuität 103 ff. Krieg(sdienst) 76 Kriegsdienstverweigerung 98 Kriegsrecht 40 Leben 19 f., 79 f., 90 f., 112 ff. – Abwägung 73, 75

Sachwortverzeichnis – Lebenserwartung 19 f. – Lebensschutz 19, 22 f., 80 f., 90 f. – Recht auf Leben 49 ff., 70, 93 f. Leichnam 69, 100 f. Macht 5, 13 – Würde als 36 Majestät – des Todes 37 f., 102, 113 Medizin – Ärzte und Tod 87, 116 f. – Rückgriff auf 13 ff., 21, 46, 70 f. – Sterbehilfe; Palliativmedizin 89 f., 82 ff. Mehrheit 59 Menschenwürde 36 ff., 66 – s. auch Aristokratie, Würde Migration(en) 17, 29, 59 f. Militärische Befehle 75 Monarchie 17 f. Nation(alstaat) 59 f. Öffentliche Sicherheit und Ordnung 20, 28, 74, 81 – und Selbstmord 86 Palliativ-Medizin 82 ff., 89 f., 117 Pietät 39 f. Rechtgeltung – Ende im Tod 104 f. Rechtsstaatlichkeit 62, 66, 79, 107 – Bestimmtheit, Endlichkeit 115 Religion 53, 63 ff., 67 – Religionsfreiheit 63 ff. – Selbstmord 85 – Staatsreligion 65 f. Richter – und Tod 117 Sachen 41 f. Schwangerschaftsabbruch, -verhütung 57, 90 f. Selbstmord 24, 55 ff., 84 ff. – Einsichtsfähigkeit 85 f. – Freiheit zur Selbsttötung 84 f. – „Soziale Gründe“ 96 f. Sicherheit

– des Todes 13 ff. – eines Todeseintritts 15 Sokratische Philosophie 17 Solidarität 5 – und Todesvermeidung 95 ff. Sozialstaat(lichkeit) 50 f. Staat – „Sterben des Staates“ 91 f. Staatsbegräbnis 26 Staatskirchenrecht – und Tod 63 ff. Sterbehilfe 87 f. – s. auch Tötung auf Verlangen Strafrecht – Abschreckung 92 f. Suizid s. Selbstmord Tier(schutz) – Würde des Tieres 41 Tod, passim – Eintritt 69 ff., 81 – Majestät 37 f. – Sicherheit 13 ff. – „des Staates“ 118 f. – Wahrscheinlichkeit 20 f. Todesbefehl 21, 54 f., 74 ff. Todeshilfe 81 ff. Todesordnung 111 ff. und passim Todesschuss 21, 54, 73 f. Todesstrafe 20, 77 ff. – Missbrauch 77 f. – Rechtfertigung 78 f. Todesverfügung 88 Tötung auf Verlangen 88 – s. auch Sterbehilfe Tradition 29, 36, 48, 61 Transpersonalismus 16 ff. – und Personalismus 17 f. Überstaatliches Recht 97 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit – und Todesordnung 113 f. Vergewaltigung 90 Verhältnismäßigkeit 22, 73, 89 Versicherungsrecht 19 Volk 58 ff.

123

124 Volkssouverän(ität) 58 ff., 62, 115 Vorbild 15 Wert 24 ff. – des Lebens 23, 49 f. – quantitativ 23 – Verfassungswerte 32 ff.

Sachwortverzeichnis Wohlbefinden – kein Schutz 95 Würde 35 ff. – und Autorität 47 Zwangsernährung/-behandlung 87