transmortale: Sterben, Tod und Trauer in der neueren Forschung
 9783412502706, 9783412501303

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Kasseler Studien zur Sepulkralkultur herausgegeben von
 Prof. Dr. Reiner Sörries,
Zentralinstitut für Sepulkralkultur unter Mitwirkung des Beirats für Grundlagenforschung
 der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. Professor Dr. Norbert Fischer · Dr. Anna-Maria Götz Stephan Hadraschek · Dr. Barbara Happe Dr. Barbara Leisner · Claus Peter Müller Dr. Jane Redlin · Dr. Thomas Schnalke Dr. Gerhard Seib · Dr. Andreas Ströbl

Band 22 Die Schriftenreihe erscheint in wechselnden Verlagen

Gefördert von: Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Kassel documenta Stadt, Evangelische Kirche in Deutschland, Deutsche Bischofskonferenz

Die Schriftenreihe erscheint in wechselnden Verlagen

Moritz Buchner ·  Anna-Maria Götz

transmortale Sterben, Tod und Trauer in der neueren Forschung

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN



Die vorliegende Publikation wurde ermöglicht durch die finanzielle U ­ nterstützung der FUNUS Stiftung Halle(Saale) und des Museums für Sepulkralkultur in Kassel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: oben links: Die tödliche Vorhangschnur, Szene aus: Final Destination 4, USA 2009, DVD: Warner Bros. Entertainment Inc.; oben rechts: Familiengrab Brede/Müller (1918), Friedhof Ohlsdorf, Hamburg, Bildrechte: Anna-Maria Götz; unten links: Gedenkkreuz auf dem Hauptfriedhof in Braunschweig, Bildrechte: Antje Mickan; unten rechts: Trauerfeier für Guido Visconti di Modrone, Mailand 1902, Bildrechte: Università Cattolica del Sacro Cuore © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978–3-412–50130–3

Inhalt

MORITZ BUCHNER UND ANNA-MARIA GÖTZ

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 ORTE FÜR TOTE ANNA-LIVIA PFEIFFER

Asche und Utopie Vom ‚vergläserten‘ Toten und den „Totenstädten der Zukunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 DOMINIK GERD SIEBER

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs Eine spezifische Form konfessioneller Sepulkralarchitektur der Frühen Neuzeit? . . . . . . . . . . . . 28 EVA MIEDER

Necrologium Vitae Digitale Räume zur Reintegration des „be-greifbaren Todes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

UMGANG MIT DEM TOD STEPHAN HADRASCHEK

Tod in der Metropole Zur Geschichte des Bestattungswesens in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 HELÉNA TÓTH

Leben und Tod im Kommunismus Namensweihen und Begräbnisse in der DDR und in Ungarn (1949–1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 ANTJE KAHL

Das Unternehmen Bestattung Der Tod als Vermarktungsobjekt und die veränderte Rolle des toten Körpers . . . . . . . . . . . . . . . 91 SOPHIA SIEBERT

Leben am Verbrennungsplatz Die Doms – Verbrennungsmeister in Shivas heiliger Stadt Benares . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

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Inhalt

GEFÜHLE ZU TOD UND STERBEN MORITZ BUCHNER

Dosierte Gefühle Überlegungen zur Trauerkultur im bürgerlichen Italien (1860–1910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 INGA SCHAUB

Trauer – Eine Krankheit? Gefühlsnormen der Trauer im DSM-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 ANTJE MICKAN

„Ich will untern grünen Rasen“ Bestattungen setzen Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

VOR-/DARSTELLUNGEN VOM TOD ANNA-MARIA GÖTZ

Projektionen des Diesseits Friedhof, Tod und Weiblichkeit in Europa um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 MARIAMA DIAGNE

Atem Holen Szenen vom ‚Ende des Lebens‘ im Tanztheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 JOHANNES WENDE

Die verweigerte Todespersonifikation in den Filmen der Final-Destination-Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 GERARDO SCHEIGE

Klangliche Übergänge Zu Todesstimmungen in der Neuen Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

NORBERT FISCHER UND REINER SÖRRIES

Nachwort: Der neue Blick auf Sterben, Tod und Trauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

MORITZ BUCHNER UND ANNA-MARIA GÖTZ

Vorwort Unter dem Titel transmortale fand erstmalig im Februar 2010 ein Workshop am Historischen Seminar der Universität Hamburg statt. Inzwischen ist daraus eine jährliche Tagungsreihe entstanden, die in Kooperation mit dem Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur in Kassel weiterhin fortläuft. Während sich in den 2000er Jahren der Forschungskomplex Sterben, Tod und Trauer langsam in verschiedenen Disziplinen zu etablieren begann, fehlte im Vergleich zu anderen Themenschwerpunkten eine fächerübergreifende Plattform bzw. ein Netzwerk. Das Forschungsinteresse am Tod und den Toten hatte zwar in der Wissenschaftslandschaft allmählich den Anstrich des Gothic-Depressions-Kuriosums verloren, dennoch tauchte dieser Forschungsschwerpunkt nur spärlich in überregionalen Arbeitsgruppen oder institutionalisierten Forschungsgruppen auf. Der fehlende Austausch über neue, noch unveröffentlichte Forschungsprojekte motivierte uns, selbst tätig zu werden. Der vorliegende Band versammelt eine Auswahl an Beiträgen, die auf Vorträge aus den transmortale-Jahrgängen 2010–2014 zurückgehen. Immer wieder wurde vom Publikum der Wunsch geäußert, einen Tagungsband zu publizieren, um einzelne Beiträge und Forschungsergebnisse festzuhalten. Die Grundidee der transmortale war (und ist) zunächst der Austausch. Ihr Anliegen ist es einerseits, die vielseitigen und vielschichtigen Forschungsansätze zur thematischen Trias Sterben, Tod und Trauer zu verbinden, andererseits der Wunsch, Forschende in einem disziplinübergreifenden Netzwerk zusammenzubringen. Wesentlich ist dabei vor allem die Öffnung für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wie Doktoranden und Postdocs, aber auch für Studierende in der Abschlussphase und andere interessierte Forschende. Dazu wird die Tagung alljährlich über einen Call for Papers ausgeschrieben und vom Organisationsteam – bestehend aus Norbert Fischer, Anna-Maria Götz, Jan Möllers, Moritz Buchner, Dagmar Kuhle, Stephan Hadraschek und Reiner Sörries – aus durchschnittlich ca. 50 Eingängen eine Auswahl von acht bis zwölf Beiträgen getroffen. Obwohl die meisten Eingänge aus den Geschichtswissenschaften und der Kunstgeschichte kommen, versuchen wir nach wie vor, ein möglichst breites Spektrum an Themen und Disziplinen abzudecken, um jungen Wissenschaftlern ein vielseitiges Podium zu bieten, auf dem sie auch unveröffentlichte Forschungsprojekte zur Diskussion stellen können. Diesem Prinzip folgt auch die Auswahl der 14 Artikel, die in diesem Band vereint sind.

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Moritz Buchner und Anna-Maria Götz

Zurück geht der Begriff „transmortale“ auf eine beiläufige Wortspielerei während der Vorbereitung des ersten Workshops von 2010. Er hatte in diesem Kontext allerdings wenig gemein mit dem Rechtsbegriff der transmortalen Vollmacht, sondern sollte lediglich den Gedanken der transdisziplinären Öffnung mit dem Themenkomplex Tod (lat. mors, mortis) verknüpfen. Obgleich sich über die Definitionen von Interdisziplinarität und Transdisziplinarität streiten lässt, lag uns der zweite Ansatz näher, weil er wissenschaftliche und praktische Bezüge einbezieht. Dies lag nahe, da sowohl das Organisationsteam als auch das Publikum der transmortale von Beginn an aus Berufspraktikern und Forschern bestand. Dies macht sie zu einem integrativ angelegten Forum, welches wissenschaftliches und praktisches Wissen verbindet. Gerade im Hinblick auf eine Problemstellung wie dem Umgang mit dem Tod, der für nahezu alle Lebens- und Wissensbereiche relevant ist, hat sich diese Herangehensweise als fruchtbar erwiesen. Neben der Verbindung von Praxis und Theorie entstand eine offene inhaltliche Debatte auch deshalb, weil die Referentinnen und Referenten stets aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen kamen. Seit der ersten transmortale im Jahr 2010 ist nicht nur der Titel geblieben, sondern eben auch dieselbe Bereitschaft seitens der Vortragenden und des Publikums, mit großer Offenheit neuere Fragestellungen verschiedener Disziplinen und ihren jeweils eigenen Termini, Methoden und Diskursen zu begegnen. Dabei hat möglicherweise gerade die Diskussion ganz basaler Begriffe und Zusammenhänge aus verschiedenen Perspektiven dazu geführt, dass sich inhaltliche Parallelen oder ähnliche handwerkliche Probleme über die Disziplinen hinweg gezeigt haben. Nicht zuletzt aufgrund der transdisziplinären Orientierung der transmortale konnten diese Dialoge weitgehend abseits der Zwänge institu­ tioneller und wissenschaftlicher Hierarchien stattfinden – ein Faktor, der dazu beigetragen hat, dass Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen mit Bezug zu den Themen Sterben, Tod und Trauer in einem informellen Netzwerk im Austausch geblieben sind. Im Hinblick auf den vorliegenden Band wäre es wünschenswert – oder auch hilfreich im Sinne einer Bedienungsanleitung, diese Offenheit für ein transdisziplinäres Potpourri an Beiträgen mitzubringen und sich beim Blick über den Tellerrand auch mal auf unbekanntes Terrain zu begeben. Auf dieser Grundlage bildet auch die Auswahl des vorliegenden Sammelbands die inhaltliche Vielfalt der transmortale ab. Er umfasst Beiträge aus Geschichte, Kunstgeschichte, Ethnologie, Volkskunde/Kulturanthropologie, Soziologie, Psychologie, Theologie, den Theaterwissenschaften, Filmwissenschaften, Musikwissenschaften sowie Medien- und Kulturwissenschaften. Um das Programm möglichst offen und breit gefächert aufzustellen, sind die bisherigen Tagungen bewusst ohne inhaltliche Schwerpunkte ausgekommen. Für das vorliegende Buch haben wir uns auf die gleiche Weise zunächst für die Auswahl der Beiträge ­entschieden, und erst dann über thematische Schwerpunkte versucht, die ein-

Vorwort

zelnen Artikel zu verklammern – ohne den Anspruch einer Chronologie oder einer Ordnung nach Fachdisziplinen. Den Auftakt macht der thematische Schwerpunkt „Orte für Tote“. Seit jeher schreiben sich auf Begräbnis- und Verbrennungsplätzen Visionen vom Tod oder auch die soziale Ordnung einer Gesellschaft in den Raum ein. Die Beiträge reichen von utopischen Konzepten monumentaler Urnenanlagen des 18. bis 20. Jahrhunderts (Anna-Livia Pfeiffer), über die Wechselwirkungen von Friedhofsverlegungen und konfessionellem Wandel auf den sogenannten Camposanto-Anlagen in der Frühen Neuzeit (Dominik Gerd Sieber), bis hin zu digitalen Räumen und sozialen Netzwerken (Eva Mieder). Zwar ist der folgende Themenschwerpunkt „Umgang mit dem Tod“ eng mit jenen Orten verbunden, an denen – wie im vorherigen Schwerpunkt – mit dem Tod umgegangen wird. Dennoch liegt hier der Fokus verstärkt auf den Kulturpraktiken rund um das Sterben, den Tod oder die Bestattung – vor allem auch unter Berücksichtigung der zeitspezifischen Bedingungen, Brüche oder Neuerungen. Dazu zählt die vielschichtige Genese des Bestattungswesens in Berlin (Stephan Hadraschek), Sterben und Tod im Kommunismus der DDR und in Ungarn (Heléna Tóth), zeitgenössische Veränderungen im Bestattungswesen und in der Bestattungsbranche (Antje Kahl), sowie das Leben der Doms an den Verbrennungsplätzen am Ganges (Sophia Siebert). Der Tod ist mit unzähligen Gefühlen verbunden – angesichts der eigenen Sterblichkeit und Endlichkeit, angesichts einer spezifischen Todesart, angesichts des Verlustes und Abschiedsschmerzes. Unter der inhaltlichen Klammer „Gefühle zu Tod und Sterben“ wird die Bandbreite von Gefühlen angedeutet, auch bezüglich der historischen Diskurse und wissenschaftlichen Theoreme, die sie tangieren. Einblicke bietet die historische Perspektive auf Trauerkulturen des italienischen Bürgertums im späten 19. Jahrhundert (Moritz Buchner), mit kulturwissenschaftlich-psychologischem Fokus die Frage danach, wie sich Trauer als Stufenmodell messen lässt und ab wann sie als krankhaft gilt (Inga Schaub), und aus dem Bereich der praktischen Theologie eine Untersuchung von Bestattungswünschen älterer Menschen (Antje Mickan). Die Tatsache, dass empirisch belegbare Aussagen über Tod und Jenseits nur schwer zu treffen sind, hat immer wieder die Künste auf den Plan gerufen. Kunstproduktion vermag es, sich dem, was sich unseren Vorstellungen entzieht, über Darstellungen anzunähern – der Sinn des Todes im Leben bzw. die Sinnstiftung des Lebens durch den Tod wird in den Künsten vielgestaltig ausgelotet und lässt sich unter dem Paradigma „Vor-/Darstellungen vom Tod“ skizzieren. So zeigt sich die Grabmalkunst um 1900 als eine Projektionsfläche von Sehnsüchten rund um den Tod und die Trauer (Anna-Maria Götz), während ausgewählte Werke aus der Tanzgeschichte von Valeska Gert, Kurt Jooss und Pina Bausch das Spannungsverhältnis zwischen bewegtem Körper und dem Ende des Lebens veranschaulichen (Mariama Diagne). Eine besondere Form nimmt die

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Todesdarstellung in der Filmreihe Final Destination an: Die Personifikation des Todes wird hier dargestellt, indem sie nicht sichtbar gemacht wird (Johannes Wende). Eine weitere Perspektive eröffnet die Frage danach, wie Sterben, Tod und Verlust in der Neuen Musik kompositorisch reflektiert und umgesetzt werden (Gerardo Scheige). Unser Dank für das Zustandekommen dieses Buches gilt der Funus-Stiftung und dem Museum für Sepulkralkultur für ihre großzügige finanzielle Unterstützung sowie dem Böhlau-Verlag. Unverzichtbar war außerdem die unermüdliche redaktionelle Mitarbeit von Norbert Fischer, Stephan Hadraschek, Dagmar Kuhle und Jan Möllers. Darüber hinaus danken wir Norbert Fischer und Reiner Sörries für das Verfassen des Nachworts, allen Interessierten und Teilnehmenden für Themenvorschläge, Vorträge und Diskussionsbeiträge, vor allem aber den Autorinnen und Autoren für ihre Texte und die produktive Zusammenarbeit. Berlin und Bonn, Januar 2016

Moritz Buchner und Anna-Maria Götz

ANNA-LIVIA PFEIFFER

Asche und Utopie Vom ‚vergläserten‘ Toten und den „Totenstädten der Zukunft“ Utopien oder Idealentwürfe wurden vorgelegt, wenn Missstände im urbanen und politischen Kontext wahrgenommen wurden.1 Auch im Bereich des Bestattungswesens wurden immer wieder visionäre Beisetzmodi und neue Bestattungsriten vorgeschlagen, die mit den tradierten Funeralmethoden brechen und somit eine Verbesserung der Lebensumstände für die Menschen bieten wollten. Gerade die Feuerbestattung, die seit dem Edikt von Paderborn im Jahre 785 von Karl dem Großen unter Todesstrafe gestellt worden war, hatte man seit dem 17. Jahrhundert immer wieder, u.a. zur Eindämmung von Seuchen, erwogen.2 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es schließlich zu grundlegenden Reformen, die bis zum heutigen Tage das Bild der Sepulkralkultur prägen. So war eine Folge die Schließung der innerstädtischen Friedhöfe und der Erlass, diese nur außerhalb der Stadtgrenzen zu errichten, sowie die Anhebung der Ruhefrist3 und das Verbot von Massengräbern. Auch die Wiedereinführung der Feuerbestattung wurde in dieser Zeit diskutiert; realisierbare Umsetzungsmöglichkeiten wurden unterbreitet. Gründe für diese Reformen waren der enorme Bevölkerungsanstieg, die damit verbundene Expansion der Städte und vor allem neue Erkenntnisse im hygienisch-medizinischen Bereich.4 Das Bewusstsein für diese hygienischen 1

Bei diesem Aufsatz handelt es sich um Auszüge eines Kapitels meiner Dissertationsschrift, die 2015 unter dem Titel „Das Ewige im Flüchtigen. Eine Bau- und Zivilisationsgeschichte der Feuerbestattung in der Moderne“ bei Königshausen & Neumann erschienen ist. Zudem wurden die hier dargestellten Beisetzstätten bereits im Vortrag „Asche und Utopie. Monumentale Urnenanlagen des 18. und 20. Jahrhunderts“ auf der transmortale II (2011) vorgestellt, der in gekürzter Form in der Zeitschrift „Friedhof und Denkmal. Zeitschrift für Sepulkralkultur“, 56. Jg., Nr. 3 (2011), S. 11–17, abgedruckt wurde. 2 Hier soll nicht auf die Entwicklungsgeschichte der Wiedereinführung der Feuerbestattung eingegangen werden. Siehe dazu eine kleine Auswahl von Publikationen zum Thema mit weiterführender Literatur: Hans-Kurt Boehlke, Die Feuerbestattung in kulturhistorischer Perspektive. Reinigende, heilige Flamme oder ökonomische Leichenverbrennung?, in: Friedhof und Denkmal, 33. Jg., Nr. 5/6 (1988), S. 82–105; Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1996; ders., Zwischen Trauer und Technik: Feuerbestattung – Krematorium – Flamarium. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2002; Henning Winter, Die Architektur der Krematorien im Deutschen Reich 1878–1918, zgl. Diss. Tech. Univ. Berlin, Dettelbach 2001. 3 Nicht von ungefähr wurden diese Leichenäcker in Frankreich nun champs de repos genannt. 4 Siehe u.a. Barbara Happe, Ordnung und Hygiene. Friedhöfe in der Aufklärung und die Kommunalisierung des Friedhofswesens, in: Raum für Tote, Geschichte der Friedhöfe

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‚Gefahrenquellen‘ erfolgte aus einer sich verbreitenden ‚Geruchssensibilisierung‘,5 einer regelrechten Hysterie gegenüber gefährlichen, gesundheitsschädlichen Gerüchen und Dünsten.6 1765 wurden in Frankreich drei architekturtheoretische Schriften veröffentlicht, die sich mit der Gestaltung von Friedhöfen befassten. Alle drei Autoren, Pierre Patte, Marie-Joseph Peyre und Marc-Antoine Laugier, forderten, dass die Friedhöfe außerhalb der Stadt liegen und großflächig angelegt sein sollten.7 Eine hohe Umfassungsmauer sollte sie umgeben, damit keinerlei schädliche Ausdünstung nach außen dringen konnte. Sie wären konzentrisch anzulegen, um die zu errichtenden Ehrengräber mit all ihren hierarchischen Abstufungen aufstellen zu können. Man empfahl, das Pantheon in Rom und die ägyptische Pyramide als geeignete Formen für die Sepulkralarchitektur zu rezipieren.8 Die architektonische Umsetzung dieser Forderungen erfolgte Ende des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Entwürfen von Friedhöfen, häufig in einer Kombination der ‚Idealbauten‘ Pyramide und Pantheon, wobei der Außenbau als Pyramide, der Innenraum als Rotunde projektiert wurde. 1799 wurde der ehemalige Verwalter des Seine-Departments, Jacques Cambry, von der Zentralverwaltung beauftragt, die Verhältnisse auf den Pariser Friedhöfen zu prüfen und neue Lösungen im Bereich des Bestattungswesens vorzulegen. In diesem Bericht mit dem Titel Rapport sur les Sépultures9 erwähnte Cambry auch die Feuerbestattung und favorisierte sie gegenüber der Erdbestattung. Das Institut de France10 reagierte auf Cambrys Bericht mit der Berufung einer Bestattungs- und Friedhofskommission und einem Preisausschreiben mit der

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von den Gräberstraßen bis zur anonymen Bestattung, Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel (Hg.), Braunschweig 2003, S. 83–110; Fischer 1996, S. 12–20. „Gute Gerüche“ wurden in die Konzeption der Friedhofsanlagen in der vor- und nachrevolutionären Zeit in Paris oftmals eingebunden. Siehe Anm. 12. Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, [Paris 1982] Berlin 1984. Pierre Patte, Monuments érigés en France à la gloire de Louis XV, Paris 1765; MarieJoseph Peyre, Œuvre d’architecture, Paris 1765; Marc-Antoine Laugier, Observations sur l’architecture, Paris 1765. Bereits 1768 wurde Laugiers Schrift ins Deutsche übersetzt: Vgl. Des Abts Laugier neue Anmerkungen über die Baukunst, Leipzig 1768. Ganz bewusst wurden architektonische Vorbilder gewählt, die nicht christlich konnotiert waren. Jacques Cambry, Rapport sur les Sépultures, Paris An VII (1798/1799). Das Stichwerk findet sich in der Bibliothèque Nationale, Paris. Das Institut de France wurde 1795 gegründet und versammelte unter einem Dach die verschiedenen französischen Akademien, die meist im 17. Jahrhundert etabliert worden waren. Vgl. Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, [Cambridge 1940] München 1986, S. 92–118, bes. S. 106–108; Donald Drew Egbert, The Beaux-Arts Tradition in French Architecture, Princeton, N.J. 1980, S. 11–35.

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Fragestellung: Welche Zeremonien müssen beim Leichenbegängnis vollzogen und welche Regelung muss für den Ort der Grabstätten getroffen werden? Ziel war es aber nicht nur, das Bestattungswesen grundlegend zu verändern, sondern zugleich mit den bisherigen, christlich geprägten Trauerritualen zu brechen. Die Teilnehmer des Wettbewerbs hatten in ihren Entwürfen ebenso Leichen- und Abschiedshallen, die Bestattungsplätze und Gräber selbst, als auch Zeremonien „mit einer weltlichen Handlung, [bei welchen nichts] auch nur entfernt an irgendeine Religion erinnert“, zu berücksichtigen.11 Zahlreiche Beiträge gingen ein; etwa ein Drittel davon thematisierte die Feuerbestattung.12 Auch Jacques Cambry fügte seinem Rapport den Entwurf eines champ de repos (Ruhefeld) aus der Hand des Architekten Jacques Molinos bei.13 Die Projektierung sah ein 10 Hektar großes, erhöhtes Gelände auf dem Montmarte vor, in dessen Mittelpunkt eine Pyramide mit einem Dreifuß an der Spitze stand, in dem fortdauernd wohlriechende Kräuter verbrannt werden sollten.14 Der pyramidale Baukörper diente einerseits zur Aufstellung der Urnen verdienter Männer, andererseits waren dort vier Verbrennungsöfen im Untergeschoss verborgen.15 In der Umfassungsmauer der Friedhofsanlage waren weitere Urnenbeisetzstätten vorgesehen. Für Erdbegräbnisse sollten auf den kreisförmigen, im Stile eines englischen Landschaftsparks angelegten Terrains Gräben ausgehoben und darin jeweils zwei Särge übereinander bestattet werden. Die Errichtung monumentaler Grabbauten war darüber hinaus auf dem parkähnlichen Friedhof gestattet. Dem Ausschreibungstext des Wettbewerbs des Institut de France folgend hatte Molinos vier Leichenhallen an den Ausfallstraßen der Stadt angelegt, denn seit 11

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Vgl. Christian und Elke Harten, Die Versöhnung mit der Natur. Gärten, Freiheitsbäume, republikanische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 205. Vgl. Friedrich Goppelsroeder, Ueber Feuerbestattung, Mühlhausen i. E. 1890, S. 21; Emil Beutinger, Handbuch der Feuerbestattung und ihre geschichtliche Entwicklung von der Urzeit bis zur Gegenwart. Technische und künstlerische Anforderungen an neuzeitliche Krematorien und die damit zusammenhängenden Anlagen, Leipzig 1911, S. 54; Douglas J. Davis/Lewis H. Mates (Hg.), Encyclopedia of Cremation, Aldershot, Burlington, VT 2005, S. 315. Abgebildet u.a. bei Werner Oechslin, Die „elysischen Gefilde“. Eine Friedhofsidee um 1800, in: Daidalos, Nr. 38 (1990), S. 32–43, S. 37, S. 40–41. Man glaubte, das Verbrennen von Kräutern und Parfums habe eine desinfizierende Wirkung. Schon in früheren Friedhofsentwürfen aus den 1760er Jahren, die ausschließlich der Erdbestattung gewidmet waren, wurden Dreifüße zur Verbrennung von duftenden Essenzen projektiert. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurde bei der Konzeption von Feuerbestattungsanlagen eine „Verschleierungstaktik“ angewandt und somit die Tabuisierung des Todes eingeleitet, die bis heute in vielen Krematoriumsbauten ausgeübt wird (z.B. im Krematorium am Baumschulenweg in Berlin von Charlotte Frank und Axel Schultes).

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der Französischen Revolution mussten Leichname unmittelbar nach Eintritt des Todes aus hygienischen Gründen in ein Leichendepot gebracht werden.16 Cambry schloss in seinem Text explizit ein Betreiben der Einäscherungsöfen mit Holz aus und setzte stattdessen auf die zukünftigen „Erkenntnisse der modernen Chemie“.17 Schon deshalb musste sein Projekt vorerst „Utopie“ bleiben.

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Pierre Marin Giraud, Ruhefeld für die Champs-Elysées, Butte-Chaumont oder den Montmartre, perspektivische Ansicht, 1801

Ein anderer Pariser Architekt, Pierre Marin Giraud, legte im gleichen Jahr einen radikalen Entwurf für ein Krematorium vor.18 Sein Vorschlag war es, „ein einzigartiges, fast unzerstörbares Denkmal“19 anzulegen, womit Giraud seinen Entwurf in die Folge der antiken Bauwerke wie z.B. die Pyramide, die Zikkurat oder die Tempel der Griechen und Römer, die Jahrtausende überdauert hatten, stellte.

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Harten, Versöhnung, S. 193. Cambry zitiert nach Oechslin, Die „elysischen Gefilde“, S. 40. 18 Pierre Marin Giraud, Les Tombeaux ou Essai sur les Sépultures, Seconde Edition, Paris IX (1801). Die Zeichnungen befinden sich in der Bibliothèque Nationale, Paris. 19 Ebd., zitiert nach Oechslin, Die „elysischen Gefilde“, S. 34. Seiner Publikation fügte Giraud eine notariell beglaubigte Versicherung bei, wonach er die Schrift bereits 1786 verfasst und 1799 bereits in einer Erstausgabe veröffentlicht habe. Er warf also Cambry und Molinos vor, seine Idee plagiiert zu haben. Die Neuauflage aus dem Jahr 1801 wurde geringfügig überarbeitet und ergänzt. 17

Asche und Utopie

Auch in Girauds Entwurf war das Zentrum des relativ kleinen Geländes (65 m Durchmesser) von einer Pyramidenarchitektur bestimmt, die eine ‚Verbrennungsanlage’ aufnehmen sollte. Indessen waren Girauds Vorschläge zur ‚Verbrennungstechnik’ bereits sehr konkret: So schlug er vor, aus den Knochen der Verstorbenen Glas herzustellen, woraus er die Bauglieder der Anlage formen wollte.20 Wie das Vitrifications-Verfahren vonstatten gehen sollte, formulierte Giraud wie folgt: Im Untergeschoß soll ein Ofen aufgebaut werden, darüber vier Kessel, in denen jeweils 1, 2, 3, und 4 Leichname in einer ätzenden Seifenlauge eingelegt werden können, welche, wie man weiß, die Knochen vom Fleisch und vom Fett trennt. Die Körperreste werden sodann zu Gelee reduziert und verbrannt. Man bestattet sie hinter dem die Person darstellenden Medaillon. Sie können auch der Glasmasse für die Säulen beigefügt werden.21

Dass diese Methode durchaus durchführbar war, bekräftigte Giraud, indem er seinem Entwurf drei „Nachweistexte“ beigab, die die Transformation von Knochen in eine gläserne Substanz zuvor behandelt hatten. Es handelte sich um Johann Joachim Bechers Schrift Physica subterranea (1669), die Giraud in Auszügen publiziert hatte; weiterhin um den Text Procédé pour faire une bonne lessive, dite des savonniers, propre à dissoudre les chairs humains von einem unbekannten Autor (undatiert), und schließlich um die Schrift des Direktors der Glashütte Müntzthal Dartigues L’Art de vitrifier les ossements humains (17. vendémiaire IX/8. Oktober 1800). Mit der Vitrifikation erhoffte sich Giraud, aus den Leichen aller Pariser Verstorbenen einen reinlichen ‚Rohstoff ‘ zu gewinnen, aus dem man zum einen das ‚Baumaterial‘ (Säulen) der Gesamtanlagenlage, als auch ein ganz persönliches, individuelles Erinnerungszeichen an den Verstorbenen (Medaillons) schaffen könnte.22 Mit der Proklamation der Ersten Republik von 1792 in Frankreich war auch eine „Republikanisierung“ des Todes einhergegangen: Individuelle Grabmäler sollten einem egalitär gestalteten „Ruhefeld“ weichen, auf welchem jeder Bei 2 0

Ende des 19. Jahrhunderts spielte in der Diskussion der deutschen Feuerbestattungsanhänger und -gegner die Nutzung von Asche/Leichnamen immer wieder eine Rolle, so bei Moleschott, der, wie zahlreiche seiner Anhänger, die Steigerung der Bodenfruchtbarkeit durch die Zuführung von Aschenresten mit den darin erhaltenen Stoffen Ammoniak und Kohlensäure vertrat. Vgl. Jakob Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, 2 Bände, Bd. 2, 5. verm. und gänzl. umgearb. Aufl., Gießen 1887, S. 559f. Vor dem heutigen Wissen um die Verwertung von menschlicher Haut und Talg als Lampenschirme und Seife durch die Nationalsozialisten stößt die naturwissenschaftliche ‚Erkenntnis‘ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bitter auf. Heute wird aus dem Aschenrest des Verstorbenen ein ‚Diamant‘ gepresst: man möchte etwas Bleibendes des geliebten Menschen bei sich behalten. 21 Giraud, zitiert nach Oechslin, Die „elysischen Gefilde“, S. 43. 2 2 Vgl. Philippe Ariès, Geschichte des Todes, [Paris 1978] 2. Aufl., München 1982, S. 656f.

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setzort gleich beschaffen war.23 Aber gerade die toten Ahnen wurden als ein Quell der Jugend- und Moralerziehung betrachtet. Immer wieder wurde daher von Mitgliedern des Rats der Fünfhundert gefordert, individuelle Grabmale zu gestatten. Girauds „zweifache“ Transformation des Verstorbenen in ein gläsernes Architekturglied einerseits und ein persönliches Memorialzeichen – „sowohl Porträt als auch identische Substanz“24 – andererseits, geht auf höchst originelle Weise auf das Dilemma dieser jungen nach Egalität strebenden Gesellschaft ein.25 Der außergewöhnliche Entwurf Girauds wurde erst 1908 in einem der meistgelesenen Organe der Feuerbestattungsvereine deutscher Sprache, der Zeitschrift Phoenix (Wien), einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.26 Daher nimmt es nicht wunder, dass die ersten Erbauer „moderner“ Feuerbestattungsanlagen in den 1870er Jahren daran nicht anknüpften. Stattdessen zeigte sich ein zaghaftes Herantasten an den neuen Bautyp Krematorium, aber auch an das Kolumbarium als Ort der Urnenbestattung. In der Kategorie kolossaler Architektur musste zu Beginn der Feuerbestattungsbewegung noch nicht gedacht werden. Hätten die Architekten und Städtebauer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Girauds Entwurf aufgegriffen, dann wäre eine Forderung der Feuerbestattungsbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts unmittelbar erfüllt worden: Das Diktum der extremen Platzersparnis auf den Friedhöfen.27 Erst Anfang des 20. Jahrhunderts und womöglich bedingt durch die Publizierung der französischen Monumentalanlagen von Cambry/Molinos und Giraud, erwog man auch in Deutschland, für Hunderttausende von Urnen „Aschennekropolen“ zu entwerfen. So brach der ehemalige Geraer Stadtbaurat Adolf Marsch bei seinem Bau, in zwei Entwurfsversionen und einem Modell überliefert,28 nicht nur mit den üblichen Dimensionen der bis dato errichteten oder projektierten Feuerbestattungsanlagen, sondern er löste sich zudem von der Reform des außerstädtischen Friedhofs und plante den Bau im Zentrum der Stadt. Die Anlage 2 3 24

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Vgl. Harten, Versöhnung, S. 191. Giraud, zitiert nach Ariès, Geschichte, S. 656. Cambry und Molinos hatten auf dieses Dilemma reagiert, indem sie auf ihrem „champ des repos“ auch das Errichten individueller Grabmonumente zuließen. Vgl. Burkhard Reber, Ein Krematorium zur Zeit der französischen Revolution, in: Phoenix, XXI. Jg., Nr. 3 (1908), Sp. 73–75. Reber stellt mit einer historischern Fokussierung auf das Thema die Möglichkeit der Wiedereinführung der Kremation zu Zeiten der Französischen Revolution vor. Allerdings unterlaufen Reber einige gravierender Fehler: Er zitiert Auszüge aus Cambrys Rapport und dessen Maßangaben und bebildert diese mit dem Entwurf Girauds. Hatten Cambry und Molinos noch 100.000 qm Fläche für ihren Zentralfriedhof in ­Paris ­benötigt, so sind es bei Giraud durch die ‚Vergläserung‘ der Leichname nur noch 3.000 qm. Die beiden Entwurfsversionen sind u.a. abgebildet bei Winter, Die Architektur der Krematorien, S. 106–109, das Modell wird abgedruckt in Pfeiffer, Das Ewige, S. 190.

Asche und Utopie

des Kremato-Kolumbarium System Marsch (1909/10)29 war vornehmlich auf zwei Hauptfunktionen reduziert: Das Einäschern und das Bestatten. Den Kern des denkmalhaften Turms bildete der Schornstein, um den sich das Kolumbarium vertikal erhob. Technik und Gedenken bildeten so eine architektonische Einheit. Bestimmend für die Grundrissdisposition aller Räumlichkeiten und Erschließungswege war der Schornstein. Dabei wurden sämtliche Mauern mit Urnennischen versehen; durch Wendeltreppen konnten die Hinterbliebenen zu den Beisetzungsstätten ihrer Verstorbenen gelangen. Um ein monotones Erscheinungsbild zu vermeiden, plante Marsch eine Kombination aus unterschiedlich großen Nischen, in welchen die Urnen teils präsentiert oder hinter einer Platte verschlossen wurden. Noch bevor Marsch 1912 seine beiden Entwurfsvarianten in der Zeitschrift Phoenix publizierte,30 stellte er sein „System“ auf der Hauptversammlung des Sächsischen Ingenieur- und Architektenvereins 1910 an der Technischen Hochschule in Dresden vor.31 Um den Aufbau und die Idee seines „Systems“ nachvollziehbar zu machen, präsentierte Marsch Abbildungen eines Modells, das konzeptuell und architektonisch nichts mit den 1912 vorgelegten Projektierungen zu tun hatte: Der Bau war für Hinterbliebene nicht zugänglich, hier fanden keine Trauerfeiern statt. Er diente ausschließlich als ‚Sammelstelle‘ von Ascheresten für die Ewigkeit. Zudem sollte das Kremato-Kolumbarium durchgehend betrieben werden. Täglich sollten hier bis zu 150 Leichname eingeäschert werden. Insgesamt bot das Kolumbarium Platz für 300.000 Aschenreste.32

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Allein der Name des Patents stellt die Gleichwertigkeit des Krematoriums und des Kolumbariums dar. Zeichnungen, Notizen und Detailpläne haben sich leider ebenso wenig erhalten wie die hier besprochenen Pläne, Ansichten und Abbildungen des Modells. Sie sind in den Zeitschriften Bauhütte und Die Flamme abgedruckt: Adolf Marsch, Neues über Krematoriumsanlagen, in: Die Flamme, XXVII. Jg., Nr. 440 (1910), S. 6259–6262; N.N., Kremato-Kolumbarium. Eine Zentral-Totenstätte auf beschränktem Raume, in: Deutsche Bauhütte, 17. Jg., Nr. 46 (1913), S. 608f. Erstmals wurde dieses ungewöhnliche Konzept von Henning Winter publiziert. Vgl. Henning Winter, Ein Kuriosum der sepulkralen Architekturgeschichte um die Jahrhundertwende: Das patentierte „Kremato-Kolumbarium System Marsch“ und seine architektonische Umsetzung in Gera, in: Vom Reichsausschuss zur Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kolloquium am 8. und 9. 11. 1996 veranstaltet vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Kassel 2002, S. 35–47. 3 0 Adolf Marsch, Lichtbildervortrag des Stadtbaurates a. D. Marsch (Gera), Wie soll ein modernes Krematorium beschaffen sein?, in: Phoenix, XXV. Jg., Nr. 10 (1912), Sp. 406–413. 31 Auszüge des Vortrags sind abgedruckt in: Marsch, Neues über Krematoriumsanlagen, S. 6259–6262. 3 2 Vgl. ebd., S. 6262.

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Albrecht Haupt, Gesamtansicht des Friedhofsgeländes

Den Ansatz der massenhaften Bestattung, nur um ein Vielfaches gesteigert, verfolgte auch der Entwurf des Architekten und Architekturhistorikers Albrecht Haupt, der unter dem Titel Totenstädte der Zukunft. Eine Nekropole für eine Million publiziert wurde.33 Dieser Text, 1911 herausgegeben, wurde im Duktus einer Propagandaschrift verfasst, denn die Feuerbestattung war in Preußen noch verboten.34 Haupts zentrale Architektur einer megalomanen Pyramide war als „Ewigkeitsbau“ innerhalb einer Parkanlage im Stadtzentrum konzipiert und sollte in zehn Stockwerken 100 m in die Höhe wachsen.35 Gleich einem Musterbuch der Architekturgeschichte setzte sich dieser riesenhafte Baukörper aus verschiedenen Sakral-, Würde- und Herrschaftsformeln der Architekturgeschichte zusammen, der neben dem Platzangebot für eine Million Aschereste auch eine Kirche sowie Kapellen für andere Konfessionen vorsah, aber ebenso ein ausgeklügeltes voll technisiertes Transportsystem für Särge auf Schienen und in Aufzügen zu den fortdauernd brennenden Öfen anbot. Motiviert war Haupts Engagement davon, dass nach seiner Auffassung der idyllische Zustand der Dorffriedhöfe der Entwicklung auf den kommunalen Friedhöfen der Städte entgegenstand. Die Toten müssten immer weiter aus den 3 3

Albrecht Haupt, Totenstädte der Zukunft. Eine Nekropole für eine Million, Leipzig 1911, o.S. Bisher konnten noch keine Vorentwürfe, Skizzen, Notizen und dergleichen ausfindig gemacht werden. Diese Schrift wurde erstmals von mir im oben zitierten Aufsatz in der Zeitschrift „Friedhof und Denkmal“ abrisshaft vorgestellt; eine ausführliche Untersuchung dieser Schrift ist in meiner Dissertation zu lesen (vgl. Anm. 1). 3 4 Ein einheitliches Feuerbestattungsgesetz, das die Feuer- und Erdbestattung gleichstellte, wurde unter der nationalsozialistischen Diktatur am 15. Mai 1934 erlassen. 3 5 Haupt, Totenstädte, o.S.

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Städten weichen, so „daß es zur Tagesreise wird, will man ihre Statt besuchen.“36 Zudem sei die Ruhefrist von den städtischen Verwaltungen zu kurz bemessen, da eine Wiederbelegung bereits nach 30 Jahren erfolge. Daher war es Haupts Anliegen, seine ‚Aschennekropole’ im Herzen der Stadt anzusiedeln und die ewige Ruhe der Aschenreste zu gewährleisten. Diese beiden Aspekte seien entscheidender, als Fragen der Ästhetik und des individuellen Gedenkens nachzugehen. So phantastisch die Idee eines Bestattungsortes für eine Million Urnen anmutet, so sachlich und fundiert berechnete Haupt, wie viel Raum für eine Stadt mit einer Million Einwohnern benötigt würde (5 Quadratmeter), und kam zu dem Schluss, dass die Erdbestattung schon allein aus wirtschaftlichen Gründen abzulehnen sei, da die Feuerbestattung nur ein Zehntel dieses Raumes beanspruche. Wie bei Marsch bestand für Haupt kein Zweifel darüber, die massenhaften Aschenbeisetzungen im Stadtzentrum inmitten eines Parks anzulegen, damit sie „eine schöne Erholungsstätte für die Lebendigen werden, mitten unter ihren Wohnstätten, eine Stätte der Gesundheit, nicht der Gefahr, wirklicher oder eingebildeter.“37 Denn, und das war nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit das zentrale Merkmal von Asche: Von ihr ging keinerlei Gefahr für die Lebenden aus, so meinte man. Eine Bestattung in den Wohnvierteln war also aus hygienischer Sicht nicht mehr zu beanstanden. Obwohl die Erreichbarkeit der Bestattungsorte sowie deren Platzkapazität die Leitmotive seiner architektonischen Überlegung war, war Haupt über das Ergebnis seines Entwurfs überrascht. Er [der Versuch, ALP] ergab von selber die Entstehung riesiger Bauwerke, gewaltiger Nekropolen, von Gebäuden, die durch Masse wie durch Größe der Erscheinung alles übrige in unseren Städten in den Schatten stellen würden, [...] bald mächtig genug, um selbst mit den Pyramiden in Wettbewerb treten zu können.38

Denn allein das fünf Meter hohe Hauptgeschoss der Stufenpyramide mit einer Seitenlänge von 200 Metern besäße 13.000 Meter Wandfläche, was 39.000 Quadratmetern entspräche. In jedem Quadratmeter könnten durchschnittlich zehn Aschenkapseln beigesetzt werden. Zur Erschließung dienten gewaltige Treppenanlagen, die bis zur obersten Terrasse, die ein Ehrentempel für die Asche hochverdienter Persönlichkeiten krönen sollte, führten. Das Untergeschoss war indessen allein der Technik und den Toten vorbehalten. So verortete Haupt dort die Öfen, Leichenhallen, Obduktions- und Arztzimmer und die Büroräume der Verwaltung. Von den Leichenhallen würden die 3 6 Ebd.

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Särge dann über Schienen und Aufzüge zu den 16 Feierhallen und den Öfen an den Ecken der Anlage transportiert.39 Gerade bei den gigantomanen Entwürfen wird die Zwitterrolle, die ein solches Gebäude übernehmen muss, offenbar. Die Gebäudehülle und die für die Trauernden zugänglichen Räumlichkeiten sollten ein stimmungsvolles, ehrwürdiges, in der Tradition verhaftetes Architekturbild suggerieren, während die „Un-Orte“ durch Ummantelungen oder Nicht-Zugänglichkeit kaschiert bzw. tabuisiert und von hoch technisierter Sachlichkeit bestimmt waren. Wie schon bei den architektonischen Einzelgliedern der Stufenpyramide gestaltete Haupt den umgebenden Hain nach verschiedenen Vorbildern der Denkmals- und Gartenkunst. Die Gesamtanlage war als Parkfriedhof mit geschlängelten Wegen angelegt; hier konnten Urnen auch erdbestattet werden. Der Stufenpyramide vorgelagert ordnete Haupt zwei Wasserbassins an, durch einen Weg voneinander getrennt. Auf diese riesigen Bassins führte ein Kanal zu. Auf beiden Seiten des Kanals verlief ein Weg, von je einer Doppelallee eingefasst. Inmitten des der Pyramide zugewandten Teichs sah Haupt zwei Inseln vor, die durch Stege mit dem Mittelweg verbunden waren. Mit dem Inselmotiv verwies er direkt auf Arnold Böcklins Gemälde der Toteninsel,40 das wiederum die erste Begräbnisstätte Jean-Jacques Rousseaus auf einer künstlichen Insel im Park von Ermenonville bei Paris zitiert.41 Böcklin hatte mit seinem Gemälde, das zwischen 1880 und 1886 in fünf Versionen geschaffen und umgehend populär wurde, den Tod ästhetisiert und positiv konnotiert. Wie bereits angedeutet, stellte Haupt die Platzkapazität seiner „Totenstadt“ über das individuelle Gedenken. Ihm war bewusst, dass „diesem schablonenhaften System“ „der Schein von Lieblosigkeit“ anhafte.42 Allerdings herrschte die Form des normierten Reihengrabes ja auch auf den Friedhöfen für Erdbestattung vor. Haupt forderte die Bürger zur Solidarität auch nach dem Tode auf, denn das Individuum trete zwar in diesem Kollektivgrab zurück, würde aber als „ein vollberechtigtes Glied des einen ungeheuren Ganzen [...] hervortreten.“43 3 9

Dieses ausgeklügelte Transportsystem wird später ähnlich für den von Fritz Sander für die Firma Topf & Söhne entwickelten „kontinuierlich arbeitenden Leichen-Verbrennungsofen für Massenbetrieb“ eingesetzt (1942). Vgl. dazu: Pfeiffer, Das Ewige, S. 93–95. 4 0 Haupt nennt selbst Böcklins „Toteninsel“. Vgl. Haupt, Totenstädte, o.S. 41 Böcklin war die Rousseau-Insel durch einen Stich, z.B. abgedruckt bei Hirschfeld, bekannt. Vgl. Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, 5 Bände, hier Bd. 2, Leipzig 1780, S. 59; Andrea Linnebach, Arnold Böcklin und die Antike. Mythos, Geschichte, Gegenwart, München 1991, S. 116. Die Rousseau-Insel wurde in der Gartenkunst seit den 1780er Jahren zu einem beliebten Motiv (z.B. im Park von Wörlitz und in der „Neuen Partie“ im Berliner Tiergarten). 42 Haupt, Totenstädte, o.S. 4 3 Ebd.

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Haupt verwies hier auf die seit Beginn der Krematistenbewegung geführte Diskussion um die „Mechanisierung [d]es Gefühlsbedürfnisses“44, die durch die Aneinanderreihung der Urnennischen innerhalb des „toten Mauerwerk[s]“ hervorgerufen würde.45 Daher plädierten viele Krematisten für eine Urnenbestattung in der Natur, da sie der deutschen Mentalität mehr entspräche. Der Architekt und Städtebauer Paul Wolf ging in seiner Zeit als Stadtbaurat von Dresden (1922–1945) auf diese Kritik ein: Kurz nach seinem Amtsantritt plante Wolf verschiedene Erweiterungsprojekte für den Urnenfriedhof in DresdenTolkewitz, der zwar bereits seit seiner Entstehung 1911 etliche Vergrößerungen erfahren hatte, aber dennoch nicht genug Raum bot.46 Eine Idee, die jedoch Utopie blieb, war Wolfs Vorschlag eines megalomanen „Aschenteichs“, in den die Aschen der künftigen Jahrzehnte verstreut werden sollten: Es erscheint durchaus möglich, daß der Feuerbestattungsgedanke schließlich dazu führt, vielleicht in Zukunft auf eine Einzelbestattung der Aschenreste überhaupt zu verzichten, die Aschen vielmehr in einem gemeinsamen Aschengrab nach und nach beizusetzen, z.B. in einer Erdpyramide, innerhalb der sich, von einem gewaltigen Bogen überwölbt, ein unterirdischer Aschenteich befindet, welchem in entsprechendem Ritus die Einzelaschen von Fall zu Fall übergeben werden können. Auf diese Weise könnten die Aschenreste von Generationen gemeinsam bestattet und zu einem gewaltigen gemeinsamen Totenmal vereinigt werden.47

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Paul Wolf „Aschenteich“, Reihengrabanlage, Ideenskizze für eine Massenbeisetzung von Ascheresten unter völligem Verzicht auf Einzelbestattung für den Urnenfriedhof DresdenTolkewitz, 1923

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Fritz Schumacher, Die Feuerbestattung, Handbuch der Architektur, IV. Teil, 8. Halbband, Heft 3b, 2. Aufl., Leipzig 1939, S. 99. 4 5 Artur Schubert, Die Einäscherungsanlagen auf dem Leipziger Südfriedhof, in: Phoenix, XXIV. Jg., Nr. 1 (1911), Sp. 7–14, hier S. 13. 4 6 Im Jahre 1924 ließen sich bereits 40 % aller Dresdner kremieren. Vgl. Eva Benz-Rababah, Leben und Werk des Städtebauers Paul Wolf (1879–1957) unter besonderer Berücksichtigung seiner 1914–22 entstandenen Siedlungsentwürfe für Hannover, Diss. Leibniz Univ. Hannover 1993, S. 92. 47 Paul Wolf, Der Friedhof als städtebauliches und architektonisches Problem, in: Bücher des Reichsausschusses für Friedhof und Denkmal, hg. von Stephan Hirzel, Bd. 1, München 1927, S. 52–72, hier, S. 65.

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Dieser „Aschenteich“ bzw. die sich darüber erhebende Erdpyramide war Teil eines „Generalplans“48 zur Erweiterung des südlichen Terrains des Urnenfriedhofs und hätte den Abschluss des Geländes gebildet. Die Erdpyramide war in Stufen angelegt und schloss mit einer baumbestandenen Plattform ab. Formal erinnert sie an eine Kombination von Haupts Stufenpyramide der „Totenstädte der Zukunft“ und Rousseaus „Toteninsel“ als Bekrönung. Es ist anzunehmen, dass Wolf Albrecht Haupts Werk bekannt war.49 Wolf stellte nicht in Frage, dass für die Bestattung von Asche der determinierte Raum des Friedhofs wichtig sei, wenngleich seit 1910 immer wieder Stimmen laut wurden, dass durch die Feuerbestattung die Funktion des Friedhofs obsolet geworden sei. So schlug der Frankfurter Gartendirektor Carl Heicke stattdessen z.B. eine Beisetzung im Wald vor.50 Wie schon in den Äußerungen Haupts anklang, manifestierte sich bei Heickes Vorschlag die in dieser Zeit breit diskutierte Polarisierung zwischen Stadt und Land, die in einer tief empfundenen Natursehnsucht zum Ausdruck kam. In diesem Kontext galt das Totenmal bzw. die Asche des Einzelnen nicht mehr viel, sie stand im Dienste der Gemeinschaft und sollte in den Kreislauf der Natur zurückgeführt werden. Dieser Denkweise folgend publizierte der Berliner Gartenbaudirektor Josef Pertl 1938 in der Zeitschrift „Die Gartenkunst“ einen Vorschlag zu einer kolossalen Urnenbeisetzungsstätte.51 Hier sollten die Aschenreste in einer kreisrunden Rasenfläche mit einem Durchmesser von 150 Metern verstreut werden. Die „Aschenwiese“ war von einem überdachten Säulengang umschlossen, in den die Namen der Verstorbenen eingemeißelt werden sollten.52 Seine Idee sei nicht neu, so Pertl, sie fuße „auf der Ebene nordischer Weltauffassung“,53 die nicht mehr an einem leiblichen Rest auf Erden festhalten

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Ulrike Hübner-Grötzsch, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Die Friedhofsreform auf dem Urnenhain Tolkewitz, in: Unter den Flügeln des Phönix. 100 Jahre Krematorium und Urnenhain Dresden-Tolkewitz, Markkleeberg 2011, S. 43–55, hier S. 52. Bereits für Hannover hatte Wolf 1920 eine Gedenk-Pyramide innerhalb des Urnenhains auf dem Friedhof an der Seelhorst entworfen; das Projekt kam nicht zur Ausführung. Vgl. Paul Wolf, Deutschlands Städtebau. Hannover, hg. vom Magistrat der Stadt Hannover, Berlin 1922, S. 123, Abb. 176 (Modell); Benz-Rababah 1993, S. 278. Vgl. u.a. Carl Heicke, Urnenhaine, in: Die Gartenkunst, 12. Jg., Nr. 12 (1910), S. 204–209, hier S. 208; N.N., Die Frage der Aschenbeisetzung auf dem Wiener Verbandstage, in: Phoenix, XXV. Jg., Nr. 11 (1912), Sp. 422–432. Josef Pertl, Das Problem der Aschenbeisetzung, in: Die Gartenkunst, Jg. 51, Nr. 11 (1938), S. 226–229. Die Abbildung ist u.a. abgedruckt in Pfeiffer, Asche und Utopie, S. 16. Pertl, Aschenbeisetzung, S. 226.

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wolle, sondern der Verstorbenen allein in der Erinnerung gedachte.54 So war auch für Pertl das Gedenken an die Verstorbenen nicht mit einem Ort verbunden: „Das Andenken an einen Verstorbenen trägt man im Herzen oder nirgends.“55 Um auch nach dem Tode einen Dienst für die Gemeinschaft zu leisten – „nach dem nationalsozialistischen Grundsatz: ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz’“56 –, sei es wichtig, unmittelbar in den „Kreislauf der Natur“57 zurückzukehren. Ähnlich den Pionieren der Feuerbestattungsbewegung des 19. Jahrhunderts (z.B. Jacob Moleschott, Hermann Richter)58 betrachtete Pertl die Asche als Stoff, den es zu nutzen galt: „Das Grab soll von Natur aus die Zersetzung des Körpers zu Erde und damit zu Baustoffen für neues Leben bezwecken.“59 Aber gerade hier sind Pertls Aussagen widersprüchlich, denn die Aschen würden schließlich nicht auf den Äckern oder im Wald ausgestreut, sondern auf dem Friedhofsgelände, wo allenfalls Wiesenblumen auf dem mit Asche angereicherten Boden erblühen würden. Noch sei das Ausstreuen von Ascheresten nicht gesetzlich geregelt, dies sei aber wünschenswert. Pertl war sich sicher, dass durch Volkserziehung in der Zukunft dieser neue Bestattungsmodus der „Aschenrückführung“ akzeptiert werden würde.60 Denn die Aschen, „zu Erde geworden, [könnten] für immer verbleiben, da das Fassungsvermögen eines solchen Haines bei einer mittleren Stadt für viele hundert Jahre reicht und dann der Hain als historische Erholungsanlage immer weiter erhalten werden kann.61 5 4





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Im Rahmen dieses Aufsatzes kann nicht auf ein zentrales Thema meiner Forschungen eingegangen werden, die „Feuerehrung im Zeichen des Lichtgedankens“. Vgl. dazu Pfeiffer, Das Ewige, S. 72–89. Aschenausstreuungen waren bereits in Schweden und England erlaubt. So z.B. im „Garden of Remembrance“ auf dem Friedhof in Woking (1911). Hier war eine riesige Fläche zur Ausstreuung vorgesehen, die von kreuzgangartigen Wandelgängen, in die die Namen der Verstorbenen eingraviert waren, umgeben war. Vgl. London Cremation Company Limited (Hg.), The Garden of Remembrance, Woking St. John’s Crematorium, London 1952, S. 6–15. Pertl, Aschenbeisetzung, S. 228. Ebd., S. 227. Ebd., S. 228. Vgl. Moleschott, Kreislauf; Hermann Richter, Die Leichenverbrennung, in: Die Gartenlaube, Nr. 49 (1856), S. 669f. Pertl, Aschenbeisetzung, S. 228. Dieser Ansatz – „Umbildung vom ich zum wir“ – wurde auch in der DDR angestrebt. So wurden Typengräber entwickelt und vor allem Urnengemeinschaftsanlagen gefördert. Vgl. Barbara Happe, Die sozialistische Reform der Friedhofs- und Bestattungskultur in der DDR – Urnengemeinschaftsanlagen, in: Vom Reichsausschuss, S. 185–211, bes. S. 191–205, Zitat S. 191. Pertl, Aschenbeisetzung, S. 229.

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Die sechs beschriebenen Anlagen könnten in ihrer Architektursprache und dem Modus der Aschenaufbewahrung nicht unterschiedlicher sein, und dennoch sind alle von einem Hauptcharakteristikum bestimmt: der massenhaften Bestattung. Mussten die Zentralfriedhöfe für Paris von Cambry/Molinos und Giraud zwingend außerhalb der Stadtgrenzen angelegt werden, so sollten gerade die ‚Aschennekropolen’ von Adolf Marsch und Albrecht Haupt im urbanen Zentrum liegen. Diese beide Großmonumente erhoben sich in einem Park, der zur Erholung der Lebenden genutzt werden sollte. Auch Pertl wünschte sich, dass sein „Aschenhain“ der Erquickung der Bevölkerung dienen würde. Eindeutig ist, dass diesen Anlagen der determinierte Raum des Friedhofs zugewiesen wird, obwohl dies spätestens von Carl Heicke 1910 in Frage gestellt wurde. Denn nach Heicke sei Asche überall ‚bestattbar‘, ein festgelegter Raum unnötig. Allerdings ließen die jeweiligen Feuerbestattungsgesetze62 der Zeit einen beliebigen Umgang mit dem letzten Rest nicht zu. So wurden wenigstens auf dem Papier ,Aschennekropolen’ mit einem kolossalen Fassungsvermögen innerhalb der Friedhöfe geschaffen, die für die folgenden Generationen einer Stadt als letzte Ruhestätte dienen sollten und somit auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet waren. Trotz der Gemeinsamkeiten – die scheinbar endlose Platzkapazität, die ewige Bestattung von Asche, die Wort- und Bildgewaltigkeit der Konzepte und schließlich die bauliche Nichtumsetzung der Anlagen – spiegelt sich in den Projektierungen der Wandel der Funeralmethoden wider: Von einer Zurschaustellung der Toten in Form von Urnen, Büsten oder als Säulen (Cambry/Molinos, Giraud), der Asche-Deponierung in einem Gebäude (Marsch, Haupt) hin zu einer verbergenden Asche-Beisetzung in der Erde bzw. einer Asche-Ausstreuung auf einer Blumenwiese oder in einer Senke (Wolf, Pertl). Bei den Entwürfen zur Aschenbeisetzung von Marsch, Haupt, Wolf und Pertl weist dieser Wandel auf einen Mentalitätswechsel hin, der von den Krematisten in Deutschland vollzogen wurde: Unzweifelhaft war die Orientierung der ersten baulichen Aschenbeisetzungsstätten seit der Einführung der Feuerbestattung im Deutschen Reich 1878 dem antiken Bautyp des Kolumbariums mit einer Urnendeponierung in offenen oder mit Platten verschlossenen Nischen verpflichtet.63 Doch wurde bald eine Hinwendung zu einem naturverbundenen Beisetzort gefordert, die 6 2

Bis zum „Gesetz über Feuerbestattung“ vom 15. Mai 1934 („Reichsgesetz“) galten in den einzelnen Teilstaaten des Deutschen Reichs bzw. in den Ländern der Weimarer Republik unterschiedliche Feuerbestattungsgesetze und Verordnungen. Bis 1911 wurden diese verschiedenen Gesetze und Verordnungen von Beutinger zusammengetragen. Vgl. Beutinger, Handbuch, S. 250–281. Das „Reichsgesetz“ ist u.a. abgedruckt bei Schumacher, Feuerbestattung, S. 116f. 6 3 Von Wegmann-Ercolani bis hin zu Beutinger und Haupt werden als visuelle Vorbilder die römischen Kolumbarien in Ostia und in Rom gepriesen. Vgl. Johann Jakob WegmannErcolani, Die Leichen-Verbrennung als die rationellste Bestattungsart. Eine Abhandlung

Asche und Utopie

der deutschen Mentalität mehr entspräche und auf die Bestattungsriten der germanischen Ahnen verwiese.64 Aber erst Pertl hatte Tacitus’ Bericht über die germanischen Grabstellen gartenarchitektonisch umgesetzt: „Über dem Grabe wölbt sich nur ein Rasenhügel.“65

Literatur: Philippe Ariès, Geschichte des Todes, [Paris 1978] 2. Aufl., München 1982. Eva Benz-Rababah, Leben und Werk des Städtebauers Paul Wolf (1879–1957) unter besonde­ rer Berücksichtigung seiner 1914–22 entstandenen Siedlungsentwürfe für Hannover, Diss. Leibniz Univ. Hannover 1993. Emil Beutinger, Handbuch der Feuerbestattung und ihre geschichtliche Entwicklung von der Urzeit bis zur Gegenwart. Technische und künstlerische Anforderungen an neuzeitliche Krematorien und die damit zusammenhängenden Anlagen, Leipzig 1911. Hans-Kurt Boehlke, Die Feuerbestattung in kulturhistorischer Perspektive. Reinigende, heilige Flamme oder ökonomische Leichenverbrennung?, in: Friedhof und Denkmal, 33. Jg., Nr. 5/6 (1988), S. 82–105. Jacques Cambry, Rapport sur les Sépultures, Paris An VII (1798/1799). Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft, Eine Geschichte des Geruchs, [Paris 1982] Berlin 1984. Douglas J. Davies, Lewis H. Mates (Hg.), Encyclopedia of Cremation, Aldershot, Burlington, VT 2005. Donald Drew Egbert, The Beaux-Arts Tradition in French Architecture, Princeton, N.J. 1980 Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 1996. Ders., Zwischen Trauer und Technik: Feuerbestattung – Krematorium – Flamarium. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2002. Pierre Marin Giraud, Les Tombeaux ou Essai sur les Sépultures, Seconde Edition, Paris IX (1801). Friedrich Goppelsroeder, Ueber Feuerbestattung, Mühlhausen i. E. 1890. Georg Hannig, Vorbildliche Urnenbeisetzstätten, in: Oswald Marcuse, Georg Hannig, Die Feuerbestattung. Eine geschichtlich-ästhetische Betrachtung nebst einem Abriss über vorbildliche Urnenbeisetzungsstätten, Braunschweig 1917, S. 22–32.

dem gesunden Menschenverstand gewidmet, Zürich 1874, Titelbild; Beutinger, Handbuch, S. 19f.; Haupt, Totenstädte, Tafel XII. 6 4 Vgl. u.a. Schubert, Einäscherungsanlagen, S. 13; Georg Hannig, Vorbildliche Urnenbeisetzstätten, in: Oswald Marcuse, Georg Hannig, Die Feuerbestattung. Eine geschichtlichästhetische Betrachtung nebst einem Abriss über vorbildliche Urnenbeisetzungsstätten, Braunschweig 1917, S. 22–32; Paul Mühling, Gedanken über Aschenbeisetzung, in: Phoenix, XLIV. Jg., Nr. 11 (1931), Sp. 209–218, hier Sp. 214. 6 5 Tacitus, Germania, Kapitel 27, übersetzt und kommentiert von Curt Woyte, Stuttgart 1954, S. 25.

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Anna-Livia Pfeiffer Barbara Happe, Die sozialistische Reform der Friedhofs- und Bestattungskultur in der DDR – Urnengemeinschaftsanlagen, in: Vom Reichsausschuss zur Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kolloquium am 8. und 9. 11. 1996 veranstaltet vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Kassel 2002, S. 185–211. Dies., Ordnung und Hygiene. Friedhöfe in der Aufklärung und die Kommunalisierung des Friedhofswesens, in: Raum für Tote, Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen bis zur anonymen Bestattung, Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel (Hg.), Braunschweig 2003, S. 83–110. Christian und Elke Harten, Die Versöhnung mit der Natur. Gärten, Freiheitsbäume, republikanische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution, Reinbek bei Hamburg 1989. Albrecht Haupt, Totenstädte der Zukunft. Eine Nekropole für eine Million, Leipzig 1911. Carl Heicke, Urnenhaine, in: Die Gartenkunst, 12. Jg., Nr. 12 (1910), S. 204–209. Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, 5 Bände, hier Bd. 2, Leipzig 1780 Ulrike Hübner-Grötzsch, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Die Friedhofsreform auf dem Urnenhain Tolkewitz, in: Unter den Flügeln des Phönix. 100 Jahre Krematorium und Urnenhain Dresden-Tolkewitz, Markkleeberg 2011, S. 43–55. Marc-Antoine Laugier, Observations sur l’architecture, Paris 1765. Andrea Linnebach, Arnold Böcklin und die Antike. Mythos, Geschichte, Gegenwart, München 1991. London Cremation Company Limited (Hg.), The Garden of Remembrance, Woking St. John’s Crematorium, London 1952. Adolf Marsch, Neues über Krematoriumsanlagen, in: Die Flamme, XXVII. Jg., Nr. 440 (1910), S. 6259–6262. Ders., Lichtbildervortrag des Stadtbaurates a. D. Marsch (Gera), Wie soll ein modernes Krematorium beschaffen sein?, in: Phoenix, XXV. Jg., Nr. 10 (1912), Sp. 406–413. Jakob Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, 2 Bände, Bd. 2, 5. verm. und gänzl. umgearb. Aufl., Gießen 1887. Paul Mühling, Gedanken über Aschenbeisetzung, in: Phoenix, XLIV. Jg., Nr. 11 (1931), Sp. 209–218. N.N., Die Frage der Aschenbeisetzung auf dem Wiener Verbandstage, in: Phoenix, XXV. Jg., Nr. 11 (1912), S. 422–432 N.N., Kremato-Kolumbarium. Eine Zentral-Totenstätte auf beschränktem Raume, in: Deutsche Bauhütte, 17. Jg., Nr. 46 (1913), S. 608f. Werner Oechslin, Die „elysischen Gefilde“. Eine Friedhofsidee um 1800, in: Daidalos, Nr. 38 (1990), S. 32–43. Pierre Patte, Monuments érigés en France á la gloire de Louis XV, Paris 1765 Josef Pertl, Das Problem der Aschenbeisetzung. In: Die Gartenkunst, Jg. 51, Nr. 11 (1938), S. 226–229. Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, [Cambridge 1940] München 1986. Marie-Joseph Peyre, Œuvre d’architecture, Paris 1765.

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Abbildungsnachweise: Abbildung 1: Pierre Marin Giraud, Ruhefeld für die Champs-Elysées, Butte-Chaumont oder den Montmartre, perspektivische Ansicht, 1801 aus: Werner Oechslin, Die „elysischen Gefilde“. Eine Friedhofsidee um 1800, in: Daidalos, Nr. 38 (1990), S. 42. Abbildung 2: Albrecht Haupt, Gesamtansicht des Friedhofsgeländes, aus: ders., Totenstädte der Zukunft. Eine Nekropole für eine Million, hrsg. vom Verein für Feuerbestattung zu Hannover, Leipzig 1911, Tafel I und II. Abbildung 3: Paul Wolf „Aschenteich“, Reihengrabanlage, Ideenskizze für eine Massenbeisetzung von Ascheresten unter völligem Verzicht auf Einzelbestattung für den Urnenfriedhof Dresden-Tolkewitz, 1923, Landeshauptstadt Dresden, Stadtplanungsamt, Fotoalbum 28, S. 2 (1,2)

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Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs Eine spezifische Form konfessioneller Sepulkralarchitektur der Frühen Neuzeit? Der vorliegende Beitrag1 möchte den für die Friedhofsforschung des 16. und 17. Jahrhunderts bedeutsamen Begriff des so genannten Camposanto kritisch beleuchten und schließlich hinterfragen, um tiefer- und weitergehende Einblicke in die Sepulkralkultur der Frühen Neuzeit zu geben. Dazu soll zunächst kurz die Forschungsgeschichte bzw. der Forschungsstand aufgerollt werden, um dann die Problemstellung anhand mittel- und oberdeutscher Referenzen zu entwickeln. Abschließend sollen diese Beobachtungen in größerem Maßstab mit der allgemeinen Friedhofsarchitektur – insbesondere mit reichsstädtischen Beispielen aus Oberschwaben – in Beziehung gesetzt werden, um letztlich neue Einsichten zu gewinnen und die bisher publizierten Erkenntnisse zu vervollständigen bzw. zu erweitern.

Begrifflichkeit und Forschungsgeschichte Wer sich mit Form und Gestalt außerstädtischer Friedhöfe in der Frühen Neuzeit beschäftigt, stößt zwangsläufig auf das Konzept des so genannten CamposantoTyps. Diese sepulkrale Architekturform schreibt derzeit gleichsam paradigmatisch einen konfessionellen Bestattungsplatz der Frühen Neuzeit fest. Maßgeblich entwickelt hat dieses Modell Barbara Happe aus der Perspektive der Empirischen Kulturwissenschaft seit den frühen 1990er Jahren, im Rückgriff auf ältere Forschungen.2 1

Der vorliegende Artikel basiert auf dem Vortrag bei der transmortale IV (23.02.2013 Kassel). Es handelt sich um die erweiterte Fassung eines Artikels, der unter demselben Titel erschienen ist in: Friedhof und Denkmal. Zeitschrift für Sepulkralkultur 5 (2013), S. 7–9. Er ist Teil eines Dissertationsprojektes zur konfessionellen Sepulkralkultur der oberschwäbischen Reichsstädte in der Frühen Neuzeit, das zwischen 2011 und 2014 im Rahmen des Graduiertenkollegs Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800). Transfers und Transformationen – Wege zur Wissensgesellschaft der Moderne an der Eberhard Karls Universität Tübingen, entstanden ist. 2 Barbara Happe, Die Entwicklung der Deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870, Tübingen 1991, S. 206–211. Dies., Jenseitsvorstellungen und Sepulkralarchitektur des 16. und 17. Jahrhunderts – Camposanto-Friedhöfe, in: Ingeborg Stein (Hg.), Diesseits- und Jenseitsvorstellungen im 17. Jahrhundert. Interdisziplinäres Kolloquium vom 3–5.2.1995, Protokollband, Jena 1996, S. 75–92, hier S. 75, 78; Dies., Art. Friedhof I (im Christentum), in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Sonderdruck aus Bd. X, 116. Lieferung, München 2011, Sp. 902–961, hier Sp. 925.

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs

Bei Friedhöfen des so genannten Camposanto-Typs handelt es sich idealtypisch um annähernd quadratische, rechteckige bzw. langrechteckige ummauerte Begräbnisplätze. Der Friedhofsmauer sind nach innen offene, überdachte Arkaden oder Säulengänge vorgeblendet3, die fallweise auch begehbar und all- oder mehrseitig4 angelegt sein können. Auch Grufthäuser, respektive -kapellen5 können sich an diese Ummauerung anlehnen. So entsteht ein kreuzgangähnlich umschlossenes Begräbnisfeld, das der gewöhnlichen Bevölkerung Grabplätze bot, während sich die gesellschaftlich-soziale bzw. politische Elite an der Friedhofsmauer unter den Arkaden exklusiv zur letzten Ruhe betten ließ.6 Ein weiteres Charakteristikum stellt die Unabhängigkeit dieser Bestattungsplätze vom Kirchenbau dar.7 Damit verbunden ist meist eine Lage außerhalb der Siedlungen, was den CamposantoFriedhof zu einer prädestinierten Form der aus den mittelalterlichen Städten verlegten Sepulturen macht.8 Die daraus resultierende Trennung von Grab und Kirche weist den Camposanto primär dem protestantischen Milieu zu.9 3

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Günther Binding, Art. Camposanto, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, 1983, Sp. 1425; Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 10; Norbert Fischer, Topographie des Todes. Zur sozialhistorischen Bedeutung der Friedhofsverlegungen zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Norbert Fischer/Marion Kobelt-Groch (Hg.), Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geburtstag, Leiden u. a. 1997, S. 81–97, hier S. 95; Happe, Deutsche Friedhöfe, S. 208; Dies., Jenseitsvorstellungen, S. 78; Dies., Die Trennung von Kirche und Grab. Außerstädtische Begräbnisplätze im 16. und 17. Jahrhundert, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (Hg.), Raum für Tote. Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung, Braunschweig 2003, S. 63–82, hier S. 76; Candida Syndikus, Art. Camposanto, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, 1994, Sp. 918f., hier Sp. 918. Happe, Deutsche Friedhöfe, S. 208; Dies., Jenseitsvorstellungen, S. 78; Dies., Trennung, S. 76. Art. Campo Santo, in: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, 1. Band, Volkskundlich-kulturgeschichtlicher Teil: Von Abdankung bis Zweitbestattung, bearb. von Reiner Sörries, hgg. vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Braunschweig 2002, S. 57; Happe, Deutsche Friedhöfe, S. 208; Dies., Jenseitsvorstellungen, S. 78; Dies., Trennung, S. 76; Reiner Sörries, „Kirchhof “ oder Coemeterium? Anmerkungen zum mittelalterlichen Friedhof, zu den Sonderfriedhöfen und zur Auslagerung vor die Stadt, in: Norbert Fischer/Markwart Herzog (Hg.), Nekropolis: Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden, Stuttgart 2005, S. 23–34, hier S. 34. Happe, Jenseitsvorstellungen, S. 78. Dies., Deutsche Friedhöfe, S. 208; Dies., Trennung, S. 76; Martin Illi, Der Kreuzgang als Bestattungsort, in: Kunst und Architektur in der Schweiz 48, 2 (1997), S. 47–55, hier S. 49. Sörries, Campo Santo I, S. 57; Stefan Fayans, Handbuch der Architektur, 4. Teil: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude, 8. Halbband: Kirchen, Denkmäler und Bestattungsanlagen, Heft 3: Bestattungsanlagen, Stuttgart 1907, S. 17. Happe, Jenseitsvorstellungen, S. 75; Dies., Trennung, S. 76; Sörries, Kirchhof, S. 34.

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Der Terminus Camposanto stammt aus dem Italienischen und bedeutet heiliges Feld.10 Diese Bezeichnung entspricht allerdings nicht den zeitgenössischen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts, die die Friedhofsanlagen unterschiedslos überwiegend als Gottesäcker bzw. deren Synonymen ansprechen, sondern stellt einen Forschungsbegriff des 19. Jahrhunderts dar, als eine Herkunft dieses Bautypus aus Italien postuliert wurde.11 Die ältere Forschung ging davon aus, dass der Camposanto-Typus sein Vorbild in der berühmten Camposanto-Anlage von Pisa hatte.12 Dieser Friedhof entstand in direktem Umfeld des Doms in den Jahren 1278 bis 1283 und war an allen vier Seiten von Arkadengängen umschlossen.13 Demgegenüber geht nun die jüngere Forschung von einer von der Apenninenhalbinsel unabhängigen nordalpinen indigenen Genese des Camposanto-Typs aus, da das vermeintliche Pisaner Vorbild singulär blieb.14 Im Fokus der Forschung lag bislang der mitteldeutsche Raum. Hauptsächlich in Gebieten der heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sollen Camposanto-Anlagen entstanden sein, daneben auch in

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Binding, Camposanto, Sp. 1425; Art. Campo Santo, in: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, 2. Band, Archäologisch-kunstgeschichtlicher Teil: Von Abfallgrube bis Zwölftafelgesetz, bearb. von Reiner Sörries unter Mitwirkung von Stefanie Knöll, hgg. vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Braunschweig 2005, S. 56; Syndikus, Camposanto, Sp. 918. Ursprünglich soll die Bezeichnung ein Ehrentitel für diejenigen Begräbnisstätten gewesen sein, die mit Erde aus dem Heiligen Land bestreut waren, wie dies in Pisa oder dem Camposanto Teutonico in Rom der Fall war. Eine solche Übertragung von heiliger Erde fand auch 1515 bei der Anlage eines neuen Friedhofs in Freiburg statt, siehe Johannes Schweizer, Kirchhof und Friedhof. Eine Darstellung der beiden Haupttypen europäischer Begräbnisstätten, Linz 1956, S. 18. Wann genau im 19. Jahrhundert und durch wen der Begriff Camposanto für frühneuzeitliche Friedhofsanlagen im deutschen Sprachraum eingeführt wurde, liegt derzeit im Dunkeln. Ich danke Herrn Prof. Dr. Reiner Sörries, Institut für Sepulkralkultur, Kassel, für die Diskussion und den Gedankenaustausch. Exemplarisch für die ältere deutschsprachige Friedhofsforschung: Herbert Derwein, Geschichte des Christlichen Friedhofs in Deutschland, Frankfurt am Main 1931, S. 147; Adolf Hüppi, Kunst und Kult der Grabstätten, Olten 1968, S. 96 und Schweizer, Kirchhof, S. 18. Bereits Zedlers Universallexikon führt die Pisaner Nekropole als bedeutende Friedhofsanlage auf, vgl. Art. Gottes-Acker, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses Vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 11, Gm-Gz, ND, Graz 1994, Halle/ Leipzig 1735, Sp. 373–378, hier Sp. 373. Zur genaueren Entstehung vgl. Ruth Wolff, Grabmäler, Platzgestaltung und Stadtstatuten, in: Michael Stolleis/Ruth Wolff (Hg.), La bellezza della città. Stadtrecht und Stadtgestaltung im Italien des Mittelalters und der Renaissance, Tübingen 2004, S. 303–342, hier S. 317. So wurde beispielsweise eine an Pisa orientierte, 1389 in Siena projektierte, CamposantoAnlage nie verwirklicht, vgl. ebd., S. 324f.

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs

Franken, Schlesien und vereinzelt in der Pfalz und Hessen, also vorwiegend in protestantischen Regionen.15 Knapp zusammengefasst charakterisiert den Camposanto-Typus gemäß dem gegenwärtigen Forschungsstand einen überwiegend protestantischen Bestattungsplatz, der extra muros, von einer Kirche losgelöst angelegt und von einer rechteckigen Umfriedung in Gestalt von (partiellen) Säulen- bzw. Arkadenhallen umgeben ist.

Die mitteldeutschen Camposanto-Anlagen Insbesondere der Stadtgottesacker von Halle an der Saale wird tendenziell als Prototyp für die Camposanto-Bauten des 16. und 17. Jahrhunderts angesehen.16 Der Friedhof wurde 1529 auf einem Gelände östlich vor den Toren der Stadt angelegt, das zuvor schon als Bestattungsplatz in Seuchenzeiten diente und aufgrund der dort gelegenen Martinskapelle als Martinsberg bezeichnet wurde.17 Die Initiative hierfür ging von Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490–1545) aus, der die innerstädtischen Sepulturen schließen ließ. Nachdem die Anlage zunächst nur mit einer so genannten Wellerwand aus Stroh und Lehm umfriedet worden war18, erfolgte seit dem Jahre 1557 die Ausgestaltung des Friedhofs als Camposanto-Anlage im eigentlichen Sinne:19 Unter der Leitung des Baumeisters und Steinmetzen Nickel Hoffmann wurde auf der nördlichen Westseite der erste Grabbogen errichtet.20 An diesen nördlich anschließend entstand im Folgejahr 15

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Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang auf die wenig rezipierte Arbeit von Ludger Heuer zu ruralen Begräbnisplätzen in Franken hingewiesen, siehe Ludger Heuer, Ländliche Friedhöfe in Unterfranken, Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, Bd. 6, Dettelbach 1995. Vgl. exemplarisch Happe, Jenseitsvorstellungen, S. 79f. Über die Kapelle und ihren Standort ist aufgrund mangelnder Quellen wenig bekannt. Sie stand wohl in der Mitte des Gräberfeldes, vom gegenwärtigen Eingang etwas nach Norden versetzt. Der Sakralbau wurde im Schmalkaldischen Krieg 1547 zerstört und seine Steine sollen später für die Friedhofsummauerung und den Eingangsturm zum Gottesacker Verwendung gefunden haben, vgl. Anja A. Tietz, Der Stadtgottesacker in Halle (Saale), Halle 2004, S. 13f. Tietz, Stadtgottesacker, S. 10–12. Ebd., S. 14. Die genaue Datierung ergibt sich aus Inschriften, die in der monographischen Beschreibung des Gottesackers durch Johann Gottfried Olearius mit dem Titel „Coemi­ terium Saxo-Halense. Das ist / Des wohlerbauten Gottes-Ackers Der löblichen Stadt Hall in Sachsen Beschreibung…“ aus dem Jahr 1674 überkommen sind, vgl. dazu auch Norbert Fischer, „Das Herzchen das hier liegt, das ist sein Leben los“. Historische Friedhöfe in Deutschland, Hamburg 1992, S. 41f.; Happe, Jenseitsvorstellungen, S. 79 betont, dass der Ausbau nach der Einführung der Reformation geschehen ist. Happe, Reallexikon, Sp. 927; Tietz, Stadtgottesacker, S. 14. Es handelt sich dabei um den heutigen Bogen 11, der damals für die Brüder Christoph und Albrecht von Hoym errichtet wurde.

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1558 ein weiterer Bogen.21 Der Friedhof wurde 1563/1564 erweitert und die bisherige Umfriedung wurde durch eine steinerne Friedhofsmauer22 ersetzt, die nun das Areal als unregelmäßiges Rechteck umschloss.23 In den kommenden Jahrzehnten wurden nun je nach Bedarf die weiteren Grabbögen errichtet, bis das Geviert um 1590 von insgesamt 94 Arkaden komplett umbaut war.24

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Der Stadtgottesacker in Halle a. d. Saale, Blick nach Südwesten auf die Innenseite der Friedhofsumfriedung in ihrem heutigen Zustand.

Der Hallenser Stadtgottesacker soll unmittelbares Vorbild für den Friedhof in Buttstädt gewesen sein.25 Der Begräbnisplatz dort geht ebenfalls auf einen schon 21

Heute Bogen 12, von Georg von Selmenitz errichtet, vgl. Tietz, Stadtgottesacker, S. 15. Diese Umfassungsmauer ist aus regelmäßigen Ziegelsteinen wie auch Bruchsteinen, die das Geländeniveau des Martinsberges ausgleichen, errichtet. Darüber hinaus taucht in der Substruktion auch bearbeiteter Sandstein auf, der vielleicht aus dem Abbruchmaterial der Martinskapelle herrührt, vgl. Tietz, Stadtgottesacker, S. 20. 2 3 Ebd., S. 16. Die Seiten waren nun im Norden 123 Meter, im Osten 129 Meter, im Süden 150 Meter und im Westen 113 Meter lang. Happe, Jenseitsvorstellungen, S. 79 gibt divergierende Maße an: Die Südseite sei über 140 Meter, die übrigen drei Seiten seien 115 Meter lang. 24 Das genaue Datum der Vollendung der Grabbögen ist nicht bekannt, da entsprechende Inschriften fehlen. Da aber laut einer Inschrift im Jahre 1590 der vorletzte Bogen (gegenwärtig Bogen 9), wie auch der Eingangsturm fertig gestellt worden sein sollen, liegt der Schluss nahe, das angegebene Jahr anzunehmen, vgl. Tietz, Stadtgottesacker, S. 16. 2 5 Dieter Scheidig, Vom Totenhof zum Stadtfriedhof. Die Gottesäcker der einstigen Residenzstädte Arnstadt, Lobenstein, Rudolstadt und Saalfeld. Vier kulturhistorische Fallstudien, Lobenstein 1999, S. 11–13. 2 2

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs

bestehenden mittelalterlichen Friedhof um die extra muros situierte St. Johanniskirche zurück, der ab 1536 zum allgemeinen Bestattungsplatz avancierte, nachdem die innerstädtischen Begräbnisplätze aufgegeben wurden.26 Erst nachdem der Friedhof 1591 erweitert worden war, begann nun die neue Ausgestaltung der Anlage mit partiellen Arkadengalerien, die wohl ab 1592 einen zweiflügeligen Camposanto entstehen ließ.27 Ausgehend von einem turmförmigen Torbau entfaltet sich nördlich und östlich desselben die Arkadenanlage, 28 die laut einer Gründungstafel im Jahre 1603 vollendet gewesen sein soll.29 Auch der so genannte Kronenfriedhof von Eisleben weist eine zweiflügelige Hallenkonstruktion auf.30 Dass die Arkadenanlage zeitlich versetzt und nicht in einem Zuge entstanden ist, bekräftigt die Inschrift einer mannshohen Sandsteinplatte, die für das Jahr 1560 von der Errichtung und Fertigstellung eines Teils des Gottesackers spricht.31 Zudem weist die aus rotem Sandstein bestehende Friedhofsmauer auch in den Abschnitten, denen keine Säulengänge vorgeblendet sind, Bogennischen auf, wie sie gleichfalls unter den Arkaden zu finden sind32 – ein Baudetail das sich, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, gleichsam als Konstante frühneuzeitlicher Friedhofsarchitektur wiederholen wird. Die Nekropolen benachbarter mitteldeutscher Städte, die ebenfalls in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden sind, wie beispielsweise in Al 2 6

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Daniela Danz, VT CVLTV VT LVCTV – Zur Baugeschichte des Buttstädter Gottesackers, in: Sybille Putzke (Red.), Der Alte Friedhof von Buttstädt: Ein Thüringer Camposanto. Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege, N. F. 15, Erfurt/Altenburg 2003, S. 9–19, hier S. 11; Nils-Christoph Engel, Der Alte Friedhof von Buttstädt, o. O. 2005, S. 7; Happe, Jenseitsvorstellungen, S. 83. Danz, Buttstädt, S. 8 führt als Quelle hierfür das Buttstädter Regentenbuch an; Engel, Buttstädt, S. 15f. ergänzt dies um eine Quellenreferenz aus dem Buttstädter Pfarrarchiv; vgl. außerdem Barbara Happe, Der Camposanto in Buttstädt – ein seltener Zeuge neuzeitlicher Sepulkralkunst in Thüringen, in: Friedhof und Denkmal 36/5 (1991), S. 67–77, hier S. 71. Danz, Buttstädt, S. 14; Happe, Buttstädt, S. 69. Den genauen Wortlaut geben sowohl Danz, Buttstädt, S. 16 als auch Happe, Buttstädt, S. 71 wieder: „ANNO 1603 IST DIESER/ GOTTESACKER/ GEBAVET WORDEN/ DVRCH HERN/ IOACHIM ERSTENBERGK/ STATVOIGT/ IOHAN FRISE/ KEMRER/ VALDIN RENSCH/ HANS WIHNN/ BEISITZER/ GEORG ESCHENBACH:S“. Franz Häring, Der Alte Friedhof zu Eisleben, genannt Kronenfriedhof, in: Mansfelder Heimatblätter 7 (1988), S. 67–72, hier S. 68f.; Georg Kutzke, Die Kronenkirche und der alte Friedhof zu Eisleben, in: Jahrbuch der Denkmalpflege in der Provinz Sachsen und in Anhalt 1 (1910), S. 64–69, hier S. 67. Sowohl Häring, Kronenfriedhof, S.  69 als auch Kutzke, Kronenfriedhof, S.  66 geben die Inschrift wortgenau wieder: „BEI REGIERUNG DES ERBARN WEISEN HERREN ­CHRISTOF MOSHAUERS STADVOIGTS UND ANDERN IHM BEISITZENDEN RICHTER UND RATSPERSONEN IST DIESES TEIL UND SEITH DES GOTTES ACKERS ZUERBAUEN ANGEFANGEN WORDEN NACH CHRISTI JESU UNSERS EINZIGEN ERLOSERS UND SELIGMACHERS GEBURT MDLX“. Häring, Kronenfriedhof, S. 70.

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tenburg, Arnstadt, Dresden, Eisfeld, Gera, Hildburghausen, Leipzig, Merseburg, Naumburg, Saalfeld, Schleiz und Weida, zeichnen dieses Modell nach, lediglich mit dem Unterschied, dass sie nicht wie in Halle alle Seiten der Friedhofsummauerung mit Arkaden umschreiben, sondern wie in Buttstädt und Eisleben fallweise nur partiell.33

Die oberdeutschen Camposanto-Anlagen Dagegen stellt sich die Situation im oberen Deutschland der bisherigen Forschungsmeinung gegenüber konträr dar: Hier sind alle Camposanto-Friedhöfe, die ebenfalls in der zweiten Hälfte des 16. und den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts aufgeführt wurden, in einem katholischen Umfeld zu finden. Diese scheinbar im Süden verkehrte Welt führt das Beispiel Biberach in Oberschwaben besonders gut vor Augen. Ausgerechnet der katholische Gottesacker der bikonfessionellen bzw. paritätischen Reichsstadt kann mit einer Arkadenanlage aufwarten, wohingegen der protestantische Bestattungsplatz, der sich im Bereich der alten Spitalkirche jenseits der Riss befindet, einer solchen entbehrt.

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Der 1604 entstandene Arkadengang auf dem Friedhof von St. Magdalena, der ehemaligen Reichsstadt Biberach. Daran anschließend die mit Segmentbogennischen ausgestattete Friedhofsmauer. 3 3

Einen zusammenfassenden Überblick bietet exemplarisch Dieter Scheidig, Friedhöfe in Thüringen. Alte Gottesäcker und Totengärten. Entdeckte Sepulkralkultur. Eine Auswahl, Erfurt 1997, wie auch Scheidig, Totenhof.

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs

So wird eine Seite des außerstädtischen katholischen Magdalenen-Friedhofs von einer aus dem Jahre 1604 stammenden Backsteinarkade gesäumt, die sich aus stämmigen Säulen zusammensetzt, die über Korbbögen einen offenen Dachstuhl tragen.34 Seit 1574 bestatteten auf dem erweiterten Gelände einer vormaligen Leprosensiedlung, deren Mittelpunkt ein der Heiligen Magdalena geweihtes Gotteshaus war und das nun als Friedhofskapelle fungierte, die katholischen Bürger ihre Toten.35 Wesentlich aufwändiger gestaltet sich die Arkadenanlage der in der südlichen Nachbarschaft gelegenen katholischen Reichsstadt Wangen. Hier wurde im Jahre 1520/1521 ein neuer außerstädtischer Gottesacker angelegt, der nach Ausweis der Rechnungsbücher zunächst mit einem Zaun umfangen und der Eingangsbereich mit einem Gatter versehen wurde.36 Erst für das Rechnungsjahr 1576/1577 lässt sich eine Ummauerung des in diesem Zuge vergrößerten Friedhofs nachweisen.37 Knapp 20 Jahre später verwandelte sich der Gottesacker erneut in eine Baustelle. Von 1592/1593 an verzeichnen die städtischen Rechnungsbücher zahlreiche Ausgabeposten für den Friedhof und die Rochus-Kapelle, die nun errichtet wurde. Die erheblichen Aufwendungen für große Mengen an Ziegel- und Bruchsteinen, wie auch an Dachplatten legen nahe, dass damals die überdachten Gräbergalerien entlang der gesamten Ostmauer und Teilen der südlichen Friedhofsmauer errichtet wurden.38 Das Gesamtensemble von Friedhof, Wandelhallen und Kapelle wurde endgültig im Jahre 1596 fertiggestellt, als die Weihe der Anlage erfolgte.39 3 4

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Happe, Deutsche Friedhöfe, S. 189; Eduard von Paulus/Eugen Gradmann (Hg.), Die Kunstund Altertums-Denkmale im Königreich Württemberg. Die Kunst- und Altertums-Denkmale im Donaukreis, Oberamt Biberach, bearbeitet von Julius Baum/Berthold Pfeiffer, Esslingen 1909, S. 62; Alois Schneider, Biberach an der Riß, Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg, Bd. 7, Stuttgart 2000, S. 132. Kurt Diemer, Ein Kleinod im Verborgenen – Die Magdalenenkirche in Biberach, in: Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach 2 (2003), S. 15–27, hier S. 15f., 19; Hermann Grees, Sozialstruktur und Sozialtopographie Biberachs um 1700 – mit einem Ausblick auf die Stadtentwicklung bis ins 19. Jahrhundert, in: Dieter Stievermann/Volker Press/Kurt Diemer (Hg.), Geschichte der Stadt Biberach, Stuttgart 1991, S. 367–416, hier S. 414. Siehe Säckelmeisterbücher 14. 1520/1521, Stadtarchiv Wangen, I B, fol. 52r. Zur Vergrößerung der Nekropole wurde ein Gartengrundstück von Jörg Haldenberger um 15 Pfund Pfennig erworben, vgl. Walter Nestle, Der Gottesacker der ehemaligen Reichsstadt Wangen i. Allgäu, Wangen 1933, S. 9f. Weitere Hinweise könnten folgende Eintragungen in den Rechnungsbüchern nahe legen: „Jtem an S. Catherina tag dem/ Ziegler zalt 3325 tach platta/ uff dem Schopff Jm gotz ackher/ […]“, Säckelmeisterbücher 50. 1594/1595, StadtA Wangen, I B, fol. 56r, wie auch „Jtem Sontag Letare dem murer/ und knecht an der mur Jm gotz/ ackher deckht und gemacht.“, Säckelmeisterbücher 51. 1595/1596, StadtA Wangen, I B, fol. 24v. Zur Konsekration des Friedhofs durch den Konstanzer Weihbischof, siehe Säckelmeisterbücher 51. 1595/1596, StadtA Wangen, I B, fol. 85v. Zum Bau der Rochus-Kapelle, vgl. Otto Beck, Wangen im Allgäu. Katholische Stadtpfarrkirche St. Martin, Gallus und Magnus,

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Ein Vogelschauprospekt des Wangener Malers und Topographen Johann Andreas Rauch aus dem Jahre 1611 zeigt die Nekropole detailliert in dieser Form, in der sie auch bis heute weitgehend auf uns gekommen und in ihrem Erhaltungszustand einzigartig für die Friedhöfe der ehemaligen Reichsstädte in Oberschwaben ist.40 Dabei weist die Friedhofsmauer in ihrer Süd- und Osthälfte Nischen auf, die Platz für Grabdenkmäler boten. Vor diesen wurde dann eine Wandelhalle mit Steinpfosten und offenem Sparrendach ergänzt.41

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Der Alte Gottesacker der ehemaligen Reichsstadt Wangen mit Blick nach Süden auf die Rochus-Kapelle und Teile der Arkadenanlage.

Spitalkirche Heilig-Geist, Rochuskapelle und St. Wolfgang, Lindenberg 2005, S. 31; Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Baden-Württemberg II: Die Regierungsbezirke Freiburg und Tübingen, bearbeitet von Dagmar Zimdars u.a., Berlin 1997, S. 824; Württembergisches Landesamt für Denkmalpflege (Hg.), Die Kunstdenkmäler in Württemberg. Die Kunstdenkmäler des ehemaligen Kreises Wangen, bearbeitet von Adolf Schahl/Werner von Matthey/Peter Strieder/Georg Sigmund Graf Adelmann von Adelmannsfelden, Stuttgart 1954, S. 60; Nestle, Gottesacker, S. 9f.; Albert Scheurle, Wangen im Allgäu. Das Werden und Wachsen der Stadt, Wangen 1950, S. 66; Alois Schneider, Wangen im Allgäu, Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg, Bd. 17, Stuttgart 2001, S. 98. Dagegen ist die Glocke der Kapelle bereits auf das Jahr 1594 bezeichnet. 4 0 Schneider, Wangen, S. 129 mit einer kritischen Diskussion zu den Wangener Bildquellen. Zu Biographie und Werk Johann Andreas Rauchs (gest. 1632/33), siehe Albert Scheurle, Kriegs- und Notzeiten, Brauchtum und Kunst in der ehemaligen Reichsstadt Wangen im Allgäu, Wangen 1973, S. 31–34. Rauch stammte aus Bregenz und wirkte seit 1601 in Wangen. Seine Ansicht der Stadt von 1611 befindet sich heute im Ratssaal des Wangener Rathauses. 41 Nestle, Gottesacker, S. 12.

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs

Darüber hinaus sei an dieser Stelle noch für den oberdeutschen Raum auf die prominenten Camposanto-Friedhöfe von Luzern, Salzburg und Innsbruck verwiesen.42 Dabei stellt der letztgenannte Bestattungsplatz nach derzeitigem Wissensstand wohl die älteste bekannte Camposanto-Anlage dar. Der im 19. Jahrhundert abgebrochene Innsbrucker Stadtfriedhof wurde, wie Anja Tietz jüngst belegen konnte, bereits im Jahre 1513/14 mit den charakteristischen Schwingenbogen ausgestattet.43

Der Camposanto-Typus im Vergleich mit anderen frühneuzeitlichen Friedhofsanlagen Betrachtet man die Bestattungsplätze weiterer oberdeutscher, insbesondere oberschwäbischer (Reichs-)Städte, so wird deren weitgehende homogene bauliche Erscheinung augenfällig, die zahlreiche Camposanto-Elemente aufweist und sowohl im protestantischen wie auch katholischen Umfeld anzutreffen ist. Sie folgt wie die mitteldeutschen Camposanti dem bewährten Muster und ist neben Biberach und Wangen auch in Isny, Kaufbeuren, Kempten, Leutkirch, Lindau, Memmingen, Ravensburg und Ulm anzutreffen44: Eine mit Segmentbogennischen bestückte steinerne Umfassungsmauer umschreibt einen langrecht- oder 42

Für Luzern, siehe Rainer Knauf, Der Friedhof im Hof, in: César Callisays/Rainer Knauf/ Catrin Krüger/Mathias Steinmann (Hg.), Kultur des Erinnerns. Die Luzerner Friedhöfe Hof und Friedental. Geschichte und Grabgestaltung, Zürich 2001, S. 55–75; für Salzburg Conrad Dorn, Der Friedhof zum Heiligen Sebastian in Salzburg, Salzburg 1969, wie auch Franz Wagner, St. Sebastian in Salzburg. Kirche und Friedhof mit Wolf-Dietrich-Mausoleum, Christliche Kunststätten Österreichs, Nr. 439, Salzburg 2005 und für Innsbruck Alexander Zanesco, Friedhöfe im alten Innsbruck. Die Grabungen am Adolf-Pichler-Platz, in: Stadtarchiv Innsbruck (Hg.), Zeit – Raum – Innsbruck, Schriftenreihe des Innsbrucker Stadtarchivs, Bd. 1, Innsbruck 2001, S. 7–30. 4 3 Das legen die Ausgabeposten der Rechnungsbücher der Jahre 1513/14 zugrunde, siehe Anja A. Tietz, Der frühneuzeitliche Gottesacker: Entstehung und Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Architekturtypus Camposanto in Mitteldeutschland, Halle/Saale 2012, S. 19f., mit Quellennachweis. 4 4 An zentraler Literatur für die genannten reichsstädtischen Friedhöfe, siehe für Lindau Rosmarie Auer, Der alte Lindauer Friedhof in Aeschach. Neujahrsblatt des Museumsvereins Lindau 43 (2003), für Memmingen Christa Koepff/Christoph Engelhard, Der Alte Friedhof in Memmingen, Materialien zur Memminger Stadtgeschichte, Reihe B: Forschungen, hgg. vom Stadtarchiv Memmingen, Memmingen 2000, wie auch Christa Koepff/Werner Bachmayer/Claudia Berg, Memmingens Alter Friedhof. Grabstätten und Lebensläufe (= Memminger Geschichtsblätter 2010/2011), Memmingen 2011, für Ravensburg siehe Beate Falk, Ausdrucksformen des katholischen und evangelischen Lebens in Ravensburg, in: Andreas Schmauder (Hg.), Hahn und Kreuz. 450 Jahre Parität in Ravensburg, Konstanz 2005, S. 75–126, besonders S. 109–113 und für Ulm siehe Hansmartin Ungericht, Der Alte Friedhof in Ulm. Bestattungsriten, Planungen und Grabmale. Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm. Reihe Dokumentation, Bd. 3, Ulm 1980.

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mehreckigen Sepulkralraum, an der entlang sich die sozial gehobenen Grabstätten befinden, die sich außerdem durch Kapellen- oder Grufthäuschen auszeichnen können. Der Innenhof dient als Gräberfeld der übrigen Bürgerschaft. Gottesackerkapellen, Beinhäuser, Totenleuchten oder Hochkreuze können im Falle von katholischen Anlagen diese Begräbnisplätze weiter ausgestalten, während sie bei protestantischen Friedhöfen fehlen. Kurz gesagt, diese Nekropolen sind nahezu identisch mit der Camposanto-Architektur – bis auf ein Detail, nämlich die Arkadenbögen. Doch blieben die Friedhofsmauern nicht ohne weitere Ausgestaltung. Die prominenten Familien errichteten an ihren Erbgrabstätten entlang der Friedhofsmauern kleine Kapellenhäuschen oder Ädikulen, die, aneinandergereiht, ein ähnliches Erscheinungsbild wie die Wandelhallen der Camposanti aufwiesen.

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Heutiger Zustand der westlichen Innenseite der Friedhofsmauer des vormalig reichsstädtischen Friedhofs in Memmingen.

Die momentan gültige Definition des Camposanto-Aufbaus ist an dieser Stelle unscharf. Gerade auf die Gräbergalerien bezogen, werden auch diese Grufthäuschen oder Grabkapellen als Alternative eingeräumt, so in Barbara Happes Arbeiten zum Camposanto-Friedhof. Gemäß dieser Lesart sollten diese Baulichkeiten aber eine gewisse Einheitlichkeit aufweisen.45 Auch andere Forscher sehen

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Happe, Deutsche Friedhöfe, S. 208; Dies., Jenseitsvorstellungen, S. 78; Dies., Trennung, S. 76; Dies., Reallexikon, Sp. 925.

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs

in aneinandergereihten Gruft- oder Grabkapellen46 ein Camposanto-Element, während andere nur Arkadenbögen47 anführen. Darüber hinaus tritt bei allen diesen Friedhöfen ein weiteres Element auf, das im Zusammenhang mit dem Camposanto-Typ konstant aufgetreten ist. Damit gemeint sind die Bogennischen, die in die umfassenden Friedhofsummauerungen eingefügt sind und zur Anbringung von Grabmonumenten dienten. Diese so genannten Avelli48 können in variierten Formen auftreten: rund-, korb- oder flachbogig bilden sie sowohl tatsächliche Nischen als auch in größerer Gestalt regelrechte Blendarkaden.

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Blick auf die mit Nischen versehene Innenseite der gegenwärtigen östlichen Friedhofsmauer der ehemaligen Reichsstadt Leutkirch.

In der historischen Realität scheinen die Übergänge fließend verlaufen zu sein und die Unterschiede zwischen Arkaden, Bögen, Schwibbögen, Bogennischen, Grabhäuschen, Ädikulen oder bildstockartigen Anbauten, die die Friedhofsmauerkrone auch überragen konnten, verschwimmen bei einer weitergehenden Perspektive. Die Idee der Arkadenstruktur wurde in Mitteldeutschland genauso wie in Oberdeutschland umgesetzt, sowohl in dreidimensional ausgebildeten Galerien, als auch in zweidimensionalen Blendarkaden. Der Zweck war stets der gleiche: Die letzte Ruhestätte der Oberschicht sollte besonders hervorgehoben 4 6

Schweizer, Kirchhof, S. 69; Sörries, Campo Santo I, S. 57; Sörries, Kirchhof, S. 34. Binding, Camposanto, Sp. 1425; Fischer, Gottesacker, S. 10; Fischer, Topographie, S. 95; Illi, Kreuzgang, S. 49; Sörries, Campo Santo II, S. 56. 4 8 Schweizer, Kirchhof, S. 81. 47

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werden und ein geschützter Raum zu deren Memoria geschaffen werden, in dessen Herzstück ein Grabmonument Aufstellung finden konnte. Diese Form der Friedhofsausgestaltung empfahl schon Martin Luther in seiner Vorrede zu den Begräbnisliedern aus dem Jahre 1542. Darin empfiehlt der Reformator Folgendes: „Wenn man auch sonst die Greber wolt ehren, were es fein, an die Wende, wo sie da sind, gute Epitaphia oder Sprueche aus der Schrifft drueber zu malen oder zu schreiben, das sie fur augen weren denen, so zur Leiche oder auff den Kirchoff giengen, nemlich also, oder dergleichen.“49 Wie die vorhergehenden Ausführungen gezeigt haben, treten ausgenischte Friedhofsmauern nicht nur auf protestantischen Gottesäckern, sondern auch auf katholischen in Erscheinung. Vor dem Hintergrund der katholischen Reform regte Carlo Borromeo in seinen Instructiones fabricae et supellectilis ecclesiasticae von 1577 ähnlich wie Luther an, die Rückwände der Friedhofsmauern bildlich mit Bibelszenen oder Heiligendarstellungen auszuschmücken, um die Würde des Platzes zu erhöhen.50 Dabei bot der Mailänder Reformbischof zusätzlich die Option, die Grabstätten in Säulenhallen unterzubringen.51 Damit zeigt sich, dass mit diesem sepulkralen Bauschema lediglich die Intention konfessionell verschieden war. Während im Protestantismus die Belehrung und Erbauung der Lebenden im Vordergrund stand, sollte im tridentinisch erneuerten Katholizismus vor allem die Totenfürsorge angeregt werden. Die bauliche Umsetzung erfolgte in beiden Konfessionen jedoch nach denselben Mustern.

Abschied vom Camposanto? – Zur Relativierung eines Forschungsbegriffes Nach diesem Streifzug durch die mittel- und oberdeutsche Friedhofslandschaft dürfte klar geworden sein, dass die bisherigen Camposanto-Merkmaldefinitionen kaum zu halten sind. Weder sind diese Anlagen zwingend extra muros zu finden, noch von Sakralbauten separiert und schon gar nicht als genuin protestantischer 49

Martin Luther, Die Vorrede zu der Sammlung der Begräbnislieder 1542, WA 35, 1923, S. 478–483, hier S. 480. 5 0 Heinz Horat, Die Bauanweisungen des hl. Karl Borromäus und die schweizerische Architektur nach dem Tridentinum, in: Bernhard Anderes/Georg Carlen/P. Rainald Fischer/ Josef Grünenfelder/Heinz Horat (Hg.), Kunst um Karl Borromäus, Luzern 1980, S. 135–155, hier S. 149; Mathias Steinmann, Der Friedhof im Hof, in: César Callisays/Rainer Knauf/ Catrin Krüger/Mathias Steinmann (Hg.), Kultur des Erinnerns. Die Luzerner Friedhöfe Hof und Friedental. Geschichte und Grabgestaltung, Zürich 2001, S. 41–55, hier S. 49 und vor allem Stefano Della Torre/Massimo Marinelli (Hg.), Instructionum fabricae et supellectilis ecclesiasticae, Libri II Caroli Borromei, Città del Vaticano 2000, S. 130–135, die eine Edition des lateinischen Originaltextes bieten. 51 Ebd., S. 130.

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs

Ausdruck evangelischen Bewusstseins respektive Sepulkralkultur anzusprechen. Diese Feststellungen erhalten zusätzliches Gewicht durch die Aussagen derjenigen Forscherpersönlichkeit, die in den letzten beiden Jahrzehnten maßgeblich die Definitionsrichtlinien zum Camposanto-Muster entwickelt hat. So räumt Barbara Happe ein, dass Einzelelemente des Camposanto in Gestalt von Arkaden und aneinander gereihten Gruftkapellen, in allen Regionen Deutschlands verbreitet gewesen seien52 und Bogennischen als der Arkadenform des Camposanto verwandtes Element in der Wandgestaltung noch bis ins 19. Jahrhundert existent seien.53 Die genaue Genese des frühneuzeitlichen Friedhofs oder Camposantos ist bislang nicht abschließend geklärt.54 Festzuhalten bleiben die überregional immer wieder auftretenden, fast schon uniformen Bestandteile in der sepulkralen Architektur des 16. und 17. Jahrhunderts. Genuin architekturtheoretische Schriften der Frühen Neuzeit setzen sich mit der Gestaltung von Bestattungsplätzen in erster Linie im Sinne von Idealentwürfen auseinander. Während sich Albrecht Dürer in seinem Werk Etliche underricht zu befestigung der stett, schloss und flecken von 152755, ähnlich wie der Straßburger Baumeister Daniel Specklin in seiner Schrift Architectura Von Vestungen von 158956, primär mit der topographischen Lage von urbanen Friedhöfen beschäftigt und ihre genaue Ausgestaltung vernachlässigt wird, geht erst Joseph Furttenbach d. Ä. tiefer ins Detail. Seine Architectura civilis aus dem Jahre 1628 zeigt auf Blatt 40 einen quadratischen Friedhofsgrundriss, der in vier Felder eingeteilt ist.57 Dieser Idealentwurf eines 5 2

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Happe, Reallexikon, Sp. 928. Dies., Jenseitsvorstellungen, S. 81. Dies., Deutsche Friedhöfe, S. 214f., dekonstruiert die These von der Entwicklung aus Wehrkirchhöfen. Davon abgesehen sieht sie den Camposanto als ein Bindeglied in der Entwicklung des christlichen Bestattungsplatzes vom mittelalterlichen Kirchhof zum modernen außerstädtischen Friedhof. Albrecht Dürer, Etliche underricht zu befestigung der stett, schloss und flecken, Nürnberg 1527. Daniel Specklin, ARCHITECTURA Von Vestungen. Wie die zu unsern zeiten moegen erbawen werden / an Staetten Schloessern / un[d] Clussen / zu Wasser / Land / Berg un[d] Thal / mit jren Bollwercken / Cavaliren / Streichen / Graeben und Leuffen / sampt deren gantzen anhang / und nutzbarkeit / auch wie die Gegenwehr zu gebrauchen / was fuer Geschuetz dahin gehoerig / unnd wie es geordnet / unnd gebraucht werden soll / alles auß grund und deren Fundamenten. Sampt den Grund Rissen / Visitierungen / und Auffzuegen fuer Augen gestellt. Durch Daniel Speckle / der Statt Straßburg bestellten Bawmeister. Mit Roem: Key: May: Freyheit / auff zehen Jar. Gedruckt zu Strassburg / bei Bernhart Jobin. Jm Jar M.D.L.XXXIX., Bl. 58f. Joseph Furttenbach, Architectura Civilis. Das ist: Eigentliche Beschreibung wie man nach bester form und gerechter Regul / Fürs Erste: Palläst / mit dero Luft: und Thiergarten / darbey auch Grotten: So dann Gemeine Bewohnungen: Zum Andern / Kirchen / Capellen / Altär / Gotshäuser: Drittens / Spitäler / Lazareten und Gotsäcker aufführen unnd erbawen soll, Ulm 1628, S. 75–78; Bl. 40. Vgl. auch Danz, Buttstädt, S. 12f.; Happe, Deutsche Friedhöfe, S. 212f.; Dies. Reallexikon, Sp. 926; Schweizer, Kirchhof, S. 223, 245.

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Friedhofs empfiehlt von Pfeilern getragene Arkadengänge, die „160 bedeckte Begräbnussen“ bilden und die durch „zierlich gemachte eyserne Gätter“ verschlossen bzw. separiert werden, um die darin verwahrten „Gedenckzaichen“ oder „Epitaphien“ vor Wind und Wetter zu schützen.58 An jeder der vier Ecken der Anlage befinden sich Beinhäuser und in der Mitte der nördlichen als auch der südlichen Längsseite stehen jeweils eine Totengräberwohnung und auch je zwei Eingangstore. Im Zentrum erhebt sich „ein Capella oder Kirchen/ darinnen können grosse Herren ihre Begräbnussen haben“, die wiederum von vier Türen, also von jedem der vier Innenfelder aus, betreten werden kann. Diese inneren Höfe sind dazu gedacht, „die gemeine Personen zur Erden“ zu bestatten.59 Sein Sohn, Joseph Furttenbach d. J., griff den Entwurf seines Vaters 1653 erneut auf und schlug für eine mittelgroße Stadt einen rechteckigen Gottesacker vor, der 200 mal 300 Schuh messen und jeder Himmelsrichtung entsprechend vier Tore besitzen sollte, die durch ein gepflastertes Wegekreuz miteinander verbunden waren. Auch hier sollte in der Mitte, also im Schnittpunkt der Wege, eine Kapelle errichtet werden.60 Diese beiden Friedhofskonzepte aus der Feder von Vater und Sohn Furttenbach scheinen die ältesten architekturtheoretischen Abhandlungen zum Friedhofsbau im deutschsprachigen Raum zu sein, in denen alle beschriebenen Elemente des frühneuzeitlichen Gottesackers bzw. Camposantos aufgegriffen werden.61 Dennoch nehmen die Traktate Formen auf, die bereits wesentlich älter sind. Trotz aller Relativierungen und mittlerweile vorsichtig formulierter Ausnahmen in Bezug auf das Camposanto-Phänomen in der gegenwärtigen Forschungsliteratur bis 2012, bietet der Blick nach Oberdeutschland und die dortigen Friedhöfe, die bislang nicht berücksichtigt und auch nicht als Camposanto definiert waren, tiefere Einsichten in die Sepulkralarchitektur der Frühen Neuzeit. Insbesondere die konfessionelle Verortung des Camposanto-Typus löst sich damit auf. Mit dem Wissen um die forschungsgeschichtliche Gebundenheit des Begriffs Camposanto, der ja im 19. Jahrhundert wurzelt, und der großen Ähnlichkeiten in der Gestaltung der Bestattungsplätze ab dem 16. Jahrhundert, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Terminus. Stattdessen wäre es wohl angebrachter, von einer frühneuzeitlichen Friedhofsarchitektur zu sprechen, die überkonfessionell verortet ist und für die gesamte Frühe Neuzeit Gültigkeit besaß. Erst das 19. Jahrhundert sollte dann neue architektonische Formen in der Friedhofsgestaltung entwickeln. Dass es dennoch in der detaillierten Ausgestaltung der Bestattungsplätze konfessionelle Unterschiede gab, soll damit nicht 5 8

Furttenbach, Architectura, S. 76. Ders., Architectura, S. 76f. 6 0 Happe, Reallexikon, Sp. 926. 61 So Danz, Buttstädt, S. 12. 59

Friedhöfe des so genannten Camposanto-Typs

negiert werden. Vielmehr bedarf es diesbezüglich detaillierter Betrachtungen, um konfessionell konnotierte Unterschiede in Ausstattung und Ausgestaltung kontrastieren zu können. Gerade dabei kann ein Blick auf die Bestattungsplätze der oberschwäbischen Reichsstädte weitergehende Einsichten vermitteln. Die Nekropolen hier wurden nicht nur sehr früh vor die Stadtmauern verlegt, sondern wurden größtenteils ebenso früh von der reformatorischen Bewegung erfasst und in Gestalt der so genannten oberdeutschen Reformation geprägt, die trotz der offiziellen Hinwendung zum Luthertum seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch lange nachwirken sollte.

Literatur: Rosmarie Auer, Der alte Lindauer Friedhof in Aeschach. Neujahrsblatt des Museumsvereins Lindau 43 (2003). Art. Campo Santo, in: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, 1. Band, Volkskundlich-kulturgeschichtlicher Teil: Von Abdankung bis Zweitbestattung, bearb. von Reiner Sörries, hgg. vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Braunschweig 2002, S. 57. Art. Campo Santo, in: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, 2. Band, Archäologisch-kunstgeschichtlicher Teil: Von Abfallgrube bis Zwölftafelgesetz, bearb. von Reiner Sörries unter Mitwirkung von Stefanie Knöll, hgg. vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Braunschweig 2005, S. 56. Art. Gottes-Acker, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses Vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 11, Gm-Gz, ND, Graz 1994, Halle/Leipzig 1735, Sp. 373–378. Otto Beck, Wangen im Allgäu. Katholische Stadtpfarrkirche St. Martin, Gallus und Magnus, Spitalkirche Heilig-Geist, Rochuskapelle und St. Wolfgang, Lindenberg 2005. Günther Binding, Art. Camposanto, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, 1983, Sp. 1425. Daniela Danz, VT CVLTV VT LVCTV – Zur Baugeschichte des Buttstädter Gottesackers, in: Sybille Putzke (Red.), Der Alte Friedhof von Buttstädt: Ein Thüringer Camposanto. Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege, N. F. 15, Erfurt/Altenburg 2003, S. 9–19. Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Baden-Württemberg II: Die Regie­ rungsbezirke Freiburg und Tübingen, bearbeitet von Dagmar Zimdars u.a., Berlin 1997. Herbert Derwein, Geschichte des Christlichen Friedhofs in Deutschland, Frankfurt am Main 1931. Kurt Diemer, Ein Kleinod im Verborgenen – Die Magdalenenkirche in Biberach, in: Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach (2003), Heft 2, S. 15–27. Conrad Dorn, Der Friedhof zum Heiligen Sebastian in Salzburg, Salzburg 1969. Nils-Christoph Engel, Der Alte Friedhof von Buttstädt, o. O. 2005. Beate Falk, Ausdrucksformen des katholischen und evangelischen Lebens in Ravensburg, in: Andreas Schmauder (Hg.), Hahn und Kreuz. 450 Jahre Parität in Ravensburg, Konstanz 2005, S. 75–126.

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Dominik Gerd Sieber Stefan Fayans, Handbuch der Architektur, 4. Teil: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude, 8. Halbband: Kirchen, Denkmäler und Bestattungsanlagen, Heft 3: Bestattungs­ anlagen, Stuttgart 1907. Norbert Fischer, „Das Herzchen das hier liegt, das ist sein Leben los“. Historische Friedhöfe in Deutschland, Hamburg 1992. Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1996. Norbert Fischer, Topographie des Todes. Zur sozialhistorischen Bedeutung der Friedhofsverlegungen zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Norbert Fischer/Marion Kobelt-Groch (Hg.), Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geburtstag, Leiden u. a. 1997, S. 81–97. Hermann Grees, Sozialstruktur und Sozialtopographie Biberachs um 1700 – mit einem Ausblick auf die Stadtentwicklung bis ins 19. Jahrhundert, in: Dieter Stievermann/Volker Press/Kurt Diemer (Hg.), Geschichte der Stadt Biberach, Stuttgart 1991, S. 367–416. Franz Häring, Der Alte Friedhof zu Eisleben, genannt Kronenfriedhof, in: Mansfelder Heimatblätter 7 (1988), S. 67–72. Barbara Happe, Die Entwicklung der Deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870, Tübingen 1991. Barbara Happe, Der Camposanto in Buttstädt – ein seltener Zeuge neuzeitlicher Sepulkralkunst in Thüringen, in: Friedhof und Denkmal 36/ 5 (1991), S. 67–77. Barbara Happe, Jenseitsvorstellungen und Sepulkralarchitektur des 16. und 17. Jahrhunderts – Camposanto-Friedhöfe, in: Ingeborg Stein (Hg.), Diesseits- und Jenseitsvorstellungen im 17. Jahrhundert. Interdisziplinäres Kolloquium vom 3.–5.2.1995, Protokollband, Jena 1996, S. 75–92. Barbara Happe, Die Trennung von Kirche und Grab. Außerstädtische Begräbnisplätze im 16. und 17. Jahrhundert, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (Hg.), Raum für Tote. Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung, Braunschweig 2003, S. 63–82. Barbara Happe, Art. Friedhof I (im Christentum), in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Sonderdruck aus Bd. X, 116. Lieferung, München 2011, Sp. 902–961. Ludger Heuer, Ländliche Friedhöfe in Unterfranken, Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, Bd. 6, Dettelbach 1995. Heinz Horat, Die Bauanweisungen des hl. Karl Borromäus und die schweizerische Architektur nach dem Tridentinum, in: Bernhard Anderes/Georg Carlen/P. Rainald Fischer/Josef Grünenfelder/Heinz Horat (Hg.), Kunst um Karl Borromäus, Luzern 1980, S. 135–155. Adolf Hüppi, Kunst und Kult der Grabstätten, Olten 1968. Martin Illi, Der Kreuzgang als Bestattungsort, in: Kunst und Architektur in der Schweiz 48, 2 (1997), S. 47–55. Rainer Knauf, Der Friedhof im Hof, in: César Callisays/Rainer Knauf/Catrin Krüger/Mathias Steinmann (Hg.), Kultur des Erinnerns. Die Luzerner Friedhöfe Hof und Friedental. Geschichte und Grabgestaltung, Zürich 2001, S. 55–75.

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Dominik Gerd Sieber Ruth Wolff, Grabmäler, Platzgestaltung und Stadtstatuten, in: Michael Stolleis/Ruth Wolff (Hg.), La bellezza della città. Stadtrecht und Stadtgestaltung im Italien des Mittelalters und der Renaissance, Tübingen 2004, S. 303–342. Württembergisches Landesamt für Denkmalpflege (Hg.), Die Kunstdenkmäler in Württemberg. Die Kunstdenkmäler des ehemaligen Kreises Wangen, bearbeitet von Adolf Schahl/ Werner von Matthey/Peter Strieder/Georg Sigmund Graf Adelmann von Adelmannsfelden, Stuttgart 1954. Alexander Zanesco, Friedhöfe im alten Innsbruck. Die Grabungen am Adolf-Pichler-Platz, in: Stadtarchiv Innsbruck (Hg.), Zeit – Raum – Innsbruck, Schriftenreihe des Innsbrucker Stadtarchivs, Bd. 1, Innsbruck 2001, S. 7–30.

Gedruckte Quellen: Stefano Della Torre/Massimo Marinelli (Hg.), Instructionum fabricae et supellectilis eccle­ siasticae, Libri II Caroli Borromei, Città del Vaticano 2000. Albrecht Dürer, Etliche underricht zu befestigung der stett, schloss und flecken, Nürnberg 1527. Joseph Furttenbach, Architectura Civilis. Das ist: Eigentliche Beschreibung wie man nach bester form und gerechter Regul / Fürs Erste: Palläst / mit dero Luft: und Thiergarten / darbey auch Grotten: So dann Gemeine Bewohnungen: Zum Andern / Kirchen / Capellen / Altär / Gotshäuser: Drittens / Spitäler / Lazareten und Gotsäcker aufführen unnd erbawen soll, Ulm 1628. Martin Luther, Die Vorrede zu der Sammlung der Begräbnislieder 1542, WA 35, 1923, S. 478–483. Daniel Specklin, ARCHITECTURA Von Vestungen. Wie die zu unsern zeiten moegen erbawen werden / an Staetten Schloessern / un[d] Clussen / zu Wasser / Land / Berg un[d] Thal / mit jren Bollwercken / Cavaliren / Streichen / Graeben und Leuffen / sampt deren gantzen anhang / und nutzbarkeit / auch wie die Gegenwehr zu gebrauchen / was fuer Geschuetz dahin gehoerig / unnd wie es geordnet / unnd gebraucht werden soll / alles auß grund und deren Fundamenten. Sampt den Grund Rissen / Visitierungen / und Auffzuegen fuer Augen gestellt. Durch Daniel Speckle / der Statt Straßburg bestellten Bawmeister. Mit Roem: Key: May: Freyheit / auff zehen Jar. Gedruckt zu Strassburg / bei Bernhart Jobin. Jm Jar M.D.L.XXXIX.

Ungedruckte Quellen: Säckelmeisterbücher 14. 1520/1521, Stadtarchiv Wangen, I B, fol. 52r. Säckelmeisterbücher 50. 1594/1595, Stadtarchiv Wangen, I B, fol. 56r. Säckelmeisterbücher 51. 1595/1596, Stadtarchiv Wangen, I B, fol. 24v. Säckelmeisterbücher 51. 1595/1596, Stadtarchiv Wangen, I B, fol. 85v.

Abbildungsnachweise: Abbildung 1–5: Dominik Gerd Sieber

EVA MIEDER

Necrologium Vitae Digitale Räume zur Reintegration des „be-greifbaren Todes“ Der Themenkomplex Tod und Sterben im digitalen Zeitalter stellt ein großes Aufgabengebiet für Designer1 dar. Der Fokus der Master-Thesis aus dem Fach Design2, deren Kernpunkte in diesem Artikel vorgestellt werden sollen, liegt auf der Identifizierung von Möglichkeitsräumen für Gestalter: Welche Rolle können Designer spielen, um dem Sterben und der Trauer einen angemessenen Platz im Leben einzuräumen? Welche Herausforderungen stellen sich vor allem im Bezug auf digitale Medien? Können neue Technologien dabei helfen, den Tod „be-greifbarer“ zu machen? Und wie kann „Design im Angesicht des Todes“ aussehen?3 Doch was genau ist eigentlich Interfacedesign? Ein Interface ist die Schnittstelle zwischen Mensch und Technik. Interfacedesign beschäftigt sich mit der Gestaltung von Software, Services und Produkten im Hinblick auf Interaktion und Nutzbarkeit. Kurz gesagt: Gestaltung für Menschen, die in einer digitalisierten Welt leben. Im Umkehrschluss bedeutet dies natürlich auch Gestaltung für Menschen, die in einer digitalisierten Welt sterben. Es gibt einige Besonderheiten, die es zu beachten gilt, wenn man als Interfacedesigner im Hinblick auf den Themenkomplex Tod, Sterben und Trauer gestalten will. Gutes Design entsteht im Allgemeinen auf Basis klar definierter Zielgruppen. Das Thema Tod stellt hier jedoch eine besondere Herausforderung dar, denn es gibt keine spezifizierbaren Zielgruppen – denn jeder muss früher oder später sterben. Zudem gibt es immer zwei Sichtweisen: Die des Betroffenen (meint denjenigen, der sterben wird) auf der einen und die der Hinterbliebenen (meint diejenigen, die im Leben zurückbleiben) auf der anderen Seite. Ebenso wichtig ist der Kontext: zum einen der Umstand des Todes, zum anderen ob ein Todesfall vor allem ein privates Umfeld betrifft oder ob er von öffentlichem Interesse ist. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Persönlichkeit der beteiligten Personen.

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Bei unbestimmten Personen wird in diesem Artikel die männliche Form stellvertretend für beide Geschlechter genutzt. 2 Eva Burneleit, Necrologium Vitae. Digitale Räume zur Reintegration des Be-Greifbaren Todes, Master-Thesis, Fachhochschule Potsdam, 2011. 3 Diese Fragen wurden im Rahmen eines Vortrags auf der Transmortale II am 18.03.2011 erörtert. Es wurden die drei wichtigsten Möglichkeitsräume vorgestellt und ein Konzept aus dem Bereich Interfacedesign zur Diskussion gestellt.

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Zielgruppen im Angesicht des Todes

Es lässt sich festhalten, dass Gestaltungsaufgaben innerhalb des Themenkomplexes grundsätzlich individuell betrachtet werden müssen. Wenn wir nun jedoch über Interfacedesign und Tod und Sterben im digitalen Zeitalter sprechen, kommt noch ein weiterer wesentlicher Aspekt hinzu: Die digitale Herkunft. Im Hinblick auf das Phänomen der allumfassenden Digitalisierung muss man zwischen Digital Natives (Menschen, die mit digitalen Medien und neuen Technologien aufgewachsen sind) und Digital Immigrants (Personen, die vor Beginn der sog. digitalen Revolution geboren wurden) unterscheiden.4 Die Digital Natives sind in einem Alter, in dem man sich mit dem eigenen Tod in der Regel nur am Rande beschäftigt. Die Digital Immigrants hingegen setzen sich zwar reflektierter mit ihrem eigenen Ableben auseinander, ihnen fehlt aber häufig die Selbstverständlichkeit im Umgang mit neuen Medien und Technologien. Dies gilt es zu beachten, wenn man sich in diesem Bereich gestalterisch betätigt. Das Necrologium Vitae ist ein gedankliches Modell, das die wesentlichen Aspekte des Themenkomplexes in einem Lebenslauf des Todes (siehe Abb. 2) 4

John Palfrey, Urs Gasser, Generation Internet: Die digital Natives: Wie sie leben – Was sie denken – Wie sie arbeiten, München, 2008.

Necrologium Vitae

zusammenfasst. Dieses Modell soll dazu dienen, Gestaltern einen Überblick über Möglichkeitsräume zur Intervention im Hinblick auf den Tod bzw. das Sterben im digitalen Zeitalter zu verschaffen.

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Das Modell „Lebenslauf des Todes“

Der erste Abschnitt des Necrologium Vitae beschreibt den Bereich Leben und beinhaltet die Aspekte Der digitale Besitz (das Anhäufen von digitalem Material) und Das digitale Selbst (die Darstellung der eigenen Persönlichkeit in der Virtualität). Der zweite Abschnitt Sterben bezieht sich auf die Aspekte Der intime Tod (z.B. die digitale Dokumentation des eigenen Versterbens) und Der öffentlich gewordene Tod (z.B. kollektive Trauer im Internet). Der dritte Abschnitt Weiterleben überschneidet sich mit dem ersten Abschnitt, da sich die enthaltenen Aspekte unmittelbar aufeinander auswirken – es handelt sich dabei um Das digitale Erbe (bestehend aus dem digitalen Besitz) und Digitale Erinnerungen (mit Bezug auf das digitale Selbst). Aus dieser Bestandsaufnahme lassen sich folgende konkrete Möglichkeitsräume mit jeweils drei Gestaltungsthemen ableiten: 1. Ausdruck des Todes im Internet – dieser Möglichkeitsraum bezieht sich sowohl auf den Aspekt des Sterbens, als auch auf das Weiterleben und beinhaltet die Gestaltungsthemen Trauer im Netz, Online Memorials und Sterben in sozialen Netzwerken. 2. Digitaler Nachlass – hier finden sich alle drei Aspekte (Leben, Sterben und Weiterleben) des Necrologium Vitae wieder. Für Gestalter relevante Themen sind Das digitale Testament (für den Betroffenen), Das digitale Erbe (für die Hinterbliebenen) und Digitalisierte Erbstücke (als Chance für die Bewahrung von analogen Werten).

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3. Gedenk- und Trauerstätten – für diesen Möglichkeitsraum sind die Aspekte Leben und Weiterleben relevant, mit den Gestaltungsthemen Virtuelle Friedhöfe, Schreine und Gedenkobjekte, sowie Interaktion auf dem Friedhof. Die einzelnen Gestaltungsthemen innerhalb der Möglichkeitsräume müssen natürlich jeweils noch einmal im Einzelnen untersucht werden. Um eine adäquate gestalterische Auseinandersetzung mit dem Ausdruck des Todes im Internet und dem Sterben in sozialen Netzwerken zu ermöglichen, muss zunächst eine Bestandsaufnahme des Nutzungsverhaltens von Mitgliedern sozialer Netzwerke erfolgen und diese mit der unvermeidlichen Endlichkeit des Daseins eben dieser Menschen in Zusammenhang gebracht werden. Im Frühjahr 2010 waren 30 Millionen Deutsche in sozialen Netzwerken aktiv,5 die meisten davon sogar in mehreren gleichzeitig. Pro Jahr sterben in Deutschland ca. 850 000 Menschen und es wird nicht lange dauern, bis ein Großteil von ihnen eine Zweitexistenz im Internet hinterlässt. Ein „Massensterben“ im Internet scheint ab 2020 vorprogrammiert zu sein.6 Die Betreiber von sozialen OnlineNetzwerken bieten unterschiedliche Vorgehensweisen im Todesfall an. Bei den VZ-Netzwerken7 wird zum Beispiel nach Übersendung der Sterbeurkunde oder des Erbscheins ein neues Passwort ausgestellt. Hiernach können die Erben das Profil wie ihr eigenes verwalten und löschen, aber auch weiter betreiben und aktualisieren. Facebook hingegen gibt die Zugangsdaten nicht an Angehörige weiter. Dem Toten wird entweder ein „Memorial“-Status zugewiesen, oder das Profil wird komplett und unwiderruflich gelöscht.8 Im Netzwerk Xing geht dies ganz ohne Nachweise. Eine formlose Nachricht an das Support-Team genügt und das Profil wird zunächst deaktiviert und nach einigen Monaten gelöscht, sollte niemand Einspruch dagegen erheben. Eine Gedenkfunktion wie bei Facebook gibt es hier nicht. 9 Ein weiteres Problem stellt die Unübersichtlichkeit des World Wide Web dar. In der Regel weiß nur der Betroffene selbst, auf welchen Netzwerken er vertreten ist und war – wenn überhaupt. Dementsprechend haben Angehörige so gut wie 5 6

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Bitkom, 30 Millionen Deutsche sind Mitglieder in Communitys, 2010, in: http://www. bitkom.org/de/markt_statistik/64018_62772.aspx (letzter Zugriff: 27.1.2015). Rutger von der Horst, Massensterben in Digitalien - Rechtlicher Schutz und technische Verfügbarkeit digitaler Werte, 2009, in: http://www.virtuelle-kanzlei.com/publikationen/142– 200906-massensterben-in-digitalien-rechtlicher-schutz-und-technische-verfuegbarkeitdigitaler-werte.html (letzter Zugriff: 27.1.2015) Die Netzwerk-Kette besteht aus den Plattformen SchülerVZ, StudiVZ und MeinVZ. Johan Schloemann, Ewig offline, 2010, in: http://www.sueddeutsche.de/digital/communitiestod-im-netz-ewig-offline-1.32865 (letzter Zugriff: 27.1.2015). Hannelore Becker, Xing – Hinweis auf Trauerfall kommt eher aus dem Netzwerk, 2014, in: http://www.diebeckerin.de/xing-hinweis-auf-trauerfall-kommt-eher-aus-dem-netzwerk/ (letzter Zugriff: 12.03.2015)

Necrologium Vitae

keinen Überblick und müssen mühselige Nachforschungen betreiben. Sind sie irgendwann fündig geworden, müssen sämtliche Dienste telefonisch, schriftlich oder per Mail kontaktiert werden, damit entsprechende Schritte eingeleitet werden können. Diese Unübersichtlichkeit haben sich diverse Dienstleister bereits zu Nutzen gemacht. „Semno“ zum Beispiel hilft dabei, Veröffentlichungen jeder Art von Verstorbenen im Internet aufzuspüren, die Angehörigen darüber zu informieren, Einträge auf Wunsch zu entfernen und Daten zu sichern.10 Dies erfordert jedoch eine vorherige Auseinandersetzung des Betroffenen mit der eigenen Sterblichkeit und dem persönlichen Wunsch nach einer Reglung des digitalen Nachlasses. Im Folgenden wird das Servicedesign-Konzept Netzwerk Tod vorgestellt, das im Rahmen der oben beschriebenen Master-Thesis entstand.

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Zentraler Zugriff auf Profile verschiedener Netzwerke im Todesfall

Es soll den Hinterbliebenen eine sinnvolle Hilfestellung bieten, ohne dass der Betroffene im Vorfeld entsprechende Vorkehrungen getroffen haben muss. Im Hinblick auf die steigende Zahl Versterbender mit einem hohen Maß an Internetaktivität wäre es wünschenswert, wenn die führenden Betreiber von sozialen Online-Netzwerken eine einheitliche Lösung für den Umgang mit 10

Birgit Aurelia Janetzky, Semno: Beratung an der Schnittstelle von Mensch, Tod und Internet, 2015, in: http://www.semno.de (letzter Zugriff: 27.1.2015).

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Nutzerprofilen im Todesfall anbieten würden. Eine Kooperation von vielen (im Optimalfall von allen) Netzwerken und die damit verbundene Möglichkeit einer einheitlichen Verwaltung unterschiedlicher Profile könnte das Auffinden und Verwalten der Netzwerke und Portale nach dem Versterben einer Person vereinfachen. Es würde genügen, wenn der gesetzliche Erbe einfach eines der sozialen Netzwerke, von dem bekannt ist, dass der Verstorbene hier aktiv war, kontaktiert und auf den Tod der betreffenden Person hinweist. Nach Prüfung der Korrektheit der Angaben erhält der Erbe einen Zugangscode zum „Netzwerk Tod“. Hier findet er eine Liste der Netzwerke, auf denen der Betroffene Mitglied war. Nun kann der Erbe auswählen, welche der Seiten er löschen will, welche Profile nur unsichtbar geschaltet werden und welche als virtuelle Gedenkstätte weiter betrieben werden sollen. Des Weiteren werden ihm über das „Netzwerk Tod“ die neuesten Einträge auf allen Profilen im Überblick angezeigt und er kann bei jedem Profil die Einstellungen zentral anpassen. Er erhält unmittelbar eine Vorschau des jeweiligen Profils, ohne sich bei den Betreibern einzeln anmelden zu müssen. Die Etablierung einer plattformübergreifenden visuellen Sprache ermöglicht es, gestalterisch darauf hinzuweisen, wenn sich Inhalte auf eine verstorbene Person beziehen. Diese Maßnahme soll den Tod in sozialen Netzwerken be-greifbarer machen. Auf den Profilen, die im Andenken an die verstorbenen Person weiterbetrieben werden sollen, wird automatisch das visuelle Erscheinungsbild angepasst. So wird deutlich, dass es sich um das Profil eines Verstorbenen handelt. Des Weiteren werden bestimmte Funktionen deaktiviert oder dem neuen Status des Profils entsprechend angepasst. Am Beispiel Facebook könnte aus „Anstupser“11 die Funktion Kerze anzünden werden. Über das „Netzwerk Tod“ wird die Verwaltung und Pflege von untereinander vernetzten Gedenkprofilen an einer zentralen Stelle ermöglicht. Es liegt daher nahe, hier auch Möglichkeiten zur Kommunikation zu implementieren. So wird es den Hinterbliebenen ermöglicht, gemeinsam zu trauern oder in Trauerphasen Hilfe und Beistand bei Gleichgesinnten zu suchen und zu finden. Ein GruppenSystem könnte etwa auch die Angehörigen von Opfern einer Katastrophe zusammenbringen. Außerdem hat der Erbe die Möglichkeit, weitere Hinterbliebene ins „Netzwerk Tod“ einzuladen – so können die Gedenk-Profile gemeinsam gepflegt werden. Das Necrologium Vitae mit seinen Möglichkeitsräumen soll Gestaltern unter Berücksichtigung der Besonderheiten seines Anwendungsfelds als Werkzeug dienen, um im Gestaltungsprozess Anknüpfungspunkte an bestehenden Lösungen zu identifizieren, Abhängigkeiten zu entdecken und um die eigene gestalterische Arbeit in den Themenkomplex einzuordnen. Das Konzept für den Service Netz 11

Es handelt sich hierbei um einen mit einem simplen Klick verschickbaren virtuellen Gruß.

Necrologium Vitae

werk Tod soll beispielhaft zeigen, wie Interfacedesign innerhalb des Themenkomplexes Tod und Sterben im digitalen Zeitalter Anwendung finden kann.

Literatur und Medien: Hannelore Becker, Xing – Hinweis auf Trauerfall kommt eher aus dem Netzwerk, 2014, in: http://www.diebeckerin.de/xing-hinweis-auf-trauerfall-kommt-eher-aus-dem-netzwerk/ (letzter Zugriff: 12.03.2015). Bitkom, 30 Millionen Deutsche sind Mitglieder in Communitys, 2010, in: http://www.bitkom. org/de/markt_statistik/64018_62772.aspx (letzter Zugriff: 27.1.2015). Eva Burneleit, Necrologium Vitae. Digitale Räume zur Reintegration des Be-Greifbaren Todes, Master-Thesis, Fachhochschule Potsdam, 2011. Birgit Aurelia Janetzky, Semno: Beratung an der Schnittstelle von Mensch, Tod und Internet, 2015, in: http://www.semno.de (letzter Zugriff: 27.1.2015). John Palfrey, Urs Gasser, Generation Internet: Die digital Natives: Wie sie leben – Was sie denken - Wie sie arbeiten, München, 2008. Johan Schloemann, Ewig offline, 2010, in: http://www.sueddeutsche.de/digital/communities-tod-im-netz-ewig-offline-1.32865 (letzter Zugriff: 27.1.2015). Rutger von der Horst, Massensterben in Digitalien – Rechtlicher Schutz und technische Verfügbarkeit digitaler Werte, 2009, in: http://www.virtuelle-kanzlei.com/publikationen/142–200906-massensterben-in-digitalien-rechtlicher-schutz-und-technische-verfuegbarkeit-digitaler-werte.html (letzter Zugriff: 27.1.2015).

Abbildungsnachweise: Abb. 1: Zielgruppen im Angesicht des Todes, in: Burneleit, Necrologium Vitae, 2011 Abb. 2: Das Modell „Lebenslauf des Todes“, in: Burneleit, Necrologium Vitae, 2011 Abb. 3: Zentraler Zugriff auf Profile verschiedener Netzwerke im Todesfall, in: Burneleit, Necrologium Vitae, 2011

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STEPHAN HADRASCHEK

Tod in der Metropole Zur Geschichte des Bestattungswesens in Berlin1

„Nekropolen sind wie Metropolen ‚Gesamtkunstwerke‘, und eine Sozialgeschichte allein richtet dabei so wenig aus wie eine für sich genommene Kunstgeschichte. Allen Friedhofsdarstellungen ist dieser Mangel eigen: jeder sieht sie aus seinem scharfen und doch einseitigen Blickwinkel, wo doch nur einer angemessen wäre: ein integraler, der die Metaphysik des Totenackers, die Geschichten der Jenseitsvorstellungen, städtische Demographie und Seuchenforschung, Handwerk und Stadtsoziologie, Kriegsgeschichte und Kunstgeschichte zusammenbrächte. Alle diese Aspekte sind ‚auf einen Blick‘ zu erfassen für jeden, der sich aufmerksam auf Friedhöfen umsieht. Man muss Feldstudien, Studien im Feld von Sterben und Tod treiben, Studien auf dem Gottesacker. Europa muss sich mit seinen Hauptstädten des Todes beschäftigen.“2

Diese einleitenden Worte von Karl Schlögel beschreiben den komplexen Rahmen, mit dem sich eine Arbeit über das Bestattungs- und Friedhofswesen einer Stadt wie Berlin beschäftigen muss. Und dabei geht es nicht allein um die Bestattungsplätze, sondern um das gesamte Bestattungswesen. Studien über Raum und Räumlichkeit ohne die Bestattungsplätze bleiben ungenügend. Ebenso Studien ohne die Protagonisten der Bestattungskultur: Die Bestattungs- und Fuhrunternehmen, Steinmetzen und Friedhofsgärtner und viele mehr. Räumlichkeit liefert generell für die historische Forschung wichtige Erkenntnisse – dabei sind metropolitane Friedhöfe angesichts ihrer Ausdehnung für die städtische Entwicklung wesentlich.3 Grundsätzlich geht es um die Frage, wie die Stadt mit ‘ihren’ Toten und dem dazugehörigen Kontext agiert bzw. diesen integriert. 1

Bei diesem Aufsatz handelt es sich um ein Exzerpt meiner Dissertationsschrift. Zudem wurden diese Erläuterungen bereits im Vortrag „Tod in der Metropole Berlin“ auf der transmortale II (2011) vorgestellt, der in schriftlicher und gekürzter Form in der Zeitschrift „Friedhof und Denkmal. Zeitschrift für Sepulkralkultur“, 56. Jg, Nr. 3 (2011), S. 29–31, abgedruckt wurde. Die Dissertation soll 2015 abgeschlossen werden. Wichtige Impulse für die Beschäftigung mit dieser Thematik resultieren aus meiner langjährigen beruflichen Tätigkeit im Bestattungswesen. 2 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003, S. 441. 3 Zur Stadtentwicklung am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Harald Bodenschatz/Christina Gräwe/Harald Kegler/Hans-Dieter Nägelke/Wolfgang Sonne (Hg.), Stadtvisionen 1910/2010. Berlin, Paris, London, Chicago. 100 Jahre Allgemeine Städtebauausstellung in Berlin, Berlin 2010.

Tod in der Metropole

Zum Begriff Metropole

Mit der räumlichen Verortung einer Großstadt wie Berlin ergibt sich ferner die Beschäftigung mit der Thematik Metropolen. 4 Unter Metropolen werden gemeinhin Städte mit großer Bevölkerung verstanden, die – in sich hochgradig differenziert – in extrem hoher räumlicher Dichte zusammenlebt. Für das weitere Vorgehen meines Forschungsvorhabens ist es somit essentiell, sich mit den unterschiedlichen Entwicklungen der Metropole Berlin, innerhalb eines definierten Zeitraums, zu beschäftigen. Vermeintliche oder bestehende gegensätzliche gesellschaftliche Aktivitäten und Veränderungen hatten und haben auch immer Auswirkungen auf das Bestattungs- und Friedhofswesen. Diese stehen neben einzelnen Akteuren (u.a. Kirche und Kommune, Mediziner und Bestattungsunternehmen) sowie der Beschäftigung mit Zentralisierung im Fokus der Arbeit Tod in der Metropole Berlin. Um 1900 gewann die so genannte Millionenstadt diesen Status. Metropolen sind Orte strukturellen Reichtums – an materiellen wie kulturellen Ressourcen. Metropolen bilden eigene, von Ordnungsvorstellungen geleitete, Ordnungsmuster repräsentierende materiale Stadtgestalten aus: dominierende, sinnfällige, repräsentative Architekturen; komplexe, technisch extrem aufwändige Infrastrukturen und umfassend ausdifferenzierte, variantenreiche öffentliche Räume wie z.B. Straßen, Plätze, Parks, Kunst- und Denkmallandschaften – und letztlich auch Friedhöfe. Aufgrund der zu ihrer Herstellung benötigten hohen Kosten lassen sich die meisten dieser metropolitanen Raumelemente (so auch Zentralfriedhöfe) nur hier finanzieren und amortisieren. Sehr bedeutsam ist die kulturelle Magnetfunktion der Metropolen.5

Der relevante Zeitraum Gemeinhin wird in der Sozial- und Stadtgeschichtsforschung der Zeitabschnitt von 1890 bis 1930/40 als Phase der Beschleunigung und des Wandels beschrieben.6 In diesem Zeitraum erlebten die europäischen Großstädte nicht nur ihre „ent 4

So auch nach Prof. Heinz Reif, Center for Metropolitan Studies (CMS), TU Berlin. Der Begriff Metropole ist nicht eindeutig definiert (abgesehen von der Bevölkerungszahl: Ab einer Million Einwohner spricht man von Metropole). Die Metropolenforschung ist ein lebendiges, dynamisches Forschungsfeld. Dies belegen u.a. das Center for Metropolitan Studies (CMS) der Technischen Universität Berlin und der Bachelor-Studiengang der HafenCity Universität Hamburg, Kultur der Metropole (B.A.). Siehe auch: Dirk Bronger, Metropolen, Megastädte, Global Cities. Die Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004. 5 Ein Beispiel für eine bestattungsrelevante Innovation in Berlin ist auch die Gründung von Feuerbestattungsvereinen: 1874 Verein für Feuerbestattung in Berlin, Die Flamme und Verein der Freidenker für Feuerbestattung im Jahre 1905 sowie der Kongress für Feuerbestattung in Berlin 1890. 6 So unter anderem Anthony Suttcliffe, Hg., Metropolis, 1890–1940, London 1984.

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Stephan Hadraschek

scheidende Urbanisierungsphase“ (Klaus Tenfelde), sie setzten sich auch als das dominante soziale und kulturelle Muster durch. Bezogen auf das Thema der Arbeit ergibt sich für Berlin eine Entwicklung zum Großfriedhof mit der Anlegung des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee im Jahre 1880 als Friedhof der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.7 Mit der Eröffnung des Central-Friedhofs Friedrichsfelde im Jahre 1881 folgte dann die erste kommunale Bestattungsanlage, die zunächst für Armenbegräbnisse gedacht war. Die Bedeutung dieses Bestattungsortes lässt sich durch die Nutzung ermessen, denn in den ersten Jahren seines Bestehens stieg die Zahl der Beisetzungen auf diesem Friedhof erheblich.8 Die Armenbegräbnisse traten in den Folgejahren in den Hintergrund, da der Friedhof bei Wohlhabenden aufgrund seiner attraktiven Gestaltung immer beliebter wurde.

Die Jahre 1939/42 als Zäsur Die zeitliche Begrenzung von 1939/1942 ergibt sich dadurch, dass Berlin in der Zeit zwischen 1939 und 1942 einen Höchststand der Bevölkerung mit ca. 4,4 Millionen Einwohnern erreicht hatte.9 Die Phase des Kriegsbeginns wurde für das Friedhofs- und Bestattungswesen im Nationalsozialismus zu einer weiteren Zäsur, denn geplante Umsetzungen wurden kriegsbedingt zunächst eingestellt. Dazu gehören unter anderem die noch zu erwähnenden Aschenhaine, die Fertigung einheitlicher Grabkennzeichnungen und allgemein die Zurückdrängung kirchlicher Begräbnisse. Die Aktivitäten des Generalbauinspektors für die Planungen einer „Welthauptstadt Germania“10 mit massiven Aus- und Umbauten waren zwar nicht unmittelbar kriegsbedingt, haben aber die weitere Friedhofsentwicklung Berlins erheblich beeinflusst: Von den Umgestaltungsplänen waren auch die historisch bedeutsamen Friedhöfe von St. Matthäus und der Nachbargemeinde XII Apostel im Stadtbezirk Schöneberg beeinträchtigt. Wo sie lagen, sollte ein neues Reichsversicherungsamt und – als Endpunkt der innerstädtischen Straßenachse – ein riesenhafter ‚Südbahnhof ‘ entstehen. Deshalb hatte Speers Dienststelle (Generalbauinspektion) einen Teil der Friedhöfe ‚entwidmet‘, d.h. ihrer

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Obwohl noch nicht alle Gebäude fertiggestellt waren. Dies war erst im April 1883 der Fall.

8 Ebd.; siehe auch: Julius Rodenberg, Bilder aus dem Berliner Leben, Berlin 1987 (Neuauf-

lage). Angaben nach Herbert Schwenk, Lexikon der Berliner Stadtentwicklung, Berlin 2002, S. 253–255; sowie http://de.wikipedia.org/wiki/Einwohnerentwicklung_von_Berlin (Zugriff: 14.12.2014) und Peter Ring, Bevölkerung, in: Horst Ulrich, Uwe Prell, Ernst Luuk (Hg.), Berlin Handbuch. Das Lexikon der Bundeshauptstadt, Berlin 1992. 1 0 Hans J. Reichhardt und Wolfgang Schäche, Von Berlin nach Germania, Berlin 1998. 9

Tod in der Metropole bisherigen Bestimmung entzogen, und die Gräber – losgelöst von Nutzungszeiten – an die Peripherie der Großstadt Berlin verlegt.11

Raum für die stille Stadt – Umgang mit Toten – Friedhofsräume Mit dem 18. Jahrhundert setzt im europäischen Friedhofs- und Bestattungswesen ein bedeutsamer Wandel ein, der sowohl in der Anlage von als auch in den Funktionen des Friedhofs sichtbar wird. Dieser Wandel zeigt so tief greifende Veränderungen im abendländischen Lebensgefühl auf, dass man von einer mentalen Epochenwende zwischen Mittelalter und Neuzeit sprechen kann. Die enormen Veränderungen, die sich im 18. Jahrhundert für die Sepulkralkultur12 vollzogen, sind insbesondere ablesbar an der sich auflösenden räumlichen Einheit der Lebenden und der Toten.13 Die Friedhöfe wurden zunehmend aus den Städten und Gemeinden heraus vor die Stadttore verlagert. Diese Separierung der Toten von den Lebenden setzte sich im 19. Jahrhundert fort. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es infolge des rasanten Wachstums der europäischen Großstädte eine Art Randwanderung der Begräbnisstätten. Die Bildung zahlreicher neuer Gemeinden hatte den Gedanken zur Anlage großräumiger „Zentralfriedhöfe“ reifen lassen. Seit etwa 1880 war in Berlin in Kirchen-, Stadtplaner- und Architektenkreisen die Forderung nach derartigen Begräbnisplätzen laut geworden, zumal sich auf den seinerzeit vor den Toren der Stadt angesiedelten Friedhöfen die Raumkapazitäten erschöpft hatten.14 Die preußische Hauptstadt Berlin wurde 1866 Hauptstadt des Norddeutschen Bundes und 1871 Hauptstadt des Deutschen Reiches, an dessen 11

Dirk Reimann, Die geträumte Welthauptstadt Germania und die Umsetzungen von Gräbern aus Berlin-Schöneberg nach Stahnsdorf, in: Forschungsprojekt der Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe in Berlin-Brandenburg, Berlin 2001, S. 14–16; dazu auch: Herbert Schwenk, Lexikon der Berliner Stadtentwicklung, Berlin 2002, S. 269–271. 12 Sepulkralkultur (lat. sepulcrum = Grab, Grabgelege). Nach dem Friedhofshistoriker HansKurt Boehlke werden unter Sepulkralkultur alle kulturellen Erscheinungsformen der Totenbestattung und des Totengedenkens verstanden. Zu ihnen zählen danach: „Kirchhöfe und Friedhöfe in ihrer siedlungsstrukturellen, architektonischen, garten- oder landschaftsgestalterischen Erscheinungsform, Grabmale in zeitgebundenen Formen und mit zeitgebundenen Inschriften und Symbolen, Texte und Inschriften wie Leichenreden, Totengedenk- und Gebetbücher, Predigtsammlungen, Realien des Totengedenkens wie Gewänder, Gebinde, Totenkronen, Totenmasken usw., Toten- und Bestattungsriten“, Hans-Kurt Boehlke, Einführung, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. (Hg.), Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur 1750–1850, Mainz 1979, S. 1–6, hier S. 2. 13 Herbert Derwein, Geschichte des christlichen Friedhofs in Deutschland, Frankfurt 1931, S. 19–68. 14 Siehe dazu: Deutsche Bau-Zeitung. Verkündigungsblatt des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine. Vierunddreissigster Jahrgang. 1900, Berlin, S. 320–322.

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Spitze der König von Preußen als Deutscher Kaiser Wilhelm I. stand.15 Berlin, nun zunehmend Kaiserstadt und Reichshauptstadt genannt, wurde zur bedeutendsten deutschen Industrie-, Verkehrs- und Kulturmetropole. Die Funktion Berlins als Reichshauptstadt und ihre Entwicklung zur Metropole des Deutschen Reichs hatten zur Folge, dass eine enorme Anzahl von Menschen insbesondere aus den östlichen Provinzen nach Berlin zog. 1877 überschritt die Bevölkerung die 1-Millionen-Grenze und bereits 1905 die 2-Millionen-Grenze. Die Vorstädte und Vororte vergrößerten sich rasch, die Stadt und die Randwanderungen ihrer Industrie seit 1882 fraßen sich immer weiter ins Umland.16 Schließlich wurde die neue Reichshauptstadt auch zur größten deutschen Behördenstadt (preußische Staatsbehörden, Stadtverwaltung, Militär, Reichstag, Bundesrat). Zahlreiche städtische Neuerungen kamen hinzu. So entstand u.a. im Zentrum der Stadt das Rote Rathaus (1861–69) und in fußläufiger Entfernung das Stadthaus nach Plänen von Ludwig Hoffmann. Dies wurde erforderlich, da die Verwaltungsaufgaben der Metropole wuchsen und immer mehr Personal samt Räumlichkeiten benötigt wurden. Des Weiteren wurde die Charité zum Klinikviertel ausgebaut und das Krankenhaus am Friedrichshain 1874 als erstes städtisches Krankenhaus Berlins errichtet. Aufgrund der hohen Sterberaten am ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert besonders in Ballungsräumen und Metropolen waren die bereits vorhandenen Friedhöfe auch in Berlin bald ausgelastet. Spätestens seit den Gründerjahren waren die Friedhöfe Berlins an die Grenzen ihrer Kapazität gestoßen, hielten mit der Bevölkerungs- und Stadtentwicklung nicht mehr Schritt. Der permanente Platzmangel auf ihnen hatte zur Folge, dass die gesetzlichen Ruhefristen der Gräber immer kürzer wurden. In einigen Städten mussten die Gräber bereits nach sieben Jahren aufgelassen werden, um für die nächsten Beisetzungen Platz zu machen. Dabei entstanden, neben der Geruchsbelästigung, ernsthafte Gefahren für die Gesundheit der Menschen. Insbesondere die nicht erkannten, ansteckenden Krankheiten, stellten ein zunehmendes Problem dar.17

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Dazu: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd.1, Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990 (3. Aufl.); Franz J. Bauer, Das ‚lange‘ 19. Jahrhundert (1789–1917): Profil einer Epoche, Stuttgart 2010 (3. Aufl.). 16 Herbert Schwenk (Hg.), Lexikon der Berliner Stadtentwicklung. Berlin 2002, hier besonders S. 161–168. 17 Ausdruck für die Bemühungen einer Verbesserung der hygienischen Zustände war die Gründung des Königlich Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten im Jahr 1900 unter Leitung von Robert Koch. Heute ist es das Robert Koch-Institut (RKI), Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Anstrengungen zur Verbesserung der Hygiene erfassten nicht nur das Bestattungswesen, sondern viele Einrichtungen wie Krankenhäuser, Gerbereien und Schlachthöfe.

Tod in der Metropole

Es wird deutlich, dass schon aufgrund der erheblich gestiegenen Bevölkerung mehr Bestattungsfläche zur Verfügung gestellt werden musste.18 Hierbei gilt es generell, zwei ‚Hauptdarsteller‘ zu berücksichtigen: zum einen die Kirche, zum anderen die Kommune. Bis zum Beginn des 19. Jh. gab es in Berlin neben wenigen Anstaltsfriedhöfen und dem Garnisonfriedhof nur kirchliche Friedhöfe. Die ersten städtischen Friedhöfe entstanden zunächst ausschließlich als Armenfriedhöfe, denn mit zunehmenden Bevölkerungszahlen gab es auch mehr Mittellose, für die Bestattungskapazitäten sichergestellt werden mussten. Auch der als erste nichtkonfessionelle und kommunale Begräbnisstätte im Jahre 1881 eröffnete Zentralfriedhof Friedrichsfelde diente anfangs überwiegend als Armenfriedhof.19 Ein Jahr nach der Eröffnung war er bereits zu drei Vierteln belegt. Bezeichnend für das starke Wachstum der Stadt und den Mangel an Freiflächen war, dass auch Friedhöfe in die Freiflächenplanung einbezogen werden mussten, die nicht weiter für Bestattungen genutzt wurden.20 Obwohl sich die Kirchengemeinden gegen eine Umnutzung sträubten, wurden Friedhöfe in Grünflächen umgewandelt. So kaufte die Stadt 1907 5,6 Hektar des Botanischen Gartens auf und erwarb ein 25 Hektar großes Gelände im Wedding für die Anlage des Schillerparks.21 Bei zunehmendem Mangel an Freiflächen im Großstadtraum wurde es immer schwieriger, freies Gelände für Friedhöfe zu finden. Besonders die dichtbevölkerten Gemeinden im Südosten, Osten und Norden der Stadt mussten mangels verfügbarer Bestattungsflächen ihre Toten außerhalb Berlins bestatten. Es gab daher Bestrebungen, keine weiteren Friedhöfe in den Vororten anzulegen und stattdessen so genannte Zentralfriedhöfe an der Peripherie mit Anschluss an das Eisenbahnsystem einzurichten.

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Dass dies auch die Entwicklung der Feuerbestattung in Berlin gefördert hat, beschreibt Stadtrat Wilhelm Ahrens in seinem Aufsatz Entwicklung und Bedeutung der Feuerbestattung in Berlin von 1926, in: Probleme der neuen Stadt Berlin. Darstellungen der Zukunftsaufgaben einer Viermillionenstadt, Berlin 1926, S. 295–299. 19 Joachim Hoffmann, Berlin Friedrichsfelde. Ein deutscher Nationalfriedhof, Berlin 2001; Reiner Sörries, Ruhe sanft: Kulturgeschichte des Friedhofs, Kevelaer 2009. 2 0 Gottfried Korf, Reinhard Rürup (Hg.), Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt. Berlin 1987, S. 225–233. 21 Ebd.

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Der Berliner Bestattungsunternehmer Otto Berg vor einem Horch Typ 8, um 1935

Das Bestattungsgewerbe Auch das Bestattungsgewerbe erfuhr in den Metropolen seinen Aufstieg. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine Zentralisierungstendenz im Bestattungswesen erkennen. Möglich geworden war sie durch eine Reihe von Faktoren: Mit der Aufklärung und Säkularisation setzte eine Verweltlichung des Friedhofs- und Bestattungswesens ein und der Friedhof löste sich aus dem Bereich der Kirche. Der aufgeklärte Staat übernahm – besonders im Rahmen gesundheitspolitischer Maßnahmen – die Verantwortung für die Garantie der Hygiene zum Schutze der Gemeinschaft.22 Man ging – nicht nur räumlich – auf Distanz zu den Toten. Mit der Industrialisierung, der Urbanisierung und der damit verbundenen Auflösung gewachsener Gemeinschaften wie Nachbarschaften, Zünfte und Gilden sowie mit den sich wandelnden Wohn- und Verkehrsverhältnissen veränderte sich auch die Praxis der Bestattung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und regional lange darüber hinaus war die eigentliche Bestattungstätigkeit, wie z.B. Waschen, Einsargen oder das Tragen des Sarges zum Grab) eine Aufgabe der Familie und Nachbarschaft. Diese Verrichtungen verlagerten sich zunehmend auf professionelle Dienstleister. Strenge hygienische und zivilrechtliche Vorschriften beherrschten in zunehmendem Maße das Friedhofswesen und machten es für den Laien schwerer durchschaubar. Damit begann die Ära des Berufs des 2 2

Siehe hierzu Susanne Schindler-Reinisch (Hg.), Berlin-Central-Viehhof: Eine Stadt in der Stadt, Berlin 1996.

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Bestatters.23 Vor allem im städtischen Raum vollzog sich im Zuge dessen der Schritt zum so genannten Vollerwerbsbestatter. Deutlich wird diese Entwicklung daran, dass die Preußische Gewerbeordnung 1869 das Amt des Königlichen Leichen-Commissarius abschaffte, der bis dahin die Überführung der Toten auf die Kirchhöfe überwacht hatte. Danach konnte das Geschäft mit dem Tod unternehmerisch genutzt werden. Seit etwa 1870 entstand somit aus dem Nebenerwerbsbestatter24 das private Bestattungsunternehmen als neuer, selbständiger Berufszweig.25

Berlin – Stadt der Widersprüche Berlin als Metropole war im untersuchten Zeitraum Laboratorium der künstlerischen Avantgarde und Modell eines zu gestaltenden Raumes.26 Die Großstadt erschien dabei als Bezugspunkt für moderne Formen von Malerei und Fotografie, Städtebau und Design, Film und Theater, Mode und Musik. Doch wie sehr auch Berlin durch Erscheinungen der Moderne, zum Beispiel Hochhausarchitektur, Verkehr und Kaufhäuser, eine Anziehungskraft auf Künstler ausübte, so wenig anziehend war das Bestattungs- und Friedhofswesen. Selbst die Friedhofsreformbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts änderte daran nichts. Auch wenn die Intention einer „Reform“ darin steckte, blieb eine wirkliche Erneuerung, zumindest der Friedhofsgestaltung im innerstädtischen Bereich, aus.27 Die Friedhofsreform stand dabei im Zusammenhang mit anderen (Lebens-) Reformbewegungen, die sich gegen die Folgen von Verstädterung und Urbanisie 2 3

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Durch den 1869 in der Gewerbeordnung des Deutschen Reiches festgelegte Grundsatz der Gewerbefreiheit verloren Zunftzugehörigkeiten oder der Besitz von Konzessionen und Privilegien ihre Bedeutung. Siehe hierzu die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich (zuerst für den Norddeutschen Bund) vom 21. Juni 1869, Bundesgesetzblatt S. 245, mit zahlreichen das erste Gesetz abändernden oder ergänzenden Nachträgen. Hauptsächliche Tätigkeit war Tischler, Zimmermann und Fuhrunternehmer. Vgl. Dagmar Hänel, Bestatter im 20. Jahrhundert: Zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs, Münster 2003. Vgl. Burcu Dogramaci (Hg), Großstadt. Motor der Künste in der Moderne, Berlin 2010. In diesem interdisziplinären Band wird die Großstadt als Bezugspunkt für moderne Formen von Malerei und Fotografie, Städtebau und Design, Film und Theater, Mode und Musik dargestellt. Dazu u.a. den Artikel Friedhofsreform, in: Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur, Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel (Hg.), Braunschweig 2002 (1. Volkskundlich-kulturgeschichtlicher Teil: von Abdankung bis Zweitbestattung), S. 99–101. Außerdem grundlegend: Reiner Sörries (Hg.), Vom Reichsausschuss zur Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kassel 2002 (Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, Bd. 9). Dazu auch AnnaMaria Götz, Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900, Köln u.a. 2013.

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rung sowie eine Industrialisierung auf die Gesellschaft zur Wehr setzten.28 Speziell bei der Friedhofsreformbewegung stand dabei das Bemühen um Verbesserung der Grabmalgestaltung, begleitet von Ansätzen der Friedhofsästhetik, im Fokus. Dass diese Bestrebungen bei der Bevölkerung nur auf wenig Verständnis stießen, erschwerte die Umsetzung beträchtlich. Daher bediente man sich strenger Vorschriften in Friedhofsordnungen, denen sich die Nutzer beugen mussten.29 Bei der Friedhofsreformbewegung ging es allerdings nicht ausschließlich um eine Verbesserung der Grabmalgestaltung und der Gesamtanlage des Friedhofs: Es gab auch einen grundlegenden Dissens zwischen industriellem und handwerklichem Grabmal, der wirtschaftliche Interessen berührte.30 Zum Ausgleich dieses Konflikts wurde 1921 der Reichsausschuss für Friedhof und Denkmal in Dresden gegründet.31 In der NS-Zeit kam es dann mit dem „Arbeitsausschuss für Friedhof und Denkmal“ zu einer Verschärfung der Reformideen im Sinne der Nivellierung. Die so genannte Volksgemeinschaft sollte sich auch im Bestattungs- und Friedhofswesen festsetzen. Diese Arbeit wurde jedoch durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs erschwert bzw. vorzeitig beendet.32 Für Berlin waren die von Joseph Pertl propagierten Ausstreuwiesen vorgesehen, getreu den Ausführungen Goethes in den Wahlverwandtschaften, die Aschereste auf blumiger Wiese in einem feierlich gestalteten Hain33 zu bestatten. Die Überlegungen Pertls

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U.a. durch die so genannte Gartenstadtbewegung. Dazu Bernhard Kampffmeyer, Von der Gartenvorstadt zur Gartenstadt. Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft e. V., Berlin-Grünau 1919; Ders., Von der Kleinstadt zur Gartenstadt. Flugschrift - Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft, Berlin-Schlachtensee 1908 (Bd 11.). Ein Musterbeispiel stellt der von Hans Grässel entworfene und 1907 eröffnete Münchner Waldfriedhof dar. Hans Grässel, Der Waldfriedhof in München, München 1907. Siehe dazu: Barbara Leisner, Die Einführung von Grabmalrichtlinien und ihre Folgen – noch einmal das Beispiel Friedhof Ohlsdorf in Hamburg, in: Reiner Sörries (Hg.), Vom Reichsausschuss zur Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kassel 2002 (Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, Bd. 9), S. 97–114. Die heutige (seit 1951) Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (AFD) mit Sitz in Kassel. Reiner Sörries (Hg.), Vom Reichsausschuss zur Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kassel 2002 (Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, Bd. 9). Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Stuttgart 1988. Hier besonders zweiter Teil, erstes Kapitel, S. 127–131: „Wir erinnern uns jener Veränderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorgenommen hatte. Die sämtlichen Monumente waren von ihrer Stelle gerückt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden. Der übrige Raum war geebnet.“ Hier wird von Goethe das Vorbild des Neuen Begräbnisplatzes in Dessau (1787–1789) aufgegriffen, bei dem keinerlei individuelle Grabkennzeichnung vorgesehen war – und somit quasi als Modell späterer zeichenloser Beisetzungsformen diente.

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entsprachen der nationalsozialistischen Ideologie von einer Volksgemeinschaft, bei der das Individuum wenig zählte.34

Die Kirche und das Ringen um Friedhofsraum Die Geschichte der Berliner Synodalfriedhöfe verdient in mehrerer Hinsicht Aufmerksamkeit, vor allem als Beitrag der evangelischen Kirche zu einer neuen Friedhofskultur und als weitsichtiger stadtplanerischer Lösungsversuch. Die Anlagen von Ahrensfelde im Nordosten, Stahnsdorf im Südwesten und Mühlenbeck im Nordwesten der Stadt waren gedacht als in die Zukunft gerichtet Investitionen, die sich allerdings letztlich nicht ausgezahlt haben. Während beim Stahnsdorfer Südwestkirchhof35 die ursprünglichen Planungsideen am weitesten verwirklicht werden konnten, kam für den Ahrensfelder Ostfriedhof schon nach zwei Jahrzehnten eine Stagnationsperiode, und das in Mühlenbeck als Nordfriedhof vorgesehene Areal wurde niemals für Begräbniszwecke genutzt. Gesellschaftliche Interessengegensätze und finanzielle Einschränkungen infolge des Ersten Weltkriegs und der Inflationszeit waren Ursachen dafür, dass von den vorgesehenen riesigen konfessionellen und kommunalen Waldfriedhöfen außerhalb der Stadtgrenzen nur zwei eröffnet werden konnten. Mit der Bildung des Berliner Stadtsynodalverbandes sollten die erheblichen Probleme gelöst werden, die sich für die Berliner evangelischer Kirchengemeinden und ihrer Leitungsgremien aus der damaligen Bevölkerungszunahme ergaben. Die Stadtsynode übernahm als Einrichtung der Selbstverwaltung vor allem die materielle Sicherung der neu entstehenden Großgemeinden in der Metropole Berlin. Die enorm gewachsenen Berliner Kirchengemeinden benötigten dringend neue Bestattungsplätze, waren zumeist aber nicht mehr in der Lage, innerhalb des Stadtgebietes entsprechende Flächen zu einem tragbaren Preis zu erwerben. Deshalb waren sich die Mitglieder der Stadtsynode am 10. Februar 1896 darin einig, den Geländekauf in der Umgebung Berlins zur späteren Anlage von Friedhöfen rechtzeitig in Erwägung zu ziehen. In einer Konferenz von Vertretern der königlichen Staatsregierung und der evangelischen Kirche im Büro der Berliner Stadtsynode wurde am 19. November 1901 zu diesem Problem folgender Beschluss gefasst: Der geschäftsführende Ausschuss habe bei der Erwerbung von Friedhofsland einen Weg einzuschlagen, durch den „große, weit von Berlin gelegene Kirchhöfe anzulegen und unter Ausnutzung aller modernen Verkehrsmittel mit 3 4

Dazu auch Uta Lehnert, Den Toten eine Stimme. Der Parkfriedhof Lichterfelde, Berlin 1996. Außerdem der Beitrag in diesem Band von Anna-Livia Pfeiffer, Vom vergläserten Toten und den Totenstädten der Zukunft – Asche und Utopie. 3 5 Der Südwestkirchhof Stahnsdorf sollte rund 600.000 Gräber auf 150 Hektar Waldfläche anbieten.

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der Stadt zu verbinden seien“.36 Diese Bemühungen führten in den folgenden fünf Jahren dann zu dem oben genannten Kauf ausgedehnter Flächen in Stahnsdorf, Ahrensfelde und Mühlenbeck.

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Postkarte mit Motiv der Friedhofskapelle auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf, um 1915

Tendenzen zur Zentralisierung Zwischen 1874 und 1881 gab es prominente Beispiele der Konzentration und Zentralisierung in Bezug auf Neugründungen von Friedhöfen: so beispielsweise bei dem 1874 eröffneten Wiener Zentralfriedhof und dem 1877 eingeweihten Friedhof Hamburg-Ohlsdorf. Zudem gab es von führenden Architekten und Stadtplanern Entwürfe für weitere Metropolen.37 Genannte Anlagen können als Prototypen einer Zentralisierungstendenz angesehen werden, die das Bestattungswesen effektiver und rationaler gestalten wollte.38 Die Zentralisierung und Auslagerung von Friedhöfen an die Stadtperipherie entsprach der Ausfächerung städtischer Infrastruktur wie beispielsweise bei Krankenhäusern, Schlachthöfen und Hauptbahnhöfen. Die Intention dabei war die zentrale Organisation und Bewirtschaf 3 6

Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZA), Berichte des geschäftsführenden Ausschusses an die Berliner Stadtsynode, 1901, hier u.a.: EZA, 7/13370 Best. 7 Ev. Oberkirchenrat. 37 So zum Beispiel das Idealprojekt einer Zentralfriedhofs-Anlage für die Stadt Warschau von Dr. Stefan Fayans aus dem Jahre 1905. Warschau hatte zu diesem Zeitpunkt ca. 800.000 Einwohner und konnte somit als Großstadt bezeichnet werden. 3 8 Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. (Hg.), Raum für Tote, Braunschweig 2003, hier besonders S. 111–144.

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tung. Am 28. Oktober 1876 erwarb der Magistrat von Berlin ein großes Gelände auf der Feldmark Lichtenberg, um darauf den „Central-Vieh- und Schlachthof “ zu errichten39. Grundlegend dafür – wie auch für das Bestattungswesen – waren u.a. die Hygienevorstellungen vom Berliner Arzt Rudolf Virchow. Somit ist der zeitliche Zusammenfall sicher kein Zufall gewesen. 1881 wurde dort der große Zentralvieh- und Schlachthof zur besseren Fleischversorgung der Stadt eröffnet. 1884 nahm die Zentralmarkthalle am Alexanderplatz ihren Betrieb auf, bis 1893 folgten weitere 18 Markthallen im gesamten Stadtgebiet. Daneben kam es zum Ausbau u.a. der Gas- und Elektrizitätsversorgung, der Gesundheitspflege und des Verkehrswesens.40 Diese knappe Aufzählung soll verdeutlichen, dass es im Berlin der Jahrhundertwende einen enormen Bedarf an Erweiterung und Entwicklung in den verschiedensten Bereichen der Daseinsvorsorge gab. Die Idee eines Zentralfriedhofs war attraktiv. Dieser sollte so großzügig geplant werden, dass er mit der Großstadt wachsen konnte. Die Erreichbarkeit der außerhalb der Stadt gelegenen Anlagen sollte mit den damals entwickelten Verkehrsmitteln kein Problem darstellen. Das Hauptanliegen der Planer war die Möglichkeit einer zentralen Organisation und Bewirtschaftung. Damit steckt hinter der Begrifflichkeit Zentral eigentlich nicht mehr als der Anspruch einer Zusammenführung organisatorisch und verwaltungstechnisch wichtiger, kommunaler Dienstleistungen und Gewerke. Und die Entwicklung der Zentralisierung betraf sowohl das kommunale wie auch das konfessionelle Friedhofswesen. Denn selbst der Central-Friedhof Friedrichsfelde hatte mit erheblicher Konkurrenz – insbesondere den konfessionellen Bestattungsplätzen zu kämpfen. Die Kommune konnte dem nicht viel entgegensetzen – und eine vollständige Kommunalisierung wie in anderen Metropolen ließ sich nicht durchsetzen, da die Einrichtung eines kommunalen Bestattungswesens gegen die Prinzipien der freien Marktwirtschaft und der freien Konkurrenz verstoßen hätte.41 Um 1880 lässt sich bereits allein aufgrund der 3 9

Am 1. März 1881 eröffnet. Zum ersten Mal in der Geschichte Berlins nahmen die städtischen Behörden den Handel mit Schlachtvieh unter ihre Kontrolle. Sie hatten einen Großbetrieb errichtet, der über das Monopol zum Schlachten des Viehs und damit zur Versorgung der Fleischer mit einwandfreier Ware verfügte. Begründet wurde dies u.a. mit den unzureichenden hygienischen Zuständen. 4 0 Dazu auch Günter Möschner, 1. März 1881: Eröffnung des städtischen Central-, Vieh- und Schlachthofes, in: Edition Luisenstadt, 1997, S. 94–95. 41 Dazu auch Möschner, Eröffnung, S. 94f. Rudolf Virchow schlug bereits 1864 in der Stadtverordnetenversammlung vor, ein von der Stadt Berlin betriebenes, öffentliches Schlachthaus einzurichten, um für die immer weiter wachsende Berliner Bevölkerung eine bessere Qualität in der Fleischversorgung zu gewährleisten. Eine Kommission empfahl 1866, dass ein Schlachthaus zusammen mit einem Viehmarkt auf dem gleichen Gelände errichtet werden sollte, da durch die Kombination für die Viehhändler Kostenvorteile entstehen würden und die Kontrollen in den Ställen und Schlachthäusern vereinfacht werden könnten. Die

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Bevölkerungsentwicklung eine zeitliche Zäsur festmachen: Berlin hat mit seiner Einwohnerzahl die 1-Million-Grenze erreicht und wurde somit zur Metropole.42 Die damit verbundenen Probleme auch auf dem Sektor des Bestattungswesens können, wie bereits erörtert, mit dieser Zäsur sinnvoll dargelegt werden. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es in friedhofskultureller Hinsicht bedeutende Zentralisierungen: Am 28. April 1880 erwarben die Berliner Stadtväter auf Initiative des Stadtrats Ernst Friedel von dem Rittergutsbesitzer Roeder das Areal des späteren Central-Friedhofes Friedrichsfelde. Die offizielle Eröffnung erfolgte 1881. Die Bedeutung dieses Bestattungsortes lässt sich auch durch die Nutzung ermessen, denn in den ersten Jahren seines Bestehens stieg die Zahl der Beisetzungen auf diesem Friedhof erheblich. Die Stadtverwaltung ließ deshalb um 1895 durch die Preußische Ostbahn eine Eisenbahnverbindung hierher einrichten, weil sowohl für die Angehörigen als auch für die Bestattungsunternehmen der Weg äußerst beschwerlich war.43 Zudem wurde der Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee im Jahre 1880 als Friedhof der Jüdischen Gemeinde zu Berlin angelegt. Er ist bis heute der flächengrößte erhaltene jüdische Friedhof Europas. Am 9. September 1880 wurde der Friedhof feierlich eingeweiht, die Eröffnung fand am 1. März 1881 statt.44

Das Erscheinungsbild und die Gestaltung der Begräbnisplätze Die entscheidende Zäsur in der Entwicklung des Bestattungswesens brachte erst die Anlage der außerstädtischen Friedhöfe im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert. Mediziner, die aus hygienischen Gründen die Schließung der innerstädtischen Begräbnisplätze durchgesetzt hatten, übten nun als Staatsbeamte einen maßgeblichen Einfluss auf die Planung und Gestaltung der neuen

Stadtverwaltung schlug ein Grundstück in Moabit nahe der Beusselstraße vor, doch die Mehrheit der Stadtverordneten lehnte das Projekt ab. Am 18. März 1868 erließ die preußische Regierung aufgrund der Missstände im Schlachtgewerbe und der weiten Verbreitung der Trichinose das Gesetz über die „Errichtung öffentlicher, ausschließlich zu benutzender Schlachthäuser“, das sogenannte Schlachtzwanggesetz, das den Bau von kommunalen Schlachthäusern fördern und das anschließende Verbot privater Schlachtereien ermöglichen sollte. Auch Berlin hatte nun die gesetzliche Aufgabe, ein öffentliches Schlachthaus zu errichten und dort hygienische Kontrollen durchzuführen, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Zentralvieh-_und_Schlachthof (letzter Zugriff: 7.12.2014). 42 Dirk Bronger, Metropolen, Megastädte, Global Cities. Die Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004. 4 3 Ebd.; siehe auch: Julius Rodenberg, Bilder aus dem Berliner Leben, Berlin 1987 (Neuauflage). 4 4 Obwohl noch nicht alle Gebäude fertiggestellt waren. Dies war erst im April 1883 der Fall.

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Friedhöfe aus.45 Als vorrangig erwies sich zunächst die Schaffung hygienischer und zweckmäßiger Verhältnisse im Bestattungswesen, denen ästhetische Gestaltungsprinzipien nachgeordnet waren. Dies betraf in erster Linie die Lage der Friedhöfe, ihre Bepflanzung und das erwähnte Reihenbegräbnis. Letzteres bewirkte den geometrischen Grundriss und eine klare, regelmäßige Binnenstruktur mit rasterförmigen Wegenetzen. Die strenge Rationalität des Reihenbegräbnisses, die eine sichere Identifikation des Einzelgrabes und feste Ruhezeiten gewährleistete, erwies sich erst allmählich als ein Gebot menschlicher Würde und Individualität. Sie war zugleich eine Voraussetzung für die persönliche Grabpflege und die damit einhergehende Bindung an das individuelle Grab. Die Bepflanzung war ebenfalls Teil sanitätspolizeilicher Vorschriften. Sie sollte die damals gefürchteten, übel riechenden Ausdünstungen aufsaugen und gleichzeitig die Luftzirkulation nicht behindern.46 Daher blieb sie zunächst spärlich und aus finanziellen Gründen auf den Randbereich und die Wegränder begrenzt. Gartengestalterische Elemente sollten erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem im letzten Drittel, das ästhetische Erscheinungsbild der Friedhöfe verändern. Der Kosten- und Planungsbedarf für die überschaubaren, zweckrationalen und teilweise dürftig ausgestatteten Stadtfriedhöfe des frühen 19. Jahrhunderts war noch relativ gering. Dagegen erforderte die Anlage der großen, repräsentativen Zentralfriedhöfe einen wesentlich höheren Planungs- und Gestaltungsaufwand als zu Beginn des Jahrhunderts. Architekten, Landschafts- und Gartengestalter, Raum-, Verkehrs- und Städteplaner, Geologen, Mediziner, Ingenieure u.a. wurden an der Projektierung und dem Bau der neuen großstädtischen Begräbnisanlagen beteiligt.47 Die Einrichtung von Friedhöfen war zur städtebaulichen Großaufgabe geworden. Dem Stilpluralismus der Zeit entsprechend, konnten sie als parkartige Gelände, architektonische Anlagen und wenig später dann als Waldfriedhöfe konzipiert werden. Es wurden deshalb in Berlin große kommunale und konfes­ sionelle Friedhöfe angelegt (In den Kisseln in Spandau, 1885; Luisenfriedhof I, 1891; Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchhof, 1896; Parkfriedhof Lichterfelde, 1908). Der Berliner Stadtsynodalverband weihte 1908 den Ostkirchhof Ahrensfelde und 1909 den Südwestkirchhof in Stahnsdorf ein, die beide weit außerhalb Berlins

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Siehe dazu: Barbara Happe, Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870, Tübingen 1991 (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 77). 4 6 Happe, Entwicklung, S. 217–219. 47 Vgl. Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 1996, S. 101–110.

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lagen.48 Einen überaus wichtigen Einfluss im beginnenden 20. Jahrhundert hat der deutsche Gartengestalter Erwin Barth hinterlassen.49 Auf diesen großzügig mit Funktionsbauten wie monumentalen Aussegnungsund Leichenhallen, Krematorien und Verwaltungsgebäuden ausgestatteten Anlagen wurde nun die Bepflanzung erstmals zu einem wichtigen Gestaltungsmittel. Den neuen Erkenntnissen folgend, dass ein dichter Bewuchs die Verwesung nicht verzögert und die Luft nicht beeinträchtigt, wurden ausgedehnte, stimmungsfördernde Anpflanzungen vorgenommen. Der amerikanische Landschaftsfriedhof gewann nun Vorbildcharakter.50 Die natürliche Landschaft bestimmte die Atmosphäre des Waldfriedhofes, auf dem die Grabdenkmäler in die Natur einbettet waren. Besonders in den Großstädten wurde den Friedhöfen eine ganz neue Funktion zugedacht, sie galten wie die Stadtparks als Ruhezonen und dienen heute als wichtige Grünzonen in den Städten.51

Veränderungen durch die Einführung der Feuerbestattung Maßgeblich beeinflusst wurde das Bestattungsverhalten auch durch die Einführung und Entwicklung der Feuerbestattung. In Berlin wurde am Totensonntag, dem 24. November 1912, nach Entwürfen von William Müller das erste Krematorium auf dem Urnenfriedhof im Wedding eröffnet, das bereits beim Bau der Urnenhalle 1910 geplant war. Bereits vier Tage nach der feierlichen Übergabe, am 28. November 1912, erfolgte die erste Einäscherung. Jahrzehntelang hatte die Frage Feuer oder Erde die Öffentlichkeit erregt. Während sich die Kirchen, denen das Monopol der Leichenbestattung 785 von Karl dem Großen durch das Edikt von Paderborn verliehen worden war, vehement gegen die Feuerbestattung wehrten und von einer Verhöhnung der Auferstehungslehre sprachen, plädierten immer mehr Mediziner für diesen Weg. Selbst Wissenschaftler wie der bekannte Sprachforscher Jacob Grimm meldeten sich in dieser Frage zu Wort. In einem Vortrag vor der Berliner Akademie der Wissenschaften am 29. November 1849 4 8

Peter Hahn, Südwestkirchhof Stahnsdorf: Lexikon - Lesebuch – Parkführer, Badenweiler 2003. 49 Dietmar Land, Jürgen Wenzel, Heimat, Natur und Weltstadt. Leben und Werk des Gartenarchitekten Erwin Barth, Leipzig 2005. 5 0 Vgl. Happe, Entwicklung, S. 73. Ferner zur Geschichte der amerikanischen Friedhofsentwicklung: David Charles Sloane, The Last Great Necessity. Cemeteries in American History, Baltimore/London 1991; außerdem: Kenneth T. Jackson/ Camilo José Vergara, Silent Cities. The Evolution of the American Cemetery, New York 1989. 51 Siehe zum sozialgeographischen Ansatz: Andrea Gerhardt, ‚Ex-klusive‘ Orte und normale Räume: Versuch einer soziotopologischen Studie am Beispiel des öffentlichen Friedhofs, Kassel 2007.

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sagte er u.a.: Es ist ein heiterer, der Menschheit würdiger Gedanke, ihre Toten der hellen und reinen Flamme statt der trägen Erde zu überlassen.52 Das Krematorium Wedding, das dritte preußische Krematorium, galt seinerzeit als größte Verbrennungsanlage Europas. Am 20. Juni 1913 wurde im Baumschulenweg an der Kiefholzstraße dann das zweite Berliner Krematorium eröffnet und nach siebenjähriger Bauzeit, verzögert durch den Ersten Weltkrieg und die darauf folgende Inflation, öffnete als drittes das Krematorium Wilmersdorf am 11. Mai 1922. Mit der Fertigstellung dieses Krematoriums wurden die Arbeiten an einem vierten geplanten in der Diestelmeyerstraße eingestellt.53 Bis zum Jahr 1910 war die Zahl der Krematorien in Deutschland bereits auf über 20 angestiegen. Zunächst war die Feuerbestattung in ihrer Frühzeit – nicht zuletzt auch aufgrund der meist relativ hohen Einäscherungskosten – Angelegenheit einer extrem schmalen Minderheit: Zwischen 1878 und 1898 betrug der Anteil der Eingeäscherten an den Gesamtbestattungen im Deutschen Reich kaum mehr als 0,02%. Doch ab den 1870er Jahren entfaltete sich eine regelrechte, in Vereinen organisierte Feuerbestattungsbewegung. Die ersten dieser Vereine entstanden in Städten wie Gotha, Dresden, Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main. Sie betrieben eine breit gefächerte Propaganda, die Vorträge ebenso einschloss wie Broschüren und Presseartikel. Der Berliner Feuerbestattungsverein gab ein eigenes Publikationsorgan heraus (Die Flamme), nach 1899 kam mit dem in Wien erscheinenden Phönix eine weitere deutschsprachige Zeitschrift hinzu. Nachdem sich 1886 die Feuerbestattungsvereine zum Verband der Vereine deutscher Sprache für Reform des Bestattungswesens und facultative Feuerbestattung zusammengeschlossen hatten, fanden regelmäßige Verbandstage statt. In den Jahren 1887 und 1894 waren diese Treffen dann zusätzlich verbunden mit Ausstellungen, in denen die technischen Fortschritte der Feuerbestattung präsentiert wurden. Weitere Krematorien gingen zunächst in Heidelberg (1891) und Hamburg (1892) in Betrieb.54 Nach dem Ersten Weltkrieg stiegen die Einäscherungen, nicht zuletzt durch die Aktivitäten der entstehenden Sterbekassen.55 Doch die Feuerbestattung blieb zunächst die Bestattungsart der privilegierten Schicht. Im Jahre 1926 bezogen 5 2

Jacob Grimm, Über das Verbrennen von Leichen. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 29. November 1849, in: Jacob Grimm, Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, Berlin 1865, S. 211–313, hier S. 307. 5 3 Siehe dazu: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Abt. I Stadt- und Freiraumplanung (Hg.), Friedhofsentwicklungsplan, Berlin 2006; und Jörg Haspel und Klaus von Krosigk (Hg.), Gartendenkmale in Berlin: Friedhöfe, Berlin 2008, hier besonders S. 11–25. 5 4 Fischer, Gottesacker, S. 214. 5 5 Z.B. 1913 die Gründung des Berliner Volks-Feuerbestattungsvereins Groß-Berlin in BerlinNeukölln durch Handwerker, Arbeiter und Kleingewerbetreibende. 1926 zählten bereits 600.000 Mitglieder zum Volks-Feuerbestattungs-Verein V.V.a.G.

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sich die in Berliner Zeitungen veröffentlichten Todesanzeigen fast immer auf Angehörige der gehobenen Mittelschicht und Beamte.56 Aufgrund der Todesanzeigen scheint die Individualität im Leben für die Entscheidung zur Feuerbestattung entscheidend gewesen zu sein.57 Neben dem Akt der Sachlichkeit und weltlichen Gesinnung hatte die Entscheidung für eine Einäscherung auch hygienisch-ökologische Gründe. Parallel zum Hygienediskurs und im Rückgriff auf antike Traditionen wurde die Feuerbestattung als Ausdruck eines Gefühls der Gebildeten gesehen, wie es Friedrich Küchenmeister 1875 beschrieb.58 Inzwischen hatte sich das Interesse von Medizinern und Hygienikern an der Leichenverbrennung auch im wissenschaftlichen Diskurs niedergeschlagen. Die bewusste Entscheidung für eine Einäscherung setzte den Mut voraus, sich dem eigenen Ableben zu stellen und zu entscheiden.

Fazit und Ausblick Die Chancen für Innovationen und Veränderungen wurden auch nach der Entstehung Groß-Berlins im Jahr 1920 kaum genutzt. Dies zeigt sich in der Friedhofssituation bis heute. Es bestand bei der Kommune kein Interesse an einer Verstaatlichung (Kommunalisierung), so dass es bis heute keine städtische Bestattung (wie z.B. in Wien) gibt. Die Stadt und Kommune reagierten lediglich auf Anforderungen wie Bevölkerungswachstum, Hygiene und Bodenspekulation. Die Kirche legte indes aus ökonomischen Gründen und aus Besorgnis vor Säkularisierung und abnehmendem Einfluss Zentralfriedhöfe an. Es existierte daher ein Wettlauf mit der Zeit und den kommunalen Interessen. Damit die metropolitane Bestattungskultur Berlins mit ihren Nekropolen und den beteiligten Akteuren umfassend beschrieben werden kann, bedarf es vieler Aspekte, die im Rahmen meines Forschungsprojekts beschrieben werden sollen. Denn die Frage, wie die Metropole Berlin mit ‚ihren‘ Toten umgegangen ist, wirkt sich bis in die Gegenwart aus und beeinflusst entsprechend auch zukünftige Entwicklungen.

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Hans Ulrich Gumbrecht, 1926, Ein Jahr am Rande der Zeit, Frankfurt/M. 2003, S. 118–122. Ebd., S. 119–120. 5 8 Fischer, Gottesacker, S. 215. 57

Tod in der Metropole

Literatur: Wilhelm Ahrens, Entwicklung und Bedeutung der Feuerbestattung in Berlin von 1926, in: Probleme der neuen Stadt Berlin. Darstellungen der Zukunftsaufgaben einer Viermillio­ nenstadt, Berlin 1926. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. (Hg.), Raum für Tote, Braunschweig 2003. Franz J. Bauer, Das ‚lange‘ 19. Jahrhundert (1789–1917): Profil einer Epoche, Stuttgart 2010 (3. Aufl.). Berichte des geschäftsführenden Ausschusses an die Berliner Stadtsynode, 1901, hier u.a.: EZA, 7/13370 Best. 7 Ev. Oberkirchenrat. Hans-Kurt Boehlke, Einführung, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. (Hg.), Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur 1750–1850, Mainz 1979. Harald Bodenschatz/Christina Gräwe/Harald Kegler/Hans-Dieter Nägelke/Wolfgang Sonne (Hg.), Stadtvisionen 1910/2010. Berlin, Paris, London, Chicago. 100 Jahre Allgemeine Städtebauausstellung in Berlin, Berlin 2010. Dirk Bronger, Metropolen, Megastädte, Global Cities. Die Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004. Herbert Derwein, Geschichte des christlichen Friedhofs in Deutschland, Frankfurt 1931. Deutsche Bau-Zeitung. Verkündigungsblatt des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine. Vierunddreissigster Jahrgang. 1900, Berlin. Burcu Dogramaci (Hg), Großstadt. Motor der Künste in der Moderne, Berlin 2010. Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1996. Ders., Zwischen Trauer und Technik: Feuerbestattung – Krematorium – Flamarium. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2002. Andrea Gerhardt, ‚Ex-klusive‘ Orte und normale Räume: Versuch einer soziotopologischen Studie am Beispiel des öffentlichen Friedhofs, Kassel 2007. Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes Band 1869, Nr. 26, S. 245–282. Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Stuttgart 1988. Anna-Maria Götz, Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900, Köln u.a. 2013. Hans Grässel, Der Waldfriedhof in München, München 1907. Jacob Grimm, Über das Verbrennen von Leichen. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 29. November 1849, in: Jacob Grimm, Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, Berlin 1865, S. 211–313. Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur, Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel (Hg.), Braunschweig 2002 (1. Volkskundlich-kulturgeschichtlicher Teil: von Abdankung bis Zweitbestattung). Hans Ulrich Gumbrecht, 1926, Ein Jahr am Rande der Zeit, Frankfurt/M. 2003. Stephan Hadraschek, Tod in der Metropole Berlin, in: AFD (Hg.), Friedhof und Denkmal. Zeitschrift für Sepulkralkultur, 56. Jg. 3 (2011), S. 29–31.

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Internetquelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Zentralvieh-_und_Schlachthof (letzter Zugriff: 7.12.2014).

Abbildungsnachweise: Abbildung 1: Otto Berg, privat Abbildung 2: Stahnsdorf, Friedhofsarchiv Süd-West-Kirchhof Stahnsdorf

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HELÉNA TÓTH

Leben und Tod im Kommunismus Namensweihen und Begräbnisse in der DDR und in Ungarn (1949–1989) Taufe oder Namensweihe?1 Religiöse Beerdigung oder weltliche Bestattung? Überall, wo die kommunistische Partei in Europa, im Osten wie im Westen, nach dem Zweiten Weltkrieg politischen Einfluss hatte, wurden diese Entscheidungen des Gewissens und Glaubens gleichzeitig Fragen politischer Loyalität. Das durch diese Fragen abgesteckte Konfliktfeld wurde in Giovanni Guareschis populären Romanen über den Kleinkrieg zwischen dem Priester Don Camillo und dem kommunistischen Bürgermeister Peppone in einer kleinen italienischen Stadt von Humor und von einer Art gegenseitiger Achtung gekennzeichnet. Zu guter Letzt wird der Sohn von Peppone doch getauft, jedoch auf den Namen „Lenin Camillo“, und die Kirchenglocke wird nach viel Hin und Her doch für einen jungen getöteten Kommunisten geläutet, weil die „Friedensglocke“ der Kommunisten einen Riss hat. Die populären Verfilmungen der Don CamilloGeschichten schildern noch viel stärker als die Romane die humorvollen Seiten des Kampfes zwischen Religion und politischer Ideologie, in denen schließlich Don Camillo gewinnt, aber in denen auch er mit den politischen Gegebenheiten seiner Gegenwart klarkommen muss. Im Ostblock war das gleiche Konfliktfeld zwischen unterschiedlichen Konfessionen und der kommunistischen Partei bzw. dem Staat viel weniger ausgeglichen, und vielleicht war gerade deswegen dort der Humor in Guareschis Romanen und deren Verfilmungen so beliebt.2 Hinter dem Eisernen Vorhang hatten sowohl die Peppones als auch die Don Camillos (und ihre evangelischen Kollegen) mehr zu verlieren als in der idyllischen (und idealisierten) italienischen Kleinstadt. Es wäre eine Vereinfachung, das Alltagsleben in sozialistischen Ländern ausschließlich auf eine Dichotomie aus religiöser und sozialistischer Weltanschauung zu reduzieren. 1

Dieser Artikel ist eine umgearbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten auf der Tagung transmortale III, 2011, der auf ein umfangreicheres Buchprojekt zurückgeht. 2 Guareschis Romane wurden nach ihrer Erstveröffentlichung in der Originalsprache schnell übersetzt und waren auch im Ostblock zugänglich, unter anderem in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei. Obwohl die Kulturkommission der DDR erreichte, dass die Verfilmung nicht in die Kinos kam, wurde die Verfilmung in ostdeutschen Zeitschriften rezensiert und ausführlich diskutiert. Zur Übersetzung: Lawrence Venuti, The Scandals of Translation. Towards an Ethics of Difference, London 1998, S. 127–130. Zur Rezeption der Filme in deutschsprachigen Medien: Heinz-Winfried Sabais, Don Camillo und Peppone. Zu Duviviers Film, in: Neue literarische Welt (1953) , S. 9; Max Krell, Rund um Don Camillo, in: Neue literarische Welt 5/1953, S. 7.

Leben und Tod im Kommunismus

Trotzdem ergibt es einen Sinn, über konkurrierende diskursive Felder nachzudenken, die, teilweise aufeinander Bezug nehmend, überzeugende Angebote zur Sinnstiftung des Lebens repräsentieren wollten. Sowohl die Akzente als auch die Dynamik dieser Konkurrenz änderten sich radikal während des vierzigjährigen Bestehens der DDR und der Volksrepublik Ungarn.3 Ein Bereich, in dem sich diese Änderungen besonders gut untersuchen lassen, sind die Übergangsriten. Wie entwickelten sich der Inhalt und die Form der weltlichen Übergangsriten vom Ende der 1950er Jahre bis zur Wende? Was verraten weltliche Rituale über die sozialistische politische Kultur und das Funktionieren des Staatssozialismus? Als Ausgangsprämisse für den vorliegenden Text gilt, dass Übergangsrituale ein Teil der Aushandlungsprozesse über persönliche Biografien und darüber hinaus über die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Staat darstellten – auch und gerade im kommunistischen Staat.4 Die Untersuchung von allein einem Ritual erschließt einige Aspekte dieses Diskurses, aber die weitere Dynamik – die Versuche des sozialistischen Staates, die Gesellschaft umzugestalten und die darauf folgenden Reaktionen – wird erst deutlich, wenn Rituale als Bestandteile eines größeren Systems untersucht werden. Während Kulturanthropolog(inn)en seit Arnold Van Genneps Klassiker Übergangsriten (1909) daran gewöhnt sind, Rituale in einem integrierten System zu betrachten, beschäftigen sich Historiker(innen) des Staatsozialismus eher mit einzelnen Ritualen – wenn überhaupt.5 Die Untersuchung von einem Ritual in sich selbst erschließt einige Aspekte dieses Diskurses, aber die weitere Dynamik – die Versuche des sozialistischen Staates die Gesellschaft umzugestalten und die darauf folgenden Reaktionen – werden deutlich, wenn mehrere Rituale die Konturen des größeren Systems nachzeichnen, in dem sie überhaupt erst als Symbole funktionieren können. Geburt und Tod sind 3

Jürgen Kocka, Historische DDR-Forschung, Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 15f. Orlando Figes, The Whisperers: Private Life in Stalin’s Russia, New York 2007, ist ein gutes Beispiel für die Anwendung der Biographie als analytischer Leitfaden. Die umfangreichste Analyse von weltlichen Ritualen in der Sowjetunion bietet bisher Christel Lane, The Rites of Rulers, Ritual in Industrial Society.The Soviet Case, Cambridge 1981. Neue Perspektiven liefert in ihrer hervorragenden Dissertation Victoria Smolkin-Rothrock, „A Sacred Space is Never Empty“: Soviet Atheism, 1954–1971, Berkeley 2010. 5 Zum Thema Bestattungen in der DDR-Forschung vgl. Jane Redlin, Säkulare Totenrituale: Totenehrung, Staatsbegräbnis und private Bestattung in der DDR, Münster 2009; Stephan George, Bestattung und katholische Begräbnisliturgie in der SBZ/DDR. Eine Untersuchung unter Berücksichtigung präskriptiver und deskriptiver Quellen, Würzburg 2006, sowie Felix Robin Schulz, Death in East Germany, 1949–1989, Oxford 2013. In der ungarischen Geschichtsschreibung knüpft meine Arbeit an Tibor Valuchs Forschung zu Alltagsleben in der Kádár Epoche an, vgl. Tibor Valuch, Hétköznapi élet Kádár János korában, Budapest 2006. Eine gute Übersicht über die neuen Richtungen in der Historiographie der Alltagsgeschichte im Staatssozialismus in Ungarn bietet Sándor Horváth (Hg.), Mindennapok Rákosi és Kádár korában. Új utak a szocialista korszak kutatásában, Budapest 2008. 4

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zwei Ereignisse, die in jeder Biografie vorhanden sind. Aus ihnen ergibt sich, was Jean-Paul Sartre „Faktizität“ nennt.6 Diese Faktizität rahmt das Leben des Individuums und veranlasst das soziale Umfeld des Neugeborenen bzw. Verstorbenen dazu, die jeweiligen Biografien in einem weiteren Kontext zu konzeptualisieren. Als Eckpunkte der Biografie eignen sich also die Namensweihe (die sozialistische Version der Taufe) und die Beerdigung zusammen besonders gut dazu, zu untersuchen, inwieweit (oder sogar ob) sozialistische Übergangsriten als ein zusammenhängendes System funktionierten. Für eine Analyse von Ritualen im Staatssozialismus sind Überlegungen zu Machtbeziehungen unentbehrlich. Sie waren äußerst komplex und vielschichtig, und lassen sich nicht auf eine einfache Hierarchie zwischen einem angeblich allmächtigen totalitären Staat und seinen Opfern reduzieren, sondern sollen als „überraschend komplexe Verhandlungen“ zwischen Konfessionen und dem sozialistischen Staat betrachtet werden, die im Bereich der Übergangsrituale von Adaptation und Aneignung mindestens so stark geprägt waren wie von Konkurrenz und Unterdrückung.7 Eine Untersuchung, wie die gleichen ideologischen Grundlagen in unterschiedlichen Staaten als kulturelle Praxis eingesetzt werden sollten, trägt dazu bei, allgemeine kulturpolitische Trends im Ostblock von regionalen Besonderheiten zu unterscheiden.

1. Die politische Kraft der Emotionen: Vorstellungen von politischer Ordnung und Lebensentwürfen Der Kommunismus hatte hohe Ansprüche an seine Anhänger, und bereits im 19. Jahrhundert war klar, dass diese Ansprüche zumindest mit denen der Kirchen konkurrierten. Schon 1800, also fast ein halbes Jahrhundert vor der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests und mehr als ein Jahrhundert vor der Gründung des ersten kommunistischen Staates, hatte Papst Pius VI. die Kommunisten als „heißhungrige Wölfe“ beschrieben, welche „die unschuldigen Lämmer“ bedrohten. Ein halbes Jahrhundert später, bezeichnete Pius IX. 1846 6

„Der Tod ist ein reines Faktum, wie die Geburt; er geschieht uns von draußen und verwandelt uns in Draußen. Im Grunde unterscheidet er sich in keiner Weise von der Geburt, und die Identität von Geburt und Tod ist das, was wir Faktizität nennen“, Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1993, S. 937. 7 Jürgen Kocka, Historische DDR-Forschung, S. 15. Die Verhandlungsprozesse, die zur Gestaltung von weltlichen Ritualen geführt haben, ähnelten in vielerlei Hinsicht den Prozessen, die Martin Riesebrodt im Zusammenhang mit der synergistischen Entstehung der Religionen darstellt, vgl. Martin Riesebrodt, Cultus und Heilversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, S. 43–64. Kommunismus wird in dieser Arbeit trotzdem nicht als politische Religion, sondern als eine politische Kultur betrachtet.

Leben und Tod im Kommunismus

den Kommunismus als eine „entsetzliche Doktrin“, und später nannte er die erste Internationale „die Seuche unserer Zeit.“8 Der Kommunismus bedrohte die Kirche nicht nur deswegen, weil er den gesellschaftlichen Status quo radikal verändern wollte, sondern auch, weil er sich schon früh auch im Bereich der Strukturierung der Biografien als Konkurrenz zeigte. In seinem monumentalen Werk Sozialismus und Religion (1908–1911) legte Anatoli Lunatscharski, der bis in die 1930er Jahre die Kulturpolitik der Sowjetunion prägte, großen Wert auf die Macht der Emotionen in der Entwicklung des Kommunismus: „Religion ist Enthusiasmus und ohne Enthusiasmus ist es der Menschheit nicht gegeben, etwas Großes zu schaffen.“9 Eine Institutionalisierung des Enthusiasmus und des persönlichen Glückes fand in der Sowjetunion erst nur in speziellen Bereichen systematisch statt, besonders da, wo die Emotionen für den Staat im Allgemein, und ab den 1930er Jahren zunehmend für den Personenkult Stalins, mobilisiert werden sollten. Es ist kein Zufall, dass einige Elemente des stalinistischen Personenkults eindeutig an orthodoxe Kirchentraditionen erinnern.10 Kommunisten und mit dem Kommunismus Sympathisierende sahen in der Gestaltung der kommunistischen politischen Kultur oft entweder eine Alternative zur Religion oder eben eine Verwirklichung des christlichen Ideals.11 Intellektuelle im Westen, die die Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren besuchten, gaben ihre Begegnung mit kommunistischen Ideen häufig als Bekehrungsgeschichten wieder; selbst in der Mitte der fünfziger Jahre bezeichnete Raymond Aron in Anspielung auf das Marx’sche Diktum über die Religion den Kommunismus als „Opium der Intellektuellen.“12 Die marxistisch-leninistische Ideologie zeigte sich nicht als die erste oder die einzige Alternative zu konfessionellen Traditionen im Bereich der Rituale, welche seit dem 18. Jahrhundert immer diverser geworden waren.13 Seit der Französischen Revolution spielten säkulare Riten als Träger der Staatsidentität in Europa zusehends eine Rolle.14 Allgemein kann das 19. Jahrhundert als eine besonders kreative Phase in der Geschichte der Übergangsriten betrachtet wer 8 9 10 11 12

13 14

Zitiert nach Jonathan Luxmoore/Jolanta Babiuch, The Vatican and the Red Flag. The Struggle for the Soul of Eastern Europe, London 2000, S. 2. Zitiert nach Sheila Fitzpatrick, The Commissariat of the Enlightenment. Soviet Organization of Education and the Arts under Lunacharsky, 1917–1921, Cambridge 1970, S. 4. Berthold Unfried, „Ich bekenne“. Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Frankfurt 2006. Michail Ryklin, Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution, Frankfurt a. M. 2008, S. 134f. Raymond Aron, Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung, Köln 1957. Friedrich Wilhelm Graf, Wiederkehr der Götter: Religion in der modernen Kultur, München 2004, S. 11–12. Mona Ozouf, Festivals and the French Revolution, Cambridge, MA 1988.

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den: Entwürfe von neuen politischen Ordnungen von Freidenkern bis zu denen der Anarchisten gingen oft mit neuen Entwürfen individueller Lebensführung zusammen, wozu auch oft die Neugestaltung der Etappen der individuellen Biografie gehörte.15 Diese Experimente wurden ein halbes Jahrhundert später, im Staatssozialismus, als Vorgeschichte und teilweise sogar als Legitimationsgrund für die Einführung sozialistischer Übergangsriten inszeniert. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten sich die Übergangsriten in ganz Europa, nicht nur im Ostblock. Kirchenaustrittzahlen nahmen, aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichem Maße, zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zu. Der katholische Theologe Romano Guardini zweifelte in den 1950er Jahren grundsätzlich daran, dass der moderne Mensch überhaupt der liturgischen Handlung fähig sei. Gleichzeitig stellten andere, wie Raymond Aron, eine regelrechte „Sucht nach Weltanschauung“ fest.16 Das zweite Vatikanische Konzil und die darauf folgenden Veränderungen in den katholischen Riten waren zum Teil eine Antwort auf die liturgischen Herausforderungen der neuen Zeit. Auch in den Reihen der evangelischen Kirche wurde heftig diskutiert, wie Übergangsriten derart gestaltet werden könnten, dass sie den veränderten Herausforderungen nach dem Zweiten Weltkrieg gerecht werden könnten. Im Westen wie im Osten wurden eine Reihe religiöser wie weltlicher Lösungen auf das Problem der Krise der Übergangsriten angeboten. In diesem breiteren kulturhistorischen Kontext können sozialistische Riten als eine Form des Säkularismus unter mehreren betrachtet werden.17 Die Arbeiterbewegung hatte eigene Traditionen in Bezug auf Übergangsriten in Europa schon gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ausgebaut.18 Insbe 15

Aus der umfangreichen Literatur über Freidenker vermittelt eine gute Übersicht: Todd Weir, Secularism and Religion in Nineteenth-Century Germany. The Rise of the Fourth Confession, New York 2014. Zu alternativen Lebensentwürfen und besonders zur Problematik der Geburt und des Sterbens vgl. Peter C. Caldwell, Love, Death and Revolution in Central Europe. Ludwig Feuerbach, Moses Hess, Louise Dittmar, Richard Wagner, New York 2009, S. 1–13. 16 Romano Guardini, Der Kultakt und die gegenwärtige Aufgabe der liturgischen Bildung, in: Liturgisches Jahrbuch 4 (1964), S. 106. 17 Zur Bedeutung der sozialistischen Riten für die Liturgiewissenschaft: Klemens Richter, Ritenbildung im Gesellschaftspolitischen System der DDR, in: Liturgisches Jahrbuch 1 (1977), S. 172–188; Felix Robin Schulz plädiert auch für einen breiteren, temporalen und geographischen Vergleich, Felix Robin Schulz, Disposing of the Dead in East Germany, 1945–1990, in: Alon Confino/ Paul Betts/ Dirk Schumann (Hg.), Between Mass Death and Individual Loss: The Place of the Dead in Twentieth-Century Germany, New York 2008, S. 113–128. 18 Norbert Fischer, Von Krematisten und Sozialisten. Zur Geschichte weltlicher Bestattungskultur, in: Horst Groschopp (Hg.) Humanistische Bestattungskultur, Aschaffenburg 2010, S. 66–78.

Leben und Tod im Kommunismus

sondere Begräbnisse wurden stark thematisiert, vielleicht, weil sie am deutlichsten neben den ideologischen Konflikten der Zeit auch die sozialen Ungleichheiten verkörperten. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass Friedhöfe und Bestattungsunternehmen in Budapest während der kurzen Existenz der ungarischen Räterepublik 1919 temporär verstaatlicht wurden.19 Die Tradition der Arbeiterbegräbnisse spielte eine besonders wichtige Rolle nach 1949 in der Entwicklung der sozialistischen Übergangsriten in Ungarn sowie in der DDR, war jedoch nicht ausschließlich ausschlaggebend, weder bei der Gestaltung der Form der neuen Riten noch bei ihrem Inhalt. Die gesellschaftliche Position (und Rolle) der kommunistischen Parteien veränderte sich nach 1949 ebenso wie die Ziele der eingeführten und noch einzuführenden sozialistischen Übergangsriten. Nach den kommunistischen Staatsgründungen drückten diese Riten nicht nur die Identität einer Gruppe aus, sondern sollten als attraktive Alternativen zu kirchlichen Riten fungieren, mit dem Ziel, den Einfluss der Religion und der Kirche als Institution zu untergraben.

2. Die Zäsur 1958/1959: Die Riten des sozialistischen Alltags Obwohl der Bereich der Kultur für die kommunistischen Parteien vom Anfang an als strategisch wichtig galt, wurde die Frage, wie nichtkonfessionelle Übergangsrituale zu veranstalten seien, in Ungarn sowie in der DDR erst Ende der 50er Jahre systematisch diskutiert – mit Ausnahme der Jugendweihe, die in der DDR bereits ab 1954 institutionalisiert wurde. Es handelte sich dabei weder um die großen Staatsbegräbnisse oder die identitätsstiftenden Feiertage, wie den Jahrestag der russischen Revolution, noch um die ‚Befreiung‘ nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern um die Etappen individueller Biografien – unter anderem Geburt, Ehe und Tod. In beiden Ländern gab es schon früher lokale Initiativen, solche Riten einzuführen. Aber erst nachdem der sozialistische Alltag erneut als politischer Aufgabenbereich der Kulturpolitik identifiziert wurde, wurde auch von staatlicher Seite in die Entwicklung der Übergangsriten investiert. Die jeweiligen Kontexte, in denen die Einführung neuer Übergangsriten in den zwei sozialistischen Staaten formuliert wurden, waren ganz unterschiedlich, und auch die konfessionellen Strukturen, mit anderen Worten, die jeweilige Konkurrenz auf dem Gebiet der Übergangsrituale sah unterschiedlich aus. Jedoch wies die Entwicklung sozialistischer Übergangsriten in Ungarn und der DDR auch viele Gemeinsamkeiten auf, besonders, was die Spezialisten angeht, die sich mit Ritualen beschäftigten.

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Zoltán Xantus, Hatvan év a kegyelet szolgálatában, Budapest 1979, S. 5f.

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In Ungarn wurde die Beziehung zwischen Kirchen und Staat mit einem Beschluss des Zentralkomitees am 22. Juli 1958 auf eine neue Grundlage gestellt. Der Beschluss legte fest, dass ein „unaussöhnbarer Widerspruch besteht zwischen der religiösen Weltanschauung und dem Marxismus-Leninismus. Wir bekämpfen die religiöse Weltanschauung mit den Waffen des Marxismus-Leninismus, bis die religiöse Weltanschauung aus dem Bewusstsein der Leute verschwindet.“20 Während der Verhandlungen, die zum Beschluss geführt hatten, meinte János Kádár, der erste Sekretär der Kommunistischen Partei: „Die Auflösung der religiösen Weltanschauung und die Verbreitung der wissenschaftlichen Weltanschauung benötigen einen ständigen Kampf; das ist eine vielseitige Aufgabe, aber da spielen die kulturellen Organisationen die entscheidende Rolle. Vielleicht muss man gegen den Klerikalismus noch fünf Jahre lang kämpfen und gegen die religiöse Weltanschauung noch zwei Generationen lang.“21

Kádár stellte diesen Kampf aber nicht nur als einen Konflikt zwischen dem Staat und den unterschiedlichen Konfessionen, vor allem der römisch-katholischen Kirche, dar, sondern als einen generationsübergreifenden Konflikt, der auf dem als weit verstandenen Gebiet der Kultur stattfinden sollte. Der Beschluss legte die „Ausarbeitung des sozialistischen Inhaltes und der Form von Familien- und Gesellschaftsfesten“ als eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen die Religion fest.22 Dieser neue Akzent auf säkulare Feste hatte mehrere Gründe. Es war zum Teil eine Reaktion auf die Verschärfung der antireligiösen Propaganda in der Sowjetunion. Im Rahmen des Entstalinisierungsprozesses wurde der seit dem Zweiten Weltkrieg funktionierende Modus Vivendi zwischen dem sowjetischen Staat und der russischen orthodoxen Kirche als Stalins Vermächtnis abgebaut, und die atheistische Agitation wurde wieder zum privilegierten Feld der Kulturpolitik deklariert.23 Gleichzeitig ist die Einführung der sozialistischen Übergangsriten in Ungarn auf keinen Fall nur als die Reaktion auf eine sowjetische Initiative zu verstehen. Es gab mindestens zwei wichtige innenpolitische Kontexte für die Entwicklung und Einführung der sozialistischen Riten in Ungarn. Zum ersten funktionierten die neuen Riten als kulturelle Verstärkung zur Kollektivierung der Landwirtschaft. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Großteil der Landwirtschaft nach 2 0

Zitiert nach István Mészáros, Kimaradt tananyag. Diktatúra és az egyház, Budapest 1993– 1994, S. 55. 21 Zitiert ebd., S. 48. 2 2 Beschluss veröffentlicht in: Herik Vass, Ágnes Sárvári (Hg.), A Magyar Szocialista Munkáspárt határozatai és dokumentumai, 1956–1962, Budapest 1973, S. 237f. 2 3 Tatiana A. Chumachenko, Church and State in Soviet Russia. Russian Orthodoxy from World War II to the Khrushchev Years, New York 2002, S. 153f.

Leben und Tod im Kommunismus

sowjetischem Muster in Produktionsgemeinschaften aufgeteilt. Einige von den früh gegründeten Produktionsgemeinschaften lösten sich teilweise schon während der 1950er Jahre auf und noch mehr während und nach der Revolution von 1956. Ab Sommer 1958 leitete die neu gegründete kommunistische Regierung eine zweite Welle der Kollektivierung ein, die nun flächendeckend und permanent neue Strukturen schaffen sollte. Obwohl es nie so explizit angekündigt wurde, spielte die Einführung der sozialistischen Übergangsriten in diesem Zusammenhang eine strategische Rolle. Übergangsriten gehörten nämlich zu den letzten Bereichen, in denen die Kirchen ihre Autonomie behalten hatten: Die sozialistischen Übergangsriten sollten nun als Konkurrenz den Einfluss der Religion allgemein schwächen, auch und besonders auf dem Land, wo der sozialistische Staat Pfarrer und Priester als Gegner der Kollektivierung betrachtete. Zum zweiten beschäftigte sich das Zentralkomitee der ungarischen Kommunistischen Partei gerade 1958 besonders intensiv mit dem Thema der Beerdigungen und dem Potential säkularer Rituale im Zusammenhang mit der Verarbeitung der Revolution von 1956. In diesem Prozess spielten unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem Tod eine wichtige Rolle. Im November 1956 wurden Opfer und Anstifter der Revolution (aus kommunistischer Sicht) oder Opfer und Gegner der Revolution (aus der Sicht der Revolutionäre) auf einem Budapester Friedhof nebeneinander begraben. Während der Revolution waren die Rollen noch amorph, aber als die kommunistische Regierung sich 1957 wieder konsolidiert hatte, wurden die Grenzen zwischen Opfern und Täter schärfer, und die Frage nach der Unterscheidung der zwei Gruppen auch im Totenreich wurde neu gestellt. Eine Umbettung der Toten der Revolution, die physische Entfernung der Täter, kam nicht in Frage. Am Ende wurden die beiden Gruppen „mit hortikulturellen Methoden“ voneinander getrennt; es wurde eine Hecke zwischen den zwei Bereichen im Friedhof gepflanzt.24 Die Frage der Begräbnisse auf diesem Friedhof war so wichtig, dass sie auch an dem Tag der Hinrichtung von Imre Nagy, der emblematischen Hauptfigur der Revolution, heftig diskutiert wurde. Die Hinrichtung von Imre Nagy fand am 16. Juni 1958 statt, also kaum einen Monat vor dem Beschluss über die Neudefinition der Beziehung zwischen Kirche und Staat.25 Nach dem Beschluss vom Juli 1958 eigneten sich unterschiedliche Gremien die Aufgabe der Erarbeitung der sozialistischen Rituale an. Das wichtigste unter diesen Gremien war das Institut für Volksbildung, das in den nächsten Jahrzehnten zahlreiche Vorschläge zum Thema veröffentlichte und die Ausführung von säkularen Ritualen sowohl studierte als auch überwachte. Selbst das Staatliche Kirchenamt, das alle Aspekte des religiösen Lebens in Ungarn überwachte und so 24

2 5

István Rév, Retroactive Justice. Prehistory of Post-Communism, Stanford 2005, S. 126–128. Ebd., S. 123.

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weit wie möglich kontrollierte, stützte sich in Fragen des sozialistischen Rituals auch auf das Institut für Volksbildung. 26 Am Institut für Volksbildung war Zoltán Rácz zuständig für die Konzipierung der neuen Riten. Von Anfang an betrachteten er und seine Mitarbeiter die Übergangsrituale als Teile einer einheitlichen Struktur. Im ersten Bericht des Instituts über die Gestaltung von sozialistischen Formen und Inhalten von Familien und Gesellschaftsfeiern vom August 1959 wurden Rituale für Geburt (Namensweihe), Ehe, Beerdigung, Diplomübergabe für Facharbeiter und die Überreichung vom Personalausweis vorgeschlagen.27 Diese Rituale grenzten die wichtigsten Etappen einer sozialistischen Biografie ab und hoben sie besonders hervor. Zusätzlich waren noch Vorschläge für Kindertag, Frauentag, Muttertag, Erntedankfest, und Ersatzfeiern für Weihnachten, Ostern und regionale Feiertage vorgesehen. 1959 hat damit das Institut für Volksbildung einen ehrgeizigen Plan entworfen. Feste wie Kindertag, Frauentag, Muttertag und Ersatzfeiern für die religiöse Feste wurden standardisiert und hatten vor allem in den Schulen eine große Bedeutung. Allerdings wurde nicht jede dieser neuen Feiern zur Tradition: An den Handbüchern zu sozialistischen Riten wurde bis in die achtziger Jahren gefeilt.28 Zur gleichen Zeit, als in Ungarn das Institut für Volksbildung die ersten umfassenden Pläne für sozialistische Riten entwarf, konstatierte die Sozialistische Einheitspartei in der DDR, dass ihre Strategien, die evangelische Kirche zurückzudrängen, erfolgreich waren. Die Kirchenaustrittszahlen wuchsen ständig, allein in 1959 traten 135.000 Mitglieder aus.29 Ein Jahr zuvor, genau in dem Monat, als die ungarische Regierung einen neuen Beschluss über den Kampf gegen die religiöse Weltanschauung fasste, veröffentlichte die Evangelische Kirche der DDR ein Kommuniqué, in dem deren Repräsentanten verlauten ließen, die Entwicklung zum Sozialismus respektierten und zum friedlichen Aufbau des Volkslebens beitragen wollten.30 Obwohl das Kommuniqué keinen Richtungswechsel in der Kirchenpolitik der DDR bedeutete, sprach Walter Ulbricht im April 1960 in der

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Material zur Weiterbildungsveranstaltungen für Mitarbeiter des Staatlichen Kirchenamtes im Magyar Országos Levéltár (Ungarisches Staatsarchiv), XIX A 21e, 22d. 1978. Népművelési Intézet, Népművelési adattár, 810, heute in der Bibliothek der Magyar Művelődési Intézet. In 1981 war Zoltán Ráczs Családi események, társadalmi szertartások bereits in seiner fünften Auflage. Redlin, Säkulare Totenrituale, S. 11. Zitiert in Horst Dähn, Konfrontation oder Kooperation? Das Verhältnis von Staat und Kirche in der SBZ/DDR, 1945–1980, Opladen 1982, S. 74.

Leben und Tod im Kommunismus

Volkskammer nun von gemeinsamen Zielen des sozialistischen Humanismus und des Christentums.31 Im Bereich der Übergangsriten führte die DDR mit der Jugendweihe bereits 1954 eine wichtige Innovation ein. Dieses Ritual, dessen kulturgeschichtliche Wurzeln bis zu den Freidenkergemeinden zu Zeiten der Revolution von 1848 zurückreichen und das die Konfirmation ersetzen sollte, wuchs zur vielleicht erfolgreichsten säkularen Tradition der DDR heran. 1989 nahmen bereits 95% der Jugendlichen an der Jugendweihe teil, die selbst die Wende überlebt hat.32 Sie hatte nicht nur eine lange Tradition, sie verfügte auch über ein makelloses anti-faschistisches Zeugnis, weil sie während der nationalsozialistischen Diktatur verboten gewesen war, und passte dadurch besonders gut in die DDR, die sich als antifaschistisches Deutschland inszenierte. Die Konfirmation bzw. die Jugendweihe war jedoch nur ein biografisches Übergangsereignis unter vielen, dessen emotionales Potential der SED-Staat nutzen wollte. Die Zuständigkeit für die Ausarbeitung ritueller Handbücher und die Kontrolle der Ausführung von Übergangsriten entwickelte sich in der DDR viel fragmentierter als in Ungarn. Während der Zentrale Ausschuss für Jugendweihe alle Aspekte der Jugendweihe von der Inszenierung bis zum ideologischen Inhalt regulierte, gehörte die Namensweihe und zu einem gewissen Grad auch die Beerdigung in die Zuständigkeit des Zentralhauses für Kulturarbeit der DDR. Das Zentralhaus für Kulturarbeit veröffentlichte eine Reihe von Ratgebern, die komplette Regieanweisungen für Namensweihen und Beerdigungen anboten: von der Musik der Zeremonie bis zur Ausrichtung des Raumes.33 Insgesamt erwiesen sich aber die Rituale und die logistische Infrastruktur des Todes viel komplizierter als die der Geburt. Somit war auch die Frage der Zuständigkeit für den Tod eine vielschichtige Frage. Lokale Initiativen, die neue Rituale für die Bestattung ausarbeiteten, gab es natürlich schon vor der Mitte der 50er Jahre. Besonders die Leiter der Friedhöfe in Leipzig, Jena und Gera waren bemüht, die ungeklärten Fragen wenigstens intern und unter sich zu regeln. Der zuständige Mitarbeiter des Ministeriums des Inneren entdeckte erst in einer inter-ministerialen Sitzung über das Friedhofswesen im April 1958 „die Existenz des aufgrund der zahlreichen eine Klärung erfordernder Fragen freiwillig entstandenen Arbeitskreises von Personen, die sich seit vielen Jahren und beruflich 31

In den 60er Jahren gab es zahlreiche Annäherungsversuche zwischen dem sozialistischen Humanismus und dem Christentum, so wie zum Beispiel die Arbeit der Paulus-Gesellschaft. 3 2 Albrecht Döhnert, Jugendweihe zwischen Familie, Politik und Religion. Eine empirische Studie zum Fortbestand der Jugendweihe in Ostdeutschland, in: Detlef Pollak/ Gert Pickel (Hg.), Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989–1999, Oppladen 2000, S. 236. 3 3 Norbert Molkenbur, Sei wilkommen Kind. Empfehlungen für die Namensweihe, Leipzig 1975.

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mit dem Bestattungswesen befassen.“34 Dieses Treffen wurde von Mitarbeitern des Ministeriums für Gesundheitswesen initiiert, die die Frage der Zuständigkeit für das Bestattungswesen mit den Mitarbeitern aus dem Ministerium des Inneren und dem Staatssekretär für Kirchenfragen gemeinsam entscheiden wollten. Es gab zwei Punkte, über die sich die Teilnehmer der Diskussion einig waren. Erstens war jedem klar, dass eben „keine Klarheit“ in dieser Frage bestand.35 Zweitens waren sich alle sicher, dass die Fragen um den Tod und das Sterben auf keinen Fall ihr Gebiet war. Jede Institution fühlte sich jedoch für einige Aspekte des Themas verantwortlich: Zum Beispiel übernahm das Ministerium für Gesundheitswesen die Ausarbeitung der hygienischen Grundlagen für eine neue Musterfriedhofsverordnung, das Ministerium des Inneren interessierte sich für die Person des Grabredners, und das Staatssekretariat für Kirchenfragen für die Beziehung zwischen konfessionellen und kommunalen Friedhöfen.36 Erst mit der Gründung des Instituts für Kommunalwirtschaft in Dresden 1961 wurde ein Gremium geschaffen, das die unterschiedlichen Aspekte der Bestattung zusammen behandelte. Das Institut war nun zuständig für verschiedene Aspekte der Beerdigung – von der Grabgestaltung über den Friedhofsbau bis hin zur Gestaltung von Riten.

3. Ähnlichkeiten und Kontraste: die ‚real existierende‘ Praxis der sozialistischen Übergangsriten Ähnlich wie das Institut für Volksbildung in Ungarn erfüllten das Zentralhaus für Kultur und das Institut für Kommunalwirtschaft in der DDR eine Ratgeber- und Vermittlerfunktion. Sie konnten Beispiele, die sie für positiv hielten, zwar hervorheben und fördern, aber sie konnten keine Texte oder Praktiken verbindlich vorschreiben. Letztlich waren diese Institutionen in beiden Staaten auf Mitarbeiter in den Räten angewiesen, die das Projekt ‚sozialistische Festkultur‘ ernst nahmen und selbst implementierten. Das Parallelstudium der Entwicklung 3 4

Bundesarchiv, Berlin (Barch), DO 4–863, Bericht über die Ministeriale Sitzung vom 15.4.1958, S. 2. 3 5 Ebd. 3 6 Aus dieser Runde des Zuständigkeitskampfes ging das Ministerium für Gesundheitswesen als Verlierer hervor. Im folgenden Jahr schrieb ein Mitarbeiter des Ministeriums dem Staatssekretär für Kirchenfragen: „Die Tatsache allein, dass das Ministerium für Gesundheitswesen bestimmte Fragen, vor allem auf dem Gebiet der Hygiene der Friedhöfe und des Umganges mit Leichen sowie der ärztlichen Aufgaben bei der Feststellung des Todes und seiner Ursachen grundsätzlich zu regeln hat, kann nicht bestimmend dafür sein, ihm die Zuständigkeit für den gesamten Komplex zu übertragen. Ich halte es z.B. nicht in Ordnung, dass gegenwärtig Mitarbeiter des Ministeriums für Gesundheitswesen sich damit beschäftigen, Preise für das Bestattungswesen zu bilden.“ BArch, DO 4–863, Brief an den Staatssekretär für Kirchenfragen, 28.10.1959.

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der sozialistischen Übergangsriten in der DDR und Ungarn zeigt, dass das Ende der fünfziger Jahre auf jeden Fall in beiden Staaten ein besonderer Moment war, in dem die Kulturpolitik und vor allem die Riten als potentielles politisches Kapital zur Priorität wurden. Diese Phase war aber nur von kurzer Dauer. Obwohl die Rednerausbildung und die Infrastruktur der Riten in beiden Staaten in den folgenden Jahrzehnten immer mehr professionalisiert wurden, bekamen die Institutionen, die sich mit der sozialistischen Festkultur beschäftigten, nie wieder die Aufmerksamkeit der höchsten politischen Gremien und ihre zentrale Unterstützung, die sie am Anfang hatten. Trotzdem gab es bestimmte historische Momente, in denen die sozialistischen Riten immer wieder zu kulturpolitischen Prioritäten deklariert wurden: dann, wenn ihre Entwicklung aus irgendeinem Grund wieder wichtig wurde. Bei der Verortung dieser historischen Momente hilft eine vergleichende Perspektive. Zum Beispiel kann man feststellen, dass, obwohl oberflächlich gesehen in den siebziger Jahren die Rednerbildung in beiden Staaten professionalisiert wurde, es in der DDR die Diskussion um die Einführung des Familiengesetzbuches in das Zivilgesetzbuch (1975) war, die den sozialistischen Riten eine besondere politische Relevanz verlieh. In Verbindung mit der sozialistischen Namensweihe und der Beerdigung wurden nämlich grundsätzliche Fragen zum Familienleben und die sozialistische Gesellschaft formuliert und auch breit diskutiert. Das genaue Nachzeichnen der politischen Konstellationen, in denen sozialistische Übergangsriten (immer wieder) zur kulturpolitischen Priorität wurden, und auch die Erkenntnis, dass die Implementierung der Riten in beiden Staaten schließlich von der Initiative und Kompetenz der lokalen Parteifunktionäre abhing, weist letztlich darauf hin, dass der Begriff „politische Religion“, der oft auf den Kommunismus angewandt wird, für die post-stalinistische Epoche nicht ganz zutrifft. Der Begriff „politische Religion“ umfasst die emotionale Wirkung, die Strukturen der Selbstinszenierung und den Totalitätsanspruch des Kommunismus.37 Die Tatsache, dass sich die kommunistischen Parteien im Bereich der Übergangsriten nach den 1950er Jahren behaupten wollten, könnte oberflächlich von diesem Begriff treffend beschrieben werden. Aber die komplexe Dynamik hinter der ‚real existierenden‘ Alltagspraxis, die an der Schnittstelle zwischen offiziellen Handbüchern bzw. Ratgebern zu sozialistischen Riten und den lokalen Initiativen entstand, stellt die Nützlichkeit dieses Begriffs in Frage.38 Die für die 37

Klaus-Georg Riegel, Der Marxismus-Leninismus als „politische Religion“, in: Gerhard Besier/Hermann Lübbe (Hg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen 2005, S. 15–48. 3 8 Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt 1994; Dietrich Harth, Ritual and other Forms of Social Action in: Jens Kreinath/Joannes Augustinus Maria Snoek/Michael Stausberg (Hg.), Theorizing Rituals. Issues, Topics, Approaches, Concepts, Leiden 2006, S. 22f.

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Riten zuständigen Institutionen konnten nur sporadisch mit starker politischer Rückendeckung rechnen. Zoltán Rácz in Ungarn und auch die Mitarbeiter des Instituts für Kommunalwirtschaft in der DDR beklagten sich regelmäßig sowohl über fehlende finanzielle als auch moralische Unterstützung. Dazu kam noch ihr immer wieder formuliertes Zugeständnis, dass die neuen Riten gegenüber den religiösen Alternativen nicht konkurrenzstark genug seien. Dieses Gefühl blieb sowohl in der DDR als auch in Ungarn stark, angesichts der anfangs stark steigenden, dann aber stagnierenden Statistiken der säkularen Übergangsriten bis zur Wendezeit. Um die vergleichbar konzipierten Werte eines ‚sozialistischen Humanismus‘ in die Praxis umzusetzen, hatten die Spezialisten der sozialistischen Riten in den zwei Staaten unterschiedliche Herausforderungen zu bewältigen. Ungarn wies eine konfessionell inhomogene Landschaft auf, wobei jedoch oft die katholische Kirche als der gefährlichste Gegner wahrgenommen wurde.39 Die Bevölkerung der DDR war nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend evangelisch, mit einer durch Flüchtlinge und Ausgesiedelte verstärkten katholischen Minderheit. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Ähnlichkeiten zwischen den Riten zuweilen fragwürdig. Aber wenn man in Betracht zieht, dass die Grabreden in Ungarn sowohl eine ähnliche Struktur als auch vergleichbare Inhalte hatten, wird der aufgestellte einfache (und vereinfachende) Zusammenhang zwischen konfessionellem Hintergrund und den Formen der säkularen Riten problematisch. Andererseits: Trotz der unterschiedlichen Infrastruktur der Riten in den beiden Ländern ist der Prozess der allgemeinen Professionalisierung, der ‚rituellen Experten‘, der Funktionswechsel der Riten (von der vermeintlichen Kreation einer sozialistischen Identität in der Bevölkerung zur Selbst-Inszenierung der breit gefassten sozialistischen Elite) und gleichzeitig die Pluralisierung der säkularen Optionen durchaus vergleichbar. Felix Robin Schulz argumentiert sogar, dass in den 1980er Jahren eine breite Vielfalt unterschiedlicher Beerdigungsriten in der DDR zur Verfügung stand, in der verschiedene Schattierungen von säkularen Ausdrucksformen möglich waren.40 In beiden Ländern wurde ab den 1970er Jahren eindeutig zwischen politischen (sozialistischen) Beerdigungen und weltlichen Feiern unterschieden. Namensweihen und Beerdigungen waren Ereignisse, bei denen die Biografie im Mittelpunkt stand. Im erstgenannten Ereignis wurde die Biografie als die Ge 3 9

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Mészáros, Kimaradt tananyag, S. 54. Schulz schreibt über eine „Diversität der Rituale“, vgl. Felix Robin Schulz, Death in East Germany, S. 182–202. Zur Entstehung der rituellen Vielfalt anhand von Beispielen von Handbüchern zu weltlichen Bestattungsriten vgl. Heléna Tóth, Shades of Grey. Sepulchral Culture in East Germany between Pluralization and Standardization, in: Eric Venbrux/ Thomas Quartier/Claudia Venhorst/Branda Mathijssen (Hg.), Changing European Death Ways, Berlin 2013, S. 141–164.

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samtheit der bevorstehenden Möglichkeiten konzipiert, während sie im anderen Ereignis als Ergebnis einer Reihe von getroffenen Entscheidungen stand. Die Geschichte der zwei Riten zusammen zeigt an, wie sich das Projekt ‚neuer sozialistischer Mensch‘ entwickelte. Eine Erkenntnis, die sich aus der gemeinsamen und vergleichenden Analyse ergibt, ist, wie fragmentarisch dieses Projekt trotz der Bemühungen des Staates blieb. Dabei zeigen die zwei Riten unterschiedliche Aspekte der Vergesellschaftung der Privatsphäre als Kollektivierung von Biografien an: Die Namensweihe war von Anfang an als ein an das Brigadeleben und den Arbeitsplatz gebundenes Ereignis konzipiert und funktionierte auf vergleichbare Weise in beiden Ländern. Auch vergleichbar ist, wie ihre Funktion sich durch die Jahrzehnte veränderte, indem sich die sozialistische Elite diesen Ritus zu eigen machte. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass in der DDR der kollektive Aspekt der Namensweihe einen Kontrapunkt in den kollektiven Formen der Beerdigung (zum Beispiel Urnengemeinschaftsanlagen) hatte, wohingegen der Arbeitsplatz nicht mehr die primäre Rolle als gemeinschaftliches Element spielte. In Ungarn gab es keinen vergleichbaren kollektiven Beerdigungsritus.

4. Vermächtnis In beiden Fällen überlebten die säkularen Übergangsriten, die sozialistischen sowie die weltlichen, den Fall der kommunistischen Regime nicht nur als Familienerinnerungen, sondern auch als Praxis. Dabei handelt es sich nicht nur um die Jugendweihe. An der Ostsee konnte man bis vor kurzem einen Familienurlaub samt Namensweihe buchen, und Namensweihen gehören zum Ritenangebot der Standesbeamten in Ungarn.41 Im Juni 2012 wurde in einem ungarischen Blog über Familienfragen die Namensweihe als eine Option für diejenigen Eltern diskutiert, die die Frage der Religiosität für ihre Kinder offen halten wollten.42 Gleichfalls haben säkulare Beerdigungen - unter ihnen auch die eindeutig sozialistischen – ihren festen Platz in der rituellen Vielfalt der Sepulkralkultur. Die weitere Entwicklung dieser Riten ist eine offene Frage. Ihre Geschichte endete aber keinesfalls mit der Wende. Ich möchte diesen Text mit einer persönlichen Note, mit einem kurzen Forschungsbericht beenden. Wenn es das Ziel der sozialistischen Entwicklungsriten war, Emotionen zu politisieren, dann haben sie dieses Ziel teilweise tatsächlich und nachhaltig erreicht. Ganz am Anfang meiner Forschung, als ich in Antiqua 41

„Erste Namensweihe in diesem Jahr“, in: Ostseeanzeiger vom 21.03.2012 in: http://www. ostseeanzeiger.de/index.php?lg=&m1=5&m2=0&gebiet=gmn&detail=11694 (letzter Zugriff: 01.04.2012). 42 „Divat vagy vallásos tett a keresztelõ“ auf dem Blog „Divány“ am 13.6.2012 http://divany. hu/poronty/2012/06/13/divat_vagy_vallasos_tett_a_keresztelo (letzter Zugriff: 30.06.2012).

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riaten nach Handbüchern zu meinem Thema aus den 1970er–80er Jahre suchte, wies mich ein aufgeregter Verkäufer in Budapest aus seinem Laden mit dem Satz: „Wenn Sie solche Bücher suchen, dann müssen Sie es woanders probieren, wir führen nämlich nichts von der Sorte.“ Damals verbuchte ich diese Erfahrung als etwas Einmaliges, Seltsames und sogar Exotisches. Inzwischen musste ich mich daran gewöhnen, bei fast jedem Gespräch über mein Thema, inklusive Gesprächen mit Archivaren und Bibliothekaren, immer gleich am Anfang klarmachen zu müssen, dass ich weder eine Apologie für die sozialistische Riten noch eine verdammende Beurteilung schreiben will. Mein Forschungsgegenstand macht mich anscheinend fast automatisch zur Projektionsfläche: Oft noch bevor ich etwas Konkretes zum meinem eigentlichen Projekt sage, werde ich entweder mit überwältigender Sympathie oder kaum unterdrückter Feindseligkeit behandelt. Das finde ich insgesamt sehr aufschlussreich, wenn auch forschungstechnisch ziemlich schwierig zu fassen. Die jeweilige, auf mich projizierte Einstellung gegenüber den Übergangsriten wird eindeutig pars pro toto als eine Wertung der ganzen kommunistischen Epoche behandelt, und dementsprechend lösen Gespräche über sozialistische Namensweihen und Beerdigungen bei meinen Gesprächspartnern oft heftige Emotionen aus. Obwohl ich aus methodologischen Überlegungen in dieser Arbeit bewusst größtenteils auf Interviews verzichte, drängen mir die Gespräche über meine Forschung in ihrer Gesamtheit schließlich also doch ein Fazit auf, allerdings nicht über die Vergangenheit, sondern über die Gegenwart: Ein Vierteljahrhundert nach der Wende scheinen die sozialistischen Übergangsriten, in einem ganz anderen Diskurs, aber immer noch als Blitzableiter für Emotionen zu funktionieren.

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ANTJE KAHL

Das Unternehmen Bestattung Der Tod als Vermarktungsobjekt und die veränderte Rolle des toten Körpers1 Da die menschliche Sterblichkeit eine anthropologische Konstante ist, sieht sich jede Gesellschaft vor die Herausforderung gestellt, den Tod kommunikativ und institutionell zu bearbeiten. Auf welche Weise dies explizit geschieht und mit welchen Vorstellungen die jeweiligen Praktiken verknüpft sind, variiert stark in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften. Abgesehen von diesen Differenzen gibt es jedoch auch eine grundlegende Gemeinsamkeit: Für die Lebenden ist der Tote in der Regel Anlass zum Handeln. Dazu gehört vor allem, dass mit toten Körpern umgegangen werden muss. Die moderne Gesellschaft stellt dafür spezifische Strukturen zur Verfügung, wobei die Institutionalisierung von Bestattungsunternehmen von zentraler Relevanz ist. Oblag die Bestattung lange Zeit vor allem dem religiösen Sozialverband, differenzierten sich während des 19. Jahrhunderts im Zuge dessen, was man allgemein als Modernisierungsprozess fassen kann, nach und nach spezielle Unternehmen aus, die die Organisation einer Bestattung maßgeblich beeinflussten. Die Toten in externe, „professionelle“ Hände zu geben, bedeutete dabei einen tiefgreifenden Wandel in den Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten, der sich zunächst als Übergang von Intimität zu Entfremdung und Rationalisierung beschreiben lässt. Im Zuge der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems entstand dabei ein Markt für die Totenfürsorge, der sich zunehmend ausdifferenzierte.

Die Bestattung als Ware Dabei ist der Bestattungsmarkt ein ganz besonderer Markt – und zwar insofern, als dass er zum einen anderen Grundvoraussetzungen unterliegt als andere Märkte und weil zum anderen die Menschen gemeinhin nur über wenig Wissen über ihn verfügen – oder genauer: über weniger Wissen als über andere Märkte. Auf Bestattungsmärkten werden Dienstleistungen und Produkte verkauft, die eigentlich niemand kaufen möchte, die aber jeder früher oder später einmal braucht. 1

Dieser Text basiert auf dem Vortrag, den ich 2011 auf der transmortale II gehalten habe. Die hier behandelte Thematik ist Bestandteil meiner 2013 abgeschlossenen Dissertation, für die ich u.a. ca. 50 Interviews mit Bestattern in ganz Deutschland geführt habe (vgl. Antje Kahl, Tote Körper: zum Bedeutungswandel des Leichnams in der gegenwärtigen Gesellschaft am Beispiel der klinischen Sektion und der Bestattung, Berlin 2013).

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„Kaufen oder nicht kaufen?“ ist in diesem Kontext also nicht die entscheidende Frage in Bezug auf Bestattungen, da diese schlicht und ergreifend stattfinden müssen und entsprechend jemand dafür zahlen muss. Zu den spezifischen Besonderheiten von Bestattungsmärkten gehört auch, dass Bestattungsinstitute Wirtschaftsunternehmen sind, die in einem, wie Bestatter es selbst häufig beschreiben, hochgradig tabuisierten Bereich operieren. Hierin liegt ein wesentlicher Grund für die Innovationsresistenz des Bestattungswesens. Auch haben Bestatter im Unterschied zu vielen anderen Dienstleistern das Problem, dass die Kunden häufig im denkbar schlechtesten psychologischen Zustand zu ihnen kommen. Sie befinden sich in einer Ausnahmesituation und unter Zeitdruck. Bestattungsdienstleistungen sind zumeist ein wenig erwünschtes Produkt, für das selbst die beste Werbemaßnahme kaum ein höheres Verlangen zu schaffen vermag und das zudem mit hohen Kosten verbunden ist. Im Vergleich zu anderen Märkten ist der Bestattungsmarkt darüber hinaus von außergewöhnlicher Intransparenz. Diese beruht unter anderem auf der Seltenheit bzw. der fehlenden Gewohnheit des Kaufs, der Unwissenheit der Kunden sowie auf einem oft als problematisch angesehenen Verhältnis von Geld und Tod. So ist von Bestattern immer wieder zu hören, dass Preis-Leistungsvergleiche in diesem Bereich entsprechend nicht nur schwierig anzustellen seien, sondern bislang auch unüblich waren: Über Preise sprach man hier traditionell nicht, weil dies als pietätlos galt. Haben wir es also überhaupt mit einem Markt zu tun? Natürlich gab es auch schon zu früheren Zeiten ökonomische Aspekte im Bestattungsbereich; sei es für Dienstleistungen, für mit der Bestattung verbundene Produkte oder für die Bewirtung von Gästen. Selbst in traditionalen Gesellschaften war die Bestattung mit Kosten verbunden und musste manchmal so lange hinausgezögert werden, bis die entsprechenden Summen aufgebracht werden konnten. Doch der Bestattungsmarkt als Markt ist im soziologischen Sinn eine neuere Erscheinung. Traditionell oblag die Bestattung vor allem dem religiösen und nachbarschaftlichen Sozialverband. Erst im 19. Jahrhundert bildeten sich nach und nach spezielle Unternehmen heraus, die die Organisation einer Bestattung maßgeblich beeinflussten: Zunächst waren das Fuhrunternehmen, die den Transport der Verstorbenen über zunehmend längere Wege in den wachsenden Städten übernahmen; dann Bestattungsunternehmen, die im Laufe der Zeit immer mehr Tätigkeiten im Rahmen der Bestattung ausführten. Nach und nach übernahmen die Bestatter also immer mehr Funktionen, die vormals von den Angehörigen ausgeübt wurden. Von einem Markt im soziologischen Sinne kann aber bis spät ins 20. Jahrhundert eigentlich nicht gesprochen werden, denn dazu bräuchte es das Moment des Wettbewerbs: Nachfrager müssen die Leistungen oder Produkte verschiedener Anbieter bewerten und miteinander vergleichen. Ein solches Verhalten war jedoch

Das Unternehmen Bestattung

bis vor wenigen Jahren auf dem deutschen Bestattungsmarkt, wie im folgenden Abschnitt ausgeführt wird, unüblich.

Die alte Unsichtbarkeit Selbst, wenn es in einer Stadt mehrere Bestatter gab, und so theoretisch für Angehörige eines Verstorbenen die Auswahl zwischen mehreren Anbietern bestanden hätte, so war es bis spät ins 20. Jahrhundert dennoch nicht üblich, dass Angebote verschiedener Bestattungsunternehmen verglichen worden wären. Über Preise sprach man, wie bereits erwähnt, aus so genannten Pietätsgründen nicht. Da Bestattungen einem geordneten Ritus unterlagen, war auch weitgehend klar, wie sie vonstatten zu gehen hatten. Da es also kaum Wahlmöglichkeiten gab, waren auch der Vergleich von Angeboten sowie das Einholen von Informationen auf der Nachfrageseite nicht wichtig. Bis vor wenigen Jahrzehnten war nicht nur „kaufen oder nicht kaufen?“ keine Frage, sondern es war auch keine Frage, was wo zu kaufen sei. Zudem gab es kaum sichtbaren Wettbewerb, zumal die deutsche Branche sich in der privilegierten Stellung befand, dass der Staat bis 2004 für jede verstorbene Person Sterbegeld zahlte. Dieses Geld wurde direkt an den entsprechenden Bestatter ausgezahlt und betrug in den 1990er Jahren ungefähr 2000,- Euro. Das deutsche Bestattungswesen weist darüber hinaus weitere Besonderheiten auf: Im Vergleich zu anderen Ländern (den USA oder Großbritannien z. B.) ist es hoch reguliert und unterliegt einer besonders restriktiven Bestattungsgesetzgebung. So ist es z. B. mit wenigen Ausnahmen nicht möglich, Aschen außerhalb öffentlicher Friedhöfe beizusetzen.2 Auch gibt es keine privaten Friedhöfe und nur einige wenige private Krematorien. Der Markt besteht größtenteils aus kleineren, familiengeführten Unternehmen, die noch immer von einer Generation in die nächste übergehen. Großunternehmen bzw. Ketten wie z. B. SCI in den USA gibt es in Deutschland nur mit wenigen Ausnahmen. Auswahl – sofern man hier überhaupt von Auswahl sprechen kann – beruhte entsprechend v. a. auf traditionellem, von vielen Menschen geteiltem Wissen. Ausgewählt wurde von den Angehörigen zumeist der Bestatter um die Ecke oder einer, der in der Familie oder im Bekanntenkreis bereits jemanden bestattet hatte. Dementsprechend reichten auch bezüglich der externen Kommunikation von Bestattungsinstituten Formen aus, die darauf ausgelegt waren, bestehendes Wissen 2

In der Bestattungsgesetzgebung von Bremen wurde vor kurzem eine Änderung dieses Sachverhalts durchgesetzt, die es ermöglichen soll, Aschen auch außerhalb öffentlicher Friedhöfe beizusetzen. Siehe dazu die Änderung des Bremer Bestattungsgesetzes zum 01.01.2015: Gesetz über das Friedhofs- und Bestattungswesen in der Freien Hansestadt Bremen, § 4, Artikel 1:(1a) Als Ausnahme im Sinne von Absatz 1 Satz 3 ist auch ein Ausbringen der Asche auf dem Gebiet der Freien Hansestadt Bremen außerhalb von Friedhöfen zulässig, soweit eine Gemeinde dieses durch Ortsgesetz zulässt“.

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aufrechtzuerhalten. So beispielsweise der obligatorische Eintrag im Telefonbuch, die Ausschilderung „Bestattung“ an den Außenfassaden der Geschäfte oder die mündliche Weiterempfehlung durch Kunden in deren engerem Bekanntenkreis. Andere Wege der Außenkommunikation galten lange Zeit, auch das ist immer wieder von Bestattern zu hören, als verpönt. Durch ihre traditionelle Unsichtbarkeit haben die Bestatter sich der Tabuisierung ihres Arbeitsbereiches gefügt und darüber hinaus an der Aufrechterhaltung des Tabus aktiv mitgewirkt – bislang. Diverse gesellschaftliche Veränderungen, zu denen im folgenden Abschnitt nähere Ausführungen folgen, haben jedoch mittlerweile zu einer völlig neuartigen Situation für Bestatter geführt, die Reaktionsbedarf erfordert und die Bestatter vor neue Anforderungen, aber auch vor neue Möglichkeiten stellt.

Gesellschaftliche Veränderungen Seit den 1980er Jahren ist im Bereich des deutschen Bestattungswesens ein umfassender Transformationsprozess auf ökonomischer, kultureller und juristischer Ebene zu beobachten, der die Traditionen in diesem lange Zeit so innovationsresistenten Lebens- und Wirtschaftsbereich stark aufzulösen beginnt. Einige der gesellschaftlichen Entwicklungen, denen sich Bestatter gegenübersehen, lassen sich auf kultureller Ebene mit den Stichworten Individualisierung, Selbstbestimmung, Enttraditionalisierung, Mobilität, Vervielfältigung der Lebensstile, Entkirchlichung und Diesseitsorientierung fassen. Die Prägungskraft traditioneller Vorgaben lässt mehr und mehr nach. Es werden, im Sinne einer kulturellen Pluralisierung, Alternativen in die Welt gesetzt, die sich behaupten müssen. Mit zunehmender gesellschaftlicher Pluralisierung und deren Akzeptanz (Normalisierung) wird dann auch die Idee der individuellen Gestaltbarkeit der (auch eigenen) Bestattung immer anschlussfähiger und schließlich zum zentralen Bezugsproblem bestattungsspezifischer Kommunikation. Auch die Bestattung wird so zunehmend zu einem Anlass, der Entscheidungsspielräume aufweist, Entscheidungen verlangt und somit individuell gestaltbar wird. Das erhöht die Möglichkeiten und die Variationsbreite der Gestaltbarkeit im Bestattungsbereich, also eine Optionserweiterung von Begräbnispraktiken, der Gestaltung von Trauerfeiern und der Formen der Erinnerungskultur. Außerdem lassen sich in anderen Lebensbereichen erkennbare Rationalisierungs- und Kommerzialisierungstendenzen auch im Bestattungsbereich nachweisen. Unter anderem die kontinuierliche Preissteigerung der Friedhofskosten in den letzten Jahren, die im Schnitt ein gutes Drittel der gesamten Bestattungskosten ausmachen,3 führt dazu, dass von den Kunden anderswo zu sparen versucht wird – an der eigentlichen Bestatterleistung zum Beispiel, das 3

Stiftung Warentest (Hg.), Bestattung – Was tun im Todesfall?, Sonderheft, Berlin 2005.

Das Unternehmen Bestattung

heißt an der Ausführung der Beisetzung an sich. Viele Anbieter kritisieren dies als Niedergang der Bestattungskultur und sprechen sogar von der Etablierung einer Entsorgungsmentalität im Umgang mit den Toten.4 Erschwert wird die Situation darüber hinaus durch den Wegfall des Sterbegeldes 2004 und die damit einhergehende ökonomische Privatisierung der Bestattung: Zusätzlich zu der allgemein als nicht so gut eingeschätzten Wirtschaftslage und einer offenbar weitverbreiteten Geiz-ist-geil-Mentalität führt dies auch bei Kunden von Bestattungsinstituten zu einem neuartigen Preisbewusstsein. Dass Menschen bei Bestattern mit der Frage „Was kostet eine Bestattung bei Ihnen?“ anrufen, gehört heute zum Alltag jedes Bestatters. An der Zunahme von Preisvergleichen zeigt sich ein Kommodifizierungsprozess, der den Warencharakter der Bestattung gegenüber ihrem Ritualcharakter betont. Es kommt also insgesamt zu einem Vermarktlichungsprozess. Bestattungsunternehmen befinden sich heute unter zunehmend marktwirtschaftlichen Bedingungen in einer verstärkten Konkurrenzsituation zu anderen Unternehmen, die dieselbe Dienstleistung anbieten. Der Markt wird dynamischer und innovativer, er differenziert sich aus und segmentiert sich. Es kommt vermehrt zu Neugründungen von Bestattungsinstituten, wobei die Neuen oftmals nicht aus traditionellen Bestatterfamilien kommen, sondern Quereinsteiger mit anderen Berufshintergründen sind, die andere Vorstellungen davon mitbringen, wie mit dem Thema Bestattung umgegangen werden sollte oder kann. Die Folgen für die Bestattungsunternehmen sind nicht nur zunehmender Wettbewerb und unsichere Umsätze, sondern auch eine zunehmende Unübersichtlichkeit ihrer Umwelt und damit eine abnehmbare Erwartbarkeit. Für die Marktteilnehmer wird der Markt zunehmend intransparent bzw. genauer gesagt: Intransparenz wird erst jetzt zum Problem, welches sich mit traditionellem Wissen immer schwerer handhaben lässt. Je mehr sich die traditionellen Selbstverständlichkeiten und gesellschaftlichen Konventionen auflösen, je komplexer der Markt wird, desto notwendiger werden dann auch neue Kommunikationsformen, die Orientierung ermöglichen. Sie sollen zum einen Wissen vermitteln, sind zum anderen aber gleichzeitig auch als vertrauensbildende Maßnahmen zu betrachten. Erst unter diesen Bedingungen der Enttraditionalisierung macht es für die Anbieter Sinn, aktiv zu informieren und für die potentiellen Kunden, sich aktiv zu informieren. Denn erst jetzt werden die beiden klassischen Probleme von Märkten, die asymmetrische Informationsverteilung und damit einhergehend die Herstellung von Vertrauen zwischen Marktteilnehmern, auch auf dem Bestattungsmarkt relevant. Außerdem ist es heutzutage für Anbieter wichtig, dem Produkt Bestattung aktiv Bedeutung zu 4

Vgl. z.B. Kerstin Gernig (Hg.), Bestattungskultur – Zukunft gestalten. Dokumentation der Fachtagung in Erfurt vom 16.–17. Oktober 2003, Düsseldorf 2004.

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verleihen, denn auch die Bedeutung der Bestattung wird zunehmend kontingent und kann entsprechend heute nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden.

Die neue Sichtbarkeit Wie reagieren Bestatter nun auf diese Gegebenheiten? Fraglos gibt es jene, die zwar Veränderungen in ihrer Umwelt wahrnehmen, die sich aus ihrer Sicht negativ auf ihr Geschäftsfeld auswirken, die diese jedoch nicht zum Anlass nehmen, Veränderungen ihres Marktauftritts und ihres Angebotes vorzunehmen. Es gibt auch Bestatter, die gerne etwas verändern wollen, aber oft ratlos sind, was ihre unternehmerischen Möglichkeiten anbelangt. Naheliegend ist dann zumindest, als Reaktion auf den gestiegenen Preisdruck, die Preisreduktion im Material durch Veränderungen im Einkaufsverhalten zu bewirken. Dies geschieht beispielsweise durch die zunehmende Nutzung osteuropäischer Lieferanten in der Sargproduktion, was in den letzten Jahren zu einem massiven Umsatzeinbruch bei deutschen Herstellern geführt hat.5 Darüber hinaus gibt es aber auch Anbieter, die versuchen, ihren Geschäftsbereich zu enttabuisieren und ihn nach außen zu öffnen. Dies tun sie, um der als krisenhaft wahrgenommenen ökonomischen Situation entgegenzuwirken, um das eigene Image zu verbessern, den eigenen Geschäftsbereich aufzuwerten, um gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden und um Öffentlichkeit, ein Problembewusstsein und Wertigkeit für die Themen Tod, Sterben und Bestattung herzustellen. Im Folgenden möchte ich einige dieser – zumindest im deutschen Kontext – neuartigen Kommunikationsformen vorstellen. Im Gegensatz zu herkömmlicher Bestatterkommunikation6 haben sich sowohl die von Bestattungsunternehmern genutzten Medien als auch die Optik und Inhalte der durchgeführten Kommunikationsmaßnahmen im Kontext von Öffentlichkeitsarbeit und Marketing verändert. Statt diskret und zurückhaltend per Zeitungsannonce in schwarz-weiß auf die Existenz des eigenen Institutes hinzuweisen, ist mittlerweile zum Beispiel die offensive Preiswerbung so genannter Discountbestatter zu beobachten. So warb 2007 ein Berliner Unternehmen in seinem Schaufenster mit dem Text „Nie wieder zu viel bezahlen! Unsere Niedrigpreis-Garantie: Wenn Sie innerhalb von vier Wochen die Bestattung bei gleicher Leistung und Qualität irgendwo insgesamt günstiger angeboten bekommen, erstatten wir Ihnen umgehend den Differenzbetrag“. Die Bestattung wird in 5

Deutsches Institut für Bestattungskultur GmbH (Hg.), Deutsche Sargindustrie stirbt schleichend, in: Der Bestatter, Jg. 2, H. 4, 2005, S. 7. 6 Vgl. Dagmar Hänel, Bestatter im 20. Jahrhundert. Zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs, Münster/New York/München/Berlin 2003.

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gewisser Weise profanisiert – allein der Aspekt einer zu erstehenden Dienstleistung wird hier kommuniziert. Es wird explizit versucht, ein Preisbewusstsein zu etablieren – ein Vorgang, der offensichtlich legitimiert werden muss, denn auf einem zweiten Schild schreibt dasselbe Unternehmen: „Ein Preisvergleich im Trauerfall ist nicht pietätlos, sondern zeitgemäß“. Das Aufkommen solcher Discount-Bestatter ist zum einen als Reaktion auf den Preisdruck zu sehen, den diese selbst dann wiederum verstärken. Zum anderen werden hier aber auch Kundenwünsche von Menschen bedient, die der Bestattung keine besondere Relevanz zuschreiben. Wo traditionelle gesellschaftliche Zwänge wegfallen, wo es Optionen gibt und Entscheidungen getroffen werden müssen, gibt es grundsätzlich auch die Möglichkeit, die Beisetzung als weniger relevant oder gar irrelevant zu betrachten. Bestattungsunternehmer selbst – abgesehen von den Discount-Bestattern – nennen die praktischen Auswirkungen dieser Variante Entsorgungsmentalität, also Beisetzungen ohne viel Aufwand, bei denen es vor allem darum gehe, die Verstorbenen möglichst schnell aus dem Kreis der Lebenden zu entfernen. Ein Weg, einer solchen Gleichgültigkeit entgegenzuwirken, besteht in der kommunikativen Öffnung der Bestattungsinstitute und dem Versuch, auf diese Weise Problembewusstsein, Öffentlichkeit und Wertigkeit herzustellen. Dementsprechend sieht man auch andere neuartige Werbekommunikationen von Bestattern: Neben früher ebenfalls verpönten Postwurfsendungen sind hier vor allem Homepages im Internet zu nennen; aber auch Werbetrailer für TV, Radio und Kino oder Plakataktionen. Die erste groß angelegte Imagekampagne, die so genannte „Engel-Kampagne“, wurde 2002 vom deutschen Marktführer im Bestattungswesen durchgeführt. Es handelte sich hierbei um eine Plakatserie, und auf den Plakaten wurden glückliche Menschen verschiedenen Alters mit fiktiven Sterbedaten und Engelsflügeln abgebildet. Auf den Plakaten ist zum Beispiel zu lesen: „Wenn ich mal nicht mehr bin, sollen Sonnenblumen auf meinem Grab stehen. Jeder nach seiner Fasson, auch im Tod. Das Recht auf Individualität“ oder „Wenn ich mal abtreten muß, spielt bitte meine Lieblingsmusik“. Gestaltet ist die farbenfrohe Hochglanz-Kampagne ganz im Sinne eines „neuen Ästhetizismus des Todes“.7 Zentrale Topoi sind Individualität und Vorsorge, also die Planung und finanzielle Absicherung der eigenen zukünftigen Bestattung. Vorsorgeverträge sind für die Bestatter sozusagen heute das Geschäft von morgen; sie sind ein Mittel zur langfristigen Kundenbindung, aber auch ein Medium, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Bestattungsvorsorgeplakate weisen in aufklärerischer Absicht auf den jederzeit möglichen Eintritt des Todes hin („Bestattungsvorsorge – eine Sorge

7

Friedrich Wilhelm Graf, Todesgegenwart, in: Friedrich Wilhelm Graf/Heinrich Meier (Hg.), Der Tod im Leben. Ein Symposium, München 2004, S. 7–46.

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weniger. Der Tod ist gewiss, doch ungewiss die Stunde“8) und konnotieren Vorsorge als verantwortungsbewussten Akt gegenüber den Angehörigen („Man wird um Sie trauern. Man wird Ihr Verantwortungsbewusstsein schätzen. Sorgen Sie für Ihre Bestattung vor“). Es sei befreiend, über die eigene Bestattung sprechen zu können („Meine Eltern waren richtig erleichtert, als wir mit ihnen über Bestattungsvorsorge gesprochen haben“), die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod steigere den Wert des Lebens („Die Auseinandersetzung mit dem Tod lässt das Leben noch wertvoller werden“) und die Bestattung wird als Entscheidungs- und Gestaltungsobjekt dargestellt, dem individuelle Bedeutung zugeschrieben werden muss: „Ich möchte einen gelben Sarg mit Sonnenblumen drauf. Den bekomme ich auch; darum habe ich mich schon gekümmert“, ist ebenfalls auf einem solchen Plakat zu lesen. Bestatter machen sich sozusagen das Individualisierungsparadigma als Enttabuisierungsstrategie zu Nutze: Die Steigerung der Optionen durch die Enttraditionalisierung bringt die Notwendigkeit mit sich, auszuwählen – um aber eine Wahl treffen zu können, muss man sich vorher mit dem Gegenstand beschäftigen, darf ihn also weder verdrängen noch tabuisieren. Eine besondere Form neuartiger Werbemaßnahmen sind darüber hinaus Veranstaltungen im eigenen Geschäft, beispielsweise Kunstausstellungen, Lesungen oder Infoabende. Ziel ist es, den (potentiellen) Kunden die Schwellenangst zu nehmen, ein Bestattungsinstitut zu betreten sowie Kommunikation und Kundenbindung herzustellen. Ein weiteres Ziel besteht darin, eine bestimmte Unternehmensphilosophie zu transportieren, die mit einer veränderten Aufmachung der Verkaufslokalität einhergeht. Anstelle der gewohnten äußeren Unauffälligkeit, der lamellenverhangenen Fenster und der etwas düsteren Innenausstattung mit schweren dunklen Holzmöbeln sollen nun die offenen, hellen Räume und die Einblick gewährenden, farbenfroh gestalteten Schaufenster, die die Aufmerksamkeit der Vorbeigehenden auf sich ziehen wollen, als Zeichen gesehen werden für den Versuch, einen unversperrten, unverkrampften Umgang mit den Themen Tod und Bestattung herzustellen. Die Atmosphäre soll freundlich sein und Offenheit, Transparenz und Zugänglichkeit vermitteln.9 Parallel dazu findet eine Ausweitung der Angebotspalette statt. Hierin ist der Versuch zu sehen, Einnahmequellen anderer Gewerke zu übernehmen, neue Einnahmequellen zu erschließen sowie die Kundenbindung zu erhöhen. Diese Ausweitung hängt aber auch mit einem veränderten Selbstverständnis der Bestatter zusammen. Im umfassendsten Fall findet eine solche Ausweitung 8

Bei diesem und den weiteren in diesem Abschnitt verwendeten Zitaten handelt es sich um Texte auf Bestattungsvorsorgeplakaten verschiedener Anbieter. 9 Vgl. Antje Kahl, Das Design bestimmt das Bewusstsein? Zur neuen Sichtbarkeit im Bestattungswesen, in: Thomas Macho, Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, Paderborn 2007, S. 119–131.

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über die Privatisierung von Krematorien oder Friedhöfen und deren Übernahme durch Bestatter statt, was jedoch die große Ausnahme ist. Weit verbreitet sind ein zunehmendes Dienstleistungsangebot und Produktinnovationen: die Möglichkeit, Särge selbst zu bemalen, Designersärge, selbstgestaltete Grabsteine, Totenmasken, Grabtücher, Sargtücher, mit Fingerabdrücken von Verstorbenen versehene Amulette sowie Ascheamulette und Mini-Urnen sind nur einige davon. Letztere bieten zum Beispiel die Möglichkeit, einen Teil der Asche eines Verstorbenen zu entnehmen und in solchen Gefäßen zu Hause oder am eigenen Körper aufzubewahren. Obwohl eine solche Praxis in Deutschland gesetzlich (noch) nicht vorgesehen ist, gibt es bereits die Produkte dafür. Zunehmende Verbreitung finden aber auch Abschiedsräume und Trauerhallen, die in Bestattungsinstituten eingerichtet und für Trauerfeiern und Abschiednahmen genutzt werden können – anstelle von jenen, die in Friedhofskapellen stattfinden. Der Vorteil für den Bestatter besteht (neben der zusätzlichen Einnahmequelle) darin, dass er diese Räumlichkeiten eigenhändig gestalten und sie jederzeit für seine Kunden verfügbar halten kann; eine Möglichkeit, die auf städtischen oder kirchlichen Friedhöfen nicht gegeben ist. Diese eigenen Räumlichkeiten können auch als Marketinginstrument eingesetzt werden: Pro Trauerfeier kommt eine bestimmte Anzahl an Trauergästen ins Geschäft, die bestenfalls einen positiven Eindruck mitnehmen und später eventuell wiederkommen – dann als Kunden. Mit dem Trend, eigene Abschiedsräume und Trauerhallen anzubieten, geht eine Forcierung der Abschiednahme durch die Bestatter einher; eine Praktik, die in Deutschland in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg immer seltener ausgeübt wurde und bei der die Angehörigen vom toten Körper des Verstorbenen von Angesicht zu Angesicht im Vorfeld der eigentlichen Bestattung Abschied nehmen. Mit der Forcierung der Abschiednahme wird die Inklusion der Angehörigen in den Bestattungsprozess erhöht, der tote Körper enttabuisiert und sozusagen eine Re-Intimisierung erzeugt. An dieser Stelle wird die Enttabuisierung des Todes von vielen Bestattern als Re-Naturalisierung des Umgangs mit dem Tod gefasst. Das Tabu des Todes wird dabei als modernes gesellschaftliches Problem betrachtet, welches den so genannten natürlichen Umgang mit dem Tod, wie es ihn früher gegeben habe, unmöglich mache. Dieses Tabu müsse aufgebrochen werden, mit der Begründung, dass wenn der Tod in Form des toten Körpers nicht sichtbar bzw. nicht greifbar sei, er nicht begriffen würde. Die Folge davon wäre eine ungesunde Verdrängung und die Unmöglichkeit eines guten Trauerprozesses. Hierbei werden die mit der Beisetzung einhergehenden Praktiken von den Bestattern mit einem therapeutischen Aspekt für die Hinterbliebenen versehen und lassen sich darüber hinaus an bestehende Diskurse um das gute oder das schlechte Sterben anschließen.10 10

Vgl. Stefan Dreßke, Sterben im Hospiz. Der Alltag in einer alternativen Pflegeeinrichtung, Frankfurt/Main 2005.

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Ein natürlicher Umgang mit dem Tod – das meint hier, den toten Körper, der damit gleichzeitig aufgewertet wird, für die Angehörigen (wieder) sichtbar und erfahrbar zu machen; Lebende und Tote ein letztes Mal zusammenzubringen. Angenommen wird dabei ein empathisches Verständnis des Todes auf Seiten der Lebenden durch die Begegnung mit den Toten.

Die veränderte Rolle des toten Körpers In vielen Kulturen und Epochen wird und wurde der Leichnam als bedrohlich betrachtet. Grundlegend für diesen Gedanken ist die Arbeit von Mary Douglas. In „Reinheit und Gefährdung“11 untersucht sie Hygiene- und Reinheitsgebote, welche ihrer Ansicht nach die je spezifische Ordnung einer Gesellschaft widerspiegeln und somit symbolische Klassifikationssysteme darstellen. Schmutz und Verunreinigung werden dabei verstanden als Verstoß gegen die jeweils herrschende Ordnung. Sie erscheinen als etwas, das nicht in diese Ordnung integrierbar ist und diese damit in ihrer Kontinuität bedroht. Zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung trotz Verunreinigungen würden Aktivitäten notwendig, welche der Beseitigung des Schmutzes dienten. Im Fall der Leiche, die die gesellschaftliche Ordnung ebenfalls bedroht und deshalb als unrein angesehen wird, sind dies die Bestattungsriten. Sie sollen gewährleisten, dass der Tote und sein Körper ordnungsgemäß aus der Welt der Lebenden entfernt werden kann. Heutzutage sind die Bestatter die zentralen Akteure für den Umgang mit toten Körpern; als Experten übernehmen sie die Bestattung der Toten und die Kontrolle über die toten Körper. Dabei spielt die Konnotation der Unreinheit des Leichnams nach wie vor eine wichtige Rolle. So sieht schon Habenstein 1962 die Haltbarmachung der Toten als zentrale Aufgabe amerikanischer Bestatter an, wobei diese „dirty work“ am toten Körper im Gespräch ausgeblendet werde: „A funeral director today does not glorify his bodyhandling, and the pathological details of preparation are certainly not part of the stock of terms used in verbal intercourse with the clientele“.12 Auch in der deutschen, sozialwissenschaftlichen Literatur zum Bestattungswesen wird nahezu immer von der Unreinheit des toten Körpers ausgegangen. So stellt sich beispielsweise Kneuper die Ausgangsfrage, wie Unreinheit von Bestatterinnen aufgefasst wird und wie diese „mit der Gefährdung, die von der

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Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt/Main 1966/1988. 1 2 Robert W. Habenstein, Sociology of Occupations: The Case of the American Funeral Director, in: Arnold M. Rose (Hg.), Human Behaviour and Social Processes. An Interactionist Approach, London 1962, S. 225–246, hier S. 243.

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‚Verschmutzung‘ durch den Tod ausgeht, umgehen“.13 Roost Vischer beobachtet, dass „Leichengift“ eine von den Bestattern selbst verwendete Kategorie sei, mit welcher „die infektiöse Potenz, die einer Leiche mit ihrem geheimen Leben anhaftet“ bezeichnet werde.14 Die hygienischen Maßnahmen der Bestatter werden von ihr als Distanzierungsmaßnahmen gegenüber der Leiche beschrieben. So ermögliche beispielsweise das Tragen von Handschuhen „ein indirektes Berühren der Leiche. Etwas Schützendes, und wenn es nur eine dünne Plastikschicht ist, wird zwischen den Lebenden und den Tod geschoben“.15 Bei Nölle heißt es über das Tragen von Schutzhandschuhen, dass von den Bestattern sehr genau darauf geachtet werde, „dass – nachdem die Leiche berührt wurde – nichts mit den gleichen Handschuhen angefasst wird, womit man später ohne Handschuhe Kontakt haben könnte. Begründet wird dies als Schutzmaßnahme vor einer Infektion mit ‚Leichengift‘“.16 Schiller berichtet aus einem von ihr untersuchten Bestattungsinstitut, dieses habe längere Zeit „eine Putzfrau [gesucht], die die Aufbahrungsräume, die Kühlzellen und den Einbettungsraum sauberhält. Es findet sich jedoch niemand, der diese Arbeit übernehmen will. Eine Frau hatte die Stelle kurzzeitig angetreten, sie aber bald wieder aufgegeben, da sie sich vor den Toten und möglicher Ansteckung fürchtete“.17 Diese Konnotation der Unreinheit des Leichnams wird darüber hinaus im Großteil der sozialwissenschaftlichen Literatur zum modernen Bestattungswesen mehr oder weniger explizit als einer der Gründe für die Unsichtbarkeit der Leichen, für die Verschleierung des Todes, für die möglichst schnelle Ausgliederung der Toten aus dem Bereich der Lebenden und auch für die Stigmatisierung der Bestatter angeführt. Seit Kurzem lassen sich jedoch im deutschen Bestattungswesen nicht nur die bislang beschriebenen Veränderungen der Kommunikationsmaßnahmen und Praktiken von Bestattern beobachten, sondern auch in gewissem Maß die Rückkehr, also die zunehmende Sichtbarkeit, und die Aufwertung der bislang als unrein angesehenen Leichen. Im Folgenden soll entsprechend gezeigt werden, dass die Zuschreibung „Unreinheit“ für tote Körper nicht mehr verallgemeinert werden kann. Auch die mit Vorstellung der Unreinheit verbundenen Praktiken der Unsichtbarmachung, der möglichst schnellen Ausgliederung und des Zum 13 14 15

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Elsbeth Kneuper, Tod, Weiblichkeit, Repräsentation: Forschen in einem deutschen Bestattungsinstitut, Hamburg 1999, hier S. 12. Lilo Roost Vischer, Alltägliche Tote. Ethnologische Untersuchungen in einem Bestattungsinstitut und einem Krematorium in der Schweiz. Hamburg 1999, hier S. 37. Ebd., S. 41. Volker Nölle, Vom Umgang mit Verstorbenen. Eine mikrosoziologische Erklärung des Bestattungsverhaltens, Kassel 2003, hier S. 27. Gisela Schiller, Der organisierte Tod. Beobachtungen zum modernen Bestattungswesen, Düsseldorf 1991, hier S. 133.

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Verschwinden-Bringens der toten Körper lassen sich heutzutage nicht mehr für das gesamte Bestattungswesen generalisieren. Es gibt Bestatter, die einen bewussten Umgang mit dem toten Körper forcieren, z.B. indem die Aufbahrung der Verstorbenen in institutseigenen Aufbahrungsräumen aktiv angeboten und – laut Aussagen dieser Bestatter – auch wieder häufiger von den Angehörigen durchgeführt wird. Diese Bestatter ermutigen Angehörige dazu, sich mit ihren Toten zu konfrontieren, sich ihnen zu nähern und zum Teil sogar auch selbst die Totenfürsorge auszuführen, also die Verstorbenen z. B. mit Hilfe der Bestatter zu waschen, sie einzukleiden und in den Sarg zu legen. Mit der Forcierung der Abschiednahme wird die Inklusion der Angehörigen in den Bestattungsprozess erhöht, der tote Körper enttabuisiert und gleichsam eine Re-Intimisierung erzeugt. Der Begegnung mit dem toten Körper wird dabei von den Bestattern die Fähigkeit der Vermittlung von Zuversicht, Trost und Hoffnung zugeschrieben, wodurch die Begegnung mit dem Toten heilend zur Überwindung der durch den Tod ausgelösten Krise beitrage. In diesem Zusammenhang kann es auf semantischer Ebene zur Produktion von religiösen Sinndeutungen und -angeboten durch die Bestatter kommen. Hierzu ein etwas längerer Auszug aus einem Ratgeber, auf den ich mich in der folgenden Analyse immer wieder beziehen werde. Er stammt von einem der medial präsentesten Bestatter Deutschlands und soll zeigen, wie dem toten Körper eine religiöse Erfahrungsqualität (für die Lebenden) zugeschrieben wird: „Der Anblick von Toten hat in der Regel nichts Abschreckendes. Im Gegenteil: In den meisten Gesichtern liegt ein tiefer Frieden, so, als hätten die Toten eine andere Wirklichkeit gesehen, die für die Lebenden noch nicht greifbar ist. Jeder Tote hilft, die eigene Lebendigkeit neu zu entdecken und zu bewerten. Er vermittelt den Überlebenden auf einfache, aber sehr eindringliche Weise, was es bedeutet, ›tot oder lebendig‹ zu sein. [...] Die Begegnung mit Sterbenden und Toten bedeutet für viele Menschen eine spirituelle Erfahrung, die für sie die tröstende Botschaft enthält: Wir Menschen leben auf einer anderen Ebene weiter. Ja, wir Lebenden haben einen neuen, spirituellen Beschützer aus der ewigen Familie des Lebens. [...] In den meisten Fällen hat das im Tode ruhende Gesicht auch die Kraft, das Wort ›Wiedersehen‹ in seiner ganzen Tiefe erfahrbar zu machen. Zum einen vermittelt es den Hinterbliebenen den Eindruck, dass der Verstorbene ›etwas wieder gesehen‹ hat, eine Spiritualität erfahren hat, für die wir Menschen in unserem irdischen Leben häufig ›blind‹ geworden sind. Gleichzeitig kann diese Wahrnehmung aus dem Hoffen auf ein ›Wiedersehen‹ eine tröstliche Gewissheit werden lassen. Bei einem intensiven Abschied von einem Toten machen viele Menschen die zentrale Erfahrung: Das, was ich da sehe, ist nur das Vergängliche, es ist seine Hülle. Was dagegen seine Lebendigkeit ausgemacht hat, das ist jetzt woanders. Wer diese Erfahrung gemacht hat, fühlt sich getröstet, und er ist eher bereit, den Leichnam ins Grab zu geben. Durch die Begegnung mit einem Toten können sich Einstellungen ändern. [...] Unsere Toten sind die eigentlichen Lehrmeister des Lebens,

Das Unternehmen Bestattung denn sie mahnen uns auf natürliche Weise, wirksamer als alle Philosophen, die wichtigen Dinge von den unwichtigen Dingen des Lebens zu unterscheiden“.18

Hierbei fällt zunächst auf, dass von einer Unreinheit des toten Körpers keine Rede mehr ist. An ihre Stelle tritt die positiv besetzte Zuschreibung, die Mimik des Verstorbenen sei Ausdruck eines „tiefen Frieden[s]“. Der Gesichtsausdruck des Toten wird dabei als sichtbares Zeichen eines Übergangs interpretiert. Der Tod erscheint hier also nicht als absolutes Ende des Lebens, sondern als Übergang in eine andere Wirklichkeit. Dem toten Körper wird entsprechend eine Wertigkeit zuteil, weil dieser für die Angehörigen sichtbar auf diese andere Wirklichkeit verweise. Aus dem Anblick des Toten wird jedoch nicht nur auf eine positive jenseitige Existenz geschlossen, deren Vorhandensein das Wissen um ein Wiedersehen, Schutz und Trost vermittle. Gleichsam gilt der Leichnam als Sachbeweis und Realisation des Todes, was von vielen Bestattern als die entscheidende Voraussetzung für den positiven Verlauf des Trauerprozesses angesehen wird. Die Wahrnehmung des toten Körpers verifiziere den eingetretenen Tod sowie seine Unumkehrbarkeit und Endgültigkeit.19 Die Begegnung mit dem Leichnam mache den Lebenden darüber hinaus ihre eigene Sterblichkeit bewusst. Sie ermögliche aber auch einen Wahrnehmungswandel – sie lehre uns, unsere Prioritäten zu überprüfen und zeige uns, was wirklich wichtig sei. Dabei wird suggeriert, durch die Konfrontation mit dem Toten könne ein Überschreiten der Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Immanenz und Transzendenz wenn schon nicht tatsächlich vollzogen, so doch antizipiert werden. Das Jenseits der Grenze dient dann als Reflexionspunkt für das eigene Leben. Die Begegnung mit dem Toten eröffne den Raum für die Zuspitzung existenzieller Fragen nach der eigenen Sterblichkeit, dem Sinn des Lebens oder den richtigen Werten. Die Begegnung mit dem Tod ist somit auch diesseitsorientiert – das memento mori dient sozusagen der ars vivendi. Aber nicht der Tod, sondern der Tote ist der „Lehrmeister“ des Lebens. Insofern kann die Begegnung mit ihm als horizontverändernde Erfahrung gelten, als einschneidendes, ergreifendes Erlebnis, das in der Lage ist, die Weltsicht und das Leben derer, die dieses Erlebnis haben oder hatten, grundlegend zu verändern.

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Fritz Roth/Jürgen Fliege, Lebendige Trauer. Dem Tod bewusst begegnen, Bergisch Gladbach 2002, hier S. 74–76. 1 9 Vgl. hierzu Antje Kahl, “Our Dead are the Ultimate Teachers of Life”. The Corpse as an Intermediator of Transcendence: Spirituality in the German Funeral Market, in: Fieldwork in Religion, Sonderheft: Dead in the Field: utilizing fieldwork to explore the historical interpreting of death related activity, and the emotional coping with death, Vol. 8.2, 2013, S. 223–240.

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Bestatter, die dem toten Körper eine solche Transzendenzerfahrungsqualität für die Angehörigen zuschreiben, bieten den Überlebenden die Möglichkeit, ihre bisherige soziale Beziehung zu dem Verstorbenen nicht sofort mit dem Eintritt des Todes abbrechen zu müssen. Hier wird ein Raum zur Verfügung gestellt, in welchem der Wandel dieser Beziehung stattfinden oder zumindest beginnen kann. Sicherlich ist das Bestattungsunternehmen nicht der Ort, wo die Gemeinschaft von Lebenden und Toten langfristig gelebt werden kann. Traditionell ist die Kirche dieser Ort – jedoch wird dabei vorausgesetzt, dass die Gemeinschaft von Lebenden und Toten automatisch vorhanden ist. Vielleicht ist es aber so, dass heutzutage eine solche Gemeinschaft in vielen Fällen erst hergestellt werden muss. Das ist es, was von den oben beschriebenen Bestattungsunternehmern angeboten wird. Die Zuschreibung von Transzendenzerfahrungsqualität geht dabei, wie beschrieben, mit einer neuen Sichtbarkeit des Leichnams und einem anderen Umgang mit toten Körpern einher. Beobachtet werden kann also insgesamt eine Statusänderung des toten Körpers. Er ist nicht unreiner Abfall, und er ist auch nicht völlig bedeutungslos, nicht nur bloßer Container des Geistes. Der Leichnam hat durchaus einen Wert – nicht nur in den Augen der Angehörigen, die Abschied von ihm nehmen wollen, sondern auch für die Bestatter. Diese können über einen in diesem Sinne aufgewerteten Leichnam ihren gesamten Tätigkeitsbereich aufwerten, indem sie ihrer auf der Konnotation der Unreinheit der Leiche beruhenden traditionellen Stigmatisierung entgegenwirken. Vor allem vor dem Hintergrund der Zunahme so genannter Billigbestatter, die eine so genannte „Entsorgungsmentalität“ bedienen, wobei Angehörige sich ihrer Verstorbenen möglichst „billig“ und ohne Aufwand entledigen können, sind solche Spiritualisierungstendenzen als Gegenbewegung zu der mit dieser „Entsorgungsmentalität“ einhergehenden Bedeutungslosigkeit des Körpers zu verstehen.

Literatur: Mary Bradbury, Representations of Death. A Social Psychological Perspective, New York 1999. Deutsches Institut für Bestattungskultur GmbH (Hg.), Deutsche Sargindustrie stirbt schleichend, in: Der Bestatter, Jg. 2, H. 4, 2005, S. 7. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt/Main 1966/1988. Stefan Dreßke, Sterben im Hospiz. Der Alltag in einer alternativen Pflegeeinrichtung, Frankfurt/Main 2005. Kerstin Gernig (Hg.), Bestattungskultur – Zukunft gestalten. Dokumentation der Fachtagung in Erfurt vom 16.–17. Oktober 2003, Düsseldorf 2004. Friedrich Wilhelm Graf, Todesgegenwart, in: Friedrich Wilhelm Graf/Heinrich Meier (Hg.), Der Tod im Leben. Ein Symposium, München 2004, S. 7–46.

Das Unternehmen Bestattung Robert W. Habenstein, Sociology of Occupations: The Case of the American Funeral Director, in: Arnold M. Rose (Hg.), Human Behaviour and Social Processes. An Interactionist Approach, London 1962, S. 225–246. Dagmar Hänel, Bestatter im 20. Jahrhundert. Zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs, Münster/New York/München/Berlin 2003. Antje Kahl, Das Design bestimmt das Bewusstsein? Zur neuen Sichtbarkeit im Bestattungs­ wesen, in: Thomas Macho/Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, Paderborn 2007, S. 119–131. Antje Kahl, “Our Dead are the Ultimate Teachers of Life”. The Corpse as an Intermediator of Transcendence: Spirituality in the German Funeral Market, in: Fieldwork in Religion, Sonderheft: Dead in the Field: utilizing fieldwork to explore the historical interpreting of death related activity, and the emotional coping with death, Vol. 8.2, 2013, S. 223–240. Antje Kahl, Tote Körper: zum Bedeutungswandel des Leichnams in der gegenwärtigen Gesellschaft am Beispiel der klinischen Sektion und der Bestattung, Berlin 2013. Elsbeth Kneuper, Tod, Weiblichkeit, Repräsentation: Forschen in einem deutschen Bestattungsinstitut, Hamburg 1999. Volker Nölle, Vom Umgang mit Verstorbenen. Eine mikrosoziologische Erklärung des Bestattungsverhaltens, Kassel 2003. Lilo Roost Vischer, Alltägliche Tote. Ethnologische Untersuchungen in einem Bestattungsinstitut und einem Krematorium in der Schweiz. Hamburg 1999. Fritz Roth/Jürgen Fliege, Lebendige Trauer. Dem Tod bewusst begegnen, Bergisch Gladbach 2002. Gisela Schiller, Der organisierte Tod. Beobachtungen zum modernen Bestattungswesen, Düsseldorf 1991. Stiftung Warentest (Hg.), Bestattung – Was tun im Todesfall?, Sonderheft, Berlin 2005.

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SOPHIA SIEBERT

Leben am Verbrennungsplatz Die Doms – Verbrennungsmeister in Shivas heiliger Stadt Benares Dieser Beitrag befasst sich mit den Doms, den Verbrennungsmeistern an den Kremationsplätzen in Benares, einer Großstadt im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Der Text basiert auf den Daten einer qualitativen Forschung, die ausführlich im Buch Kaste, Karma, Kremation – die soziale und kulturelle Dimension des Todes in Nordindien1 beschrieben sind. Die Doms sind Bürgerinnen und Bürger einer heiligen Stadt, die dafür berühmt ist, dass dort der Tod ‚überwunden‘ werden kann (s.u.). Es wird beleuchtet, warum die Arbeit am Verbrennungsplatz als unrein gilt und warum die Doms, die qua Geburt in ihre Kaste und damit ihren Beruf gelangt sind, keine Möglichkeit haben, sich von ihrer Außenseiterrolle zu befreien. In diesem Text werde ich einige Strategien aufzeigen, die von den Doms entwickelt wurden, um mit der täglichen Stigmatisierung umzugehen. Wir werden sehen, dass die Doms gesellschaftliche Reinheitsregeln situationsbedingt unterwandern und außerdem eine spezifische Umdeutung der gängigen Mythologie der heiligen Stadt vornehmen. Die Stadt hat vier gängige Namen: Varanasi, Benares, Banaras und Kashi. Der Name Kāshi bedeutet die Erleuchtete.2 Die heilige Stadt gilt als Wohnort des Gottes Shiva und ist Pilgerziel von Hindus aus ganz Indien. Es gibt sieben heilige Städte in Indien; es heißt, dass man, sollte man in den anderen sechs Städten sterben, noch ein letztes Mal in Kashi wiedergeboren werde.3 Die Millionenstadt ist ringartig um die Altstadt gewachsen, die das religiöse Zentrum der Stadt darstellt. Varanasi hat eine einzigartige Mythologie, die besagt, dass die hier Sterbenden direkt aus dem Kreislauf der Wiedergeburt erlöst werden. Die im folgenden Zitat beschriebene Unausweichlichkeit der Wiedergeburt ist in Varanasi also aufgehoben: „Inevitable is death for the one born; inevitable also is re-birth for the one who dies.“4 Das göttliche Erlösungsversprechen veranlasst viele Pilgerinnen und Pilger, den Rest ihres Lebens in Varanasi zu verbringen; es gilt als eine der wertvollsten religiösen Handlungen eines Hindus, in Benares zu sterben. 1

Sophia Siebert, Kaste, Karma, Kremation – die soziale und kulturelle Dimension des Todes in Nordindien, Marburg 2011. 2 Vgl. Diana Eck, Benares – Stadt des Lichts, Frankfurt a.M. 2006 [1982], S. 43. 3 Vgl. Jonathan P. Parry, Death and Cosmogony in Kashi, in: Rana P.B. Singh (Hg.), Banaras (Varanasi): Cosmic Order, Sacred City, Hindu Traditions, Varanasi 1993, S. 115. 4 Bhagavadgītā II.27: „Jātasya hi dhruvo mŗtyu dhruvo janma mŗtasya ca.” Das Zitat stammt aus Shyam Ghosh, Hindu Concept of Life and Death, New Delhi 2002, S. 223.

Leben am Verbrennungsplatz

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Alltäglicher Anblick: Männer tragen eine Bahre zum Verbrennungsplatz5

Einer der vielen Beinamen der Stadt ist Mahashmashana: großes (maha) Leichen- (shma) Bett (shana).6 Das Geschäft rund um das Sterben stellt für viele Familien die Lebensgrundlage dar (s.u.). Jonathan Parry bezeichnet den Tod in Varanasi sogar als big business.7 Für die Benarsi Priester8 sei das Wissen über die Fahrpläne der Züge, in denen die Pilger anreisen, wertvoller als das Kennen der Sanskrit-Mantras9. Parry stellt jedoch fest, dass die Tendenz, nur den Leichnam zur Verbrennung nach Kashi zu bringen, konstant steigt10. Hierbei spielt die Kastenzugehörigkeit keine Rolle; die Verbrennung in Kashi ist für Angehörige aller Kasten von gleich hoher Bedeutung. Ein Informant formuliert: „Kashi is the only place in the world where you can achieve mukti, no matter what kind of being you were, human or an insect even“ (Interview 6: 3). Das Privileg der Erlösung heißt in Sanskrit Moksha oder Mukti und wird eigentlich nur sogenann 5

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A Conversation Between Robert Gardner and Ákos Östör, in: Robert Gardner: Making Forest of Bliss, Intention, Circumstance and Chance in Nonfiction Film, London 2001, S. 74. Eck, Licht, S. 52. Parry, Cosmogony, S. 70. Benarsi Priester ist wie Berliner Priester zu lesen. Die EinwohnerInnen werden Benarsis genannt. Ebd., S. 104. Ebd., S. 66.

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ten heiligen Männern, Sadhus, zuteil, die sich viele Jahre in Meditation geübt und ihr irdisches Leben zugunsten der Gottesverehrung aufgegeben haben. Eck schreibt: „Den Tod, der überall sonst gefürchtet wird, heißt man hier als lang erwarteten Gast willkommen“.11

Der Verbrennungsplatz Die Verbrennungsplätze, die sonst außerhalb der Städte liegen, befinden sich hier direkt am Ufer des Ganges, mitten im heiligen Zentrum der Stadt. Auf den beiden Verbrennungsplätzen wird nachts durchgearbeitet. Auch wenn dann keine Verbrennung mehr begonnen wird, so werden doch die Feuer, die abends angezündet wurden, über Nacht am Brennen gehalten. Die beiden Verbrennungsplätze heißen Manikarnika Ghat12 und Harishchandra Ghat. In der Literatur finden sich Zahlen zwischen insgesamt achtzig und hundertfünfzig Verbrennungen pro Tag.13 Die Zahl der von außerhalb der Stadt herangebrachten Körper hat sich im Laufe von sieben Dekaden (1917/1989) mehr als verzehnfacht14. Die beiden städtischen Verbrennungsghats sind immer staubig und von Rauch umgeben. In Indien gelten Verbrennungsplätze als unrein und unglückbringend. Es heißt, wer zu viel Zeit dort verbringt, erlangt schlechtes Karma. Die gefährliche Nähe zum Tod stellt ein Merkmal für Unreinheit dar, so dass Verbrennungsplätze gemieden werden. Durch die einzigartige Mythologie gilt in Benares der Verbrennungsplatz jedoch nicht als unrein; Eck15 beschreibt ihn als „heilbringenden Ort“, und Meena Kaushik16 schreibt: „The cremation ghats of Kashi, unlike other ghats are not impure. A smasana (cremation ground) is considered impure but Banaras with the sacred Ganga is the purest in spite of being always the cremation ground for thousands in a year.“ Fragt man gezielt nach der Heiligkeit der 11

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Vgl. Eck, Licht, S. 379. Eine ausschließliche Charakterisierung Varanasis als ‚Stadt des Todes‘ wäre eine orientalistische Zuschreibung. Es muss betont werden, dass die lebhafte Stadt keineswegs vom Tod ‚dominiert‘ ist. Es handelt sich zwar um ein integrales, jedoch nicht um ein ausschließliches Charakteristikum dieser Stadt. Ghats heißen die Steinstufen, die zum Ganges hinunterführen. Hier findet Einiges statt: Kinder spielen, Kühe ruhen, Wäscher legen die Wäsche zum Trocknen aus, religiöse Spezialisten bieten ihre Dienste an, Touristen flanieren, Freunde treffen sich und Menschen machen Puja (Gottesdienst) für die Göttin Ganga. Vgl. Parry, Eck sowie Christopher Justice, Dying the Good Death, The Pilgrimage to Die in India’s Holy City, Delhi 1997. Von ca. 1000 [9.3% der Gesamtbestattungen] auf ca. 12500 [42%], vgl. Jonathan P. Parry, Death in Banaras, Cambridge 1994, S. 56–57. Eck, Licht, S. 51. Meena Kaushik, The symbolic representation of death (in Kashi), in: Rana P.B. Singh (Hg.): Banaras (Varanasi): Cosmic Order, Sacred City, Hindu Tradition, Varanasi 1993, S. 123–139; hier: S. 124.

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Verbrennungsplätze, werden Benarsis ehrfürchtig den entsprechenden Mythos erzählen und die Heiligkeit hervorheben. Lenkt man das Gespräch aber nicht in diese Richtung, wird deutlich, dass der Verbrennungsplatz dennoch als unglückbringend und verunreinigend begriffen wird. Trotz der vielbesungenen Heiligkeit der Verbrennungsghats werden sie von jenen Benarsis gemieden, die dort nicht ihr Geld verdienen (müssen).

2 

Boote mit TouristInnen vor dem Verbrennungsplatz am Manikarnika Ghat

Die beiden Ghats unterscheiden sich hauptsächlich in der ‚gefühlten‘ Größe. Flächenmäßig sind sie etwa gleich groß, jedoch ist Manikarnika der weitaus berühmtere und geschäftigere Ort. Ich habe aus Gründen der Zugänglichkeit Harishchandra als Forschungsort gewählt. Die Zeremonien am Harishchandra Ghat sind nicht dem Touristengeschäft ausgesetzt. Obwohl hier mehrere Steinbänke dazu einladen, das Verbrennungsgeschehen von oben zu betrachten, habe ich selten einen Touristen darauf Platz nehmen sehen. Am Manikarnika-Ghat hingegen gibt es ein straff organisiertes Touristen-Business. Für Hindu-PilgerInnen von außerhalb ist Manikarnika der prestigeträchtigere Ort. Die EinwohnerInnen von Benares, auch Priester, meinen hingegen, dass Harishchandra der reinere der beiden Orte sei. Die Kontaktfindung gestaltete sich hier für mich einfacher, und vor allem war es möglich, regelmäßig einen ruhigen Sitzplatz aufzusuchen und dort Zeit zu verbringen, ohne von selbstberufenen ‚Touristenexperten’, meist jungen Männern aus der Nachbarschaft, belehrt zu werden. Der Verbrennungs-

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platz ist von Stufen eingerahmt. Der Platz selbst hat einen weichen Boden, eine Mischung aus Holzspänen, Sand und Asche. Die Fläche fällt zum Fluss hin ab. Nach Norden stehen in direkter Nachbarschaft die Wäscher und Wäscherinnen im Wasser. Die Stufen in südlicher Richtung führen hinab zu den Fischern. Oberhalb des Platzes spielen Kinder nachmittags Kricket. Während der Verbrennung laufen Hunde und Kühe um den brennenden Leichnam herum: Kühe suchen nach den orange-weißen Blumengirlanden, die die Bahren schmücken, und Hunde suchen in der Asche nach Knochen. Oberhalb des Ghats befindet sich ein kleiner Ashram. Dort habe ich Interviews geführt und wurde eingeladen, auf der Terrasse zu sitzen und die Aussicht auf die Verbrennungsplätze zu ‚genießen‘. Abgesehen von diesen infrastrukturellen Vorteilen wurde ich unten am Verbrennungsplatz von den Doms bei meiner Feldforschung unterstützt.

Das Kastensystem Die gesellschaftliche und soziale Position der Doms kann man ohne das Kastensystem nicht denken. Ich möchte kurz die Entstehung, die Grundidee und die gesellschaftlichen Ausmaße der Kasten beschreiben. Das Leben in Indien basiert nach wie vor auf dem Kastensystem, obschon es offiziell mit der Verfassung von 1952 abgeschafft wurde. Im indischen Zusammenhang tritt der Begriff Kaste zum ersten Mal im 15. Jahrhundert auf: Die portugiesischen Reisenden beschrieben damit die Zersplitterung der indischen Gesellschaft17. Axel Michaels erklärt, das Wort ‚Kaste‘ stamme von Lateinisch castus ab (‚keusch, das nicht Vermischte‘.18 Er führt den Begriff der Kasten auf die „Sammelwut der Kolonialbeamten [und Ethnologen zurück], mit der Menschen fast wie Schmetterlinge archiviert wurden“.19 Er verweist auf Edmund Leach, der meinte, dass Kasten nur im Kontrast zu anderen Kasten erkannt werden können, die im sozialen Netzwerk auftreten. Michaels bezeichnet den Berufsstand als wichtigstes Merkmal des Kastenbegriffs. Dementsprechend kritisiert er den Kastenbegriff als ein Westliches Konstrukt, das man durch Berufsbezeichnungen ersetzen könne. Ich plädiere aus zwei Gründen dafür, weiterhin am Kastenbegriff festzuhalten. Erstens meint der Begriff nicht nur die nominelle Einteilung nach Berufsgruppen, sondern verweist zugleich auf die Rigidität des Systems: Die Verwendung des Wortes Kaste verdeutlicht, im Gegensatz zu Begriffen wie ‚Gruppe‘ oder ‚Berufsgruppe‘, auch die auf dem Karmasystem basierenden sozialen Handlungsstrategien. Zweitens hat das Wort caste mittlerweile im indischen Diskurs einen zentralen Platz inne: Es tritt im englischsprachigen Zusammenhang auf, 17

Vgl. Dharam Vir Singh, Hinduism, An Introduction, Jaipur 2005, S. 109. Vgl. Axel Michaels, Der Hinduismus, Geschichte und Gegenwart, München 1998, S. 178. 1 9 Ebd., S. 180. 18

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wie etwa in überregionalen Zeitungen oder in politischen Debatten. Das Äquivalent in den indischen Sprachen ist das Wort jati (abgeleitet von jan/ja geboren werden20), das alles bedeuten kann: Abstammung, Geburt, Geschlecht, Familie, Genre, Spezies, Art, Staat oder Nation. Die unzähligen Kasten sind in einem viergliedrigen System strukturiert (Brahmanen, Krieger, Händler, Dienstleister), als dessen fünfter Bestandteil oft die Kastenlosen oder Unberührbaren genannt werden. Faktisch gibt es keine Menschen, die aus dem viergliedrigen System fallen können. Als ‚Unberührbare‘ gelten Angehörige der untersten Kasten, die Arbeiten verrichten, die in höchstem Maße ‚unrein‘ sind. Die Menschen gelten deshalb selbst als unrein und sollen nicht berührt werden. Kastenlos meint den Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft; dieser kann Angehörigen aller vier Gruppen drohen, sobald sie gegen die Kastenregeln verstoßen.21 Nach vedischen Texten repräsentieren die vier Gruppen den göttlichen Körper: Kopf, Arme, Oberschenkel und Füße. Die Brahmanen stellen das Wissen dar (Kopf), die Krieger die Kraft (Arme), und die Händler die Produktivität und Stütze der Gesellschaft. Hierzu zählen Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker, Musiker etc.; sie stellen die Schenkel des göttlichen Körpers dar. Dienstleister sowie alle ‚Servicekräfte‘ stellen im vedischen Text die göttlichen Füße dar;22 zu dieser Gruppe gehören die Doms. Sie führen die Serviceleistungen aus, die bei Mitgliedern anderer Kasten Entsetzen auslösen: die Arbeit mit Toten. Sie gehören der Kaste an, die innerhalb des Gesellschaftssystems als niedrigste betrachtet wird. „The lowest castes are the more impure and it is they whose humble services enable the higher castes to be free of bodily impurities. They wash clothes, cut hair, dress corpses and so on. The whole system represents a body in which by the division of labour the head does the thinking and praying and the most despesed parts carry away waste matter.“23

Die Verachtung aller ‚niedriger‘ gestellten Lebewesen ist trauriger Bestandteil dieses Systems. Je nach Region variieren die Berufe, die von Angehörigen der Dom-Kaste ausgeführt werden; „Dom“ verweist also zunächst nur auf einen niedrigen sozialen Status. Dom-Männer können als Weber, Korbmacher, Musiker oder Verbrennungsspezialisten arbeiten. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Dom ist ‚Trommel‘ und verweist auf den Musikerberuf. Die Doms in Benares arbeiten ausschließlich als Verbrennungsspezialisten. Sie verbringen nicht nur 2 0

Vgl. Michaels, Hinduismus, S. 189. Vgl. Singh, Hinduism, S. 109. 2 2 Vgl. R.L. Kashyap, Hymns on Creation and Death in the Veda and Upanishads, Bangalore 2005, S. 24 sowie Fiona Bowie, The Anthropology of Religion: An Introduction, Oxford 2006, S. 42. 2 3 Mary Douglas, Purity and Danger, London, New York 2007 [1966], S. 152. 21

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ihre Arbeitszeit, sondern auch große Teile ihrer Freizeit am Verbrennungsplatz. Bereits dieses Merkmal macht sie zu einer Außenseitergruppe der Gesellschaft.

Tod und Kaste Wie bereits erwähnt, ist das Konzept von Reinheit und Unreinheit zum Verständnis der Situation der Doms unerlässlich. Auch wenn am Verbrennungsplatz heilige Rituale durchgeführt werden, ist die soziale Stellung der hier Arbeitenden durch den Todesbezug eindeutig als unrein definiert. Angehörige der DomKaste können sich nicht von der ihnen zugeschriebenen Unreinheit befreien. In der Literatur werden Reinheit und Unreinheit als voneinander abhängig beschrieben: Der Brahman kommt ohne die Dienste der unteren Kasten nicht aus, sowie Brahmanen für die anderen Kasten ebenso notwendig sind. Norbert Elias bezeichnet „ungehemmte Verachtung, einseitige Brandmarkung von Außenseitern ohne Chance einer Gegenwehr“ als typisches Verhalten im Verhältnis der höheren Kasten zu den Unberührbaren, das er als „sehr steiles Machtgefälle“ bezeichnet.24 Damit einher gehe eine „emotionale Rigidität“: Mitglieder höherer Kasten empfänden Abscheu gegen Kontakte mit Unberührbaren. Mary Douglas argumentiert, dass der Zusammenhang von Reinheit und Kaste eine Doppelbödigkeit beinhaltet: „The revulsion [heftige Reaktion] from touching corpses and excreta does not merely express the order of caste in the system as a whole. The anxiety about bodily margins expresses danger to group survival“25. Sie argumentiert also, dass Reinheitsregeln einerseits eine Systemstabilität garantieren und symbolisieren, aber andererseits auch ein notwendiges Definitionsmerkmal der jeweiligen sozialen Gruppe darstellen. Das Gesellschaftssystem Indiens lebt davon, dass die Individuen an ihren sozialen Plätzen bleiben; das moralisch fundierte Kastensystem basiert darauf, dass Werte sich in Körper einschreiben und somit das System gesichert wird. Dieses Prinzip fassen Lock und Sheper-Hughes mit Bezug auf Foucault unter dem Begriff des politischen Körpers zusammen: „the stability of the body politic rests on its ability to regulate populations (the social body) and to discipline individual bodies“.26 Der individuelle Körper ist somit immer auch Teil des sozialen Körpers. Der biologische Körper wird Träger von Informationen über die Kultur, in der er lebt. 24

Norbert Elias und John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a.M. 1993 [1965], S. 14. 2 5 Douglas, Purity, S. 153–154. 2 6 Margaret Lock und Nancy Sheper-Hughes, The Mindful Body, A Prolegomenon to Future Work in Medical Anthropology, in: Peter J. Brown (Hg.), Understanding and Applying Medical Anthropology, London, Toronto 1998, S. 209.

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Der ‚politische Körper‘ der Kaste der Doms ist zwar der Rechtslage nach scheinbar ‚gesund‘ und geschützt, wird jedoch durch den schlechten Zustand des sozialen und individuellen Körpers geradezu ‚unsichtbar‘ bzw. angreifbar. Stigmatisierung und, als Folge, schlechte Bildung machen es trotz bereits geschaffener politischer (nomineller) Gleichstellung für die Doms unmöglich, ihrem sozialen und individuellen Körper Stabilität zu verleihen. Die (männlichen) Angehörigen der Dom Kaste ‚lernen‘ beispielsweise bereits als Kinder, Alkoholiker zu werden. Der sozial konstruierte Körper ist auf eine schwache, stigmatisierte Position festgeschrieben und nicht flexibel, was im Folgenden weiter ausgeführt wird.

Die Meister des Verbrennungsplatzes Die Doms arbeiten nach einem strengen und komplizierten Regelsystem, nach dem ihre Schichten ausgerechnet werden. Jeder Arbeiter muss seine Schichten selbst im Blick haben. Sollte er sie verpassen, springen Männer im Bereitschaftsdienst ein und kassieren auch den Lohn27. Pro Person sind im Schnitt nur wenige Arbeitstage jährlich vorgesehen. Die Dom-Frauen halten sich meist im oder vor dem Haus auf und kommen selten herunter zum Ghat, wo die Männer arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Unter den Dom-Männern bestehen Freundschaftsverbünde, die sich in Grüppchen an verschiedenen Orten treffen. Die Gruppe, mit der ich bei der Forschung zusammengearbeitet habe, trifft sich am ShivaTempel oberhalb des Ghats, im Schatten des elektrischen Kremationshauses28. Sie sitzen dort auf den Stufen, und oft kommen ihre Kinder vorbei und setzen sich dazu. Auch die Kleinsten, die gerade erst laufen können, sind hier unterwegs. Männer von dreißig Jahren haben oft schon sechs Kinder.29 Die Männer haben einen speziellen Humor und eine raue Art. Die meisten trinken jeden Abend Schnaps von schlechter Qualität. Eine Flasche Schnaps kostet umgerechnet einen Euro. Wenn die Dom-Männer arbeiten, trinken sie auch während der langen Schichten. Die Kinder werden früh angelernt, so dass sie die Schicht der Erwachsenen teilweise schon im Alter von zehn Jahren übernehmen. Die Doms sind in ihre Kaste geboren, und niemand würde einem Dom eine andere Arbeit geben. Mein Hauptinformant Hari Chand ist etwa 33 Jahre alt. Er arbeitet seit 12 Jahren auf dem Verbrennungsplatz und führt die ältesten seiner sechs Kinder schon in die Arbeit ein. Der lockenköpfige Mann ist Zyniker. Hari Chands typischer Tagesablauf sieht folgendermaßen aus: um sieben Uhr aufstehen und zum Tempel gehen, um dort mit den anderen Tee zu trinken. Warten, bis der erste Job zu tun 27

Vgl. Parry, Death, Kapitel 3. Weitere Informationen zur elektrischen Kremation in Benares vgl. Siebert, Kaste, S. 64–65. 2 9 Vgl. Informationen zur politischen Bildung, Indien, IzpB 296/2007, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, S. 21. 2 8

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ist. Das dauert dann ca. vier Stunden. Falls es nichts zu tun gibt, sitzt er diese Zeit bei den anderen. Mittagessen gibt es gegen 14 Uhr. Danach trinkt man ein bisschen Schnaps und legt sich zum Mittagsschlaf nieder. Nachmittags noch ein bis zwei Arbeitsrunden. Abends zum Feierabend wird mit den anderen getrunken und Chillum (Marihuana) geraucht. Das geht bis ca. 24 Uhr. Das Rauchen ist Gott Ram geweiht. Wenn wir uns mithilfe des Übersetzers unterhalten, schaut er mir beim Sprechen stets in die Augen. Die anderen Männer respektieren seine Entscheidungen und seine Rede. Er erläutert, dass der Anblick toter Menschen normal sei, so wie auch der Tod normal sei. „Everyone has to die. So it is nothing special“ (Interview 20: 2). Die Doms sind gezwungen, unter sich zu bleiben. Es gibt teilweise nachbarschaftlichen Kontakt zu Familien der Fischerkaste, jedoch geht auch dieser Kontakt nicht über das Nötigste hinaus. Sie sind ausgeschlossen vom öffentlichen Leben, da die Leute in ihrer Umgebung wissen, welcher Kaste sie angehören. Sie schildern, dass sie unter diesem Ausschluss leiden. Sie beklagen sich darüber, dass sie schlecht behandelt oder ganz ignoriert werden. Erving Goffman nennt diese Spannung eine „Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität“, also zwischen der Identität, die einem Individuum zugeschrieben wird (virtual), und der Identität, die sich in realen Attributen ausdrückt (aktual).30 Weshalb sind die Doms solche Außenseiter? Dafür ist es von entscheidender Bedeutung zu verstehen, wie der Prozess der Stigmatisierung hier verläuft.

Über die Stigmatisierung der Außenseiter Goffman beschreibt, wie sich Prozesse von Stigmatisierung und Bildung einer sozialen Identität vollziehen. Er erklärt, wie innerhalb einer Gesellschaft Personen und Gruppen kategorisiert werden, und wie hierbei bestimmte Zuschreibungen und Attribute die soziale Identität des Individuums und einer Gruppe auszeichnen. Innerhalb dieser dynamischen Prozesse kann es zu Stigmatisierung kommen. Das ist eine Zuschreibung eines Attributes (Stigma), das verleumdend wirkt, weil es die normativen Erwartungen nicht erfüllt. „Der Terminus Stigma wird also in Bezug auf eine Eigenschaft gebraucht werden, die zutiefst diskreditierend ist, aber es sollte gesehen werden, dass es einer Begriffssprache von Relationen, nicht von Eigenschaften bedarf “ (ebd.: 11). Ein Stigma31 entsteht also durch Zu 3 0

Erving Goffman, Stigma, Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 2007 [1963], S. 10–11. 31 Goffman unterscheidet drei Arten von Stigma: 1. basierend auf körperlichen Merkmalen („Fehlern“), 2. basierend auf individuellen „Charakterfehlern“ und 3. die „phylogenetischen Stigmata von Rasse, Nation und Religion. Es sind dies solche Stigmata, die gewöhnlich [...] weitergegeben werden und alle Mitglieder einer Familie in gleicher Weise kontaminieren“ (ebd.: 13). Im Fall der Kastenzugehörigkeit ist das Stigma, einer unteren (bzw. im Fall der

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schreibungen im sozialen Raum. Die Doms werden von Angehörigen anderer Kasten ausschließlich über ihren Beruf definiert, der als ihr Stigma fungiert. Die Frauen, Kinder und nicht arbeitenden Männer, die vielleicht seit Monaten nicht mehr auf dem Verbrennungsplatz standen, gelten ob ihrer Kastenzugehörigkeit als ebenso verunreinigt wie die diensthabenden Doms selbst. Norbert Elias’ Studie über Etablierte und Außenseiter (1993) beschäftigt sich mit ungleichen Machtverhältnissen, die zu Ausschlussprozessen wie Stigmatisierung führen. Er argumentiert, dass die Etablierten durch soziale Kontrolle ihren Status sichern. Das Beziehungsgeflecht zwischen Etablierten und Außenseitern ist notwendigerweise durch eine ungleiche Machtbalance gekennzeichnet, da nur durch einen Machtüberschuss die privilegierte Position aufrechterhalten werden kann. Hierbei gibt es laut Elias verschiedene Machtquellen, wie etwa gruppeninterne Kontrolle oder kollektive Verhaltensstrategien gegenüber Außenseitern. Diese Machtquellen sind über längere Zeiträume gesichert worden, so dass Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit sich nur schwer verändern können. Das Gruppenstigma schwächt die Außenseiter noch mehr: Das Stigma geht ins Selbstbild über. Sie haben ihrerseits nicht die Möglichkeit, ihre Situation erträglicher zu gestalten, indem sie sich selbst wiederum über eine andere Gruppe stellen (vgl. Elias, Etablierte, 291–314). Sie haben dazu nur im Moment des Rituals die Möglichkeit (vgl. Siebert, Kaste, 63–95). Um mit Goffman zu sprechen, haben sie sich die gesellschaftlichen „Standards“ bereits „einverleibt“32; Norbert Elias formuliert: „die Machtstärkeren [können] die Machtschwächeren selbst immer wieder zu der Überzeugung bringen, dass ihnen die Begnadung fehle – dass sie schimpfliche, minderwertige Menschen seien. [...] Die anderen selbst schienen nach einer Weile mit einer Art verwirr­ ter Resignation hinzunehmen, dass sie zu einer minderwertigen, weniger respektablen Gruppe zählten.“ 33

Die Stigmatisierten akzeptieren mit Scham die ihnen zugeschriebenen Attribute. Besonders problematisch ist hierbei, dass das Individuum sich nicht von der stigmatisierten Gruppe lösen kann. Laut Goffman kommt es an diesem Punkt automatisch zur Entwicklung verschiedener Verhaltensstrategien, um die „Image-Beschädigung“ zu korrigieren. Die Strategien werden zumeist von den Gruppenmitgliedern geteilt und werden

Doms der untersten) Kaste anzugehören, ein geerbtes Stigma, das zu Goffmans dritter Kategorie zu zählen ist. 3 2 Vgl. Goffman, Stigma, S. 16. 3 3 Elias, Etablierte, S. 8–9.

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zu „Verhaltenskodizes“34. Beispielsweise werden bestimmte Vorurteile ignoriert, und andere offen attackiert35. Goffman spricht hierbei von „Techniken der Imagepflege“, die letzten Endes zur Wahrung der gesellschaftlichen Ordnung führen. Vorbeugen, Nichtbeachten von Stigmatisierung, oder Verbergen von Attributen werden von Goffman als Vermeidungstechniken zur Imagepflege gezählt. Im Folgenden möchte ich anhand dreier Beispiele die Techniken der Imagepflege bei den Doms beschreiben.

Saubere Straßen Die Doms des Harishchandra Ghat leben in einem Viertel direkt oberhalb des Verbrennungsplatzes. Sie sind dort unter sich. Der Eindruck eines Streifzugs durch das Viertel ist im Forschungstagebuch so beschrieben: „My first thought is that this [...] is a nice and calm neighbourhood. There is not much noise, not much seems to be going on. The streets are very narrow. No cow is walking here [...]. The streets are [...] very clean. They seem to be cleaned very often. No rubbish, nothing is on the ground. Washings are hanging out of the window. Some women sit at their doorsteps and prepare cooking. They chat [...]. No children run around. Where are they? Are they all down at the Ghat side? [...] ‘This is where I live. My house is over there, look’ says [my informant] proudly. He likes his neighbourhood very much. It is stunningly clean. I have not been to such a clean area in whole Varanasi, and not in [other cities in] India. Not even dust or rubbish, no cow dung, no dirty water rinsing down the street, no smelly corners. Noone rushing down these streets. [...] We are the only ones walking.” (Protokoll 21)36

Die Eindrücke von Sauberkeit und gleichzeitiger Verlassenheit dominieren diese Schilderung. Der Anblick einer sauberen Straßenecke ist ansonsten in Varanasi sehr ungewöhnlich, da Ecken öffentliche Mülleimer darstellen, die regelmäßig gereinigt und gefegt werden. Hier jedoch wird jeder Müll und Dreck aus der Nachbarschaft entfernt. Mary Douglas möchte in ihrem Buch Reinheit und Gefahr zeigen, dass Verschmutzung ebenso wie Reinheit aus gesellschaftlichen Moralvorstellungen definiert wird: „I believe that some pollutions are used as analogies for expressing a general view of the social order“.37 Sie zeigt, dass die Idee der Verschmutzung sowohl gesellschaftliche als auch religiöse Praktiken

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Goffman, Stigma, S. 136.

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Das Feldtagebuch wurde entsprechend der Forschungssprache auf Englisch geführt. Douglas, Purity, S. 4.

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definiert und somit in diesen selbst reproduziert wird38. In Anlehnung an Emile Durkheim und Marcel Mauss beschreibt Douglas, dass Reinheitsregeln der Aufrechterhaltung kultureller Ideale dienen. Schmutz sei zwar nicht hübsch, aber auch nicht notwendigerweise gefährlich.39 Schmutz existiere demnach vor allem in der Wahrnehmung der betrachtenden Person, die ihn als störend wahrnehme.40 Es geht hierbei also um eine bestehende Ordnung, die durch Schmutz gestört wird: „Pollution dangers strike when form has been attacked“.41 Sie argumentiert, dass in allen Gesellschaften Zusammenhänge zwischen Schmutz und Symbolsystemen bestehen, die sich zwar im Detail unterscheiden, jedoch vom Prinzip her gleich sind.42 Norbert Elias beschreibt: „Etablierte Gruppen [...] neigen dazu, ihre Außenseitergruppen nicht nur als unbändige Übertreter von Gesetzen und Normen (d.h. ihrer eigenen) wahrzunehmen, sondern auch als nicht besonders sauber“.43 Verunreinigung wird nach Douglas oft mit Gefahr assoziiert. Heilige Dinge und Orte müssten demnach vor Verschmutzung geschützt werden. Unreinheit und Heiligkeit sind also gegensätzliche Pole.44 Sie stellt jedoch fest, dass die indische Kultur hier eine Überraschung bereithält: „[T]he Hindu ideas of pollution suggest [that] holiness and unholiness after all need not always be absolute opposites. They can be relative categories. What is clean in relation to one thing may be unclean in relation to another, and vice versa“.45 Dass die Doms ihr Viertel ungewöhnlich sauber halten und das sonst so übliche Chaos auf den Straßen zu vermeiden wissen, ist vor diesem theoretischen Hintergrund als gruppeninterne Umdeutung zu interpretieren. Die äußere Reinheit kann zwar nichts an ihrem Platz im Sozialsystem und an ihrem ‚unreinen‘ Image ändern, jedoch bietet die Umgestaltung des öffentlichen Raumes die Möglichkeit, die von außen zugeschriebene Unreinheit zumindest im Selbstbild zu entkräften. Wo sonst das Chaos tobt, ist hier Ruhe. Wo sonst in der Gesellschaft Dreck und Unachtsamkeit herrschen, ist hier Ordnung und Sauberkeit. Die äußere Sauberkeit ist eine Gegenmaßnahme zum dauerhaften Stigma ‚Unreinheit‘. Gehören die Doms qua Geburt in eine als unrein klassifizierte Kaste und sind somit Außenseiter der Gesellschaft, haben sie durch die ungewöhnliche Sauberkeit ihres Viertels eine Strategie gewählt, die mit Goffman als ‚Vorbeugen‘ oder als ‚Verbergen‘ des Attributs ‚Schmutz‘ bezeichnet werden kann. Der Diskrepanz 3 8 3 9

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Ebd., S. 136. Ebd., XI. Ebd., S. 2. Ebd., 130. Ebd., S. 43. Elias, Etablierte, S. 22. Douglas, Purity, S. 9. Ebd., S. 10.

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zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität soll entgegengewirkt werden. Für Mary Douglas stellt das Verhältnis von Sauberkeit und Kultur eine gleichzeitige Spiegelung des Verhältnisses von Leben und Tod dar. Dass die Doms in ihrem Viertel eine ungewöhnliche Sauberkeit pflegen, kann als Symbolisierung ihres Versuchs bezeichnet werden, dem Stigma des Todes entgegenzuwirken.

Schmutziger Humor Sobald sich die täglich Anwesenden am Harishchandra Ghat an meine Gegenwart gewöhnt hatten, integrierten sie mich. Ich verbrachte nun Zeit mit ihnen und wurde in die Gespräche einbezogen. Nicht selten wurden dabei Witze gemacht, wie etwa der folgende Eintrag ins Feldtagebuch belegt: „[Hari Chand’s] sister in law is doing puja [Gottesdienst]. [During the last hours] Hari Chand got drunk. […] he explains that he likes to sleep with his brother’s wife [the one who is doing puja]. She seems to understand and laughs. Other people got a clue of what we are talking about aswell. Everyone is grinning now.“ (Protokoll 21)

Wie andere Informanten bestätigten, ist es charakteristisch für Doms, einen ungehörigen und provokanten Humor zu haben. Die Frau, auf deren Kosten die Bemerkung ging, steckt die Frechheit weg und lacht sogar mit. Der schmutzige Humor gehört in der Gruppe zum ‚guten Ton‘; ebenso der scheinbar respektlose Umgang miteinander. Sich dagegen zu wehren, würde bedeuten, die Kodizes der ohnehin schwachen Gruppe infrage zu stellen. Nach Goffmans Theorie gibt es für Gruppenmitglieder keine andere Möglichkeit, als sich den Kodizes entsprechend zu verhalten, die dem Gruppenstigma entsprechend entworfen wurden. Im Fall der Frau bedeutet dies, dass sie mitlachen muss: „Es sollte auf der Hand liegen, dass diese verfochtenen Verhaltenskodizes das stigmatisierte Individuum nicht nur mit einer Plattform und einer Politik versorgen und auch nicht nur mit einer Instruktion, wie andere zu behandeln seien, sondern mit Rezepten für eine angemessene Haltung in bezug auf das Ich. In der Anpassung an den Kodex [...] zu reüssieren heißt, sowohl reell als auch wertvoll zu sein, zwei geistige Qualitäten, deren Vereinigung das, was ‚Authentizität’ genannt wird, hervorbringt.“46

Sich gegen den Verhaltenskodex zu verhalten (in diesem Fall die Art des Humors abzulehnen), würde also nicht nur der Gruppe schaden, sondern auch ihre eigene ‚Authentizität’ gefährden. Dass sie mitlacht, ist eine ‚angemessene Haltung’. Es gilt für sie, ihre Haltung im sozialen Zusammenhang zu bewahren. Die folgende 4 6

Goffman, Stigma, S. 138.

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Szene ist ein weiteres Beispiel für provokanten Humor. Ich fragte Hari Chand, was mit den nicht vollständig verbrannten Holzstücken passiert, die nach der Kremation auf dem Boden liegen. S: “What happens to the wood after cremation?” H: “We use it in our houses for cooking.” S: “Do you not give it to the Kina Ram Temple [where it is needed for rituals]?” H: “Sometimes they come and collect some. But not every day. Usually we use it for cooking.” He looks at me as if he would expect great horror in my face. However it does not concern me much. I ask if he uses pots for cooking. Yes. So, I say, there is nothing bad happening to the food. He says yes, that’s right. He laughs. (Protokoll 21)

Man berührt das Holz von einem unreinen Ort nicht, und man trägt es schon gar nicht in die Küche, und deshalb erwartet er eine entsetzte Reaktion. Als diese ausbleibt, schaut er sich um, um zu prüfen, ob andere bemerkt haben, dass ich nicht entsetzt bin. Der hier geschilderte Humor spielt mit Verschmutzung aller Art. Fremdgehen ist genauso verunreinigend wie das Kochen mit Holz vom Kremationsplatz. Ob die Andeutungen stimmen oder nicht, spielt keine Rolle: sie werden in das Gespräch eingebunden, und man lacht darüber. Es findet hier eine Umwertung und Ironisierung von Zuschreibungen statt. Das Stigma, alle Doms seien unrein, wird aufgegriffen und auf Alltagssituationen übertragen. Durch die witzige Ironisierung des Attributes der Unreinheit wird versucht, dieses zu entkräften. Es kann hier weder von direkter Imagepflege, noch von einer Vermeidungstechnik die Rede sein. Es ist eher ein Versuch, die Stigmatisierung zu integrieren und sie zugleich in Humor aufzulösen. Nach Goffman47 ist ein ‚leichter‘ Umgang mit dem eigenen Stigma eine Möglichkeit, die Spannung zwischen Selbst und Anderen abzubauen: „Wenn das stigmatisierte Individuum merkt, dass die Normalen es schwierig finden, seinen Fehler zu ignorieren, sollte es versuchen, ihnen und der sozialen Situation durch überlegte Bemühungen, die Spannung zu reduzieren, behilflich zu sein. [...] Das stigmatisierte Individuum [mag] beispielsweise versuchen, ‚das Eis zu brechen‘, indem es explizit auf seinen Fehler auf eine Weise anspielt, die zeigt, dass es innerlich frei ist, fähig, seinen Zustand spielend leicht hinzunehmen.“

Das scherzhafte Reden über das eigene ‚unreine Verhalten‘ sowie die ironische Wandlung ist ein solcher Versuch, Spannung abzubauen. Vor allem soll eine Kontrolle über ‚ihr‘ Stigma bezweckt werden. Durch diese Praxisform wird die Struktur jedoch nicht nur implizit, sondern auch explizit reproduziert. 47

Goffman, Stigma, S. 146.

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Die Halskette Hari Chand trägt einen Lungi, ein um die Hüften gewickeltes Tuch. Selten habe ich ihn in einem Unterhemd gesehen; meistens trägt er gar kein Shirt, sondern nur ein Leinentuch um die Schultern. Um den Hals trägt er eine Kette aus roten Perlen. Ich frage ihn, woher sie stammt. Er antwortet: „I found it in Ganga. (he smiles and laughs a bit) [...] Some relatives of a dead person, they were throwing it into the Ganga river. So I jumped in and got it! So I saw them throwing it inside, but I thought: why should not I have it? Look at him [there], his name is Amernath. Look at his necklace. He got it from the Ganga aswell. Same story. Some relatives threw it inside, and he took it out again. [they laugh]“ (Interview 20: 5)

Die meisten Doms tragen solche Kettchen. Sie erläutern, dass sie diese, sobald sie in den Fluss geworfen wurden, vor den Augen der Verwandten aus dem Wasser fischten. Während jeder eine ähnliche Geschichte erzählt, lachen die Anderen. Laut Thomas Macho hat der tote Körper soziale und erinnerungspolitische Bedeutung.48 Er ist wichtiger Bestandteil der Trauer- und Erinnerungsarbeit. Diese Feststellung lässt sich auf den Forschungskontext wie folgt übertragen: Der Leichnam wird gewaschen und für die letzte Reise präpariert. Er steht im Zentrum ritueller Aufmerksamkeit, die ihren Höhepunkt in der Kremation findet. Später wird der Verstorbene durch Symbole ins Ritualgeschehen eingebunden49, ist also weiterhin ein Bestandteil der Ritualkultur und wird dabei erinnert. Der tote Körper ist also besonders vor und während der Kremation wichtig, da er noch die Seele birgt, die dann während der Kremation entweicht. Werfen Menschen Geld oder Wertsachen ins Wasser, bedeutet dies, dass sie diese Dinge der Göttin Ganga opfern. Die Angehörigen sind ansonsten dazu verpflichtet, die am Körper des/der Verstorbenen befindlichen Schmuckstücke den Doms zu überlassen. Dass die Dom-Männer den Ketten hinterherhechten und sich diese aneignen, kann als doppelte Machtdemonstration verstanden werden: Erstens nehmen sie sich, was ihnen eigentlich den Regeln nach zustünde, und zweitens signalisieren sie, dass sie die Opferhandlungen der Angehörigen nicht respektieren, sondern missachten und entwerten. Gleichzeitig nehmen sie in Kauf, dass ihnen Respektlosigkeit, Gottlosigkeit und Dreistigkeit vorgeworfen werden. Sie bestätigen also das negative Image, das sie ohnehin schon haben. In Erweiterung zu Goffmans Techniken der Imagepflege kann dieses Verhalten als ‚negative Imagepflege‘ bezeichnet werden. Die Stigmatisierung wird hier, wie auch teilweise beim Humor-Beispiel, aufgegriffen und bewusst reproduziert. Die 4 8

Thomas Macho und Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007, S. 17–24. 49 Vgl. Kaushik, Representation.

Leben am Verbrennungsplatz

Aneignung der Halsketten dient dazu, die Angehörigen zu demütigen und den Verstorbenen posthum zu verunreinigen: Ein Dom trägt jetzt den Schmuck. Durch die Aneignung der Halskette werden die Etablierten symbolisch mit den Außenseitern ‚verkettet‘. Durch diese unerwünschte Verbindung wird kurzzeitig die momentane Macht der Außenseiter demonstriert.

3 

Hari Chand mit seinem Neffen und einem Freund. Er trägt die erwähnte Halskette.

Die Doms nutzen die Phase der Kremation, um die Rollen umzukehren. Das gesellschaftliche System bietet den Doms keine andere Gelegenheit, eine Gegenstigmatisierung durchzuführen. Man kann von einem direkten Rollentausch zwischen Etablierten und Außenseitern sprechen. Es bietet sich für einen kurzen Moment die Möglichkeit, die gesellschaftliche Realität ihres Ausschlusses zu ändern: „People from other castes […] do not treat us very well. But once in a lifetime, every person has to pay respect to us. Once in a lifetime, they cannot ignore us. They must give us the amount of money we want to have. And they have to give respect to us. Without us, it does not work.“ (Interview 20: 1)

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Die alltägliche Erschaffung der Hölle Das folgende Beispiel führe ich getrennt von den anderen Beispielen an, da es sich hierbei um eine innere Überzeugung handelt, die von den Doms nicht gezielt kommuniziert wird. Die Doms haben eine Vorstellung vom Leben nach dem Tod entwickelt, in der die Menschen, von denen sie täglich stigmatisiert werden, eine posthume Gegenstigmatisierung erleiden. Sollte das Kremationsfeuer eines Verstorbenen schlecht brennen, ist das ein Zeichen für schlechtes Karma, wie mir ein Ritualspezialist erklärt: „If someone had bad karma, and if it rains during cremation, the fire will not burn. If someone had good karma, the fire will burn even in hard rain“ (Interview 1: 2). Man könnte logisch annehmen, dass ein Feuer etwa dann nicht gut brennt, wenn zu wenig Holz genommen wurde. Viele arme Familien können sich nur wenig Holz leisten, und wären dementsprechend strukturell benachteiligt. Keiner der Befragten teilte jedoch diese Vermutung. Alle sind sich einig, dass die Körper derer, die ein schlechtes Karma hatten, nicht so schnell verbrennen: „I have seen it many times. It is true. [he is very honest and speaks quietly] […] I have seen it happening many times. It will not happen to someone who had good karma“ (Interview 20: 4; vgl. Protokoll 7: 6). Für Hari Chand ist es wichtig, dass Menschen nach ihrem Karma beurteilt und behandelt werden. Es wäre für ihn nicht akzeptabel, dass Menschen ‚ungeschoren‘ davonkommen. Wie von Goffman beschrieben, nimmt hier der stigmatisierte Mensch eine Art Beobachter- oder sogar Richterposition ein. Dies diene dazu, die sonst von den Mitgliedern der eigenen Gruppe erwartete Befolgung der Verhaltenskodizes (als Reaktion auf die Stigmatisierung) erträglich zu machen: „[Die Maßregelung des persönlichen Verhaltens] stimuliert [...] das stigmatisierte Individuum manchmal dazu, zum Kritiker der sozialen Szenerie zu werden, ein Beobachter menschlicher Beziehungen.“50

Bei einem Gruppengespräch mit mehreren Dom-Männern eröffnete sich eine kollektive Vorstellung von der Zeit nach dem Tod, die aus der beschriebenen Beobachter- bzw. Richterposition hervorgeht und sonst von keinem anderen Informanten aus anderen sozialen Kontexten geteilt wurde. Sie glauben an die Hölle als der Ewigkeit vorangestellte ‚Station‘. Sie sind sich einig, dass schlechte Menschen in die Hölle kommen, die einem Verbrennungsfeuer entspricht: „In hell, everybody has to be in fire. Everybody is having a very hard time.“ (Interview 20: 3) Für die Meister der Kremation ist es keine akzeptable Vorstellung, dass die Seelen schlechter Menschen in die Ewigkeit übergehen. Sie sprechen dementsprechend auch nicht von Erlösung. Auf Nachfrage sagen zwar alle, dass sie an Erlösung (Moksha) glauben, fügen jedoch hinzu, dass die Aufnahme in Himmel 5 0

Goffman, Stigma, S. 139.

Leben am Verbrennungsplatz

oder Hölle vorher geschieht. „They go to hell first. And after a while, they will go to heaven as well, like the others“ (ebd.). Die Doms vertreten die Vorstellung von Moksha, haben jedoch das Höllenszenario vorangestellt. Moksha bedeutet für sie, im Himmel anzukommen. Tod in Benares eröffnet allen diese Möglichkeit, jedoch müssen schlechte Menschen vorher leiden. Auf die Rückfrage, warum dann Shiva für alle uneingeschränkte, direkte Erlösung versprochen habe, kritisieren sie die Gläubigen und entwerten damit diese Vorstellung: „The people, they say that they know it [what happens to the soul after death]. But they don’t know [that] it’s not true“ (ebd.). Die Doms scheinen in dieser Hinsicht allen Anderen weit überlegen – denn sie fühlen sich in der Lage, aus ihrer Beobachterposition heraus das Schicksal der Seelen zu kennen. Sie erheben sich somit über die Stigmatisierung, der sie im Alltag qua Kastenzugehörigkeit ausgesetzt sind.

Tod und Macht In dem Moment, da die Familie ihre Pflichten am Verbrennungsplatz getan hat und davongeht, endet die Macht, die für einen Tag der Dom ausüben konnte. Das Ende der transitiven Phase (van Gennep) bedeutet für den Dom den absoluten Machtverlust. Nur im kurzen Moment der Rollenverkehrung zwischen Etabliertem und Außenseiter haben die Doms ein Gefühl von sozialer Gerechtigkeit. Ansonsten sind sie so weit im sozialen Abseits, dass keinerlei Kampf um eine Verbesserung der Machtbalance stattfindet.51 Die Doms haben sich darauf eingestellt, dass sie außerhalb ihrer Arbeitszeit auf dem Verbrennungsplatz nichts an den Hierarchieverhältnissen ändern können. Ihre Resignation äußert sich in ihrem Sarkasmus und ihrem Alkoholismus. Ihr Stigma hat sich in ihren Körper eingeschrieben, und ist Teil des Habitus geworden. Ihre soziale Nicht-Existenz wirkt sich auch auf ihren körperlichen Zustand aus. Alkoholismus beschert zumindest den Männern eine kürzere Lebenserwartung. Die oben beschriebenen Praxisformen sind Ausdruck eines „Systems von Dispositionen“, das aus der sozialen Struktur hervorgeht, wie Pierre Bourdieu es formulierte.52 Die entwickelten Praxisformen reproduzieren die vorhandene Struktur. Alkoholismus, Humor, Sauberkeit und Zynismus können als inkorporierte Kultur unausweichlicher Stigmatisierung bezeichnet werden. Umgangsformen mit dem Tod und den Toten sind immer auch Aussagen über Machtverhältnisse. Im Moment des Todes findet eine doppelte Transformation statt: Den Seelen der Verstorbenen wird durch die Rituale ermöglicht, in die Ewigkeit überzugehen, und den Doms wird eine machtvolle Position 51

5 2

Vgl. Elias, Etablierte, S. 36. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1984.

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zuteil, die sie anders nie erlangen könnten. Für einen kurzen Moment kann der selbstgeschaffene Machtraum ihren sozial schlechten Status entkräften: „One day in their lives, everybody must respect us. Everybody, no matter which caste they belong to“ (Interview 20: 5–6).

Literatur: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1984. Fiona Bowie, The Anthropology of Religion: An Introduction, Oxford 2006. Mary Douglas, Purity and Danger. London, New York 2007 [1966]. Diana Eck, Benares – Stadt des Lichts, Frankfurt a.M. 2006 [1982]. Norbert Elias und John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a.M. 1993 [1965]. Robert Gardner, Making Forest of Bliss: Intention, Circumstance and Chance in Nonfiction Film, A Conversation Between Robert Gardner and Ákos Östör (Buch und DVD), London 2001. Shyam Ghosh, Hindu Concept of Life and Death, New Delhi 2002. Erving Goffman, Stigma, Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 2007 [1963]. Informationen zur politischen Bildung: Indien, IzpB 296/2007, Bonn 2007. Christopher Justice, Dying the Good Death, The Pilgrimage to Die in India’s Holy City, Delhi 1997. R.L. Kashyap, Hymns on Creation and Death in the Veda and Upanishads, Bangalore 2005. Meena Kaushik, The Symbolic Representation of Death (in Kashi), in: Rana P.B. Singh (Hg.): Banaras (Varanasi), Cosmic Order, Sacred City, Hindu Traditions, Varanasi 1993, S. 123–139. Margaret Lock und Nancy Sheper-Hughes, The Mindful Body, A Prolegomenon to Future Work in Medical Anthropology, in: Peter J. Brown (Hg.), Understanding and Applying Medical Anthropology, London, Toronto 1998, S. 208–225. Thomas Macho und Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007. Axel Michaels, Der Hinduismus, Geschichte und Gegenwart, München 1998. Jonathan P. Parry, Death and cosmogony in Kashi, in: Singh, Rana P.B. (Hg.), Banaras (Varanasi), Cosmic Order, Sacred City, Hindu Traditions, Varanasi 1993, S. 103–121. Jonathan P. Parry, Death in Banaras, Cambridge 1994. Sophia Siebert, Kaste, Karma, Kremation – die soziale und kulturelle Dimension des Todes in Nordindien, Marburg 2011.

Abbildungsnachweise: Abbildung 1: A Conversation Between Robert Gardner and Ákos Östör, in: Robert Gardner: Making Forest of Bliss, Intention, Circumstance and Chance in Nonfiction Film, London 2001, S. 74. Abbildung 2: privat. Abbildung 3: privat.

MORITZ BUCHNER

Dosierte Gefühle Überlegungen zur Trauerkultur im bürgerlichen Italien (1860–1910) Wenn Hinterbliebene im Italien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Erfahrung von Sterben und Tod berichteten, tauchte dabei immer wieder ein maßgebliches emotionales Spannungsfeld auf: einerseits ein materialistisch geprägtes Todesbild, das das Lebensende mit dem Körpertod identifizierte; andererseits der tiefe Schmerz um den Verlust nahestender Personen. Exemplarisch hierfür sind die Ausführungen eines Trauerredners für den 1886 verstorbenen lombardischen Unternehmer Carlo Braga: „Niedergeschlagen vom Schmerz, mit gepeinigter Seele und verworrenem Geist“ erinnerte er nach eigenen Worten den Verlust des Betrauerten, der „es verdient hatte, dass man ihn so stark geliebt“ hatte.1 Der vorliegende Beitrag möchte dieses Spannungsfeld aus einer emotionshistorischen Perspektive beleuchten, die Gefühlspraktiken nicht als anthropologische Konstante begreift, sondern sie in ihrem spezifischen historischen Kontext verortet. Der beschriebene emotionale Stil2 war Ausdruck zweier Entwicklungsstränge, die auch in der historischen Forschung häufig für das bürgerliche Zeitalter hervorgehoben werden: die Rationalisierung der Lebenswelt und die Emotionalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen.3 Ausgehend von diesen Motiven werden im Folgenden vier prägende Aspekte des emotionalen Erlebens von Tod und Trauer im Kontext des bürgerlichen Italien von der Mitte des 19. bis in das frühe 20. Jahrhundert vorgestellt.

1

In morte del dott. Carlo Braga. Onoranze, discorsi, epigrafi, Casalmaggiore 1886, [6]. Der vorliegende Beitrag ist Teil meines Dissertationsprojekts; er basiert auf einem Vortrag im Rahmen der transmortale III (10. März 2012, Kassel). 2 Zur Frage emotionaler Stile vgl. Benno Gammerl, Emotional styles – concepts and challenges, in: Rethinking history 16 (2012) 2, S. 161–175. Zur historischen Untersuchung von Emotionen vgl. insbes. William Reddy, The navigation of feeling. A framework for the history of emotions, Cambridge 2001; Barbara Rosenwein, Emotional communities in the early middle ages, Ithaca 2006; Monique Scheer, Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history)? A bourdieuian approach to understanding emotions, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220. 3 So auch Michael Fischer, Ein Sarg nur und ein Leichenkleid. Sterben und Tod im 19. Jahrhundert. Zur Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte des Katholizismus in Südwestdeutschland, Paderborn 2004.

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Rationalisierungsparadigma Von großer Bedeutung für den Umgang mit dem Tod war das Paradigma der Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Lebenswelt.4 Viele Forscher des 19. Jahrhunderts sahen es als ihr Ziel an, die Welt auf rationale Füße zu stellen und von den als irrational verworfenen religiösen Lehren und Mythen zu befreien. In Italien war dieser Konflikt besonders ausgeprägt, da er spätestens seit 1848/49 stark politisch aufgeladen war, bis es 1870 zur gewaltsamen Eroberung und Annexion des Kirchenstaates gekommen war. Für große Teile der politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten des jungen Nationalstaats war damit auch die katholische Kultur, obwohl integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in Italien, nicht explizit Teil des nationalen Selbstbilds.5 Stattdessen deutete man sie im Rahmen eines veritablen Kulturkampfes häufig als irrational und überkommen.6 Die Wissenschaft schrieb sich zu, unbeugsame Naturgesetze offen zu legen, denen man den Status von letzten Begründungen zusprach. Anders als in trans­ zendental ausgerichteten religiösen Vorstellungen wurde der Tod hier mit der Beendigung der Körperfunktionen gleichgesetzt. Er erschien so als Negation des Lebens und als leere Nicht-Existenz.7 Diese nackte, auf das Sichtbare reduzierte Endgültigkeit implizierte im Gegensatz zu älteren Sinnzuschreibungen die Erfahrung von Kontingenz und Sinnlosigkeit. Vor diesem Hintergrund sind auch die von Schmerz, Angst und Verzweiflung bestimmten emotionalen Reaktionen der Trauernden zu sehen, die Trauer im Alltag prägten. Hinzu kam, dass der medizinische Fortschritt auch die Vorstellung vom guten Tod prägte und so die Wahrnehmung des Sterbens modifizierte. Dies betraf zunächst die Erwartbarkeit des Todes. Kalkulierbar erschien in erster Linie der Tod im höheren Alter. Damit ging auch einher, dass das Alter als Lebensphase mit körperlicher und geistiger Schwäche in Verbindung gebracht wurde und insofern bereits als Zeichen des nahenden Lebensendes galt. Der Tod sollte nun bestenfalls am Ende eines langen, tugendhaft verbrachten Lebens eintreten. Sowohl Schmerzen als auch Todesfälle in jungem Alter wurden hingegen als unnatürlich und ungerecht empfunden. Der Tod erschien so als eine Art Betriebsunfall, der möglichst unwahrscheinlich gemacht werden sollte. In den Trauerpraktiken kam dies beispielsweise durch 4

Vgl. Uffa Jensen/Daniel Morat, Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen in der langen Jahrhundertwende (1880–1930), in: dies. (Hg.), Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, Paderborn 2008, S. 11–34. 5 Vgl. Silvana Patriarca, Italian Vices. Nation and character from the Risorgimento to the Republic, Cambridge 2010, S. 66. 6 Vgl. Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010. 7 Vgl. Petra Gehring, Theorien des Todes zur Einführung, Hamburg 2010.

Dosierte Gefühle

eine Marginalisierung des Leichnams als Symbol der Vergänglichkeit zum Ausdruck, für die neben hygienischen Erwägungen immer auch emotionale Ablehnung ausschlaggebend war.8 In diesem Sinne wies ein Handbuch zur öffentlichen Hygiene im Eintrag Trasporto dei cadaveri al cimitero (Transport der Leichen zum Friedhof) gleich zu Beginn darauf hin, dass „besonders in den Städten der dauerhafte Anblick von Leichentransporten auf den Straßen zu jeder beliebigen Tageszeit Auslöser für Ekelgefühle [sei], die lokale Behörden niemals zulassen könnten.“9

Emotionalisierungsparadigma Welche Bedeutung diese Entwicklungen für die Erfahrung von Trauernden hatte, wird verständlich, wenn man sie in Bezug zur bürgerlichen Emotionalisierung von Familien- und Freundschaftsbeziehungen setzt. Dabei ist vor allem an die Idealisierung der Kleinfamilie zu denken. Als geschützter Raum stellte sie einen auf emotionale Bedürfnisse spezialisierten Teilbereich der Gesellschaft dar. Sie war das Zentrum des bürgerlichen Privat- und Gefühlslebens. Konstitutiv für die Familie war das Konzept der romantischen Liebesbeziehung zwischen den Ehepartnern, das deren Einzigartigkeit hervorhob. Wichtig war außerdem die Vorstellung von Kindheit: Kinder wurden als unschuldige, schützenswerte Wesen angesehen, die besonderer affektiver Zuwendung bedurften. Als hohe emotionale und ökonomische Investition richteten sich auf die Kinder Zukunftshoffnungen, deren Verwirklichung die Familie als Schutz- und Schonraum gewährleisten sollte. Als Raum der Selbst- und Fremdpsychologisierung und über die Bildung emotionaler Verbundenheit hatten Familien-, aber auch Freundschaftsbeziehungen eine wichtige Funktion für das individuelle Selbstverständnis: Sie waren ein Feld, in dem Charaktereigenschaften und Emotionen ausgebildet wurden.10 Dabei spielte Empathie, verstanden als Einfühlung in die Gefühlswelt des Gegenübers, eine wichtige Rolle.11 Andere Personen wurden vor diesem Hintergrund als unersetzliche Individuen wahrgenommen. Auch die Gefühle der Trauer hatten deshalb etwas Einzigartiges – nicht zufällig tauchte das Motiv des unaussprechlichen, einzigartigen Verlusts in Grabreden der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 8

Zur emotionalen Ablehnung des Leichnams vgl. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 2000. Zur Rolle des Hygienedenkens im Umgang mit dem Körper vgl. Philip Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a. M. 2001. 9 Francesco Freschi, Dizionario di igiene pubblica e di polizia sanitaria ad uso dei medici e dei magistrati dell’ordine amministrativo, Bd. 1, Torino 1857, S. 644. 10 Vgl. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 138. 11 Vgl. Ute Frevert, Emotions in history – lost and found, Budapest/New York 2011, S. 150–160.

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so häufig auf. Immer längere und mit immer mehr Gefühlswörtern versehene Grabinschriften12 sowie – im italienischen Kontext – ansteigende Zahlen von Abschiedspublikationen für Verstorbene13 lassen vermuten, dass das Kundtun der Tiefe des Verlusts bis zum Ersten Weltkrieg noch an Relevanz gewann.

1 

Nekrolog-Publikation von 1883

Sowohl in Selbstzeugnissen als auch in Grabreden und Zeitungsnachrufen wird immer wieder deutlich, dass ein materialistisches Todesbild im Zusammenspiel mit emotionalisierten Beziehungsmustern für Trauernde zu einer problematischen, kaum zu ertragenden Spannung führte. Als irreversibler Abbruch der Beziehungen zu den Verstorbenen warf der Tod Sinnfragen bezüglich der 12

Vgl. Gian Marco Vidor, Satisfying the mind and inflaming the heart: emotions and funerary epigraphy in nineteenth-century Italy, in: Mortality 19 (2014) 4, S. 342–360. 1 3 Vgl. Oliver Janz, Monumenti di carta. Le pubblicazioni in memoria dei caduti della prima guerra mondiale, in: Fabrizio Dolci/Oliver Janz (Hg.), Non omnis moriar. Gli opuscoli di necrologio per i caduti italiani nella grande guerra. Bibliografia analitica, Roma 2003, S. 11–44, hier S. 25–26.

Dosierte Gefühle

menschlichen Existenz auf, die Verlustwahrnehmung wurde stärker. Bürgerliche Trauerfälle erscheinen in Berichten deshalb fast immer als menschliches Drama. Sie waren als einzigartige, untröstbare Erfahrung codiert und glichen einem emotionalen Aufbegehren gegen die Endgültigkeit des Verlusts bei gleichzeitiger Anerkennung seiner wissenschaftlichen Unumstößlichkeit. Es stellt sich nun die Frage, wie die Gesellschaft diesem Problem begegnete und welche Strukturen sie zum Umgang mit Tod und Trauer bereitstellte.

Trauer und Geschlecht Historische Studien haben schon seit langem betont, dass die Zuteilung geschlechtsspezifischer, sozialer Rollenbilder ein wesentliches Element bürgerlicher Vergesellschaftung im 19. Jahrhundert war.14 Als starkem und rationalem Geschlecht schrieb man dem Mann die öffentliche, rational konnotierte Lebenssphäre zu. Wirkungsraum der Frau war dagegen der Bereich des Privaten und Emotionalen. Die zunehmende Trennung von Arbeits- und Privatleben führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Festschreibung dieser Polarität: Da die Präsenz der Männer in der Familie abnahm, wurden die Frauen noch stärker mit dem Bereich des Familiär-Emotionalen identifiziert.15 Damit kam der Frau letztlich auch die Aufgabe des Trauerns zu, und diese war praktisch wie inhaltlich vergleichsweise detailliert ausdefiniert. Vorgaben für die Trauerzeit waren sehr viel verbindlicher und differenzierter ausformuliert als die für Männer. So ging die Autorin Anna Vertua Gentile in ihrem 1897 erschienenen Verhaltensratgeber Come devo comportarmi? davon aus, dass „eine Frau, die ihren Ehemann geliebt hat, niemals Trost über dessen Verlust finden könne“.16 Um dies zu zeigen, solle sie möglichst lange Trauer tragen und in sozialem Rückzug verharren.17 Demgegenüber konstatierte die Journalistin Matilde Serao, bei „Männer[n] die sich ihren beruflichen und öffentlichen Pflichten widmen müssen“, genügten „drei bis vier Tage im Haus“; zudem sei ihre Alltagskleidung ohnehin meistens schwarz, womit das Tragen einer speziellen Trauerkleidung entfiele. Die Frauen jedoch, die diese Pflichten nicht hätten, könnten und sollten im Haus verbleiben.18 Solche Anschauungen waren auch 14 15

16 17

18

Vgl. Ute Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. Vgl. Marzio Barbagli, Sotto lo stesso tetto. Mutamenti della famiglia in Italia dal XV al XX secolo, Bologna 2000. Zur Ordnung der Trauer, die daraus hervorging vgl. Oliver Janz, Das symbolische Kapital der Trauer. Nation, Religion und Familie im italienischen Gefallenenkult des Ersten Weltkriegs, Tübingen 2009, S. 355–381. Anna Vertua Gentile, Come devo comportarmi? Libro per tutti, Milano 1897, S. 242. Vgl. ebd. Matilde Serao, Saper vivere. Norme di buona creanza, Napoli 1900, S. 224–225.

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von juristischer Bedeutung: Das Trauerjahr für Witwen war in Italien noch bis weit ins 20. Jahrhundert im Zivilrecht verankert. Ging eine Frau innerhalb der ersten zehn Monate nach Eintritt in den Witwenstand eine neue Ehe ein, riskierte sie den Verlust aller Ansprüche auf Erbe und Versorgung durch die Familie, in die sie vormals eingeheiratet hatte.19 Männliche Trauer erscheint im zeitgenössischen Diskurs weitgehend marginalisiert. Ein Verhaltensratgeber für Männer schlug vor allem moralisierende und aktivierende Töne an, indem er in erster Linie die Überwindung der Trauer als Krise forderte. Als emotionale Disposition, die dieses Verhalten ermöglichen sollte, propagierte er: „Mache dich mit deinen Tugenden und Schwächen vertraut; dieses Wissen wird dich lehren, die Hitze deiner Leidenschaften zu unterdrücken.“20 Schmerzvolles Trauern erschien mit Blick auf die männliche Bevölkerung als Gefährdung von deren ökonomischer und militärischer Leistungsfähigkeit – und damit als potenzielle Gefahr für die Stärke der Nation.21 Ein zentrales Feld für den Umgang mit dem Tod war außerdem die Religion. Auch wenn christliche Deutungsmuster in weiten Teilen der Bevölkerung Italiens im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weniger als unumstößlich akzeptiert wurden, spielten Religiosität und Geistlichkeit im Kontext von Sterben und Trauer nach wie vor eine wichtige Rolle.22 Trotz der politischen Entzweiung zwischen Nationalbewegung und katholischer Kirche war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine partielle Annäherung zwischen katholischer und bürgerlicher Kultur zu verzeichnen. Das gilt etwa für die Wahrnehmung der Kirche als sakralem Ort und die intensive Spiritualisierung lebenszyklischer Riten wie Taufe, Kommunion, Hochzeit und Tod,23 die mit der Vorliebe des Bürgertums für die außeralltägliche Inszenierung solcher Feste im Einklang stand.24 Religionsgeschichtliche Forschungen haben außerdem auf eine Feminisierung der Religion hingewiesen.25 Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts war ein überproportional hoher Anteil der Kirchgänger weiblich; dieser stieg bis 1900 19 2 0 2 1 2 2 2 3

24

2 5

Vgl. dazu auch Mark Seymour, Debating divorce in Italy. Marriage and the making of modern Italians, 1860–1974, New York 2006. Francesco Rapisardi, La guida del galantuomo. Seconda edizione corretta e ampliata dall’autore, Firenze 1888, S. 300. Vgl. Gaetano Bonetta, Corpo e nazione. L’educazione ginnastica, igienica e sessuale nell’Italia liberale, Milano 1990. Vgl. Pietro Stella, Prassi religiosa, spiritualità e mistica nell’Ottocento, in: Gabriele De Rosa (Hg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 3: L’età contemporanea, Roma/Bari 1995, S. 115–142. Vgl. ebd., S. 131–132. Vgl. Luisa Tasca, Galatei. Buone maniere e cultura borghese nell’Italia dell’Ottocento, Firenze 2004, S. 135–138. Zur Festkultur im liberalen Italien vgl. Ilaria Porciani, La festa della Nazione. Rappresentazione dello Stato e spazi sociali, Bologna 1997. Vgl. Lucetta Scaraffia, „Il Cristianesimo l’ha fatta libera, collocandola nella famiglia accanto all’uomo“. Dal 1850 alla „mulieris dignitatem“, in: Lucetta Scaraffia/Gabriella Zarri (Hg.),

Dosierte Gefühle

weiter an. Im Rahmen von Kongregationen und Laienorden wurden Frauen im Katholizismus zusätzliche gesellschaftliche Handlungsspielräume eingeräumt. Auf symbolischer Ebene korrelierte dieser Prozess mit einem Wandel des katholischen Weiblichkeitsbildes, der die Frau zur privilegierten Trägerin des Glaubens machte. In diesem Rahmen wurde sie als sorgende, ihrem Schicksal ergebene Mutter glorifiziert, die in der Familie den Part der Gläubigen innehatte. Die symbolische Verbindung vieler Frömmigkeitspraktiken wie der Marienverehrung mit Passion, Tod und Auferstehung Christi verweist ebenfalls auf eine Affinität der Frau zu Trauer und Leid.26 Sowohl gesellschaftliche, als auch religiöse Diskurse markierten den Bereich des Emotionalen damit als weiblich. Dass das Geschlechterschema auch die soziale Praxis des Trauerns maßgeblich strukturierte, steht außer Frage. Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass der emotionale Umgang mit dem Verlust tatsächlich allein den Frauen zugeschrieben werden konnte. Dass Männer keine Emotionen beim Tod von Angehörigen empfanden oder diese völlig unterdrückten, wäre fraglos eine gewagte These. Die bewegten Briefe, die der Florentiner Giovanni Ricasoli um 1900 anlässlich des Todes seiner Tochter schrieb, sind hierfür ein gutes Beispiel.27 Sie weisen darauf hin, dass die geschlechtsspezifischen Anforderungen im Umgang mit Gefühlen dazu führten, dass Männern und Frauen jeweils unterschiedliche Räume und Äußerungsformen des Trauerns zukamen. Dass Ricasoli seine Empfindungen ausgerechnet im Rahmen seiner Geschäftskorrespondenz verhandelte, erscheint bei einem Ehemann und Familienvater vor diesem Hintergrund daher nur auf den ersten Blick überraschend – und bestärkt den Verdacht, dass es für Männer möglicherweise schwieriger war, einen Raum für ihre Trauer zu finden.28

Hydraulisches Gefühlskonzept Wenn die Dichotomie weibliche Trauer – männliche Vernunft in der historischen Praxis nicht aufging, stellt sich jedoch die Frage, welche anderen Gegebenheiten für den Umgang mit Gefühlen bestimmend waren. Eine mögliche Antwort auf diese Frage kann ein Blick auf die im ausgehenden bürgerlichen Zeitalter vor-

Donne e fede. Santità e vita religiosa in Italia, Roma/Bari 2009, S. 441–493. Die These einer Feminisierung der Religion vertritt auch Borutta, Antikatholizismus. 2 6 Vgl. Michela De Giorgio, Das katholische Modell, in: Georges Duby/Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert, New York/Frankfurt a. M., 1994, S. 187–220. 27 Zu finden im Archivio di Stato di Firenze, Carteggio Ricasoli, Cass. 128. 28 Vgl. Manuel Borutta/Nina Verheyen (Hg.), Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld 2010. Siehe auch Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Köln/Weimar/Wien 2003.

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herrschende Vorstellung von Gefühlen liefern.29 In Verhaltensratgebern erschien Trauer als eine natürliche, affektive Reaktion auf Todesfälle, die mit Schmerz, Angst, Verzweiflung, und Traurigkeit verbunden wurde. Außerdem wurden ihr physische und moralische Schwäche und das Bedürfnis nach Einsamkeit zugeschrieben. Häufig erschien Trauer als ein skriptartig ablaufender Prozess, der in aufeinander folgende Phasen unterteilt wurde. Gefühle glichen in diesen Darstellungen häufig einer Kraftübertragung aus dem Körperinneren nach außen: Die Trauernden wurden von ihnen ergriffen, wie es auch der italienische Ausdruck commosso ausdrückt. Man ging davon aus, dass dabei eine innere Spannung entstand, die der Körper wie ein mit Wasser gefülltes Fass regulierte, indem es überlief.30 Dieses Emotionskonzept war von einem Innen-Außen-Gegensatz geprägt, da es Gefühle als potenziell unbewusst und unkontrollierbar konzipierte. Zu vermitteln, wie mit ihnen angemessen umgegangen werden sollte, war eines der zentralen Anliegen von Erziehungs- und Ratgeberliteratur, die sich insbesondere an Frauen als dem ‚schwachen‘ und vermeintlich zu emotionalen Exzessen neigenden Geschlecht richtete. Dieses ‚hydraulische‘ Gefühlskonzept31 hatte sich auch die damalige Wissenschaft zu eigen gemacht. Einer der Pioniere der naturwissenschaftlichen Emotionsforschung, der Turiner Physiologe Angelo Mosso (1846–1910), untersuchte Gefühlsregungen seit den 1880er Jahren über experimentelle Messungen.32 Emotionen wurden dabei als Erregungskurven erfasst, die durch Zufügung von physiologischen Reizen hervorgerufen wurden.

2 9

Vgl. u. a. Reddy, The Navigation of Feeling, S. 141–314; Peter Gay, Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich, München 1997. Siehe außerdem Ute Frevert/Monique Scheer/Anne Schmidt/Pascal Eitler/Bettina Hitzer/Nina Verheyen/ Benno Gammerl/Christian Bailey/Margrit Pernau (Hg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. 2011. 3 0 Vgl. Anson Rabinbach, Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001. Zur Geschichte der Gefühle in den Lebenswissenschaften vgl. Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 177–296. 31 Vgl. Barbara H. Rosenwein, Worrying about emotions in history, in: The american historical review 107 (2002) 3, S. 821–845, hier S. 834–836. 3 2 Mit der Untersuchung von Gefühlen befassen sich vor allem die zwei ersten populärwissenschaftlichen Publikationen: Angelo Mosso, La paura, Milano 1884 (Dt. Die Furcht, Leipzig 1889) und ders., La fatica, Milano 1891 (Dt. Die Ermüdung, Leipzig 1892). Vgl. auch Plamper, Geschichte und Gefühl, S. 214–223.

Dosierte Gefühle

2 

Angelo Mosso: Beschleunigung des Herzschlags unter dem Einfluss einer Gemütsbewegung

Eine wichtige Voraussetzung für valide Vorbedingungen dieser Experimente war es, dass die Versuchspersonen zu Beginn des Experiments einen ErregungsNullzustand herstellen konnten. Dies ging mit der Anforderung einher, dass diese Personen ihren Körper – und damit ihre Gefühle – kontrollieren konnten; wer dazu nicht in der Lage war, fiel aus dem Anforderungsschema. Emotionen erschienen hier also vor allem als reizinduziertes Ereignis, das vor allem unter dem Gesichtspunkt von Kontrolle und Beherrschbarkeit beobachtet wurde.33 Auch Freud nahm in seinem wegweisenden Aufsatz Trauer und Melancholie von 1917 den Faden des hydraulischen Emotionskonzepts auf, indem er Trauer als reguläre affektive Reaktion auf den Tod geliebter Personen definierte.34 Als Therapeut begriff er sie als Prozess, der sich in Phasen gliedert und mit Emotionen wie Liebe, Verlustschmerz, Aggression und Schuldgefühlen verbunden ist. Von Trauernden verlangte er, ‚Trauerarbeit‘ zu leisten: Man solle sich seine Gefühle bewusst machen, sie zulassen und artikulieren – und damit mittelfristig Kontrolle über die von innen aufsprudelnden Emotionen erlangen. Ziel des Trauerprozesses sollte es sein, die affektive Bindung zur betrauerten Person zu lösen, um neue Beziehungen eingehen zu können. Trauer, die über lange Zeit nicht zum Abschluss kam, pathologisierte er im Krankheitsbild der Melancholie. Sie war Ausdruck einer psychologisch-emotionalen Anklammerung an das Verlorene mit autoaggressiven Tendenzen.35

3 3

Vgl. Otniel E. Dror, The scientific image of emotion. Experience and technologies of inscription, in: Configurations 7 (1999), S. 355–401. 3 4 Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913–1917, Frankfurt a. M. 1981, S. 428–446. 3 5 Zur Pathologisierung der Trauer im Anschluss an Freud vgl. Leeat Granek, Grief as pathology: The evolution of grief theory in psychology from Freud to the present, in: History of psychology 13 (2010) 1, S. 46–73.

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134 Moritz Buchner

Die Konzeptualisierung und Wahrnehmung von Gefühlen als etwas, das Besitz vom Menschen ergreift, spielte für den Umgang mit Trauer im bürgerlichen Italien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Die Kontrolle der Leidenschaften galt im Sinne der bürgerlichen Werte als Nachweis moralischer Stärke und Zivilisiertheit und war eine wichtige Verhaltensnorm.36 Verstand man sie als naturbestimmtes Körperereignis, dann erschienen Emotionen in diesem Kontext als Risiko, dass es auf richtige Weise zu kanalisieren galt. Der Umgang mit Trauergefühlen war deshalb maßgeblich davon bestimmt, über Verhaltensregulierung und die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen Emotionen möglichst zu dosieren.

Schriftlichkeit als Praxis dosierter Emotionalität Eine wichtige Rolle spielte dabei aus mehreren Perspektiven die in der bürgerlichen Kultur wurzelnde Emphase der Schriftlichkeit. Zum einen war der aktive Schriftgebrauch auch Ende des 19. Jahrhunderts in Italien noch ein Distinktionsmerkmal einer sehr kleinen Minderheit der Bevölkerung.37 Er hob sich von den mündlichen und nonverbal geprägten Ausdrucksformen der Volkskultur ab. Besonders Trauerfälle waren ein Ausgangspunkt intensiver Praxis von Schriftlichkeit, etwa in Form von Nekrologen oder Zeitungsartikeln, aber auch in Selbstzeugnissen von Hinterbliebenen. Dabei ermöglichte es erst die schriftliche Aufzeichnung, Biographien und Lebensleistungen als lineare Erzählung darzustellen und nachvollziehbar zu machen.38 Mit diesen Texten konnten die Hinterbliebenen die Leerstelle des Verlusts mit positiven Erinnerungen an die Verstorbenen füllen. Zugleich wurden schriftliche Zeugnisse gesammelt und konserviert. Damit waren sie praktisch jederzeit abrufbar, das Bild der Toten wurde archiviert. Ähnliches galt für die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts populäre Portrait- und Leichenfotografie.39 Durch sie konnten die Verstorbenen auch visuell nach Belieben ins Gedächtnis gerufen werden. Fotografien hatten dabei die zusätzliche Qualität, dass die Abgebildeten im Moment der Belichtung 3 6

Vgl. Alberto Mario Banti, La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell’Italia unita, Torino 2000; Penelope Morris/Francesco Ricatti/Mark Seymour (Hg.), Politica ed emozioni nella storia d’italia dal 1848 a oggi, Roma 2012. 37 Vgl. Gilles Pécout, Il lungo Risorgimento. La nascita dell’Italia contemporanea (1770–1922), Milano 1999, S. 240–242. 3 8 Vgl. Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996. 3 9 Vgl. Katharina Sykora, Die Tode der Fotografie, Bd. 1: Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch, München 2009. Siehe außerdem Elizabeth Hallam/Jenny Hockey (Hg.), Death, memory and material culture, Oxford/New York 2001 sowie Isabel Richter, Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2010.

Dosierte Gefühle

tatsächlich anwesend gewesen sein mussten. Sie besaßen daher die Spur des Authentischen, die Roland Barthes als Ausgangspunkt für die melancholische Betrachtung von Fotografien beschrieben hat.40 Diese Form von melancholischem Gedenken und Betrachten könnte man als eine Form dosierter Trauer bewerten. Ein wichtiger Aspekt von Schriftlichkeit war außerdem ihre introspektive Wirkung. Schreiben und Lesen wurden in aller Regel in körperlicher Immobilität und stiller Umgebung praktiziert. Dabei lenkte sich der Blick ins Innere und förderte die Beobachtung der eigenen Gefühlswelt, die mit den sozialen Konventionen abgeglichen werden konnte.41 Die Linearität der Schrift bewirkte dabei auch, dass Trauer als Prozess nachvollzogen werden konnte. Die Praxis der Schriftlichkeit war letztlich Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Habitus der Innerlichkeit, der für die bürgerliche Emotionskultur charakteristisch war.42 Mit der Durchsetzung der Nationalsprachen als Sprachstandard konnte sich dieser auch auf die Rhetorik ausweiten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum etwa abgedruckte Grabreden aus dieser Zeit oft kaum von Zeitungsnachrufen zu unterscheiden sind.

Gefühle als Differenzmarkierung Der auf Introspektion begründete Anspruch eines kontrollierten Umgangs mit Emotionen galt im bürgerlichen Sinne als Idealtyp. Legitimiert wurde er, indem man ihn von den Verhaltensweisen anderer Personengruppen abgrenzte.43 Insbesondere Frauen, die Angehörigen der sozialen Unterschichten und die Bevölkerung Süditaliens wurden häufig als nicht dieser Norm entsprechend herausgestellt.44 Als Mangel galt dabei ein exzessiver Umgang mit Gefühlen, der entweder mit Zügellosigkeit aufgrund niederer Moral oder mit ‚unechter‘ Theatralität von Gefühlsbezeigungen begründet wurde. Andererseits galt aber auch emotionale Kälte als falsches Verhalten. Beides widersprach dem bürgerlichen Anspruch an emotionale Ausgewogenheit und Authentizität. Damit wird deutlich, dass das bürgerliche Emotionsregime45 darauf abzielte, eine Balance zwischen Kontrolle und Zulassen von Gefühlen herzustellen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden solche Differenzmarkierungen zusätzlich verschärft, indem sie von den Humanwissenschaften naturalisiert 4 0

41

42

4 3

4 4

4 5

Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie Frankfurt a. M. 1985. Vgl. Scheer, Are emotions a kind of practice, S. 212–213. Vgl. Gammerl, Emotional styles, S. 162. Vgl. Margrit Pernau, Zivilität und Barbarei, in: dies., Gefühlswissen, S. 233–262. Vgl. Pécout, Il lungo Risorgimento, 136–140; siehe u. a. auch Nelson Moe, The view from Vesuvius. Italian culture and the southern question, Berkeley 2002. Der Begriff stammt von William Reddy, The navigation of feeling. A framework for the history of emotions, Cambridge 2001.

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136 Moritz Buchner

wurden. So las der Anthropologe Cesare Lombroso (1835–1909) an der vermeintlich unterentwickelten körperlichen Konstitution der Frau ab, diese sei auch moralisch schwach und neige daher zum Kontrollverlust.46 Ihre biologische Funktion als Ehefrau und Mutter prädestiniere sie für die emotionalen Felder von Liebe und Mitleid. Da die Frau nach Ansicht Lombrosos auch ein stumpferes Empfindungsvermögen habe, sei sie zudem weniger schmerzempfindlich und könne mehr Leid ertragen; darüber hinaus neige sie dazu, an Vergangenem festzuhalten.47 Mit solchen Deutungsweisen essentialisierte man die Zuschreibung leidvoller Trauer an die Frau. Eine weitere Differenzmarkierung zeigte sich in der bürgerlichen Wahrnehmung von Arbeiterbegräbnissen.48 Diese wurden in einigen Regionen Italiens wie der Lombardei und der Emilia-Romagna seit den 1880er Jahren immer häufiger zum Objekt des Misstrauens.49 Hier wurden durch Arbeiterlieder, Reden und politische Symbole gezielt Emotionen mit politischen Assoziationen verknüpft. Diese Politisierung wurde als konträr zur bürgerlichen Authentizität empfunden, in deren Sinne Gefühle als unpolitisch, da persönlich-individuell verstanden wurden. Die auf Praktiken der Solidarisierung bauende Emotionskultur der Arbeiterbewegung stand im bürgerlichen Sinne daher für eine künstliche Instrumentalisierung von Gefühlen. Die in elitären Kreisen grassierende Angst vor enthemmten emotionalisierten Mobs,50 die in Italien in Gestalt der autoritären Politik der Regierung unter Francesco Crispi seit 1887 auch politisch virulent wurde, deutet darauf hin, dass der politische Einsatz von Gefühlen als Bedrohung des bürgerlichen Individualismus und des sozialen Status empfunden wurde.51 Für die Durchführung von Trauerfeiern hatte dies zur Folge, dass z.B. Friedhofsordnungen das Tragen politischer Symbole verboten oder die Routen von Trauerzügen einer behördlichen Genehmigung bedurften.

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4 8

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5 0 51

Cesare Lombroso, La donna delinquente, la prostituta e la donna normale, Torino 1897. Ebd., 58–61. Dass die organisierte Industriearbeiterschaft von bürgerlicher Seite als Gefahr für die soziale Ordnung wahrgenommen wurde, betont Alberto Mario Banti, Storia della borghesia italiana. L’età liberale, Roma 1996, S. 144. Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Italien vgl. z. B. Maurizio Degl’Innocenti, Socialismo e classe operaia, in: Giovanni Sabbatucci/Vittorio Vidotto (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 3: Liberalismo e democrazia, 1887–1914, Roma/Bari 1995, S. 135–198. Vgl. Jaap van Ginneken, Crowds, psychology, and politics 1871–1899, Cambridge 1992. Vgl. Christopher Duggan, Francesco Crispi 1818–1901. From nation to nationalism, Oxford 2002. Siehe auch Pécout, Il lungo Risorgimento, S. 360–388.

Dosierte Gefühle

3 

Trauerzug für einen Angehörigen der Mailänder Industriellenfamilie Visconti di ­Modrone, 1902

Professionalisierung des Trauerns Als dritten Aspekt der mäßigenden Modulierung von Gefühlen möchte ich abschließend das Feld der Professionalisierung des Trauergeschehens anführen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa und Italien verstärkt zu beobachten war. Ein Beispiel dafür ist das Engagement professioneller Grabredner, das ein Verhaltensratgeber als Möglichkeit schilderte, einer Trauerfeier „je nach Erfordernissen den richtigen Ton“ zu verleihen; ‚privaten‘ Grabrednern wurde dagegen mit kulturkritischem Ton unterstellt, sie neigten „in diesen Zeiten“ zu verbaler Uferlosigkeit und zu vielen Superlativen.52 Die Delegation solcher Aufgaben an professionelle Akteure kann vor diesem Hintergrund auch als Outsourcing emotionalisierender Praktiken verstanden werden. Auffällig ist, dass externe Dienstleister nach 1900 auch in besonders prekären Momenten wie der Herrichtung des Leichnams oder der Grabrede hinzugezogen wurden.53 Versteht man Gefühle als performativ, dann wäre die Delegation emotionaler Praktiken 5 2

5 3

Vertua Gentile, Come devo comportarmi, S. 239–240. Vgl. Sykora, Die Tode der Fotografie, S. 63.

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138 Moritz Buchner

im Zeichen einer Dosierung gerade in solchen Situationen sinnvoll. Allerdings wirft dies unweigerliche die Frage auf, inwiefern diese Auslagerung mit dem bürgerlichen Credo emotionaler Aufrichtigkeit vereinbar war. Paradoxerweise war es nun gerade der nicht persönlich involvierte Grabredner, der den Anspruch einer authentischen Emotionalität absichern sollte, weil er die Trauergemeinde nicht mit starken persönlichen Verlustempfindungen anstecken konnte. Dies entsprach der Tendenz, dass Schmerz und Leid vor dem Hintergrund ökonomischer und politischer Erwägungen zunehmend als Last empfunden wurden, da sie Leistungsvermögen und Wohlbefinden hemmten. Die hier geschilderten Überlegungen zeigen, dass Trauer mehr ist als eine Reaktion auf den Tod, die anthropologisch konstant ist. Die mit ihr verbundenen Empfindungen und Gefühlsausdrücke sind vielmehr maßgeblich von sozialen und kulturellen Faktoren geleitet und damit historisch variabel.

Literatur und Quellen: Alberto Mario Banti, La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell’Italia unita, Torino 2000. Alberto Mario Banti, Storia della borghesia italiana. L’età liberale, Roma 1996. Marzio Barbagli, Sotto lo stesso tetto. Mutamenti della famiglia in Italia dal XV al XX secolo, Bologna 2000. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie Frankfurt a. M. 1985. Gaetano Bonetta, Corpo e nazione. L’educazione ginnastica, igienica e sessuale nell’Italia li­ berale, Milano 1990. Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010. Manuel Borutta/Nina Verheyen (Hg.), Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld 2010. Michela De Giorgio, Das katholische Modell, in: Georges Duby/Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert, New York/Frankfurt a. M., 1994, S. 187–220. Maurizio Degl’Innocenti, Socialismo e classe operaia, in: Giovanni Sabbatucci/Vittorio Vidotto (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 3: Liberalismo e democrazia, 1887–1914, Roma/Bari 1995, S. 135–198. Christopher Duggan, Francesco Crispi 1818–1901. From nation to nationalism, Oxford 2002. Michael Fischer, Ein Sarg nur und ein Leichenkleid. Sterben und Tod im 19. Jahrhundert. Zur Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte des Katholizismus in Südwestdeutschland, Paderborn 2004. Francesco Freschi, Dizionario di igiene pubblica e di polizia sanitaria ad uso dei medici e dei magistrati dell’ordine amministrativo, Bd. 1, Torino 1857. Ute Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. Ute Frevert, Emotions in history – lost and found, Budapest/New York 2011.

Dosierte Gefühle Ute Frevert/Monique Scheer/Anne Schmidt/Pascal Eitler/Bettina Hitzer/Nina Verheyen/Benno Gammerl/Christian Bailey/Margrit Pernau (Hg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. 2011. Peter Gay, Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich, München 1997. Benno Gammerl, Emotional styles – concepts and challenges, in: Rethinking history 16 (2012) 2, S. 161–175. Petra Gehring, Theorien des Todes zur Einführung, Hamburg 2010. Jaap van Ginneken, Crowds, psychology, and politics 1871–1899, Cambridge 1992. Elizabeth Hallam/Jenny Hockey (Hg.), Death, Memory and Material Culture, Oxford/New York 2001. In morte del dott. Carlo Braga. Onoranze, discorsi, epigrafi, Casalmaggiore 1886. Oliver Janz, Das symbolische Kapital der Trauer. Nation, Religion und Familie im italienischen Gefallenenkult des Ersten Weltkriegs, Tübingen 2009. Oliver Janz, Monumenti di carta. Le pubblicazioni in memoria dei caduti della prima guerra mondiale, in: Fabrizio Dolci/Oliver Janz (Hg.), Non omnis moriar. Gli opuscoli di necrologio per i caduti italiani nella grande guerra. Bibliografia analitica, Roma 2003, S. 11–44. Uffa Jensen/Daniel Morat, Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen in der langen Jahrhundertwende (1880–1930), in: Uffa Jensen/Daniel Morat (Hg.), Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, Paderborn 2008, S. 11–34. Cesare Lombroso, La donna delinquente, la prostituta e la donna normale, Torino 1897. Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 2000. Nelson Moe, The view from Vesuvius. Italian culture and the southern question, Berkeley 2002. Penelope Morris/Francesco Ricatti/Mark Seymour (Hg.), Politica ed emozioni nella storia d’Italia dal 1848 a oggi, Roma 2012. Silvana Patriarca, Italian Vices. Nation and character from the Risorgimento to the Republic, Cambridge 2010. Gilles Pécout, Il lungo Risorgimento. La nascita dell’Italia contemporanea (1770–1922), Milano 1999. Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012. Ilaria Porciani, La festa della nazione. Rappresentazione dello stato e spazi sociali, Bologna 1997. Francesco Rapisardi, La guida del galantuomo. Seconda edizione corretta e ampliata dall’autore, Firenze 1888. Anson Rabinbach, Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.

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140 Moritz Buchner William Reddy, The navigation of feeling. A framework for the history of emotions, Cambridge 2001. Isabel Richter, Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2010. Barbara Rosenwein, Emotional communities in the early middle ages, Ithaca 2006. Barbara Rosenwein, Worrying about emotions in history, in: The American historical review 107 (2002) 3, S. 821–845. Philip Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a. M. 2001. Monique Scheer, Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history)? A bourdieuian approach to understanding emotions, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220. Lucetta Scaraffia, „Il Cristianesimo l’ha fatta libera, collocandola nella famiglia accanto all’uomo“. Dal 1850 alla „mulieris dignitatem“, in: Lucetta Scaraffia/Gabriella Zarri (Hg.), Donne e fede. Santità e vita religiosa in Italia, Roma/Bari 2009, S. 441–493. Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Köln/Weimar/Wien 2003. Matilde Serao, Saper vivere. Norme di buona creanza, Napoli 1900. Mark Seymour, Debating divorce in Italy. Marriage and the making of modern Italians, 1860– 1974, New York 2006. Pietro Stella, Prassi religiosa, spiritualità e mistica nell’Ottocento, in: Gabriele De Rosa (Hg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 3: L’età contemporanea, Roma/Bari 1995, S. 115–142. Katharina Sykora, Die Tode der Fotografie, Bd. 1: Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch, München 2009. Luisa Tasca, Galatei. Buone maniere e cultura borghese nell’Italia dell’Ottocento, Firenze 2004. Anna Vertua Gentile, Come devo comportarmi? Libro per tutti, Milano 1897. Gian Marco Vidor, Satisfying the mind and inflaming the heart: emotions and funerary epi­ graphy in nineteenth-century Italy, in: Mortality 19 (2014) 4, S. 342–360.

Abbildungsnachweise: Abb. 1: Nekrolog-Publikation von 1883. Foto: M. Buchner, 2012 Abb. 2: Angelo Mosso: Beschleunigung des Herzschlags unter dem Einfluss einer Gemütsbewegung , in: Angelo Mosso, Die Furcht. Aus dem Italienischen übersetzt, Leipzig 1889, S. 103 Abb. 3: Trauerzug für einen Angehörigen der Mailänder Industriellenfamilie Visconti di Modrone, 1902 Archivio Visconti di Modrone, Serie Araldica, Busta 109 Bildrechte: Università Cattolica del Sacro Cuore

INGA SCHAUB

Trauer – Eine Krankheit? Gefühlsnormen der Trauer im DSM-5 Neue Sichtbarkeiten der Trauer Unter der Überschrift „Die neue Sichtbarkeit des Todes“1 sind in den letzten zehn Jahren verschiedenste Phänomene beschrieben und untersucht worden, die gemeinsam davon zeugen, dass sich unsere gesellschaftlichen und kulturellen Umfangsformen mit Tod, Sterben und Trauer im Wandel befinden. Die These von der ‚Verdrängung des Todes‘, die dermaßen oft formuliert wurde, „dass nicht mehr leicht ausgemacht werden kann, wer, wann und wo sie erstmals vertreten hat“2, muss revidiert werden. Der nachhaltige Erfolg einer Tagung wie der transmortale ist Teil dieser neuen Sichtbarkeit des Todes, einer Sichtbarkeit, die sich eben auch darin zeigt, dass die Themen Tod, Sterben und Trauer verstärkt in den Fokus der Wissenschaften rücken. Auch für die wissenschaftliche Erforschung der Endlichkeit des Lebens gilt jedoch, was Thomas Macho für den öffentlichen Umgang mit dem Tod festgestellt hat: „Öffentlich wahrgenommen oder verdrängt werden allein die Toten: Sie können gesehen oder nicht gesehen werden. Öffentlich wahrgenommen oder verdrängt werden die Hinterbliebenen, die Trauernden, die Ärzte, Priester oder Totengräber.“ 3 Dass Trauernde sich nicht verdrängen lassen, dass sie gesehen und öffentlich wahrgenommen werden (wollen), gehört folglich zum Kern der Entwicklungen, die die Rede von der neuen Sichtbarkeit des Todes zu benennen sucht. Mittlerweile hat sich die These einer neuen Sichtbarkeit über einen Zeitraum von beinahe zehn Jahren etabliert; interne Differenzierungen werden möglich und nötig. Hier scheint es, dass zumindest für die kulturwissenschaftliche Thanatologie Trauer und Trauernde lange Zeit eine Art blinden Fleck im Feld der neuen Sichtbarkeit bildeten. Ein Grund dafür ist sicher eine abendländische philosophische Tradition, die das Denken des Todes zunächst als ein „Denken aus der Perspektive des Individuums“4 vollzieht. Erst in den letzten Jahren erscheinen vermehrt Veröffentlichungen, die den Tod zuerst als den Tod des anderen 1

Thomas Macho/Kirsten Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007. Thomas Macho, Sterben zwischen neuer Öffentlichkeit und Tabuisierung, in: Franz Josef Bormann/Gian Domenico Borasio (Hg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin 2012, S. 41–49, hier S. 44. 3 Ebd., S. 41. 4 Hans Ulrich Gumbrecht, Die Zukunft unseres Todes, in: Friedrich Wilhelm Graf, Heinrich Meier (Hg.), Der Tod im Leben. Ein Symposion, München 2004, S. 293–325, hier S. 295. 2

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begreifen, als einen Verlust mitten im Leben, der Hinterbliebene zu Überlebenden macht. Damit reagiert die Wissenschaft endlich auf zivilgesellschaftliche Phänomene wie die Entstehung von Betroffenenverbänden wie dem Bundesverband verwaiste Eltern in Deutschland e. V., auf ökonomische Tendenzen wie das Wachstum von professionalisierter Trauerbegleitung und Trauerberatung, und auf Entwicklungen in den Künsten, wo eine wachsende Zahl von Künstler_innen aller Generationen Trauererfahrungen ästhetisch bearbeitet. Reiner Sörries hat angesichts dieser neuen Sichtbarkeit der Trauer in seiner Kulturgeschichte der Trauer argumentiert, dass unsere heutige Trauerkultur „so vielfältig ist wie zu keiner anderen Zeit der Kulturgeschichte“5. Trauer betrachtet er dabei nicht als „anthropologische Konstante“, sondern als „Kulturphänomen“: „Trauer ist kein dem Menschen angeborenes Verhalten, sondern sie wird erlernt, und dieses Lernen ist abhängig von der Kultur und dem sozialen Umfeld, in dem wir leben.“6 Als Kulturphänomen betrachtet Sörries nicht nur die kollektiven und ritualisierten Facetten der Trauer, die im Englischen als mourning bezeichnet werden. Stattdessen plädiert er dafür, auch den Affekt der Trauer im Sinne des Englischen grief als „Produkt der Moderne“7 zu begreifen: Die individualisierten und privatisierten emotionalen Facetten, die das heutige Verständnis des Begriffs „Trauer“ dominieren, hängen eng mit der Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie zusammen, mit sozioökonomischen und medizinischen Entwicklungen, die Familienstrukturen nachhaltig veränderten. Dieser Begriff der Trauer als Individualaffekt bildet den Rahmen für eine neue Sichtbarkeit der Trauer, die sich derzeit in den Humanwissenschaften beobachten lässt. In der Psychologie und der Psychiatrie wird gegenwärtig diskutiert, ob es bestimmte Trauerprozesse gebe, die als pathologisch zu betrachten seien: Bei manchen Trauernden äußere sich der Schmerz des Verlustes auf eine Art und Weise, die eine therapeutische Intervention nötig und möglich mache. In diesem Artikel will ich darstellen, welche Rolle Trauer in der 2013 erschienenen, fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz: DSM-58, spielt. Das DSM ist ein Handbuch für die Diagnose, Behandlung, Abrechnung und Erforschung psychischer Krankheiten und wurde erstmals 1952 von der APA, der American Psychiatric Association, herausgegeben.9 Es bildet die Grund 5 6 7 8

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Reiner Sörries, Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer, Darmstadt 2012, S. 138. Ebd., S. 9–10. Ebd., S. 230. American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-5, Washington, DC, 2013. In den meisten Ländern wird zur Organisation der Gesundheitsversorgung das von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene ICD (International Classification of Diseases) verwendet. Aufgrund seiner Relevanz für die Forschung ist das DSM aber auch über die

Trauer – Eine Krankheit?

lage für die psychologische und psychiatrische Praxis in Nordamerika, indem es „versucht, eine überzeugende, effiziente und erschwingliche psychologische Behandlung der Bevölkerung zu gewährleisten. [Es] übt [so] die Kontrolle über wichtige kulturelle und ökonomische Ressourcen aus.“10 Ich werde hier einen Einblick in einige populär- und fachwissenschaftliche Diskussionen geben, die im Vorfeld der Veröffentlichung des DSM-5 geführt wurden, und konzentriere mich dabei insbesondere auf die darin verhandelten normativen Vorstellungen abschließbarer und terminierbarer Trauer: das Ideal einer gesunden Trauer, die auf ihr eigenes Ende hin angelegt ist, und deren Ziel die Wiederherstellung von Funktionsfähigkeit ist. „Terminierbarkeit“ und „Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit“ als Normen gesunder Trauer will ich im letzen Schritt dieses Artikels mit der Emotionssoziologin Arlie Hochschild als Gefühlsnormen, als „norms according to which feelings may be judged appropriate to accompanying events“11 begreifen. Ich werde argumentieren, dass diese Normen nicht nur nachträglich an Affekte angelegt werden, sondern bereits an der Entstehung von Gefühlen beteiligt sind.

Trauer im DSM-5 Spätestens mit der SPIEGEL-Ausgabe vom 21. Januar 2013 (Abb.1) war auch in Deutschland die Debatte um das DSM-5 in den Massenmedien angelangt, die in den USA schon länger von wissenschaftlichen in journalistische Publikationen übergeschwappt war. Die Frage, die die Öffentlichkeit anlässlich der Veröffentlichung des DSM-5 dies- und jenseits des Atlantiks so beschäftigte und bewegte, lautete, ob Psychologie und Psychiatrie Gefahr liefen, Pathologisierungen zu generalisieren. Dehnt sich das Verständnis psychischer Krankheiten soweit aus, dass sich bald jedes Verhalten als pathologisches lesen lässt? Mit dieser Frage verbunden ist bei vielen Menschen die Angst, vorschnell als krank abgestempelt zu werden, die das Titelbild des SPIEGEL versinnbildlicht.

USA hinaus einflussreich; so benutzt man etwa in der Therapieforschung die Diagnosen des DSM als Grundlage des Studiendesigns. 10 Wulf Kansteiner, Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma: Eine kritische Genealogie der philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, S. 109–138, hier S. 121. 11 Arlie Hochschild, The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling, Berkeley 2003, S. 59.

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DER SPIEGEL 4/2013, Titelbild

Die Fragen, ob, wann und wie Trauer Gegenstand von Therapie sein kann und muss, und wann aus Trauernden Patient_innen werden sollten, stellten sich als zentrale Kritikpunkte am DSM-5 heraus, die in den letzten Monaten vor seiner Veröffentlichung im Mai 2013 zusehends heftiger vorgetragen wurden. In einer beinahe zeitgleich erscheinenden Ausgabe von SPIEGEL Wissen findet sich ein Kommentar, in dem die Autorin die Sorgen vieler auf den Punkt bringt: „Gibt es so etwas wie ‚gesunde‘ Trauer? Eine Norm, der die Gefühle nach einem schwe­ ren Verlust gehorchen sollten? Einen Weg gar, dem man einfach nur konsequent folgen muss, um rasch herauszukommen aus Verzweiflung und Traurigkeit? In den USA ist darüber eine heftige Debatte entbrannt. Denn dort arbeiten Ärzte und Forscher an neuen Diagnose-Richtlinien für psychische Störungen, im Mai 2013 soll die endgültige Fassung erscheinen. Einer der Hauptstreitpunkte ist die Frage, was normale Trauer von einer krankhaften Depression unterscheidet.“12 12

Eva Maria Schnurr, Ein unzeitgemäßes Gefühl, in: SPIEGEL Wissen (2013) 4, S. 34–37, hier S. 35.

Trauer – Eine Krankheit?

Trauer spielt für das DSM-5 nicht nur im Zusammenhang mit Depression eine Rolle, sondern wird an zwei verschiedenen Stellen verhandelt. Für das DSM-5 stand erstens die sogenannte bereavement exclusion für Depressionen und Anpassungsstörungen zur Debatte. Die bereavement exclusion ist eine Klausel aus der Vorgängerversion, dem DSM IV, die Therapeut_innen dazu anhielt, innerhalb der ersten beiden Monate nach dem Verlust einer nahestehenden Person von der Diagnose einer majoren Depression (MDD, major depressive disorder) abzusehen. „Using DSM-IV, clinicians were advised to refrain from diagnosing major depression in individuals within the first two months following the death of a loved one in what has been referred to as the ‚bereavement exclusion‘“, so kommentiert die APA in einem online veröffentlichten fact sheet.13 Zweitens haben die Expert_innen der APA vorgeschlagen, komplizierte Trauerverläufe als eigenständiges Krankheitsbild aufzunehmen. Die Diagnose einer pathologischen Form der Trauer findet sich im DSM-5 mit dem Namen persistent complex bereavement disorder (PCBD) unter den weiter zu untersuchenden Störungsbildern, die in Sektion III des Manuals aufgelistet werden. Zahlreiche psychiatrische und psychologische Studien widmeten sich in den letzten Jahren diesem Störungsbild, das auch als prolonged grief oder complicated grief bezeichnet wird. Letzten Endes scheint es eher auf interne Streitigkeiten als auf mangelnde wissenschaftliche Validierung zurückzuführen zu sein, dass die Diagnose PCBD nicht als diagnostischer Code in Sektion II des Manuals auftaucht, sondern lediglich als eine weiter zu untersuchende und zu erforschende Diagnose in Sektion III.14 In Sektion III werden Kriterienkataloge vorgestellt, zu deren weiteren Erforschung und Verfeinerung die wissenschaftliche Gemeinschaft ausdrücklich aufgerufen wird. So soll bei einer Neuauflage entschieden werden

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American Psychiatric Association, Major Depressive Disorder and the ‚Bereavement Exclusion‘, in: http://www.psychiatry.org/file%20library/practice/dsm/dsm-5/dsm-5-bereavementexclusion.pdf, letzter Zugriff 25.11.2014. 1 4 Dementsprechend ist es auch wahrscheinlich, dass die WHO-Arbeitsgruppe, die momentan die Revision des Kapitels über stress-related disorders für die Neuausgabe des ICD vorbereitet, die prolonged grief disorder in dieses Kapitel aufnehmen wird (vgl. Richard A. Bryant, Prolonged Grief: Where to after Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th Edition?, in: Current Opinion in Psychiatry 27 (2014) 1, S. 21–26). Zu den inhaltlichen und gesundheitssoziologischen Unterschieden zwischen ICD und DSM kommentiert Bryant: „It is important to note that ICD-11 has a wider audience than DSM-5 insofar as medical and psychiatric policy and practice in most countries in the world is influenced more by the WHO’s system than by that of the American Psychiatric Association. Grief is of special concern to the mission of the WHO because many countries who rely on ICD are frequently affected by disaster, war, conflict, and widespread disease and mortality. Accordingly, a system by which affected individuals can be identified and assisted is highly relevant to these settings.“ (Ebd., S. 23)

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können, ob die hier aufgelisteten Krankheitsbilder in zukünftige Versionen des DSM aufgenommen werden sollten.

„Gestörte“ Trauer: Die persistent complex bereavement disorder Der SPIEGEL-Leitartikel, zu dem das hier abgebildete Titelbild gehört, gibt in erster Linie Stimmen Raum, die dem DSM-5 kritisch gegenüberstehen. Diese äußern sich besorgt darüber, dass nicht nur die Zahl der Menschen stetig zunimmt, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens wegen einer diagnostizierbaren psychischen Störung in therapeutischer Behandlung befinden, sondern auch die Anzahl von Diagnosebildern immer weiter wächst. Diese Entwicklung wird von vielen Therapeut_innen kritisch beobachtet: Sollten Diagnosemanuale doch eigentlich vor allem der bestmöglichen Behandlung von Patient_innen dienen, sind es nun gerade die in der therapeutischen Praxis Tätigen, die sich zur Erleichterung und Verbesserung ihrer Arbeit weniger statt mehr Diagnosen wünschen. Um diese Tendenz zu illustrieren und kritisch zu diskutieren, geht der Artikel auf einzelne derjenigen Störungsbilder ein, deren erstmalige Aufnahme ins DSM zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser SPIEGEL-Ausgabe zur Diskussion steht, so etwa die „hoarding disorder“, die Arbeitsplatzphobie oder die „binge eating“-Störung.15 Zu einigen dieser neuen Störungsbilder finden sich gezeichnete Illustrationen, darunter auch eine, in der es um Trauer geht (Abb. 2). In der Bildunterschrift zu dieser Illustration heißt es: „EINFACHE TRAUER. Reaktion auf den Tod eines geliebten Menschen mit Symptomen wie Traurigkeit, Schlafstörungen und Gewichtsverlust. Der Betroffene betrachtet seine Stimmung typischerweise als ‚normal‘. Dauer und Ausdrucksform der Trauer sind kulturell beeinflusst.“

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Die Perspektive der klinischen Praxis bietet freilich noch eine andere Perspektive darauf, was die Einführung neuer Diagnosen im wünschenswerten Fall für die Betroffenen bedeuten kann. Eine Diagnose zu stellen bedeutet dann nicht in erster Linie eine Pathologisierung und Stigmatisierung psychischer Krankheit, sondern vielmehr einen bürokratischen Akt, der es erlaubt, bestimmte therapeutische Maßnahmen bei der Krankenkasse abzurechnen. Eine Diagnose zu stellen bedeutet dann nicht, einen Ausschlussmechanismus zu betätigen, sondern als eine Art inkludierenden Schutzraum zu eröffnen. Aus der Perspektive der Therapieforschung schließlich ermöglichen spezifische standardisierte Diagnosen die Erforschung der bestwirksamen Therapien, um ein subjektiv empfundenes psychisches Leiden zu lindern. Diese pragmatischere Perspektive spielt allerdings in der Debatte um Trauer im DSM-5 kaum eine Rolle und bleibt darum auch in meinen Ausführungen unterrepräsentiert.

Trauer – Eine Krankheit?

2 

„Einfache Trauer“, Tom Cool/Jutta Fricke Illustrators, in: DER SPIEGEL 4/2013, S. 119

Die Trauer-Zeichnung unterscheidet sich von den anderen Zeichnungen in diesem Artikel: Anders als bei den anderen Illustrationen wird hier in der Bildunterschrift gerade nicht das Störungsbild PCDB genannt, sondern stattdessen die „einfache Trauer“. „Einfache Trauer“ ist aber schon begrifflich das Gegenteil von „komplizierter Trauer“ bzw. der persistent complex bereavement disorder, wie die Expert_innenkommission die vorgeschlagene Diagnose im DSM-5 genannt hat. Die Frage, ob es eine bestimmte Form der Trauer gibt, deren Symptome für Trauernde so belastend sind, dass sie als psychische Störung zu betrachten und zu behandeln ist, stellt sich hier nicht zum ersten Mal: Die Aufnahme der PCBD als eigenes Störungsbild war bereits 1994 für das DSM IV diskutiert worden. Damals wurde die Aufnahme abgelehnt – jedoch nicht deshalb, weil das Phänomen kompliziert verlaufender Trauerprozesse aus der klinischen Praxis und Beobachtung vielen Psycholog_innen und Psychater_innen nicht vertraut

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wäre, sondern vor allem, weil seine Spezifität, seine Diagnostizierbarkeit und therapeutische Interventionen nicht genügend empirisch erforscht waren, um diese Diagnose ins DSM aufzunehmen. Damals wie heute mischen sich in den Debatten verschiedene Diagnosenamen, die dasselbe Phänomen zu bezeichnen versuchen, so etwa komplizierte Trauer16, chronische Trauer17, verlängerte Trauer18, oder eben die anhaltende, dauernde, schwer überwindbare Trauer, die durch den Ausdruck persistent complex bereavement disorder bezeichnet wird, der sich letztendlich für das DSM-5 durchgesetzt hat.

Störungsbilder: „Verlängerte“, „verzögerte“ und „anhaltende“ Trauer Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes werde ich erörtern, inwiefern sich in diesen unterschiedlichen Namen auf einer inhaltlichen Ebene unterschiedliche Auffassungen des der Diagnose zugrunde gelegten Krankheits- und Störungsbildes äußern. Es sei jedoch vorab darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung einer Diagnose als eine Art Markenname funktionieren kann, der denjenigen, die diesen Begriff frühzeitig zu besetzen wussten, Expertise und Autorität zugesteht. Deshalb ist die Einordnung der PCBD in die Conditions to further study statt in Sektion II des DSM-5 nicht zuletzt Rivalitäten zwischen Forscher_innengruppen zuzuschreiben, die das diagnostische Kind jeweils bei dem Namen genannt wissen wollen, den sie bevorzugen. Eine ausreichende wissenschaftliche Validierung der Diagnose durch entsprechende Studien ist inzwischen hingegen gegeben.19 Auch kulturhistorisch lassen sich die sich verändernden Präferenzen in der Namensgebung einordnen: „Von 1997–2001 wurde in den Veröffentlichungen [der Forscher_innengruppen um Holly G. Prigerson und Katherine M. Shear, I.S.] vor allem von traumatischer Trauer gesprochen (Prigerson et al., 1997; Shear et al., 2001). Nach den Ereignissen des 11. September 2001 16

Vgl. Mardi J. Horowitz/Bryna Siegel/Are Holen/George A. Bonanno, Diagnostic Criteria for Complicated Grief Disorder, in: American Journal of Psychiatry, 154 (1997) 7, S. 904–910. 17 Vgl. George A. Bonanno/Camille B. Wortman/Darrin R. Lehman/Roger G. Tweed, Resilience to Loss and Chronic Grief: A Prospective Study from Preloss to 18-months Postloss, in: Journal of Personality and Social Psychology 83 (2002) 5, S. 1150–1164. 18 Vgl. Holly G. Prigerson/Lauren C. Vanderwerker/Paul K. Maciejewski, A Case for Inclusion of Prolonged Grief Disorder in DSM-5, in: Margaret S. Stroebe/Robert O. Hansson/ Henk Schut/Wolfgang Stroebe (Hg.), Handbook of Bereavement Research and Practice: Advances in Theory and Intervention, Cambridge 2008, S. 165–186. 19 In der Datenbank medline finden sich 252 Treffer zum Stichwort prolonged grief; zum Stichwort complicated grief werden sogar 554 Treffer aufgeführt (Suchanfragen über die Homepage des Deutschen Instituts für medizinische Dokumentation und Information https://www.dimdi.de/static/de/db/dbinfo/me66.htm, letzter Zugriff 20.11.2014).

Trauer – Eine Krankheit? entschied sich die Forschergruppe von Prigerson et al., wieder zu dem Begriff der komplizierten Trauer zurückzukehren, da die Terminologie ‚traumatisch‘ zu viel Ähnlichkeit mit der PTBS aufzeigte.“20

Welche Rolle spielen diese Unterschiede bezüglich der Terminologie in der innerfachlichen Diskussion? Dient die sprachliche Differenzierung Zwecken, die über die Markierung des eigenen Forschungsfelds hinausgehen? Sind die Zu- und Abneigungen zu bestimmten Begriffen von außerhalb dieser selbst liegenden, historischen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängig, oder verhandelt sich in ihnen auf struktureller Ebene ein inhaltlicher Gehalt? Mein Anliegen für den nächsten Schritt der Argumentation ist es, nach den inhaltlichen Differenzen der unterschiedlichen Bezeichnungen zu fragen und sie zum Ausgangspunkt einer kulturanalytischen Begriffsarbeit zu machen. Solch eine differenzierende Begriffsarbeit will die Aufmerksamkeit darauf legen, wie bestimmte Vorstellungen dessen, was Trauer sein und wie sie verlaufen kann, sich in Begrifflichkeiten sedimentieren und über diese ausgehandelt werden müssen. Dazu werde ich Passagen aus zwei verschiedenen Studien einander gegenüberstellen, in denen sich die jeweiligen Autor_innen mit möglichen Namen für eine Diagnose der von ihnen untersuchten Phänomene beschäftigen. In dem ersten Beispiel, das ich zitieren möchte, wird die Bezeichnung prolonged grief disorder vorgeschlagen. Die Autor_innen sprechen sich für diese Bezeichnung aus, weil diese Bezeichnung die zu behandelnden Phänomene nah an der Normalität (jedenfalls einer Normalität im Sinne einer Verständlichkeit) verortet, wie sie argumentieren: „Unlike the term complicated, which is defined as ‚difficult to analyze, understand, explain,‘ prolonged grief disorder accurately describes a bereavement-specific mental disorder based on symptoms of grief that persist longer than is normally the case (ie, 6 months postloss based on the results of the present study).“21

Bei verlängerter Trauer handelt es sich dieser Definition zufolge nicht um etwas radikal anderes als bei normaler Trauer, sondern eher um eine Verlängerung, um eine Verstetigung oder ein Anhalten des normalen Trauerprozesses. Der Unterschied zwischen normaler und pathologischer Trauer ist somit in dieser Perspektive eher ein quantitativer als ein qualitativer. Im Review einer anderen 2 0

Rita Rosner/Birgit Wagner, Komplizierte Trauer, in: Andreas Maercker (Hg.), Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen, Berlin 2009, S. 441–456, hier S. 444. 21 Paul K. Maciejewski/Bahoui Zhang/Susan D. Block/Holly G. Prigerson, An Empirical Examination of the Stage Theory of Grief, in: Journal of the American Medical Association 297 (2007) 7, S. 716–723, hier S. 721.

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Forscher_innegruppe zur aktuellen Forschungsliteratur, das den Stand der Debatte um Trauer im DSM-5 zusammenfasst, wird hingegen die in obigem Zitat abgelehnte Bezeichnung complicated grief bevorzugt. Hier wird argumentiert, dass ein ungewöhnlich langes Anhalten der Trauersymptome allein (d. h. länger als sechs Monate) noch nicht ausreiche, um einen Trauerprozess als pathologisch zu bezeichnen. „We favor the term complicated grief (CG). Several authors have suggested that bereavement is analogous to an injury and grief to inflammation associated with the healing process. Just as wound healing can be hindered by complications producing a prolonged period of inflammation and soreness, so can healing a loss be hampered by complications producing a prolonged period of acute grief. We believe that the problem with labeling this syndrome ‚prolonged‘ or ‚persistent‘ grief is that grief is often prolonged or persistent in ways that are not complicated or pathological and this could confuse people.“22

Bereits in der kurzen Gegenüberstellung dieser beiden Zitate klingt an, wie wichtig Fragen danach sind, wie lange Trauer dauern darf, ob sie zu einem Ende kommen kann bzw. muss, und wenn ja, wie dieser Prozess vonstatten zu gehen habe, für die Definition von normalen und pathologischen Verläufen sind. Die Möglichkeit, zwischen normaler und pathologischer Trauer zu unterscheiden, scheint aufs Engste mit ihrer Zeitlichkeit verknüpft zu sein. Die Autor_innen der ersten zitierten Studie schlagen vor, dass das Leiden von Trauernden frühestens nach sechs Monaten als pathologisches zu begreifen sei. Erst nach sechs Monaten wird es ihren Ergebnissen zufolge möglich, Trauer als Krankheit zu begreifen und mit einer Diagnose als zu lang, verlängert oder überlang zu klassifizieren. Auch die Autor_innen der zweiten Studie veranschlagen diesen Zeitraum von sechs Monaten als ‚normal‘ für das Anhalten intensiver Reaktionen auf Verlust, wollen jedoch auch danach intensive Trauer nicht automatisch unter den Verdacht der Anormalität stellen. Vorher, so lautet in jedem Falle der Umkehrschluss, müsse Trauer auch in ihrer belastendsten Form keinesfalls zu Ende gehen, ohne aus dem Rahmen des Normalen zu fallen. Dieser Grundgedanke findet sich auch in den diagnostischen Kriterien des DSM-5 wieder, anhand derer die Autor_innen die PCDB beschreiben, auch wenn der Zeitraum, innerhalb dessen – polemisch gesprochen – ohne Pathologieverdacht getrauert werden darf, hier noch einmal verlängert wurde: „Since the death, at least one of the following symptoms is experienced on more days than not and to a clinically significant degree and has persisted for at least 2 2

Katherine M. Shear/Naomi Simon/Melanie Wall/Sidney Zisook, Complicated Grief and Related Bereavement Issues for DSM-5, in: Depression and Anxiety 28 (2011) 2, S. 103–117, hier S. 109–110.

Trauer – Eine Krankheit?

12 months after the death in the case of bereaved adults and 6 months for bereaved children.“23

Trauer und Depression Für die Gegner_innen des DSM-5 war die Rolle, die Trauer in dem Diagnosemanual spielen sollte, einer der wesentlichen Kritikpunkte. Der Großteil des öffentlichen Unmuts bezog sich auf den Vorschlag, die sogenannte bereavement exclusion bzw. grief exclusion aus den Kriterien für schwere depressive Störungen (major depressive disorder, MDD) zu entfernen. Aus der klinischen Praxis ist vielen Therapeut_innen durchaus vertraut, dass bei manchen Trauernden Symptome einer Depression auftreten, bzw. dass durch einen Trauerfall eine Depression ausgelöst werden kann. Den Diagnosekriterien für schwere Depressionen im DSM IV folgend konnten Psychiater_innen und Psycholog_innen allerdings erst zwei Monate nach einem Trauerfall von einer depressiven Episode sprechen; zuvor hatte es gar Fristen von sechs Monaten oder einem Jahr gegeben, die verstreichen mussten, bevor eine solche Diagnose gestellt werden konnte.24 Im DSM IV wurde also dazu geraten, Trauernde erst nach zwei Monaten auf eine mögliche Depression hin zu testen – innerhalb der ersten beiden Monate nach einem schweren Verlust galten normale Trauer und Depression als für das klinische Urteil nicht unterscheidbar. Mit der bereavement exclusion wurde dort das Ereignis des Verlusts von anderen belastenden Ereignissen abgegrenzt. Trauer wurde als Ausnahmezustand betrachtet, in dem ein Leiden, das man unter anderen Umständen als Depression verstehen würde, normal sei. Das DSM-5 räumt diese diagnostische Ausnahme nicht länger ein, „bereavement is recognized as a severe psychosocial stressor that can precipitate a major depressive episode in a vulnerable individual, generally beginning soon after the loss.“25 Es wird freilich nachdrücklich betont, dass man keineswegs Trauer und Depression gleichsetzen wolle, sondern dass es um diejenigen Fälle gehe, in 2 3

American Psychiatric Association, DSM-5, Conditions to further study. Dieses Zitat stammt aus den sogenannten B-Kriterien, unter denen die folgenden Symptome aufgelistet werden: „persistent yearning/longing for the deceased“, „intense sorrow and emotional pain in response to the death“, „preoccupation with the deceased“, „preoccupation with the circumstances of the death.“ Sie bilden sozusagen die „notwendige Bedingung“ für eine Diagnose, die aber ergänzt werden müssen durch die „hinreichende Bedingung“, das Vorhandensein weiterer, in den C-Kriterien spezifizierter Symptome. Die Feinheiten dieser Diagnosekriterien sind hier nicht mein Fokus, weshalb ich sie nur sehr verkürzt darstelle. 24 American Psychiatric Association, Major Depressive Disorder and the ‚Bereavement Exclusion‘. 2 5 American Psychiatric Association, Highlights of Changes from DSM-IV-TR to DSM-5, 19 Seiten, hier S. 5, in: http://www.dsm5.org/Documents/changes%20from%20dsm-ivtr%20to%20dsm-5.pdf, letzter Zugriff 13.3.2015.

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denen normale Trauerreaktionen durch eine depressive Episode begleitet werden: „the presence of a major depressive episode in addition to the normal response to a significant loss should also be carefully considered.“26 So findet sich in den diagnostischen Kriterien eine ungewöhnlich lange Passage, in der man sich beeilt, die Unterschiede zwischen Trauer und einer Depression herauszuarbeiten: Trauer sei gekennzeichnet von in Wellen auftretenden Gefühlen von Leere und Verlust, die aber auch von Humor begleitet werden können, wohingegen in depressiven Episoden eine generelle und dauerhafte Verstimmung vorherrsche. Menschen, die unter Depressionen litten, gehe das Selbstwertgefühl verloren, in der Trauer bleibe es typischerweise erhalten. Zwar dächten Trauernde oft an den Tod, jedoch handle es sich bei diesen Gedanken keineswegs automatisch um Suizidgedanken.27 Dass sich in den sich durch knappe und prägnante Ausführungen auszeichnenden Diagnosekriterien für MDD ein Hinweis von dieser Länge findet, in dem man sich um eine sorgfältige Abgrenzung der normalen Trauer von der Depression bemüht, ist wohl auch der Heftigkeit geschuldet, mit der während der Revisionsphase des DSM-5 um den Zusammenhang von Trauer und Depression gestritten wurde. Die Sorge, die die Aufhebung der bereavement exclusion auslöste, war die, dass durch diese Änderung Trauer und Depression zu eng aneinander geknüpft würden, und dass es somit zu einer vorschnellen Medikalisierung von Trauerprozessen kommen könnte. Doch welche unerwünschten Folgen kann eine Behandlung von Trauer haben, die diese potentiell zur Krankheit und damit zum Hoheitsgebiet von Mediziner_innen und Psycholog_innen macht? Folgt 2 6 27

American Psychiatric Association, DSM-5, Depressive Disorders. Im englischen Orginaltext lautet die Passage in voller Länge: „In distinguishing grief from a major depressive episode (MDE), it is useful to consider that in grief the predominant affect is feelings of emptiness and loss, while in MDE it is persistent depressed mood and the inability to anticipate happiness or pleasure. The dysphoria in grief is likely to decrease in intensity over days to weeks and occurs in waves, the so-called pangs of grief. These waves tend to be associated with thoughts or reminders of the deceased. The depressed mood of MDE is more persistent and not tied to specific thoughts or preoccupations. The pain of grief may be accompanied by positive emotions and humor that are uncharacteristic of the pervasive unhappiness and misery characteristic of MDE. The thought content associated with grief generally features a preoccupation with thoughts and memories of the deceased, rather than the self-critical or pessimistic ruminations seen in MDE. In grief, self-esteem is generally preserved, whereas in MDE feelings of worthlessness and self-loathing are common. If self-derogatory ideation is present in grief, it typically involves perceived failings vis-à-vis the deceased (e.g., not visiting frequently enough, not telling the deceased how much he or she was loved). If a bereaved individual thinks about death and dying, such thoughts are generally focused on the deceased and possibly about „joining“ the deceased, whereas in MDE such thoughts are focused on ending one’s own life because of feeling worthless, undeserving of life, or unable to cope with the pain of depression.“ (Ebd.)

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aus einer Medikalisierung zwangsläufig eine Medikamentierung? Auch Allen Frances, US-amerikanischer Psychiater und einer der prominentesten Kritiker des DSM-5, gab diesen Themen in seinen Argumenten einen prominenten Platz: „The storm of opposition to DSM 5 is now focused on its silly and unnecessary proposal to medicalize grief. DSM 5 would encourage the diagnosis of ‚Major Depressive Disorder‘ almost immediately after the loss of a loved one–having just 2 weeks of sadness and loss of interest along with reduced appetite, sleep, and energy would earn the MDD label (and all too often an unnecessary and potentially harmful pill treatment). This makes no sense. To paraphrase Voltaire, normal grief is not ‚Major‘, is not ‚Depressive‘, and is not ‚Disorder‘. Grief is the normal and necessary human reaction to love and loss, not some phony disease.“28

Frances, als Kopf der task force genannten leitenden Arbeitsgruppe selbst maßgeblich an der Entwicklung des DSM-IV beteiligt, trat nun als einer der prominentesten Kritiker des DSM-5 auf. Er befürchtete, dass das DSM-5 eine Pathologisierung der gesamten Gesellschaft möglich mache, und warnte in diesem Zuge vor Überbehandlung und Übermedikamentierung. Damit war seine Stimme Wind in den Segeln derjenigen Kritiker_innen, die vor allem den Einfluss der Pharmaindustrie kritisieren, die etwa Drittmittel für Forschungsvorhaben zur Verfügung stellt. Tatsächlich ist die Position von Frances differenzierter, als sie zum größten Teil im massenmedialen Diskurs widergegeben wird. So spricht sich Frances in seinem Buch Saving Normal29 keinesfalls generell gegen die Behandlung psychischer Krankheiten durch Psychopharmaka aus. Er sieht vielmehr das Potential der Psychiatrie durch die Verwässerung ihrer Werkzeuge bedroht. So scheint mir die Befürchtung gerechtfertigt, dass gerade die Abschaffung der bereavement exclusion ohne die Einführung von PCBD oder einer vergleichbaren Diagnose für pathologische Trauer eine Kombination sei, von der eine Gefahr der Übermedikamentierung ausgehe: Eine Depressionen wird typischerweise medikamentös behandelt, wohingegen eine kognitive Verhaltenstherapie sich in den entsprechenden Studien als die bei anhaltenden Trauerstörungen wirksamste Interventionstechnik erweist.

28

Allen Frances, DSM 5 to the Barricades on Grief: Defending the Indefensible, in: http:// www.psychologytoday.com/blog/dsm5-in-distress/201202/dsm-5-the-barricades-grief, letzter Zugriff 19.3.2013. 2 9 Allen Frances, Saving Normal. An Insider’s Revolt against Out-of-Control Psychiatric Diagnosis, DSM-5, Big Pharma, and the Medicalization of Ordinary Life, New York 2014.

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„Normale“ Trauer Die Frage, wie zwischen einer normalen psychischen Reaktion und einer pathologischen Abweichung von der Norm unterschieden werden kann, stellt sich für die meisten psychischen Störungen. Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit ist keine eindeutig ziehbare. Sie ist vielmehr als Grenzzone aufzufassen, die zahlreiche uneindeutige Fälle beheimaten kann. Weil fast alle Menschen zu Lebzeiten einen nahestehenden und geliebten Menschen verlieren, betritt im Falle der Trauer fast jeder diesen Grenzbereich. Für die Debatte um die verschiedenen Namen, die für eine eigenständige Trauerstörung vorgeschlagen worden waren, habe ich herausgearbeitet, dass die Dauer von Trauerprozessen ein wesentliches Kriterium für die Unterscheidung von normalen und pathologischen Reaktionen auf Verlust ist. Wenn verhandelt wird, wie lange Trauer dauern darf, geht es auch um ihre Terminierbarkeit. Es geht darum, ob einer sich in der Dimension der Zeitlichkeit entfaltenden Trauer immer schon ein Telos eingeschrieben ist – und wenn ja, auf welches Ziel sie hinstrebt. In dem Ziel, auf das die Trauer hinstrebt, zeigt sich ein weiteres Kriterium, anhand dessen Verlustreaktionen kategorisiert werden: nämlich die Einschränkung des Funktionierens in der pathologischen Trauer und die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit bei gesundem Verlauf. Um herauszuarbeiten, welchen Stellenwert die Norm des Funktionierens hat und wie sie ihre Wirksamkeit entfaltet, komme ich noch einmal auf die diagnostischen Kriterien für die PCBD zurück. Hier wird auf das Gegenstück einer pathologischen Trauer verwiesen, nämlich auf das, was normale Trauer sein kann: „The bereavement reaction is out of proportion to or inconsistent with cultural, religious, or age-appropriate norms.“30 Die Rede ist hier von einer Normalität der Normen, die innerhalb einer bestimmten Gruppe, etwa einer Kultur, einer religiösen Gemeinschaft oder einer Alterskohorte gelten, nicht von der in der Medizin üblichen Normalität des Durchschnitts. Die Normalität der Normen muss von Psycholog_innen und Psychiater_innen in Betracht gezogen werden, bevor sie eine Diagnose stellen: „Diagnosis of the disorder requires that the persistent and severe responses go beyond cultural norms of grief responses and not be better explained by culturally specific mourning rituals.“31 Auch die Differentialdiagnose zur PCBD hebt die normale Trauer als Gegenstück ihrer pathologischen Schwester hervor: „Normal grief. Persistent complex bereavement disorder is distinguished from normal grief by the presence of severe grief reactions that persist at least 12 months (or 6 months in children) after the death of the bereaved. It is only when severe levels of grief response 3 0

American Psychiatric Association, DSM-5, Conditions to further study.

31 Ebd.

Trauer – Eine Krankheit? persist at least 12 months following the death and interfere with the individual’s capacity to function that persistent complex bereavement disorder is diagnosed.“32

An dieser Stelle wird die Einschränkung des Funktionsvermögens explizit als Kriterium eingeführt, um normale von pathologischer Trauer zu unterscheiden. Es handelt sich dabei um eine typische Denkoperation der klinischen Psychologie: Ein bestimmtes psychisches und affektives Phänomen wird nicht allein durch die subjektive Empfindung von Leiden klinisch relevant, sondern dadurch, dass sie das Funktionieren des Individuums in privaten wie öffentlichen Kontexten, etwa beim Aufrechterhalten sozialer Beziehungen oder beim Ausüben beruflicher Aktivitäten einschränkt. „In geistesbezogenen Pathologien, also solchen, die Gefühle und moralische Empfindungen betreffen, die aus dem Beziehungsleben herrühren und es auch beeinflussen, ist das ‚normale‘ Funktionieren sowohl ein Zeichen intakter Gesundheit als auch einer ausgeglichenen Sozialisation.“33

Über das Funktionieren kommt es zu einer „Neubestimmung des Verhältnisses von Normalem und Pathologischem“34; Normalität ist in diesem Denksystem als Funktionstüchtigkeit zu verstehen. Funktionen sind nämlich aus philosophischer Sicht als Zwecke zu betrachten, und als solche normativ beurteilbar: Welchen Zweck sollen Menschen erfüllen können? Welche Funktion soll darum Trauer haben? Wann schränkt sie das Funktionieren ein? An dieser Stelle wird die Trauer selbst normativ beurteilbar; hilft sie dabei, einen Zweck zu erfüllen, ist sie funktional und damit gesund. Steht sie der Erfüllung eines bestimmten Zieles im Wege, ist sie dysfunktional und damit pathologisch.

Trauer-Diagnosen und Gefühlsnormen der Trauer Aus quantitativen Normen, die von einer als durchschnittlich verstandenen Normalität abgeleitet werden, werden funktionale, in denen sich eine qualitative Normativität äußert. Gerade in ihrer qualitativen Dimension lassen sich die Normen der Trauer, die dort formuliert und diskutiert werden, wo Grenzen zwischen normaler und pathologischer Trauer gezogen werden, als Gefühlsnormen verstehen. Den Begriff der Gefühlsnorm beziehe ich aus dem Konzept 3 2 Ebd.

3 3

Alain Ehrenberg, Depression: Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010, S. 52–62, hier S. 56. 3 4 Ebd., S. 55.

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der feeling rules, das die Soziologin Arlie Hochschild bereits in den 1970er Jahren entwickelt hat.35 Gefühlsregeln sind ein entscheidendes Element in Hochschilds Emotionstheorie und dienen in ihrer Argumentation insbesondere der Abgrenzung von biologistischen Modellen: Hochschild versteht Gefühle nicht als instinktgesteuerte und stabile, ebenso unveränderliche wie unveränderbare Reaktionen auf äußere Ereignisse. Stattdessen beschreibt sie Gefühle als veränderbar: Wir können unsere Emotionen bewusst und unbewusst beeinflussen, wir arbeiten gar an ihnen. „Feelings, I suggest, are not stored ‚inside‘ us, and they are not independent of acts of management. Both the act of ‚getting in touch with‘ feeling and the act of ‚trying to‘ feel may become part of the process that makes the thing we get in touch with, or the thing we manage, into a feeling or emotion. In managing feeling, we contribute to the creation of it.“36

Diese Arbeit an Gefühlen findet statt im privaten Kontext (als emotion work) ebenso wie im professionellen Kontext (als emotional labor). Doch auch beim emotional labor handelt es sich nie um eine reine „Privatangelegenheit“, da auch die hier stattfindende Gefühlsarbeit stets an kulturellen Gefühlsregeln orientiert ist: „Acts of emotion management are not simply private acts; they are used in exchanges under the guidance of feeling rules.“37 Der deutlichste Hinweis auf die Allgegenwart von Strategien und Techniken, die dazu dienen, Gefühle zu beeinflussen, ist für Hochschild die Selbstverständlichkeit, mit der wir davon sprechen, dass wir versuchen, etwas zu fühlen: „Private social life may always have called for the management of feeling. The party guest summons up a gaiety owed to the host, the mourner summons up a proper sadness for a funeral.“38 Das Beispiel einer/eines Trauernden dient Hochschild dazu, ihre These zu plausibilisieren, dass wir die Entstehung unserer Emotionen bewusst beeinflussen. Auch im weiteren Verlauf ihrer Argumentation wird sich Hochschild auf den Fall eines/einer Trauernden beziehen. Wenn sie argumentiert, dass Versuche, sich so und nicht anders zu fühlen, vor allem dann wichtig werden, wenn abweichende affektive Reaktionen in einer Situation als unangemessen empfunden würden (auch und vor allem von einem selbst), begründet Hochschild dies wie folgt: „A funeral is ideally suited to inducing spontaneous sadness and grief. This is because the ritual usually reminds the bereaved of the finality of death while at the same time offering 3 5

Hochschild, The Managed Heart. Ebd., S. 18. 37 Ebd., S. 18. 3 8 Ebd., S. 18. 3 6

Trauer – Eine Krankheit? a sense of safety and comfort in this realization. In response, the bereaved generally senses that this is the right time and right place to feel grief and not much else. Yet in a wondrous variety of ways it is possible for a griever to misgrieve.“39

Situationen, in denen Trauernde den Eindruck haben, ihre Trauer sei nicht angemessen, lassen Rückschlüsse auf Gefühlsregeln zu. Bewusste und unbewusste emotionale Konventionen machen sich unter anderem dann bemerkbar, wenn die eigenen Gefühle falsch oder unangemessen scheinen und sich „rule reminder“40, Schuldgefühle oder „moral injunctions“41 hörbar machen. Ausgehend von Situationen, in denen Trauer sich falsch anfühlt, können wiederum Rückschlüsse darauf gezogen werden, welche normativen Maßstäbe an Trauer angelegt werden. Als Beispiel nennt Hochschild zunächst eine bestimmte Intensität der Trauer, die weder unter- noch überschritten werden darf: „We can offend against a feeling rule when we grieve too much or too little, when we overmanage or undermanage grief.“42 Wie intensiv Menschen trauern, macht sich aber unter anderem daran bemerkbar, wie lange ihre Trauer dauert. Auch dafür, wie lange Trauer dauern darf, gibt es also Gefühlsregeln. „Another way in which feelings can seem to misfit a situation is in their timing. Indeed, many moments of ‚misfeeling‘ express the difference between a personal and a cultural clock. […] What is early and what is late is as profoundly a social affair as what is too much and what is too little.“43

Bereits aus dieser kurzen Einführung in Hochschilds Theorie dürfte das kritische Potential deutlich geworden sein, das sich über das Konzept der Gefühlsregeln erschließt. „The virtue of the focus on feeling rules lies in the questions it opens up.“44 Es macht Phänomene sichtbar, beschreibbar und kritisierbar, die sich andernfalls dem wissenschaftlichen Zugriff entziehen. Hochschilds eigenes Anliegen ist dabei die Frage, was es bedeutet, dass die Techniken des emotion management, derer wir uns im Privaten als emotion work immer schon bedienen, zunehmend als emotional labor eingesetzt werden. Gefühle werden zur verkäuflichen und vermarktbaren Dienstleistung, ihre Beeinflussung wird zur Arbeit. Damit laufen wir Gefahr, uns von der Signalfunktion von Emotionen und von ihrem Potential, als individuellem Modus der Welterschließung zu entfremden. 3 9

4 0 41

42

4 3

4 4

Ebd., S. 63. Ebd., S. 57. Ebd., S. 69. Ebd., S. 64. Ebd., S. 66–67. Ebd. S. 62.

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Während Hochschild das Befolgen von Gefühlsregeln des Trauerns als paradigmatisches Beispiel für emotion work betrachtet, und nicht als emotional labor diskutiert, d.h. das Bedürfnis, richtig zu trauern, nicht in seiner wirtschaftlichen Dimension begreift, gilt es in Hinblick auf die Pathologisierung von Trauer im Spannungsfeld zwischen professionalisierten Angeboten der Trauerbegleitung und -beratung, der Deutungshoheit der Lebenswissenschaften und dem Einfluss der Pharmaindustrie durchaus zu diskutieren, ob und inwiefern nicht auch emotion work von Fragen der Vermarktbarkeit von Gefühlen geprägt sein kann. Ein erster Ansatzpunkt dazu, auf den ich perspektivisch am Ende des Artikels hinweisen will, kann in der Frage liegen, inwiefern es sich bei der Funktionsfähigkeit, die wiederherzustellen der im DSM-5 verhandelte normative Zweck der Trauer ist, um eine Arbeitsmarktverwertbarkeit handelt. In den massenmedialen und fachwissenschaftlichen Diskussionen, die im Vorfeld der Veröffentlichung des DSM-5 stattfanden, werden unweigerlich normative Vorstellungen dessen formuliert, welche Trauer richtig sei, d. h. welche Trauer ‚gesund‘ sei und damit die Norm sein sollte. Im gleichen Zuge wird mit bestimmten Vorstellungen ‚normaler‘ Trauer operiert, wobei freilich eine Normalität der Trauer erst produziert wird. Die Wirkmacht dieser Gefühlsnormen bleibt nicht auf einen Spezialdiskurs beschränkt: In therapeutisierten Gesellschaften zirkuliert „Psychowissen“45 nicht nur in den Wissensräumen der Lebenswissenschaften, sondern diffundiert von dort in die Gesellschaft und bildet ein Grundgerüst, auf das wir unser Selbstverständnis stützen, eine Struktur, auf die wir unsere Selbstbilder modellieren.

Literatur: American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-5, Washington, DC, 2013 Bonanno, George A./Camille B. Wortman/Darrin R. Lehman/Roger G. Tweed, Resilience to Loss and Chronic Grief: A Prospective Study from Preloss to 18-months Postloss, in: Journal of Personality and Social Psychology 83 (2002) 5, S. 1150–1164 Bryant, Richard A., Prolonged Grief: Where to after Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th Edition?, in: Current Opinion in Psychiatry 27 (2014) 1, S. 21–26 Ehrenberg, Alain, Depression: Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010 4 5

Maik Tändler/Uffa Jensen, Psychowissen, Politik und das Selbst. Eine neue Forschungsperspektive auf die Geschichte des Politischen im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung: Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 9–35.

Trauer – Eine Krankheit? Frances, Allen, Saving Normal. An Insider’s Revolt against Out-of-Control Psychiatric Diagnosis, DSM-5, Big Pharma, and the Medicalization of Ordinary Life, New York 2014 Gumbrecht, Hans Ulrich, Die Zukunft unseres Todes, in: Friedrich Wilhelm Graf, Heinrich Meier (Hg.). Der Tod im Leben. Ein Symposion, München 2004, S. 293–325 Hochschild, Arlie, The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling, Berkeley 2003 Horowitz, Mardi J./Bryna Siegel/Are Holen/George A. Bonanno, Diagnostic Criteria for Complicated Grief Disorder, in:. American Journal of Psychiatry, 154 (1997) 7, S. 904–910 Kansteiner, Wulf, Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma: Eine kritische Genealogie der philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, S. 109–138 Macho, Thomas/Kirsten Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007 Macho, Thomas, Sterben zwischen neuer Öffentlichkeit und Tabuisierung, in: Franz Josef Bormann/Gian Domenico Borasio (Hg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin 2012, S. 41–49 Maciejewski, Paul K./Bahoui Zhang/Susan D. Block/Holly G. Prigerson, An Empirical Examination of the Stage Theory of Grief, in: Journal of the American Medical Association 297 (2007) 7, S. 716–723 Prigerson, Holly G./Lauren C. Vanderwerker/Paul K. Maciejewski, A Case for Inclusion of Prolonged Grief Disorder in DSM-5, in: Margaret S. Stroebe/Robert O. Hansson/Henk Schut /Wolfgang Stroebe (Hg.), Handbook of Bereavement Research and Practice: Advances in Theory and Intervention, Cambridge 2008, S. 165–186 Rosner, Rita/Birgit Wagner, Komplizierte Trauer, in: Andreas Maercker (Hg.), Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen, Berlin 2009, S. 441–456 Schnurr, Eva Maria, Ein unzeitgemäßes Gefühl, in: SPIEGEL Wissen (2013) 4, S. 34–37 Shear, Katherine M./Naomi Simon/Melanie Wall/Sidney Zisook, Complicated Grief and Related Bereavement Issues for DSM-5, in: Depression and Anxiety 28 (2011) 2, S. 103–117 Sörries, Reiner, Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer, Darmstadt 2012 Tändler, Maik/Uffa Jensen, Psychowissen, Politik und das Selbst. Eine neue Forschungsperspektive auf die Geschichte des Politischen im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung: Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 9–35

Internetquellen: Frances, Allen, DSM 5 to the Barricades on Grief: Defending the Indefensible, in: http://www. psychologytoday.com/blog/dsm5-in-distress/201202/dsm-5-the-barricades-grief American Psychiatric Association, Highlights of Changes from DSM-IV-TR to DSM-5, 19 ­Seiten, hier S. 5, in: http://www.dsm5.org/Documents/changes%20from%20dsm-ivtr%20to%20dsm-5.pdf

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160 Inga Schaub American Psychiatric Association, Major Depressive Disorder and the ‚Bereavement Exclusion‘, in: http://www.psychiatry.org/file%20library/practice/dsm/dsm-5/dsm-5-bereavementexclusion.pdf

Abbildungsnachweise: Abbildung 1: DER SPIEGEL 4/2013, Titelbild Abbildung 2: „Einfache Trauer“, Tom Cool/Jutta Fricke Illustrators, in: DER SPIEGEL 4/2013, S. 119

ANTJE MICKAN

„Ich will untern grünen Rasen“ Bestattungen setzen Zeichen1 „Ich will untern grünen Rasen“, sagt eine 83-jährige ehemalige westdeutsche Krankenschwester im Interview. Sie ist ihr Leben lang unverheiratet geblieben, hat keine Kinder und keine Angehörigen am Wohnort. Aber sie berichtet von ihrer Liebe zur Weite des Nordens, wo sie als Kind aufwuchs, von ihrem Glauben daran, dass es nach dem Tod in irgendeiner Weise weitergehe, und dass sie sich mit ihrem Bestattungswunsch ihrer vorverstorbenen lieben Freundin anschließe. Das Wissen um eine Trauerfeier zu ihrem Abschied erscheint beim Erzählen als von großer Bedeutung. Ein ganz anderes Bild vom eigenen Grab imaginiert ein 95-jähriger pensionierter ostdeutscher Pfarrer. Er beschreibt seine letzte Ruhestätte folgendermaßen: „Ich habe eine Familiengrabstelle und einen Grabstein zusammen mit meiner Frau. Mein Name steht auch schon drauf. Nur das Todesdatum steht noch nicht da.“ Damit dieser Bestattungswunsch realisiert werden kann, soll eine Kremierung des Leichnams erfolgen. Eine Überführung im Sarg wäre zu aufwendig, denn das besagte Familiengrab befindet sich in einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern vom aktuellen Wohnort des Witwers. Dass dies nichts Unnatürliches, für Verstorbene Schädliches sein könne, erklärt der Befragte im Interview mit dem Schicksal von Kameraden, deren Feuertod er im Zweiten Weltkrieg miterleben musste. Auf die Frage nach seinem Glauben an ein ewiges Leben meint der Hochaltrige, er könne es sich nicht vorstellen. In klaren Worten dagegen spricht er von seinem Ärger über bestimmte neue Bestattungsformen, besonders die der Ascheverstreuung auf einer Wiese. Und ein 75-jähriger westdeutscher, verrenteter Angestellter teilt im Interview mit: Ich möchte ganz gerne an meinem Lebensende verbrannt werden. Und, äh, die Urne, – wie mit der Urne umgegangen werden soll, […] also das ist mir, im Grunde ist mir das persönlich egal.

Welche Motivbündel er damit verbindet, soll an späterer Stelle ausführlicher dargestellt werden. Diese Äußerungen2 älterer Menschen zum eigenen Bestattungswunsch illustrieren beispielhaft das Feld, welches im Fokus der hier in ihrem Ansatz umrissenen praktisch-theologischen Untersuchung steht. Es geht um aktuelle Herausforderungen beim Eruieren angemessener sepulkraler Zeichen, um die Bedeutung dieser 1 2

Vortrag anlässlich der „transmortale II“ am 19.03.2011 in Kassel. Es handelt sich um Pretest-Leitfadeninterviews zur hier vorgestellten Untersuchung.

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Zeichen vor dem Hintergrund einer sich im Wandel befindenden Lebenswelt sowie um die Frage nach einem poimenischen Potential, das sich heute möglicherweise gerade angesichts einer fortgeschrittenen Individualisierung der Bestattungskultur in seelsorglichen Gesprächen mit Älteren neu ergibt, wenn diese die funerale Thematik nicht aussparen. Semiotik und Spieltheorie werden in diesem Beitrag als hierfür weiterführende Perspektiven vorgestellt. Der Blick richtet sich also sowohl auf das ältere Individuum mit seiner Lebenslage, seinen individuellen, lebensgeschichtlich geprägten Vorstellungen von der eigenen Bestattung als auch auf kirchliche Bestattungs- und Seelsorgepraxis, insbesondere mit der Frage nach dem eigenen Profil angesichts religions-kultureller Pluralisierungsprozesse.

1 

Moderne Sepulkralästhetik mit Sinn für Gemeinschaft

Spätmoderne Wandlungsprozesse Innerhalb der Praktischen Theologie sind typische Veränderungen in der deutschen Gesellschaft der Gegenwart nicht unbeobachtet geblieben, wie zahlreiche Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte zur Gelebten Religion3, Lebenswelt4 3

Dieser aktuell relativ häufig verwendete Begriff stammt ursprünglich vom systematischen Theologen Ernst Troeltsch, vgl. ders., Die Selbständigkeit der Religion, in ZThK 5 (1895), S. 361‒436. 4 Die Soziologen Alfred Schütz und Thomas Luckmann prägten die heute phänomenologisch angewendete Auffassung dieses Begriffes, vgl. dies., Strukturen der Lebenswelt, Frankfurt a.M. 21984.

„Ich will untern grünen Rasen“

aber auch zu kulturellen Erscheinungen in der späten Moderne zeigen.5 So ist es umso verwunderlicher, dass ein aus sozialwissenschaftlicher Perspektive6 schon länger intensiv erforschter lebensweltlicher Bereich bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts eine praktisch-theologische Leerstelle blieb. Denn obwohl gerade die Arbeit mit und die Begleitung von älteren Menschen einen traditionellen Schwerpunkt kirchlichen Handelns bildet,7 und obwohl sich der demografische Wandel schon seit Jahrzehnten abzeichnet,8 ist das Thema Alter(n) erst seit wenigen Jahren in den Fokus des wissenschaftlich-theologischen Interesses gerückt. Eine Religionsgerontologie aus theologischer Perspektive formiert sich nun erst allmählich zu einer Teildisziplin.9 Und so naheliegend eine Verbindung der Frage 5

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Vgl. u. a. Astrid Dinter/Hans-Günter Heimbrock/ Kerstin Söderblom (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007, bes. S. 60‒100; Kristian Flechtner/Michael Haspel (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1998; Wilhelm Gräb, Sinnfragen: Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006; ders., Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006; Albrecht Grözinger/Georg Pfleiderer (Hg.), „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich 2002; Henning Luther, Religion im Alltag. Bausteine einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992. Vgl. u.a. Hans Peter Tews, Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters, in: Ders./ Gerhard Naegele (Hg.), Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft – Folgen für die Politik, Opladen 1993, S. 15‒42; Annette Niederfranke/Gerhard Naegele/ Eckart Frahm, Eckart (Hg.), Funkkolleg Altern 1. Die vielen Gesichter des Alterns, Opladen/ Wiesbaden 1999; dies. (Hg.), Funkkolleg Altern 2. Lebenslagen und Lebenswelten, soziale Sicherung und Altenpolitik, Opladen/Wiesbaden 1999; Andreas Kruse/Mike Martin (Hg.), Enzyklopädie der Gerontologie, Bern 2004; Leopold Rosenmayr, Schöpferisch Altern. Eine Philosophie des Lebens, Wien 2007; Gertrud M. Backes/Wolfgang Clemens, Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung, München 32008; Andreas Motel-Klingebiel/Susanne Wurm/Clemens Tesch-Römer (Hg.), Altern im Wandel. Befunde des Deutschen Alterssurveys (DEAS), Stuttgart 2010. Zur relativen Beteiligung älterer Menschen am Gottesdienstbesuch und an der ehrenamtlichen Gemeindearbeit vgl. u.a. Sebastian Czajka/Udo Kleinegees/Kristina Kott, Freizeit und gesellschaftliche Partizipation, in: Statistisches Bundesamt (Destatis); Gesellschaft sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen (GESIS-ZUMA), Mannheim; Zentrum für Sozialindikatorenforschung, Heinz-Herbert Noll; Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB); Zentrales Datenmanagement, Roland Habich (Hg.), Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008, S. 363–382, hier S. 381. Seit 1972 liegt in Deutschland ein Sterbeüberschuss vor. Vgl. Claire Grobecker/Elle KrackRohberg, Bevölkerungsstand und Bevölkerungsentwicklung, in: Statistisches Bundesamt (Destatis), Datenreport 2008, S. 11–25, hier S. 21. Vgl. u.a. Thomas Klie/Martina Kumlehn/Ralph Kunz (Hg.), Praktische Theologie des Alterns, Berlin 2009 und darin bes. dies.: Einleitung: Religionsgerontologie und Lebenskunst. Zur Praktischen Theologie des Alterns, S. 1–4; Martina Kumlehn/Thomas Klie (Hg.) Aging – Anti-Aging – Pro Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung, Stuttgart 2009

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164 Antje Mickan

nach dem Alter(n) heute und nach der Bedeutung der gegenwärtig von Älteren präferierten sepulkralen Formen aus kirchlicher Sicht auch sein mag, so neu ist dennoch die Fragelinie nach den Bestattungswünschen Älterer unter Beachtung sozialwissenschaftlicher, kulturhermeneutischer und poimenischer Aspekte in einer praktisch-theologischen Arbeit. Aktuelle Grundbedingungen von Altern und Bestatten in Deutschland, welche die Korrelation dieser beiden Bereiche verdeutlichen, seien im Folgenden kurz benannt: Menschen im deutschsprachigen Raum werden immer älter.10 Die von den sogenannten jungen Alten nachberuflich frei gestaltbare Lebenszeit wächst im Mittel ebenso wie die Zahl der Hochbetagten, deren Selbständigkeit nicht selten aufgrund von Multimorbidität oder demenziellen Erkrankungen eingeschränkt bis nicht mehr möglich ist.11 Aufgrund langer, kostenintensiver Pflegezeiten stehen mitunter wenig finanzielle Reserven, die für ein traditionell feierliches Begräbnis notwendig wären, zur Verfügung und mit dem länger werdenden Abschied voneinander nimmt parallel häufig die Ansicht zu, dass eine aufwendige Trauerfeier und Grabstelle zur Überwindung des Verlustes nicht notwendig sei. Außer der steigenden Lebenserwartung ist die seit Beginn der 1970er Jahre geringe Geburtenrate eine Ursache für das sich noch in den kommenden Jahrzehnten weiter verschiebende Generationenverhältnis. Ein Maximum des Altenanteils an der Bevölkerung wird erreicht sein, wenn die geburtenstarken Kohorten der 1950er und 1960 Jahrgänge ins hohe Alter vorrücken. Damit steigt die Sterberate in Deutschland sicher wieder an, bei vergleichsweise sinkender Zahl der Kinder und Enkel als Hinterbliebene.12 Die Auswirkungen dieses Trends auf die Sepulkralkultur sind schon heute wahrzunehmen. Organisation und Finanund darin bes. Ralph Kunz, Was ist Religionsgerontologie? S. 9–32; Ralph Kunz (Hg.), Religiöse Begleitung im Alter. Religion als Thema der Gerontologie, Zürich 2007; Susanne Kobler-von Komorowski/Heinz Schmidt (Hg.), Seelsorge im Alter. Herausforderungen für den Pflegealltag, Heidelberg 22006. 10 Die durchschnittliche Lebenserwartung für neugeborene Jungen von derzeit 77,2 Jahren wird bis zum Jahr 2060 voraussichtlich auf 85,0 Jahre und für neugeborene Mädchen von derzeit 82,4 Jahren auf 89,2 Jahre im Jahr 2060 ansteigen. Für die Berechnung der aktuellen Lebenserwartung Neugeborener liegen die Sterbetafeln 2006/2008 des Statistischen Bundesamtes zugrunde. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Bevölkerung Deutschlands bis 2060. 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 18. November 2009, Wiesbaden 2009, S. 29–31. 11 Vgl. François Höpflinger, Sozialgerontologie: Alter im gesellschaftlichen Wandel und neue soziale Normvorstellungen zu späteren Lebensjahren, in: Klie/Kumlehn/Kunz (Hg.): Praktische Theologie, S. 55–71. 12 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Statement von Präsident Roderich Egerer. Pressekonferenz „Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2060“ am 18. November 2009 in Berlin, Wiesbaden 2009. S. 9.

„Ich will untern grünen Rasen“

zierung der Bestattung wie auch Grabpflege müssen in den Familien von einer immer kleiner werdenden Personenzahl geleistet werden. Diese höhere Pro-KopfBelastung der Trauernden unterstützt den Trend zur Wahl einer kostengünstigen und pflegeleichten Bestattungsform sowie die stärkere Inanspruchnahme von Dienstleistungsangeboten der Bestattungsinstitute. Im gerontologischen Diskurs kommt heute der Vielgestaltigkeit des Alters und Alterns mit ihrer Abhängigkeit von stark differierenden Lebensläufen besondere Beachtung zu. Entsprechend betont Paul B. Baltes als „erste Botschaft der Wissenschaft vom Alter […], dass das Alter nicht ein Gesicht hat, sondern viele.“13 Korrespondierend zu dieser Entwicklung ist eine Pluralisierung und Multioptionalisierung der Bestattungsformen zu beobachten.14 Doch bleibt der gewachsene Vorrat funeraler Zeichen, der grundsätzlich zur individuellen Gestaltung eines öffentlichen Erinnerungsortes zur Verfügung steht, oft ungenutzt.15 Theologische Stimmen weisen darauf hin, dass angesichts konkurrierender Alternskonstrukte wie Anti-Aging und Successful-Aging das Faktum der Würde eines jeden, auch eines schwach und abhängig werdenden, sterbenden Menschen ausdrücklich zu beachten sei.16 Damit stehen implizit – mehr noch als prunkvolle Grabstätten – anonyme Bestattungen ohne Feier, also ohne öffentliche letzte Würdigung, in der Kritik.

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Paul B. Baltes, Herausforderung und innovative Ansätze für gesellschaftlichen Wandel: „Der Generationenkrieg kann ohne mich stattfinden“, in: Tassilo Küpper (Hg.), Hans Martin Schleyer-Stiftung, Demographischer Wandel als Innovationsquelle für Wirtschaft und Gesellschaft, Forum, Köln, 13. Oktober 2004, Köln 2005, S. 49–55, hier S. 49. 14 Vgl. zum Wandel der Bestattungskultur u.a. Kerstin Gernig, (Hg.): Bestattungskultur – Zukunft gestalten. Dokumentation der Fachtagung in Erfurt vom 16.-17. Oktober 2003, Düsseldorf 2004; Reiner Sörries, Alternative Bestattungen. Formen und Folgen. Ein Wegweiser, Frankfurt a. M. 2008; Klaus Grünwaldt/Udo Hahn (Hg.): Vom christlichen Umgang mit dem Tod: Beiträge zur Trauerbegleitung und Bestattungskultur (VELKD), Hannover 2004; Thomas Klie, Bestattungskultur: Umgangsformen angesichts des Todes, in: Klie/ Kumlehn/Kunz (Hg.): Praktische Theologie, S. 409–428; Michael Nüchtern/Stefan Schütze, Bestattungskultur im Wandel (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen), Berlin 2008. 15 Vgl. zur anonymen Bestattung u.a. Norbert Fischer, Inszenierte Gedächtnislandschaften: Perspektiven neuer Bestattungs- und Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert. Eine Studie im Auftrag von Aeternitas 2011, http://www.aeternitas.de/inhalt/downloads/bestattungskultur.pdf. (Zugriff am 22. 03. 2012), S. 11.13.17–22. 16 Vgl. u.a. Heinz Rüegger, Würde im Alter – Eine kritische Besinnung auf das Verständnis menschlicher Würde, in: WzM, Bd. 59, Göttingen 2007, S. 137–151; ders., Altern im Spannungsfeld von „Anti-Aging“ und „Successful-Aging“. Gerontologische Perspektiven einer seelsorglichen Begleitung älterer Menschen, in: Kunz (Hg.), Religiöse Begleitung, S. 143–182; Gunda Schneider-Flume, Alter – Schicksal oder Gnade? Theologische Überlegungen zum demographischen Wandel und zum Alter(n), Göttingen 2008.

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Die Religiosität bzw. Spiritualität17 – selbst derzeit älterer Jahrgänge – hat sich empirisch nachweisbar hinsichtlich vorhandener Überzeugungen,18 ritueller Handlungen sowie institutioneller Anbindung verändert.19 Die Frage nach Gott wird immer häufiger als Privatsache angesehen, deren Lösung ganz individuell unter Rückgriff auf unterschiedliche Sinnvermittlungskonstrukte erfolgt und damit zu einer Pluralisierung der religiösen Überzeugungen führt.20 Die kirchliche Bestattung als ein Ausdruck von Religion wird mehr und mehr zu einer Option unter vielen. Fernerhin steigt der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund im hohen Alter. Auch dieser Umstand wird zukünftig zu einer Erhöhung der kulturellen Vielfalt auf deutschen Friedhöfen beitragen.21 Somit kennzeichnen ähnliche Prozesse die Entwicklung der Lebensphase Alter wie die der Sepulkralkultur in Deutschland. Eine bis dato nie dagewesene Formenvielfalt möglicher Bestattungsarten könnte in Zukunft durch eine weitere Liberalisierung der Bestattungsgesetzgebung noch bestärkt werden.22

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Während unter Religiosität weitgehend traditionelle Sitten, Gebräuche und Überzeugungen zu verstehen sind, die sich auf eine transzendente Gottheit beziehen, wird unter Spiritualität eine sehr offen begriffene Form der Suche nach Transzendenz gefasst, welche auch ganz ohne einen Gottesbegriff auskommen kann. Vgl. Andreas Kruse, Zur Religiosität und Spiritualität im Alter, in: Peter Bäuerle/Daniel Hell/Hartmund Radebold/Ingrid Riedel/ Karl Studer (Hg.), Spiritualität und Kreativität in der Psychotherapie mit älteren Menschen, Bern 2005, S. 49–63, hier S. 54; ferner u.a. Kunz, Religionsgerontologie, S. 21. 18 Ebd. 19 Vgl. u.a. Michael N. Ebertz, Je älter, desto frömmer? Befunde zur Religiosität der älteren Generation, in: Bertelsmann-Stiftung (Hg.), RELIGIONSMONITOR 2008, Gütersloh 2008, S. 54–63; Lars Charbonnier, Religion als Ressource im Alter, in: Kumlehn/Klie (Hg.) Aging, S. 33–55; Uwe Sperling, Religiosität und Spiritualität im Alter, in: Kruse/Martin (Hg.): Enzyklopädie, S. 627–642; Mathias Allemand/Mike Martin, Religiöse Ressourcen im Alter, in: Kunz (Hg.): Religiöse Begleitung, S. 25–43; Ulrich Moser, Identität, Spiritualität und Lebenssinn. Grundlagen seelsorglicher Begleitung im Altenheim, Würzburg 2000, S. 156–205. 2 0 Vgl. u.a. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; Gräb, Sinnfragen, S. 15. 21 Vgl. u.a. Canan Topçu, Islamische Bestattungen in Deutschland,. in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF, Hg.). Deutsche Islam Konferenz, www.deutsche-islamkonferenz.de/DIK/DE/Magazin/Lebenswelten/Bestattungen/islamische-bestattungen-node. html (Zugriff am 18.11.2013). 2 2 Vgl. u.a. Inken Mädler, Die Urne als ‚Mobilie‘. Überlegungen zur gegenwärtigen Bestattungskultur., in: Thomas Klie (Hg.), Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung, Stuttgart 2008, S. 57–75. Zum neuen Bestattungsgesetz in Nordrhein-Westfalen vgl. EKD: Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur. Ein Diskussionspapier, im Internet: www.ekd.de/bestattungskultur (Zugriff am 10.03.2011), S. 4–8.

„Ich will untern grünen Rasen“

Mittlerweile ist auch auf evangelisch-kirchlichen Friedhöfen23 – vorrangig in urbanen Gebieten – eine große Auswahlmöglichkeit an Grabarten vorhanden bis hin zu einzelnen Friedwäldern in kirchlicher Trägerschaft.24 Anhaltende Trends zur Anonymisierung und Privatisierung fordern die kirchliche Diskussion um kontrafaktischen Handlungsbedarf heraus.25 Und sie werfen zugleich die Frage danach auf, was das wesentlich Besondere und Kennzeichnende einer kirchlichen Bestattung heute ist, sein kann und sein soll.

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Eine gelungene Verbindung von Urnenhain und namentlicher Erinnerung

Vgl. zur Entwicklung hier u.a. Reiner Sörries,: Perspektiven kirchlicher Bestattungskultur im 21. Jahrhundert: Der kirchliche Friedhof, in: FuD, Jg. 54, 1–2009, S. 3–7. 24 Seit Mai 2007 befindet sich der erste Friedwald in kirchlicher Trägerschaft auf dem Schwanberg in Bayern (Unterfranken), vgl. www.kirche-evangelisch.de/aktuell_presse/ news_2007_05_21_1_bayern_friedwald.html (Zugriff am 10.03.2011). Seit Mai 2009 existiert ein kirchlicher Friedwald in Meisdorf, Sachsen-Anhalt, vgl. www.mz-web.de/servlet/ ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1241502195699 (Zugriff am 10.03.2011). Zur Vielfalt kirchlicher Friedhöfe vgl. exemplarisch das Grabstättenangebot auf den Friedhöfen in Trägerschaft des Ev.-luth. Kirchenverbandes Braunschweig, www. propstei-braunschweig.de/uploads/tx_mitdownload/3.Grabangebote__Broschuere_Hauptfriedhof.pdf (Zugriff am 19.11.2013). 2 5 Vgl. Karl-Heinrich Bieritz, Bestattungsrituale im Wandel. Tendenzen zu neueren Bestattungsagenden, in: Klie (Hg.), Performanzen, S. 121–157, hier S. 133.

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Kennzeichen einer evangelischen Bestattung Dass die gegenwärtigen Entwicklungen weder rückgängig zu machen noch aufzuhalten sind, wird auch im 2004 veröffentlichten Diskussionspapier der EKD zu „Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur“ deutlich. Nicht ganz ohne bedauernden Tenor, aber mehr noch unter Betonung neuer Chancen wird eine Öffnung der evangelischen Kirchen für zeitgemäße Bestattungsformen verantwortet.26 Neuere protestantische Agenden in Deutschland, der Schweiz und Österreich tragen bereits in unterschiedlicher Weise der kulturell gewachsenen Bedeutung von Individualität Rechnung.27 Dabei stellt eine steigende Zahl differierender Zeichen die am Bestattungskasus beteiligten Pfarrerinnen und Pfarrer vor die stetig diffizilere Aufgabe, sich sowohl einer eigenen Deutung bewusst zu sein, als auch den Teilnehmenden eine christliche Deutung der von ihr oder ihm durchgeführten rituellen Handlung grundsätzlich zu ermöglichen.28 Für einen spezifisch christlichen Ritus der Bestattung liegt zur Begründung kein biblischer Befund vor. Die Bestattung wird von protestantischen Praktischen Theologinnen und Theologen dem Kontext von Diakonie und Seelsorge zugeordnet und ist, wie Martin Luther mit dogmatischer Gültigkeit bis heute feststellte, ein zu den Adiaphora zählendes „weltlich Ding“.29 Damit ist liturgische Freiheit beim Bestattungskasus gegeben, Beliebigkeit allerdings nicht. Folgende Attribute können als Bedingungen christlich-evangelischer Bestattung angesehen werden: Es ist das zentrale Kennzeichen der christlich-evangelischen Bestattung, dass das Evangelium in sichtbaren Zeichen und Wort zum Ausdruck gebracht wird, darüber hinaus, dass gemäß christlicher Anthropologie die Würdigung der Verstorbenen deutlich wird und dass Trauernde in angemessener Weise seelsorglich beim Abschiednehmen von den Verstorbenen begleitet werden.30 Durch differierende Codes von ausführenden und teilnehmenden Personen bei der Bestattung, wie es heute immer häufiger der Fall ist, wird die zentrale Auf 2 6

Vgl. EKD, Herausforderungen, S. 8–12. Vgl. Bieritz, Bestattungsrituale, bes. 129–132.156f. 28 Zur Funktion des Bestattungsrituals aus evangelischer Perspektive vgl. Eberhard Winkler, Die Bestattung. II. Zur Praxis der Bestattung, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Michael Meyer-Blanck/Karl-Heinrich Bieritz (Hg.): Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 32003, S. 538–550. 2 9 Martin Luther: Sermon von der Bereitung zum Sterben, WA 2, S. 685–697. Vgl. Ottfried Jordahn, Die Bestattung. I. Geschichte und Theologie, in: Schmidt-Lauber/Meyer-Blanck/ Bieritz (Hg.), Handbuch der Liturgik, S. 531–538, hier S. 535; ferner EKD, Herausforderungen, S.13. 3 0 Vgl. u.a. Bieritz, Bestattungsrituale, S. 122–124; Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Nürnberg (AcK-Nürnberg), Bestattungskultur und der Beitrag der christlichen Kirchen und Gemeinschaften vom 18.10. 2004, www.ack-nuernberg.de/bestattungskultur.pdf (Zugriff am 10.03.2011), S. 9; Joachim Wanke, Christliches Ethos im Umgang mit Tod und Trauer, in: Gernig (Hg.), Bestattungskultur, S. 13–24. 27

„Ich will untern grünen Rasen“

gabe, Sprachlosigkeit bei der im Grunde unmöglichen Performanz des Todes zu überwinden, gravierend erschwert. Freie christliche Bestattungen werben besonders damit, von kirchlich-institutionellen Zwängen unabhängig zu sein und intensiv auf individuelle Wünsche eingehen zu können.31 Inwiefern hier erkennbar christliche Bestattungen vollzogen werden, hängt sicher besonders davon ab, ob die Botschaft des Evangeliums für die Teilnehmenden in einem Meer naturreligiöser, esoterischer, vielleicht auch rein ästhetischer Zeichen verschwimmt – oder stattdessen als tragend wahrgenommen werden kann. In jedem Fall bieten freie Bestattungen eine nicht in gleichem Maße deutliche Anbindung an Tradition und geschichtliches Heilswirken Gottes, wie es für kirchliche Bestattungen bezeichnend ist.

Semiotik In allen Religionen handelt es sich bei der Bestattung um eine Rückgabe der Verstorbenen an die Elemente.32 Dies ist der kulturell erfahrbare Aspekt des sonst widerkulturellen33 Todes, welcher eine Brücke zwischen Sterben und Trauern darstellt. Die Bestattung bleibt ein einmaliges Ereignis, deren Versäumnis für Hinterbliebene nicht nachzuholen ist. So kommt den Zeichen beim Bestattungsritus und den Grabzeichen – kulturell wie individuell – eine starke, bleibende Bedeutung zu. Die heutigen Herausforderungen bei der Zeichensetzung seien hier anhand von zwei Beispielen illustriert: Verfangen sich die auch im Bestattungskontext beliebter werdenden weißen Luftballons aufgrund der Wetterlage in den Baumwipfeln oder an der Kirchturmspitze, statt wie geplant in den strahlend blauen Himmel aufzusteigen, steht die intendierte Bedeutung dieser Zeichenhandlung für die Anwesenden in Frage. Und auf einem anonymen Urnenfeld dürfen laut Friedhofordnung unwiderruflich keine Parzellen gepflegt, auf Gemeinschaftsgräbern – zumindest in Braunschweig – keine eigenen Blumen gepflanzt werden. Die dennoch in diesen Anlagen abgelegten Blumen zeugen von einer Untragbarkeit der gegebenen, individuelle Zeichen verwehrenden Vorschriften für so manche Trauernde.

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Zur freien christlichen Bestattung vgl. u.a. die Angebote folgender Internetseiten: www. forumkultus.de/aus-der-arbeit/aus-der-praxis/beispiel-einer-bestattung/index.html (Zugriff am 10.03.2011); www.freie-christen.info/8543109bca1507912/8543109bcb004091f/index.html (Zugriff am 10.03.2011). Vgl. zu freien Bestattungen und Ritendesign ferner Ronald Uden, Wohin mit den Toten? Totenwürde zwischen Entsorgung und Ewigkeit, Gütersloh 2006, S. 70–72. 3 2 Vgl. u.a. Uden, Wohin mit den Toten? S. 92; Bieritz, Bestattungsrituale, S. 122f. 3 3 Vgl. a.a.O., S. 121.

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Angesichts spätmoderner Differenzierungs-, Pluralisierungs- und Vernetzungsprozesse, welche auf dem Gebiet der Kommunikation mit besonders rasanter Geschwindigkeit wirksam sind, ist es zweifelhaft, ob traditionelle Symbole in dem Begriff angemessener Eindeutigkeit verstanden werden. Eine gesicherte theoretische Grundlage bietet demgegenüber die Rede von Zeichen und Zeichensystemen, denn sie impliziert eine von den Rezipienten und deren kulturellem Umfeld abhängige Beimessung des Zeicheninhalts bzw. der Bedeutung. Ikone und Wort können eine Verbindung eingehen, die innerhalb eines bestimmten kulturellen Codes unter Mitwirkung der Empfänger sinntragend ist. So handelt es sich beim „grünen Rasen“, von dem im Kreise von Fußballfans gesprochen wird, gewöhnlich um eine Spielfläche. Will dagegen ein älterer Mensch einmal „untern grünen Rasen“, ist damit sehr wahrscheinlich eine Bestattung im anonymen Urnenhain gemeint. Die individualisierte Bestattungskultur ermöglicht es heute, dass sich beide Codes vermischen und Fußballfans ihrer Identität mit einer Bestattung unterm grünen Fußballrasen Ausdruck verleihen können. Die Semiotik liefert einen hermeneutischen Zugang, um derartige kulturelle Kon­ struktionen zu dekodieren, analoge Prozesse der Bildung von Zeichen für etwas und des Bezugs von Zeichen aufeinander zu beschreiben wie auch hinsichtlich ihrer Angemessenheit zu beurteilen.34 Dank des kulturtheoretisch ausgeweiteten Werkes Umberto Ecos zur Semiotik liegt eine fundierte Theoriebasis vor,35 die in der Praktischen Theologie seit nahezu vier Jahrzehnten Beachtung findet.36 Mit seiner Verbindung von Eco’scher Semiotik und Spieltheorie nach Huizinga, Craig und Piaget in „Zeichen und Spiel“, 2003 erschienen, hat der Theologe Thomas Klie einen äquivalenten Zugang zu den unterschiedlichen Handlungsfeldern kirchlicher Praxis konzipiert, der geeignet ist, die hier vorgestellte Untersuchung mit ihrer liturgischen, poimenischen, aber auch kulturhermeneutischen Fragerichtung anzuleiten. „Die semiotische Analyse untersucht“ nach Klie auf dem Gebiet der Liturgik „das, was sich im liturgischen Formenspiel als tragend erweist, auf seine Funktionsweise

3 4

Vgl. Thomas Klie, Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktionen der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003, S. 13f. 3 5 Vgl. u.a. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972; ders., Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München, Wien 1987; ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987; ders.: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 61993; ders.: Kant und das Schnabeltier, München, Wien 2000. 3 6 Reiner Volp initiierte den semiotischen Ansatz 1974 in der Liturgiewissenschaft. Vgl. ders.: Perspektiven der Liturgiewissenschaft. Forschungsergebnisse im Interesse eines erneuerten Gottesdienstes, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie Bd. 18.73/74, S. 1–35; ders. (Hg.): Semiotik in Theologie und Gottesdienst, München/Mainz 1982. Vgl. ferner Klie, Zeichen und Spiel, S. 234.

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und auf seine Angemessenheit hin“37. Ziel ist der verbesserte Umgang mit disponiblen Formen. Daher dürfen von einer semiotischen Deutung individueller Bestattungswünsche einerseits und kultureller Bestattungsformen andererseits Ergebnisse erwartet werden, die einer heute verständlichen Inszenierung von Bestattungsriten dienlich sind. Was für die Teildisziplin Liturgik mit ihrem deutlich performativen Charakter als methodisch angemessenes Verfahren einzuleuchten vermag, soll laut Klie auch für die Poimenik einen Zugang bieten können. Er regt eine „konsequente Semiotisierung des Seelsorgegeschehens“38 an. Die Theoriebildung steht dabei allerdings noch ganz am Anfang.39 Da die seelsorgliche Funktion der Bestattung im evangelisch-lutherischen Christentum traditionell von großer Bedeutung ist, hier kommunizierte Sinnbilder oft auch Trost vermitteln sollen, bietet sich umso mehr eine semiotische Perspektive im Kontext von Bestattungsseelsorge an.

3 

Friedhöfe können Orte der Seelsorge sein

Poimenik Der von Klie befürwortete und auch in diesem Beitrag präferierte semiotischspieltheoretisch basierte Seelsorgeansatz schließt zudem an die Arbeit Christoph Morgenthalers an, der mit seiner „Systemischen Seelsorge“ von 1999 ein prag 37

Klie, Zeichen und Spiel, S. 235. A.a.O., S. 389. Es geht hierbei darum, bisher in der systemischen Seelsorgetheorie nicht geleistete Reflexionen der Texthermeneutik zu ergänzen. Vgl. A.a.O., S. 373. 3 9 Derzeit befindet sich eine Dissertation zur Semiotik als theoretischer Basis der Poimenik, erarbeitet von Lydia Kossatz in Rostock, kurz vor dem Abschluss.

3 8

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matisch ausgerichtetes Konzept vorgelegt hat. Dieses zielt darauf ab, Menschen im Netz ihrer Beziehungen wahrzunehmen und das diesem System immanente Regelwerk, wo nötig, auszutauschen oder in Frage zu stellen und in seiner Erstarrung aufzubrechen, mit dem Ziel, das Agieren durch Störung zu befreien.40 Die Auseinandersetzung mit der eigenen Bestattung, so die hier vertretene zentrale These, hat das Potential, die Menschen im Spiel mit der Rolle als erinnerte Person einen Bruch des bis dahin gültigen Regelkreises erleben zu lassen, der neue Varianten der Lebensdeutung, aber auch neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Denn das Eruieren und Formulieren von Wünschen für den letzten Weg der eigenen sterblichen Überreste initiiert auch ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum familiären und gesellschaftlichen Umfeld, zur eigenen Biografie, zu Religion und Tod. Indem also der Mensch über eine Bestattungsform für das Selbst nachdenkt, tritt das näher rückende Lebensende ebenso ins Bewusstsein wie die Frage nach der eigenen personalen und sozialen Identität, die mit der Bestattung gewissermaßen in eine kulturelle Form der Erinnerung gegossen werden soll. Einen spielerischen Charakter hat diese Auseinandersetzung schon dadurch, dass es sich beim antizipierten eigenen Begräbnis um eine Fiktion handelt und faktisch noch ein Stück Lebenszeit unbekannter Länge zu gestalten ist. Es ist anzunehmen, dass das Potential an Sinnarbeit in Gesprächen zum Bestattungswunsch in dem Maße steigt, in dem von Wünschen und nicht von unbedingt zu realisierenden Verfügungen gesprochen wird. Denn auch die Phantasie von dem, was schön wäre, gibt Auskunft über das Selbst, für das es am Ende eine realistische und angemessene Erinnerungsform zu finden gilt.

Bestattungswunsch eines älteren Menschen Der gewählte Ansatz soll nun anhand von Ausschnitten aus einem exemplarischen Leitfadeninterview zum Bestattungswunsch und Ergebnissen einer semiotischen Deutung veranschaulicht werden. Als Proband steht der eingangs vorgestellte 75-Jährige im Mittelpunkt.41 Dem Befragten wurde das Pseudonym „Herr Grün“ zugeordnet. Dieser lebt mit seiner Frau in einem Einfamilienhaus im ländlichen Raum am Rande einer Großstadt. Eine Tochter und Enkel wohnen in einer Entfernung von wenigen Kilometern. Seine religiöse Sozialisation erfuhr Herr Grün im Protestantismus, 4 0

Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart 1999. 41 Aus dem nun vorgestellten Interview wurde bei der transmortale II lediglich eine kurze Sequenz als Hörbeitrag eingespielt. Es handelt sich hier um eine gekürzte Fassung der Interviewanalyse aus: Antje Mickan, Bestattungswünsche älterer Menschen. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: BThZ, 29. Jg., Heft 2, Bestattungskultur der Gegenwart, Leipzig, S. 302–325.

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entschied sich dann aber im Laufe seines Erwachsenenlebens – aufgrund formellpersönlicher Unstimmigkeiten und eines materiellen Vorteils der Konfessionslosigkeit wegen – bewusst gegen einen Verbleib in der Institution Kirche. Herr Grün engagiert sich seit Jahrzehnten für soziale Zwecke, besonders im Rahmen seiner musikalischen Freizeitbeschäftigung, der er auch im Rentenalter weiterhin nachgeht. Er kann als ein Vertreter der sog. jungen Alten angesehen werden. Unabhängigkeit, Aktivität und Leistung sind bestimmende Faktoren seines Lebens. Nach einem kurzen Umreißen seines beruflichen und musikalischen Werdegangs kommt Herr Grün ohne weiteren Frageimpuls auf seinen Bestattungswunsch zu sprechen: Ja, nnh, zur Frage der – Bestattung. Ich möchte ganz gerne an meinem Lebensende verbrannt werden. Und, äh, die Urne, – wie mit der Urne umgegangen werden soll, das wissen wir noch nicht. Oder ich weiß es, kann’s, möchte es auch nicht entscheiden, ob es bei der Grabstelle meiner Frau bleibt oder auf einem grünen Rasen, wie man da heute sagt, da abgegeben –. Also das ist mir, im Grunde ist mir das persönlich egal.

Bei diesem Abschnitt handelt es sich um die Basis des Interviews, von ihr ausgehend kommt das Leben von Herrn Grün aus anderer Perspektive in den Blick. Die semiotische Analyse dieser Sequenz ergibt, dass bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Bestattung Verstand und Gefühl des Befragten zu ähnlichen Anteilen an einem inneren Ringen um die angemessene, richtige Wahl beteiligt zu sein scheinen – mit dem Ergebnis, diese Entscheidung besser offen zu lassen. Als eine Ursache für die geäußerte indifferente Haltung kommen spätmoderne soziokulturelle Wandlungsprozesse in Betracht,42 zumal Herr Grün später beim Erzählen die sinkende Sozialmoral Jüngerer beklagt, etwa indem er feststellt: „Je mehr das in die Jugend geht, desto mehr flacht das sowieso ab, dieser Wille um die Grabpflege zum Beispiel“. Fasst man sie als Zeichen auf, dann weisen die vom Probanden genannten Alternativen in zwei unterschiedliche Bedeutungsrichtungen: 43 Eine Urnen 42

Zu einem möglichen Verlust des verstehenden Einfühlens in die Umwelt und Gesellschaft bei Älteren aufgrund des sozio-kulturellen Wandels vgl. Thomas Rentsch, Philosophische Anthropologie und Ethik der späten Lebenszeit, in: Paul. B. Baltes/Jürgen Mittelstrass (Hg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftlicher Entwicklung, Berlin/New York 1992, S. 283–303, hier S.301. 4 3 Bei der hier vorgenommenen Markierung handelt es sich um eine semiotische grafische Konvention nach Eco, Semiotik (1987), S. 19. Sie dient zur Hervorhebung der klaren Abgrenzung eines als Zeichen verwendeten Ausdrucks (Signifikant) einerseits und seiner ihm durch kulturellen Gebrauch in bestimmten Kontexten zukommenden Bedeutung (Signifikat) andererseits: Wird ein Wort oder eine Wortverbindung (z.B. „grüner Rasen“) als Signifikant untersucht, ist dies durch das Setzen von einfachen Schrägstichen direkt

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beisetzung in /der Grabstätte meiner Frau/ heißt in einem , der einerseits hervorhebt, andererseits ist. Leider wurde versäumt zu erfragen, ob es sich um ein älteres Familiengrab handelt, in dem womöglich bereits weitere Angehörige der Ehefrau bestattet wurden und eventuell noch namentlich am Grab vermerkt sind. In diesem Fall würde die /Beisetzung der Urne im Grab der Frau/ einer gleichkommen. Gewiss ist, dass bei der Wahl der gemeinsamen Grabstätte eine Trauerfeier für Herrn Grün am Bestattungsort stattfinden und Grabschmuck durch die Angehörigen an dieser Stätte abgelegt werden könnte wie außerdem, dass die Pflegeverantwortung bei der Familie läge. Insbesondere die drei letztgenannten Implikationen markieren die oppositionelle Stellung zur zweiten Alternative. Wie hier die Verwendung des Begriffs abgeben mit Bezug auf seine Urne zeigt, sind dem Probanden die Konsequenzen einer anonymen Bestattung im Urnenhain bewusst. Die Deutung ergibt einen Verweis der Option einer /Bestattung auf einem grünen Rasen/ auf ein . Es handelt sich also um ein starkes Zeichen für die . Sicher festgelegt hat sich Herr Grün gegen eine /Körper-Erdbestattung/. Diese ist zweifelsfrei mit einer sowie einem verbunden. Dabei ist der /Leichnam/ unmissverständlich ein Zeichen für die und für den . Der Proband identifiziert sich im Interview mit seinem Leichnam, wenn er von seiner Verbrennung am Lebensende spricht. Danach jedoch ist von ihm nicht mehr die Rede, sondern von der Urne. Im weiteren Gespräch ist auf die Frage nach einer Begründung für die Verbrennung der erste Gedanke Herrn Grüns eine Erinnerung an einen Fernsehbericht, den er reflektierend verfolgt hat. Wenn in Tokio so viele Menschen aus Platzmangel verbrannt werden, könnte dies auch in Deutschland eine aus pragmatischen Gründen angemessene Lösung sein. Mit dem Namen der verstorbenen Person versehen, handelt es sich bei der / Urne/ um ein Zeichen für . Sie erscheint in dieser Erzählsequenz als ein . Insgesamt reicht das Argument der Raumersparnis Herrn Grün

davor und dahinter (/grüner Rasen/) angezeigt. Ist ein signifikanter Gegenstand bzw. ein Phänomen unabhängig von seiner Verbalbezeichnung im Blick, sind doppelte Schrägstriche (//grüner Rasen//) verwendet. Signifikate werden durch das Einfassen in Winkelklammern (bspw. oder ) gekennzeichnet.

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selbst offenbar für eine Begründung der Verbrennung nicht aus, denn er setzt seine Überlegungen wie folgt fort: Die Seele ist sowieso weg. Ne, ob ich nun da unten liege –. Wissen se, es gibt ja auch immer noch, äh, der Gedanke ist ja nicht abwegig, von dem Scheintod. Ne, dass man dann da unten liegt drin – und die Medizin hat dich zwar für tot erklärt – und dass dann trotzdem noch mal n’ Leben auftaucht, und wenn das nur für, fürn kurzen Moment ist, und du wachst dann auf und stellst, musst feststellen, da ringsherum, da ist nüscht mehr um dich, ne?.

Indem er – entsprechend einer (neu)platonischen bzw. katholischen Tradition – von einer Trennung der immanenten Einheit Leib bzw. Leichnam und der transzendenten Einheit Seele im Tod ausgeht, legt der Befragte ein dichotomes Konzept von der menschlichen Existenz zu Grunde.44 Vorstellungen einer nahtlosen – irgendwie gearteten – Fortexistenz als Seele in einem Jenseits stehen damit die Tore offen. Der Proband spricht vom Weg-Sein der Seele, hat dabei offenbar seinen verstorbenen Leib im Blick und sieht dann doch sein ganzes Ich45 unter der Erde, „ob ich nun da unten liege –“. Die Weiterführung der Antizipation des Möglichen ist eine grauenhafte Vorstellung, absolute Finsternis, Einsamkeit und Hilflosigkeit noch lebend erfahren zu müssen. Die Furcht vor dem Scheintod bietet ein ausgesprochen plausibles Motiv für die Kremierung.46 In dieser Sequenz vermischen sich ein traditionelles und modernes Todesbild, wobei das Schwergewicht auf einer medizinisch-biologischen Deutung liegt. / Erdbestattung/ konnotiert diesem Zusammenhang entsprechend auch: , . Auf den möglichen Wunsch nach einem schnellen Tod hin angesprochen bestätigt Herr Grün: „Ja. Schluss, peng, alle. Ja. So wie das Leben ja auch mal, so wie das Leben ja auch zustande gekommen ist, ne.“ Parallel zum ersten Schrei, mit dem der Mensch ins Leben kommt, könnte /peng/ ein Geräusch bedeuten, welches an das sogenannte /Fallen der letzten Klappe/ erinnert. . Ähnliches gilt für den Verstorbenen hinsichtlich

4 4

Vgl. Marco Frenschkowski, Religionswissenschaft. Deutung des Todes: Trennung von Leib und Seele, in: Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar, S. 15–27, hier 22f. 4 5 Der Interviewtext impliziert eine Unterscheidung von „Seele“ und „Ich“. Die Auffassung des /Ichs/ entspricht näherungsweise dem, was Wolfgang Pannenberg (Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 194–217, bes. 214–217) als das Individuum versteht. 4 6 Vgl. Gerlind Rüve, Scheintod, in: Wittwer/Schäfer/Frewer (Hg.),Sterben, S. 88–92.

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seiner Bestattung.47 Die Vorstellung potentieller Altersleiden – aus sozialer und körperlicher Sicht – belastet den Probanden allerdings merklich, wie besonders folgende Äußerung zeigt: Ich bin mit dem Gedanken auch, äh, dass der Tod da ist und d‘ bin ich vollkommen, ich bin vollkommen fertig damit, ne. – Also ich hab keine Angst mehr vorm Sterben. Das einzigste, was [ich] wie jeder andere ja auch vermeiden möchte: Siechtum mal, ne. Ich seh’ das ja nun immer in diesen vielen Altenheimen. Und wenn ich dann da hinkomme, also –.

Bei der Analyse ergaben sich Zweifel, ob es angesichts der epistemologischen Herausforderung, die der Tod grundsätzlich darstellt, möglich sein könne, mit dem Tod ganz fertig zu werden. Das Sterben-Müssen aber liegt innerhalb des menschlichen Erfahrungshorizontes. Und der Proband hat – besonders bei seinen häufigen Besuchen in Altenheimen – eine sehr konkrete Vorstellung davon gewonnen, welches Leid mit dem Sterbeprozess verbunden sein kann. Davor fürchtet er sich und bezeichnet das mit dem Ausdruck /Siechtum/. Seine musikalisch-sozialen Aktivitäten deutet der Proband später als vorbeugendes Mittel zum längeren Erhalt der Gesundheit im Alter. Im Verlauf des Interviews kommt Herr Grün auf einen – neben der Feuerbestattung – zweiten Wunsch von dem, was nach seinem Tod geschehen solle, zu sprechen, und zwar im Zusammenhang mit einer Schilderung seiner gesicherten Lebensumstände und seines angenehmen Lebensstils. Von dieser Basis aus fällt es Herrn Grün – wie er berichtet – leicht, andere Menschen aufzusuchen und sie mit seiner Musik zu beschenken. Immer freitags fährt er mit seinem Akkordeon in ein Altenheim. Und denn seh‘ ich das, wenn ich dann jetzt – äh, Wunschkonzert mache, [wird vorher] das Programm rausgegeben, da sind ungefähr so fünfzig Titel drauf. [Mit brüchiger Stimme:] ‚Oh, spieln sie doch mal hier: Ich weiß nicht was soll es bedeuten, Herr Grün!‘ Dann spiel ich das, ne. Und wenn ich dann sehe: Oh, ja, da’, toll! – Mehr wert als hundert Euro. Für mich, ne. […] Das ist an sich so – also die Lebensauffassung. Und, äh, ich hab mir gedacht, wenn ‘n Spruch in die Zeitung kommen sollte, für mich, für meine – Todesanzeige –, dann sollte rein: ‚Geben ist seliger als Nehmen.‘ Das wär mein, äh, d’ Wunsch, dass dieser Spruch reinkommt.

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Indifferenz gegenüber einer möglichen Trauerfeier gibt der Befragte folgendermaßen zu verstehen: „Ja, die Trauerfeier? – Über die Zusammensetzung der Gäste und so weiter mach ich mir auch keine Gedanken, das überlass ich meiner Frau oder meinen Leutchen, die sich um mein ch, meine Beerdigung kümmern. – Ähm, is mir im Grunde auch ziemlich egal, sag ich Ihnen ehrlich.“

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Dieser Abschnitt stellt insofern den Kern des Interviews dar, als es hier direkt um die Erfahrung des wesentlichen Sinns im Leben des Probanden geht,48 den er quasi als ein Erbe weitergeben möchte, nicht jedoch am Grab, sondern in der Zeitung. Über das Medium //Musik//, welches , für Herrn Grün aber auch und bedeutet, tritt er mit den hochaltrigen Menschen im Pflegeheim in eine sehr empathisch bestimmte Beziehung. Folgt man Werner Fuchs-Heinritz‘ Kategorisierung von kulturellen Strategien, mit der Todesgewissheit umzugehen,49 hätte Herr Grün den Lösungsweg gewählt, sich beim Musizieren dem „metaphysischen Leichtsinn“50 hinzugeben und diesen zu verbreiten. Das Spiel alter Melodien lenkt den Blick in den weiten Raum der Vergangenheit. Durch das Miterleben schöner Gemütsbewegungen fühlt sich der Interviewte bereichert. Vordergründig geht es also um einen ideellen Wert, den für Herrn Grün soziales Handeln bildet und welcher die einzige Aussage zur Vermittlung an die Nachwelt aus Anlass seines Todes motiviert: „Geben ist seliger als Nehmen“. Dem Probanden wird wohl aufgrund seiner religiösen Bildung bewusst sein,51 dass es sich hierbei um einen Bibelspruch handelt: Ein Wort Jesu, das Paulus laut ApG 20,35 den Ältesten von Ephesus als Leitspruch bei seinem Abschied mitgibt, um sie daran zu erinnern, ein Ethos der Zurückhaltung materiellen Gütern gegenüber und der tätigen Unterstützung Schwächerer zu leben. Eben auf dieses Ethos führt die Lebensdeutung von Herrn Grün im Interview immer wieder zurück. Ob der Proband das Jesuswort auch in Hinblick auf einen Transzendenzbezug auslegt, wie es der Begriff /selig/ von seiner religiösen Bedeutung bzw. her impliziert, bleibt im Interview offen. Der Gesprächskontext erlaubt eine Deutung von /selig/ als , und zwar infolge der Wahrnehmung, dass sich im moralisch guten Handeln wesentlicher Sinn konstituiert, der vom Subjekt wie vom Objekt der Handlung erfahren werden kann. Und dieses Gelingen zu erkennen, lässt für

4 8

Zum handlungstheoretischen Verständnis von Sinn in dieser Arbeit und der entsprechenden Konstitution von Sinn vgl. Hans-Josef Wagner, Objektive Hermeneutik und Bildung des Subjekts. Mit einem Text von Ulrich Oevermann: »Die Philosophie von Charles Sanders Peirce als Philosophie der Krise«, Göttingen 2001, S. 14–47. 49 Vgl. Werner Fuchs-Heinritz, Soziologisierung des Todes? Der halbherzige Diskurs des Lebensendes, in: Petra Gehring/Marc Rölli/ Maxine Sabrowski (Hg.), Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute, Darmstadt 2007, S. 15–30, hier S. 26–28. 5 0 Max Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, Zur Ethik und Erkenntnislehre. Bern 1957, S. 28. Vgl. Fuchs-Heinritz, Soziologisierung, S. 27. 51 Der Proband berichtet im Interview von seiner guten Bibelkenntnis.

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das Handlungssubjekt weitere Sinnerfahrung zu. Gebende werden demzufolge glücklicher bzw. erfüllter als Nehmende. Die Deutung des hier nur ausschnittweise dargestellten Interviews hat gezeigt, dass die Frage nach der eigenen Bestattung den Blick des Probanden auf das im Wesentlichen Sinn-Tragende seiner Lebensgeschichte hinführte und so die Konstitution einer tragfähigen Kernbiografie beim Erzählen ermöglichte.52 Die Dynamik der späten Moderne zeigte sich dabei als ambivalente Einflussgröße. Während einerseits die Freiheit gegenüber traditionellen Vorschriften positiv aufgenommen wurde, war andererseits eine unzufriedene Unsicherheit bezüglich der weiteren sozio-kulturellen Entwicklung des persönlichen Umfeldes wie der deutschen Gesellschaft insgesamt erkennbar. Leerstellen blieben insbesondere hinsichtlich der Deutung von Geburt und Tod, die darauf zurückgeführt werden können, dass wissenschaftliche Theorien hier kaum tragfähige Antworten anzuleiten vermögen und religiöse Mythen angesichts von Multioptionalität unglaubwürdig geworden sind.53 Umso notwendiger scheint es, dass die Kirchen sich bei der Überarbeitung von Bestattungsagenden des eigenen Grundes bewusst werden und eruieren, welche Zeichen für die alte Botschaft des Evangeliums heute von angemessener Deutlichkeit sein könnten, damit das Bestattungsritual seiner Funktion einer „gesellschaftlich institutionalisierte[n] Form der lebensweltlichen Sinnvergewisserung“54 gerecht werden kann.

Literatur: Gertrud M. Backes/Wolfgang Clemens, Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung, München 32008. Paul. B. Baltes/Jürgen Mittelstrass (Hg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftlicher Entwicklung, Berlin/New York 1992. Karl-Heinrich Bieritz, Bestattungsrituale im Wandel. Tendenzen zu neueren Bestattungsagenden, in: Thomas Klie (Hg.), Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung, Stuttgart 2008. S. 121–157. Astrid Dinter/Hans-Günter Heimbrock/ Kerstin Söderblom (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007, S. 60‒100. 5 2

Zur Funktion von Lebenserzählungen vgl. u.a. Wolfgang Drechsel, Erinnerung: Lebensgeschichte im Alter, in: Klie/Kumlehn/Kunz ( Hg.), Praktische Theologie, S. 207–233. 5 3 Zur Funktion religiöser Mythen im Zusammenhang mit Säkularisierungsprozessen vgl. Ulrich Oevermann/Manuel Franzmann, Strukturelle Religiosität auf dem Weg zur religiösen Indifferenz, in: Manuel Franzmann/ Christel Gärtner/Nicole Köck (Hg.), Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie, Wiesbaden 2006, S. 49–81, hier S. 49–54. 5 4 Ursula Roth, Die Beerdigungsansprache. Argrumente gegen den Tod im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh 2002, S. 386.

„Ich will untern grünen Rasen“ Kristian Flechtner/Michael Haspel (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1998. Marco Frenschkowski, Religionswissenschaft. Deutung des Todes: Trennung von Leib und Seele, in: Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar, S. 15–27. Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004. Wilhelm Gräb, Sinnfragen: Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Güters­ loh 2006. Ders., Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006. Albrecht Grözinger/Georg Pfleiderer (Hg.), „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich 2002. Andreas Kruse/Mike Martin (Hg.), Enzyklopädie der Gerontologie, Bern 2004. Henning Luther, Religion im Alltag. Bausteine einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992. Andreas Motel-Klingebiel/Susanne Wurm/Clemens Tesch-Römer (Hg.), Altern im Wandel. Befunde des Deutschen Alterssurveys (DEAS), Stuttgart 2010. Annette Niederfranke/Gerhard Naegele/Eckart Frahm, Eckart (Hg.), Funkkolleg Altern 1. Die vielen Gesichter des Alterns, Opladen/Wiesbaden 1999. Dies. (Hg.), Funkkolleg Altern 2. Lebenslagen und Lebenswelten, soziale Sicherung und Altenpolitik, Opladen/Wiesbaden 1999. Leopold Rosenmayr, Schöpferisch Altern. Eine Philosophie des Lebens, Wien 2007. Alfred Schütz, Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Frankfurt a.M. 21984. Hans Peter Tews, Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters, in: Ders./Gerhard Naegele (Hg.), Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft – Folgen für die Politik, Opladen 1993, S. 15‒42. Ernst Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 5 (1895), S. 361‒436. Eberhard Winkler, Die Bestattung. II. Zur Praxis der Bestattung, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Michael Meyer-Blanck/Karl-Heinrich Bieritz (Hg.): Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 32003, S. 538–550. Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010.

Abbildungsnachweise: Abbildung 1: Moderne Sepulkralästhetik mit Sinn für Gemeinschaft, Bildrechte Antje Mickan Abbildung 2: Eine gelungene Verbindung von Urnenhain und namentlicher Erinnerung, Bild­ rechte Antje Mickan Abbildung 3: Friedhöfe können Orte der Seelsorge sein, Bildrechte Antje Mickan

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ANNA-MARIA GÖTZ

Projektionen des Diesseits Friedhof, Tod und Weiblichkeit in Europa um 1900 Der Titel der Dissertation Projektionen des Diesseits hat mich zu Beginn der Doktorarbeit bereits als eine vage, unkonkrete Ahnung begleitet. Als eine Ahnung davon, dass Grabfiguren eine Klammer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, also zwischen den Hinterbliebenen und den Verstorbenen, herstellen sollten. Die Bilddokumentation von mehreren Hundert Grabmälern in Städten wie Hamburg, Berlin, München, Wien, Zürich, London, Paris, Lissabon, Genua, Mailand, Maastricht und Traunstein sowie Recherchearbeiten in verschiedenen Friedhofsarchiven haben insgesamt drei Jahre gedauert. In dieser Zeit konkretisierte sich der Titel als Frage, dann als These und letztlich auch als die Antwort auf eine Trauerkultur im 19. Jahrhundert, in der die innere Haltung zum Tod vor allem in einem Motiv materialisiert wurde: dem der vielen Trauernden, jener weiblichen Grabfiguren, die gedenkend und trauernd das bürgerliche Familiengrab zieren sollten. Die Forschungsergebnisse des Promotionsprojekts lassen sich über verschiedene Zugänge zusammenfassen. Zunächst über ein Beispiel, das repräsentativ für die Untersuchung von letztlich über 300 Grabfiguren ist; zudem über die Fragen und Methoden, die sich aus den Untersuchungsobjekten ableiten lassen; über die äußeren Bedingungen, unter denen die weiblichen Grabplastiken etabliert werden konnten; sowie durch einen Querschnitt durch zeitgenössische Mentalitäten und Diskurse, die derartige Bilder sinnstiftend werden ließen.1

Ein Beispiel Auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg liegt die Gemeinschaftsgrabstätte der Familien Brede und Müller, die 1918 eingerichtet wurde (vgl. Abbildung 1–3).2 Der ursprüngliche Entwurf für die Figur geht auf den Bildhauer Heinrich PohlDie Dissertation mit dem Titel Projektionen des Diesseits – Das Phänomen der weiblichen Grabplastiken in Hamburg-Ohlsdorf und Europa um 1900 wurde 2013 an der Universität Hamburg mit Auszeichnung abgeschlossen und ist erschienen unter dem Titel: Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauerkultur um 1900. Köln, Weimar, Wien 2013. Der vorliegende Artikel basiert auf einem Beitrag für die transmortale I im Jahr 2009, der in abgeänderter Form veröffentlicht wurde, vgl. Anna-Maria Götz, Projektionen des Diesseits – Das Phänomen der weiblichen Grabplastiken in Hamburg-Ohlsdorf und Europa um 1900, in: Friedhof und Denkmal (2012) 4/5, S. 13–18. 2 Aufgeführt im Katalog der WMF, 1907, S. 10, Nr. 973, vgl. Barbara Leisner, Heiko K. L. Schulze, Ellen Thormann, Der Hamburger Hauptfriedhof Ohlsdorf, Hamburg 1990, Bd. 2, Kat. Nr. 842. 1

Projektionen des Diesseits

mann zurück – die Ausführung der Galvanoplastik stammt von der WMF aus dem Jahr 1908. Die zeitliche Diskrepanz zwischen Produktion und Aufstellung ist für die Grabgestaltung der Jahrhundertwende nicht unüblich, da viele Zeitgenossen schon zu Lebzeiten das Familiengrab vorsorglich einrichten ließen. Die weibliche Grabplastik steht an einem felsartigen Grabmal aus schwarzem Granit. Der Grabstein ist mit Fundament 2,30 Meter hoch, die Plastik zeigt eine junge Frau in Lebensgröße. Während sie in der linken Hand ein aufgeschlagenes Buch hält, scheint sie mit der rechten das Wort „Ruhestätte“ auf den Grabstein zu schreiben. Sie trägt ein gegürtetes Gewand, eine schlichte, antikisierte Frisur und steht mit dem Rücken zum Weg, so dass für den Betrachtenden kein Blick in ihr Gesicht möglich ist.

1 

Familiengrab Brede/Müller (1918), Grabfigur Heinrich Pohlmann (WMF), Friedhof Ohlsdorf, Hamburg

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182 Anna-Maria Götz

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Familiengrab Brede/Müller (1918), Grabfigur Heinrich Pohlmann (WMF), Friedhof Ohlsdorf, Hamburg

Ikonografisch ist die Figur uneindeutig. Sie lässt sich einerseits christlichreligiös interpretieren, da das aufgeschlagene Buch auf das Buch des Lebens verweist.3 Dabei handelt es sich um die Vorstellung von einem göttlichen Verzeichnis, in dem alle irdischen Taten festgehalten werden, nach denen am Tag des Jüngsten Gerichts über die Seelen der Verstorbenen gerichtet wird. Andererseits kann die Plastik auch als Klio oder Lachesis, also als Muse der Geschichtsschreibung oder als Schicksalsgöttin, gedeutet werden.4 In der griechischen Mythologie wird beiden zugeschrieben, dass sie die Heldentaten verzeichnen und damit die Helden unsterblich machten. Beide Varianten verweisen auf das Lebenswerk der Verstorbenen – die weibliche Grabplastik fungierte dabei als das Medium, welches das Lebenswerk der Verstorbenen als erinnerungswürdig kennzeichnete.

Fragen, Zugänge und Methoden Vergleichbare Inszenierungen und mehrdeutige Motive gab es in der bürgerlichen Grabmalkultur häufig. Sie verkörperten christliche Marienfiguren, mythologische 3

Vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6., gänzlich neubearbeitete u. vermehrte Aufl., Bd. 3, Leipzig 1907, S. 521–523. 4 Vgl. Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, hg. vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Bd. 1 und 2, Kassel 2002, 2005.

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Allegorien, schützende Engel und profane Weiblichkeitsbilder – oder eben auch mehrere dieser Bildtraditionen in nur einer Figur. In kunsthistorischen Untersuchungen wurde bislang der Versuch unternommen, die weiblichen Grabplastiken nach Bildtraditionen zu klassifizieren. Betrachten wir die Trauernden jedoch in ihrer Mehrdeutigkeit, sowie an dem Ort, für den sie konzipiert wurden, und vor dem mentalitätshistorischen Panorama, vor dem der Wunsch nach derartigen Bildern entstehen konnte, dann wird deutlich, dass sie zahlreiche Einblicke in die historische Situation um 1900 geben können. Für eine Untersuchung haben mich daher folgende Fragen interessiert: Warum stellen sich Männer Frauenfiguren aufs Grab, die in der Regel nicht eine konkrete Frau wie die Mutter, Tochter oder Ehefrau zeigen, sondern ein idealisiertes, stereotypes Bild von Weiblichkeit? Welchen Mehrwert hat ein Granitblock mit einer kostspieligen Plastik für einen Toten? Bzw. welchen Mehrwert kann er für die Hinterbliebenen haben? Wie kommt ein Phänomen überhaupt zustande, denn: Die weiblichen Grabplastiken sind durchaus kein Phänomen allein des Hamburger Hauptfriedhofes in Ohlsdorf, sondern sie traten auf zahlreichen europäischen Friedhöfen in Erscheinung und waren neben Jesus-Figuren das häufigste Motiv unter dem figürlichen Grabschmuck um 1900. An diesen Fragen lässt sich bereits erkennen, dass die weibliche Grabplastik als Untersuchungsobjekt das Potenzial hat, weit über den Bereich der Kunstgeschichte hinauszureichen. Ihr Vorkommen und ihre Verbreitung zeigen Berührungspunkte mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Volkskunde und europäischen Ethnologie, der Soziologie, Geschlechterforschung, den Kulturwissenschaften und der Mentalitätengeschichte, so dass ihre Analyse disziplinübergreifende Forschungserkenntnisse bereithält. Die Trauernden sind als Quellenmaterial schwer zu fassen, da es sich um dreidimensionale Objekte im Raum handelt, in denen sich die zeitgenössischen Diskurse, Hierarchien, Sichtweisen und Praktiken eingeschrieben haben. Es handelt sich um Bilder, in denen sich jene inneren, individuellen Vorstellungsbilder materialisiert haben, die sich Menschen von jeher zum Tod und zum Jenseits gemacht haben. Die Geschichtswissenschaften widmen sich seit einigen Jahren wieder verstärkt Bildern als Quellenmaterial. Für die exakte Trennung zwischen Objekt, Bild und Vorstellung fehlte bislang ein transdisziplinäres Instrumentarium.5 Die Herausforderung des Dissertationsprojektes lag also nicht nur in der Quellenanalyse selbst, sondern auch in der Entwicklung eines zuverlässigen Methodenkonzeptes. 5

Der Begriff Bild bzw. Bilder bringt in der deutschen Sprache eine gewisse Unschärfe mit sich. In ihm bündeln sich unter anderem die Bedeutungen von pictura und imago, also von visuellen, materiellen Bildern und Vorstellungsbildern, die z.B. im Englischen durch picture und image begrifflich klarer getrennt sind, vgl. Hans Belting, Vorwort, in: William J. T. Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 7–10.

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Für eine Analyse der vielschichtigen Lesarten der Trauernden ist die Kombination mehrerer disziplinübergreifender Methoden notwendig. Die Objektive Hermeneutik, aus dem Bereich der Soziologie, kann auch für Architektur- und Raumanalysen angewendet werden und ist daher für dreidimensionale Objekte in ihrer Kontextualität besonders geeignet;6 des Weiteren bietet die Ikonologische Analyse, die in der Kunstgeschichte etabliert ist, ein adäquates Fundament, Motive in ihrer ikonografischen Entwicklung zu beleuchten;7 und schließlich die Diskursanalyse, die in den letzten zehn Jahren in den Geisteswissenschaften beinahe überstrapaziert, aber für Bilder und Objekte noch kaum genutzt wurde – sie ermöglicht für die Untersuchung der Trauernden einen grundlegenden Zugang zu den Wechselwirkungen von Mentalitäten, Ritualen und der Materialisierung von Emotionen.

Voraussetzungen für das Phänomen der Trauernden Die Bedingungen, unter denen das Phänomen der weiblichen Grabplastik entstehen konnte, lassen sich in drei Themenbereiche bündeln: Raum, Zeit und Geltungsbewusstsein. Zum Raum: Die grundlegenden Voraussetzungen für Grabstätten mit monumentalem Grabschmuck lagen darin, dass ausreichend Platz zur Verfügung stand. Was auf den ersten Blick banal wirken mag, lässt im europäischen Vergleich eine Systematik erkennen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte es vielerorts zwei Wellen von Friedhofsverlegungen gegeben. Während kurz nach 1800 infolge der Napoleonischen Besatzungen Kirchhöfe vom Inneren der Stadt an den Stadtrand verlegt wurden, sorgten im Laufe des 19. Jahrhunderts neue Hygienediskurse und das zunehmende Bevölkerungswachstum für eine weitere Verlegung der Begräbnisplätze weit vor die Stadt. Hier, an der Peripherie, kam es zum eigentlichen Novum, das Michel Foucault als die Errungenschaft des Bürgertums charakterisierte, nämlich dass jedem „ein Recht auf seinen klei-

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Zur Anwendbarkeit der Objektiven Hermeneutik auf die Wechselwirkungen zwischen Architektur, Rauminszenierung und bürgerlichem Selbstverständnis vgl. Oliver Schmidtke, Das mäzenatische Handeln des Bauherren (Karl Ernst Osthaus bei der Gestaltung seines Wohnhauses „Hohenhof “ in Hagen durch den Architekten Henry van de Velde, in: Ulrich Oevermann, Johannes Süßmann, Christine Tauber (Hg.), Die Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. Untersuchungen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage, Berlin 2007, S. 259–285. 7 Zur Ikonologie allgemein nach Warburg und Panofsky s. Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie (1939), in: Erwin Kaemmerling (Hg.), Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme. Bildende Kunst als Zeichensystem, Bd. 1, Köln 1979, S. 207–225; sowie Martin Warnke, Vier Stichworte, in: ders., Werner Hofmann, Georg Syamken, Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt am Main 1980, S. 53–83.

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nen Kasten für seine kleine persönliche Verwesung“8 zustand. Als weitläufige Areale boten die neuen Begräbnisplätze ausreichend Platz, von den üblichen Schicht- oder Schachtgräbern Abstand zu nehmen und stattdessen für jeden Leichnam – unabhängig von Stand und Herkunft – einen eigenen Grabplatz bereitzuhalten. Gleichzeitig war die Einrichtung der Friedhöfe in vielen Metropolen ein Teil von groß angelegten Stadtplanungsprojekten, so dass Bauräte und Landschaftsarchitekten beauftragt wurden, ästhetische Gestaltungskonzepte für diese großflächigen Nekropolen zu entwickeln.9 Die (ästhetisierten) Anlagen wurden vom Bürgertum als Kulisse und das Grabmal wurde als Bühne genutzt, um das Familienandenken repräsentativ in Szene zu setzen. Eine weitere Bedingung für das Phänomen der Trauernden war die Dauerhaftigkeit des Grabes, also der Aspekt der Zeit. Indem Familiengräber für die Dauer von mehreren Jahrzehnten erworben werden konnten, wurde nun das Aufstellen von Grabschmuck möglich. Auch dieser Aspekt mag banal wirken, aber hier zeigt erst die systematische Analyse von Rauminszenierungen und visueller Kultur einen tief greifenden Wandel in der Bestattungspraxis: In zahlreichen europäischen Städten wurden Zentralfriedhöfe eingerichtet, die – wie eben beschrieben – nicht zentral zum Wohnraum lagen, sondern zentral organisiert wurden. So betrug beispielsweise die Entfernung von jeweils der inneren Stadt zum Cimitero di Staglieno in Genua fünf Kilometer, zum Zentralfriedhof Wien in Simmering sieben Kilometer, zum Hauptfriedhof Ohlsdorf in Hamburg rund acht Kilometer, und zum Süd-WestKirchhof Stahnsdorf in Berlin bis zu 20 Kilometer.10 Die Bestattung oblag vielerorts nicht mehr der Kirche, sondern der Kommune oder Stadtverwaltung. Zum einen war die Verteilung der Grabplätze formal reguliert, zum anderen konnten die Bestattungsklasse und die Ruhefristen bzw. Laufzeiten je nach Bezahlung individuell gewählt werden. Kleine Plaketten und Inschriften an der Seite des Grabsteins trugen zum Beispiel den Schriftzug „auf Friedhofsdauer“ oder „perpétuel“. Sie demonstrierten auf diese Weise das finanzielle Selbstbewusstsein der Grabeigner. Diesem Anspruch musste letztlich auch die Materialität des Grabschmuckes gerecht werden.11 So oszilliert in den 8

Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 7. Aufl., Leipzig 2002, S. 34–46, hier S. 42. 9 Vgl. A. Lode, Bestattungsanlagen, in: Wilhelm Prausnitz (Hg.), Atlas und Lehrbuch der Hygiene mit besonderer Berücksichtigung der Städte-Hygiene, München 1909, S. 614–638; sowie Hamburg und seine Bauten, unter Berücksichtigung der Nachbarstädte Altona und Wandsbek, hg. vom Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg, Hamburg 1890. 10 Vgl. Anna-Maria Götz, Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauerkultur um 1900, Köln, Weimar, Wien 2013, S. 30, 60, 72, 102. 11 Zum soziokulturellen Potenzial von Material und Materialität vgl. Monika Wagner, Materialien als soziale Oberflächen, in: dies., Dietmar Rübel (Hg.), Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002, S. 101–118.

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Grabplastiken aus Marmor, Granit, Bronze oder so genannter unechter Bronze der heimliche Wunsch nach einer intendierten Ewigkeit, die im irdischen Leben verwehrt geblieben war. Diese Sehnsucht nach Ewigkeit wurde durch die Darstellung des Weiblichen bestärkt, da es als Zeichen in zahlreichen Bildtraditionen Eros, Fruchtbarkeit und Neubeginn kumulierte. Die Verbreitung der weiblichen Grabplastiken fällt in eine Zeit, in der das Bürgertum innerhalb der Gesellschaft zur normativen Kraft geworden war und damit ein gewisses Geltungsbewusstsein an den Tag gelegt hatte. Eben diese bürgerlichen Schichten, die ihr Grab um 1900 mit Trauernden schmückten, waren bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts durch Wirtschaft und Mitbestimmungsrechte erstarkt und zeichneten sich durch eine spezifische, materielle Kultur aus: Entsprechend des Bourdieu’schen Habitus eigneten sie sich nicht nur Gebrauchsgegenstände an, sondern auch Gegenstände im Sinne von Statussymbolen und Prestigeobjekten.12 Diese Gegenstände markierten die gesellschaftliche Stellung, den Reichtum, die Bildung, das gesamte bürgerliche Ethos von Arbeit, Fleiß und Integrität – und so ist auch die weibliche Grabplastik als Objekt und Mittel des bürgerlichen Habitus zu lesen.13

Diskurse – das mentalitätshistorische Panorama Mit Hilfe einer diskursanalytischen Untersuchung des Friedhofsraumes und der Bürgerkultur zeigen sich die soziokulturellen Unterschiede zwischen protestantisch, katholisch und calvinistisch geprägten Regionen sowie zwischen monarchisch und republikanisch geprägten Städten. Allen gemeinsam war jedoch ein Grabkult, in dem nicht nur das individuelle Lebenswerk gefeiert, sondern auch Tod und Verlust ästhetisiert wurden. Eingangs wurde bereits erwähnt, dass es ein Charakteristikum der bürgerlichen Grabkultur war, das Grabmal mit einer weiblichen Grabplastik als erinnerungs- oder gedenkwürdig zu inszenieren. Daher lohnt es sich, zwei Aspekte rund um das Phänomen der Trauernden aus mentalitätshistorischer Perspektive genauer zu beleuchten: Zum einen den Einfluss der Aufklärung und die damit einhergehende Ästhetisierung der Grabkultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zum anderen die Bedeutung der Denkmalkultur und des so genannten Denkmalkultes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“, Leçon sur la leçon, 2 Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985 (1982). 13 Einen Überblick über Bandbreite bürgerlicher Ideale bietet Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.

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Zunächst hatten die Ideale der Aufklärung unter der Maxime des „sapere aude“ sowie von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ eine nachhaltige Konsequenz für das Verhältnis von Leben und Tod zueinander. Nicht mehr die göttliche Vorhersehung bestimmte den Wert und Verlauf eines Lebensweges, sondern – im Sinne bürgerlicher Ideale – die wohltemperierte Melange aus tugendhafter Tüchtigkeit, eigenem Willen und gemeinschaftlichem Verantwortungsgefühl. Der Gedanke einer Fügung in eine theozentrische Schicksalhaftigkeit allen Lebens wurde abgelöst von einem aufgeklärten Streben nach Verbesserung und Vervollkommnung des Selbst. Insbesondere das Bildungsbürgertum fand in seiner Antikenbegeisterung adäquate Beispiele der Heldenverehrung und Erinnerungskultur, in der Lebenswerk und Vermächtnis der Verstorbenen im Andenken der Hinterbliebenen gewürdigt wurden. Die bis in die Frühe Neuzeit reichende Vorstellung von einem Tod, der die Lebenden gewaltsam und unerwartet aus dem Leben zu reißen vermochte, verlor zwar nicht gänzlich an Bedeutung, aber an Strahlkraft. „Den Schrecken des Todes, symbolisiert durch ein scheußliches Gerippe, löste die Vorstellung eines friedlich-harmonischen Überganges in das Jenseits ab. Sein Abbild, der Abschiedsschmerz der Hinterbliebenen (und die Trauer) wurden zum selbständigen Motiv der Grabplastik.“14

Parallel zu den Vorstellungen vom Tod veränderten sich somit auch die Darstellungen zum Tod. Todespersonifikationen wie das Knochenskelett oder der Sensenmann waren vor jenem aufgeklärt-bürgerlichen Hintergrund nicht mehr sinnstiftend und neue Sinnbilder begannen sich zu etablieren. Mit Gotthold Ephraim Lessings Werk Wie die Alten den Tod gebildet15, in dem auf den Tod (Thanatos) als Zwillingsbruder des Schlafes (Hypnos) in der griechischen Mythologie verwiesen wurde, fand das Bürgertum ein adäquates Vorbild. In den meisten europäischen Ländern führte die Begeisterung für die Antike und Mythologie zu einer Beschäftigung mit Hypnos-, bzw. ThanatosDarstellungen. Die Vorstellung vom Tod als friedvollem, tiefem Schlaf wurde als beruhigend, besänftigend und tröstlich empfunden. In der bildenden Kunst setzte schon bald eine Modifikation des Motivs des Bruderpaares ein. Die Brüder wurden gewissermaßen zu einer Personalunion verschmolzen, und es verfestigte sich die Darstellung einer Einzelfigur eines jugendlichen Genius mit umgestürz 14

Sibylle Einholz, Die Berliner Bildhauerschule und die Kreuzberger Friedhöfe (1987), zit. n. Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 32. 1 5 Gotthold Ephraim Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet (1769). Neue rechtmäßige Ausg., Leipzig 1858.

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ter Fackel.16 Dieses Motiv wurde in der Grabmalkunst des 19. Jahrhunderts ein weiteres Mal modifiziert, indem es weiblich dargestellt wurde. Die Darstellung von weiblichen Grabplastiken mit gesenkter Fackel, Flügeln und den charakteristischen Pathosformeln der Hypnos-, bzw. Thanatos-Darstellungen unterschieden sich kaum von den männlichen Todesgenien – bis auf die feminin antikisierten Gewänder und die weiblichen Merkmale wie Brüste und betonte Hüften. Hier könnte von einer Art Gendercrossing gesprochen werden. In Bezug auf die Geschlechtscharakter galten Zuschreibungen wie „besänftigend“ und „tröstlich“ um 1800 beiden Geschlechtern – im späteren 19. Jahrhundert jedoch wurden die Geschlechtscharaktere immer detaillierter und vor allem dichotomer ausdifferenziert, so dass dieselben Zuschreibungen nun als spezifisch weiblich aufgefasst wurden. Offenbar mussten die körperliche Darstellung der Plastiken an die aktuellen Geschlechterdiskurse angeglichen werden, um in ihrer Sinnstiftung authentisch sein zu können. Allgemein lässt sich festhalten, dass unter dem Einfluss der Aufklärung eine Sublimierung und Ästhetisierung des Todes einsetzte. Mit Hilfe tröstlicher Sinnbilder wie den Todesgenien rückte das Gedenken an die Toten von den Schrecken des Jenseits auf die erinnernswerten Taten im Diesseits. Der zweite Aspekt, der Verstorbene durch das Grabmal als erinnerungswürdig markierte, ist in der Denkmalkultur selbst zu suchen. Ebenfalls unter dem Einfluss der Aufklärung und der Französischen Revolution begann das Bürgertum, den bürgerlichen Vordenkern und Vorkämpfern Denkmäler im öffentlichen Raum zu widmen. In gewisser Weise handelte es sich bei dieser Denkmalpraxis um eine Assimilation – oder genauer – eine Akkulturation der adeligen und klerikalen Oberschicht, Einzelpersonen wie Monarchen, Feldherren oder Geistlichen ein Denkmal zu setzen. Das Bürgertum schließlich machte sich die Denkmalkultur zu eigen, indem Komitees und Vereine zur Ehrung herausragender Persönlichkeiten gegründet wurden. Auf die Sockel des Bürgerengagements wurden nun beispielsweise Gelehrte, Erfinder oder auch Stifter gehoben und in monumentaler Manier an repräsentativen Plätzen gewürdigt. Das Selbstbewusstsein des Bürgertums begann sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Raum einzuschreiben. Als Nachwirkungen der Revolutionsjahre von 1848/49 wurde nicht nur der Kreis derer, die das Bürgerrecht erwerben konnten, immer größer, sondern auch die Zahl derjenigen, die durch Wahl- und Mitbestimmungsrechte an der politischen Gestaltung des öffentlichen Lebens partizipierten. Mit der Verbreitung imposanter Denkmäler schien der erreichte soziale Status des Bürgertums wie untermauert und unumstößlich. 16

So z.B. als ruhender Todesgenius am Grabmal für Erzherzogin Maria Christina von Antonio Canova (Augustinerkirche Wien, 1789–1805) oder als Todesgenius (1805) von Philipp Jakob Scheffauer.

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Gleichzeitig blühte die monarchische Denkmalkultur im Zuge von Reichsgründungen und personellen Machtwechseln auf. Nicht nur Orte beispielsweise wie die Tiergartenallee in Berlin oder die Ringstraßenbebauung in Wien geben einen Eindruck davon, wie vielgestaltig und aufwendig öffentliche Plätze inszeniert wurden. Auch Rathausfassaden, Marktplätze und Bildungseinrichtungen in weniger urbanen Städten wurden mit Kaiserstatuen oder Protagonisten der regionalen Oberschicht ausstaffiert und lassen erahnen, dass eine mancherorts als „Denkmalinflation“17 und „Denkmalpest“18 verschriene Fülle von Denkmälern die Seh- und Rezeptionsweisen der Zeitgenossen geprägt haben muss. Der Begriff des „sacred gaze“19, den David Morgan der Betrachterhaltung in bestimmten religiösen Kontexten attestiert, lässt sich durchaus auch auf die Denkmalkultur und Inszenierung öffentlicher Räume übertragen. Öffentliche Denkmäler des 19. Jahrhunderts forderten ihrem Publikum in der Regel eine bestimmte Körperhaltung beim Betrachten ab. Standen die Denkmäler auf Sockeln oder Säulen erhöht, musste der Kopf in den Nacken gelegt und nach oben geblickt werden. Diese Körperhaltung vermittelte dem Betrachter das Gefühl, dass der Gegenstand erhaben sei, und Demut dem erblickten Gegenstand gegenüber. Anhöhen, auf denen, oder Sichtachsen, an deren Ende Monumente auf besonders exponierte Weise in Szene gesetzt wurden, verstärkten diesen physischen Eindruck zusätzlich. All diesen Strategien zur Rauminszenierung begegnen wir auch auf den repräsentativen Grabanlagen um 1900. So verwundert es kaum, dass das private, bürgerliche Grabmal an ein Grab-Denkmal erinnert: Es verwies auf ein respektables, bürgerliches Lebenswerk und fungierte zudem als Statussymbol. Dieses Lebenswerk meinte allein die Lebensleistung männlicher Protagonisten. Das bedeutet, dass eine weibliche Grabfigur keineswegs der Hinweis auf die Grabstätte einer verstorbenen Frau war. Vielmehr waren die weiblichen Grabplastiken ein Hinweis darauf, dass es sich an diesem Grabplatz um ein männliches Familienoberhaupt handelte, das mit einem Grabdenkmal als betrauerungswürdig inszeniert wurde. Betrachten wir die weibliche Grabplastik vor dem Hintergrund der bürgerlichen Geschlechterdiskurse, so erscheint die Trauernde wie eine Verkörperung dessen, was im späten 19. Jahrhundert als ideale Weiblichkeit galt. Hundert Jahre zuvor waren zunächst entlang anatomischer und medizinischer Diskur 17

Peter Bloch, Waldemar Grzimek (Hg.), Das klassische Berlin. Die Berliner Bildhauerschule im neunzehnten Jahrhundert. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1978, S. 290. 18 Publizist und Schriftsteller Ferdinand Kürnberger, zit. n. Gerhard Kapner, Skulpturen des 19. Jahrhunderts als Dokumente der Gesellschaftsgeschichte – Eine kultursoziologische Studie am Beispiel einiger Ringstraßendenkmäler in Wien, in Hans-Ernst Mittig, Volker Plagemann, Denkmäler im 19. Jahrhundert. München 1972, S. 9–17, hier S. 9. 19 David Morgan, The Sacred Gaze. Religious Visual Culture in Theory and Practice. Berkeley, Los Angeles, London 2005.

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se Mann und Frau als eigenständige Körper definiert worden, um daraufhin spezifisch männliche und weibliche Geschlechtscharaktere zu entwerfen. Diese Geschlechtermodelle waren dichotom angelegt, um sich gegenseitig dialektisch zu ergänzen.20 In den folgenden Jahrzehnten entstand ein reges Interesse an Erziehungsprogrammen und Anstandsliteratur, welche die dichotomen Geschlechtscharaktere nicht nur berücksichtigten, sondern durch pädagogische Maßnahmen weiter zur Entfaltung bringen sollten, wie z.B. Fechten, Reiten und Bildung für Jungen sowie sittliche Umgangsformen, musische und künstlerische Betätigung für Mädchen. Diese neuen Erziehungsprogramme zogen gleichzeitig eine Neubewertung der Mutterrolle und der Weiblichkeitsideale nach sich. Im Laufe des 19. Jahrhundert wurden die Geschlechterideale immer weiter ausdifferenziert und damit einhergehend Weiblichkeit zunehmend als Mütterlichkeit und der Vervollkommnung des Mannes dienend definiert. Die Rolle des Mannes war in der öffentlichen Arbeitswelt und Geschäftigkeit verankert, seine Gefühlswelt galt als vernunftgeleitet, unruhig, mutig und ehrbar. Das Selbstverständnis idealer, bürgerlicher Männlichkeit zielte auf große Taten, familiäres Vermächtnis und tugendhaftes Ansehen ab – das Selbstverständnis idealer Weiblichkeit hingegen war auf das Ausgleichen von Gefühlen innerhalb der Familie fokussiert. Die Aufgaben der Frau waren dabei die Kindererziehung und Haushaltsführung, ihre Gefühlswelt war geleitet von Liebe, Harmonisierung und Sittlichkeit, wie man meinte. So pointierte Caroline von Dacheröden, die Ehefrau des Gelehrten Wilhelm von Humboldt, im Jahr 1789, was bis weit ins 19. Jahrhundert Bestand haben sollte: „Ein weibliches Dasein wird erst zu etwas, wenn es die Freude, das Glück eines geliebten Mannes ist, [...].“21 Auf der Grundlage zeitgenössischer Anstandsliteratur und Benimmbücher lassen sich Parallelen zwischen weiblichen Grabplastiken und den idealisierenden Diskursen rund um Ehe, Familie oder Erziehung ziehen.22 Das bürgerliche Weiblichkeitsideal sollte artikuliert werden über die empfindsame Liebe, das tiefe Gefühl oder die demütige, aufopfernde Treue. Es scheint seine Verkörperung in der weiblichen Grabplastik gefunden zu haben. Auf die gleiche Weise, wie die Frau also zu Lebzeiten den Mann besänftigen und vervollständigen sollte, barg auch die Trauernde das Versprechen auf Erlösung über den Tod hinaus. 2 0

Vgl. Ute Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“: Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995. 2 1 Zitiert nach Ute Frevert, Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Bürgerinnen und Bürger: Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48, hier S. 39. 2 2 Vgl. ebd. S. 17–48; sowie Karin Schrott, Das normative Korsett. Reglementierungen für Frauen in Gesellschaft und Öffentlichkeit in der deutschsprachigen Anstands- und Benimmliteratur zwischen 1871 und 1914, Würzburg 2005.

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Jenseits der bürgerlichen Geschlechterideale hat die Verbindung von Weiblichkeit und Tod eine Tradition in der westlichen Kultur im Konnex von Eros und Thanatos. Leben und Tod lassen sich sowohl als Gegensatzpaar als auch als sich ergänzendes Prinzip denken: „Death as a man, Death as a woman – paradoxically, the imaginative representation of the end implies a new beginning.“23 Da an die Frau allein lebenszyklisch die Hoffnung auf Werden und Vergehen geknüpft ist, kann in der Kunst das Weibliche die einzig adäquate Kontrahentin des Todes sein. Der unwiderruflichen Endlichkeit des irdischen Daseins wurde über viele Epochen mit einem Bild begegnet, das den Tod zu revidieren vermochte: dem Leben in Gestalt der jungen Frau. Sie vermochte zwar nicht das Sterben zu verhindern, hatte aber das Potenzial, die Negation des Todes zu verkörpern. Bereits mittelalterliche Totentanzdarstellungen zeigen häufig und besonders spannungsreich den Tod und das Mädchen, das plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen wird. Gerade die Darstellung der gesunden, unversehrten jungen Frau verstärkt die Dramatik des frühen Lebensendes. In der Kunst um 1900 erfuhr das Totentanzmotiv im Symbolismus und Jugendstil eine neue Intensität und rückte nun in enge Bildverwandtschaft zum Motiv der Femme fatale. Der kaum veränderten Personifikation des Todes, dem Skelett, wurde nun die Wollust, in Form von Schönheit, Körperlichkeit und vor allem selbstbestimmtem weiblichen Begehren, zur Seite gestellt. Diese Entwicklung lässt sich auch an einigen wenigen Grabinszenierungen der Jahrhundertwende ablesen – allerdings handelt es sich hier um Ausnahmen. Obgleich sich in der südeuropäischen Grabmalkunst mehr solcher drastischer und dramatischer Darstellungen finden lassen als in anderen untersuchten Regionen, sind in der Masse doch die rein sublimen Sinnbilder weiblicher Trauer verbreitet.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Wir begegnen hier dem Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – jenem parallelen Auftreten mehrerer, sich überlappender Zeitfenster, an die verschiedene Diskurse und Wertvorstellungen geknüpft sind.24 Zwar galt die bürgerliche Friedhofs- und Bestattungskultur in vielen Städten um 1900 als modern und zukunftsweisend, das bedeutete allerdings nicht, dass sich die Grabeigner auch für moderne Motive jenseits der Bildtraditionen entschieden. So stellte es keinen Widerspruch dar, dass Auftraggeber die neuartige Grabart Familiengrab 2 3

Karl S. Guthke, The Gender of Death. A cultural History in Art and Literature, Cambridge 1999, S. 148. 24 Ernst Bloch sah die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ symptomatisch für ein gleichzeitiges Auftreten von Fortschrittsbegeisterung und -verweigerung innerhalb der Gesellschaft und damit als ein Charakteristikum der Moderne; vgl. Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935.

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wählten, aber die Grabanlage im Stil des Historismus gestalteten – auch wenn der Historismus in bestimmten Kunstkreisen als überholt galt, da inzwischen wesentlich modernere Stilrichtungen en vogue waren. Ebenso war es möglich, sich bei der Grabplastik für das neuartige Galvanoverfahren zu entscheiden, aber ein konservatives Weiblichkeitsmotiv zu wählen – obgleich die bürgerlichen Geschlechterrollen bereits im Wandel begriffen waren und die Kunst Motive wie das der Femme fatale bereit hielt. Bei der Auseinandersetzung mit historischen Bestattungs- und Trauerdiskursen liegt die Schwierigkeit darin, dass die Diskurse von Akteuren und Akteurinnen geführt wurden, die sich zumeist bereits am Ende ihres Lebens befanden. Diese Personen wurden im Laufe ihres Lebens – also in den Kernjahrzehnten des 19. Jahrhunderts – in Diskursen und Vorstellungswelten sozialisiert, die sich nun um 1900 in den Trauernden niederschlugen – obwohl diese gegebenenfalls bereits als überholt galten. In bürgerlichen Kreisen gab es den Wunsch, sich mit Gegenständen und Räumen zu umgeben, die Rückzug aus dem schnelllebigen Alltag versprachen und gleichzeitig Werte und Orte von Bestand schaffen sollten. Das Interesse am Historischen und Zeitlosen lässt in dieser Zeit auf eine Sehnsucht nach Konstanten schließen. So erscheinen die Säulen an Hausfassaden als historische Stützen in einer dynamisierten Umwelt, Ruinen und Tempel wurden als Rückzugsmomente in den Gärten oder zumindest in Landschaftszimmern auf Tapeten kreiert, die Beschäftigung mit den so genannten alten Sprachen und den schönen Künsten diente als Entschleunigung angesichts wechselnder Moden und Einflüsse.25 Das Grabmal mit einer weiblichen Plastik zu schmücken, die die bürgerlichen Vorstellungen idealer Weiblichkeit konservierte, ist als eine Fortsetzung dieser Praktiken über den Tod hinaus zu verstehen. In der Sepulkralkultur um 1800 hatte bereits das Aufkommen des Hypnos- und Thanatos-Motivs den Wunsch nach Schlaf, Ruhe und Sanftheit angedeutet. Mit den wachsenden vielschichtigen Anforderungen an das bürgerliche Individuum im Laufe des 19. Jahrhunderts war es nun das Bild von idealer Weiblichkeit, das Beruhigung und Ganzheit versprach. So wirkten Bilder von idealer Weiblichkeit entsprechend der bürgerlichen Geschlechtscharaktere als einend und besänftigend. Auf die gleiche Weise, wie die Frau zu Lebzeiten die Familie harmonisieren und den Mann vervollständigen sollte, trat das Weibliche am Grab als Projektionsfläche und Kompensat in Erscheinung. Gleichzeitig gilt in der Geschlechtertheorie das Weibliche als universelle Projektionsfläche für den männlichen Blick, die je nach Bedarf gefüllt, bespielt und vereinheitlicht wird: „Die Frau gilt als das sichtbar Andere, die Frau als Phantasie, als das ewig Fremde, Unerreichbare, die Frau als Zeichen männlichen

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Götz, Trauernde, S. 271–298.

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Begehrens.“26 In Bildern von Weiblichkeit wurde häufig das Phantastische, Unerreichbare angelegt, weil das Weibliche per se nicht als Konstante dargestellt werden konnte. Dieses Charakteristikum ist keineswegs ein Widerspruch zu dem eben vorgestellten Aspekt der Vervollständigung durch die weibliche Figur, denn: Kontinuitätsbrüche und Paradoxa schlugen sich immer dann im Bild der Frau nieder, wenn der Mann sein Fundament der Kontinuitäten dahinschwinden sah und man es deshalb auf die Frau Ganzheits- und Ewigkeitskonzepte projizierte.27 In Form der Trauernden konnte dem zeitgenössischen Symptom der inneren Zerrissenheit mit Bildschöpfungen des Ganzheitlichen und Besänftigenden begegnet werden. Der Tod schien mit den sinnierend-sinnlichen Weiblichkeitsbildern gemildert.

Abschluss Berücksichtigen wir im eingangs vorgestellten Beispiel – der Schreibenden von Heinrich Pohlmann – nicht nur die ikonografischen Bildtraditionen, sondern auch die sozial- und geschlechtsspezifischen Kontexte, kann diese Figur nicht nur christlich oder mythologisch gedeutet werden, sondern auch rein lebensweltlich. Das Erscheinungsbild dieses Grabschmucks ist weit entfernt von den Schrecken des Todes, von denen die Grabmalkunst bis in die Frühe Neuzeit mit ihren Totenköpfen, Skeletten oder Stundengläsern bestimmt war. Stattdessen wurde sie auf der Grabstätte in Szene gesetzt wie eine Allegorie auf einem öffentlichen Denkmal. Sie machte aus dem Grabmal ein Grab-Denkmal. Ihre physische Präsenz und Materialität demonstrierte das Dauerhafte, Bleibende, selbst wenn alle Trauernden das Grab und den Friedhof längst verlassen hatten. Des Weiteren markierte sie tröstlich die Grabstätte als „Ruhestätte“ der Toten. Die Trauernde schien sich fürsorglich den geliebten Verstorbenen und ihrem Andenken zu widmen. Sie ist also Allegorie und Symbol zugleich – sie ist Sinnbild und Zeichen für die Trauer. Hier lohnt abschließend ein Blick zurück in die Trauerkultur vor dem Aufkommen der weiblichen Grabplastik. Wie gestaltete sich das Gedenken an die Verstorbenen bis in die Frühe Neuzeit und noch vor dem bürgerlichen Zeitalter? In der christlich, religiös-motivierten Trauerkultur wurde das Seelenheil der Toten im Jenseits vorrangig durch Gebete und Fürbitten geleistet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts zeigte sich eine Umorientierung. Die Trauer der Hinterblie 2 6

Griselda Pollock, Frau als Zeichen. Psychoanalytische Lektüren, in: Beate Söntgen (Hg.), Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, Berlin 1996, S. 115–161, hier S. 166. 27 Vgl. Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994; sowie den Sammelband von Renate Berger, Inge Stephan (Hg.), Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln, Wien 1987.

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benen bezog sich nun weniger auf das Jenseits, sondern auf das Lebenswerk der Verstorbenen. Das Grabmal wurde dabei zum Projektionsobjekt gegenüber einer bewundernden Nachwelt im Hier und Jetzt – auf diese Weise rückte der Bezugspunkt der Trauer vom Jenseits ins Diesseits. Die Bandbreite der Grabinszenierungen des 19. Jahrhunderts erweckt den Eindruck, dass es im Zuge dieser mentalitätshistorischen Entwicklung zu einer Art Bildvakuum gekommen ist. Frühere Bildtraditionen wie der Totenschädel oder der Sensenmann waren nun nicht mehr wirkmächtig und verloren ihre Sinnstiftung. Diese Lücke schloss das Motiv der Trauernden, indem es tröstlich, sinnierend bis teils sinnlich eine Projektionsfläche für eine zunehmend diesseitsorientierte Erinnerungskultur bot.

Literatur: Belting, Hans, Vorwort, in: William J. T. Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der Visuellen Kultur, München 2008, S. 7–10. Berger, Renate; Stephan, Inge (Hg.), Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln, Wien 1987. Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935. Bloch, Peter; Grzimek, Waldemar (Hg.), Das klassische Berlin. Die Berliner Bildhauerschule im neunzehnten Jahrhundert, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1978. Bourdieu, Pierre, Sozialer Raum und „Klassen“, Leçon sur la leçon, 2 Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985 (1982). Bronfen, Elisabeth, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994. Fischer, Norbert, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 1996. Foucault, Michel, Andere Räume, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 7. Aufl., Leipzig 2002. Frevert, Ute, „Mann und Weib, und Weib und Mann“: Geschlechter-Differenzen in der Mo­ derne, München 1995. Dies., Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Bürgerinnen und Bürger: Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48. Götz, Anna-Maria, Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauerkultur um 1900, Köln, Weimar, Wien 2013. Dies., Projektionen des Diesseits – Das Phänomen der weiblichen Grabplastiken in Hamburg-Ohlsdorf und Europa um 1900, in: Friedhof und Denkmal (2012) 4/5, S. 13–18. Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, hg. vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel, Bd. 1 und 2, Kassel 2002, 2005. Hamburg und seine Bauten, unter Berücksichtigung der Nachbarstädte Altona und Wandsbek, hg. vom Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg, Hamburg 1890.

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Abbildungsnachweise: Abbildungen 1–3: Familiengrab Brede/Müller (1918), Grabfigur Heinrich Pohlmann (WMF), Friedhof Ohlsdorf, Hamburg, Bildrechte: Anna-Maria Götz.

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Atem Holen Szenen vom ‚Ende des Lebens‘ im Tanztheater

Sacre – das Ende des schönen Tanzens Zu einer Zeit, in der eine Kriegsvergangenheit aus Schutt und Asche die blendende Illusion der ewig währenden Wirtschaftswunderjahre durch die einsetzende Ölkrise und das schlagartige Ende des Nachkriegsbooms in Deutschland eingeholt hatte, avancierte die Tänzerin und Choreografin Pina Bausch im konservativen Wuppertal mit ihrem 1973 gegründeten Ensemble vom Enfant terrible zur Pionierin des deutschen Tanztheaters.1 In Wuppertal stieß sie auf ein Publikum, das es gewohnt war romantische Ballettgeschichten auf der Bühne zu sehen und mit der künstlerischen Verarbeitung von Alltagsthemen nicht vertraut war. Hier entstand 1975 Bauschs berühmte Choreografie Le Sacre du Printemps. Dieses Tanzstück greift musikalisch und thematisch zurück auf ein Ballett, das bereits am Premierenabend als avantgardistischer Skandal in die Tanzgeschichte eingegangen ist. Das 40 Minuten dauernde Stück Le Sacre du Printemps ist am 25. Mai 1913 in Paris im Théâtre des Champs-Élysées als Choreografie von Vaslav Nijinsky und Komposition von Igor Strawinsky für die Tanzgruppe Ballets Russes uraufgeführt worden. Mit einer archaischen Handlung postulierten Nijinsky und Strawinsky ihre künstlerische Verabschiedung von einer Bühnensprache, 1

Der Begriff Tanztheater wird in der Tanzforschung zweierlei verwendet. Zum einen bezeichnet Tanztheater eine Sparte, die im Rahmen des Dreispartensystems der Staatsund Stadttheater vom Sprechtheater und Musiktheater unterschieden wird. Zum anderen markiert der Begriff einen paradigmatischen Wechsel im Bereich des Bühnentanzes: Als deutsches Tanztheater, das sich in den 1960er und 70er Jahren mit prominenten Vertretern wie Pina Bausch, Reinhild Hoffmann, Susanne Linke, Gerhard Bohner oder Johann Kresnik in der ehemaligen BRD an Stadttheatern entwickelt hat. Mit Alltagselementen und den theatralen Mitteln aller Bühnensparten und die Tanztradition des modernen Tanzes verwendend, setzte sich das deutsche Tanztheater radikal von Inhalt, Formensprache und Bewegungsgenerierung vom akademischen klassischen Tanz, wie er in Balletten wie dem Schwanensee zelebriert wird, ab. Vgl. hierzu Publikationen wie Norbert Servos, V. Tanztheater. 1. Definition und theoretische Grundlagen, S. 355–359, sowie den Artikel „Tanz“, in: Ludwig Finscher (Hg.), Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil, Bd. 9, Kassel, Stuttgart 1998, S. 288–408, oder Susanne Schlicher, TanzTheater. Traditionen und Freiheiten, Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke, Reinbek bei Hamburg 1987. Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, der auf der transmortale V (15. März 2014) gehalten wurde.

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die sich ausschließlich der besänftigenden Harmonie von Klängen und Bewegungen gewidmet hatte: dem klassischen Ballett und seinen narrativen Stoffen aus dem 19. Jahrhundert. In der Tanz- und Musikrezeption gilt dieser Ur-Sacre heute als geniales Skandalstück und mitunter als eine künstlerische Vorahnung, die auf den „Bruch mit der ästhetischen Tradition des Tanzes auf schwelende Konflikte in der Gesellschaft 1913, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs“2 verweist: Eine Dorfgemeinschaft, bestehend aus Frauen, Männern und einem Rat von weisen Greisen, führt im Frühling ein archaisches Fruchtbarkeitsritual zur Rettung der Erde durch, das mit der Selbst-Opferung eines auserwählten jungen Mädchens seinen Höhepunkt erreichte. Das Ritual ereignet sich in folgendem Szenenverlauf: In einem monotonen Reigen junger Frauen wird eine der Tänzerinnen stolpern. Zunächst fast unbemerkt, dann mit fataler Konsequenz. Ihr zweites Stolpern im Kreistanz leitet als ‚Fehltritt‘ das Ende des Stücks ein – sie muss sich als Erwählte wie eine Besessene zu Tode tanzen.3 In Nijinskys Choreografie4 ist dies mit einem Sprung in den Genickbruch visualisiert. Die Tänzerin steht dabei in der Mitte des Kreises und springt mehrfach wiederholt mit beiden Füßen vom Boden. Ihr Kopf ist in dieser Haltung seitlich geneigt und ihr Hals derart gebeugt, dass hier die Assoziation einer Bewegung entsteht, die an das Erhängen durch einen Strick erinnert. Zu Tode getanzt, wird das Opfer von den um sie wartenden Tanzenden Frauen abtransportiert. Als skandalös galt vor allem die in radikaler Form gestaltete Loslösung vom klassischen akademischen, Virtuosität zelebrierenden Ballettvokabular: eckige, polyrhythmische, nicht filigrane Körperlinien der Arme und stampfende Beinbewegungen von unbeholfen („clumsy“) wirkenden Tänzerinnen und animalisch („bestial“) aussehenden Tänzern5. Die Gesichtszüge waren überzeichnet geschminkt, die 2

Gabriele Brandstetter, Le Sacre du Printemps 1913/2013, in: Raphael Gygax (Hg.), Sacre 101. An Anthology on „The Rite of Spring“, Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich 2014, S. 149–161, hier S. 153f. 3 Nijinsky entwickelte den Tanz des Opfers mit seiner Schwester Bronislava Nijinska, die sich an die ersten Proben erinnert: „I felt that my body must draw into itself, must absorb the fury of the hurricane. Strong, brusque, spontaneus movements seemed to fight the elements [...]. The Chosen Maiden danced as if possessed, as she must until her frenied dance in the primitive sacrficial ritual kills her.“ Bronislava Nijinska, Early Memoirs, übersetzt u. hrsg. v. Irina Nijinska und Jean Rawlinson, Durham und London 1992, S. 450. 4 Eine Aufzeichnung der Bewegungen von Nijinskys Schrittmaterial war nur in Fragmenten überliefert. Seit 1987 ist der Ur-Sacre, wenn diese Bezeichnung heute überhaupt noch verwendet werden kann, in der bisher einmaligen Rekonstruktion von Millicent Hodson und Kenneth Archer im Repertoire des Jofferey Ballets sowie anderen (klassischen!) BallettKompanien. Einen Kommentar zur eigenen Rekonstruktionsgeschichte veröffentlichte Hodson unter dem Titel Nijinsky’s crime against grace. Reconstruction score of the original choreography for „Le sacre du printemps“, Stuyvesant (NY) 1996. 5 Nijinska, Early Memoirs, S. 459.

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Kostüme erinnerten an das Bilderrepertoire der Naiven Malerei, das ein (vermeintlich) heidnisches Russland widerspiegeln soll. Mit seinem „crime against grace“6 und der Präsentation des Unerhörten, einem rohen Primitivismus mit Todestanz, markierte Nijinskys Sacre als Schlüsselwerk der Moderne den Beginn einer künstlerischen Avantgardebewegung. Die Auswirkungen reichen bis in die heutige Zeit und werden von Kunstschaffenden in zahlreichen Interpretationen aufgegriffen und von Forschenden neu kommentiert.7 Für die Reflexion von einer möglichen Darstellung und Wirkung des ‚Ende des Lebens‘ auf der Bühne können folgende Überlegungen relevant sein: In den darstellenden Künsten geht es auch darum, Figuren, Themen oder Stationen des Lebens möglichst ‚authentisch‘ zu verkörpern. Einige Schauspieltechniken unterstützen dies durch ein Hineinversetzen oder Zurückversetzen in erlebte oder vorgestellte Empfindungen, andere setzen auf den mimetischen Nachvollzug von Gesten der darzustellenden Figur, in denen Erleben und Ausdruck der Rollen miteinander verbunden werden.8 Wie gehen Darstellende aber mit der szenischen Umsetzung einer Station des Lebens um, die sich jeder Reflexion von ‚eigener‘ Erfahrung entzieht? Auf welche Weise kann mit der Anweisung ‚Sterben‘ stilisiert in Bewegung umzusetzen, ein für das Publikum glaubhafter, da überzeugender, szenischer Tod vermittelt werden? Ein Tod, der sich beobachten lässt und affiziert – obwohl die Sterbenden offensichtlich am Leben bleiben? In keinem Fall durch den Tanz, antwortete der Dirigent Daniel Barenboim laut Aussage der belgischen Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker auf ihre Nachfrage.9 Das Duett 3Abschied (2008) mit dem Tänzer und Choreografen Jérôme Bel zu Gustav Mahlers Komposition 6

Hodson, Nijinsky’s crime against grace. Die im Rahmen des Sacre-Jahres 2013 weltweit veranstalteten Tagungen, Symposien und Aufführungen von Neuproduktionen haben die Interpretationsgeschichte des Sacre in zahlreichen Publikationen mit Texten viel rezipierter Sacre-Forscher nachgezeichnet. Genannt sei hier die letzte große in Deutschland gehaltene Tagung: Tanz über Gräben – 100 Jahre „Le Sacre du Printemps“, veranstaltet von dem Zentrum für Bewegungsforschung (Gabriele Brandstetter) an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes und dem Radialsystem V vom 17.–19.11.2013. Der Katalog Sacre 101. An Anthology on „The Rite of Spring“ (2014) hrsg. v. Raphael Gygax und dem Migros Museum für Gegenwartskunst enthält eine Auflistung aller rezipierten Sacre-Inszenierungen zwischen 1913 und 2013. 8 Etwa beim Method Acting, das u.a. auf die Spieltheorie des russischen Regisseurs und Schauspiellehrers Konstantin Sergejewitsch Stanislawskis (1863–1938) zurückgeht: „Wir müssen unseren Körper, seine Bewegungen und alles, womit wir unser Erleben offenbaren können, so weit ausbilden, dass jede Emotion instinktiv, schnell und anschaulich gestaltet wird.“, in: Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Teil II, Berlin 1996, S. 347. 9 Diese Anekdote erzählte Anne Teresa de Keersmaeker zu Beginn des Stücks 3Abschied, dessen Aufführung die Verfasserin am 7.5.2011 in Hellerau besucht hatte. 7

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Lied von der Erde entstand letztlich ohne Segen und Mitwirken des bekannten Dirigenten. Mit schwach hauchender, fast verstummender Stimme versucht de Keermaeker in 3Abschied den traurigen sinfonischen Liederzyklus Mahlers zu singen, dessen sechster Teil mit „Der Abschied“ das Lied von der Erde beendet. Barenboims Ablehnung, die Kunstform Tanz als geeignetes theatrales Mittel für den performativen Abschied aus dem Leben anzuerkennen, ist zunächst nachvollziehbar. Ein Blick zurück an die Anfänge der europäischen Ballettgeschichte, und von diesen querfeldein (jenseits Europas) in die Gegenwart weist aber erstaunlich variantenreiche Bezüge zwischen Tanz und Tod auf. Die Spanne reicht dabei von mittelalterlichen Totentänzen über schwebende Elementargeister im 19. Jahrhundert, zu Walt Disneys Skeleton Dance (1926), zum Totentanz (1926) der Ausdruckstänzerin Mary Wigman, zu Rekonstruktionen des künstlerischen Schaffens im Butoh-Tanz (1940er), über Michael Jacksons Werwolftanz in Thriller (1980) bis hin zu aktuellen Performances.10 Womit begründet sich diese für den Bühnentanz so fruchtbare Verbindung von Tanz und Tod? Tanz als eigenständige Bühnenform, als Genre, dem im Rahmen des Opernbetriebs eine abendfüllende Daseinsberechtigung gewährt wird, existiert in der westeuropäischen Kunst- und Kulturgeschichte erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts – dem Zeitalter der Romantik; in dieser Epoche ist das gemeinsame Sterben oder das Fliehen aus Alptraumräumen in halluzinatorische Tagträume in Literatur und Musik zelebriert worden.

Bedrohlich untote, schwebende Ballerinen

In der 1831 von Giacomo Meyerbeer komponierten Oper Robert le Diable11 fallen gleich zwei Topoi des Themas der transmortale, „Sterben, Tod und Trauer“, zusammen: Bewegungen mit und zwischen Leben und Sterben in Räumen, in denen Tod (in Form von menschlicher Reglosigkeit) dargestellt wird, und in Räumen, in denen Lebendigkeit (in Form von menschlicher Bewegung) verhandelt wird. In Robert le Diable gestaltet ein Ballettdivertissement den zweiten Akt. Es ist das Nonnenballett,12 in dem Tänzerinnen in weißen Gewändern aus Gräbern auf 10

Eindrückliche Formen dieser Verknüpfung waren vom 25.5.–8.9.2013 im Museum für Sepulkralkultur in Kassel in der bilderreichen Ausstellung Tanz & Tod aus- und in gleichnamigem Katalog zusammengestellt worden. 11 Robert le Diable, Uraufführung (UA): 21. November 1831, Musik (M): Giacomo Meyerbeer, Libretto (L): Eugène Scribe, Germain Delavigne, Choreografie (C): Philippe Taglioni. 12 Choreografiert von Philippe Taglioni, mit der Hauptrolle der Äbtissin Helena für seine Tochter und Tänzerin Marie Taglioni, der Wegbereiterin des Spitzentanzes. In der Tanzforschung im Besonderen aufbereitet worden ist das Nonnenballett durch diese Publikation: Ann Hutchinson Guest, Knud Arne Jürgensen: Robert le diable. The Ballet of the Nuns, Language of Dance Series No. 7, Amsterdam 1997.

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erstehende Nonnen darstellen. Angestiftet vom Teufel Bertram (Roberts Vater) sollen sie Robert auf dem Friedhof des von der Äbtissin Helena bewachten Kloster (einst Stätte ausschweifender Tänze) mit ihrem Tanz verführen, um „einen magischen Zweig vom Grabmal der heiligen Rosalie“13 zu stehlen. Mittels Bühnenlicht durch Gaslampen leuchteten ihre tanzenden Körper und verwandelten sich vor den Augen der Zuschauer zu schwebenden Fluggeistern. Die Begeisterung der Zuschauer für diese untoten Nonnen sorgte für die Popularität des Romantischen Balletts, so dass die schwebende Ballerina in weißem Tüll bis heute als Sinnbild des Klassischen Balletts gilt. Ein Jahr nach dem Nonnen-Divertissement feierte das Ballett La Sylphide (1832)14 Premiere – der erste Elementargeist15 Heinrich Heines, der auf der Bühne tanzt und stirbt. Das Ende des Lebens der Sylphide setzt ein, sobald sie ein lebender, sie liebender Mensch für sich behalten will: Sie verliert die Schwebe-Flügelchen, die am Rücken der Tänzerin befestigt und das sinnbildliche Zeichen ihrer Flugkraft sind. Zehn Jahre später treten die wohl berühmtesten Untoten der Ballettgeschichte auf die Bühne: Die Willis. Sie erscheinen im Romantischen Handlungsballett par excellence: Giselle ou les Wilis (1841).16 Das Bauernmädchen Giselle stirbt infolge der vorgetäuschten Liebe eines Adligen an gebrochenem Herzen. Fortan muss sie ihr Dasein mit anderen ungeliebten Bräuten – den untoten Willis – und deren Königin Myrtha im Wald fristen. Der Todesraum, zu dem die Willis den Wald erkoren haben, zwingt jeden männlichen Eindringling, sich zu Tode zu tanzen. Heines Elementargeister und Theophile Gautiers Willi-Giselle können als Versinnbildlichung für die romantische Faszination am (weiblichen) Tod17 gelesen werden: Im Sterben verlieren diese Elementargeister entweder die Fähigkeit zu schweben, werden menschlich und sind tot, wie die Sylphide; oder sie erlangen 13

Vgl. Guest, Robert le diable, S. 29f. La Sylphide: (UA): Paris 12.3.1832, (CH): Filippo Taglioni, (M): Jean Schneitzhoeffer. Seit La Sylphide und angeregt durch die Nonnen aus Robert le Diable spricht man von so genannten Ballet Blancs. Damit ist der jeweils weiße Akt eines Ballettes genannt, in dem die Tänzerinnen in Mondscheinlichtungen oder anderen Lichtspielen überirdischer Räume ein Schweben über die Bühne suggerieren. 15 Heinrich Heine, Elementargeister (1834), in: Heines Sämtliche Werke, Band 6, hrsg. v. Julius Zeitler, Leipzig 1969, S. 1–74. 16 Giselle ou le Wilis: (UA): Paris 28.6.1841, (CH): Jean Coralli, Jules Perrot, (M): Adolphe Adam, (L): Théophile Gautier und Jules Henri Vernoy Marquis de Saint-Georges. 17 Das Thema Weiblichkeit und Tod greift vor allem Elisabeth Bronfen in ihrer Studie Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, [1992, Manchester] München 1994, auf. In dieser Untersuchung stellt sie anhand von Werken aus Literatur und bildender Kunst, in denen sich (männliche) Künstler über den Körper der Frau mit der Schwelle zwischen Leben und Tod befasst haben, unter anderem die These auf, dass die Verknüpfung von „Weiblichkeit und Tod [...] als Abwesenheit“, als „Grund und Fluchtpunkt unseres kulturellen Repräsentationssystems“ verstanden werden muss. Ebd., S. 623. 14

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wie Giselle die Fähigkeit zu schweben, nachdem sie das ‚menschliche‘ Leben verlieren mussten. Das Schweben im romantischen Ballett Giselle markiert dabei eine brisante Grenze: Es ist die Schwelle, auf der mit improvisatorischen Tanzelementen inneren Motivationen Ausdruck verliehen wird, um den Übergang aus dem Dorf-Leben in den Todes-Wald zu gestalten. Giselle taumelt, stolpert zum Ende des ersten Akts; zu Beginn des zweiten ist sie in einen untoten Geister-Willi verwandelt. Durch den Tanz, in Form eines Stolperns, Taumelns, findet auf der Bühne die theatrale Ankündigung der Transformation einer Lebenden in eine nicht ruhende und daher bedrohliche Tote statt. Diese bedrohlichen Toten, die Tanzgeschichte schrieben, sind: „ … Bräute, die vor der Hochzeit gestorben sind. Die armen jungen Geschöpfe können nicht im Grabe ruhig liegen, in ihren toten Herzen, in ihren toten Füßen blieb noch jene Tanzlust, die sie im Leben nicht befriedigen konnten, und um Mitternacht steigen sie hervor, versammeln sich truppenweis an den Heerstraßen, und wehe dem jungen Menschen, der ihnen da begegnet!“18

An diesen tanzenden Willis zeigt sich letztlich eine theatrale „Konstruktion von Räumen“, Todesräumen, mittels derer wiederum „romantische Topoi literarischer Räume inszeniert werden.“19

Atmen – Bühnenbewegung für das lebendige Sterben Atmen bedeutet Luft verschieben, und genau dies praktizieren Lebewesen mit ihrem Körper, wenn sie sich ‚lebend‘ durch Zeit und Raum bewegen. Im Atmen beziehungsweise dem Atemholen steckt – und hier verbinden sich die Begriffe Sterben, Tod und Trauer – eine Bewegung, die sich durch Wiederholung auszeichnet: durch das Auf und Ab des Brustkorbs, durch das erneute Luftverschieben, bei dem es manchmal zum Stolpern und neu ‚Fangen‘ (wie etwa beim Husten) kommt. So könnte man den Fehltritt der Auserwählten in Nijinskys Sacre auch mit dem Stolpern beim Atmen assoziieren. Tänzerinnen und Tänzer brauchen eine besondere Atemtechnik, um choreografische Bewegungsläufe, die ein verändertes Luftverschieben erfordern, auszuführen. Die Darstellung vom ‚Ende des Lebens‘ kann entsprechend als das ‚Ende des Atmens‘ verstanden werden – möglicherweise war es diese Vorstellung, die Barenboim mit der Umsetzung von Sterben durch Tanzen bedrohlich und somit unerhört erschien. 18 19

Heine, Elementargeister, S. 14. Gabriele Brandstetter, Tanz der Elementargeister. Der Mythos des romantischen Balletts, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller, Souvenirs de Taglioni. Band 2: Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München 2007, S. 195–212, hier S. 196.

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Tänzerische Bewegung kann keine Figur, kein fixierbares Porträt oder Abbild von Toten, Sterbenden oder Trauerden ‚zeichnen‘, wie etwa die Bildende Kunst. Um das Ende des Lebens tanzen zu können, bedarf es einer Form von Gestik und Mimik, die sich in Figurationen zeigt und eine Differenzierung zwischen Körper, Gesicht und Maske verlangt. Folgt man dem Kunsttheoretiker Hans Belting und seinen Überlegungen zum Gesicht und dessen Lebendigkeit, hat nur dieses „eine offene, die Maske aber eine geschlossene Form, was heißt, dass nur die Maske auf Dauer repräsentieren kann, was ein Gesicht ist, während ein Gesicht niemals zur Ruhe kommt und deshalb nicht auf den Begriff zu bringen ist.“20 Die starre Bewegung des Frühlingsopfers beim Sprung in den Genickbruch in dem Ballett Le Sacre du printemps ließe sich mit Belting als eine Art Körpermaske verstehen, die nur durch den Moment der Starre das Unbelebte und Unbewegliche des Todes vermitteln kann. In der Technik des klassischen akademischen Tanzes ist das Atmen auf den Brustkorb konzentriert und derart einstudiert, dass dem Zuschauer so wenige Atembewegungen wie möglich vermittelt werden sollten. Tänzer und Tänzerinnen sollen sich in Balletten wie Giselle mit einer Leichtigkeit bewegen, die nicht nur Schwerelosigkeit, sondern auch übermenschliches ‚Nicht-atmen-Müssen‘ suggeriert. Das Atmen und Schwitzen der Tanzenden ist meist trotz höchster körperlicher Anstrengungen für die Zuschauer kaum wahrnehmbar. Für Figuren wie die untoten Willis eignet sich diese Form der Umsetzung, das Tanzen ohne sichtbares Atmen, besonders. Im Gegensatz zu den Szenen im Handlungsballett thematisierten Künstlerinnen und Künstler im Ausdruckstanz den Atem, im Tanztheater wurde das ‚angestrengte‘ Atmen während des Tanzens sogar hervorgehoben und für die Zuschauer hörbar. Wie ließe sich ein dezidiert sichtbarer Atem in Bezug auf die Darstellung von Sterben, Tod und Trauer einordnen? „In der aktiven Bewegung meines Arms stelle ich den Schmerz dar, und in diesem Sinne ist es gemeint, dass ich etwas durch meine Geste ausdrücke,“21 schreibt Vilém Flusser, wenn er sich der fast utopischen Aufgabe einer „Theorie der Geste“ widmet. Flusser geht es darin weniger um die Bestimmung ihrer Formen, als vielmehr darum, sich den dahinter verbergenden Stimmungen anzunähern.22 In diesem Sinne spricht er von einer „‚Gestimmtheit‘ die symbolische Darstellung von Stimmungen durch Gesten ist“23. Doch welcher Begriff trifft das Darstellen und Zeigen einer letzten (Atem-)Bewegung im Leben? Einer Geste des Sterbens widmet sich 2 0

Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013, S. 120. Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, 2. Aufl., Bensheim 1993, S. 12. 2 2 Ebd., S. 13. 2 3 Flusser, Gesten, S. 12. Die Begriffsbestimmung der Geste ist im Tanz nicht gelöst. Sind es Gesten, wenn Körperteile ‚sprechen‘? Oder Gebärden, wenn vielleicht der gesamte Körper spricht? Dem Begriff der Geste im allgemeinen nähern sich insbesondere folgende Publikationen: Reinhold Görling, Timo Skrandies, Stephan Trinkaus (Hg.): Geste. Bewegungen 21

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Flusser nicht explizit. Allerdings der „Geste des Maskenwendens“,24 die er als „Geste des Spielens mit Geschichte und nicht mehr die des Rollenspiels in der Geschichte“25 versteht. Giorgio Agamben zufolge ist jedoch „das, was in jedem Akt des Ausdrucks unausgedrückt bleibt, Geste [zu] nennen“.26 Somit verbindet sich, wie Reinhold Görling Agambens Gedanken fortsetzt, „die Frage der Geste wiederum mit der Frage der Medialität, also dem, was in Erscheinung kommt, ohne dass es mit dem, was in Erscheinung gekommen ist, identisch wäre.“27 Das Sterben, das zum Tod führt, lässt sich, einmal ‚erlebt‘, nicht von selbiger Person retrospektiv kommentieren. Sterben lässt sich nur ‚spielen‘, Todeserfahrung nur theatral (oder metaphorisch28) konstruieren. Für eine theoretische Annäherung an choreografische Auseinandersetzungen mit dem Thema Tod bietet es sich daher an, jene mögliche Gestimmtheit der Tanzschaffenden zu untersuchen, die als Ausgangspunkt und Rahmenbedingung für das Entwerfen von Bewegungsqualitäten und Darstellungsmodi eines szenischen Sterbens gelesen werden könnte.29

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zwischen Film und Tanz, Bielefeld 2009, sowie Christoph Wulf, Erika Fischer-Lichte (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010. Flusser, Gesten, S. 125–133. Ebd., S. 132. Giorgio Agamben: Der Autor als Geste, in: Ders.: Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005, S. 57–69, hier S. 62. Reinhold Görling, Einleitung, in: Ders. u. a. (Hg.), Geste, S. 9–18, hier S. 11. Vgl. Thomas Macho, Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M. 1995. Ein ähnliches Vorhaben unternahm auch die Tanzwissenschaftlerin Kate Elswit. Ihr Essay „’Berlin ... Your Dance Partner is Death’“, untersucht die performative Darstellung des Sterbens auf der Bühne zur Zeit der Weimarer Republik. Hierzu zieht Elswitt Stücke von Tanzschaffenden jener Zeit heran: Anita Berbers Kokain (1922), sowie (ebenfalls) Kurt Jooss’ Der Grüne Tisch (1932) und Valeska Gerts Tod (1922). Die Autorin geht am Beispiel der drei Künstler und unter Rückgriff auf die Psychoanalyse den Zusammenhängen zwischen politischen Umständen und ästhetischen Konzepten in der Weimarer Republik nach. Vgl. Kate Elswit: „’Berlin ... Your Dance Partner is Death’“, in: The Drama Review, Vol. 53, No. 1 (Spring 2009), S. 73–92. In diesem Zusammenhang sei auch die Publikation von Yvonne Hardt genannt: Politische Körper: Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster 2004. Hardt befasst sich hier aus tanzwissenschaftlicher Perspektive mit der Verschränkung von Körperkonzepten und künstlerischen Arbeiten wie Lebenswegen von Tanzschaffenden jener Zeit.

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Bis zum letzten Atemzug – die Tänzerin Valeska Gert und ihr Tod

In ihrem Solotanz Tod (1922)30 visualisierte Valeska Gert, Tänzerin, Choreografin und Filmemacherin der Tanzavantgarde, das Sterben, in dem sie mit ihrem Körper den ‚letzten Atemzug‘ eines Menschen in Körpergesten übersetzte. Die hier abgebildete Fotografie zeigt zunächst die Momentaufnahme31 einer atmenden Frau.

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Valeska Gert, Tod, 1925, Fotografie: Suse Byk Valeska Gert, Tod / Der Tod, 1922 uraufgeführt in Berlin (Schwechtensaal). Zur Fotografie von Tanz: Das Bild fängt einen Moment des Tanzes Tod von Valeska Gert ein. Suse Byk hielt in dieser Fotografie fest, was Zeitzeugen in Bewegung sahen und Betrachter heute in Bewegung rück-überführen müssen – durch das Beschreiben und Kontextualisieren von Zeugenberichten und Aussagen der Tänzerin selbst. Bei dem hier angegebenen Bild handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Fotografie vom Tod. Allerdings sind die Bilder von Suse Byk, die in kurzer Reihung aufeinander getanzte Fragmente von Gerts Tänzen (Die Kupplerin, Canaille, Trauer, etc.) filmte und fotografierte, nicht immer eindeutig beschriftet. Auf diesen Umstand verweist eindrücklich Frank-Manuel Peter in: „Hoffen auf die PAUSE...“ . Die Problematik ungesicherter Tanztitel am Beispiel Valeska Gert, in: Hedwig Müller (Hg.), Valeska Gert. Tanzfotografien, Köln 2013, S. 61–63.

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In ihrer Autobiographie lässt Valeska Gert ihren Erläuterungen zu ihrem Solo Tod konkrete Erinnerungen an erlebte Momente vorausgehen, in denen sie mit dem Tod von Personen konfrontiert gewesen war, die ihr nahestanden. Beim Anblick des Leichnams ihrer Schwiegermutter war sie „tödlich erschreckt und weinte vor Angst dicke Tränen“.32 Den Tod ihres Vaters erlebte Gert im Elternhaus und erinnerte sich an sein letztes Rufen nach ihr sowie den Ekel, den das Sterben bei ihr auslöste: „Mir wurde übel, ich erbrach mich, konnte die Nähe des Todes nicht ertragen.“33 Mit nur einem Absatz Distanz zu diesen Schilderungen schrieb Gert von einer Begegnung im Romanischen Café in Berlin, die in diesem Kontext bemerkenswert ist: „Ein hageres Mädchen mit Höhlen im Gesicht unter scharf herausspringenden Backenknochen sagte: „Wir wollen ‚das Unerhörte‘ im Tanz“. Das Unerhörte, das wollte auch ich. Was ist das Unerhörte? Es ist Geburt, Liebe, Tod. Niemand hat bisher gewagt, es ungeschminkt und wahrhaftig darzustellen.“34

Die Erinnerung an ihren Vater oder ihre Schwiegermutter als Tote vermochte Gert womöglich aufgrund einer angstvollen Erfahrung nicht zu beschreiben. Das Mädchen aber, das „das Unerhörte“ forderte, erscheint in Gerts Beschreibungen wie der personifizierte Tod selbst – zumindest würde die detaillierte Beschreibung des Gesichts des Mädchens auch auf die Totenmaske einer Leiche zutreffen. In dem spontanen Ausspruch des Mädchens nach dem Undarstellbaren sah Gert sich herausgefordert, die ihr so „unerträgliche Nähe“ des Todes tänzerisch zu verkörpern. In dem knapp zwei Minuten dauernden Solo Tod ist das Atem-Verlieren zum zentralen Bewegungselement ausgedehnt und gerade der ‚ekelhafte‘ Tod zu ‚einem‘ Tod stilisiert. Gert trägt, wie das von Suse Byk35 im Studio aufgezeichnete fragmentarische Filmmaterial zeigt, ein schwarzes schlichtes Gewand, das bis zum Hals und den Handgelenken geschlossen ist. Ihr Kopf und ihre Hände wirken im Film wie losgelöst vom Körper, die Arme verkrampfen und die Finger sind zu Fäusten eingezogen. Der Raum ist auf einen dunklen Hintergrund reduziert36, so dass der Betrachterblick vor allem auf ihr Gesicht gelenkt ist. Ihre Haare sind zurückgebunden, Augen, Augenbrauen, Nase und Mund werden zur Bühne für 3 2

Valeska Gert, Ich bin eine Hexe. Kaleidoskop meines Lebens, München 1989, S. 40.

3 3 Ebd.

3 4 Ebd.

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Die Filmemacherin Suse Byk filmte Gert auch in weiteren kurzen Tänzen. Wie kleine Filmclips aneinandergereiht geben sie einen Eindruck dessen wieder, was Gerts körperliche Ausdruckskraft und dynamische Bewegungssprache auszeichneten. Ein Link zu Byks Film, in dem Gerts Tod sichtbar ist, befindet sich auf der Webseite numeridanse.tv: http:// preprod.numeridanse.tv/fr/video/806_tanzerische-pantominen (Letzter Zugriff: 15.01.2015). 3 6 Die Reduktion der gesamten Szene entspricht auch Gerts Vorstellung von einem Menschen.

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die letzten Bewegungen des Lebens, vom Sterben bis zum Tod. Die Reduzierung der architektonischen Bühne im Filmstudio Byks ist auf diese Weise auch auf den Körper übertragen. Gerts Gesten sind verlangsamt und „[d]er Tanz konzentriert sich auf ein bloßes Anspannen und Abschlaffen in der Bewegung.“37 Den Vorgang des Sterbens in Tod übersetzte die Tänzerchoreografin vor allem mit ihrem Gesicht. Die Mimik (Grinsen, Schmollen, Stöhnen) erinnert in diesem Solo zunächst an ein Grimassenspiel, das „nichts mehr von der Anmut, Grazie oder dem Fluss der Bewegungen (moderner) Tänzerinnen“38 hat, wie Susanne Foellmer anmerkt. Ihr zufolge setze Gert „den zumeist fließenden Bewegungen etwa Mary Wigmans im Ausdruckstanz synkopierte und verstümmelte Bewegungsfragmente entgegen“39. Beim Grimassenspiel lässt sich über den Blick in den Spiegel das eigene Porträt adjustieren, lassen sich Asymmetrien zwischen Mundwinkel oder Augenbrauen erzeugen, um das Spiegelbild mit dem imaginären idealen Selbstbild abzugleichen. Adjustierte die Tänzerin hier ein Porträt, setzte sie eine Maske auf, die sie als Darstellerin vom Dargestellten trennt und somit schützt? Wie lässt sich ihr Grimassenspiel einordnen? Belting zufolge ist in der Entwicklung des Theaters „anstelle der Maske das Gesicht zum Medium der Verwandlung geworden, das wie eine Maske gespielt wird.“40 Als Maske und Medium41 scheint auch Gerts Tanz – und hierzu zählt das mimisch agierende Gesicht – wahrgenommen worden zu sein, folgt man der Schriftstellerin Ivy Litwinow und ihrem Erlebnisbericht eines Moskauer Gastspiels aus dem Jahr 1929: „Und dann kam Valeska, schwarz gekleidet von Kopf bis zu Fuß, und stand da – eine griechische Maske des Todes. Und das Entsetzen des Todes ergriff sie in allen Gliedern und

37

Vgl. zu Valeska Gert insbesondere die Publikation von Susanne Foellmer, Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre. Bielefeld 2006, hier S. 185. 3 8 Susanne Foellmer; Verschobene Körper, groteske Körper – Die Avantgardistin Valeska Gert, in: Gabriele Klein, Christa Zipprich (Hg.), Tanz, Theorie Text, Münster 2002, S. 457–475, hier S. 471. 3 9 Ebd. 4 0 Belting greift hier die Feststellung Roger Caillois auf, der vom „langsamen Verschwinden der Maske als Medium der Verwandlung“ spricht. Roger Caillois, Les Jeux es les hommes, Paris 1967, S. 205, zitiert in Belting, Faces, S. 63. 41 Losgelöst von ausschließlich technologischen Assoziationen mit dem Begriff ‚Medium‘, werden Medien jeglicher Erscheinungsformen seit Beginn der Wahrnehmung von Überlieferungen als Mittel eingesetzt, um Gegenwärtigkeit zu erzeugen oder Erlebtes zu konservieren. Solch eine „[Geschichte der Medien] reicht so weit zurück, wie es Überlieferung gibt“. Siehe Christian Kiening (Hg.), Vorwort: Mediale Gegenwärtigkeit, Band II der Forschungsreihe Medienwandel–Medienwechsel–Medienwissen, Zürich 2007. Der Aspekt des Medialen in Gerts Tanz kann hier also auch mit medienperspektivischen Kriterien beleuchtet werden.

Atem Holen kroch über die Zuschauer. Und der Schrecken des Todes würgte ihre Kehle und erstickte den Atem, und gerade, als es unerträglich wurde, hörte die Maske zu kämpfen auf und entschloß sich, zu sterben. Das war hart und spannend. Es war eine Art von Süßigkeit in solch äußerster Resignation. Eine Auflösung. Als der Vorhang fiel, schüttelten wir die Trance ab, die sich auf uns gelegt hatte. Wir lebten noch, aber wir waren schon durch das Tal des Todes gegangen.“42

Im Rückgriff auf Flusser ließe sich im Solo Tod also von einer „Geste des Maskenwerdens“ sprechen, in der die Tänzerin von Zuschauerinnen wie Litwinow in ihrer gesamten körperlichen Erscheinung als „Maske des Todes“ wahrgenommen wurde. Die Tanzforschung ist stets mit der Tatsache konfrontiert, dass sich die Bewegungen, die sowohl den Gegenstand der Untersuchung als auch die Beschaffenheit des Materials bestimmen, nicht festhalten lassen. Die Aufzeichnungen von Gerts Tanz Tod sind erfreulicherweise erhalten. Dennoch sind in ihnen nicht jene Dynamik und Atmosphäre der Aufführung eingefangen, die das Beschreiben und Kommentieren aus heutiger Perspektive erleichtern würden. Das hier verwendete Material in Film und Fotografie ist demnach ein Nachtrag zu dem von Zeitzeugen live erlebten Ereignis von Gerts getanztem Tod. Die im Film sichtbaren Bewegung der Falten und Muskel, der Mundwinkel und Augenbrauen demonstrieren ein stilisiertes Sterben und lassen immer nur ein Antizipieren dessen zu, in welchem Zustand der Tod sich ereignen könnte. In der Kunstform Tanz zeigt sich die Vergänglichkeit von Bewegung mit jedem Atem-Zug. Das (im Lauf der Zeit) sich ereignende Vergehen/Sterben konzentriert und verdichtet sich also im Körper der Tänzerin. Diese Vorgehensweise entspricht auch dem Verständnis Gerts in Bezug auf das Theater: „Das Theater stirbt. Das mehraktige Sprechdrama hat für den Menschen der anbrechenden Zeit seine Bedeutung verloren. Er sehnt sich nach dem Extrakt.“43 Gert verwandelte ihr Gesicht mittels tänzerischer Mimik aus Falten und Muskelzügen zu einer Kartographie des Todes und extrahierte diesen vom ‚Drama um den Tod‘. Fred Hildenbrand beschrieb 1928 diesen Extrakt wie folgt: „Das Stärkste aber und etwas, was ohne Beispiel in der Geschichte des modernen Tanzes steht, unkopierbar und unüberholbar und mächtig und unvergesslich, das ist ihr Tanz: ‚Tod‘, [...] Sie tut nichts. Sie steht und stirbt.“44 Bemerkenswert 42

Ivy Litwinow über Valeska Gerts Gastspiel in Moskau, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 20.7.1929. Das für diesen Aufsatz sehr gewinnbringende Zitat verdanke ich der Tanzwissenschaftlerin und Journalistin Franziska Buhre. 4 3 Valeska Gert, Neues Schauspiel, in: Die Weltbühne, Berlin Jg. 18–1922, H. 35, S. 230. Hier abgedruckt in Frank-Manuel Peter, Valeska Gert. Tänzerin, Schauspielerin, Kabarettistin. Eine Dokumentarische Biographie, Berlin 1985, S. 23. 4 4 Fred Hildenbrand, Die Tänzerin Valeska Gert, Stuttgart 1928, S. 128–129; hier zitiert aus: Frank-Manuel Peter, „Hoffen auf die PAUSE“, S. 61.

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ist nicht nur, dass Gert den ewigen Stillstand, den Tod, durch Nicht-Bewegung ‚tanzte‘. Sonderbar ist zudem ihre Wahl der Fläche, des Displays, für den Tod: ihr eigenes Gesicht. Es wird in diesem Tanz, wie die Zeitzeugin Litwinow erinnerte, zum Bild einer „griechische[n] Maske des Todes“45. Die Augen, die in für griechische Masken typischen Hohlräumen abwesend sind, verweisen dabei auf vergangenes Leben. Gert erzählte in ihrem Tanz nicht mit starren, sondern mit lebendigen Zügen vom Wesen des Sterblichen. Ihre Ausführungen im Tanz Tod kommentierte Gert in einer sehr detaillierten Beschreibung: „Den Tod machte ich so: Bewegungslos stehe ich in einem langen schwarzen Hemd auf grell erleuchtetem Podium. Mein Körper spannt sich langsam, der Kampf beginnt, die Hände ballen sich zur Faust, immer feste, die Schultern krümmen sich, das Gesicht verzerrt sich vor Schmerz und Qual. Schmerz wird unerträglich, der Mund öffnet sich weit zu lautlosem Schrei. Ich biege den Kopf zurück, Schultern, Arme Hände, der ganze Körper erstarrt. Ich versuche mich zu wehren. Sinnlos. Sekundenlang stehe ich bewegungslos da, eine Säule des Schmerzes. Dann weicht langsam das Leben aus meinem Körper, sehr langsam entspannt er sich. Der Schmerz lässt nach, der Mund wird weicher, Schultern fallen, die Arme werden schlaff, die Hände. Ich fühle die Starre der Menschen im Zuschauerraum, will sie trösten, ein Abglanz vom Leben gleitet in mein Gesicht, schon von sehr weit her erscheint ein Lächeln. Dann versinkt es jäh, die Wangen lassen nach, der Kopf fällt schnell, der Kopf einer Puppe. Aus. Weg. Ich bin gestorben. Totenstille. Niemand im Zuschauerraum wagt zu atmen. Ich bin tot.“46

Insbesondere zum Schluss dieser Beschreibung wird deutlich, wer in dieser Szenerie die eigentlichen Toten zu sein scheinen: die Zuschauer. Gert fühlt ihre Starre, spürt die Totenstille, in der niemand zu atmen wagt, so als wäre das Bild des Todes hier spiegelverkehrt. Nicht nur Gert kann als die den Tod Darstellende gesehen werden, sondern auch ihr Publikum. Das Unbehagen und der Ekel vor dem Tod Anderer schienen die Künstlerin vor allem in Bezug auf ihre eigene Person intensiv beschäftigt zu haben. Von dem Gefühl des Verlusts oder der Trauer für verstorbene Personen schrieb sie bis auf die Beschaffenheit ihrer „dicke[n] Tränen“47 wenig. Stattdessen ließ sie Lebende durch ihre Beschreibungen zu Toten (Starre der Menschen) erkalten und verband mit ihnen das Unbehagen vor ihrem eigenen Tod. Mit dieser Spannung zwischen Erleben und Beschreiben von ‚unerhört‘ Unbeschreibbarem endet auch ihre Autobiografie: „Ich will

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Litwinow, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 20.7.1929. Gert, Ich bin eine Hexe, S. 40f. Hervorhebungen durch die Verfasserin. 47 Ebd.

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leben, auch wenn ich tot bin. Darum habe ich dieses Buch geschrieben.“48 Gert verkörperte das Sterben und den Moment des Todes, in dem sie zeitgleich die Nähe (Leben weicht aus dem Körper) sowie die Distanz zu ihrem eigenen Körper (der Kopf einer Puppe) einnahm und den Tod auf den sie umgebenden Raum ausdehnte (Totenstille).

Tanz hinter toten Masken – Kurt Jooss’ Antikriegsstück Der Grüne Tisch Am zweiten Weihnachtstag 1932 befand sich Kurt Jooss, Choreograf und späterer Gründer der Folkwang-Schule, aus bürokratischen Gründen auf einer Polizeistation in Essen. An diesem Ort entstand die Idee zu seinem wohl berühmtesten Stück: „Ich sah diese Herren am Tisch. Ich sah diese Leute mit dem Tod, und ‚ich musste der Tod‘ sein [...]. Ich klingelte bei Cohen und sagte: wir müssen nach Paris, ich habe eine Idee und du musst die Musik schreiben.“49 Jooss choreografierte das Stück Der Grüne Tisch (1933)50, mit dem er einer Einladung zur Teilnahme am Grand Concours International de Choréographie in Paris folgte. In diesem Stück ist der Tod als zentrale, personifizierte Figur inszeniert, die Kriegsopfer in ihre Gräber begleitet. In einem Totentanz in acht Bildern ziehen die Soldaten auf das Schlachtfeld.51 Dort treffen Figuren wie Flüchtlinge, Kameraden, Mütter, Ehefrauen, eine Prostituierte oder ein Profiteur mit dem Tod aufeinander. Diesen szenischen Kriegsalltag rahmt als dramaturgische Klammer zu Beginn und Ende des Stücks eine Tisch-Szene: eine Versammlung alter Herren mit weißem Haar in Frack, steht mit verzerrter, starrer Mimik auf grotesken Masken an einem Tisch mit grüner Platte (Abb. 2).

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Ebd., S. 182. Volker Schlöndorff interpretiert diesen Aspekt insofern, als dass Gert seines Erachtens „wie alle diejenigen, die sich fast ausschließlich für sich selbst interessieren, Angst haben, sich eines Tages durch den Tod abhandenzukommen.“ Zitiert aus: Ders. Vorwort, in: Frank-Manuel Peter, Valeska Gert, S. 7–8, hier S. 8. Die Beschäftigung mit dem Thema Tod prägte neben den hier Vorgestellten auch andere Tanzschaffende dieser Zeit, etwa Mary Wigman, Ausdruckstänzerin und Gerts Konkurrentin. 49 Diese Selbstaussage von Jooss stammt aus einem am 16. April 1973 geführten Interview von Ruth Foster mit Kurt Jooss, das die Tanzdramaturgin und -wissenschaftlerin Patricia Stöckemann im Rahmen ihrer Jooss-Studie transkribierte: Dies., Etwas ganz Neues muß nun entstehen. Kurt Jooss und das Tanztheater, München 2001, S.154. 5 0 Der Grüne Tisch (La Table verte), (UA): 3.6.1932 (Ch) und (L): Kurt Jooss, (M): Fritz A. Cohen. 51 Vgl. zum Grünen Tisch auch Suzanne K. Walther, The Dance of Death. Kurt Jooss and the Weimar Years, New York 1994.

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„Die Schwarzen Herren“ – Szene aus Kurt Jooss’s Der Grüne Tisch, Foto: Alexander Freiherr von Swaine, um 1933

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Mit ausladenden Gesten, die machtvolles Entscheiden demonstrieren, richten die Herren über Krieg und Frieden, über Leben und Tod. Ihre Masken sind unbeweglich und verbergen jede Mimik. Zugleich sind ihre Körperbewegungen aber verspielt, teilweise mit präzisen, eleganten Bewegungslinien aus dem klassischen Ballett. Die ‚Schwarzen Herren‘, wie der Titel der Fotografie und Jooss Beschreibung der Figuren lauten, werden von Frauen wie Männern des Ensembles getanzt. Der Hinweis auf diese Besetzung ist insofern wichtig, als dass in Szenen wie dem Schlachtfeld die Geschlechter und ihre ‚Rollen‘ nicht nur durch die Kostüme, sondern auch durch tänzerische Aktionen sehr deutlich voneinander unterschieden werden. Die Schwarzen Herren stehen auf abstrakter Ebene für die Befehlsgewalt am Grünen Tisch – hinter der Macht verbergen sich aber beide Geschlechter. Der Tanz der Schwarzen Herren am Tisch ist weder typisch weiblich noch männlich konnotiert. Das zeigt sich an den feinen (dem Ballett ähnlichen) Verschleifungen, die etwa dann eingesetzt sind, wenn sich die Tänzer elegant um die eigene Achse drehen und in einer fast dekorativen Pose mit über Kreuz gesetzten Beinen und gespitzten Füßen enden. Worin aber liegt die ‚Herrschaft‘ dieser Mächtigen? Die Hände in weiße Offiziershandschuhe gekleidet, wechseln die Tänzerinnen und Tänzer virtuos zwischen Gesten des Zeigens (den Lauf einer Pistole imitierend) und Gesten des Nachdenkens (be-

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dächtig das Gesicht zwischen Zeige- und Mittelfinger stützend). Diesen vornehm höfisch wirkenden Körperbewegungen sind Gesichtsmasken hinzugefügt, die jeder Form von Grazie widerstreben: Verzerrte Mundwinkel und asymmetrische Augenbrauen wirken wie eingeritzt zwischen schwülstigen Wangenknochen und vorgestülpten Stirnpartien. Die starren, vernarbten Gesichter der Schwarzen Herren sind aus verrutschter Knetmasse geformte Visagen. Das in den Masken angedeutete menschliche Antlitz gleicht in seiner Oberflächenstruktur einem Miniatur-Schlachtfeld.

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„Die Schwarzen Herren“ – Szene aus Kurt Jooss’s Der Grüne Tisch, Foto: Sasha Stone, o.D

Diesem mimischen Kriegsplatz ist das Tanzen ‚an der Front‘ im mittleren Teil des Stücks entgegengesetzt. Eine zentrale Stellung nimmt hier der als Person auftretende Tod ein: Als Kostümierung trägt der (männliche) Tänzer zwar eine Soldatenuniform mit Stahlhelm, den Armen, Beinen und dem Gesicht sind aber Skelett-Knochen (Totenschädel) aufgeschminkt. Zum dumpfen Rhythmus der Komposition begleitet der Totentänzer mit mechanischen Schlag- und Stampfbewegungen die (ihm ähnlich gekleideten) Soldaten und (Archetypen repräsentierenden) Zivilisten beim Sterben. Die Koordination von Armen, Beinen und Torso des Todes ist im Vergleich zu den virtuos schnellen Schritten und Gesten der Schwarzen Herren grob, langsam und behäbig. Als würde eine Statue aus Stein, etwa wie die zum Leben erwachende Statur des Comtur aus dem

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Don Juan-Stoff, in Bewegung versetzt und alles Lebende unter ihr ersticken. Die Starre des Todes ist in der Figur Tod auf den gesamten Körper ausgedehnt. Das Zusammenwirken von Masken, Kostüm und Körperbewegung verleiht dem Tod in Der Grüne Tisch ein Gesicht und visualisiert das Sterben in Gestalt einer erschreckenden Lebendigkeit. Aus heutiger Perspektive verbinden sich in dieser figürlichen wie maskierenden Darstellung des Todes gleich zwei Schlachtfelder, zu deren Zeitzeugen auch der Choreograf Kurt Jooss zählt: der Erste Weltkrieg mit den Folgen des industrialisierten Kampfes und mechanisierten Massensterben, sowie der sich nur wenige Jahre nach dem Grünen Tisch ereignende, durchorganisierte Völkermord durch Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg.

Fürchterliches Sterben fürchten – Der Opfertanz in Pina Bauschs Sacre Zurück zum Sacre. Pina Bausch, Kurt Jooss’ Meisterschülerin, ließ die Tänzerinnen und Tänzer in ihrem Le Sacre du Printemps auf einem mit Lehmerde bedeckten Boden tanzen, den der Bühnen- und Kostümbildner Rolf Borzik für das Stück entworfen hatte. Mit den Bewegungen der erschöpft keuchenden Tänzer ließe sich dieser szenografisch und choreografisch gestaltete morbide Raum auch mit einem flächigen Grabboden assoziieren. Die Entwicklung und Darstellung der Schlüsselszene, in der sich die Solistin52 nach einem zähen Erwählungsritual in rot transparentem Chiffon-Kleid zu Tode tanzt, hat ihre ganz eigene Geschichte:53 Zu Beginn der Arbeit wurden die Tänzer in eine Gruppe und eine sich im Verlauf des Stücks von der Gruppe trennende Solistin unterteilt. Bis zu den letzten Proben vor der Premiere war unklar, auf welche Weise die Solistin den Tod tänzerisch umsetzen würde. Bausch gab keine tänzerischen Anweisungen vor, sondern beobachtete die Tänzerinnen und Tänzer dabei, wie sie mit angehaltenem Atem, im Halbkreis um die Opfertänzerin platziert, auf das ‚Sterben der Erwählten‘ warteten. Ihre Reaktionen flossen in die Choreografie ein und prägten das Bild schockierender Körperstarre und panischer Fluchtbewegung, wie sie die ehemalige Wuppertaler Tänzerin Jo Ann Endicott erinnerte: 5 2

In der von der Pina Bausch Stiftung und L’Arche Éditeur herausgegebenen Probenaufzeichnung Une répétition du Sacre / Probe Sacre / Sacre in Rehearsal. Pina Bausch, Paris 2013, ist die detaillierte Arbeit Bauschs mit der Tänzerin Kyomi Ichida an dem besonderen Blick beim Sterben nachvollziehbar. Vgl. hierzu vor allem Gabriele Brandstetters Essay „Pina Bauschs „Le Sacre du printemps“ Signatur – Übertragung – Kontext in der Neuauflage der Methoden der Tanzwissenschaft: Dies., Modellanalysen zu Pina Bauschs „Le Sacre du Printemps“ (2007), hrsg. v. Dies., Gabriele Klein, Bielefeld 2015. 5 3 Erzählt wird diese ‚Geschichte‘ in zahlreichen Interviews, die im Laufe der Jahre zu Pina Bauschs Sacre geführt worden sind. Eingeprägt hat sie sich inzwischen als Teil der kollektiven Erinnerung von Forschenden wie Tanzenden.

Atem Holen „Unglaublich, ich konnte kaum zusehen vor Angst. Ich dachte, sie stirbt wirklich. Ich musste allein an der Vorderseite der Bühne herumgehen. Meine Füße waren wie Blei. Mein Blick nur auf Marlies gerichtet. Zum Schluss fiel sie auf die Erde und war tot. Weiß man, ob sie nicht wirklich tot ist? Ich konnte es nicht ertragen und rannte heulend raus, so unglaublich war das.“54

Wissend um den szenischen Tod der Kollegin, konnte Endicott die bloße Darstellung des Sterbens kaum ‚glauben‘. Ist es die (Bühnen-)Bildmacht, die den Opfer-Tanz in Bauschs Sacre so schaurig und affizierend werden lässt? Bekannt sind – unter anderem seit Wim Wenders farb- und bewegungsintensivem 3DKinofilm Pina55 – jene Bilder, die eine Frau in rotem Kleid mit aufgerissenen Augen zeigen, atemlos mit weit geöffnetem Mund und zitterndem Körper. Wenders Film inszenierte den intimen, voyeuristischen Blick einer Kamera, die mitten auf der Bühne platziert die erschöpfenden Bewegungen im Sacre einfing. Deutlich sichtbar ist dies in den Nahaufnahmen der Tänzerin Ruth Amarante, die Wenders im Film in einer dramatischen Naheinstellung mit aufgerissenen Augen zeigt. Um die Rolle des Frühlingsopfers, der Auserwählten, derjenigen, die sterben muss, so zu tanzen wie es der Choreografin vorschwebte, sei eine „mortal fear of death”56 notwendig, erinnert Amarante. Einen Hauch von Todesangst musste sie bei den Proben mit Bausch spüren, um dem Todesopfer dieser heidnischen Erzählung – so paradox das auch klingt – Leben zu verleihen. Auch Jo Ann Endicott tanzte die Rolle des Opfers und erinnert sich daran, dass sie dabei körperliche Grenzen überschreiten musste, um am Ende des Stücks „wirklich tot“ zu wirken. „Du musst sterben. Kein ‚Sterbender Schwan‘ sein“.57 In dieser Formulierung steckt eine Kritik seitens der Gattung Tanztheater, in der Bewegungen aus erlebten Gefühlen generiert werden sollen und nicht aus dem Zusammenstellen von Gefühle imitierenden Posen, wie es zu dieser Zeit von den modernen Tanzreformern dem klassischen akademischen Tanz zugeschrieben wurde. Es reichte also nicht, eine ‚schön‘ sterbende, virtuose Figur darzustellen,

Jo Ann Endicott, Pinas Frühlingsopfer von Innen, in: Dossier zu Le Sacre du printemps, DVD Produktion der ZDF Aufzeichnung von 1978 im Wuppertaler Tanztheater, hrsg. v. L’Arche Editeur und Pina Bausch Foundation, Paris 2012, S. 68–69, hier, S. 68. 5 5 Wim Wenders, Pina. Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren, DVD der Kinofassung in 2D, NFP Marketing & Distribution, Berlin 2011. 5 6 Ruth Amarante im Gespräch mit Ciane Fernandes Wuppertal, Juni 1994, in: Apprendix A: Interview with Dancer Ruth Amarante, übersetzt aus dem Portugiesischen, in: Ciane Fernandes, Pina Bausch and the Wuppertal Dance Theater. The Aesthetics of Repetition and Transformation, New York, u.a. 2005, S. 111–117, hier, S. 117. 57 Endicott, „Pinas Frühlingsopfer von Innen“, S. 68.

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wie in Michel Fokins Der Sterbende Schwan (1905) 58. Den Sacre dominieren Stoß- und Peitschbewegungen sowie pulsierende Bewegungen „die von zentral nach peripher wieder zum Zentrum“59 in Körperwellen zurückkehren. Die Choreografie der inzwischen verstorbenen Leiterin des Wuppertaler Tanztheaters gilt als beinahe unerreichbare Interpretation des Ur-Sacre von 1913. Das szenische Sterben und Sterben-Sehen in Bauschs Sacre soll mittels eines aisthetischen (also mit allen Sinnen stattfindenden) Vorvollzugs, einer Antizipation von Sterben erreicht werden: dem kinästhetischen, also körperlich-sinnlichen Einfühlen in die Angst vor dem eigenen (oder dem von Anderen gezeigten) körperlichen Atemstillstand – live, auf der Bühne, vor Publikum und an jedem Aufführungsabend immer wieder von vorn. Verorten lässt sich der szenische Tod der Opfer-Tänzerin bei Bausch im gesamten Bühnenraum, verteilt auf alle Tanzenden, die gegen den staubigen, das Atmen beeinträchtigenden Lehmboden ankämpfen: „Sie [die Erde] macht Bewegungen unmöglich, wenn man auf ihr ausrutscht, sie brennt im Hals, in den Ohren, in den Augen oder unter den Finger- und Zehennägeln.“ 60 Die leibliche Ko-Präsenz61, wie sie in der Theaterforschung beim Betrachten von Aufführungen mitbedacht werden muss, lässt die Zuschauenden zu Zeugen des szenischen Sterbens werden. Denn der Geruch der staubigen und im Verlauf des Abends vom Schweiß der Tänzer feucht werdenden Erde zieht sich bis in den Publikumsraum. Was sich den Aussagen der Tänzer zu ihren Erfahrungen mit dem Sacre entnehmen lässt, ist der Aspekt des Hineinfühlens in die Angst ‚vor‘ dem Sterben. Das ‚vor‘ ließe sich dabei als zeitlich strukturierend, aber auch mit Bezug zur empfundenen Angst lesen. Angst ist hier also der Zustand, in dem die Grenze zwischen Leben und Tod, 5 8

1905 choreografierte Michel Fokine für die Tänzerin Anna Pavlova zur Musik des CelloSolos Der Schwan aus Camille Saint-Saëns’ Karneval der Tiere (1886) das Ballettsolo Der Sterbende Schwan (1905). In diesem ist die Stilisierung des Sterbens und die damit verknüpfte Anmut dadurch visualisiert, dass die Tänzerin auf Spitzenschuhen trippelnd und mit zarten Armen flügelschlagend die letzten Bewegungen des sterbenden Tieres umsetzt. Sie gestaltet dies derart virtuos, dass der Tod der Figur in den Hintergrund tritt, zugunsten des Bildes einer traurig-schönen Figur, aber nicht eines tatsächlich vom Leben erschöpften Wesens. 59 Diese Bewegungsqualitäten gehen, wie die Tänzerin Gitta Barthel erinnert, auf die ‚Antriebsaktionen‘ des für den Ausdruckstanz, modernen Tanz sowie die Tanzforschung bis heute bedeutenden Tänzers, Tanztheoretikers und Choreografen Rudolf von Laban zurück. Vgl. hierzu das Interview „Die Performanz des Rituals“ mit der Tänzerin Gitta Barthel in: Brandstetter, Klein, Methoden der Tanzwissenschaft, S. 75–81, hier, S. 77. 6 0 Zu Sacre aus einer Probennotiz des ehemaligen Bausch-Tänzers Stephan Brinkmann, in: Ders., Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, Bielefeld 2013, S. 137. 61 Der Begriff geht auf die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte zurück. Vgl. hierzu insbesondere ihr drittes Kapitel „Die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern“ in: Dies., Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 63–126.

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die Gefahr des Ausrutschens und Stolperns erfahrbar oder – mit Pina Bauschs Worten – „ahnbar“62 wird.

Vom Ende des Lesens von Tänzen zum ‚Ende des Lebens‘ In den hier besprochenen Beispielen werden Motive wie Sterben, Tod oder Trauer als Themen ins Bewusstsein gerückt, die den Menschen in seinem Innersten bewegen. Die ‚stumme‘ Sprache Tanz bietet dabei Möglichkeitsräume an, in denen dieses Undarstellbare greifbar werden kann. Nicht als konkrete, sich selbst erklärende Erfahrungen, sondern als Entwürfe, in denen die Tanzschaffenden zur jeweils ganz eigenen Beziehung zum Tod Stellung beziehen. Natürlich ist dies den anderen Künsten – insbesondere der Literatur – ebenfalls eigen. Was den Tanz jedoch zu unterscheiden scheint, ist die ihm eigene Ephemeralität (Flüchtigkeit). Mit dem Attribut des Vergänglichen, das jeder Körperbewegung anhaftet, ist diese Kunstform auf besondere Weise mit dem Atem verbunden, der den Menschen in den Rhythmus von Leben und Sterben setzt. Filmische Aufzeichnungen des szenischen Sterbens verlegen Antworten auf Fragen nach dem wie authentisch sterben? in den Bereich des Medialen. Besonders eindrucksvoll ‚nah‘ lässt sich dies in Wenders Film Pina beobachten, plastisch wirkend wird das szenische Sterben in Aufführungsaufnahmen von Jooss’ bildlichem Stück Der Grüne Tisch zum Ausdruck gebracht. Affiziert eine Videoaufnahme eines szenisch oder tänzerisch live ‚gelebten‘ wie ‚erlebten‘ Sterbens noch? Wenn von der tänzerischen Darstellung des Sterbens die Rede ist, dann geschieht dies durch den gesamten Körper, der als Repräsentant, als Medium oder Transmitter, als Porträt des Sterblichen in Erscheinung tritt: „Denn im Porträt findet ein Tausch zwischen einer belebten Maske (Gesicht) und einer unbelebten statt, die nicht das Leben, sondern allein die Zeichen des Lebens auf sich zieht.“63 Als bereits verstorbene Bräute atmen die Willis aus der Giselle nicht mehr. Die Balletttänzerinnen tanzen diese leichenblassen Untoten vor allem mit einem unterdrückten Atmen und verweisen somit auf jene „Totenbilder einer romantischen Weltsicht“64, wie sie

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„Es geht darum, eine Sprache zu finden – mit Worten, mit Bildern, Bewegungen, Stimmungen – die etwas von dem ahnbar macht, was immer schon da ist.“ Pina Bausch in ihrer am 12.11.2007 gehaltenen Laudatio Etwas finden, was keiner Frage bedarf, anlässlich des Symposiums „Dance Theatre – Body Tells“ im Rahmen des The 2007 Kyoto Prize Workshop in Arts and Philosophy, in Kyoto. Veröffentlicht u.a. auf: http://www.inamorif. or.jp/laureates/k23_c_pina/img/wks_ g.pdf, letzter Zugriff: 15.1.2015. 6 3 Belting, Faces, S. 120. 6 4 Gabriele Brandstetter, „Geisterreich“. Räume des romantischen Balletts, in: Inka MülderBach und Gerhard Neumann (Hg.), Räume der Romantik, Würzburg 2007, S. 217–238, hier S. 218.

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von Literaten wie Heine oder Gautier Mitte des 19. Jahrhunderts im Übergang zum Vormärz entworfen worden sind. Valeska Gert tanzte mit ihrem Gesicht und ihrem erstarrenden Körper ein Porträt vom Tod und legte somit ihrer eigenen Furcht vor dem Bild des Todes eine Maske auf. Kurt Jooss ließ den Tod hinter Masken tanzen und trat als solcher sogar selbst auf die Bühne. Pina Bausch verlegte die Darstellung des Sterbens in das Moment der Angst vor dem Sterben, verteilte diese auf ein gesamtes Ensemble und beobachtete die Furcht in ihrem Entstehen. Tanzenden und ihren Werken ist ein Oszillieren zwischen Stillstand und Bewegung inhärent. Sie scheinen daher besonders dafür sensibilisiert zu sein, dem Tod ein Gesicht zu leihen und ihn als Momentaufnahme zu porträtieren. Die Geste des Sterbens oder die Gestimmtheit für den Moment des eintretenden Todes wird in den Bewegungen und Nicht-Bewegungen der Tanzenden für die Zusehenden erfahrbar, löst sich in diesen aber zugleich auf: während einer Live-Aufführung, beim Betrachten einer Videoaufnahme oder beim Anblicken einer Fotografie, in der jener Moment der Geste des Sterbens zum Porträt erstarrt. Was sich beim Darstellen des „Unerhörten“ (das zu zeigen das Mädchen aus Gerts Schilderungen forderte) einstellt, mag daher eher eine „Geste der Aufmerksamkeit“65 sein, wie sie Gabriele Brandstetter entwirft. Eine Geste, die von ihrem Rezipienten Aufmerksamkeit verlangt für die sich im Verschwinden befindende Bewegung von eigentlich nicht Darstellbarem; einer Geste, die sich in höchster Konzentration als „Einander-Zuhören/-Sehen“66 ereignet – so wie es die Schilderungen der Tänzerinnen und Tänzer zu Bauschs Sacre (Körperstarre) oder die Erlebnisberichte zu Valeska Gerts zum Tod (Totenstille) vermitteln.

Literatur: Giorgio Agamben: Der Autor als Geste, in: Ders.: Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005, S. 57–69 Pina Bausch, Etwas finden, was keiner Frage bedarf, Laudation anlässlich des Symposiums „Dance Theatre – Body Tells“ im Rahmen des The 2007 Kyoto Prize Workshop in Arts and Philosophy, Kyoto 2007. Veröffentlicht auf: http://www.inamorif.or.jp/laureates/k23_c_pina/ img/wks_ g.pdf, letzter Zugriff: 15.1.2015 Pina Bausch, Une répétition du Sacre / Probe Sacre / Sacre in Rehearsal. Pina Bausch, hrsg. v. Pina Bausch Foundation und L’Arche Éditeur, Paris 2013

6 5

Gabriele Brandstetter, Gesten und Gags – Im modernen und zeitgenössischen Tanz, in: Christoph Wulf, Erika Fischer-Lichte (Hg.), Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010, S. 254–265, hier S. 265 6 6 Ebd.

Atem Holen Gitta Barthel, Gabriele Klein „Die Performanz des Rituals“, Interview, in: Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein: Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs „Le Sacre du Printemps“, Bielefeld 2007, S. 75–81 Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013 Gabriele Brandstetter, „Geisterreich“. Räume des romantischen Balletts, in: Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann (Hgg.): Räume der Romantik, Würzburg 2007, S. 217–238 – Dies., Gesten und Gags – Im modernen und zeitgenössischen Tanz, in: Christoph Wulf, Erika Fischer-Lichte (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010, S. 254–265 – Dies., Le Sacre du Printemps 1913/2013, in: Raphael Gygax (Hg.): Sacre 101. An Anthology on „The Rite of Spring“, Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich 2014, S. 149–161 – Dies., „Pina Bauschs „Le Sacre du printemps“ Signatur – Übertragung – Kontext“, in: Dies., Gabriele Klein: Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs „Le Sacre du Printemps“ (2007), Neuauflage, Bielefeld 2015. – Dies., Tanz der Elementargeister. Der Mythos des romantischen Balletts, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller: Souvenirs de Taglioni. Band 2: Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München 2007, S. 195–212 Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1996 Stephan Brinkmann, Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz, Bielefeld 2013 Jo Ann Endicott, Pinas Frühlingsopfer von Innen, Kommentar der Tänzerin in: Dossier zu Le Sacre du printemps, DVD Produktion der ZDF Aufzeichnung 1978 im Wuppertaler Tanztheater, hrsg. v. L’Arche Editeur, Paris, S. 68–69 Kate Elswit, ’Berlin ... Your Dance Partner is Death’, in: TDR/The Drama Review, Ausgabe. 53, Nr. 1 (Frühjahr), London, Cambridge 2009, S. 73–92 Ciane Fernandes, „Apprendix A: Interview with Dancer Ruth Amarante“, übersetzt aus dem Portugiesischen, in: Dies., Pina Bausch and the Wuppertal Dance Theater. The Aesthetics of Repetition and Transformation, New York, u.a 2005, S. 111–117 Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, 2. Aufl., Bensheim 1993 Susanne Foellmer, Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre. Bielefeld 2006 Susanne Foellmer, Verschobene Körper, groteske Körper – Die Avantgardistin Valeska Gert, in: Gabriele Klein, Christa Zipprich, Tanz, Theorie Text, Münster 2002, S. 457–475 Valeska Gert, Neues Schauspiel, in: Die Weltbühne, Jg. 18–1922, H. 35, S. 230. Abgedruckt in: Frank-Manuel Peter: Valeska Gert. Tänzerin, Schauspielerin, Kabarettistin. Eine Dokumentarische Biographie, Berlin 1985 Reinold Görling, Einleitung, in: Ders., Timo Skrandies, Stephan Trinkaus (Hg.), Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz, Bielefeld 2009, S. 9–18 Yvonne Hardt, Politische Körper: Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster 2004 Ann Hutchinson Guest, Knud Arne Jürgensen: Robert le diable. The Ballet of the Nuns, Language of Dance Series No. 7, Amsterdam 1997

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218 Mariama Diagne Raphael Gygax (Hg.), Sacre 101. An Anthology on „The Rite of Spring“, Katalog des Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich 2014 Heinrich Heine, Elementargeister (1834), in: Heines Sämtliche Werke, Band 6, hrsg. v. Julius Zeitler, Leipzig 1969, S. 1–74 Millicent Hodson: Nijinsky‘s crime against grace. reconstruction score of the original choreography for Le sacre du printemps, Stuyvesant (NY) 1996 Christian Kiening (Hg.), „Vorwort“, in: Mediale Gegenwärtigkeit, Band II der Forschungsreihe Medienwandel–Medienwechsel–Medienwissen, Zürich 2007 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004 Ivy Litwinow über Valeska Gerts Gastspiel in Moskau, in: Königsberger Hartungsche Zeitung vom 20.07.1929. Hinweis und Zitat von Franziska Buhre, E-Mail vom 15.01.2015 Thomas Macho, Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M. 1995 Hedwig Müller (Hg.), Valeska Gert. Tanzfotografien, Köln 2013 Bronislava Nijinska, Early Memoirs, übersetzt u. hrsg. v. Irina Nijinska und Jean Rawlinson, Durham und London 1992 Frank-Manuel Peter, Hoffen auf die PAUSE... Die Problematik ungesicherter Tanztitel am Beispiel Valeska Gert, in: Hedwig Müller (Hg.): Valeska Gert. Tanzfotografien, Köln 2013, S. 61–63 Susanne Schlicher: TanzTheater. Traditionen und Freiheiten, Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke, Reinbek bei Hamburg 1987 Volker Schlöndorff, „Vorwort“, in: Frank-Manuel Peter, Valeska Gert. Tänzerin, Schauspielerin, Kabarettistin. Eine Dokumentarische Biographie, Berlin 1985. S. 7–8 Norbert Servos, „V. Tanztheater. 1. Definition und theoretische Grundlagen“, S. 355–359, sowie Ders., „Tanz“, S. 288–408, in: Finscher, Ludwig (Hg.), Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik,
Sachteil, Bd. 9, Kassel, Stuttgart 1998 Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Teil II, Berlin 1996 Patricia Stöckemann, Etwas ganz Neues muß nun entstehen. Kurt Jooss und das Tanztheater, München 2001 Christoph Wulf, Erika Fischer-Lichte (Hg.), Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010

Medien: Videoaufzeichnung Valeska Gert, Tod, von Suse Byk: numeridanse.tv: http://preprod.numeridanse.tv/fr/video/806_tanzerische-pantominen. (Letzter Zugriff: 15.01.2015) Wim Wenders, Pina. Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren, DVD der Kinofassung in 2D, NFP Marketing & Distribution, Berlin 2011

Atem Holen

Abbildungsnachweise: Abb.1: Valeska Gert, Tod, 1925, Fotografie: Suse Byk, aus: Hedwig Müller: Valeska Gert. Tanz­ fotografie, Köln 2013, Abb. 37, S. 55 Abb.2: „Die Schwarzen Herren“ – Szene aus: Der Grüne Tisch, Ch.: Kurt Jooss, Foto: Alexander Freiherr von Swaine, um 1933 / Courtesy of Deutsches Tanzarchiv Abb.3: „Die Schwarzen Herren“ – Szene aus: Der Grüne Tisch, Ch.: Kurt Jooss, Foto: Sasha Stone, o.D. / Courtesy of Deutsches Tanzarchiv Köln Mit Dank an Dr. Frank-Manuel Peter und Dr. Thomas Thorausch, Deutsches Tanzarchiv Köln

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JOHANNES WENDE

Die verweigerte Todespersonifikation in den Filmen der Final-Destination-Reihe1 Frustriert hängt der Schauspieler seine Maske an einen Ast und verschwindet im Planwagen. Er beschwert sich. In einem Theaterstück den Tod zu spielen, das wird ihm wohl kaum die Sympathien der zuschauenden Damen bringen. Und: Ob diese Verkleidung überhaupt eines Schauspielers würdig sei – höchst fraglich. Schon eine Szene später beteuert ein Kirchenmaler jedoch die Attraktion seines ganz ähnlichen Motivs, an dem er gerade arbeitet. „Glaube mir, ein Totenschädel ist interessanter als eine nackte Frau!“ Das Auftauchen des personifizierten Todes wird also bereits im Film Das siebente Siegel von 1956 kontrovers diskutiert. Als visuell-erzählendes Motiv vereint diese Figur schließlich schon seit Jahrhunderten sehr unterschiedliche Aspekte der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Endlichkeit in sich. Einen Hinweis darauf liefert bereits die große Bandbreite an äußeren Erscheinungsformen, in denen der Tod als Figur auf Bildern zu finden ist: Als Jäger, Fallensteller, Bogenschütze ebenso wie als lockender Liebhaber, als Richter oder als Spielmann, als mütterliche Totengöttin oder wahnsinnige Furie.2 Das ganz Andere oder Spiegelfigur des Sterbenden – Christian Kiening verortet in dieser mythischen Gestalt einen Brennpunkt von neuzeitlicher Identitätssuche und ihrer Repräsentation in Bildern und Geschichten.3 Wenn die Kommunikation über den Tod also (mit Thomas Macho) nicht ohne Mythos und Metapher auskommt,4 dann bietet der Tod in Person hierfür ein äußerst „sprechendes“ Motiv. Die Vorstellungswelt im Angesicht des Todes lässt sich an ihr historisch in besonderer Weise nachvollziehen; bis in die bildende Kunst der Moderne hinein reicht diese besondere Bild-Geschichte. Ausgerechnet im 1

Dieser Text war ein Beitrag zur transmortale II vom 18.–19. März 2011 in Kassel. Er ist Teil meiner Dissertation (Johannes Wende, Der Tod im Spielfilm: Eine exemplarische Analyse, München 2014). 2 Philippe Ariès, Bilder zur Geschichte des Todes, München/Wien 1984, S. 186–204. Karl S. Guthke, Ist der Tod eine Frau? Geschlecht und Tod in Kunst und Literatur, München 1994. Hellmut Rosenfeld, Der mittelalterliche Totentanz, Münster/Köln 1954. Reiner Sörries, Katalog der monumentalen Totentänze im deutschsprachigen Raum, in: Wolfgang Neumann (Hg.), Tanz der Toten - Todestanz: der monumentale Totentanz im deutschsprachigen Raum, Dettelbach, 1998, S. 71–344. 3 Christian Kiening, Das andere Selbst: Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003. 4 Thomas Macho, Todesmetaphern: Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a. M. 1987, S. 183.

Die verweigerte Todespersonifikation

Spielfilm jedoch, dem wahrscheinlich einflussreichsten bildlich-erzählenden Medium des 20. Jahrhunderts, verliert sich seine Spur weitgehend. Ein zunächst überraschender Befund, schließlich hat sich Bergmans „Döden“ und vielleicht noch der von Brad Pitt verkörperte „Joe Black“ nachhaltig ins Gedächtnis eines großen Filmpublikums gegraben. Trotzdem, eine Recherche in den großen Datenbanken von imdb.com oder dem British Film Institute ergibt nur knapp einhundert dokumentierte Auftritte des personifizierten Todes in abendfüllenden Spielfilmen. Lediglich rund die Hälfte dieser Filme sind heute überhaupt noch zugänglich. Zum Vergleich: Außerirdische, Massenmörder oder Kannibalen bevölkerten bis heute zehn bis einhundert Mal so häufig die Leinwand.5 Eine so kümmerliche Kinokarriere wurde der Todesfigur freilich schon früh und aus prominenter Feder vorhergesagt. So bezeichnet es Béla Balázs im Jahr 1924 als „überflüssig, falsch und kitschig […] bei einer Sterbeszene den Knochenmann mit der Sense auftreten zu lassen“.6 Dieses, sein stereotyp bekanntes Erscheinungsbild als furchtbare Gestalt mit Umhang, Sense und weißem Gesicht bleibt zudem seit den 1960er Jahren fast ausnahmslos eine Figur der Komödie. In Monty Python’s Der Sinn des Lebens (1982) belächelt ihn eine feine englische Abendgesellschaft als einen ortsansässigen Gärtner, in Bill & Ted´s Bogus Journey (1991) reißen ihm zwei Witzbolde bei seinem ersten Auftritt schon schmerzhaft die Unterhose in den Schritt, in Die Geschichte vom Brandner Kaspar (2008) verkörpert ihn gleich der erfolgreichste Filmkomödiant der Nation, Michael „Bully“ Herbig. Der Tod „wie wir ihn kennen“, könnte man sagen, hat also offensichtlich ein Problem, wenn er als Filmfigur auftritt.7 Wie dann kann er aber heute noch im Film erscheinen, ohne seine häufig gesetzte Prämisse aufzugeben, mächtig, gnadenlos und unwidersprochen die Menschen vom Leben in den Tod zu befördern? Wie sieht er sonst aus, der heutige, noch zeitgemäße Kino-Tod? Eine Antwort auf diese Frage geben die Filme der Final-Destination-Reihe. Diese bislang 5 Filme sind US-amerikanische Produktionen, die ohne Beteiligung von Stars zuverlässig ihr (für Hollywood maßvolles) Budget von 25–40 Millionen US-Dollar an der Kinokasse stets drei- bis fünffach wieder eingespielt haben. 5

Nach Recherchen der „character search“ auf www.imdb.com; www.ofdb.de; www.ffi. chadwyck.co.uk/film/search. Dabei wurden Filme weggelassen, die nie für den regulären Kinobetrieb verliehen wurden; ebenso Filme, die in den letzten Jahren nicht mehr auf Filmkopie oder Video zugänglich waren. Übrig bleiben die im Text genannten 47 Filmtitel. 6 Béla Balázs, Der sichtbare Mensch: oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M. 2001, S. 71. Vgl. auch: Evelyn Echle, Danse macabre im Kino: die Figur des personifizierten Todes als filmische Allegorie, Stuttgart 2009. 7 Zu den möglichen Gründen hierfür: Johannes Wende, Der Tod im Spielfilm, München 2014, S. 57–63.

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222 Johannes Wende

Eine weitere Fortführung dieser Reihe ist also zu erwarten. Und das, obwohl die dramaturgische Struktur dieser Filme immer dieselbe bleibt. In den Filmen der Final Destination-Reihe scheint der Tod als Filmfigur zuerst beinahe unsichtbar. Er hält sich versteckt, erscheint selbst nur in Andeutung wie in einem Totenkopf des Plakats zum vierten Teil.

1 

Filmplakat zu Final Destination 4 (2009)

Innerhalb der Filme bleibt er dagegen ein Phantom, dem die Figuren hinterherjagen beziehungsweise zu entkommen suchen, das aber selbst keinen einzigen Körper annimmt. Für die menschlichen Figuren ist er damit jedoch ständig präsent, ihre Unterhaltungen kreisen immer wieder um ihn und seinen Plan. Denn das dramaturgische Muster der fünf Filme ist jeweils dasselbe. Darin entkommt eine kleinere Gruppe von Menschen einer tödlichen Katastrophe wie Flugzeugabsturz, einem Unfall auf der Rennbahn oder einer Achterbahn. Sie entkommen ihr dadurch, dass eine Hauptfigur dieses Unglück als Vision bereits vor sich sieht, bevor es eigentlich passiert ist. Damit allerdings haben sie den Plan des Todes durchkreuzt, und sie müssen nun in der Abfolge der ihnen vorbestimmten Katastrophe einer nach dem anderen sterben. Entscheidend für die Dramaturgie ist dabei, dass die Figuren nicht einfach so sterben. Vielmehr muss eine zentrale Hauptfigur stets sich dieses vorherbestimmten Plans bewusst werden und versuchen, die anderen davon zu überzeugen, gegen ihn anzugehen.

Die verweigerte Todespersonifikation

Die Protagonisten der Final Destination-Filme versuchen jedoch nicht, ein Phantom zu stellen wie ein Monster, einen Killer oder einen bösen Geist, das dann besiegt werden kann. Vielmehr zeigt der Tod sich auf zwei verschiedene Weisen als personaler Agent im Film: zuerst als Figur in den Gesprächen der Menschen, die vor ihm fliehen; also als ein „grammatikalisches Subjekt“ beziehungsweise eine Figur des verbalen Diskurses innerhalb des Films. Die dem Tod am nächsten stehende Figur im ersten Teil der Serie, ein Bestatter, der nachts noch seiner Arbeit nachgeht, belehrt die Jugendlichen: „In death, there are no accidents, no coincidences, no mishaps and no escapes. […] Every detail of our lives is part of Death’s sadistic plan which leads right into the grave.“ Diese Ansage bringt die Hauptfigur Alex schließlich zur zentralen Idee des Films: „Design – Does that mean if you know the design, you can cheat death?“ Dieser Gedanke, der Tod sei zu überlisten, erschien historisch häufig als ein zentrales dramaturgisches Muster von Erzählungen, in denen der Tod als Figur auftritt.8 Die Ikonografie des Todes als Schach-, Würfel- oder Kartenspieler oder als Jäger, vor dem die Menschen fliehen, verweist auf dieses Motiv.9 Wenn die Figuren der Final DestinationFilme also das erklärte Ziel fassen, den Tod zu überlisten, bekommt dieser erst über diesen Umweg eine personale Qualität. Einen zusätzlichen Hinweis auf die traditionellen Todesbilder geben die Figurenzeichnungen der Filme und deren dramaturgische Konstellation. Denn die Jugendlichen, die die erste Katastrophe knapp überleben und nun einer nach dem anderen sterben müssen, sind sehr unterschiedliche Typen. Sie gehören keineswegs einem gemeinschaftlichen Freundeskreis an, in dem sie alle eine eher homogene Gruppe bilden, sondern sie werden als Träger von sehr unterschiedlichen Eigenschaften gezeichnet. In Teil 1 beispielsweise gibt es den machohaften Anführer, den klassischen sozialen Verlierer oder die sonderliche Außenseiterin. Diese „ungebrochenen“ Typen erscheinen noch stärker in den späteren Fortsetzungen, sie gehören also zu den Charakteristika dieser Serie. Auch wenn eine starke Typenzeichnung von Figuren als ein Gemeinplatz des klassischen Kinos gelten kann, so ergibt sich doch durch eine dramaturgische Anordnung in einzelne, aufeinanderfolgende tödliche Episoden ein Gesamtbild, das ebenfalls eine jahrhundertealte Tradition der Todespersonifikation in der Kunstgeschichte verweist: den Totentanz, das wahrscheinlich bekannteste, in jedem Fall jedoch meist erforschte Bildsujet. Im Totentanz werden jeweils ein typischer Vertreter oder eine Vertreterin eines bestimmten Standes oder bestimmter Eigenschaften von jeweils einem skelettiertem Tod an der Hand zum Tanzen animiert. Dabei reihen sich gleich-

8

Vgl. Emily Vermeule, Aspects of Death In Early Greek Art and Poetry, Los Angeles 1979, S. 27. 9 Guthke, Ist der Tod eine Frau?, S. 241f.

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224 Johannes Wende

mäßig und abwechselnd ein grinsendes Skelett an einen Typus Mensch;10 eine ähnliche Gleichstellung der Figuren und narrative Struktur also wie die „Nummernrevue“ in den Final Destination-Filmen. Die Erforschung der großformatigen Totentanzmalerei schreibt dieser dabei interessanterweise ähnliche Eigenschaften zu, wie sie heute für den Film gelten können: ein konventionelles bildliches Erzählschema, das häufig monumentale Ausmaße annahm, in Sequenzen narrative Strukturen entfaltete, großen Wert auf die Darstellung von Bewegung legte, von großer Verbreitung und Wirkung war und primär auch schon zu Zeiten seiner Entstehung erkennbar wirtschaftliche Interessen verfolgte.11 Ähnlich den Menschen in den Totentänzen werden also auch die Figuren der Final-Destination-Filme immer wieder einzeln und jeder für sich von einer körperlichen Macht ergriffen, die zwar immer dieselbe bleibt, für jeden einzelnen jedoch sich etwas anders verhält. Es ist jedoch kein Skelett, das sie zum Tanzen bringt. Aber mit wem sonst tanzen die Menschen in diesen Filmen? Wer oder was bringt sie konkret zu Tode? Eine Szene: Ein Spielzeug-Krankenwagen und eine Puppe, ein Plastikball, Murmeln, zerrissenes Papier – der Korridor, den Evan durchquert, um zu seiner Wohnung zu gelangen, liegt voller verstreuter Spielzeuge. Er selbst balanciert einen Stapel von Paketen, die so groß sind, dass sie ihm die Sicht versperren. Er tritt auf einen Ball, dann auf die Murmeln, stolpert, dramatische Musik kündigt sich an, doch er kann sich wieder fangen. Er schließt die Tür auf, betritt sein Apartment und wird in den nächsten, seinen letzten Minuten nichts anderes tun, als alleine und stumm in seinen Räumen alltägliche Dinge zu verrichten. Er wirft die alten Spaghetti aus der Pfanne auf die Straße, bereitet sich ebenso liebevoll eine neue Mahlzeit und packt all die schönen Dinge aus, die er sich dank eines Lotteriegewinns nun gekauft hat: einen Computer, eine goldene Uhr und einen Brillantring. Doch seine Habseligkeiten scheinen sich gegen ihn verschworen zu haben. Denn von ihm unbemerkt ist einer der Magnetbuchstaben vom Kühlschrank in den Essensrest gefallen, den er gerade in die Mikrowelle gestellt hat, und kaum hat er seine Uhr angelegt, fällt ihm der neue Ring in den Ausguss. Unerschrocken greift er hinterher, nur um jetzt an seiner neuen Uhr im Ausguss festzustecken. Das ist ausgerechnet der Moment, in dem die Mikrowelle in mehreren Stufen beginnt zu explodieren, während die Pfanne auf dem Gasherd sich so weit erhitzt hat, dass ihr Fett zu brennen beginnt. Seine Versuche, sie einarmig zu löschen, führen dazu, dass schnell 10

Rosenfeld, Der mittelalterliche Totentanz, S. 41; Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 1995, S. 149. Kiening, Das andere Selbst, S. 57. 1 1 Jutta Schuchard, Zur Rezeption monumentaler Totentänze, in: Neumann, Tanz der Toten, S. 53–69; Sörries, Katalog der monumentalen Totentänze.

Die verweigerte Todespersonifikation

der gesamte Raum in Flammen steht. Wider Erwarten bekommt er jedoch tatsächlich seine Hand wieder frei, und auch wenn sein Feuerlöscher ihn im Stich lässt und die Fenster sich wie von Geisterhand schließen, gelingt es ihm doch, über die Feuerleiter ins Freie zu fliehen. Sein Apartment explodiert über seinen Kopf hinweg. Er scheint gerettet, muss nur noch die hakelige Feuerleiter dazu bringen, ihm den Abstieg zu ermöglichen. Erst hier, auf dem festen Boden des Gehwegs kann er sich sicher fühlen – und rutscht auf den Spaghetti aus, die er zu Anfang dort hingeworfen hatte. Die Feuerleiter schließlich erledigt den Rest und durchbohrt von oben kommend seinen Kopf. Auch Evan hat also sich heftig bewegt, hat gezappelt, seinen Körper gedreht wie in einem Tanz mit dem stets drohenden Tod. Der Tod in dieser Serie allerdings erscheint nicht in Gestalt eines personalen Agenten, sondern er steckt in den Dingen. Die Gegenstände des Alltags sind es, die in den einzelnen Todessequenzen das Besondere dieser Filme ausmachen. Ihre Figuren sterben daran, dass sie von der Schnur eines Duschvorhangs erdrosselt, einem defekten Solarium verbrannt, einem Messerblock erdolcht, einer Rolltreppe zerstückelt oder einer Autowaschanlage ertränkt werden. Als körperliche Agenten wählt der Tod in diesen Filmen also die Tücke des Objekts. Denn anders als der tödliche Lastwagen im Film Duell (1971) beispielsweise geben diese Dinge keinen Anlass, über einen verborgenen „Lenker“, eine verweigerte Figur als unmittelbaren Beweger zu spekulieren. Die Dinge in Final Destination setzt der Film in Bewegung. Schließlich findet sich schon in der Frühzeit des Films die Tücke des Objekts als zentrales Motiv der Slapstick-Komödie. Wie auch beim Sterben von Evan sieht man hier eine Filmfigur lange Zeit alleine nur in Auseinandersetzung mit den sie umgebenden Dingen, die sich gegen sie verschworen zu haben scheinen. So kämpft zum Beispiel Charlie Chaplin in One A.M. von 1916 über zehn Minuten lang mit den widerständigen Gegenständen seines Hauses, in das er betrunken zurückgekehrt ist. Treppenstufen werfen ihn zu Boden, die Teppiche lassen ihm keinen festen Stand, ein Drehtisch flüchtet vor ihm, und die Sodaflasche leert sich stets in die falsche Richtung. Eine frühe Erwähnung dieser gegen den Menschen verschworenen Welt der Dinge gibt der deutsche Literaturwissenschaftler und Philosoph Friedrich Theodor Vischer 1879 in seinem literarischen Reisebericht Auch Einer. Darin beschreibt ein Mann auf der verzweifelten Suche nach seiner verschwundenen Brille die näheren Umstände dieser Verschwörung. So zeigten die Objekte zum Beispiel stets die Tendenz, sich untereinander zusammenzuschließen, um in gebündelter Kraft den Menschen zu Fall zu bringen, oder heimlich mit anderen Dingen mitzugehen und damit ihren zugewiesenen Platz zu verlassen. „Von Tagesanbruch bin in die späte Nacht, solang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke. Man muß mit ihm umgehen, wie der Tierbändiger mit

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226 Johannes Wende der Bestie, wenn er sich in ihren Käfig gewagt hat; er läßt keinen Blick von ihrem Blick und die Bestie keinen von seinem; […] So lauert alles Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Zigarre, Glas, Lampe – alles, alles auf den Augenblick, wo man nicht acht gibt.“12

Sowohl bei Vischer wie auch im klassischen Slapstick freilich überlebt der Mensch den Kampf mit den Dingen;13 eher sind es noch die Dinge selbst, die bei dieser Auseinandersetzung zu Bruch gehen. In den Final Destination-Filmen dagegen sterben die Menschen. Sie sterben sehr drastisch und körperlich, von Dingen durchbohrt und zerteilt, und verweisen somit wieder auf die Be-Dingtheit, auf die körperliche Fragilität des menschlichen Lebens. Sie scheinen damit der kulturkritischen Wendung recht zu geben, die Walter Benjamin der Auseinandersetzung zwischen den Menschen und den Dingen ihres Alltags gibt. Der Tod macht hier die Gegenstände also gleichzeitig zu seinen Agenten und führt, in einem allegorischen Verweis, deren inhärentes Programm als im Grunde unmenschliche und somit gegen-menschliche Agenten zu Ende: „Aus den Dingen schwindet die Wärme. Die Gegenstände des täglichen Gebrauchs stoßen den Menschen sacht aber beharrlich von sich ab. In summa hat er tagtäglich mit der Überwindung der geheimen Widerstände – und nicht etwa nur der offenen – , die sie ihm entgegensetzen, eine ungeheure Arbeit zu leisten. Ihre Kälte muss er mit der eigenen Wärme ausgleichen, um nicht an ihnen zu erstarren, und ihre Stacheln mit unendlicher Geschicklichkeit anfassen, um nicht an ihnen zu verbluten.“14

Zwei speziell filmische Strategien wendet die Final-Destination-Reihe dabei an, um aus dieser bei Benjamin noch latenten Bedrohung eine reale Todesmacht werden zu lassen. Eva Horn verweist hier darauf, wie der Film diese Ereignisse äußerst „eng“ verknüpft. Denn er zeigt die Dinge, wie sie unmittelbar nur aufeinander zu reagieren scheinen: ein Tasse, die von eisgekühltem Wodka einen Sprung bekommt und eine nasse Spur hinterlässt, ein Buchstaben-Magnet, der vom Kühlschrank in das Essen fällt, oder ein Ventilator, der ein hereingewehtes Heft in Fetzen reißt. Diese höchst unwahrscheinliche Verknüpfung von Missgeschicken erzeugt so in ihrer dichten Kausalität zum Ersten eine besonders hohe Narrativität: „Das Bemerkenswerte an dieser Szene ist [...] die aberwitzige Verkettung der fatalen Zufälle, [...] die nicht nur den gesamten Aufbau minutiös schildert, sondern die sich die Mühe macht, die materiellen Mechanismen des 12

Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer: Eine Reisebekanntschaft, Stuttgart/Leipzig 1884, S. 32. 13 Hartmut Bitomsky, ,Das Kino und der Tod‘ Ein Videofilm: Der Kommentar, in: Ernst Karpf (Hg.), Kino und Tod: zur filmischen Inszenierung von Vergänglichkeit. Marburg 1993, S. 63–90, hier S. 66. 14 Walter Benjamin, Einbahnstraße. Frankfurt a. M. 1995, S. 34.

Die verweigerte Todespersonifikation

Geschehens herauszuarbeiten: [...] Im Film dient diese lange Verkettung von Zufällen der Illustration einer einzigen These: Der Tod wird sich die holen, die ihm beim Flugzeugabsturz entgangen sind.“15 Die zweite Strategie besteht hier darin, dass die Filme das Sterben einleiten und ankündigen durch die Inszenierung des Films und der damit in Kraft gesetzten Aktivierung von filmischem Vorwissen. So geraten die Alltagsgegenstände immer wieder in Großaufnahme und von jeder menschlichen Handlung losgelöst ins Zentrum des Bildes. Die Großaufnahme und dramatische Musik laden diese Dinge mit Erwartung auf, rufen so ihre Handlung hervor und ermöglichen ihnen, das zu tun, was ursprünglich nicht in der Absicht des Menschen gelegen hat.16 Vor allem die frühe Filmtheorie bei Siegfried Kracauer, Béla Balázs und André Bazin hat übereinstimmend dieses besondere Verhältnis des Films zu den Dingen in Großaufnahme beschrieben. Sie erhalten durch den Film ein Eigenleben, geraten ins Zentrum der dramatischen Handlung und werden somit zu filmisch Handelnden auf gleicher Augenhöhe mit den Menschen.17 Die Dinge bleiben hier nicht länger Handlanger des Menschen, sie begnügen sich nicht damit, ihm die Welt verfügbar zu machen, sondern gewinnen ein eigenständiges filmisches Leben. Und während der Held aus Vischers Roman sich von den Dingen lediglich in seiner Rolle des souveränen, männlichen und bedeutungsvollen Subjekts herausgefordert und gedemütigt fühlt, gehen die Dinge der Final Destination-Filme noch einen Schritt weiter: Sie bringen den Menschen gleich um sein Leben. Wie sehr die Dinge dabei als Agenten des Films agieren, verdeutlicht am besten die Szene des ersten Teils, in der Terry Chaney vom Bus überfahren wird. Auf offener Straße, einer wenig befahrenen und innerstädtischen Kreuzung, wird Terry ohne Vorwarnung in einer Naheinstellung von diesem Bus aus dem Bild und damit aus dem Leben gerissen. Bezeichnenderweise wird der Fahrer des Busses auch nicht zur Filmfigur, allein das Fahrzeug in seiner Wucht bleibt zu sehen. Der Schock, den dieser Unfall auslöst, verdeckt dabei, wie der Film selbst sich hier mit den Dingen verbündet hat. So wird das Fahrzeug bis zum Aufprall von keinem der Anwesenden bemerkt, auch hat es sich akustisch nicht vorher angekündigt. Der Film verlässt hier kurzzeitig die Übereinkunft, das für die Handlung jeweils Bedeutendste auch zu zeigen. Bei einer zweiten Sichtung stellt der Film zudem noch aus, dass er sich dieser Macht sehr wohl bewusst ist, mit der er über die Menschen des Films verfügt. So zeigt die Kamera in zwei 15

Eva Horn, Die Zukunft der Dinge: Imaginationen von Unfall und Sicherheit, in: Behemoth: A Journal on Civilisation 4 (2011), S. 26–57, hier S.40. 16 Vgl. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt a. M. 1997, S. 91–93. 17 André Bazin, Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975, S. 27–30; Balázs, Der sichtbare Mensch, S. 31f. und 51–55; Siegfried Kracauer, Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 76–89.

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228 Johannes Wende

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Die Zeugen des Busunfalls

Schwenks, die Terry verfolgen, dass die Straße, aus der der Bus angerast kommt, eigentlich durch einen großen Baukran mit zahlreichen Bauarbeitern versperrt ist. Kein geheimnisvoller anderer, kein Phantom stellt diesen Figuren nach, und keine physikalischen Regeln der Alltagswelt können sie beschützen. Die Dinge als Agenten des Todes sind also allein vom Film in Bewegung gesetzt. Diese Verfügungsmacht des Films findet eine Gestalt höchstens in einer ungreifbaren und flüchtigen Erscheinung: Ein unerklärbarer Windhauch dringt durch geschlossene Fenster in die Räume der Menschen, die kurz darauf sterben werden. Der Windhauch steht in der Kulturgeschichte des Todes seit der Antike sowohl für die Manifestation der Seele, die im Moment des Sterbens den Körper verlässt,18 als auch sprichwörtlich für die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens selbst; hier vor allem im Bezug auf das Zitat des Buches Kohelet im Alten Testament, demzufolge die gesamte irdische Welt aus Sicht der Religion nicht mehr bedeutet als ein Lufthauch.19 Eine Vorankündigung auch des personifizierten Todes, wie sie beispielsweise in der literarischen Vorlage von Rendezvous mit Joe Black (1998), dem Theaterstück La morte in vacanze Erwähnung findet.20 Der Lufthauch wird hier zur Manifestation einer Vorahnung, die, wie er, flüchtig und ungreifbar bleibt und doch eine Ahnung von Grabeskälte vermittelt. Der Lufthauch bleibt jedoch nicht allein. Denn zum anderen gewinnen hier die Dinge auch als Rahmung der menschlichen Handlung eine besondere Bedeu 18

Vermeule, Aspects of Death, S. 7. Ariès, Geschichte des Todes, S. 318–332. Norbert Ohler, Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990, S. 158. 19 AT: Kohelet 1,2. 2 0 Alberto Casella, La morte in vacanze, Rom 1995, S. 12.

Die verweigerte Todespersonifikation

tung. Die Dinge werden hier zu Zeichen, denn der Film ermöglicht und verstärkt auch ihre Zeichenhaftigkeit. So verpackt die Lehrerin Valerie Lewton auf ihrem Weg zum Tod durch den eigenen Messerblock noch ihre Habseligkeiten, ein angespitztes Horn in Luftpolsterfolie; ihre Haustür, von hinten beleuchtet, zeigt einen nach unten gekehrten Dolch, ihre übergroßen Streichhölzer versprechen einen „First Strike“. All diese Details weisen auf die Umstände ihres drohenden Todes hin, auch ohne selbst darin verwickelt zu sein. Die Gegenstände im Haus der Valerie Lewton etablieren allerdings keine gemütliche Behausung für eine Leiche. Sie verweisen auf das bedrohliche, dem Menschen widerständige, dem feindlichen Entgegenkommen des Objekts als objectum, also als das im lateinischen Wortsinn „Entgegengeworfene“. Gegen diese Gewalt der dinglichen Welt hilft demzufolge auch nur eine Strategie, wie sie die Hauptfigur Alex Browning in der zentralen Erkenntnis der Figuren formuliert: „Wir müssen die Zeichen lesen lernen!“ Jedes kleine Ding, jeder Alltagsgegenstand kann also auf den drohenden Tod hinweisen und will so beachtet werden. Der „Eigensinn“ der Objekte eröffnet somit auch ihre kommunikative Funktion.21 Nun findet Alex in zufälligen Erscheinungen der Dingwelt die Zeichen, die den drohenden Tod einer Figur ankündigen: in den noch glimmenden Blättern von verbranntem Laub den Hausbrand der Valerie Lewton, im Fetzen des zerrissenen Magazins die Strangulation des Tod Waggner, im kaputten Henkel des Klapptisches den drohenden Flugzeugabsturz. Darin noch mehr als im Motiv des Lufthauchs eröffnet dieser Film ein explizites Motiv der Allegorie. Denn die Figuren selbst sind hier auf der Suche nach den verborgenen Hinweisen, die in jedem einzelnen Ding der sichtbaren, vordergründigen Welt auf ein Dahinter verweisen, das direkt den Tod bedeutet. Vor allen anderen kommt damit dem Protagonisten Alex die Rolle der allegorischen Schlüsselfigur zu. Er kann die unbedeutenden Zeichen, wie sie in unüberschaubarer Anzahl in den alltäglichen Dingen stecken, von den tatsächlich bedeutsamen Zeichen unterscheiden und wird so zur Spiegelungsfigur des Zuschauers. Wie im Verständnis der allegorischen Weltsicht werden also auch in diesen Filmen die Erscheinungen der sichtbaren Welt nach Zeichen des bevorstehenden Todes befragt – eine Suche, die vor allem die Zuschauer der DVD (dem als Alltagsding verfügbar gewordenen Film) beim wiederholten Sehen auf ihrer Suche nach diesen Zeichen belohnt. So wird beispielsweise der Baukran, der dem tödlichen Autobus die Straße versperrt, erst sichtbar, nachdem man die Szene mehrfach gesehen hat. Und über die Zeichenhaftigkeit der filmischen Umwelt tauschen sich Fans der Reihe in Internetforen wie in den Begleittexten von youtube aus.22 Die zentrale Forderung 21

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Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 188. http://www.youtube.com/watch?v=2HQ6uVnpkqI und http://www.youtube.com/ watch?v=CYt13cvXGb4 und http://www.youtube.com/watch?v=5Y8R44ckOJo (letztes

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an die Filmfiguren – „Wir müssen die Zeichen lesen lernen!“ – überträgt sich hier also auf die Zuschauer des Filmes selbst, die aus der Verfügungsgewalt über Geschwindigkeit und Wiederholung des Films auf DVD noch gründlicher als der Filmzuschauer der vor-digitalen Zeit auf die Suche nach Zeichen gehen können. Das Programm der Allegorie seit dem Barock, die gesamte sichtbare Welt als Hinweis-Komplex auf die Vergänglichkeit des Menschen zu lesen, wird somit zu einer Suchbewegung um eine verweigerte, weil unfassbare Personifikation herum. Wenn das Stillleben als ein traditionelles Genre der Kunstgeschichte verstanden wurde, um eben dieses allegorische Programm anhand von unbelebten Dingen durch ihre Repräsentation ins Werk zu setzen, dann setzen die Filme der Final-Destination-Reihe diese Dinge nun in Bewegung. In den besonderen Bedingungen, die der Film der Darstellung der Dinge eröffnet, findet sich hier auch eine Zuspitzung dieses allegorischen Prinzips. Der Film hebt die Gegenstände auf Augenhöhe des Menschen, sie werden zu Zeichen und gehen noch darüber hinaus. Sie werden zu tatsächlichen Akteuren und Agenten des Todes. Ein Gedanke, der schließlich in Final Destination 4 seine Vollendung findet. Dieser Film wurde im 3D-Format produziert und vorgeführt; eine Technik, die gerade der frühen Filmtheorie des fotografischen Realismus häufig als eine weitere, zwangsläufige Steigerung des spezifisch Filmischen erschien. André Bazin weist darauf hin, dass ursprünglich der Film Bestrebungen des 19. Jahrhunderts entstammt, die Wirklichkeit so allumfassend wiederzugeben wie möglich. Die räumliche Tiefe wird dabei als ein weiterer Schritt auf diesem Weg genannt. Jede technische Fortentwicklung, die den Eindruck von physischer Realität verstärkt, bringe so das Kino seinem ursprünglichen Ziel, dem „Mythos vom totalen Film“, tatsächlich ein Stück näher.23 Damit rückt auch und vor allem die Darstellung der Dinge noch näher an den Menschen heran, denn gerade die umherfliegenden, herausstechenden und entgegen kommenden Gegenstände spielen die Wirkung der 3D-Darstellung, den sogenannten bouncing-ball-Effekt voll aus. Stärker noch als in der zweidimensionalen Wiedergabe werden sie damit zu Objekten im Wortsinn des lateinisch „Entgegengeworfenen“, hier also zu Agenten der feindlichen, bedrohlichen und von selbst bewegten Kraft des Todes. In Vor- und Abspann von Teil 4 kommt diese Erscheinung zu einem Höhepunkt, wenn die Darstellung früherer Todessequenzen aus älteren Filmen noch einmal, dieses Mal jedoch in 3D und in computeranimierter Röntgendarstellung wiederholt werden. Hier, in dieser wiederum allegorisch gesteigerten Darstellung des dahinterliegenden Skeletts zeigen sich die Dinge, wie sie solider als die dünnen Knochen den Menschen durchdringen und zerstückeln.

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Abrufdatum: 29.12.2014) Bazin, Was ist Kino?, S. 32.

Die verweigerte Todespersonifikation

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Die tödliche Vorhangschnur aus dem Vorgängerfilm im Vorspann von Teil 4

In digitalen Kamerafahrten sieht man nun die Leiter, wie sie Evans Schädel durchbohrt, sieht den Autobus, der Terry zerschmettert, und verfolgt das fallende Messer in den Körper Valerie Lewtons. In diesen Röntgenaufnahmen erscheint der Mensch somit als Teil dieser gegenständlichen Welt, nun jedoch als ihr schwächster und verwundbarster. Die digitalen Möglichkeiten der unbeschränkten Darstellung verweisen den Menschen so am bislang effektivsten auf seine allegorischen Plätze. Ein absplitternder Zahn ist dann auch das letzte dem Zuschauer entgegenfliegende Ding, das diesen Film beendet. Nur in Hinweisen aus traditioneller Ikonografie und als ein Phantom, das nicht gestellt werden kann, gewinnt dieser filmische Tod also personale Qualitäten. Wenn der Tod selbst sich häufig als bloße Funktion eines universalen Plans bezeichnet, dann findet er hier seine treffendste Veräußerung. Denn in den Funktionen des Films selbst, in seinen Agenten triumphiert er in diesen fünf Filmen in unveränderter Gestalt: Der ungreifbare Tod in den bewegten Gegenständen der Final-Destination-Reihe kann das Versprechen nach immer gleicher Variation des unentrinnbaren Endes unverändert mächtig in Szene setzen.

Literatur: Ariès, Philippe. Bilder zur Geschichte des Todes, München/Wien 1984. Ariès, Philippe. Geschichte des Todes, München 1995. Balázs, Béla. Der sichtbare Mensch: oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M. 2001. Barthes, Roland. Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988. Bazin, André. Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975. Benjamin, Walter. Einbahnstraße. Frankfurt a. M. 1995, S. 34. Bitomsky, Hartmut. ,Das Kino und der Tod‘ Ein Videofilm: Der Kommentar, in: Ernst Karpf (Hg.), Kino und Tod: zur filmischen Inszenierung von Vergänglichkeit. Marburg 1993, S. 63–90. Casella, Alberto. La morte in vacanze, Rom 1995.

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232 Johannes Wende Deleuze, Gilles. Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt a. M. 1997. Echle, Evelyn. Danse macabre im Kino: die Figur des personifizierten Todes als filmische Allegorie, Stuttgart 2009. Guthke, Karl S. Ist der Tod eine Frau? Geschlecht und Tod in Kunst und Literatur, München 1994. Horn, Eva. Die Zukunft der Dinge: Imaginationen von Unfall und Sicherheit, in: Behemoth: A Journal on Civilisation 4 (2011), S. 26–57. Kiening, Christian. Das andere Selbst: Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003. Kracauer, Siegfried. Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1985. Macho, Thomas. Todesmetaphern: Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a. M. 1987. Ohler, Norbert. Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990. Rosenfeld, Hellmut. Der mittelalterliche Totentanz, Münster/Köln 1954. Schuchard, Jutta. Zur Rezeption monumentaler Totentänze, in: Neumann, Wolfgang (Hg.). Tanz der Toten – Todestanz: der monumentale Totentanz im deutschsprachigen Raum, Dettelbach 1998, S. 53–69. Sörries, Reiner. Katalog der monumentalen Totentänze im deutschsprachigen Raum, in: Neumann, Wolfgang (Hg.), Tanz der Toten - Todestanz: der monumentale Totentanz im deutschsprachigen Raum, Dettelbach 1998, S. 71–344. Vermeule, Emily. Aspects of Death In Early Greek Art and Poetry, Los Angeles 1979. Vischer, Friedrich Theodor. Auch Einer: Eine Reisebekanntschaft, Stuttgart/Leipzig 1884. Wende, Johannes. Der Tod im Spielfilm, München 2014.

Abbildungsnachweise: Abbildung 1: Warner Bros. Entertainment Inc. 2009 Abbildung 2: Final Destination (USA 2000), DVD: Kinowelt Abbildung 3: Final Destination 4 (USA 2009), DVD: Warner Bros. Entertainment Inc.

GERARDO SCHEIGE

Klangliche Übergänge Zu Todesstimmungen in der Neuen Musik Jegliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Todes sieht sich einem epistemischen Hindernis gegenübergestellt, das aus einer zwischen Diesseits und Jenseits klaffenden Wahrnehmungslücke erwächst: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“1 Obwohl Epikur mittels dieser strikten Trennung in erster Linie die Furcht vor dem Tode zu tilgen sucht, verweist sein viel zitiertes Diktum zugleich auf die Schwierigkeit, sich den letzten Dingen hermeneutisch zu nähern. Dass dieser Umstand jedoch nicht unweigerlich zu Ludwig Wittgensteins Postulat „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“2 führt, belegt die geradezu inflationäre wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Lebensende. In medizinisch-naturwissenschaftlichen, philosophischen, theologischen, religionswissenschaftlichen, psychologischen, soziologischen und kulturgeschichtlichen Beiträgen wird der Tod durchleuchtet; letztlich kann es aber – von sogenannten Nahtoderfahrungen einmal abgesehen – nur bei einem Herantasten, bei einem Abtasten seiner Peripherie bleiben. Auch in der künstlerischen und literarischen Produktion ist die Thematik des Todes allgegenwärtig. Bildliche Darstellungen, Allegorien und Beschreibungen zeichnen unter Nutzung aller zur Verfügung stehenden Mittel abstrahierte Konkretisierungen dieses konkreten Abstraktums. Der Tod präsentiert sich darin in wechselnden Gewändern, maskiert oder buchstäblich nackt bis auf die Knochen, als Skelett und Schnitter, der seine Aufgabe zumeist völlig lautlos, bisweilen aber tosend-opulent erfüllt. Musik kommt in diesem Zusammenhang aufgrund ihrer Wesenheit einer explizit zeitlich organisierten Kunstform gemeinhin eine herausragende Bedeutung zu. Volker Kalisch spricht im Aufsatz Musik und Tod – eine Grenzüberschreitung? den Aspekt der engen Relation beider Bereiche direkt an: „Wir werden, ohne anders zu können, der seinsbestimmten Parallelität der Zeitlichkeit von Musik und unserem Existieren durch das Erleben musikalisch gestalteter Zeitverläu 1

Epikur, Von der Überwindung der Furcht. Katechismus – Lehrbriefe – Spruchsammlung – Fragmente, eingeleitet, übersetzt und hrsg. von Olof Gigon, Zürich 21968, S. 101. Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, der auf der transmortale V (15. März 2014) in Kassel gehalten wurde und einen Teil meines Dissertationsprojekts untersucht. 2 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus – Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main 1963, S. 115.

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fe gewahr.“3 Die hierin geäußerte Annahme einer wahrnehmungsbedingten natürlichen Verknüpfung von menschlicher Existenz und musikalischem Prozess, von Vergänglichkeit und Verklingen, manifestiert sich primär durch ihre strukturelle Verwandtschaft. Trotz dieser auf den ersten Blick einleuchtenden formalen Gemeinsamkeit lässt sich der Tod nicht per se jedem musikalischen Werk aufoktroyieren. Rezipiert wird beispielsweise ein verklingender Akkord zunächst lediglich als solcher, wenngleich er nahezu immer Teil eines strukturellen Prozesses – ob in harmonischer oder klangfarblicher Funktion – mit Vorhergehendem und Nachfolgendem ist. Nur selten vermag das Hören von Musik, vermag dieser zeitlich ablaufende Vorgang dem Zuhörer seine eigene Sterblichkeit ins Bewusstsein zu rufen. Wie Hans-Christian Schmidt hervorhebt, kann dies nicht ausschließlich mittels formaler Bezüge gelingen: „Wir müssen [...] Erklärungshilfe herbeiziehen im Text, mit dem sich Musik verbindet (oder vor langem verbunden hatte); wir müssen Aufklärung erbitten bei programmatischen Verstehenshinweisen; wir müssen uns auch mit den biographischen Daten dieses oder jenes Komponisten vertraut machen, um die klangliche Anspielung als absichtsvoll erkennen zu können. [...] Dieses Verstehen ist deswegen nicht immer so leicht, weil der Tod in der Musik nicht als ein aktionales, sondern als ein reaktionales Ereignis auftritt; in wenigen Fällen also begegnen wir dem Versuch, den Tod gewissermaßen gegenständlich darzustellen, in den meisten Fällen haben wir es stattdessen mit den sehr subjektiven Erschütterungen zu tun, mit Re=aktionen, Re=flexionen, mit persönlichen Betroffenheiten.“4

Ergo scheint kein natürliches Band Musik und Tod zu einen, scheint das Todesmoment dem musikalischen Fluss nicht implizit inskribiert, vielmehr schreibt sich dieser auf unterschiedliche Art und Weise von außen in die musikalische Faktur ein. Den „subjektiven Erschütterungen“, „Re=aktionen“, „Re=flexionen“ und „persönlichen Betroffenheiten“ gehen für gewöhnlich nachdrückliche Erfahrungen voraus, in denen der Tod des Anderen sich trotz seiner epistemischen Distanz unmittelbar zeigt. Paradigmatisch dafür sind die zahllos verübten Gräuel im 20. Jahrhundert – allen voran die Shoah. Angesichts barbarischer Vernichtungsszenarien im Zuge von Krieg und Genozid erreicht das Phänomen des Todes eine Direktheit und Drastik, die in ihrer Unbegreiflichkeit eine angemessene Versprachlichung behindern. So bewegt sich das daraus oft resultierende Schweigen zwischen blanker Ohnmacht und einer konsequenten, nur in der 3

Volker Kalisch, Musik und Tod – eine Grenzüberschreitung?, in: ders. (Hg.), Musica et Memoria. Trauermusik durch die Jahrhunderte, unter Mitarbeit von Marcell Feldberg und Hans-Peter Retzmann, Essen 2007, S. 27. 4 Hans-Christian Schmidt, Todes-Symbole in der Musik, in: Randolph Ochsmann (Hg.), Lebens-Ende. Über Tod und Sterben in Kultur und Gesellschaft, Heidelberg 1991, S. 49f.

Klangliche Übergänge

Sprachlosigkeit erlangten Präzision. Das gilt auch für Tode bar jeder Gewalt und Brutalität, handelt es sich hierbei ebenso um Spannungsverhältnisse, die einer auf Unkenntnis basierenden Fremdheit, einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von innerer Empfindung und äußerem Ereignis unterliegen. Genau an dieser Schnittstelle sind Stimmungen anzusiedeln, erschwert doch ihre sowohl subjekt- als auch objektbezogene Ausrichtung deren exakte Bestimmung. Als wesentliches Charakteristikum von Stimmungen erweist sich – wie David Wellbery betont – eine bipolare, ontologisch dichotome Anlage: „Stimmungen gehören zum emotionalen Bereich und weisen, wie alles in diesem Bereich, Ichqualität auf. Zum Sinn einer Stimmung gehört mit anderen Worten, daß sie als ,meine‘ erlebt wird. Aber Stimmungen sind – im Gegensatz zu Gefühlen – nicht intentional auf einen Gegenstand gerichtet. Sie sind diffus, teilen sich allem, was man einzeln wahrnimmt oder denkt, mit, ohne daß sie an ein spezifisches Objekt gebunden wären. [...] Stimmungen sind nicht bloß Weisen des psychischen Innenlebens, sondern auch Atmosphären, die uns umgeben. Man kann von einer ,Herbststimmung‘ sprechen und damit die ,laue Luft‘, den ,blassen Schimmer‘ der nassen Dächer, das ,Röcheln des Regenwassers in den Rinnen‘, das ,bange Ziehen der kleinen Wolken durch das Grau‘ meinen. Besser: Man meint das ganze Zusammenspiel dieser Elemente, die sämtlich als zur Stimmungskomplexion gehörend empfunden werden.“5

Während dieses Attribut einerseits das idiosynkratische Potenzial von Stimmungen ausmacht, bedingt andererseits die damit einhergehende Problematik einer sprachlichen Spezifizierung die Schwierigkeit hinsichtlich ihrer Bestimmbarkeit. Und dennoch haftet Stimmungen eine phänomenale Einzigartigkeit und Präzision an, die sich einem ausdrücklich enaktiven Rezeptionsmoment verdanken. Diese sich im Körperlichen konkretisierende Spürbarkeit steht wiederum einer erschwerten abstrahierenden Reflexion gegenüber. Ausschlaggebend dafür ist ihre Unterschwelligkeit: Schier unmerklich scheinen sich Stimmungen auszubreiten, den Raum gewissermaßen zu (er-)füllen und dadurch die Wahrnehmung zu beeinflussen, mitunter gar dezidiert zu lenken. Spürbar werden sie dann zum Beispiel in räumlichen Wechseln wie dem Übergang von einer hell erleuchteten, schwülen Sommerlandschaft in die kühl-dunkle Atmosphäre einer Kirche.6 5

David E. Wellbery, Art. Stimmung, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/ Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart/Weimar 2003, S. 704f. Vgl. hierzu auch Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995, S. 21f. 6 Vgl. Eva-Maria Hochkirchen/Gerardo Scheige/Jan Söffner, Einleitung, in: dies. (Hg.), Stimmungen des Todes und ihre Bestimmung. Theorie und Praxis im Dialog, Paderborn 2015, S. 15.

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Bei Todesstimmungen lassen sich Besonderheit und Aporie gleichsam in potenzierter Form feststellen. Die Schwelle zwischen Diesseitigem und Jenseitigem – einem den Lebenden sich kategorisch nur schattenhaft, den Sterbenden sukzessive konturierter zeigenden Stadium, das Tote bereits überschritten haben – fungiert als epistemischer Nexus. Partiell vermögen Todesstimmungen eine solche Verknüpfung zu generieren und in der emotiven Teilhabe von Abschiedsritualen das unauflösbare Band zwischen Leben und Tod zu unterstreichen. Diese Nahtstelle verleiht ihnen aber nicht allein epistemische, sondern ebenfalls ästhetische Wirkungskraft. Damit ist weniger die eingangs erwähnte strukturelle Verwandtschaft gemeint, die Musik in diesem Kontext allzu gerne attestiert wird. Vielmehr fällt „das Erleben musikalisch gestalteter Zeitverläufe“ mit der von Martin Heidegger beschriebenen, ausnahmslos präsenten „Gestimmtheit“7 des Daseins zusammen. Der Rückgriff auf Heideggers eigenwillige, aus einer heutigen Warte nationalsozialistisch kontaminierten Terminologie dient vorrangig einer Verdeutlichung der Allgegenwart von Stimmungen sowie deren Oszillieren zwischen Subjekt und Objekt, deren Überbrückung einer Dichotomie von Innen und Außen. Den offenkundigen Konnex zur Musik verrät die Etymologie des Begriffes: Dieser verweist auf die Festlegung der Intervallverhältnisse beispielsweise im technischen Vorgang des Stimmens eines Instruments; ein Vorgang, der sowohl dessen adäquate akustische Proportionen als auch den angemessenen Zusammenklang mit anderen Instrumenten – folglich ihre gegenseitige Einstimmung – gewährleistet. Davon ausgehend vollzieht Leo Spitzers akribische Nachzeichnung und historische Verortung des Stimmungsbegriffes den Schritt zur pythagoreischen Theorie der Sphärenharmonie, die die Ordnung des Kosmos im buchstäblichen Sinne als Sinfonie der Sterne und Planeten versteht.8 Ungeachtet ihrer Unhörbarkeit für das menschliche Ohr musikalisiert der kosmisch-jenseitige Zusammenklang himmlischer Konstellationen unterschwellig die Geschicke der irdisch-diesseitigen Welt. Vor diesem Hintergrund ist die Metapher ,Stimmung‘ in der Lage, die latent spürbare Ganzheit vielfältigster Empfindungen zu umfassen. Eine musikwissenschaftliche Nutzbarmachung der Stimmung als analytischinterpretatorisches Instrument steht weitgehend noch aus.9 Dabei offeriert gerade ihre zugleich diffuse und präzise Anlage eine hermeneutische Herangehensweise, die in der detaillierten Analyse des musikalischen Materials darüber hinausgeMartin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 182001, S. 134. Vgl. Leo Spitzer, Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word „Stimmung“, hrsg. von Anna Granville Hatcher, Baltimore 1963. 9 Eine wichtige musikästhetische Arbeit stellt Eckhard Tramsens Dissertation dar. Siehe Eckhard Tramsen, Bilder und Sprache. Die Kritik des existenzphilosophischen Protests bei Adorno und Heidegger, phil. Diss. Freie Universität Berlin 1998. 7

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Klangliche Übergänge

hende Aspekte des Unbestimmten zu (be-)greifen ermöglicht. Insbesondere im Rahmen der sogenannten Neuen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich durch eine für jedes Werk geltende, fortwährende Entwicklung eigenständiger kompositorischer Mittel und Strukturen auszeichnet – ein Umstand der unweigerlich auch ihre Interpretation kompliziert –, können Stimmungen fraglos einen fruchtbaren Zugang liefern. Bezüglich des epistemischen Spezialfalls der Todesstimmungen bilden etwa klangliche Übergänge und akustische Leerstellen ergiebige Anknüpfungspunkte, da an ihnen musikalisiertes Nichts manifest wird. Indirekt sind an ihnen ebenjene „subjektiven Erschütterungen“ und „persönlichen Betroffenheiten“ abzulesen, die in Form von musikalischen „Re=flexionen“ des Todes Eingang in das Werk finden. Als exemplarisch für die Grundlage einer solchen musikalischen Reflexion erweist sich die Vita des ungarisch-österreichischen Komponisten György Ligeti (1923–2006), der in einem 1978 gehaltenen Rundfunkvortrag über die systematische Vernichtung seiner Familienangehörigen durch die Nationalsozialisten berichtet: „Meine Eltern und mein Bruder waren verschleppt, in der Klausenburger Wohnung hausten Fremde, unsere gesamte Habe war verschwunden. Ich erhielt in der Wohnung ein Zimmer und ein Bett. Im April 1945 kam meine Mutter, die als Ärztin im Frauenlager Auschwitz-Birkenau überlebt hatte, nach Klausenburg zurück. Mein Vater kam über Auschwitz nach Buchenwald, von dort nach Bergen-Belsen, er überlebte nicht. Angeblich starb er im April 1945, kurz vor dem Einmarsch der Briten nach Bergen-Belsen, an Flecktyphus oder an Unterernährung. Mein um fünf Jahre jüngerer Bruder Gábor machte im Januar 1945 nach der Evakuierung des Lagers Auschwitz den berüchtigten Wintermarsch durch und kam mit schweren Erfrierungen in das KZ Mauthausen. Sein Name befindet sich auf der Liste der Toten in Mauthausen, als Todesursache wurde Herzversagen genannt, das bedeutet, wie wir es nachträglich wissen, Phenolspritze oder Erschießen. In der Familie meines Vaters blieben zwei ältere Brüder im Budapester Ghetto am Leben, ein jüngerer Bruder wurde mit seiner Frau von den Pfeilkreuzlern erschossen. Die jüngere Schwester meines Vaters und ihr Ehemann wurden in Auschwitz vergast. Ebenso die ältere Schwester meiner Mutter und ihr Ehemann. Die zweitälteste Schwester meiner Mutter kam im KZ Ravensbrück ums Leben, durch medizinische Experimente, wie es hieß.“10

In Anbetracht dieser zutiefst grausamen Schilderung verwundert Ligetis wiederholte kompositorische Auseinandersetzung mit dem Tod nicht, zumal ihn aufgrund des Faktums, der Shoah entkommen zu sein, zeitlebens Schuldgefüh-

10

György Ligeti, Mein Judentum, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, S. 27f.

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le quälten.11 Nichtsdestoweniger handelt es sich bei seinen Kompositionen um keine Musik gewordenen Anklagen – anders als beispielsweise Luigi Nonos offensichtlich politisches Tonbandstück Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (1966) –, sondern um introvertierte Reflexionen, die die biografisch durchsetzte Allgegenwart eines gewaltsamen Todes gleichsam verschleiert zeigen. Dies korrespondiert mit Ligetis statischer Musik der 1960er Jahre, in der Klangflächen und -bänder formende Einzelereignisse zumeist kaum wahrnehmbar sind, sodass die Impression einer musikalischen Versteinerung vorherrscht. Der äußeren, zähflüssigen Unbeweglichkeit der kompositorischen Großform steht indes ein im Inneren stattfindendes, pausenloses klangliches Flirren der mikroformalen Elemente gegenüber; ein Spannungsverhältnis, das eine ungeheure atmosphärische Dichte bewirkt. Auf den Aspekt einer stimmungshaften Evokation verweist bereits der Titel des 1961 entstandenen Orchesterwerkes Atmosphères, das erst außerhalb des Konzertsaals – wohlgemerkt ohne Ligetis Autorisierung – große Bekanntheit erlangte: Mit diesem Stück beginnt Stanley Kubricks Science-Fiction-Film 2001: Odyssee im Weltraum (1968), jedoch nicht in der herkömmlichen Funktion einer musikalischen Untermalung des Visuellen, vielmehr wird die an einen Schwarm gemahnende Musik zur vordergründigen Gestimmtheit des Bedrohlichen. Währenddessen ist, noch vor der Einblendung des Metro-Goldwyn-Mayer-Signets, lediglich eine schwarze Leinwand zu sehen. Annährend drei Minuten lang starrt der Zuschauer ins enigmatische Dunkel, das sich in seiner Großflächigkeit und Unerklärbarkeit als epische Vorausdeutung des Monolithen im Film interpretieren ließe. Dieser massive tiefschwarze Stein unbekannter Herkunft, den klanglich stets das Kyrie aus Ligetis Requiem (1963/65, revidiert 1997) begleitet, tritt explizit in Momenten des Umbruchs, des Übergangs hervor. Dass der Monolith zunächst auf der Erde, in einer späteren Sequenz auf dem Mond und gegen Ende in einem zwischen Weltall und Imagination angesiedelten surrealistisch anmutenden, der finalen Wiedergeburt vorangestellten Sterberaum erscheint, unterstreicht eine sich ins Kosmische ausweitende Bewegung, die in Verbindung mit Musik – ob intendiert oder nicht – wiederum einen Bogen zur sphärenharmonischen Stimmung schlägt. In nuce komprimiert das allumfassende Schwarz zu Beginn alle folgenden Ereignisse dieser Reise vom Diesseits ins Jenseits und zurück, bildet aber zugleich die vollständige Abwesenheit von allem, das infinite Nichts.12 Kubricks Entscheidung für Atmosphères dürfte in erster Linie deren rätselhafter Klangwelt geschuldet sein, da sich die dem Stück eingeschriebene Todesstimmung nur dank zusätzlicher Explikationen offenbart. In einer Sendung des Bayerischen 11

Zur Theorie des Überlebenden-Syndroms siehe William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom / Seelenmord, Frankfurt am Main 1980. 1 2 Vgl. Hochkirchen/Scheige/Söffner, Einleitung, S. 16–18.

Klangliche Übergänge

Rundfunks vom 27. Mai 1963 hat Ligeti die Todeskonnotation emphatisch hervorgehoben: „Es ist dem Andenken an Mátyás Seiber gewidmet und enthält in symbolischer Form Momente eines Requiems.“13 Die Zueignung für den 1960 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen ungarisch-britischen Komponisten Seiber liefert ein erstes Indiz hinsichtlich Ligetis persönlicher Motivation; wie der vom ihm verwendete Begriff „symbolisch“ allerdings verdeutlicht, lassen sich etwaige Bezüge zur Missa pro defunctis jedoch ausschließlich auf assoziativem Wege herstellen.14 Momente eines musikalisierten Todes finden sich konkret in den Übergängen zwischen den einzelnen 21 Abschnitten, die aufgrund ihrer Klangcharakteristik des Unterschwelligen als 21 Stimmungen gelesen werden können: „Die verschiedenen Zustände des musikalischen Materials lösen einander ab oder verwandeln sich unmerklich einer in den anderen, ohne daß es zu kausalen Zusammenhängen innerhalb des Formverlaufs käme.“15 Beispielhaft für eine solche Ablösung respektive Wandlung ist der Atmosphères geradezu in zwei Hälften teilende „Sturz in tartaro“16, den musikalisch der abrupte Schnitt vom Altissimo der Piccoloflöten und Violinen (g3–ais3) durch das tiefe chromatische Band der Kontrabässe (Cis–Gis) verkörpert. Der plötzliche Fall in die abyssische Unterwelt markiert einen radikalen Stimmungswechsel, der einen für den Zuhörer bis zu diesem Zeitpunkt orphischen, latent spürbaren Todes-Subtext freilegt. Ligetis Erklärung seiner kompositorischen Intention veranschaulicht einerseits dieses invertierte Verhältnis von Vor- und Hintergründigem sowie andererseits ein sich daraus ergebendes formales Gerüst, das die Unfassbarkeit des Todes mit musikalischen Mitteln zu reflektieren sucht: „Ich nahm mir vor, in meinem nächsten Werk die Dualität von klaren Einzelgestalten und dichten Verschlingungen auszuschalten und die musikalische Form nur aus klanglichem ,Hintergrund‘ hervorgehen zu lassen, wobei dieser ,Hintergrund‘ nicht mehr als solcher bezeichnet werden kann, da kein ,Vordergrund‘ mehr vorhanden ist. Es handelt sich nun um ein den ganzen musikalischen Raum gleichmäßig ausfüllendes feinfaseriges Gewebe, dessen interne Bewegungen und Veränderungen die Artikulation der Form bestimmen [...] – eine Form, die in ihrer Veränderung Unveränderliches widerspiegelt: in ihrer Bewegung Stillstand, in ihrer Endlichkeit Unbegrenztheit der Zeit.“17

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György Ligeti, Über Atmosphères, in: ders., Gesammelte Schriften, a.a.O., S. 181. Vgl. Harald Kaufmann, Strukturen im Strukturlosen. Über György Ligetis „Atmosphères“ (1962), in: ders., Spurlinien. Analytische Aufsätze über Sprache und Musik, Wien 1969, S. 114f. 15 Ligeti, Über Atmosphères, S. 181. 16 Kaufmann, Strukturen im Strukturlosen, S. 115. Vgl. auch Christoph von Blumröder, Neue Musik im Spannungsfeld von Krieg und Diktatur, Wien 2009, S. 170–172. 17 Ligeti, Über Atmosphères, S. 181/184. 14

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Atmosphères stellt eine rigorose Weiterentwicklung der zuvor in Apparitions für Orchester (1958–59) erprobten Kompositionstechniken – gewissermaßen von den ,Erscheinungen‘ zu den ,Stimmungen‘ – dar. Das Fluidum des klanglichen Hintergrunds schreitet schier unaufhörlich fort, bis es letztlich in drei leere Takte mündet, mit denen das Stück endet. In diesem Schweigen, das als „ein Verschwinden gleichsam im Nichts“18 beschrieben und mit „pppp morendo“ eingeleitet wird, kulminiert die musikalische Fusion sich gegenseitig ausschließender Zustände wie „Veränderung“ und „Unveränderliches“, „Bewegung“ und „Stillstand“, „Endlichkeit“ und „Unbegrenztheit der Zeit“: „Ein 22. Abschnitt existiert nur imaginär: Er dauert laut Partiturvorschrift 19 Sekunden und bringt die reale wie auch die psychische Nachhallzeit in der Erinnerung des Hörers, der neun Minuten lang das in sich abgewandelte Phänomen eines stehenden Klangkomplexes vernommen hat und nun plötzlich Stille erlebt. Es ist dies die extremste Möglichkeit, Atmosphärisches anzudeuten.“19

Paradoxerweise kondensiert sich die das Werk kennzeichnende Flüchtigkeit in dieser scheinbar ausgehöhlten „Nachhallzeit“, deren klangliches Vakuum entschieden nach einem semantischen Gehalt verlangt. Nicht das viel beschworene Unsagbare, sondern das Unaussprechliche des Todes, ein die um Fassung ringenden Lebenden fixierendes Nichts wird hier auf 19 Sekunden konzentriert. Zweifelsohne drängt sich Ligetis Biografie in diesem Zusammenhang förmlich auf, doch zeigen auch andere Werke der 1960er Jahre, dass der programmatische Schluss von Atmosphères kein Einzelfall ist: Sowohl das bereits erwähnte Requiem für Sopran- und Mezzosopran-Solo, zwei gemischte Chöre und Orchester als auch Lux aeterna für sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella (1966) klingen mit beklemmender Stille aus. Während das von Stimmungsschwankungen – Bitten nach Erbarmen und ewiger Ruhe auf der einen, Schrecknisse des Jüngsten Gerichts auf der anderen Seite – durchdrungene Requiem jegliche zwischen Hoffnung und Angst changierenden Empfindungen in einer fermatierten Generalpause verdichtet, lösen sieben leere Takte Lux aeternas mehrstimmiges vokales Geflecht auf.

18

György Ligeti, Bemerkungen zur Einstudierung, in: ders., Atmosphères für großes Orchester (1961), Partitur, Wien/London/New York 1963, o. S. 1 9 Kaufmann, Strukturen im Strukturlosen, S. 112.

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György Ligeti, Lux aeterna für sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella (1966), Partitur, Takte 115–126, S. 19 © Henry Litolff ’s Verlag/C. F. Peters

Klanglich vollzieht sich in Lux aeterna ein Prozess des Verschwindens: Der über 9 Minuten entwickelte Organismus verharrt in der großen Sekunde f–g (Alt 1–4), um sodann schleichend zu vergehen („morendo“), ins Nichts („niente“) überzuleiten und an die mit der Spielanweisung „WIE AUS DER FERNE“ hervorgerufene jenseitige Atmosphäre des Kompositionsbeginns anzuknüpfen. Und obwohl die Musik unablässig nach einer jenseitigen Welt zu streben scheint, haftet ihr schon allein durch den im Text der Communio von Lebenden geäußerten Wunsch, den Toten mögen das ewige Licht strahlen, eine offensichtliche Diesseitigkeit; eine bipolare Einheit, die beispielsweise die christlich symbolträchtige Anzahl der stummen Takte am Schluss – Schöpfungsmythos und Apokalypse – untermauert. Der Tod erhält dadurch eine musikalische Entsprechung, die bewusst mit Möglichkeiten der Wahrnehmung spielt und das Leben als individuellen Ausschnitt eines unendlichen Bandes definiert: „Evoziert wird die Vorstellung von Unendlichkeit, erweckt wird der Eindruck, daß die Musik bereits da war, als wir sie noch nicht hörten, und immer fortdauern wird, auch wenn wir sie nicht mehr hören. Als ob ein Fenster geöffnet und wieder geschlossen würde: Die Landschaft, die im offenen Fenster erscheint, bleibt auch bei geschlossenem Fenster unverändert, sie war jedoch nur eine Zeitlang sichtbar. So sind Anfang und Ende der Komposition lediglich virtuelle Grenzen einer an sich unendlichen Musik und die musikalischen Vorgänge und Veränderungen nur imaginäre Aspekte des Unveränderlichen: Die immer gegenwärtige, in sich unbewegte Landschaft ist gewissermaßen nicht sofort in ihrer Gesamtheit erfaßbar, vielmehr entdeckt man darin immer neue Regionen, die freilich schon da waren, als man sie noch nicht wahrnahm. Nicht die Landschaft, sondern die Wahrnehmung ändert sich.“20 2 0

György Ligeti, Lux aeterna (vermutlich 1969), in: ders., Gesammelte Schriften, a.a.O., S. 233.

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Ligetis überaus plastische Darlegung der zugrunde liegenden Idee eines äußerlich abgesteckten, sich simultan im Innern verändernden musikalischen Wahrnehmungsrahmens weist zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den Charakteristika von Stimmungen auf. Mittels nuancierter, im Unterschwelligen ablaufender Prozesse schließt Lux aeterna partiell jenen zwischen Objekt („Landschaft“) und Subjekt („Wahrnehmung“) klaffenden epistemischen Riss. Im Gewand einer sukzessiven musikalischen Auslöschung wird der Tod als Stimmung greifbar. Wenngleich sich Ligeti in allen drei Werken eines geistes- und religionsgeschichtlich tradierten Vokabulars bedient, ist seine Musik trotz salienter Transzendenz nicht das Resultat tief empfundener Gläubigkeit und insofern nicht liturgisch geprägt. Hinsichtlich der künstlerischen Motivation war für den sich selbst als areligiös bezeichnenden Ligeti die Stimmung existenzieller Todesangst ausschlaggebend.21 Eine indes auf Religiosität fußende, von Transzendenz beseelte, metaphysische, sich aber nie einer plakativen Funktionalität preisgebenden Musik kennzeichnet das Œuvre des 1964 in Paris geborenen Komponisten Mark Andre. Außermusikalische Thematiken spirituellen Inhalts bedingen eine ausdifferenzierte musikalische Organisation, für die – wie Ralph Paland pointiert zusammenfasst – das Konzept des Übergangs zentrale Bedeutung hat: „Ein besonderes Interesse gilt dabei der Auslotung musikalischer ,Schwellen‘: subtiler Übergänge zwischen divergenten Struktur- und Texturtypen, Morphologien oder akustischen Räumen. [...] Die Gestaltung musikalischer Schwellen spiegelt metaphysische Übergangsphänomene, die der gläubige Protestant Andre insbesondere in christlichen Glaubensinhalten findet: So beziehen sich das Orchester-Triptychon ...auf... (2005/07) und Kar für Streicher (2009) auf das Ostergeschehen als Übergang zwischen Leben, Tod und Auferstehung, während durch für Sopransaxophon, Schlagzeug und Klavier (2004/05) den Übergang in das Reich Gottes reflektiert und das Ensemblestück üg (2008) durch Techniken live-elektronischer ,Konvolution‘ [Faltung] von Instrumentalklängen mit der Akustik jüdischer, christlicher und islamischer Sakralbauten Istanbuls eine interreligiöse Perspektive auf die existentielle Frage des Übergangs zwischen Leben und Tod entwirft.“22

Diese Schwelle erkundet auch das am 12. Februar 2012 im Rahmen des ECLAT Festival Neue Musik Stuttgart uraufgeführte hij 2 für 24 Stimmen und Elektronik (2010/12), dessen Struktur aus graduellen Übergängen erwächst. Eine religiös konnotierte, gleichsam übergeordnete Schwelle markiert bereits die im 21

Vgl. Herman Sabbe, György Ligeti – Illusions et Allusions, Interview vom 23. Oktober 1978, abgedruckte Transkription in: Interface. Journal of New Music Research 8 (1979), S. 17 und Wolfgang Burde, György Ligeti. Eine Monographie, Zürich 1993, S. 11f. 2 2 Ralph Paland, Art. Mark Andre, in: Hanns-Werner Heister/Walter-Wolfgang Sparrer (Hg.), Komponisten der Gegenwart (KDG), Bd. 1, 43. Nachlieferung 11/10, München 1992ff., S. 2.

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kryptischen Kompositionstitel als Akronym chiffrierte Anrufung Jesu Christi („Hilfe Jesus“), mit dem Andre ebenfalls das 2010 entstandene, eigenständige Orchesterwerk hij 1 codierte. Dass diese von Lebenden an den auferstandenen Gottessohn gerichtete Bitte dezidiert konkretes Diesseits und abstraktes Jenseits verklammert, wird anhand des im Stück verarbeiteten Textmaterials evident. Der in Form einzelner Phoneme und Silben auf alle Chorstimmen aufgeteilte Ausspruch bildet den klanglichen Unterbau für den zweischichtigen semantischen Skopus: Andre verschränkt die im Johannesevangelium beschriebene Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena (Joh 20,11–18), namentlich die Wendung „Noli me tangere“ („Berühre mich nicht“), mit Jean-Luc Nancys ikonografischer Interpretation dieser Episode.23 Beiden Texten entnommene Passagen werden – teilweise transformiert – auf acht elektronische Spuren verteilt und durch ebenso viele Lautsprecher wiedergegeben. Die im „Noli me tangere“ ausgedrückte Vorstellung eines gegenwärtigen, zugleich immateriellen Messias deckt sich mit der phänomenalen Eigenart von (Todes-)Stimmungen und durchzieht als grundlegendes Element das gesamte Werk. Was sich in der Gegenüberstellung von sichtbaren (Vokalisten) und unsichtbaren (akustischen Projektionen) Klangquellen sowie in der dichotomen Anlage der nach unterschiedlichen Verständlichkeitsgraden geordneten sprachlichen Substanz manifestiert, übernimmt Andre zudem für weitere kompositorische Parameter. Exemplifizieren lässt sich dies an den ersten 133 Takten: Auf klanglicher Ebene findet darin schrittweise ein Übergang vom Geräusch zum Ton statt, der mit dem in seine phonetischen Bestandteile zerlegten Wort „Jesus“ (Soprane 1–3, Takte 1–10) beginnt. Interferiert wird die vorwiegend im dreifachen Piano gehaltene Akkumulation der Stimmen durch dynamisch variierende, elektronisch generierte Knacklaute. Ungeachtet der übergreifend konstatierbaren Wandlung bleiben die sich im Kleinen vollziehenden Wechsel nahezu unbemerkt, bis in Takt 56 der auf den Buchstaben „e“ gesungene Ton e1 (Soprane 1 und 2) unerwartet eine Stimmung kristalliner Erleuchtung evoziert. Entscheidend für die in hij 2 erzeugte Atmosphäre ist auch Andres buchstäblicher Rekurs auf andere musikalische Stimmungen: Ergänzend zur musikpraktisch gängigen temperierten Stimmung verwendet er auf der Obertonreihe basierende reine Intervalle (Quarten und Quinten) sowie Mikrointervalle, die als kleinste Frequenzverhältnisse per definitionem klanglich minimale Übergänge darstellen.

2 3

Jean-Luc Nancy, Noli me tangere, übersetzt aus dem Französischen von Christoph Dittrich, Zürich/Berlin 2008.

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Unbeirrt, gleich einem fließenden Strom – ein Eindruck, den das verhallte Wasserplätschern am Ende des zweiten Kompositionsdrittels materialisiert – bewegt sich der ex nihilo auftauchende und erneut dorthin entschwindende Klang („Alle Crescendi kommen gleichsam aus dem Nichts, alle Decrescendi kehren wieder ins Nichts zurück“24). Diesem Bewegungsdrang wohnt ferner ein absorbierendes Erstarrungsmoment inne, der als Stille den vermeintlich pausenlosen Klangstrom schneidet. Im Fluktuieren zwischen Zustand und Bewegung knüpft sich ein engmaschiges Gewebe, das sich beständig ausbreitet, jedoch im Gegenstandlosen und Ungerichteten verweilt. Wie schon in Ligetis Atmosphères scheint das zeitliche Erleben eines Davor und Danach ausgeschaltet, scheinen horizontales und vertikales Hören bis zur Unkenntlichkeit ineinander verzahnt. Dieser akustische, von Andre „Zwischenraum“ genannte Nicht-Ort ist das Ergebnis mannigfaltiger musikimmanenter Übergänge, die als strukturierende Glieder wiederum darüber hinauszuweisen vermögen: „In hij 2 spielt dieser Aspekt eine sehr große Rolle, bereits zu Beginn der Komposition. Es gibt zum Beispiel eine kanonische Struktur auf dem Namen Jesu Christi. Ich benutze kanonische Strukturen, um die Auseinandersetzung mit der Problematik der Erschöpfung zu thematisieren. Erschöpfung enthält auch Schöpfung. Es handelt sich um die Schöpfung von Situationen, in denen sich die kanonische Struktur wiederum ,erschöpft‘, verschwindet. Nach dem geräuschhaften Beginn hört man nach einigen Minuten Töne. Sobald man einen gesungenen Klang in einem sehr geräuschhaften Kontext, einer sehr ausdifferenzierten Entfaltung von geräuschhaften Klangtypen hört, öffnet sich ein riesiger Zwischenraum, der eine innere Kraft auslöst. Mit einem einzigen Ton.“25

Formal unterstützt wird die Erschaffung solcher Räume des Dazwischen zusätzlich durch die festgelegte Aufstellung der Vokalisten und der Lautsprecher, die Andre in vier beziehungsweise fünf Gruppen um das Auditorium anordnet.

24

Mark Andre, Aufführungshinweise und Zeichenerklärungen, in: hij 2 für 24 Stimmen und Elektronik, Partitur, Frankfurt am Main/Leipzig/London/New York 2011, o. S. 2 5 Mark Andre/Jin Hyun Kim/Gerardo Scheige/Walter Siegfried, Klangliche Todesstimmungen, in: Hochkirchen/Scheige/Söffner (Hg.), Stimmungen des Todes und ihre Bestimmung, a.a.O., S. 85.

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Mark Andre, hij 2 für 24 Stimmen und Elektronik (2010/12), Partitur, Schematische Aufstellung (Zusatzblatt), o. S. © Henry Litolff ’s Verlag/C. F. Peters

Während die Spatialisierung einerseits ein nuanciertes Zuhören erlaubt, stiftet die akustische Umzingelung andererseits mitunter eine rezeptive, sich klanglicher Allseitigkeit verdankenden Verwirrung. Das strukturelle Prinzip, mittels strenger Genauigkeit Wissensungenauigkeiten zu ergründen, zieht sich wie ein roter Faden durch Andres Werk: „Mark Andres musikalische Poetik zielt auf eine Verbindung von ,affectus‘ und ,conceptus‘ (Andre), die insbesondere durch die Kombination algorithmischer Verfahren mit Strategien der Dekonstruktion kompositorischer Strukturen realisiert werden soll: Aus der These, dass der aktuelle Stand naturwissenschaftlicher Theoriebildung in epistemologischer Hinsicht ein ,Ende der Gewissheiten‘ (Ilya Prigogine 1996) impliziere, leitet er die Notwendigkeit ab, im musikalischen Prozess den bloßen Modellcharakter jeglichen kompositorischen Ansatzes operativ zu reflektieren.“26 2 6

Paland, Art. Mark Andre, S. 2.

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Gemäß diesem musikalischen Denken unterliegen ebenso die hij 2 konstituierenden Entwicklungen „Strategien der Dekonstruktion“; Entwicklungen, die in ihrer retrograden Expansion organischen Gebilden ähneln. Es verwundert nicht, dass Andre hierfür die menschliche Stimme mit all ihren verschiedenen, über herkömmliches Singen hinausreichenden Facetten und Möglichkeiten einsetzt („schluchzende Flüstergeräusche“, „Mund und Nase offen“, „Mund geschlossen“, „geflüstert“, „beim Einatmen erzeugen“, „beim Ausatmen erzeugen“, „beim Flüstern die Zähne schließen“, „beim Flüstern die Zähne öffnen“, „schnalzen“27). Gleichwohl erweitert er sie – im Sinne einer Verschmelzung – um das elektronische Medium und stellt ihr zwei Instrumente zur Seite: Alufolie und Kinderwindräder. Erstere soll zum Beispiel wie ein Grashalm angeblasen oder wie ein Akkordeon waagerecht gestreckt und gestaucht werden. Das Anpusten letzterer vergegenständlicht als visualisierter Luftstrom, gewissermaßen als Lebensatem, die für die musikalische Faktur von hij 2 wesentliche Idee einer in der Auferstehung Jesu Christi unterschwellig spürbaren Latenz des Todes: „Auch bei der Auferstehung, ganz gleich ob es sich dabei um eine Legende oder eine wahrhafte Geschichte handelt, geht es um eine Schwelle. Das ist vielleicht eine der wichtigsten oder die wichtigste Schwelle überhaupt. Wenn man die gesamte Form eines Stückes wie hij 2 als die Entfaltung von verschiedenen kompositorischen Bewegungen, von kompositorischen Schwellen erlebt, dann ist die Verknüpfung mit der Problematik des Todes nur konsequent. Letztlich kann das aber jeder nur für sich selbst bestimmen.“28

Seltsamerweise bewirkt gerade die Fülle „von verschiedenen kompositorischen Bewegungen“ eine kontemplative Todesstimmung, die im Unabwendbaren sowohl elysische Ruhe als auch gespannte Ängstlichkeit ausstrahlt. Klangfragmente fügen sich zu einem musikalischen, die Summe seiner Einzelteile übersteigenden Ganzen zusammen, das den mit der eigenen Endlichkeit konfrontierten Hörer in einen akustischen Schwebezustand versetzt. So singulär die kompositorischen Motivationen und so spezifisch – trotz vereinzelter klanglicher Analogien – die damit einhergehenden Musikalisierungen der letzten Dinge bei Ligeti und Andre sind, so viel allgemeingültige Projektionskraft haftet den darin evozierten Todesstimmungen an. In Form transitorischer Prozesse reflektieren Atmosphères, das Requiem, Lux aeterna sowie hij 2 Unvermitteltes und Rätselhaftes, Grausames und Versöhnliches, Endgültiges und Palingenetisches. Lediglich als Stimmung konkretisiert sich hier das Eph 27

2 8

Andre, Aufführungshinweise und Zeichenerklärungen, o. S. Andre/Kim/Scheige/Siegfried, Klangliche Todesstimmungen, S. 94f. Vgl. auch Mark Andre, Die Schwelle als mögliches Gestaltungsmittel beim Komponieren, in: Jörn Peter Hiekel (Hg.), Sinnbildungen. Spirituelle Dimensionen in der Musik heute, Mainz 2008, S. 107.

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emere und Infinite des Todes, scheint sich für einen Augenblick die zwischen Diesseits und Jenseits klaffende Wahrnehmungslücke zu schließen. Auf der Folie biografischer Erfahrungen wird durch musikalische Übergänge die Peripherie des Todes, diese unbekannte Schwelle, kartiert, bis sich am Ende Spuren des Lebens abzeichnen.

Literatur: Mark Andre/Jin Hyun Kim/Gerardo Scheige/Walter Siegfried, Klangliche Todesstimmungen, in: Hochkirchen/Scheige/Söffner (Hg.), Stimmungen des Todes und ihre Bestimmung. Theorie und Praxis im Dialog, Paderborn 2015, S. 83–95. Mark Andre, Aufführungshinweise und Zeichenerklärungen, in: hij 2 für 24 Stimmen und Elektronik, Partitur, Frankfurt am Main/Leipzig/London/New York 2011, o. S. Mark Andre, Die Schwelle als mögliches Gestaltungsmittel beim Komponieren, in: Jörn Peter Hiekel (Hg.), Sinnbildungen. Spirituelle Dimensionen in der Musik heute, Mainz 2008, S. 107–123. Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995. Wolfgang Burde, György Ligeti. Eine Monographie, Zürich 1993. Epikur, Von der Überwindung der Furcht. Katechismus – Lehrbriefe – Spruchsammlung – Fragmente, eingeleitet, übersetzt und hrsg. von Olof Gigon, Zürich 21968. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 182001. Eva-Maria Hochkirchen/Gerardo Scheige/Jan Söffner, Einleitung, in: dies. (Hg.), Stimmungen des Todes und ihre Bestimmung. Theorie und Praxis im Dialog, Paderborn 2015, S. 7–22. Volker Kalisch, Musik und Tod – eine Grenzüberschreitung?, in: ders. (Hg.), Musica et Memoria. Trauermusik durch die Jahrhunderte, unter Mitarbeit von Marcell Feldberg und Hans-Peter Retzmann, Essen 2007, S. 9–31. Harald Kaufmann, Strukturen im Strukturlosen. Über György Ligetis „Atmosphères“ (1962), in: ders., Spurlinien. Analytische Aufsätze über Sprache und Musik, Wien 1969, S. 107–117. György Ligeti, Mein Judentum, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, S. 20–28. György Ligeti, Über Atmosphères, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, S. 181–184. György Ligeti, Lux aeterna (vermutlich 1969), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, S. 233–236. György Ligeti, Bemerkungen zur Einstudierung, in: ders., Atmosphères für großes Orchester (1961), Partitur, Wien/London/New York 1963, o. S. Jean-Luc Nancy, Noli me tangere, übersetzt aus dem Französischen von Christoph Dittrich, Zürich/Berlin 2008. William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom / Seelenmord, Frankfurt am Main 1980.

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248 Gerardo Scheige Ralph Paland, Art. Mark Andre, in: Hanns-Werner Heister/Walter-Wolfgang Sparrer (Hg.), Komponisten der Gegenwart (KDG), Bd. 1, 43. Nachlieferung 11/10, München 1992ff., S. 1–14. Herman Sabbe, György Ligeti – Illusions et Allusions, Interview vom 23. Oktober 1978, abgedruckte Transkription in: Interface. Journal of New Music Research 8 (1979), S. 11–34. Hans-Christian Schmidt, Todes-Symbole in der Musik, in: Randolph Ochsmann (Hg.), Lebens-Ende. Über Tod und Sterben in Kultur und Gesellschaft, Heidelberg 1991, S. 49–67. Leo Spitzer, Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word „Stimmung“, hrsg. von Anna Granville Hatcher, Baltimore 1963. Eckhard Tramsen, Bilder und Sprache. Die Kritik des existenzphilosophischen Protests bei Adorno und Heidegger, phil. Diss. Freie Universität Berlin 1998. David E. Wellbery, Art. Stimmung, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/ Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart/Weimar 2003, S. 703–733. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus – Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main 1963.

Abbildungsnachweise: Abbildung 1: György Ligeti, Lux aeterna für sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella (1966), Partitur, Takte 115–126, S. 19 © Henry Litolff ’s Verlag / C. F. Peters Abbildung 2: Mark Andre, hij 2 für 24 Stimmen und Elektronik (2010/12), Partitur, Schematische Aufstellung (Zusatzblatt), o. S. © Henry Litolff ’s Verlag / C. F. Peters

NORBERT FISCHER UND REINER SÖRRIES

Nachwort: Der neue Blick auf Sterben, Tod und Trauer Wurde noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das Thema Tod im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs weitgehend marginalisiert, so indizieren inzwischen das wachsende Medieninteresse, die Vielzahl von (populär-)wissenschaftlichen Publikationen sowie die fächerübergreifenden größeren Forschungsprojekte einen Wandel. Die neueren wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Tod entstammen – blickt man allein auf wichtige Werke aus dem frühen 21. Jahrhundert – ganz unterschiedlichen Disziplinen: Medizin, Geschichts- und Kulturwissenschaft, Soziologie, Jura, Philosophie, Kunstgeschichte, Medienwissenschaft und andere. Es ist hier nicht der Ort, auf einzelne Studien einzugehen – einen umfassenden Überblick bietet der von Héctor Wittwer, Daniel Schäfer und Andreas Frewer im Jahr 2010 herausgegebene Sammelband „Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch“. Zuvor waren es eher singuläre Studien, die Wegmarken der Forschungsgeschichte darstellten. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich der französische Soziologe Émile Durkheim mit dem Thema „Selbstmord“ (1897). Der britische Anthropologe Geoffrey Gorer veröffentlichte 1965 „Death, Grief, and Mourning in Contemporary Britain“. Umfassendere mentalitäts- und alltagshistorische Perspektiven auf das Thema Tod verdanken wir dann französischen Historikern aus dem Umkreis der so genannten „Annales“-Schule, wie Philippe Ariès oder Michel Vovelle. International vielfach rezipiert, eröffneten sie seit den 1970er-Jahren zugleich neue, interdisziplinäre Perspektiven. Als innovativ erwiesen sich im Folgenden die – im Kontext neuerer kulturwissenschaftlicher Forschungsparadigmen vollzogene – Thematisierung des Gender-Aspektes innerhalb des Umgangs mit Toten. Gleiches gilt für die Einbettung von Trauerkultur und Totengedenken in die seit den 1980er-Jahren vollzogene Hinwendung zu gesellschafts- und kulturtheoretisch fundierten, übergreifenden Konzeptionen von Erinnerungsorten und Gedächtnislandschaften. Wie dieser „spatial turn“, so sorgten auch die Fokussierung von Formen materieller Trauerkultur und nicht zuletzt die Auswertung bildlicher Quellen („pictorial turn“) für eine grundlegende Erweiterung der Forschungshorizonte. Der wissenschaftliche Diskurs zeigt sich nicht zuletzt in einer wachsenden Zahl interdisziplinärer Forschungsprojekte. Beispielhaft aus der jüngeren Vergangenheit sei das „Pietät“-Projekt erwähnt: Angesiedelt am Institut für Wissenschaft und Ethik der Universität Bonn und am Lehrstuhl für Angewandte Ethik der Universität Jena, war es Ziel des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes, normative Konzepte im Umgang mit Toten und Trau-

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ernden moralphilosophisch und rechtswissenschaftlich zu rekonstruieren. Im Schnittfeld von Kulturanthropologie, Ethik, Recht und Moralphilosophie wurde der Umgang mit dem menschlichen Leichnam untersucht. Im Hintergrund stand die zuvor defizitäre normative Verbindlichkeit jener „Pietäts“-Diskurse, die derzeit über einen moralisch angemessenen und rechtlich zulässigen Umgang mit den Toten geführt werden. Ein weiteres Beispiel ist das 2008 begonnene, unter anderem von Medizinern, Soziologen und Philosophen getragene interdisziplinäre Projekt „Tod und toter Körper“. Nicht zuletzt gehört auch die im Jahr 2010 eröffnete „Transmortale“-Reihe der Universität Hamburg und des Museums für Sepulkralkultur (Kassel) in diesen Kontext. Es ist eine geläufige Erkenntnis, dass das gesellschaftliche Interesse an einem Thema immer dann aktualisiert wird, wenn vertraute Umgangsformen verloren gehen und sich ein grundlegender Wandel ankündigt. Beim Thema Tod bezieht sich diese „Verlusterfahrung“ auf die lange Zeit von klassischen gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Nachbarschaft und Kirche geprägten Traditionen, deren Ursprünge vor allem im bürgerlichen Zeitalter liegen. Diese Institutionen haben mittlerweile stark an Bedeutung verloren. Stattdessen lässt sich der aktuelle Wandel im Umgang mit dem Tod als Ausdruck einer gesellschaftlichen, kulturellen und räumlichen Partikularisierung charakterisieren, in dem die traditionellen Strukturen immer weniger Platz finden. Ein weiteres katalysatorisches Moment ist die wachsende Multikulturalität der Gesellschaft. Die zunehmende Zahl etwa von muslimischen Bestattungen mit ihren eigenen Zeremonien und Traditionen hat völlig neue Voraussetzungen geschaffen, nicht zuletzt unter rechtlichen Aspekten. Fasst man den aktuellen Wissensbestand über den neuzeitlichen Umgang mit dem Tod zusammen, so lässt letzterer sich als Geschichte seiner allmählichen „Entzauberung“ fassen und mit Stichwörtern wie Individualisierung, Säkularisierung, Technisierung, Professionalisierung und Ökonomisierung charakterisieren. Diese Entwicklung vollzog sich vor allem in den Städten, der ländliche Raum dagegen blieb häufig – und mancherorts bis heute – von besonderen regionalen und konfessionellen Traditionen geprägt. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit veränderte zunächst der aufkommende Protestantismus die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten. Erstmals wurde der traditionelle Kirchhof – der Begräbnisplatz um das Gotteshaus – aufgegeben und Friedhöfe vor den Toren der Städte angelegt. Frühneuzeitliche Leichenpredigten und Grabinschriften würdigten das diesseitige, weltliche Leben des Individuums. Im Zeitalter der Aufklärung siegte dann der Hygienediskurs über kirchliche Traditionen. Es wurde der Versuch unternommen, im Umgang mit dem Tod ein spezifisch bürgerliches, an Hygiene, Ordnung und Effizienz orientiertes Vernunftdenken durchzusetzen. Im späten 18. Jahrhundert entstanden die ersten Leichenhallen auf den Friedhöfen.

Nachwort: Der neue Blick auf Sterben, Tod und Trauer

Im bürgerlichen Zeitalter, also dem 19. Jahrhundert, entwickelten sich die Friedhöfe zu repräsentativen Stätten der urbanen Gesellschaft. Unter zunehmender gartenkünstlerischer Ausgestaltung gerieten sie zur Kulisse eines immer monumentaleren bürgerlichen Grabmalkults. Maler wie Caspar David Friedrich hielten die eigene, melancholische Atmosphäre von Friedhöfen und Grabmälern fest – wie der Tod überhaupt zu einem Fluchtpunkt der Romantik wurde. Vernunft und Gefühl gingen eine spannungsreiche Beziehung ein. In der Zeit des deutschen Kaiserreiches wurden Park- und Waldfriedhöfe zu Gesamtkunstwerken mit ausgesprochen weltflüchtiger Ästhetik modelliert. Unterschwellig jedoch schritt die Entzauberung des Todes weiter voran. Die ersten Krematoriumsbauten und die Einführung der modernen Feuerbestattung bahnten ihr im späten 19. Jahrhundert, in der Epoche von Industrialisierung und Urbanisierung, gegen den teils heftigen Widerstand vor allem der katholischen Kirche endgültig den Weg. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Bestattungsunternehmen machten aus dem Tod ein privatwirtschaftliches Dienstleistungsgeschäft. Auch in anderen Bereichen prägten Professionalisierung und Institutionalisierung zunehmend den Umgang mit Sterben und Tod (Krankenhäuser, später auch Altenpflegeheime). Das 20. Jahrhundert war geprägt vom millionenfachen Kriegstod während zweier Weltkriege und der systematischen Massenvernichtung in der Zeit der NS-Diktatur. Die Technisierung des Todes zeigte in den Krematorien der nationalsozialistischen Konzentrationslager ihre fast zynisch zu nennende Ambivalenz. So verwundert es nicht, dass – zumindest in Deutschland – Narrationen über den Tod nach dem Ende von NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg allenfalls im fast Verborgenen der Privatsphäre gediehen, nicht aber die gesellschaftliche Öffentlichkeit erreichten. Im Übrigen – und abseits von Krieg und Diktatur – erreichen immer mehr Menschen lebenszeitlich annähernd ihr biologisches Potenzial. Angesichts einer höheren Lebenserwartung wird Sterben nicht selten zu einem sich jahrelang hinziehenden, leidvollen Prozess und vollzieht sich heute zum größeren Teil innerhalb von Institutionen wie Krankenhäusern und Altenpflegeheimen. Sterben und Tod sind zu einer an Mediziner, Bestatter, Techniker und Friedhofsverwalter delegierten Angelegenheit geworden. Biografische Erfahrungen mit dem Tod naher Menschen werden heute häufig erst im Alter von 40 Jahren oder später gemacht. Dem steht jedoch der fast allgegenwärtige Tod in den Medien gegenüber, der sich vor allem in Formen der Gewalt, wie Katastrophen, Unglücks- und Kriminalfällen, zeigt. Seit den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts rückt zunehmend wieder das Individuum in den Mittelpunkt. Dies wird beispielhaft verkörpert durch Palliativmedizin und Hospizbewegung. Sie engagieren sich in besonderem Maße darum, den Menschen in ihrer letzten Lebensphase einen von Humanität statt

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252 Norbert Fischer und Reiner Sörries

Abgeschobenwerden bestimmten sozialen Umgang zu ermöglichen. Er wird aber auch verkörpert von neuen zivilbürgerlichen Initiativen und Selbsthilfevereinigungen, wie den „Verwaisten Eltern und Geschwistern in Deutschland e.V.“ (VEID), die Hinterbliebene bei Abschied und Trauer begleiten und unterstützen. Dies gilt nicht zuletzt für jene gemeinschaftlichen Begräbnisplätze, die die neuen sozialen Bewegungen jenseits von Ehe und Familie repräsentieren, etwa der „Garten der Frauen“ in Hamburg. Damit wird auch der Wandel der Bestattungs- und Erinnerungskultur deutlich. Schien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die anonyme Rasenbestattung – zunächst in der ehemaligen DDR, später in westlichen Bundesländern – einen scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug anzutreten, so hat sich im frühen 21. Jahrhundert eine breite Palette unterschiedlicher Formen der Bestattungsund Erinnerungskultur entfaltet. Feste, bisher vertraute und abgegrenzte Räume wie der Friedhof verlieren an Bedeutung. Dagegen spielen neue Orte – wie die freie Natur und der öffentliche Raum – eine immer größere Rolle. Tod und Trauer finden zu den Lebenden zurück. Von einer „Verdrängung“ des Todes kann jedenfalls heute keine Rede mehr sein …

Autorenverzeichnis Moritz Buchner, Dr. des., hat Geschichte, Romanistik und Politologie in Berlin, Neapel und Paris studiert. Seit 2011 ist er Stipendiat am Forschungsbereich Geschichte der Gefühle des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. 2015 wurde er mit einer Arbeit zur bürgerlichen Trauerkultur in Italien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an der Freien Universität Berlin promoviert. Seit 2011 ist er Koordinationsmitglied der transmortale. Mariama Diagne, M.A., ist Tanzwissenschaftlerin und Tänzerin. Ausbildung am Dance Theatre of Harlem in New York, Musik, Theater-, Medien- und Tanzwissenschaften in Bayreuth und Berlin. Seit 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin, mit einer Promotion zu den Arbeiten von Pina Bausch. Inhaltliche Begleitung der ArchivProjekte der Pina Bausch Foundation. Norbert Fischer, Prof. Dr. phil. habil.; Sozial- und Kulturhistoriker; apl. Professor am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg; Privatdozent am Historischen Seminar der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Gegenwart des Umgangs mit dem Tod; Gedächtniskultur; Landschaftsgeschichte und Landschaftstheorie; maritime Geschichte und Kultur; räumlicher Wandel und Verstädterungsprozesse im 20. Jahrhundert. Koordinationsmitglied der transmortale seit 2010. Anna-Maria Götz, Dr., Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit den Nebenfächern Volkskunde/Kulturanthropologie und gender- & queerstudies an der Universität Hamburg und der Universität Wien. 2007 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Hamburg, 2012 Abschluss der Dissertation (Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900. Böhlau 2013). Koordinationsmitglied der transmortale seit 2010, sowie im Wissenschaftsbeirat der AFD (Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kassel) und im Lenkungsausschuss des FKGHH (Forschungsverbund Kulturgeschichte Hamburgs). Stephan Hadraschek, M.A., hat Geschichtswissenschaften, Germanistik, Erziehungswissenschaften und Philosophie an der TU Berlin studiert und ist seit vielen Jahren im Bestattungswesen tätig. Er beschäftigt sich mit der Vermittlung grundlegender Themen wie Erinnern/Gedenken, Trauer- und Abschiedskultur. Vorstandsmitglied beim Trägerverein des Museums für Sepulkralkultur (Kassel), sowie der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (AFD), Mitglied im Landesvorstand des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. /Berlin und

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im Vorstand des Bundesverbandes Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e.V. (VEID). Seit 2011 Koordinationsmitglied der transmortale. Antje Kahl, Dr., von 2008 bis 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Tod und toter Körper. Zur Veränderung des Umgangs mit dem Tod in der gegenwärtigen Gesellschaft“ am Institut für Soziologie der TU Berlin. Sie promovierte 2013 über den Bedeutungswandel des Leichnams in der gegenwärtigen Gesellschaft am Beispiel der klinischen Sektion und der Bestattung. Aktuell ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Augsburg. Dagmar Kuhle, M.A., arbeitet seit 2003 als Landschafts- und Freiraumplanerin bei der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V., Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel. Neben der Beratung von Friedhofsträgern zur Friedhofsplanung und -gestaltung organisiert sie in Kooperation wissenschaftliche Diskussionsveranstaltungen und Tagungen zu aktuellen Strömungen in der Sepulkralkultur. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Friedhofs- und Trauerkultur. Seit 2011 Koordinationsmitglied der transmortale. Antje Mickan, Dr. des., ist Diplom-Theologin und arbeitet als Dozentin für Ethik an den Dr. Heinemann Berufsfachschulen in Braunschweig. Ihre Dissertation schrieb sie zu „Bestattungswünschen älterer Menschen“ im Fach Praktische Theologie bei Prof. Thomas Klie (Universität Rostock). Eva Mieder geb. Burneleit, M.A., startete ihre Laufbahn als Designerin vor 13 Jahren in Osnabrück, wo sie mehrere Jahre als Grafik- und Webdesignerin arbeitete. Ab 2006 war sie als freie Interfacedesignerin für Designagenturen und Forschungsinstitute in Berlin und Potsdam beschäftigt und entwickelte Konzepte für Ambient Displays und mobile Interfaces. Seit 2010 an der TU Berlin in den Bereichen Smart Homes sowie Ambient Assisted Living und Lehrbeauftragte für Designmanagement an der Fachhochschule Potsdam tätig. Im Rahmen ihres Masterstudiums an der Fachhochschule Potsdam beschäftigte sie sich mit Designforschung zum Themenkomplex „Tod und Sterben im digitalen Zeitalter“. Seit April 2012 leitet sie das Design Team am DAI-Labor der TU Berlin. Jan S. Möllers, M.A., Kulturanthropologe und Bestatter. Studium der Kulturanthropologie und Informatik an der Uni Hamburg. Magisterarbeit 2009: „Bezahlbare Riten – Über die Wieder-Aneignung von Sterben, Tod und Trauer in der Gegenwart“; Mitinhaber von memento Bestattungen in Berlin mit den Arbeitsschwerpunkten Bildungsarbeit, Bestattung und Begleitung. Seit 2010 Koordinationsmitglied der transmortale.

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Anna-Livia Pfeiffer, Dr., studierte Kunstgeschichte und Archäologie in Frankfurt am Main und Rom und schloss ihr Studium mit einer Magisterarbeit über den venezianischen Architekten Carlo Scarpa ab. Nach Museumstätigkeiten in Frankfurt und Weimar lehrte sie bis 2011 an der Architekturfakultät der TU Darmstadt, wo sie 2013 über Feuerbestattungsarchitektur promoviert wurde. Sie ist in Berlin als freiberufliche Kunsthistorikerin tätig. Inga Schaub, M.A. promoviert am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Projekt, das sich mit neuen Sichtbarkeiten der Trauer in der Psychologie, der poststrukturalistischen Philosophie und der zeitgenössischen Fotokunst beschäftigt. 2012 bis 2014 Assoziierte am Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs Lebensformen & Lebenswissen (Europa-Universität Viadrina und Universität Potsdam). Studium der Kulturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Kulturpädagogik an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach und an der Universiteit van Amsterdam. Neben ihrer wissenschaftlichen Forschungsarbeit kooperiert sie als Dramaturgin und wissenschaftlich-konzeptuelle Beraterin mit dem Theater/Performance/Label müller*****, u.a. für „Politisches Solo“ (2013), „Formen der Trauer“ (2014) und „In Frage gestellt“ (2014). Gerardo Scheige, M.A., geboren 1979 in Buenos Aires, studierte nach einer Ausbildung zum Allgemeinen Sortimentsbuchhändler Musikwissenschaft, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Germanistik an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der zeitgenössischen Musik nach 1950, sowohl im Bereich der Instrumentalmusik als auch der Elektroakustik. Im Rahmen seiner Dissertation beschäftigt er sich mit kompositorischen Reflexionen des Todes in der Neuen Musik. Seit 2013 betreut er das interkulturelle Nachwuchsförderprojekt „European Workshop for Contemporary Music“ des Deutschen Musikrates und ist zudem als freier Autor tätig. Dominik Gerd Sieber, Dr. des., ist wissenschaftlicher Volontär im Kreisarchiv Sigmaringen und war zwischen 2011 und 2014 Kollegiat im Graduiertenkolleg 1662. Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800) an der Eberhard Karls Universität Tübingen. In seinem 2014 abgeschlossenen Dissertationsprojekt beschäftigte er sich mit dem Phänomen der Friedhofsverlegungen und dem Einfluss von Reformation und Konfessionalisierung auf die Sepulkralkultur im reichsstädtischen Milieu Oberdeutschlands in der Frühen Neuzeit. Sophia Siebert, M.A., studierte an der Humboldt- und an der Freien Universität in Berlin Europäische Ethnologie und Religionswissenschaft (mit Auszeichnung). In London absolvierte sie den Masterstudiengang Medical Anthropology (MSc with

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merits, Brunel University). Nach einer Anstellung als Redakteurin im ZDF nachtstudio und diversen Einsätzen als Hörspielsprecherin arbeitet sie nun als „Anthropologin über den Wolken“, als Stewardess auf der Kurz- und Mittelstrecke. Reiner Sörries, Prof. Dr., ist Pfarrer der Evang.-Luth. Kirche in Bayern. Er leitet seit 1992 das Museum für Sepulkralkultur in Kassel und ist seit 1994 zugleich apl. Prof. für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität Erlangen. Er arbeitet und lebt in Kassel und Kröslin an der Ostsee. Seit 2011 Koordinationsmitglied der transmortale. Heléna Tóth, Dr., ist akademische Rätin a.Z. an der Otto-Friedrich-Universität, Bamberg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des politischen Exils, Rituale im Staatssozialismus. Sie ist Co-Herausgeberin von Cityscapes in History: Creating the Urban Experience (Ashgate 2014) und Autorin von An Exiled Generation: German and Hungarian Refugees of Revolution, 1848–1871 (Cambridge University Press 2014). Johannes Wende, Dr., studierte Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Medienrecht an der LMU München sowie Regie für Kino- und Fernsehfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Medienwissenschaft der HFF München. Dissertation mit dem Titel Der Tod im Spielfilm: Eine exemplarische Analyse (München 2014); Hefte aus der Reihe Film-Konzepte über das Werk von Sofia Coppola (München 2013), Jean-Pierre und Luc Dardenne (München 2013), John Lasseter (München 2014) und Spike Jonze (München 2015).

Reihenübersicht KASSELER STUDIEN ZUR SEPULKRALKULTUR

Herausgeber: ARBEITSGEMEINSCHAFT FRIEDHOF UND DENKMAL E. V. Stiftung Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Weinbergstraße 25–27 D-34117 Kassel www.sepulkralmuseum.de

Band 1

„Wie die Alten den Tod gebildet“. Wandlungen der Sepulkralkultur 1750–1850, Mainz 1979 (vergriffen)

Band 2

Vom Kirchhof zum Friedhof. Wandlungsprozesse zwischen 1750 und 1850, Kassel 1984 (vergriffen)

Band 3

Umgang mit historischen Friedhöfen, Kassel 1984 (vergriffen)

Band 4

Wolfgang Krüger, Auferstehung aus Krieg und KZ in der bildenden Kunst der Gegenwart. Mit einem Beitrag von Hans-Kurt Boehlke, Kassel 1986 (vergriffen)

Band 5

Norbert Bolin, „Sterben ist mein Gewinn“ (Phil 1,21). Ein Beitrag zur evangelischen Funeralkomposition der deutschen Sepulkralkultur des Barock. 1550–1750, Kassel 1989 (vergriffen)

Band 6

Ludger Heuer, Ländliche Friedhöfe in Unterfranken, Dettelbach 1995

Band 7

Carolin Schmuck, Der Friedhof St. Lazarus in Regensburg und sein geplantes reformatorisches Bildprogramm. Mit einem Beitrag von Reiner Sörries, Kassel 1999

Band 8

Reiner Sörries, Die Karner in Kärnten. Ein Beitrag zur Architektur und Bedeutung des mittelalterlichen Kirchhofes, Kassel 1996

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Band 9

Vom Reichsauschuss zur Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kassel 2002

Band 10

Henning Winter, Die Architektur der Krematorien im Deutschen Reich. 1878– 1918, Dettelbach 2001

Band 11

Creating Identities. Die Funktion von Grabmalen und öffentlichen Denkmalen in Gruppenbildungsprozessen, Kassel 2007

Band 12

Kultur des Todes. Interdisziplinäre Beiträge zur Sepulkralkultur aus dem Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute (AsKI), Kassel 2007

Band 13

Anke Reiß, Rezeption Frühchristlicher Kunst im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Christlichen Archäologie und zum Historismus, Dettelbach 2008

Band 14

Imke Lüders, Der Tod auf Samt und Seide. Todesdarstellungen auf liturgischen Textilien des 16. bis 19.Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Kassel 2009

Band 15

Muslime in deutscher Erde. Sterben, Jenseitserwartung und Bestattung, Kassel 2009

Band 16

Martin Venne, Nachfrageorientierte Strategien zur Nutzung städtischer Friedhofsflächen, Kassel 2010

Band 17

Heike Karg, Das Leichenbegängnis des Heinrich Posthumus Reuß, Kassel 2010

Band 18

Geschichte und Tradition der Mumifizierung in Europa. Beiträge zu einer Tagung im Museum für Sepulkralkultur, Kassel 2011

Band 19

Axel Heike-Gmelin, Kremation und Kirche. Die ev. Resonanz auf die Einführung der Feuerbestattung im 19.Jahrhundert, Berlin 2013

Reihenübersicht

Band 20

Andreas Ströbl, Entwicklung des Holzsarges von der Hochrenaissance bis zum Historismus im nördlichen und mittleren Deutschland, Düsseldorf 2014

Band 21

Niels Biewer, Nutzung historischer Friedhöfe. Denkmale im öffentlichen Leben, Berlin 2015

Band 22

transmortale. Sterben, Tod und Trauer in der neueren Forschung, Köln-WeimarWien 2016

Band 23

Antje Mickan, „…wenn ich irgendwo so’n Steinchen da hätte mit Namen“. Bestattungswünsche älterer Menschen. Eine praktisch-theologische Untersuchung zu Altern, Sepulkralkultur und Seelsorge, Berlin 2015

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ANNA-MARIA GÖTZ

DIE TRAUERNDE WEIBLICHE GRABPLASTIK UND BÜRGERLICHE TRAUER UM 1900

Die Verknüpfung von Eros und Thanatos hat in der europäischen Kulturgeschichte eine spannungsreiche Tradition. Im späten 19. Jahrhundert wird sie in bürgerlichen Kreisen auf so bemerkenswerte Weise in die Grabmalkultur überführt, dass sie einen tief greifenden Wandel im Umgang mit Trauer, Tod und Endlichkeit markiert. Als die ersten Zentralfriedhöfe etabliert wurden, begann das vermögende Bürgertum, seine Familiengräber repräsentativ mit weiblichen Grabplastiken zu schmücken. Zwischen Pathos und Pomp wurden im Motiv der „Trauernden“ die Vorstellungen von idealer Weiblichkeit verdichtet. Schmerzerfüllt bis sinnlich-lasziv avancierten sie zum Schlagbild der bürgerlichen Trauerkultur. Entlang einer aufwendigen Bilddokumentation von rund 350 Abbildungen zeichnet die Autorin den Übergang vom Begräbnisplatz zum öffentlichen Erinnerungsort nach und leitet daraus nicht nur Erkenntnisse über die zeitgenössische Haltung zum Tod ab, sondern vor allem auch zu den Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen im Leben. 2013. 418 S. 350 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-412-21028-1

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

SuSanne Warda

MeMento Mori Bild und text in totentänzen deS SpätMittel alterS und der Frühen neuzeit (pictur a et poeSiS, Band 29)

Der spätmittelalterliche Totentanz zeichnet sich in seiner typischen Form durch die Kombination von Bild und Text aus: Dialogstrophen begleiten den gemalten Reigentanz von Mensch und Tod. Hierbei formen Text und Bild ein komplexes Beziehungsgefüge, das durch vielfältige Techniken etabliert wird. Die Intention des Totentanzes – das mahnende und belehrende »memento mori« – wird dadurch besonders eindrucksvoll realisiert. Im vorliegenden Band werden die Text-Bild-Kombinationen verschiedener Totentänze untersucht und auch die Beziehungen der Werke untereinander in den Blick genommen. Den Schwerpunkt bilden dabei deutschsprachige Beispiele, doch auch andere europäische Totentanz-Traditionen werden berücksichtigt. 2011. 353 S. 10 S/w-Abb. Auf 8 TAf. MiT CD-ROM-beilAge. gb. 178 x 260 MM. iSbN 978-3-412-20422-8

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CORNELIA KLINGER (HG.)

PERSPEKTIVEN DES TODES IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT WIENER REIHE. THEMEN DER PHILOSOPHIE BAND 15

Das invariante Faktum von Sterblichkeit und Tod ist offen für fast unendlich viele Varianten von Verhaltens- und Handlungsweisen, von Deutungen und Sinnstiftungen. Der Band versammelt Beiträge aus verschiedenen Bereichen – von Theologie und Philosophie über Sozial- und Kulturwissenschaften bis hin zur Medizin. So entsteht ein Spektrum unterschiedlicher Perspektiven auf das Phänomen des Sterbens und Tötens in der modernen Gesellschaft. Die Frage nach dem Ende des Lebens ist zugleich eine Frage nach der Grenze des Wissens und der Diskurse, nach der Verfasstheit des Wissens. Der Band soll einen Beitrag leisten zur Diskussion des Todesverständnisses der Gegenwart, sowie Anregungen geben zur Bewusstseins- und Willensbildung, zu gesellschaftlichen und individuellen Entscheidungsfindungen. Beiträge von Hubertus von Amelunxen/Dieter Appelt, Anna Bergmann, Ulrike Brunotte, Iris Därmann, Terry Eagleton, Kathleen M. Foley, Alois Hahn/ Matthias Hoffmann, Hanfried Helmchen/Hans Lauter, Eberhard Jüngel, Gabriela Kiliánová, Cornelia Klinger, Oliver Krüger, Christoph Markschies, Hans-Ludwig Schreiber. 2009. 254 S. BR. 135 X 215 MM. ISBN 978-3-205-78305-3, 978-3-05-004442-2

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

Nicole SchmeNk

ToTengedenken in der AbTei brAuweiler unTerSuCHung und ediTion deS neCrologS Von 1476 (verÖFFeNTlichUNgeN DeS hiSToriScheN vereiNS FÜr DeN NieDerrheiN. NeUe Folge, BAND 2)

Als der Brauweiler Mönch Heinrich Zonsbeck im Jahre 1467 für sein Kloster ein Kapiteloffi ziumsbuch anlegte, konnte er nicht ahnen, dass diese Handschrift später einmal als wertvolle historische Quelle ausgewertet würde. Dieser Codex, der im Zusammenhang mit der Bursfelder Reformbewegung entstanden ist, enthält ein Martyrolog (Heiligenkalender), die Regel des hl. Benedikt und ein Necrolog (Totenbuch). In das kalendarisch geordnete Necrolog wurden alle für das Kloster wichtigen Persönlichkeiten zu ihrem Todestag eingetragen, um ihrer jährlich in der Liturgie zu gedenken. Insgesamt sind 1.868 Namen von Äbten, Mönchen, Wohltätern und Stiftern bis zurück zu den Ezzonen als Gründern des Klosters im Kapiteloffi ziumsbuch der Mönchsgemeinschaft Brauweiler überliefert. Das Necrolog wird hier erstmals ediert und der Forschung zugänglich gemacht. 2012. iv, 458 S. gB. 155 X 225 mm | iSBN 978-3-412-20709-0

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