Theorien, Definitionen und Beurteilung der Armut [1 ed.] 9783428456345, 9783428056347

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Theorien, Definitionen und Beurteilung der Armut [1 ed.]
 9783428456345, 9783428056347

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GERHARD SCHXUBLE

Theorien, Definitionen und Beurteilung der Armut

Sozialpalitische Schriften Heft 52

Theorien, Definitionen und Beurteilung der Armut

Von

Gerhard Schäuble

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Scbäuble, Gerhard: Theorien, Definitionen und Beurteilung der Armut I von Gerhard Schäuble. Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Sozialpolitische Schriften; H. 52) ISBN 3-428-05634-5

NE:GT

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1984 bei Werner H11debrand, Berlln 65 Prlnted ln Germany

© 1984 Duncker

ISBN 3-428-05634-5

Für Birgit

Anen, die meine Arbeit förderten, spreche ich meinen herzlichen Dank aus. Herrn Prof. Dr. Detlef Krause danke ich besonders für seine wohlwollende Kritik und die Unterstützung, die er mir zukommen ließ.

Gliederung Einleitende Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Kapitel I Begriff und Entstehung absoluter Armut

39

l.

Absolute Armut als die Unfähigkeit zur längerfristigen Sicherung der körperlichen Selbsterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

2.

Drei Ursachenkomplexe der Entstehung absoluter Armut . . . . . . . . .

44

2.1

Absolute Armut durch Einwirkungen der äußeren Natur . . . . . . . . .

45

2.2

Absolute Armut durch die Art und Weise der Produktion und Reproduktion der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

2.2.1 Die Regelung von Produktion und Reproduktion in den Urgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

2.2.2 Absolute Armut in den Urgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

Absolute Armut durch die individuelle Natur des Menschen . . . . . .

69

2.3.1 Individuelle biologische Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

2.3.2 Vergesellschaftung individueller Natur und Armut . . . . . . . . . . . . . . .

75

2.3

Kapitel II Die Entwicklung zum sozialen Existenzminimum als gegenwärtig vorherrschendem Armutsstandard

95

1.

Zwischen Existenznot und relativer Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . .

95

2.

Historische Vorläufer der aktuell Armen in den Industrieländern . .

96

2.1

Die Entstehung von Klassengesellschaften und die Evolution menschlicher Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

2.2

Die antiken Sklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

2.3

Die mittelalterlichen Pauper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

2.4

Das frühindustrielle Proletariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

3.

Der Anspruch der Sozialhilfe als soziales Existenzminimum . . . . . . .

178

4.

Selbständige Lebensführung, Anspruchsniveau und Verwirklichung von Ansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

8

Gliederung

Kapitel li/ Relative Armut: Armut als Phänomen sozialstruktureHer Disparitäten

216

l.

Das Konzept der relativen Deprivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

2.

Die Lebenslage als Bestimmungsmaß gesellschaftlicher Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

3.

Tertiäre Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

4.

Armut als Subkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250

4.1

Kultur und Subkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250

4.2

Konfliktorientierungen zwischen Subkultur und dominierender Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

258

4.3

Die kulturelle Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

4.4

Der situative Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

268

4.5

Der Ansatz der Wertbandbreite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269 271

4.6

Der Etikettierungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.7

Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

4.8

SKA in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

274

4.8.1 Obdachlosigkeit als Subkultur der Armut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277

4.8.2 Obdachlosigkeit als offene Bewahrungsanstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286

5.

Marxistische Armutsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

5.1

Die wesentlichen Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft . . . . . . . .

289

5.2

Absolute Armut und virtuelle Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

292

5.3

Bewegungen der virtuellen Armut und beständige Erscheinungsformen der relativen Überbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

300

5.4

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

Kapitel IV Zur Empirie der Armut

314

l.

Zum Verhältnis von Armutsdefinitionen, Armutstheorien und der Messung von Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

314

2.

Drei grundlegende Verfahren der Erfassung haushaltsspezifischer materieller Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

2.1

Die Ermittlung der bekämpften Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

2.2

Die Ermittlung der latenten Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

322

2.3

Die Ermittlung der hypothetischen Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

324

3.

Zum Verhältnis von Empirie und Theorie in der Dokumentation von H. Geißler zur ,Neuen Sozialen Frage' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

326

Gliederung

9

Kapitel V Armut als Ergebnis der Verteilung und Allokation von Mitgliedscharten in segmentär differenzierten Gesellschaften

331

1.

Verhalten und Realität 0000000••••••••••• 0• • 0• •••••••••• 0•••••

1.1

Elementare Verhaltenspotentiale und Integrationsniveau

1.2

Verhalten und Verhaltenssteuerung ..

1.3

Die segmentierte Realität ......... 0•.. • ••• • • 00•• • ••••• • ••••• • •

20

Schwierigkeiten und Wirkungen der Verhaltenssteuerung . . ... o. oo

2o1 202

Die inneren Bezugsquellen der Verhaltenssteuerung .......... . . 0.

203

Handlungen in Verflechtungszusammenhängen ... . ....

0

... .. ... .

•••••••••••••••••

Die situativ-interaktive Verhaltenssteuerung ....

0

0

0

•••••

•••••••••••

0













•••••••••

331 331

350 356 368 369 374 375

3o

Organisation und Kodifizierung ........ . .. . .................. .

378

40

Abweichendes Verhalten und Integrationsniveau 0. 0. 0•• •••••• 0• • •

385

401 4o2 4o3

Abweichendes Verhalten und seine Sanktionierung . .... .... . . .

Grenzen der Sanktionierung .......... .. 0000•••••••••••••• • •••

385 393

0

••

5o2

Familie .. ......... . .. o•o•o •• ••• ••• • •• •o 0o••o• •••• •••• •oo 000

396 403 407 409

5o3 5.4

Soziale Herkunft ... 0••• 000•••.•. 00••• • • • 0•• ••••••• 0••••• • •••

411

Altersgebundene Lebensphasen ... 00••••• • ••• • •••.•••••.••• 0•••

411

Manipulationen des Integrationsniveaus .

0





••••

0

•••••••••••



•••

5o

Mitgliedschaften ....... 00••. 0• 00•• 0••• • •• 0• •.•••••••.•.•••••

501

Vererbung und Geburt . 000• 000•••••••.•• 0• 0000•••••••••••••• o

505

Staatlich abgesicherte Karrierewege . 00••••• • ••••••••• • .• • •• 0•••

412

5o6

Ökonomische Einheiten . . .............. . ..... 0••• 0•••••• •• • 0•

412

5o7 508

Religiöse Mitgliedschaften 000• •••• • •••.• 0000••• ; ••.• 0••••• 0• 00 Politische Mitgliedschaften . 0•.•••• 00•• 0•• • 0••••• • •• 0. 0• 0• 0•• •

417 418

509 5010

Freizeitmitgliedschanen . 0• 00•••••••••• 0• ••• ••••••••• 00•• • ••• •

419

Randmitgliedschaften und Randexistenzen .. . . 0. 0••••••• 0•.• • 0••

420

60

Konfliktfelder und Haupttendenzen sozialstruktureUer Transformation . 0. 00•• 0. 00•••• •• • ••• 0••• 0•••••••• 0. 000•••• •• ••.•• 0. 00.

424

70

Abschließende Bemerkungen ... . .. . . .

437

Literaturverzeichnis

0



•••••



•••





•••

••



0

•••••

450

Personenregister ........... . .. 0000•••• 0••••• • •. 0• • • • • • • • . • • • • • • • • • • • 4 79 Sachregister o• • 0• • ••••• •••••• 0• 0•••• • •• ••• • 0• 0•• 0•••• • •• • ••• • • 0••• 0• 481

Verzeichnis der Abbildungen

1:

Die zur längerfristigen körperlichen Selbsterhaltung notwendigen Bedürfnisorientierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

2:

Vorläufige Rahmenbestimmung der Relativität subjektiver und objektiver Einflüsse auf Umfang und Qualität der Grundbedürfnisorientierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

3:

Das Bevölkerungsgesetz von Maltbus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

4:

Grundverständnisse von Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

5:

Vergleich soziokultureller Entwicklungsmodelle (zit. nach Ribeiro 1970, 431) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

6:

Sozialstruktur und Armutsgruppen der Feudalgesellschaft . . . . . . . .

127

7:

Schema der Änderungen in der Struktur der Produktionsweise im gewerblichen Sektor und Herkunft der industriellen Arbeiterschaft (1835 bis 1900) (Henning 1973, 127) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

8:

Bevölkerungswachstum in verschiedenen Teilen Deutschlands von 1825 bis 1925 (1825 = 100) (Henning 1973, 18)...................

150

9:

Entwicklung des gewerblichen Sektors im Zeitalter der Industrialisierung nach der Zahl der Beschäftigten (Henning 1973, 23) . . . . . . .

160

10:

Zahl der Auswanderer aus Deutschland in Zehnjahresperioden von 1820 bis 1914 (Henning 1973, 266) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

11:

Vergleich der anteiligen Ausgaben für Lebensmittel von zwei Modellfamilien um 1800 und 1965 (Abel 1974, 396) . . . . . . . . . . . . . .

167

12:

Private Verwendungsquote des höheren Bedarfs von Arbeitnehmerhaushalten. Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch flir die Bundesrepublik Deutschland, diverse Jahrgänge (lndexbildung nach Heiland 1980 a, Tab. 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sektorenspezifische Strukturierung von Ansprüchen . . . . . . . . . . . . . .

168 198

14:

Die Spannung zwischen individuell verfligbaren Bedürfnisbefriedigungsmitteln und Anspruchsniveau I: beispielhafte Dimensionen und Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

212

15:

Die Spannung zwischen individuell verfügbaren Bedürfnisbefriedigungsmitteln und Anspruchsniveau II: Beispiel: Differenz zwischen Erreichtem und Angestrebtem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

Index zur Messung des Niveaus des Lebensstandards (zit. nach Townsend 1970a, 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

13:

16:

Verzeichnis der Abbildungen 17:

18:

II

Der Lebenskreislauf der Armut: Personen nach Alter und Einkommensklassen oberhalb und unterhalb des staatlichen Armutsstandards (zit. nach Townsend 1979, 286) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Konfliktorientierungen zwischen Subkultur (SK) und gesamtgesellschaftlich gültigem Realitätssegment (RS 4) . . . . . . . . . . . . . . . .

261

19:

Beispiel eines Armutskreislaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278

20:

Entwicklung und Modifikation der Erscheinungsformen der Armut

305

21:

Kernstruktur, Oberfläche und politisch-rechtliche Regulierung der Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306

22:

Die Ausweitung des Armutsbegriffs von der absoluten Armut zur multiplen Deprivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316

23:

Theoretischer Ansatz der Neuen Sozialen Frage nach Geißler . . . . .

328

24:

Selektionen und Relationierung von Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

360

25:

Innere Bezugsquellen der Verhaltenssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

372

26:

Situative zirkulär-prozessuale Verhaltenssteuerung von Interaktionseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373

27:

Elemente und Phasen von Handlungen in Verflechtungszusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

376

28:

Die wesentlichen Institutionen, Organisationen, Bereiche und Interaktionseinheiten, welche die sozialen Personenabstände regulieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

Die Genese abweichenden Verhaltens in einem institutionalisierten normativ kontrollierten Sanktionsprozeß - in einer nicht auf allseitigen Konsens bedachten Gesellschaftsformation . . . . . . . . . . . .

389

29:

30:

Formale Systematik der Mitgliedscharten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

404

31:

Kultureller Zugriff und subjektive Annahme von Armut . . . . . . . . . .

415

32:

Konfliktfelder der Verhaltenssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

33:

Haupttendenzen aktueller sozialstruktureHer Transformation in segmentierten Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

431

Verzeichnis der Tabellen 1:

Die in Preußen in der Armenpflege lebenden Menschen . . . . . . . . . .

148

2:

Struktur des gewerblichen Sektors in Deutschland um 1800 . . . . . . .

159

3:

Entwicklung der Beschäftigtenzahl in den einzelnen Wirtschaftssektoren in v. H. aller Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

4:

Die Erwerbstätigen in der Schuhindustrie 1882, 1895 und 1907 nach ihrer Stellung im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

162

5:

Jahreslöhne Meißener Porzellanarbeiter 1755 in Talern . . . . . . . . . . .

163

6:

Lohntabelle bei Krupp 1844 und 1845 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

7:

Die Erwerbspersonen nach der Stellung im Beruf (in %) . . . . . . . . . .

169

8:

Festsetzung der Regelsätze für Haushaltsvorstände und Alleinstehende am ... auf ... zusammengestellt nach Daten des ,.Deutschen Vereins" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

182

9:

Bundesdurchschnittliche Regelsätze für Haushaltsvorstände (Eckregelsatz) für die Hilfe zum Lebensunterhalt, jeweils zum Jahresanfang von 1957 bis 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

10:

Aufteilung des Regelsatzes für Haushaltsvorstände und Alleinstehende nach Bedarfsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

184

II:

Deprivationsindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224

12:

Haushalte mit Einkommen unterhalb verschiedener Armutsgrenzen in 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228

13:

Percentages in poverty and on the margins of poverty according to three standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

14:

Sozialhilfeempfänger von 1970 bis 1981 in Tausend . . . . . . . . . . . . . .

321

Einleitende Übersicht Die vorliegende Arbeit ist ein Zwischenergebnis der bereits mehrjährigen Beschäftigung mit der Armutsproblematik. Während gegenwärtig das Hauptinteresse auf die Anwendung von Verfahren zur Messung von Einkomme:nsarmut gerichtet ist, war in der Phase der theoretisch orientierten Arbeit beabsichtigt, einen kritischen Überblick über den geschichtlichen Verlauf und die vorherrschenden Definitionen, Theorien und Erklärungen von Armut zu erarbeiten und zu weiterführenden theoretischen Überlegungen zu gelangen. Statt die einzelnen Definitionen zusammenhangslos nebeneinander zu· stellen und aneinanderzureihen, wurde versucht, sie in ihre jeweiligen Kontexte zu plazieren und aus deren Annahmen und spezifischen Beschränkungen heraus zu erörtern. Trotzdem kann auch diese Arbeit nicht beanspruchen, alle gesellschaftlich relevanten Definitionen, Theorien und Beurteilungen gebührend berücksichtigt zu haben. Es ließ sich nicht verhindern, daß die einzelnen Kapitel der Arbeit sowohl in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung als auch der präzisen Begrenzung auf die Kernaussagen des jeweiligen Unterkapitels unterschiedlich ausfielen. Neben dem weitgespannten Bogen des bearbeiteten Themas liegen die Gründe zum einen in der Vielschichtigkeit und Vielfalt dessen, was unter Armut subsumiert wird und zum anderen darin, daß ein ausreichendes Verständnis von Armut erfordert, deren einzelne Dimensionen zurückzuverfolgen auf ihre Genese und Ursprünge. Damit wird das bloße Verhaftetbleiben an Symptomen überwunden, zugleich aber die Gefahr heraufbeschworen, allzu ausufernde Nachforschungen anzustellen, bei denen sich zu Recht fragen läßt, wo der spezifische Bezug zur Armut bleibt. Lange Zeit galt mein persönliches Interesse den früheren gesellschaftlichen Erscheinungsformen der Armut. Die latente Suche nach dem historisch ersten Auftauchen der Armutsproblematik führte zu einem überraschenden Ergebnis. Ein bleibendes nicht unwichtiges Resultat der geschichtlich orientierten Analyse ist die Erkenntnis, daß bestimmte Dimensionen der Armut in ,primitiven' Kleingesellschaften (und einzelnen Großgesellschaften) nicht existieren, dafür andere einen gesellschaftlich stark beachteten Stellenwert erhalten. Gleiches läßt sich auch über die Formen der Armenpflege sagen. Almosen, Fasten und Beten werden auch heute von den hohen kirchlichen Würdenträgern als Schutz und Waffe gegen die Versuchungen des Lebens gepriesen (bspw. FR, 17. 2. 83, 19). Überhaupt kann erst die langfristige, kulturübergreifende Analyse von Armut deren historisch kontinuierliche

14

Einleitende Übersicht

Eigenheiten und Schwerpunktverlagerungen in ihren Erscheinungsformen erkennbar werden lassen. Gerade was die Beseitigung von Armut betrifft, liefert die historische Betrachtung gewichtige Einwände gegen die mögliche Abschaffung einzelner Armutsdimensionen. In der Gliederung der Arbeit wurde der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Armut Rechnung getragen, indem die seit der Industrialisierung dominierenden drei Armutsbegriffe von absoluter Armut, sozialem Existenzminimum und relativer Armut den Inhalt der einzelnen Kapitel vorgeben. Zugleich enthält diese Anordnung eine Systematisierung bestehender Armutsverständnisse. welche von der absoluten Armut ausgehen und bis hin zur multiplen Deprivation reichen (Abb. 22). Sicherlich wird innerhalb der sozialwissenschaftliehen Einzeldisziplinen ein derartiger Aufbau breite Anerkennung finden können. Allerdings treten bei der näheren Bestimmung und Ausgrenzung von Armutserscheinungen die Definitionen und empirischen Präzisierungen innerhalb und zwischen dem sozialen Existenzminimum und den relativen Armutsbestimmungen derart weit auseinander, daß der in der Bundesrepublik als arm bezeichnete Personenkreis in seiner Größe zwischen 111.000 Haushalten ( Merklein 1980) und 5. 980.000 Haushalten (Roth 1979, 32, 35) schwankt. Manch einer zieht aus der Vielfalt vorhandener Armutsdefinitionen und -operationalisierungen den Schluß, daß Armut eben das sei, was entsprechend den jeweiligen Interessen der Forscher als Armut definiert wird (Lidy 1974, 23). Diese gewissermaßen praktische Notlösung darf aber keinesfalls zum Endpunkt theoretischer wissenschaftlicher Beschäftigung mit Armut werden. Vielmehr müssen die Wissenschaftler auch die theoretische Auseinandersetzung über die Begründung und Auswahl der Selektionsverfahren führen, welche sie zur Gewinnung der Variablen und Indikatoren von Armut benützen, mit denen sie die Erscheinungsformen der Armut analysieren. Die Folgen der theoretischen Vorannahmen zeigen sich erst dann, wenn die Messung der Armut auch zu Hinweisen auf ihre Beseitigung oder Linderung führen soll. Keinesfalls läßt die punktuelle deskriptive Messung ausgewählter Armutserscheinungen automatisch Rückschlüsse auf deren Entstehung und Prognosen auf die Wirkung von Maßnahmen zu ihrer Beseitigung zu. Kann somit die fundierte Erarbeitung der Definitionen von Armut und ihres theoretischen Hindergrunds nicht mittels der Verwendung rein deskriptiver und der Verwendung theoretisch unreflektierter Begriffe abgewendet werden, wiegen die Fehler leichtfertig gewählter Armutsbegriffe umso schwerer, wenn die politische Brisanz des Themas zur Bewertung der theoretischen Gewinnungsverfahren der jeweiligen Armutsbegriffe hinzugezogen wird. Nicht von ungefähr versuchen verantwortliche Politiker die Veröffentlichung von für sie ungünstigen ,Zahlen' zu verhindern oder in positive Trends umzumünzen. Ein allzu plumper Versuch wurde bspw. vom amerikanischen Innenminister unternommen. indem er kurzerhand die ,schlechte Zahl' von I 0% Arbeitslosen in

Einleitende Übersicht

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die ,gute Zahl' von 90% Erwerbstätigen umwandelte. Folgenreich für die Ergebnisse auch bei rein deskriptiven Analysen ist die Auswahl und Begrenzung der als armutsrelevant bestimmten Dimensionen. Da in der Regel die Definitionsversuche darauf gerichtet sind, Armutsgrenzen oder Benachteiligungsstandards zu bestimmen, welche den Umfang und die Besonderheiten der Armutspopulation als Teil der Gesamtbevölkerung vorab theoretisch festlegen, wird unmittelbar einsichtig, welche Folgen ein enges oder ein weites Begriffsverständnis von Armut hinsichtlich des Umfangs und der Qualität der Forderungen nach Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen hat, welche aus den Ergebnissen abgeleitet werden. Die Verbreitung von Lösungsmöglichkeiten oder Vorschlägen zur Linderung der Armut, denen empirisch geprüfte Armutssachverhalte zugrundeliegen, dürfen nur dann ernst genommen werden, wenn die Zwischenschritte von den operationalisierten Indikatoren hin zur erkenntnisleitenden Theorie und deren Annahmen ebenfalls offengelegt werden. Gegen diese wissenschaftliche ,Alltagsweisheit' wird bei der Publizierung von Ursachen der Armut und daraus entwickelten Vorschlägen zur Beseitigung oder Linderung der Armut fortwährend verstoßen. Obwohl es im einzelnen sicherlich reizvoll und notwendig ist, auf derartige Verletzungen hinzuweisen, wurde in dieser Arbeit weitgehend darauf verzichtet'. Von monokausalen eindimensionalen Ursachenklärungen der Armut wurde inzwischen weitgehend Abschied genommen. Dennoch gehen auch die neuesten Untersuchungen im Bereich der Einkommensarmut über die Verknüpfung von maximal vier Dimensionen nicht hinaus. Die knapp gehaltenen Bemerkungen zum Zusammenhangvon erkenntnisleitender Theorie, daraus entwickelter Armutsbegrifflichkeit und operationalisierten Variablen einerseits und der Ursachen- und Lösungsproblematik andererseits, dürften genügen, um die Notwendigkeit der weiteren theoretischen Beschäftigung mit Armut einsehbar zu machen. Der historische Orientierungsfaden, welcher die Kapitel I (Absolute Armut), II (Soziales Existenzminimum) und 111 (Relative Armut) miteinander verbindet, mündet in das Kapitel IV, in dem der Schwerpunkt auf dem Vergleich von empirischen Standardarmutsbegriffen und ihrer Anwendung in empirischen Untersuchungen liegt. In Kapitel V wird der Versuch unternommen, eine über die bisherigen Armutskonzepte hinausgehende neue Sichtweise von Armut zu entwickeln. Dabei wurde weitgehend von der wiederholten Zitierung empirischer Belege abgesehen. Auf die vielleicht als Mangel empfundene Auseinandersetzung mit konkurrierenden Sichtweisen mußte aus Platzgründen verzichtet werden. Bei Kenntnis der vorhergehenden Kapitel wird zudem die Herkunft aller wesentlichen Einzelaspekte deutlich erkennbar. Da es primär um die Entwicklung der Konturen einerneuen 1 Vgl. die Kritik von (Kohi / Leisering 1982) an (Heinze / Hinriclts / Hohn/ Oik 1981), auch Kap. IV, 3.

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umgreifenden Sichtweise von Armut geht, deren unverzichtbar ausholende Begründung schon zu einem erheblichen Umfang der Darlegung geführt hat, muß die Auseinandersetzung und Abgrenzung zu anderen Armutsverständnissen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Die verstreuten Hinweise auf die Arbeit von Matzner wurden erst in der Oberarbeitungsphase des Manuskripts korrigierend und präzisierend eingefügt, da dessen Arbeit erst 1982 erschien. In Kapitel V wird ausgegangen von elementaren Verhaltenspotentialen, welche für jegliches Verhalten konstitutiv sind. Die drei elementaren Verhaltenspotentiale sind (I) der Tätigkeitsvollzug, (2) psychische Zu- und Abwendungen und (3) Sinngebungen2. Da individuelles und kollektives Verhalten verstanden wird als interaktiv gesteuerte Realitätseroberung, die zu ihrem Gelingen der Verhaltensstabilität bedarf, werden einerseits die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen zur Verhaltensstabilitätssicherung und andererseits die Verhaltenssteuerungsverfahren und deren gesellschaftliche Auswirkungen genauer untersucht. Dabei wird verdeutlicht, daß die Regulierung der sozialen Personenabstände in Gesellschaften mit großer Bevölkerungszahl auf einem im Vergleich zu Kleingesellschaften sehr niedrigen Integrationsniveau stattfindet. Eroberung von Realität mittels der drei grundlegenden Verhaltenssteuerungsverfahren der Selbsthilfe, Verhandlung oder Herrschaft, richtet sich auf die Verfügung von als knapp und / oder wertvoll erachteten Ressourcen, Zeit- und Tätigkeitsverfügungen, Zu- und Abwendungen und Sinngebungen. Soziale Integration ist das Element von sozialen Beziehungen, welche" . .. sich auf den idealen und/oder tatsächlichen durchschnittlichen sozialen Abstand zwischen allen an der sozialen Beziehung beteiligten Interaktionseinheiten individueller und kollektiver Art beziehen." (Seibel 1972, 4). Soziale Personenabstände ergeben sich aus der Dichte der Interaktionen und sind das Produkt von Interaktionsintensität und Interaktionshäufigkeit (ebd.). Das niedrige gesellschaftliche Integrationsniveau wird gesamtgesellschaftlich reguliert durch die zentrale Institution des Staates, unterstützt von den durch ihn geschützten Institutionen des Marktes, der Teilinstitutionen Arbeitsvertrag und Privateigentum an Produktionsmitteln sowie der Institution des traditionalen, konventionellen Rechts, der Sitten, Bräuche. Der Staat als Gesamtheit der Gebietskörperschaften und der öffentlich-rechtlichen Anstalten, besitzt das physische Gewaltmonopol, das Steuermonopol und das Monopol des Rechtswesens. Da formal die Personenabstände festgelegt werden durch das allgemeine staatliche Recht, hat der Staat eine Reihe von Manipulationsmöglichkeiten zur Regulierung der Personenabstände, die auch für die Regulierung der staatlich anerkannten und nichtanerkannten Armutsbevölkerung, als eine vom allgemein üblichen Verhalten in bestimmten Aspekten abweichende 2

Zur genaueren Definition der Begriffes. d. Seitenangaben im Schlagwortverzeichnis.

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Bevölkerungsgruppe, relevant sind. Neben und zu der formalen Regulierung der sozialen Personenabstände erhöht oder erniedrigt der Staat selektiv mittels bestimmter negativer und positiver Sanktionen die Interaktionsdichte zwischen ihm und der Armutsbevölkerung. Im Unterschied zum niedrigen Interaktionsniveau auf der gesellschaftlichen Ebene verwirklichen die marktvermittelten Institutionen (wie Unternehmen) und die traditionalen Institutionen der Familie und Teile des Nonprofitsektors innerhalb ihres Geltungsbereichs ein ungleich höheres lntegrationsniveau. In den Genuß dieser speziellen, höheren Integrationsniveaus kann der einzelne nur gelangen, wenn er auf der Bezugsgruppenebene Mitglied der jeweiligen Vereinigung ist, innerhalb derer das Integrationsniveau reguliert und je nach Zweck der Vereinigung, Ressourcen produziert und verteilt, Zeit verbracht und Tätigkeiten ausgeführt werden. Wer keiner solchen Vereinigung angehört, eine solche nicht besitzt oder von ihr verwaltet, betreut wird, ist nicht überlebensfahig. Erst die interaktive Verbindung der einzelnen Menschen über spezifische Mitgliedschaften in Vereinigungen lassen die Beteiligung an kontinuierlichen Interaktionsströmen zu. Da Vereinigungen innerhalb raum-zeitlich begrenzter Aktionsräume agieren, verteilen sie selektiv die Interaktionswahrscheinlichkeiten und strukturieren über Mitgliedschaften deren Intensität und Häufigkeit vor. Werden diese Vereinigungen hierarchisch gefestigt, so werden die lnteraktionswahrscheinlichkeiten, deren Intensität und Häufigkeit, durch die positionsgebundenen Aufgabenstellungen und Mitgliedschaftsbedingungen vorstrukturiert Eroberung von Realität durch Verhalten findet fortwährend situativ statt. Handlungen als geplantes Verhalten strukturieren die Verhaltenssteuerung über längere Zeiträume hinweg. Um kollektiv arbeitsteilige Handlungen in Verflechtungszusammenhängen auf Dauer erfolgreich wiederholen zu können, ist Organisation unabdingbar. Die Mitgliedschaft in Vereinigungen, die als Organisationen eine hohe Verhaltensstabilität besitzen und garantieren, wird somit zum ausschlaggebenden Faktor dafür, ob jemand arm wird, ist oder nicht. Mitgliedschaften in Vereinigungen werden aufgrundbestimmter Zutrittsbedingungen vergeben und sind an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Aus dem Verhältnis von gesellschaftlichen und organisationsspezifisch angebotenen und produzierten Mitgliedschaften zu ihrer Verteilung auf die einzelnen Gesellschaftsmitglieder kann mehrdimensional beurteilt werden, wer benachteiligt, bevorzugt ist oder im Durchschnitt liegt. Aus der Analyse der jeweils institutionsspezifischen Entscheidungsverhältnisse können die impliziten und expliziten Regeln der Zutritts- und Mitgliedsbedingungen und ihre Allokationsmöglichkeiten erschlossen werden. Indem dieser Analyse die Versuche und Möglichkeiten gegenübergestellt werden, welche die einzelnen zum Erwerb, der Nutzung oder sonstigen Obernahme von Mitgliedschaften unternommen haben bzw. ihnen vorgegeben sind, werden die Ursachen ihrer jeweiligen Stellung, Lage und den gegebenen 2 Schäuble

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Lebenschancen deutlich. Der Vorteil dieses mehrdimensionalen Modells liegt darin, daß die Nachteile der bisherigen Theorien, einzelne Dimensionen von Armut relativ isoliert betrachten zu müssen, wie Einkommen, Wert-, Normenbesonderheiten, Etikettierung, Individualpsyche, Sozialpolitik, Arbeitsmarkt, Erziehung, durch die Bildung eines umgreifenden Dimensionspaares (Integration und Mitgliedschaft) überwunden werden können, ohne die analytische Einzeluntersuchung aufgeben zu müssen. Es ist daher sowohl geeignet als ein Selektionsrahmen für spezielle Armutsanalysen, als auch zur Erklärung der Entstehung und Verfestigung von Armut und Benachteiligung. Die theoretische Auseinandersetzung mit Armut beginnt in dieser Arbeit mit dem Begriff der absoluten Armut, welcher die höchste menschliche Not und den existenziellen Mangel kennzeichnet, der besteht, wenn Defizite in der Befriedigung von absolut notwendig zu befriedigenden Bedürfnisorientierungen gegeben sind (Kap. I, 1.). Die Befriedigung der zur längerfristigen körperlichen Selbsterhaltung notwendigen Bedürfnisorientierungen muß durch Vorkehrungen individueller und gesellschaftlicher Art sichergestellt werden. Daher ist die Reduzierung von Armut auf ein körperliches Überlebensniveau, welches in Einkommensgrößen die Kosten der Mittel angibt. die zum Überleben in einer gegebenen Gesellschaft absolut notwendig sind. abzulehnen. In Kapitel I. 2. wird der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen die realen und potentiellen Gefahren der Entstehung absoluter Armut auffindbar sind. In diesem sehr weit ausgedehnten Unterkapitel werden drei Bedingungskomplexe unterschieden: -

die äußere Natur die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion der Menschen; ihre Fortpflanzung die individuelle physisch-psychische Natur jedes einzelnen Menschen

Vier wesentliche Bereiche der armutsverursachenden Einwirkungen der äußeren Natur werden gegeneinander abgegrenzt (Kap. I, 2.1). Der Bereich der Genetik, bestimmte Krankheiten. die geographisch/klimatischen Lebensbedingungen und das unvorhergesehene Wirken der Naturelemente an geographischen Orten. Weil sowohl das Ausmaß und die Intensität der Schäden, welche durch die äußere Natur angerichtet werden, als auch die Nutzung der natürlichen Potenzen abhängig ist von der Art und Weise, wie die Menschen die äußere Natur als Grundlage ihrer kulturellen Lebensweisen behandeln, wurde auf die beiden entgegengesetzten Richtungen der gesellschaftlichen Adaption an die äußere Natur eingegangen. Die unmittelbare Bedeutung von innerer und äußerer Adaption an die äußere Natur hinsichtlich der Armutsproblematik ergibt sich aus den ,natürlichen' Grenzen der Nahrungsmittelproduktion und der Rohstoffgewinnung im Verhältnis zu der zu versorgenden Bevölkerung. Im 19. Jahrhundert wurde von

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vielen Armutsexperten die Ursache der Armut in der hohen Geburtenrate der Armenhaushalte vermutet. Der englische Ökonom Maltbus hatte 1798 die Produktion einer absoluten Überbevölkerung erklärt aus der in geometrischer Progression sich fortpflanzenden Armutsbevölkerung und der arithmetisch begrenzten Ausweitung des natürlichen Nahrungsspielraums. War in Kapitel I, 2.1 der Blick gerichtet auf die Anpassungsrichtung der Menschen an die äußere Natur, so wird im Unterkapitel 2.2 gefragt, inwieweit absolute Armut durch die Art und Weise der Produktion und Reproduktion der Menschen entsteht. Der Versuch, die Entstehung und Regulierung von Armut in den frühen Kleingesellschaften der Jäger und Sammler zu betrachten, hat den Vorteil, die Regulierung gesellschaftlicher Beziehungen auf einer niederen Komplexitätsstufe erforschen zu können. Neben den bereits thematisierten Armutsgefährdungen durch die äußere Natur ergeben sich besondere Armutsbedrohungen aus dem Entwicklungstand der Erzeugung und den Prinzipien der Verteilung der Lebensmittel, der Vorratshaltung, der Fortpflanzungsregulierung und dem Entwicklungsstand des Schutzes vor äußeren Feinden. Die Existenzsicherheit des einzelnen innerhalb der Kleingesellschaft bestimmte sich weitgehend aus seinem Beitrag zur Herstellung der Lebensmittel, seiner Verteilungsposition und seiner Verwandtschaftsbeziehungen und -zugehörigkeiten. Ein besonderes Problem war der Umgang mit und die Versorgung von Abweichenden und alten Menschen. Wie die verschiedenen gesellschaftlichen Lösungen zeigen, war die absolute Separierung von der Gesellschaft durch gewaltsame Tötung über Aussetzung bis hin zu freiwilligem Ausscheiden aus der Kleingesellschaft häufig praktizierte Regelungen zur Prävention vor und j oder der Beseitigung von Armutsgegefährdungen. Da die die menschlichen Lebensordnungen auf spezifischen Eigenbeteiligungen und -Ieistungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder berul;len, wurde untersucht, welche Armutsgefährdungen aus den individuellen biologischen Ungleichheiten der Menschen und der Vergesellschaftung der individuellen Natur entstehen können (Kap. I. 2.3). Biologisch bedingte sichtbare Auffälligkeiten, aber auch nicht sichtbare Krankheiten und Behinderungen, sind Armutsgefährdungen, welche durch negative Etikettierung zusätzliche Benachteiligungen schaffen und aufgrundunterlassener Hilfeleistungen gesellschaftlich verstärkt werden können (2.3.1 ). Mit der zunehmenden Größe von Gesellschaften nimmt die Reichweite individueller und privater Selbsthilfeund Vorsorgemaßnahmen zur Sicherung und Hebung der Existenzsicherheit ab oder ver1agert sich zumindest auf die Abhängigkeit von der Prosperität von Vereinigungen. In den industriellen Gesellschaften verfügt der private Durchschnittshaushalt nur über minimale eigene Produktionsmittel. Die individuelle, materielle und soziale Existenzerhaltung und Sicherheit wird weitgehend gefördert und begrenzt von den Institutionen des Marktes, des Staates, der Familie und des Nonprofitsektors. Di~ produktiven Funktionen

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eines Teils der Haushaltsmitglieder werden zeitlich beschränkt und über Märkte vermittelt, den Unternehmen zur Verfügung gestellt, um die Reproduktionskosten der Familie bestreiten zu können . In Kapitel I. 2.3.2 werden die Besonderheiten der vier typischen Institutionen zur materiellen und sozialen Sicherung der Existenz des einzelnen in besitzindividualistisch kapitalisierten Ländern und die unmittelbaren Momente der Vergesellschaftung der einzelnen näher bestimmt. Ihnen folgt in einer ersten Zusammenfassung die Abgrenzung von drei Grundverständnissen von Armut, denen entsprechende Armutszustände und darauf bezogene gesellschaftliche Lösungsmöglichkeiten zugeordnet werden (Abb. 4). Mit der Gliederung in existenzielle Notlage, relative Benachteiligung und Anspruchsarmut wird bezweckt, den relativen Begriffsumfang von Armutsverständnissen in der ganzen Breite auch alltagsweltlich bestimmter Begriffsverwendungen mit einzubeziehen. In der wissenschaftlichen Diskussion wird weitgehend versucht, Armut als Anspruchsarmut aufgrund der Subjektivität von Ansprüchen auszuklammern. Jedoch gehen in alle Armutsbegriffe direkt oder mittelbar Vorstellungen über das Niveau von zu befriedigenden Ansprüchen ein. Um die häufig auftretenden Begriffsverwirrungen zu beenden, wird deshalb vorgeschlagen, den Begriff der Anspruchsarmut nur auf die M itglieder der sozialökonomisch integrierten Schichten anzuwenden, die nicht hilfebedürftig sind, denen aber die verfügbaren Mittel nicht zur Erfüllung der selbst- und/ oder fremdgesetzten Zwecke ausreichen. Auf das Verhältnis von Armen zu sozial Integrierten beziehen sich auch die das Kapitel I abschließenden ,funktionalen' Argumente von Gans,.mit denen er den Fortbestand der Armut in modernen Gesellschaften erklären will. Sie zeigen, wie in den Vergesellschaftungsprozessen der Einzelmenschen die KostenNutzen- Relationen zwischen arm und reich verteilt werden. Diese, sehr stark an der Herrschaftsentfaltung und -Stabilisierung von organisierten Vereinigungen orientierte Sichtweise wird auch in Kapitell I unter der Fragestellung von Anpassung an und Widerstand gegen deprivilegierende Lebenslagen durch die Armen weiterverfolgt In Kapitel II werden die Erscheinungsformen der großen europäischen Armutsgruppen von den Griechen bis zu den gegenwärtigen Sozialhilfeempfängern skizziert. Dabei wird der ,große Rahmen' innerhalb dessen Armut entsteht und in sich wandelnden Formen reguliert wird, beibehalten. Allerdings treten individuelle Besonderheiten und die Einwirkungen der äußeren Natur zurück hinter die gesellschaftlichen Regulierungsmuster der Armut. Da mit der Entstehung von Klassengesellschaften die Produktion und Reproduktion der Armutsbevölkerung in strukturell durch Herrschaft abgesicherte Lebensbereiche abgedrängt wird, ist es wichtig, die wesentlichen Aussagen zur Evolution menschlicher Gesellschaften dem historischen Abriß gesellschaftlicher Armutsregulierung voranzustellen (Kap. II, 2.1 ). Entsprechend den in Kapitell erarbeiteten Bestimmungen leiten drei Grund-

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fragen den Fortgang der historisch orientierten Untersuchung. (I) Welche gesellschaftlichen Separierungsprozesse und Beschränkungen von sozialen Aktivitäten führten jeweils zur Armut und welche zu ihrer Überwindung? (2) Wie verhielten sich die von der Armut bedrohten bzw. in die Armutslage gebrachten/ gegangenen Bevölkerungsteile? (3) Inwieweit haben verwandtschaftliche und staatliche Regelungsmuster die Menschen vor der Armut bewahrt oder die Verarmung produziert? Zwar kann ein derart strukturiertes Vorgehen nicht hinreichend klären, warum Armut heute, so wie sie wahrgenommen wird, existiert. Aber es wird ein nicht unwichtiger Beitrag geleistet, die Herkunft der aktuellen Armutsprobleme auch in einem historischen Kontext verstehen zu können. Deutlich wird auch, daß mit der zunehmenden Arbeitsteilung und der Differenzierung der gesellschaftlichen Vereinigungen, die Ursachen, Anlässe und Erscheinungsformen der Armut zunehmen, zugleich aber auch die Möglichkeiten der Vorsorge, Prävention und Beseitigung von Armutsdimensionen verbessert werden. Darüber hinaus werden die Defizite der Definition von absoluter Armut differenziert erkennbar. Oft wird die Geste, den besiegten Feind und seine Angehörigen, den Kriminellen oder zahlungsunfähigen Schuldner, nicht zu erschlagen, als geschichtlicher Fortschritt interpretiert. Nicht berücksichtigt wird dabei zumeist, daß der Preis dieses Fortschritts in früheren Zeiten den Verlust der Anerkennung als Mensch durch die Versklavung beinhaltet (Kap. II, 2.2). Wie die Skizzierung der Lebensverhältnisse der antiken Sklaven bei den Griechen und Römern zeigt, bestanden in beiden Gesellschaften vielfältige soziale Unterschiede in der Zusammensetzung der Sklavenschaft In einer groben Gliederung können drei soziale Gruppen der Sklaven unterschieden werden. Neben der zahlenmäßig kleinen Gruppe von Staats- und Tempeldienern sowie den im Auftrag von reichen Bürgern weitgehend selbständig arbeitenden Händlern, Handwerkern u. a., gab es eine ebenfalls kleinere Gruppe von städtischen Haussklaven mit unterschiedlichen Funktionen. Diesen beiden relativ gut versorgten Gruppen stand die überwältigende Mehrheit von Sklaven und Unfreien gegenüber, welche auf den Landgütern, in den Gladiatorenschulen und -arenen, Bergwerken und Mühlen ein kümmerliches Dasein fristen mußten. In den Jahrhunderten des Obergangs der Sklavenhaltergesellschaften zur mittelalterlichen Ständegesellschaft (3. Jh. bis 5. Jh.) übernahmen die im deutschen Sprachraum seßhaft werdenden Germanen die Untertänigkeilsbeziehungen und entwickelten sie in der modifizierten Form der Fronarbeit und der Dienerschaft weiter (Kap. II, 2.3). Auf dem Lande gingen die Lebensverhältnisse der freien Bauern, Kolonen und Sklaven über zur feudalen Bauernschaft, die sich aus den sozialen Gruppen der Leibeigenen, Zinspflichtigen und Gemeinen zusammensetzte. Mit dem Verstädterungsprozeß und der damit einsetzenden Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land ab dem 9. Jh. verfestigten sich die ständischen Strukturen in

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den weltlichen und geistlichen Herrenstand, den Stand der Freien auf dem Lande und in der Stadt sowie den Halb- und Unfreien. Aufgrund des langen Zeitraums, in dem die mittelalterlichen Pauper den sozialstruktureilen Bodensatz der Gesellschaft bildeten (5. Jh. bis 18. Jh.), den Auf- und Abstiegsprozessen innerhalb der Sozialstruktur, deren Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung in der fränkischen, sächsisch-salischen, Staufischen und nachstaufischen Zeit, veränderte sich sowohl die interne Zusammensetzung der Pauper als auch die Größenanteile der einzelnen Armutsgruppen. Vier in ihrer sozialen Zusammensetzung und dem Status voneinander abweichende Teilgruppen der mittelalterlichen Pauper, die sich aus unterschiedlichen sozialen Schichten rekrutieren, lassen sich voneinander abgrenzen (Abb. 6). Die zahlenmäßig kleinste Gruppe wird von den religiös organisierten Mönchen, Nonnen, Beginen und der anerkannten Armut von pilgernden und ortsansässigen Bruderschaftsmitgliedern gebildet. Weil der Beitritt zu dieser Armutsgruppe in der Regel auf freiwilligem Entschluß beruhte, werden die Mitglieder der verschiedenen in religiös motivierter Armut lebenden Menschen als freiwillige Arme bezeichnet. Ein ebenfalls zahlenmäßig nur geringes Gewicht besaßen die Mitglieder der ständischen Armut. Zu dieser Gruppe zählte einerseits der ständische Bodensatz und andererseits die sozialen Absteiger aus allen ständischen Fraktionen. Die Freien und Herren konnten aus vielerlei Gründen ihre privilegierte Position verlieren, ohne gleich ins Elend stürzen zu müssen. Während die einen durch korporative, zünftige und städtische Vorsorge- und Sicherungsmaßnahmen geschützt waren, konnten sich die anderen durch ihre in der Regel verzweigte Verwandtschaftszugehörigkeit zum Adel in Fällen militärischer Niederlagen, Fehden, Zahlungsunfähigkeit vor dem Absturz in die Standlosigkeit bewahren. Die Mehrheit der mittelalterlichen Pauper rekrutierte sich aus den beiden unterständischen Gruppen der abhängig Dienenden und den rechtlich und moralisch diskriminierten Standlosen. Beiden Gruppen ist gemeinsam, daß sie innerhalb eines spezifischen Gefahrenbereichs leben mußten, der die zeitweilige absolute Armut mit einschloß. Der seßhafte kleinere Teil der diskriminierten Standlosen setzte sich aus den Angehörigen der verrufenen und unehrlichen Berufe, Tagelöhnern, Gelegenheitsarbeitern, Waisen, Bettlern, Gelegenheitsdieben und Behinderten zusammen. Der größere Teil dieser Gruppe zählte zum fahrenden Volk und lebte von einem ambulanten Wandergewerbe, der Schaustellerei oder Saisonarbeiten. Die größte Gruppe der mittelalterlichen Pauper stellten die abhängig Dienenden. Als unterständische, in sich sozial weiter untergliederte Gruppe lebten sie innerhalb eines Recht - Pflichtverhältnisses von der Arbeit in der Landwirtschaft unter der Abgabepflicht und Rechtshoheit eines lokalen bzw. regionalen Grundherrn. Mit der Ablösung der im Mittelalterdominierenden feudalen und kleingewerblichen Produktionsweise durch die sich im 19. Jh. durchsetzende indu-

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strielle Produktion entstand ein neuer gesellschaftlich dominierender Armutstyp, den der frühindustrielle Proletarier verkörperte (Kap. Il, 2.4). Das Massenelend der Proletarier im 19. Jh. wurde von verschiedenen Quellen gespeist und hatte keineswegs seine einzige Ursache in den menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und den Niedriglöhnen in den Fabriken. Zwar verloren die verschiedenen Gruppen der ehemaligen diskriminierten Standlosen, der abhängig Dienenden und zünftig organisierten Gesellschaftsmitglieder im großen Transformationsprozeß ihre soziale Identität und gruppenspezifische Kohäsion. Zu keinem Zeitpunkt erzeugte aber der für die Lohnabhängigen geltende Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft und ihre kontrahierte Zusammenfassung in den Fabriken und Verwaltungen eine soziale Homogenisierung. Die hierarchische, arbeitsteilig-positionale Abstufung in den gegenwärtigen Unternehmen bestand in geringerem Umfang schon zu Beginn der industriellen Produktion. Was verallgemeinert wurde, waren die neuen Armutsgefährdungen, welche die nunmehr dominierende kapitalistische Produktionsweise erzeugte. Zum einen wurden alle arbeitsfähigen Erwachsenen und ihre Familienangehörigen in das Elend gestürzt, wenn sie aus persönlichen Gründen dem Zwang zum Verkaufihrer Arbeitskraft nicht Folge leisten konnten. Zum anderen produziert die kapitalistische Produktionsweise aus der ihr eigenen Entwicklungstendenz heraus. unregelmäßige, zeitweise steigende, zeitweise sinkende Nachfrage nach spezifisch qualifizierten Lohnabhängigen, die in keiner Weise mit der demografischen Bevölkerungsentwicklung übereinstimmt. War es in der mittelalterlichen Gesellschaft aufgrund ihrer partikulären Organisation möglich, tragfähige lokale und regionale Vorsorge- und Sicherungsleistungen für die korporativ-ständisch vereinigten Gesellschaftsmitglieder zu garantieren, so verloren diese Existenzsicherungsinstitutionen ihre materielle Basis mit der Einbeziehung der Ware Arbeitskraft in den Verallgemeinerungsprozeß des marktvermittelten, unpersönlichen Warenverkehrs. Die neuen Institutionen zur Produktion der Lebensmittel, Markt, Kapital und Arbeit, garantierten aus ihrem Zusammenwirken nur für eine durch die privatisierte Eigentumsordnung privilegierte Minderheit eine hohe Existenzsicherheit. Die Masse der produktionsmittellosen Proletarier fiel im Falle der Arbeitslosigkeit, der Krankheit oder Invalidität nach dem Verzehr derselbstersparten Rücklagen und dem Versiegen familiärer, nachbarschaftlicher und verwandtschaftlicher Unterstützungsleistungen, der Verschuldung oder der privaten, kirchlichen und der staatlichen Fürsorge anheim. Mit dem Anschwellen des Stroms hilfebedürftiger Armer versuchte der Staat zunächst durch Zwangsarbeitsmaßnahmen in kombinierten ArmenArbeitsanstalten der vermeintlich selbstverschuldeten Armutsplage Herr zu werden. Erst Ende des 19. Jh. beseitigten politisch und militärisch motivierte zentralstaatlich selektiv eingeführte Maßnahmen zur sozialen Sicherung nach und nach die sich aus der Ökonomie ergebenden gröbsten Armutsge-

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fahren für die Masse der Lohnabhängigen und ihrer Angehörigen. Neben der sozialen Befriedung der stark antikapitalistisch eingestellten Arbeiterbewegung war die Wahrung von militärischer Stärke durch die Verbesserung des Gesundheitszustands der jungen Arbeitergeneration durch Arbeitsschutzund Gesundheitssicherungseinrichtungen und die moralisch begründete Beseitigung der Not der Arbeiterfamilien beabsichtigt. Von dem Wirrwarr marktgebundener-, berufsgruppenspezifischer-, alters-, einkommensspezifischer und anderer selektiver staatlicher sozialer Sicherungsleistungen klar abgegrenzt war das damalige Fürsorgerecht bzw. ist das gegenwärtige Bundessozialhilferecht (Kap. II, 3.). Obwohl die Art und Qualität der Notlagen von Sozialhilfeempfängern bis auf Ausnahmen keineswegs anders gelagert sind als die der über die Lohnabhängigkeitsexistenz in die soziale Sicherung einbezogenen Gesellschaftsmitglieder, wird ein nebeneinander plaziertes Zwei-Klassen-Modell sozialer Sicherung erhalten. Der Zwei-KlassenCharakter der sozialen Sicherung wird verständlich aus den politischen Prioritäten, welche vom Staat der Sicherung der Stabilität und Funktionsweise des Marktsektors zugesprochen wird. Unter den Geltungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes fallen alle jene Menschen, die sich nicht selbst ohne Unterstützung aus ihrer Notlage befreien können und die auch keine anderen Hilfeansprüche an hilfeverpflichtete Verwandte oder Sozialversicherungsträger geltend machen können. Der nachrangige Charakter des BSHG geht historisch zurück auf die Verordnung über die Fürsorgepflicht (RFV) und die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge (RGr) aus dem Jahre 1924. Während damals die Sicherung eines Existenzminimums durch laufende Unterstützung gesichert werden sollte, wird heute angeblich bezweckt, den Hilfeempfängern eine Lebensführung zu ermöglichen, die der Menschenwürde entspricht, wobei diese verpflichtet sind, nach Kräften an der Erreichung dieses Ziels mitzuwirken, insbesondere durch die Bereitschaft, zurnutbare Arbeit zu leisten. Wer weiß, daß gegenwärtig ca. 60 % der gesamten Aufwendungen der Sozialhilfe auf die Hilfe zur Pflege und die Eingliederungshilfe für Behinderte entfallen und berücksichtigt, daß sich mit der weiterhin bestehenden unzureichenden Alterssicherung vor allem vieler Frauen und dem Ansteigen der Dauerarbeitslosenrate, die Masse der Sozialhilfeberechtigten aus Personengruppen zusammensetzt, deren ,besondere' Notlagen viel besser im allgemeinen Sozialversicherungssystem behandelt werden können, kommt nicht umhin, auch heute noch die politisch kalkulierte Bestrafung der Armen als konstitutiven Bestandteil des Sozialhilferechts anzusehen. Im Sozialhilferecht wird gefordert, die unterstützungsberechtigten Menschen zur selbständigen Lebensführung zu qualifizieren, damit sie wieder ohne die gesetzlichen Hilfen leben können. In dem Kapitel I I abschließenden Unterkapitel Vier werden dieser gesetzlichen Forderung nach selbständiger Lebensführung die Bedingungen gegenübergestellt, auf die der einzelne bei

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der Verwirklichung seiner Ansprüche stößt und welche die selbständige Lebensführung fördern, erleichtern, begrenzen oder erschweren. Die Mitgliedschaften des _einzelnen verteilen sich auf vier sich partiell selbstregulierende gesellschaftliche Sektoren, denen unterschiedliche Entscheidungsverhältnisse zugrundeliegen (Abb. 13). Der private Selbsthilfesektorerfährt seit der Industrialisierung zwei gegenläufige Tendenzen. Einerseits werden produktive, dienstleistende und konsumtive Funktionen der Familie und der Verwandtschaft an kommerzielle Unternehmen und den Staat ausgelagert. Dieser entwertenden Aushöhlung des Familienlebens wirkt die Reduzierung der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeit entgegen. Aufgrund der ungeplanten Entwicklung und der Arbeitskräftebewegungen des Marktsektors werden die Mitglieder der privaten Haushalte mit dem Problem konfrontiert, wie sie die freigewordene Zeit sinnvoll nutzen können. Während im privaten Selbsthilfesektor traditional-patriarchalische Werte und Normen dominieren, gründen die Entscheidungsverhältnisse im Marktsektor auf den Institutionen Privateigentum an Produktionsmitteln und dem Arbeitsvertrag. Die besitzindividualistisch organisierten Wirtschaftsunternehmen schaffen zwar einerseits erst die materiellen Voraussetzungen der privaten freien Entfaltung der Person, zugleich aber begrenzt der Marktsektor die Verwirklichung von Ansprüchen aufrenditeträchtige Bereiche. Der Staat als die zentrale Basisinstitution verfügt über die Monopole der physischen Gewalt, der Steuereintreibung und der Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtskontrolle. Die ihm zugrundeliegenden Entscheidungsverhältnisse sind geprägt von spezifischen Selbsterhaltungsinteressen, der Funktionssicherung der anderen drei Basisinstitutionen und der Bemühungen um den Erhalt der zumindest passiven Zustimmung der Bevölkerung zur Staatstätigkeit. Dem Staat wachsen aufgrund von systematischen Funktions- und Steuerungsmängeln des Marktsektors koordinierende und regulierende Aufgaben zu. Hierbei hat er in der Vergangenheit die Auslagerung personalkostenintensiver Dienstleistungstätigkeiten aus dem Selbsthilfesektor in staatliche Verantwortung gefördert und die marktvermittelte Suche nach neuen Kapitalisierungsmöglichkeiten und -bereichen in privater Verantwortung kräftig unterstützt. Die Verdrängung früher traditionell in der Familie und der Nachbarschaft, bzw. durch das Wandergewerbe bewältigte Lebensaufgaben durch staatliche und marktvermittelte Organisationen hat die Abhängigkeit des einzelnen von den von ihm unbeeinflußbaren anonymen Machtkonzentrationen staatlicher und privatwirtschaftlicher Organisationen erhöht. Die vierte Basisinstitution, der Nonprofitsektor führt neben den gesellschaftlich dominierenden Institutionen des Marktes und des Staates ein Schattendasein. Erst seit der Wirtschaftskrise, die im Staatssektor als Finanzkrise erscheint, weil der stagnierende Marktsektor Subventionen fordert und die Haushalte der Arbeits- und Sozialverwaltungen hoch belastet, wird der Nonprofitsektor von Politikern zu einem Rettungsanker zur Brem-

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sung der ökonomischen Talfahrt erklärt. Die Entscheidungsverhältnisse des Nonprofitsektors sind davon abhängig, ob die nichtkommerziellen Unternehmen professionell hierarchisch organisiert sind, oder auf freiwilliger, nebenberuflicher und ehrenamtlicher Ausübung der Tätigkeiten beruhen. Soweit Nonprofitorganisationen auf der Basis entgoltener, kontrahierter Arbeit bürokratisch tätig sind, befingen sie sich in der Regel in der finanziellen Abhängigkeit vom Staatssektor (wie die Wohlfahrtsverbände) oder sind dem Marktsektor zurechenbar (Stiftungen von Unternehmen, Profivereine). Das grundlegende Hindernis der Ausweitung von gesellschaftlich nützlichen Nonprofittätigkeiten liegt in dem gesamtgesellschaftlich niederen Integrationsniveau begründet, dessen Regulierungsmuster die Verantwortlichkeit für andere prinzipiell auf segmenteil spezialisierte, mitgliedschaftsgebundene Aufgaben oder profitorientierte Strategien reduzieren. Mitleid, Mildtätigkeit, Altruismus und Hilfsbereitschaft verkommen aufgrunddes Zwangs zum marktvermittelten individuellen Kosten-Nutzen-Denken auf den Stellenwert eines Etiketts, welches die unter dem Helfersyndrom leidenden Menschen kennzeichnet. Die rechtlich abgesicherte Verpflichtung zu unentgeltlichen spezifischen Nachbarschafts- und öffentlich gebotenen Hilfe- und Dienstleistungen könnte das Integrationsniveau erhöhen, den Stellenwert von Nonprofittätigkeiten anheben und Reidentitätsprozesse mit Gemeinwesenaufgaben fördern. Natürlich muß bei derartigen Verpflichtungen gewährleistet werden, daß sie allgemeine Gültigkeit erhalten und, daß Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Arbeitsbereiche bestehen sowie Mitbestimmungsmöglichkeiten bezüglich der Zeitstruktur der Aufgabenerledigung gegeben sind. Die Ansprüche des einzelnen wachsen und verlagern sich mit den wahrgenommenen Steigerungen und Veränderungen der Lebenshaltung und Lebensführung, wie sie aus dem Zusammenwirken der gesellschaftlichen Basisinstitutionen hervorgebracht werden. Die Möglichkeiten zur selbständigen Lebensführung hängen somit weitgehend davon ab, welche Aufstiegschancen, Zutritts- und Mitgliedschaftsallokationsbedingungen schichtspezifisch in der Gesellschaft bestehen. Der Personenkreis der Sozialhilfeempfänger besitzt die behördliche Anerkennung der Unfähigkeit zur selbständigen Lebensführung. Die Sozialverwaltung erhält somit die paradoxe Aufgabe, nach der Feststellung der Unfähigkeit zur Selbsthilfe beim Anspruchsberechtigten, zugleich rechtlich zugesicherte Ansprüche mit dem Ziel der Befähigung zur Selbsthilfe zu befriedigen und beim Hilfeempfängerfortwährend zu überprüfen, ob er tatsächlich selbsthilfeunfähig ist. Bei rational kalkulierenden Leuten könnte erwartet werden, daß sie das ,Spiel der Wohlfahrt' kapieren. Die aus der Vergabepraxis der Leistungen erwachsenden Belastungen der Lebensführung werden durch den normativen Druck verstärkt, der die Sozialhilfebezieher umgibt. Selbst unter den potentiellen Sozialhilfeberechtigten ist nach einerneueren Untersuchung etwas mehr als die Hälfte der

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Ansicht, daß Sozialhilfeempfänger schief angesehen werden (Hartmann 1981, 132). In Kapitel 111 werden fünf Konzepte von Armut vorgestellt, die von verschiedenen Standpunkten aus die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten der Armutsprobleme von Gesamtgesellschaften bzw. von speziellen Armutsgruppen analysieren. Die heterogenen Konzepte der relativen Deprivation, der Lebenslage als Armutsmaß und die marxistische Armutsbegrifflichkeit lassen sich unter dem Oberbegriff relative Armut subsumieren, weil ihnen gemeinsam ist, Armut konsequent aus gegebenen gesamtgesellschaftlichen Verteilungsverhältnissen heraus zu bestimmen. Im Unterschied zu Armutsbestimmungen, in denen die Grenzen zwischen Armen und Nichtarmen ohne die Berücksichtigung der realen gesellschaftlichen Ungleichheiten erfolgen, kann von relativer Armut nur gesprochen werden, wenn die Bestimmung der Armutsdimensionen in Relation zu den Merkmalen anderer Bevölkerungsgruppen oder einem Durchschnitt erfolgt. In Untersuchungen zur relativen Einkommensarmut werden die relativ Armen haushalts-und personenspezifisch als Gruppe bestimmt, die je nach angenommenem Armutsmaß über 35 % bis 70 % des jeweils angenommenen Durchschnittseinkommens verfügt. Im Konzept der relativen Deprivation nach Townsend beginnt Armut da, wo der einzelne bzw. sein Haushalt von der gesellschaftlich als üblich anerkannten Lebensweise aufgrund fehlender verfügbarer Ressourcen ausgeschlossen bleibt (Kap. III, I.). Danach garantiert und sichert die formalrechtliche Gleichstellung aller Bürger keineswegs die ausreichende Gesellschaftsmitgliedschaft. Armut wird verstanden als ein Problem der hierarchischen Differenzierung innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung, das sich auf die Betroffenen in der Weise auswirkt, daß sie aufgrund mangelnder Ressourcen den Ansprüchen eines gesellschaftlich sanktionierten ,durchschnittlich-üblichen' Lebensstils nicht gerecht werden können. Relativ Deprivierte sind Menschen, die von den Ernährungsgewohnheiten, Annehmlichkeiten, Dienstleistungen und sozialen Aktivitäten, die als gesellschaftlich übliche Standards angesehen werden können, ausgeschlossen werden oder nur eingeschränkt daran teilnehmen können. Im Unterschied zu anderen relativen Armutsbestimmungen wird die Armutsgrenze nicht nur aus Einkommensungleichheiten festgestellt. Vielmehr werden den haushaltsspezifischen Einkommensverhältnissen die Kosten der als gesellschaftlich üblich geltenden Partizipation gegenübergestellt. Townsend fand die These bestätigt, daß die haushaltsspezifischen Einkommens - Ausgabenverhältnisse je nach Familientyp an bestimmten Punkten der Einkommensverteilungsskala dazu führen, daß eine signifikant hohe Zaql von Familien überproportional ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben einschränken muß. Die Armutsgrenze wird daher durch die Grenzbereiche bestimmt, in denen die Benachteiligungen gegenüber dem für gesellschaftlich üblich gehaltenen Lebensstil durch die Verringerung des Einkommens (Verfügung

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über erweiterte ökonomische Ressourcen) der Betroffenen überproportional ansteigen. Armut ist somit jeweils nur konkret aus der Analyse von realen individuellen und schiebt- bzw. klassenspezifischen Unterschieden in den Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten bestimmbar. Die Richtung der sozialen Entwicklung kann in vielen wichtigen Lebensbereichen wie der Arbeit, in der Familie, dem Nahmilieu etc. zu unterschiedlich lange andauernden und ausgeprägten Benachteiligungen führen. Unterschieden wird zwischen objektiv feststellbarer Deprivation, dem staatlich definierten Armutsstandard und der individuellen und gruppenj schichtspezifischen Wahrnehmung und Interpretation potentieller und tatsächlicher Benachteiligungen. Die Ursachen ungleicher Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten liegen in der Produktion der Klassenzugehörigkeiten, die über gesellschaftliche Teilsysteme erfolgen. Die Bedürfniserwartungen werden produziert durch die Berufsschichtungen, Bildungs- und Beschäftigungssysteme und in den privaten Beziehungsverhältnissen. Die Zielperspektive einer ,menschenwürdigen' Organisation von Produktion und Verteilung wird bei Townsend innergesellschaftlich bestimmbar durch die tatsächlich gegebenen ökonomischen und sozialen Möglichkeiten der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Er fordert für Großbritannien und Nordirland einen Abbau hierarchischer Strukturen, die Ausdehnung der Allgemeinbildung u. a. mehr. In der Nähe zu Townsends Anliegen, Verteilungsgerechtigkeit für alle herzustellen, liegt der Versuch von Weisser, die Verteilung aller Umstände der Bedarfsdeckung auf die einzelnen zu verknüpfen mit der Gestaltung einer optimalen Wirtschaftsordnung (Kap. 111, 2.). In Weissers Überlegungen zu einer optimalen Verteilung des gesellschaftlich Erzeugten kommt der Lebenslage eine zentrale Bedeutung zu. Lebenslagen sind allgemein differente individuelle Handlungsspielräume mit auf Zielbelohnungen gerichteten Interessenorientierungen unter strukturell gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wenn das, was eine Gesellschaft zu verteilen hat, umfassend als Lebenslagen adäquat bestimmbar ist, werden die Produktionsstrukturen und Verteilungsmechanismen zur Grundlage der Lebenslagen der Gesellschaftsmitglieder, ebenso zum bestimmenden Moment der Erzeugung des Verhältnisses von Gleichheit und Ungleichheit, von arm und reich. Weissergelangt zu der Erkenntnis, daß auch eine optimale Wirtschaftsordnung notwendig unterschiedliche Lebenslagen produzieren und verteilen wird, weil ohne die Zusicherung von Verteilungsvorteilen fürviele Menschen die Motivation zur Mehrleistung nicht gegeben wäre, mit der Konsequenz, daß das kulturelle Optimum nicht erreichbar wäre. Nach Weisserbestimmt sich der Wert einer Lebenslage aus den real bestehenden Möglichkeiten, die zur Interessenbefriedigung bestehen. Die Armen setzen sich danach aus den sozial schwachen Schichten zusammen. deren Lebenslage von der herrschenden öffentlichen Meinung als nicht zurnutbar bezeichnet wird. Ist bei Townsend der ausschlaggebende Maßstab der Armutsbestimmung der über das

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verfügbare Haushaltseinkommen vermittelte Ausschluß von der Teilnahme an gesellschaftlich üblichen Bräuchen, Sitten, Gewohnheiten, so vertraut Weisser auf die herrschende öffentliche Meinung, welche die zurnutbaren Lebenslagen von den unzumutbaren trennt. Unterschiede in den Lebenslagen, welche Verteilungsvorteile für die einen, Verteilungsnachteile für die anderen in sich bergen, sollen soweit bestehen, daß das kulturelle Optimum erreicht wird. Dem Gebot der Gerechtigkeit folgend, sollen die in Not und Gefahr Geratenen, die sich nicht selbst helfen können, in einer Bandbreite zwischen sozialem Existenzminimum und den von ihnen bei gesunder Konstitution erwartbaren Arbeitsentgelten versorgt werden. Weisser unterscheidet somit zwischen eingeschränkt- und nichtarbeitsfähigen Menschen, welche unterstützungsberechtigt sind und der allgemeinen Hierarchie der gesellschaftlichen Lebenslagen, deren Schichtung durch die Wirtschaftsordnung so gestaltet werden soll, daß sie den Sinn des Lebens des einzelnen und des ganzen sozialen Lebens optimal sichert und fortentwickelt. Im Unterschied zu Weissers Anläufen einer politisch-normativen Gesamtkonzeption wird die Verwendung des Lebenslagenbegriffs in empirischen Untersuchungen auf die Charakterisierung einzelner benachteiligter Bevölkerungsgruppen beschränkt. Der Begriff der tertiären Armut wurde in der Bundesrepublik von Strang in die Armutsdiskussion eingeführt (Kap. III, 3.). Er unterschied drei Erscheinungsformen der Armut, das physische Existenzminimum als primäre Armut, die Anspruchsarmut als sekundäre Armut und individualspezifische Mangelsituationen als tertiäre Armut. Interessant bei diesem Ansatz ist die auf der Theorie der nivellierten Mittelstandsgesellschaft fußende konsequente Verleugnung der relativen Deprivation als gegenwärtig von der Ökonomie hervorgebrachten und von der Sozialpolitik nur mangelhaft beseitigten, gesellschaftlich dominierenden Ausschließung der Armen von einer anerkannten Lebensführung. Die ideologische Hochstilisierung der tertiären Armut zu einem ahistorischen, individuell auftretenden Konglomerat von materieller Not, Halt- und Bindungslosigkeit sowie Statusunsicherheit wird in dieser Arbeit verworfen. Stattdessen wird an Begriffsbestimmungen tertiärer Armut angeknüpft, wie sie von Klanfer und Stromherger eingeführt wurden. Danach bestehen in den industriellen Gesellschaften auch die Dimensionen der sozialen Isolation und kommunikativen Deprivation als Merkmale von Armut. Insbesondere Klanfer vermutet die Ursachen der Verhaltensweisen von sexuell Besessenen, Neurotikern, Einzelgängern und Isolierten im Nicht-Mithalten-Können mit demmain-streamder gesellschaftlichen Entwicklung, deren tradierte Teilkulturen aufgelöst und durch kurzlebige, kommerziell kreierte Mode-Lebensstile, welche keine wirklichen sozialen Bindungen enthalten, ersetzt wurden. Stromherger begrenzte ihre Untersuchungen auf alte Menschen, Einpersonenhaushalte, kinderreiche und unvollständige Familien, bei denen besondere Kommunikationspro-

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bleme in der Verknüpfung mit ökonomischer Benachteiligung am ehesten zu vermuten sind. Aus der in dieser Arbeit in Kapitel V entwickelten Sichtweise sind soziale Isolation und kommunikative Deprivation spezifische Armutsgefahren, welche aus dem Zusammenwirken der gesellschaftlichen Institutionen und des daraus hervorgehenden gesamtgesellschaftlich niederen Integrationsniveaus entstehen. Die Gefahr der ethnozentrischen Wertung der Kommunikationsbedürfnisse und des Konsumverhaltens von sozial Isolierten und kommunikativ Deprivierten wird begegnet, wenn sie in Bezug gesetzt werden zu ihren Mitgliedschaften und deren Bedingungen. Ebenso wie die tertiäre Armut wird der Begriff der Subkultur der Armut (SKA) nur auf einzelne Armutsgruppen bezogen (Kap. 111, 4.). Oscar Lewis hat in den fünfziger Jahren eine bis heute nicht beendete Diskussion in Gang gesetzt, in der darüber gestritten wird, ob es eine eigenständige, sich über Generationen fortsetzende Kultur der Armut gibt oder ob die besonderen Lebensformen von Armen, die räumlich massiert und separiert in Ghettos, Slums, Obdachlosensiedlungen u. a. leben, ganz anders zu erklären sind. Genährt wurde diese Diskussion sowohl durch häufig unerkannt bleibende, voneinander abweichende Subkulturbegriffe der beteiligten Autoren und von provokativen Thesen wie der von Lewis, daß zwar die ökonomische Benachteiligung der SKA-Mitglieder beseitigt werden könnte, daß aber zur Auflösung der Subkulturverhaltensweisen und den damit verknüpften Einstellungen ungleich aufwendigere und zeitraubende Anstrengungen unternommen werden müßten. Unter Subkultur wird verstanden eine Einheit erwarteter und I oder tatsächlicher kollektiver Besonderheiten der Realitätseroberung einer Minderheit oder Gruppe einer Gesellschaft, welche das Verhalten der Mitglieder von tatsächlichen oder fiktiven Vereinigungen hinsichtlich bestimmter Tätigkeiten, Sinngebungen und Zu- und Abwendungen über einen längeren Zeitraum als verschieden von der kulturell dominierenden Lebensweise ausweist und die von der dominierenden Kultur bzw. deren gesellschaftlichen Instanzen passiv bis aktiv mitdefiniert werden. Um die verschiedenen Standpunkte angemessen berücksichtigen zu können, unter denen Subkulturen analysiert werden, werden drei Sichtweisen, die als Analyserahmen verstanden werden, analytisch auseinandergehalten. Der Innenstandpunkt kennzeichnet Analysen, welche die partielle Selbstregulierung, die Formen und Regeln, Leitbilder etc. der räumlich-sozial abgegrenzten Subkultur untersuchen. Der relative Standpunkt wird eingenommen, wenn die Besonderheiten der Subkultur von außen, aus der vergleichenden Perspektive der Beziehungen zwischen der S K und den anderen gesellschaftlichen kulturellen Einheiten untersucht werden. Der dritte Standpunkt betrachtet Subkulturen hinsichtlich der Art und Weise der Regulierung des gesellschaftlichen Integrationsniveaus, wie es in den Auseinandersetzungen zwischen den Organisationen der dominierenden Kultur und den Mitgliedern und Vereinigungen der Subkultur hergestellt wird.

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Die vorherrschenden Sichtweisen der Erklärung von subkultureHer Armut, wie sie in den USA entwickelt wurden, finden sich in vermischten Formen auch in der deutschen Literatur zu Problemen der Obdachlosigkeit. Vier Haupttendenzen wurden voneinander abgegrenzt: die kulturelle Sichtweise, der situative Ansatz, der Etikettierungsansatz und der Ansatz der Wertbandbreite. Da alle Ansätze verschiedene Beschränkungen und Schwerpunkte aufweisen, werden sie im Sinne des vorgenannten Analyserahmens als sich ergänzende Konzepte der Analyse von Armutsgefährdungen bestimmter Armutsgruppen verstanden. In der Bundesrepublik konzentriert sich die Diskussion über die SKA auf die Obdachlosenproblematik (Kap. 111, 4.8). Hauptlinien der Auseinandersetzung über die Klärung der Ursachen von Obdachlosigkeit lassen sich erkennen in den Konzepten der marxistisch orientierten Deklassierungsthese, der interaktionistischen Etikettierungsthese und der pragmatisch orientierten Sozialtherapiethese. Nach der hier vorgenommenen Begriffsbestimmung ist die Anwendung des Subkulturbegriffs auf Obdachlosensiedlungen durchaus nutzenversprechend. Da diese Subkulturen in ihrem Mitgliederbestand und der Dauer der Zugehörigkeit weitgehend von der ordnungs- und sozialbehördlichen Einweisungspolitikreguliert werden, können sie subkultureile Erscheinungsformen annehmen. Aufgrund des fremdinduzierten, in der Regel unfreiwilligen Eintritts in die Obdachlosenquartiere, müssen diejenigen Familien und Einzelpersonen. welche keine Hoffnung mehr auf den Austritt aus den Quartieren haben, unterschieden werden von denjenigen. welche die Siedlung verlassen wollen. Nach den bisher vorliegenden Untersuchungen können SKA in der Bundesrepublik aus sich heraus nur existieren, wo sich einerseits die Sozialadministration und das Ordnungsamt mit Eingriffen zurückhalten und wo andererseits Möglichkeiten vorindustrieller oder industriell randständiger Erwerbsarbeit gegeben sind. Obwohl Obdachlosensiedlungen von außen deutlich erkennbar sind, durch die massierte Separierung der Bewohner, die zumeist exponierte Lage der Quartiere und ihrem negativen Äußeren. sind sie nichts anderes als öffentlich zugängliche, staatlich finanzierte und verwaltete Aufbewahrungsanstalten. Das, was von der äußeren Erscheinung her wie ein in sich geschlossenes Sozialgebilde aussieht, besitzt in der Regel bis auf konfliktträchtige, aufgezwungene, nachbarschaftliehe Beziehungen, nicht zuletzt aufgrundmangelnder Wertschätzungsmöglichkeiten, keinerlei innere Festigkeit und Zusammenhalt. Die Marxsche Erklärung der Armut in bürgerlichen Gesellschaften ergibt sich aus der dialektischen, historisch-materialistischen Analyse und Kritik der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Es gibt keine eigenständige marxistische Theorie der Armut, wie sie in der Entfremdungs- oder der Verelendungstheorie vermutet werden könnte. Marx hat jedoch an verschiedenen Stellen seines Werks und zu verschiedenen Zeitpunkten deutlich sein Verständnis von Armut hinsichtlich ihrer Entstehung und Erscheinungsformen,

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ihrer Wandlungen, Verfestigungen und Entwicklungstendenzen aufgezeigt (Kap. III, 5.). Die Marxschen Armutsbestimmungen sind von ihrer gesamten Konstruktion her relative Armutsbegriffe, da sie grundsätzlich aus gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt werden. Sie gehen in ihrer Reichweite über die anderen relativen Armutskonzepte hinaus, weshalb ihre Darstellung den Abschluß der Übersicht über die Hauptströmungen der Armutstheorien bildet. Ausgehend vom grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnis von Kapital und Arbeit, die sich als der absolute Reichtum und die absolute Armut gegenüberstehen, werden entsprechend der Marxschen Methode die wesentlichen Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet und die Armutsbegriffe präzisiert. Der Analyse der Bewegungen der virtuellen Armut schließt sich die Untersuchung der vorübergehenden und der beständigen Erscheinungsformen der relativen Überbevölkerung an. Nach der Erörterung der geschichtlichen Entwicklungstendenzen der Armutsbevölkerung werden in einer abschließenden Skizze die jeweiligen Begriffsbestimmungen in ihren systematischen Bezügen zusammengefaßt. An den Überblick über die Theorien der Entstehung und Verfestigung von Armut in den Industrieländern schließt sich eine knapp gehaltene Erörterung des Verhältnisses von Theorie und Empirie in der Armutsforschung an (Kap. IV, 1.). Die empirische Armutsforschung in der Bundesrepublik konzentriert sich auf kumulativ benachteiligte Randgruppen und auf die einkommensarmen Teile der Bevölkerung. In Kapitel IV, 2. werden drei grundlegende Verfahren der Messung von Einkommensarmut vorgestellt, die sich alle an der staatlich verordneten Armutsgrenze (den Sozialhilfesätzen) orientieren. Zur bekämpften Armut zählen die Personen und Haushalte, denen aufgrund von gesetzlichen Regelungen Ansprüche auf Versorgungsleistungen, Nachlässe und/oder materielle Unterstützungen entstehen, die allesamt aufgrundder Verfügung über ein geringes Einkommen und Besitz/Vermögen zur Behebung von Notlagen oder Benachteiligungen zugesprochen werden und die von den Anspruchsberechtigten auch tatsächlich genutzt bzw. erhalten werden. Als latent arm werden Haushalte und Personen bezeichnet, welche Ansprüche aufTransfereinkommen, Versorgungsleistungen oder Nachlässe im Bereich der Anspruchsvoraussetzungen der bekämpften Armut besitzen, jedoch diese gesetzlich zustehenden Ansprüche entweder auf Dauer nicht einfordern oder erst verspätet und/ oder nur teilweise einfordern. Unter dem Begriff der hypothetischen Armut lassen sich Einzelpersonen und Haushalte fassen, welche durch private Kompensationsmaßnahmen, der Inanspruchnahme von öffentlichen Übertragungen - außer Sozialhilfe - und Unterstützungsleistungen freier Wohlfahrtseinrichtungen punktuell, konstant oder nach besonderen Krisenverläufen ihre Not- und Mangelsituationen beheben können und deshalb nicht sozialhilfeberechtigt werden. Die drei auf den staatlichen Armutsstandard bezogenen Meßkonzepte erfassen somit drei verschiedene Armutsgrup-

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pen, wobei die Regierung nur die zweite Gruppe als (freiwillige) Arme anerkennen will. Die erste Gruppe (bekämpfte Armut) erfaßt die Personen, welche aufgrund des Sozialhilfebezugs offiziell nicht arm sind. Die zweite Gruppe (latent Arme) liegt in ihrem laufenden verfügbaren Einkommen unterhalb der haushaltsspezifischen Sozialhilfesätze, fordert die ihnen zustehenden Ansprüche aber nicht ein. Die dritte Gruppe (hypothetisch Arme) fallt aufgrund spezifischer Einschränkungen im Lebensstandard, zusätzlicher Einkommensbeschaffungsmaßnahmen und/oder des Bezugs von allgemeinen Transferzahlungen nicht in den Kreis der offiziell bekämpften Armut ab. Sie liegt in ihren verfügbaren Haushaltseinkommen knapp über den haushaltsspezifischen Sozialhilfesätzen. Das Kapitel IV wird abgeschlossen mit der Erörterung des Verhältnisses von Theorie und Empirie in der vielbeachteten Studie von Geißler zur ,Neuen Sozialen Frage' (Kap. IV, 3.). Die Untersuchung wurde deshalb exemplarisch ausgewählt, weil sie einerseits eine plausible Grundthese enthält und andererseits typische Fehler der leichtfertigen Operationalisierung des definierten Armutsverständnisses enthält. Die plausibel klingende Grundthese lautet, daß die organisierten Interessen (Kapital und Arbeit) die nicht organisierten Gesellschaftsmitglieder aus dem Verteilungswettbewerb um knappe Ressourcen werfen, so daß die Merkmale Alter, Kinderreichtum und weibliches Geschlecht zu den spezifisch ,neuen' Armutsgefahrdungen werden. Statt nun die Auseinandersetzungen zwischen Unternehmerverbänden und den Gewerkschaften und deren jeweilige Forderungen in den Tarifauseinandersetzungen zu analysieren und die Interessen und Umverteilungswirkungen der staatlichen Sozialpolitik miteinzubeziehen, was eine grobe Einsicht in die Separierungsinteressen der explizit organisierten Vereinigungen ergeben würde, werden nach einem fragwürdigen deskriptiven Berechnungsverfahren alle Haushalte zusammengezählt, die nach Geißlers Schätzung unterhalb der Sozialhilfeschwelle leben. Schade ist nur, daß mit derartigen punktuellen Zählverfahren, auch wenn sie einigermaßen realitätsgetreu gehalten werden, nichts anderes belegt werden kann, als der Output der Ressourcenverteilungskämpfe, keinesfalls aber die Auseinandersetzungen selbst und schon gar nicht die spezifischen Interessen der beteiligten Interessenparteien. In Kapitel V wird versucht, den beschwerlichen Weg der Entstehung und Verfestigung von Armut und ihrer Lösungsmöglichkeiten entlang der Art und Weise menschlicher Realitätsproduktion und deren Absicherung zu verfolgen. Dabei wurde methodisch versucht, das grundlegende gesellschaftliche Verhältnis von sozialer Integration und Mitgliedschaft in seinen wesentlichen Bezügen deutlich werden zu lassen. Soziale Integration wird unterschieden in formale und tatsächliche. Während die formale (ideale) soziale Integration bestimmt wird von den durchschnittlichen rechtlich abgesicherten und definierten Personenabständen der Mitglieder einer Gesellschaft, ergibt sich die tatsächliche soziale Integration als der durch3 Schäuble

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schnittliehe soziale Personenabstand in einer Gesellschaft aus der Regulierung der Kombination von praktischen Lebensvollzügen, deren Bestimmungen hinsichtlich von Zu- und Abwendungen und den Sinngebungen. Da individuelles Verhalten sich zusammensetzt aus den drei elementaren Potentialen des Tätigkeitsvollzugs, den psychischen Zu- und Abwendungen und den Sinngebungen und sich in der Interaktion der einzelnen Verhaltensbesitzer erst stabilisieren kann, lassen sich durchschnittliche soziale Personenabstände innerhalb von sozialen Beziehungsgefügen bestimmen aus der Interaktionshäufigkeit multipliziert mit der lnteraktionsdichte. Die Interaktionshäufigkeit setzt sich zusammen aus der Summe der genutzten Interaktionsgelegenheiten multipliziert mit ihrer Zeitdauer und dividiert durch die Summe aller möglichen Interaktionsgelegenheiten. Die Interaktionsintensität ist ein Produkt aus Wertschöpfungund Wertschätzung. In dieses Produkt gehen die einzelnen Verhaltenspotentiale der Verhaltensbesitzer ein (Kap. V, 1.1 ). Die Tätigkeitsvollzüge und die funktionalen Sinngebungen gehen in die Wertschöpfung, ·die politisch-normativen Sinngebungen und die psychischen Zu- und Abwendungen gehen in die Wertschätzung ein. Auf der Ebene situativ-interaktiver Verhaltenssteuerung hängt die Durchsetzungsfähigkeit des einzelnen hinsichtlich der Gewinnung von Definitionsmacht im wesentlichen von den gewählten Verhaltenssteuerungsverfahren sowie den Mitteln und Einsatzmöglichkeiten zur direkten bzw. indirekten Kontrolle derTätigkeitsvollzüge der an der interaktiven Beziehung beteiligten Personen ab (Kap. V, 2.2). Da in den rein situativ bestimmten Interaktionen bei formal gleichen Personenabständen der Interaktionseinheiten das aus dem Feld gehen bzw. Abbrechen der Interaktion ohne große Schwierigkeiten praktiziert werden kann, ist die situativerringbare und begrenzte Definitionsmacht eine relativ schwache Waffe zur Herstellung von Verhaltenssicherheit und Verhaltensstabilität. Eine größere Reichweite der Definitionsmacht und erweiterte Möglichkeiten zur Stabilisierung des Verhaltens sind in kollektiven Handlungen in Verflechtungszusammenhängen gegeben (Kap. V, 2.3). Aufgrund des arbeitsteiligen Vorgehens in parallel und nebeneinander gelagerten und abgestimmten Planungs-, Entscheidungs-. Durchführungs- und Ergebnissicherungsphasen ergeben sich kollektive Möglichkeiten zur Sicherung des Erfolgs der Handlung und der Verhaltensstabilisierung. wobei die sich von den Verhaltenserwartungen abweichend verhaltenden Interaktionseinheiten mittels der Drohung von Sanktionen kontrolliert und durch Sanktionsanwe1·dung geschädigt werden können. Da die Aufwendungen und Anstrengungen erfolgreicher kollektiv-arbeitsteiliger Handlungen gesenkt werden können durch ihre organisiert gesicherte Dauerstellung, versprechen hierarchisch organisiert gesteuerte und kontrollierte Handlungen sowohl hohe Verhaltensstabilität als auch erfolgreiche Zweckverfolgung. Die Mitgliedschaft in Organisationen wird zur Existenzsicherung unverzichtbar, weil ohne sie weder ausreichende Zuarbeit von außen zur eigenen Reproduk-

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tion gesichert werden kann, noch eigene Zuarbeitsleistungen nutzenstiftend und Wertschätzung erfahrend erbracht werden können. Organisationen vergeben die Mitgliedschaften, über die in vielniltigen Formen und Qualitäten Verhaltensstabilität, Zugehörigkeit und Zu- und Abwendungen gesichert werden können. Sie legen für ihre Mitglieder die Produktion und Verteilung von Ressourcen, Tätigkeiten, der Zeitverbringung sowie die Anteile der Eigenverfügungen und Fremdverfügungen fest. Über die Regulierung von Mitgliedschaften in Organisationen werden Privilegien geschaffen, erhalten und verwehrt. In den industriellen Gesellschaften besitzt der einzelne zugleich, nacheinander in seinem Lebenszyklus und in fortwährendem Wechsel im Tages- und Wochenablauf mehrere, oft viele Mitgliedschaften wie Familie, Betrieb, Gewerkschaft, Sportverein, Partei, Staatsbürger, Bezugsgruppen, mit denen spezifische Tätigkeiten, Sinngebungen und Zu- und abwendungen verbunden sind. Bei normaler gesundheitlicher Konstitution des einzelnen sind die individuelle mangelhafte Erfüllung, die Weigerung sowie die Nichterfüllung von lebenswichtigen Mitgliedschaften entscheidende Prozesse, welche Armutskarrieren einleiten. Bei der Analyse des Prozesses der Entstehung und Verfestigung von Armut genügt es daher nicht, die Benachteiligungen und kontrollierten Separierungen hinsichtlich der Herkünfte der Einkommen der Armen zu untersuchen. Weil in segmentierten Gesellschaften der Erwerb von Ressourcen, Tätigkeiten, Sinngebungen und Zu- und Abwendungen zeitlich, räumlich zweck-und vereinigungsmäßig getrennt erfolgen muß, muß der Verlust oder die Störung der Nutzung von Zugehörigkeit, Mitgliedschaften und Ressourcen sowie die jeweils besonderen Bedingungen des Lebens in normativ abgegrenzten und mit spezifischen Eigen- und Fremdverfügungsanteilen versehenen Realitätssegmenten, welche den einzelnen und seine Verhaltensmöglichkeiten vorstrukturieren, als eine Perspektive der Analyse von Armut beibehalten werden. In Gesellschaften mit segmentierter Realität kommt dem institutionellen normativ geleiteten Prozeß der Regulierung abweichenden Verhaltens auch hinsichtlich der Entstehung und Verfestigung von Armut erklärende Kraft zu. Unter abweichendem Verhalten werden Tätigkeiten und darauf bezogene funktionale Sinngebungen verstanden, welche aus dem Regelbestand des Wert-Normgefüges der sozial Integrierten mit negativ bewerteten Sinngebungen und Zu- und Abwendungen versehen sind (Kap. V, 4.). Die Ursachen abweichenden Verhaltens ergeben sich aus der Regelungsbedürftigkeit kollektiver Verhaltenssicherung. Die Einhaltung von Verhaltensregeln, wie sie sowohl im schriftlich kodifizierten Recht, als auch in traditionalen auf Konventionen beruhenden Sitten, Bräuchen und moralischen Verhaltensregeln festgelegt sind, verschafft den einzelnen Verhaltenssicherheil innerhalb von Verhaltensfreiräumen in denen sie mit kalkulierbaren Risiken ihr Verhalten vollziehen können. In Gesellschaften mit segmentierter Realität bestehen in den einzelnen gesellschaftlichen Sektoren J•

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spezifische Wert-Normgefüge, welche auf die Regulierung der unterschiedlichen Entscheidungsverhältnisse einwirken, welche die Anteile der Fremdund Eigenverfügungen in den individuellen Verhaltenssteuerungen begrenzen und regulieren. Verstöße gegen Werte und Normen werden abhängig von der dominanten Basisinstitution und deren aktionsräumlichen Geltungsreichweite sanktioniert. Die gesellschaftlichen Instanzen zum Schutz des sozial gültigen Regelbestands sichern über normativ begründete Sanktionierungen und der Regulierung von Zu- und Abwendungen das gesellschaftliche Integrationsniveau ab. Sie legen die formalen Personenabstände auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene fest. Menschen, die biologische Besonderheiten aufweisen, wie Bucklige, Gehörlose, Lahme, Blinde, unterliegen besonders der Gefahr, zu Abweichenden gestempelt zu werden. Wenn sie in den als üblich geltenden Formen der Existenzsicherung nur eingeschränkte oder gar keine anerkennungswerte bzw. nutzenstiftende Beiträge liefern können, hängt es von den Fürsorgeregelungen ab, ob sie integriert, abgeschoben, ausgestoßen oder als Abweichende an den Rand der Gesellschaft gestellt werden. Verstöße gegen explizit institutionell definierte und geschützte Verhaltensregeln führen in einem normativ kontrollierten Sanktionsprozeß zur partiellen Ausgliederung der erfaßten Abweichenden in Aktionsräume, welche besonderen Kontrollen und Benachteiligungen unterliegen. Dadurch werden bei den Betroffenen durch Distanzierung die Chancen reduziert, privilegierte Mitgliedschaften zu erringen und zusätzlich werden sie mit dem Etikett eines negativen Erwartungsgefüges konfrontiert, welches ein umfassendes Störungsbild enthält und die Abschiebung in ein Realitätssegment abweichenden Verhaltens beinhaltet. Als abweichend sozial gültig definierte Menschen sind nicht in jedem Fall den einkommensarmen Schichten der Bevölkerung zuzurechnen. Soziale Isolation, kommunikative Deprivation und Stigmatisierung sind aber Resultate der herrschaftsdominierten mangelhaften Gestaltung und der Abstimmung von bezugsgruppenspezifischen und bezugssystemspezifischen Integrationsniveaus mit dem gesamtgesellschaftlichen Integrationsniveau. Besonders herausgestellt wird die Abgrenzung zwischen Armen und Abweichenden in der verbreiteten Unterscheidung von schuldhaftverursachter und unverschuldeter Armut. Obwohl alle Einkommensarmen aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in ihren Tätigkeiten, Sinngebungen und Zu- und Abwendungen an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gestellt werden, also sich abweichend verhalten müssen, werden sie nach der sozial gültigen Sichtweise in sekundär Abweichende (Etikettierte) und anständige Arme unterschieden. Aufgrund der existenzsichernden Bedeutung von Mitgliedschaften in explizit und implizit institutionell verfaßten Vereinigungen in segmentierten Gesellschaften, wird in Kap. V. versucht, die vielfältigen Erscheinungsformen und Herkünfte von Armut im Begriff der Randmitgliedschaft summarisch zu erfassen (Kap. V, 5. 10).

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Randmitgliedschaften sind die gesellschaftlichen Mitgliedschaften welche gerade noch geduldet werden und/oder negativen Sanktionen unterliegen, mit den geringsten Ressourcenflüssen ausgestattet sind und partiellen Einschränkungen, Erschwernissen, Kontrollen durch die Mitglieder und / oder Beauftragten des sozial gültigen Realitätssegments unterliegen. Die Ursachen, Erscheinungsformen und die Anlässe der Entstehung von Armut sind in Großgesellschaften sehr vielfältig. Trotz der Heterogenität der Armutsbevölkerung lassen sich unter dem Gesichtspunkt der dominierenden Konfliktorientierungen und der gesellschaftlichen Konfliktfelder der Verhaltenssteuerung Kategorien finden und Strategien kennzeichnen, welche unter dem Oberbegriff der Abweichenden in der gesellschaftlichen Regulierung der Armut dominierend sind (Kap. V, 6.). Die Auseinandersetzungen zwischen der Zentralmacht, der von ihr geschützten Institutionen einerseits und der im Realitätssegment abweichenden Verhaltens lebenden Kräfte andererseits, wurden abschließend hinsichtlich der Erfolgsaussichten und der tendenziellen Folgen der Konfliktaustragung kurz voneinander abgegrenzt (Abb. 32 und 33). Obwohl dieser Teil der Arbeit ebenso wie die Übergänge zwischen situativer Verhaltenssteuerung und der mittels Organisation gesicherten Verhaltenssteuerung auf wesentliche Elemente beschränkt werden mußte, sind beide Teile für das Verständnis von Armut nach den hier entwickelten Überlegungen unverzichtbar. Die Veränderungen und Schwerpunktverlagerungen der gesellschaftsspezifischen Ursachen und der einzelnen Dimensionen von Armut können ohne ein Verständnis der Formen und Resultate der Konfliktaustragungen zwischen den organisierten Vereinigungen und dem daraus hervorgehenden aktuellen Stand der Sozialstrukturellen Transformation der Gesellschaft nur unzureichenderfaßt werden. Analysen, welche sich auf die Beschreibung von Mitgliedschaften und deren gesellschaftlichen Nutzen, Wertschätzung und Lebenschancen beschränken, können keine Aussagen machen über die Kräfte, welche diese Mitgliedschaften in Konfliktaustragungen hervorbringen und stabilisieren. Die Linderung von Armut ist allemal erreichbar durch staatliche Maßnahmen wie der Sozialpolitik. Ihre Beseitigung in dem Sinne, daß allen Gesellschaftsmitgliedern die anerkannte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht wird, ist nur wahrscheinlich, wenn die im Ralitätssegment abweichenden Verhaltens lebenden Menschen in organisierter Interessenvertretung um ihre Integration kämpfen. Da der Ansatz, Armut als Ergebnis der Verteilung und Allokation von Mitgliedschaften zu begreifen, hier nur in den Grundzügen ausgebreitet werden konnte, wurde auf einen summarischen Abschluß verzichtet. Als Anregung für weiterführende theoretische und empirische Untersuchungen wird empfohlen, Armut von drei Standpunkten aus zu analysieren (Kap. V, 7.). Die relativ zahlreichen Abbildungen sind mitallden Unzulänglichkeiten behaftet, welche die Reduktion komplexer Sachverhalte und Prozesse auf

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zweidimensionale Darstellungen mit sich bringen. Wenn sie beim Leser die Verständlichkeit des Textes erleichtern, haben sie ihren Zweck erfüllt.

Kapitel I

Begriff und Entstehung absoluter Armut I. Absolute Armut als die Unfähigkeit zur längerfristigen Sicherung der körperlichen Selbsterhaltung

Das Augenfälligste am Menschen ist sein Körper. Zu seiner Selbsterhaltung bedarf es bestimmter Vorkehrungen, die ausgelöst werden durch Bedürfnisorientierungen. Diese sind Ausdruck gesellschaftlich geprägter individueller Energien. Ihre Richtung ist dem einzelnen in der Regel nur diffus bewußt bzw. wird von ihm über die Reflexion seiner Motivationsstruktur nur beschränkt gesteuert und reguliert. Bedürfnisorientierungen sind nach Klarheit, Intensität und Relevanz unterscheidbare Gefühle der Unzufriedenheit mit Zuständen oder des Mangels an Mitteln, welche zur Behebung des Mangelgefühls geeignet scheinen. Es besteht ein bewußter oder unbewußter Drang nach Verschiebung oder Auflösung der Unzufriedenheit. Kybernetisch ausgedrückt besteht ein Spannungszustand zwischen Ist- und Sollzustand, der vermindert bzw. aufgelöst werden soll. Aus der Vielfalt von Bedürfnisorientierungen lassen sich diejenigen, die unmittelbar auf die Erhaltung des Körpers, d. h. auf die Fähigkeit, sich zu betätigen und gesund zu sein, gerichtet sind, zu den notwendigen Bedürfnisorientierungen erklären .. Sie treten ,naturgesetzlich' immer wieder auf. Die Auflösung der Spannungszustände in Gleichgewichte der Zufriedenheit kann jeweils nur für kurze Zeit erreicht werden. Die Nahrungsaufnahme als Kern der notwendigen Bedürfnisorientierungen muß täglich mehrmals erfolgen, weil die energetische Kraft, die der menschliche Organismus aus der metabolischen Wirkung der Nahrungsmittel bezieht, immer nur kurze Zeit anhält. Um sie herum gruppieren sich Gesundheit, Kleidung und Obdach. Diese Bedürfnisorientierungen werden in allen menschlichen Gesellschaften angetroffen. Sie erscheinen in ihrenjeweiligen gesellschaftlichen Ausprägungen als die Grundbedürfnisse zur körperlichen Selbsterhaltung. Ihre Befriedigung geschieht in verschiedenen Zeitepochen und Gesellschaften mit unterschiedlichen Mitteln und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen. Dies ergibt sich vor allem aus der Beschaffenheit der vorgefundenen und bearbeiteten Natur, klimatischen und gesellschaftlichen Bedingungen,

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Kapitel 1: Begriff und Entstehung absoluter Armut

Kleidung

Cbdach

Ahh. 1: Die zur längerfristigen körperlichen Selbsterhaltung notwendigen Bedürfnisorientierungen

wie der Art und Weise von Produktion und Reproduktion der Arbeitsprodukte, Nahrungs- und Kleidungsgewohnheiten, sowie dem allgemeinen Entwicklungsstand der Gesellschaft, den Formen der sozialen Kontrolle und der Technik. Nicht die konkrete Verfügung, der Umfang und die Beschaffenheit der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung sind für die Bestimmung der Grundbedürfnisse maßgebend. Es ist ihr Faktum als existenznotwendige Bedingung menschlichen Lebens, die ihre Bedeutung ausmachen. Dies verhindert keineswegs die Bestimmung des Ausmaßes (Standards) der zum Überleben notwendigen Bedürfnisbefriedungsmittel zu einer gegebenen Zeit und für bestehende Gesellschaften. Die jeweils aktuelle Bestimmung der zur Befriedigung der Grundbedürfnisse notwendigen Mittel muß zum einen unter Berücksichtigung der herrschenden natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen erfolgen, soweit diese von Wichtigkeit sind und andererseits die subjektiven Orientierungen der Betroffenen mitreflektieren. Letzteres kann durch Befragung oder schlechter durch die Entscheidung der Analysanden geschehen. Verzichtet man bei der Bestimmung der Höhe der Standards für die jeweiligen Bedürfnisbefriedigungsniveaus auf die Definition der Betroffenen, so könnte das Entscheidungskriterium nur durch Grade der Unterernährung und der Krankheit als Folgen für unter den Standards lebende Menschen gerechtfertigt werden. Von Wichtigkeit sind die gesellschaftlichen Bedingungen insoweit, als die Regelungen des sozialen Lebens, die Nahrungs- und Kleidungsgewohnheiten sowie die Maßnahmen zur Gesundheitserhaltung und für Wohnung nicht nur durch die vorgefundene Natur bestimmt werden. Die gesellschaftlichen Bedingungen werdenjedoch nur insoweit als konstituierende Faktoren der Mittel zur Befriedigung der Grundbedürfnisse gesehen, als sie soziale Tatsachen sind. Dies bedeutet, obwohl sie zu unterschiedlichen Zeiten und

I. Unfahigkeit zur längerfristigen Existenzsicherung

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Gesellschaften verschieden sein können, werden sie zunächst nicht weiter beachtet, weil sie an dem aktuellen Stand der Verfügung über Befriedigungsmittel nichts ändern; m. a. W. es ist bspw. uninteressant, wieviel Zeitjemand braucht, um ein Einkommen zu realisieren, welches die längerfristige Selbsterhaltung garantiert. Bei einem Vergleich zwischen einem Bauern, der mit einfachen Handgeräten arbeitet und einem anderen, der mit Traktoren und weiterem Maschineneinsatz arbeitet, wird ersichtlich, daß sich die aufgewendeten Arbeitszeiten für die Erzielung einer gegebenen Produktionsmenge beträchtlich unterscheiden, aber das Ausmaß der zur längerfristigen körperlichen Selbsterhaltung notwendigen Mittel bei beiden in etwa gleich sein wird. In der Biophysik wird unterschieden zwischen dem Grundumsatz und dem Tätigkeitsumsatz an Energieverbrauch. Während der Grundumsatz in der Medizin bedeutsam ist für die Lebenserhaltung von Patienten, deren selbstregulierende Regeneration durch Organschädigungen o. a. ausfiel und durch künstliche Nahrungs-jSauerstoffzufuhr ersetzt werden muß, bleibt der Tätigkeitsumsatz für eine biologisch den Beanspruchungen entsprechend vernünftige Nahrungsaufnahme relevant. Als Größe zur aktuellen Bestimmung der zur Befriedigung der Grundbedürfnisse notwendigen Befriedigungsmittel wird in der Armutsforschung oftmals der Begriff .,physisches Existenzminimum" verwendet. Alle Menschen, die längerfristig nicht ihre körperliche Selbsterhaltung besorgen können, werden als absolut arm bezeichnet. Absolute Armut besteht danach, wenn "ungeachtet jeglicher kontextueller Bedingungen und Ursachen der Armut ein die bloße physische Existenz des Menschen gewährleistender Lebensstandard bestimmt wird." (Brentano 1978, 9)

Wer die materiellen Mittel zur Sicherung seiner körperlichen Existenz auf die Dauer selbst besorgen kann, zählt nicht zu den absolut Armen. Zu dieser Gruppe können nur Menschen zählen, deren notwendige Befriedigung der Grundbedürfnisse defizitär ist. Die Entscheidung darüber, ob jemand die Fähigkeit zur individuellen Sicherung der Existenz verliert oder nicht, hängt ab von den persönlichen Möglichkeiten, dem individuellen Verhalten sowie den Beurteilungen und der Kontrolle der Umwelt über dieses Verhalten. Da jede Gesellschaft einen bestimmten Rahmen an zulässigen Verhaltensweisen zur Sicherung der individuellen körperlichen Existenz setzt, kann der Versuch, auf sozial nicht gebilligte Weise seine Existenz zu sichern, zum Verlust dieser Fähigkeit führen. Die Grenze zwischen den zu den absolut Armen Zählenden und den Nicht-Armen, auch Armutslinie genannt, wird handhabbar gemacht durch die Entwicklung von Standards für jedes Grundbedürfnis, dessen Verbreitung und Umfang anschließend gemessen wird. Rowntree verwendete zur Bestimmung der Armutslinie einen Armutsbegriff, der nur die aktuellen,

42

Kapitel 1: Begriff und Entstehung absoluter Armut

minimalen Ausgaben für Miete, ,household sundries' (Kleidung, Küchengeräte, Reparaturen, u. a.) und die Ausgaben für eine wissenschaftlich ermittelte Standarddiät berücksichtigte: ". .. no allowance is made for any expenditure other than that absolutely required for the maintenance of merely physical efficiency." ( Rowntree 190 I, 133)

Die am häufigsten angewandte Variante dieses Ansatzes benützt das zur Garantierung des physischen Existenzminimums notwendige Einkommen als Vergleichsmaßstab. Es wird davon ausgegangen, daß alle Menschen ein Einkommen erhalten sollen, das ausreichend die Befriedigung der Grundbedürfnisse zuläßt. Der Kern der Grundbedürfnisse, die Nahrungsversorgung, wird dabei, ohne die subjektive Bedürftigkeit einzubeziehen, wie folgt analysiert: Die zur ausreichenden Ernährung eines Menschen notwendigen Kohlehydrate, Proteine, Fette und andere Nährstoffe werden als Lebensmittel in einem Warenkorb gesammelt und dessen Gesamtpreis als Nahrungsbudget in Beziehung gesetzt zu dem insgesamt zur Verfügung stehenden Einkommen. Die Schätzung der Preise erfolgt nach bestehenden Daten von Haushaltsausgaben. In exakten Untersuchungen müßten Gewichts-, Alters- und Geschlechtsunterschiede der Menschen, die Auswirkungen auf den Tätigkeitsumsatz haben, einbezogen werden. Der Vorteil dieses Meßverfahrens besteht darin, durchführbar zu sein. Es besteht ein allgemeines Äquivalent, auf das alle Befriedigungsmittel bezogen werden können- das Geld . Es ist möglich, Vergleiche zwischen verschiedenen Gesellschaften anzustellen, was die Höhe der Standards und die Kosten der erforderlichen Mittel betrifft. Die tatsächlichen Defizite hinsichtlich der ,reinen' Oberlebensproblematik werden drastisch vorgeführt. Aufgrund der Orientierung am Einkommen kann auch errechnet werden, welche Mittel aktuell zur Beseitigung der Defizite fehlen . Eine Armutslinie wird verdeutlicht. Die Zahl der Menschen, die darunter oder darüber liegen, kann ziemlich genau angegeben werden. Hauptsächlich unter drei Aspekten erweist sich die Orientierung an der körperlichen Selbsterhaltung jedoch als defizitär: Die Menschen existieren real nirgends als biologisch-Ein;r.elne (wie der literarische Robinson auf der Insel). Die sozialen Bedingungen spielen eine erhebliche Rolle. Die Verwendung von Preisgrößen ist nicht ohne weiteres von Land 7.U Land übertragbar. Preise für gleiche Waren sind aufgrund unterschiedlicher Lebenshaltungskosten (Steuern, Entwicklungsstand der Produktion, unterschiedliche Grundnahrungsmittel, u. a.) in ein;r.elnen Ländern unterschiedlich hoch. Das Niveau der Lebensbedingungen der Menschen wird im Laufe der Geschichte durch sie selbst verändert. Unterschiedliche gesellschaftliche Niveaus existieren gleich;r.eitig innerhalb und außerhalb einzelner Gesellschaften. Gesellschaftliche Mechanismen regeln die Verteilung der Mittel auf die Menschen. Es kann daher bei diesem Verfahren nicht geklärt werden. wodurch die unzureichende Versorgungslage entstanden ist und wie sie behoben werden kann.

43

I. Unfähigkeit zur längerfristigen Existenzsicherung

individuelles Gleichgewicht zwischen verfügbaren Ressourcen, Bedürfnisniveau, Ansprüchen und Schichtstandard

~

Standards der sozialen Schicht und der Bezugs-

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gruppen

öffentlich anerkannter/ propagierter durchsdmittlicher Lebensstandard

Angleichung von internalisierten Werten u. Zielen an t atsächlich verfügbare Ressourcen

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2. Drei Ursachenkomplexe der Entstehung von Armut

91

chen wie die Armen. Sinnvoll verwendbar ist er aber nur als Abgrenzung von Armut als sozialem Problem und zur Kennzeichnung von Mangelgefühlen und Situationen, die innerhalb der sozialökonomisch integrierten Bevölkerungsschichten bestehen (s. Kap. 11.4). Relative Unterschiede im Berufsstatus wie zwischen Abteilungsleiter und Geschäftsführer, in der Verfügung über gehobene Konsumgüter wie Mittelklasse- oder Luxusklasseauto, Eigentumswohnung oder eigenem Haus sowie in persönlichen Zielsetzungen können für den einzelnen dazu führen, daß er an den Rand seiner jeweiligen Bezugsgruppe(n) gestellt wird bzw. sich dort angesiedelt sieht. Die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden zuvor beschriebenen Armutszuständen und der Anspruchsarmut bestehen zum einen in der fehlenden Hilfebedürftigkeit der Anspruchsarmen und zum anderen darin, daß den ersteren die Voraussetzung der Zugehörigkeit zu den sozialökonomisch integrierten Schichten fehlt. Die generelle Lösungsmöglichkeit liegt in der Behebung der individuellen Unzufriedenheit, die zugelassen werden sollte, sofern damit nicht Schädigungen von anderen Personen bezweckt werden. Integrative Lösungsmöglichkeiten beinhalten die gesellschaftliche Zulassung und Förderung der Verwirklichung der Handlungsoptionen. Typisch für integrative Regelungen sind Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit im Bildungsund Erwerbssystem; Minderungen des Risikos und Risikoabdeckung durch private, verbandliehe und staatliche Vorsorge und Versicherung; Förderung des Abbaus erzwungener personaler Abhängigkeiten (verwandtschaftliche und rechtliche Bevormundungen) sowie die Förderung der Maximierung individuell und kollektiv abgestimmter verwirklichbarer Ziele. In der Abbildung ,Grundverständnisse von Armut' werden Armutszustände gezeigt, deren individuelle Erscheinungsformen Gegenstand gesellschaftlicher Bearbeitung sind. Bei der Behandlung der Lösungsmöglichkeiten zur Beseitigung der Armutszustände wurden die integrativen getrennt von den konfliktverschärfenden. Der Sinn dieser Unterscheidung ergibt sich aus den Sichtweisen, die auf die Armut gerichtet sind. Bei der Kategorie der Notleidenden ist klar, daß die Notstände zu beseitigen sind. Auch die Benachteiligten werden auf Abhilfe hoffen bzw. drängen, sofern ihnen die Benachteiligung bewußt ist. Zum Problem wird die Beseitigung des Armutszustandes primär aus drei Gründen. Erstens müssen die ,Nichtnotleidenden' Ressourcen zur Unterstützung der Armen freimachen, wodurch ihr eigenes Budget je nach Umfang der zu erbringenden Hilfe geschmälert wird. Zu diesem gewissermaßen notwendigen Verzicht kommt hinzu, daß die Beteiligung der Benachteiligten am gesellschaftlichen Leben Folgen für die Gesellschaft hat. Je nach Umfang der ,überzähligen Menschen', die zu integrieren sind bzw. nach Teilnahme drängen, wird das Sozialgefüge der Gesellschaft und damit die Stellungen in der Gesellschaft verändert. Insbesondere in

92

Kapitel 1: Begriff und Entstehung absoluter Armut

Phasen der Stagnation müssen die Kosten der Integration zu einem erheblichen Teil von den sozialökonomisch integrierten Schichten umverteilt werden, was auf die Anspruchsverwirklichung und relative Stellung zueinander wirkt. Wie aber die Integration des ,Hungerproletariats' in die bürgerliche Gesellschaft gezeigt hat, kann die Beteiligung der Armen am gesellschaftlichen Leben durchaus den Wohlstand aller Gesellschaftsgruppen heben. Dies führt zum dritten Grund, nämlich, daß die herbeigeführten vorhandenen Armutszustände Bestandteil der sozialen, ökonomischen und politischen Gesellschaftsordnung sind, somit bislang für bestimmte Interessengruppen nützliche Funktionen erfüllen. Gans hat 15 in ,modernen' Gesellschaften überwiegend latent wirkende soziale Funktionen unterschieden (Gans 1973, 278-284). Funktional im Sinne einer Nutzenfunktion sind sie nach Gans für die Wohlhabenden, während die Armen die Kosten zu tragen haben. Die fünfzehn Funktionen aus der Sicht der sozialökonomisch Integrierten stellen sich wie folgt dar: (I) Die Existenz von Armut sorgt dafür. daß schmutzige. gefährliche. geringgeachtete und niedrigbezahlte Arbeit von denen übernommen wird. denen keine andere Wahl bleibt.

(2) Die Armen sorgen unabsichtlich dafür. daß die Wohlhabenden von vielen ihrer Aktivitäten profitieren und das Leben angenehm gestalten können; bspw. können sich die Reichen aufgrundvon Niedriglöhnen Hausbedienstete leisten. ihre Investitionen erhöhen. die Ersparnisbildung vorantreiben und teuren Hobbies nachgehen. (3) Die Armut gibt einigen Berufssparten. wie Polizei. Justiz. Drogenhändlern. Sozialarbeitern, Prostituierten. Pfandleihern die Existenzgrundlage. (4) Die Armen kaufen Güter, die andere nicht mehr wollen. wie altes Brot, Obst, Gemüse, beschädigte Kleidung, gestohlene Waren und bezahlen alten, inkompetenten, unfähigen Leuten, die sich als Lehrer, Ärzte oder Rechtsanwälte ausgeben, ungerechtfertigte Honorare. (5) Die Armen werden zur Legitimation der Normen und zur Abgrenzung von den herrschenden Gruppen als faule, unehrliche Menschen mit ausschweifendem Leben bezeichnet und dafür bestraft. (6) Die anerkannten Armen, denen ein Recht auf Unterstützung zugebilligt wird (Kranke, Behinderte, Alte), dienen als Demonstrationsobjekt jüdischchristlicher Ethik und Barmherzigkeit. Private Fürsorgetätigkeiten dienen der emotionalen Befriedigung und der eigenen Rechtschaffenheit. (7) Die Armen werden von den Reichen als Projektionsvorlagen für verbotene Aktivitäten benutzt wie Drogenkonsum, ausschweifendes Sexualleben, Alkoholismus. (8) Armut garantiert den höhergestellten Status der Nichtarmut. (9) Die Armen fördern den Aufstieg der Nichtarmen, weil sie als Konkurrenten um gutbezahlte Arbeit nicht in Frage kommen. ( 10) Die Armen sind nicht nur Arbeitsgegenstand von Sozialkontrolleuren. sie geben auch der alten Aristokratie Gelegenheit, durch die Betreibung von Stiftungen und Wohlfahrtsorganisationen die eigene Nützlichkeit zu demonstrieren.

2. Drd Ursachenkomplexe der Entstehung von Armut

93

( II) Die Armen erfüllen wichtige kulturelle Funktionen, indem ihre Ausbeutung den Reichen Gelegenheit gibt, Kulturgüter von hohem Rang zu produzieren bzw. bauen zu lassen (Pyramiden, Tempel, Schlösser). ( 12) Die Kulturformen der Armen werden einerseits diskriminiert; sie können von den Reichen aufgegriffen und in die Hochkultur als neue Ideen eingebracht werden (Jazz, Blues, Spiritualsongs, Countrymusik, literarische Figuren). (13) Die Armen liefern politischen Gruppen symbolische Identifikationen (Sozialisten) und gegnerische Feindbilder (Konservative) als Unterdrückte oder Wohlfa'hrtsbetrüger, Arbeitsscheue. ( 14) Auf die machtlosen Armen können die ökonomischen und politischen Kosten des sozialen Wandels abgewälzt werden; bspw. Massenelend in der Industrialisierung. ( 15) Zwar spielen die Armen als Argumentationsfiguren in den politischen Auseinandersetzungen eine große Rolle. Sie selbst sind aber weitgehend vom politischen Prozeß als Akteure ausgeschlossen bzw. beteiligen sich nicht. Dies führt dazu, daß die Interessen der mittleren und oberen Schichten dominant werden, was die Gesellschaftsverhältnisse zu deren Gunsten stabilisiert.

Gans stellt auch Überlegungen an, inwieweit alternative Funktionsbildungen das Fortdauern der Armut verhindern können. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß die meisten funktionalen Alternativen (höhere Löhne, soziale Anerkennung) zur Armut, für die W obihabenden dysfunktional wären (ebd. 287 f.). Armut könnte nur dann beseitigt werden, wenn sie in hohem Maße dysfunktional für die Wohlhabenden würde, oder wenn die Macht der Armen zur Änderung der sozialen Schichtung ausreichte. Damit liefert Gans implizit eine ideologische Rechtfertigung der bestehenden NutzenKostenverteilung zwischen Armen und Reichen, zu mal er darauf verzichtet zu benennen, was außer Gegenmacht für die Wohlhabenden dysfunktional sein könnte. Er stellt auch keine Untersuchungen darüber an, in welchem Verhältnis die Kosten und die Zahl der Armen zur Zahl der Reichen und ihrer nutzenstiftenden Freude stehen und inwieweit Funktionen entwickelt werden können, die armutsbeseitigend und nutzenstiftend wirken. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob das Verhältnis Arme/Reiche 20% zu 80% einer Bevölkerung oder 3 % zu 97 % ist. Mit funktionalen Beschreibungen sind solche Differenzen und ihre Funktionen allerdings nicht zureichend erklärbar. Sein Hinweis auf die Beseitigung der Armut durch die Machtentfaltung der Armen zeigt eine in dem Schrifttum über Armut immer wieder auftauchende Gegenüberstellung: Sind die Armen harmlos, oder sind sie gefährlich; neigen sie zur Anpassung an die ihnen zugewiesenen Lebensmöglichkeiten oder werden sie protestieren und Widerstand gegen die ihnen oktroyierten Lebensbedingungen leisten? Aus der individuellen Sicht des einzelnen Armen verengt sich die Fragestellung noch mehr: Soll er seine Ansprüche, Orientierungen und Energien in unsichere individuell abschreitbare langdauernde Aufstiegsprozesse investieren oder sich gleich den vorgefundenen Benachteiligungen und kleinen kriminellen Abweichungen

94

Kapitel 1: Begriff und Entstehung absoluter Armut

anpassen; oder ist der unsichere, auf kollektiver politischer Aktion beruhende Pfad der Konfliktverschärfung und Machtgewinnung erfolgversprechend?

Kapitel II

Die Entwicklung zum sozialen Existenzminimum als gegenwärtig vorherrschendem Armutsstandard I. Zwischen Existenznot und relativer Benachteiligung Bisher wurde Armut als Problem der längerfristigen Sicherung der körperlichen Selbsterhaltung thematisiert. Dabei wurde im Verlauf der Analyse verdeutlicht. daß schon in den frühen menschlichen Gesellschaften andere Gesichtspunkte als die körperliche Selbsterhaltung für das Leben der Menschen von wesentlicher Bedeutung waren. Auf die mangelhafte individuelle Fähigkeit und den Willen einzelner und Gruppen, bei der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens mitzuhelfen. wurde in der Geschichte unterschiedlich eingegangen. Das staatlich gewährte soziale Existenzminimum ist der in der Bundesrepublik gültige Armutsstandard. Er orientiert sich an den Kosten einer Lebensführung. die der Menschenwürde entspricht. Man kann darunter Verschiedenes verstehen. Nach § 4 der Regelsatzverordnung (s. Kap. II. 5.) ist eine der Menschenwürde entsprechende Lebensführung möglich, wenn die Unterstützungsleistungen einschließlich der Unterkunftskosten, aber ohne Kindergeld. die durchschnittlichen Netto-Arbeitsentgelte unterer Lohngruppen nicht überschreiten. Mit dieser Regelung wird einerseits gewährleistet, daß die lohnarbeitende Bevölkerung finanziell über dem Armutsstandard liegt. und andererseits. im Zusammenhang mit der Erstellung des Warenkorbs. die Hilfebedürftigen auch nicht auf ein Niveau herabsinken. das lediglich die physische Existenz sichertl. Die tatsächlichen sozialen Ungleichheiten nach Besitz, Einkommen, Vermögen. Status u. a. bleiben aber außer Betracht. Zumindest die tatsächliche Hierarchie der Einkommen und Vermögen als aussagekräftige Indikatoren der materiellen Reproduktionsfähigkeit der Menschen müßten zur Berechnung eines zeitgemäßen Armutsstandards herangezogen werden. 1 Die Kommission für wirtschaftlichen u. sozialen Wandel bezeichnet den Anteil der Bevölkerung. welcher unterhalb des sozialen Existenzminimums lebt, als absolut arm (Kommission 1977. 194).

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Kapitel 11: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

Das soziale Existenzminimum bezeichnet einerseits eine relative Armut, weil die Kaufkraft der Hilfebedürftigen an der Schwe11e zu den sich verändernden niedersten Lohneinkommen stehen so11 und mit ihnen wächst (oder schrumpft): andererseits bezeichnet es eine absolute Armut, weil. ohne die tatsächliche gesellschaftliche Kaufkraft - oder andere sozialstruktureHe Differenzen einzubeziehen. die Sockelgruppe der Gese11schaft bestimmt wird. Insoweit wurde lediglich die Grenze absoluter Armut soweit nach oben gerückt. daß sie nicht in den Bereich von Lohneinkommen stößt. Bei den üblichen prozentualen Lohnerhöhungen werden die unteren Lohngruppen gegenüber den darüber liegenden Einkommen benachteiligt. Das entscheidende Kriterium für die Bestimmung relativer Armut. die Merkmale in Relation zu den anderen gegebenen Gruppen zu berechnen, ist nicht gegeben. Das soziale Existenzminimum drückt somit einen in Geldgrößen staatlich definierten minimalen Lebensstandard aus. der die Befriedigung erweiterter Grundbedürfnisse nach jeweils aktue11en Lebensbedingungen erlaubt. Bevor näher auf das soziale Existenzminimum als Zwischenglied zwischen absoluter Armut und der an einem durchschnittlichen gese11schaftlichen Standard ansetzenden relativen Armut eingegangen wird. sollen zur Vergewisserung der historischen Dimension die historischen Erscheinungsformen der in der Geschichte dominierenden Armutsgruppen skizziert werden.

2. Historische Vorläufer der aktuell Armen in den Industrieländern Eine sehr grobe Einteilung der in der Geschichte der westlichen Industriestaaten auffindbaren großen Armutspopulationen ist in der Abfolge von antiken Sklaven mittelalterlichen Paupern frühindustriellen Proletariern aktuell nach verschiedenen sozialen Aspekten Hilfebedürftigen möglich. Entsprechend dieser Gliederung vorzugehen. schließt die Annahme ein. daß es vor allem handarbeitende und arbeitsfahige Menschen waren, die das Erscheinungsbild der Armut über die letzten 2.500 Jahre bestimmten und daß es vor allem Klassenbeziehungen sind, die das Erscheinungsbild der Armut prägten. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte der Eindruck entstehen, die auf Engels zurückgehende Fünf-Stadien-Theorie der Gesellschaftsformationen von Stalin liege dieser Abfolge zugrunde. Die gewählte Einteilung der großen historischen Armutspopulationen als Vorläufer der aktuellen Armut in den Industrieländern beinhaltet jedoch eine nur teilweise, noch näher zu bestimmende, Obereinstimmung mit dem Fünf-Stadien-Schema.

2. Historische Vorläufer der aktuell Armen in den Industrieländern

97

2.1 Die Entstehung von Klassengesellschaften und die Evolution menschlicher Gesellschaften

Im Anschluß an Engels teilt Stalin die Entwicklung der Menschheit in fünf aufeinander folgende Gesellschaftsformationen ein: U rgemei nschaft Sklavenhaltergesellschaft Feudalgesellschaft Kapitalismus Sozialismus (vgl. Stalin 1939) Wird die Fünf-Stadien-Theorie als für die gesamte Menschheit zutreffend angesehen. enthält sie einen prophetischen Vorgriff auf die Zukunft, der nicht überprüfbar ist. Zugleich wird damit die Offenheit der Geschichtsentwicklung bestritten. Wenn der Ablauf tatsächlich ein Gesetz wäre, müßte für jede Stufe gezeigt werden können, wieso andere denkbare Entwicklungen ausgeschlossen waren, bzw. sind. Sollte das Schema für jede einzelne Gesellschaft gelten, wäre es leicht, Gesellschaften zu nennen, die jene fünf Stadien nicht durchlaufen haben und es auch nicht mehr können. Die nordamerikanischen Indianer oder die australischen Eingeborenen bspw. haben die Sklaverei und den Feudalismus als Zwischenstufe zum Kapitalismus nicht erlebt. ·Gibt man die Vorstellung von der Unilinearität des Aufstiegs der Menschheit von der Urgemeinschaft in die Zivilisation auf, bleibt die Methode bestehen. historische Gesellschaftsformationen zu begreifen als Verbindungen (Einheit) von bestimmter Art und Weise der Produktion, bestimmter Form der gesellschaftlichen Organisation und bestimmten ideologischen Auffassungen, wobei die gesellschaftliche Aneignung der Natur dazu tendiert. umfassender zu werden. Aus dieser Sicht behält die Methode der Analyse der Gesellschaftsformationen ihren Wert. Schon Marx hat in den Grundrissen darauf hingewiesen, daß abhängig von der Form des Eigentums der Bruch der alten Produktionsweise in verschiedene neue Formen des Eigentums führen kann (vgl. Marx, Grundrisse, 1974, 375 ff.). In der Interpretation der marxistischen Auffassung der Dominanz der Ökonomie als Wesensmerkmal menschlicher Gesellschaften, sind nach Hauck die (gleich bleibenden) Elemente aller Produktionsverhältnisse: Arbeiter Nicht-Arbeiter Produktionsmittel, a) Arbeitsmittel, b) Arbeitsgegenstand Die Arbeit selbst als zweckmäßige menschliche Tätigkeit A. Die Eigentumsbeziehung B. Die Beziehung der Autonomie/Heteronomie. wobei bezüglich letzterer zwischen a) personal zurechenbaren und b) anonymen Formen unterschieden werden muß" (Hauck 1979. 20)

"I. 2. 3. 4.

7 Schäuble

98

Knpitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

Die Dimension Autonomie/ Heteronomie als von der Eigentumsform unterscheidbare Dimension ergibt sich aus dem Problem, daß die Eigentumsbeziehung nicht ausreicht zur Bestimmung des Anteils und der Form, in welcher die Arbeitenden an die gesellschaftlichen Produkte gelangen, sowie des Problems, auf welche Art und Weise und in welchem Umfang das Mehrprodukt verteilt wird. Bei der Behandlung der agrarischen Hausgemeinschaft wurde gezeigt. welchen Einfluß die Verwandtschaftsbeziehungen auf die Produktion und Reproduktion ausüben. Ober die Verwandtschaftsregeln werden nicht nur die Generationenfolge der Besitz- und Eigentumsverhältnisse innerhalb von Klassengesellschaften geregelt. Die Herstellung der Produzenten erfolgt nach wie vor in der Familie nach persönlichen Abhängigkeiten, d. h. nach Prinzipien, die mit denen der Produktion der Sachen nicht identisch sind. Aus diesem Grunde kann bei der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht auf die Untersuchung der ehelichen Reproduktion der Arbeitskraft verzichtet werden. In den ursprünglichen Gesellschaften erlebten die einzelnen die Produktionsbedingungen als ihnen zugehörige. Eigentum als Verfügungsmacht über Grund und Boden bestand anfänglich nur als Gruppen- oder Gemeineigentum des Stammes. Die verschiedenen Formen, in denen produziert wurde, und denen verschiedene Eigentumsformen entsprachen, bezeichnet Marx als asiatische, antik-klassische, slawische und germanische Produktionsweise (Marx, Grundrisse, 1974, bes. 395). Die Auflösung dieser Produktionsweisen hat zum Ergebnis die Existenz zweier Formen des Eigentums, einerseits des individuellen Eigentums an Grund und Boden und andererseits des Eigentums am Arbeitsinstrument, d. h. des arbeitenden Menschen als desjenigen, der die Fertigkeit besitzt, die Arbeitsmittel zu handhaben (Zunft- und Korporationswesen) (ebd. 398 f.). Daraus können Klassengesellschaften mit unterschiedlichen Eigentumsformen entstehen (Hauck 1979, 144 ff.). ,.Die Urformen des Eigentums lösen sich notwendig auf in das Verhältnis zu den verschiedenen objektiven Momenten, die die Produktion bedingen, als eignen; sie bilden ebensowohl die ökonomische Grundlage verschiedner Formen des Gemeinwesens, wie sie ihrerseits bestimmte Formen des Gemeinwesens zur Voraussetzung haben." ( Marx, Grundrisse, 1974, 399)

Da alle, den Urgesellschaften nachfolgenden, Gesellschaften Klassengesellschaften sind, und die Armen jeweils den Hauptteil oder den Bodensatz der unterdrückten Klasse stellen, ist von Bedeutung. welche strukturellen Vorbedingungen beim Entstehen von Klassengesellschaften gegeben sein müssen. Nach Hauck sind dies unter Berufung auf Marx:

-- die Entwicklung der Produktivkräfte, (d. h. die angewandten Werkzeuge, das Wissen um technische Prozesse und Zusammenhänge sowie die Arbeitsorganisation als Art und Weise des Zusammenwirkens, somit das System der Wechsel wir-

2. Historische Vorläufer der aktuell Armen in den Industrieländern

99

kung von Produktionsmitteln und menschlicher Arbeit) muß soweit sein, daß sie die Produktion eines Surplus zulassen; die Art der äußeren Natur und die Entfaltung der Produktivkräfte müssen bei Kooperation auf höherer Stufe eine Erhöhung der Produktivität der menschlichen Arbeit ermöglichen; -- die Kriegsarbeit verstanden als gewaltsame Behauptung des Eigentums sowie dessen Neuerwerb durch Unterwerfung anderer Gemeinwesen, und die dauerhafte ,sekundäre' Aneignung des Mehrprodukts der Unterworfenen muß entwickelt sein. Die Reproduktion der Herrschenden erfolgt dann durch die systematische Oberlagerung der Reproduktion der Beherrschten durch die sekundäre Aneignung; - die in den Vorklassengesellschaften vorhandene. aber unbedeutende, sekundäre Aneignung des Mehrprodukts muß durch nicht auf physischer Gewalt beruhenden Machtquellen. in Form von Vermittlungsfunktionen überwunden werden, zugunsten einer systematischen sekundären Aneignung. die die Monopolisierung des Mehrprodukts erlaubt. Verselbständigte Vermittlungsfunktionen können auftreten in Produktion. Reproduktion und Zirkulation (vgl. Hauck 1979,47 ff. u. 72 f.). Für die Entstehung von Klassengesellschaften von wesentlicher Bedeutung wird danach die systematische Aneignung des Mehrprodukts von fremder Arbeit. Wer sich aber über die Arbeit anderer bereichern kann, hat auch großen Einfluß auf die Organisation der Arbeit und damit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Die militärische, bzw. physische Überlegenheit reicht zur Aneignung fremden Willens, zur dauerhaften Sicherung des Mehrprodukts nicht aus. Zur Oberwindung des Widerstands gegen die und zur Aufrechterhaltung der antiken Klassengesellschaften war die Kombination der Ressourcen: Militärüberlegenheit, Privates Eigentum und Fernhandel nötig (vgl. Hauck 1979, 75). "Nach der hier vorgeschlagenen begrifflichen Festlegung kann man von Klassengesellschaften erst dann reden, wenn die Gemeinscha.fi die Verfügungsgewalt über einen quantitativ bedeutsamen Teil des von anderen erarbeiteten Mehrprodukts vollständig an die herrschende Klasse verloren hat. in dem Sinne, daß letztere die (.Privateigentum' genannte) .Vollherrschaft' über das Mehrprodukt erlangt hat. und wenn außerdem der Zugang zu dieser Verlügungsgewalt a priori auf eine Untergruppe der Gesellschaft unter Ausschluß aller anderen de facto oder de iure hegrenzt ist. Demgegenüber sind klassenlose Gesellschaften alle die, in denen die Gemeinschaft die Verfügungsgewalt über das Mehrprodukt noch ganz oder teilweise in Händen hat. und sei es auch nurdurch Einschränkungder Verfügungsgewalt jener. an die sie delegiert wurde; ebenso alle die, in denen alle Angehörigen der Gesellschaft die Chance des Zugangs zu dieser Verfügungsgewalt besitzen". (Hauck 1979, 47) Das Privateigentum an Boden und an anderen Produktionsmitteln muU danach nicht unbedingt Bestandteil des Klassenbegriffs sein. Worauf es ankommt, ist, daß de facto oder rechtlich die unbeschränkte Verfügungsgewalt, d. h. das Monopol über "einen qualitativ bedeutsamen Teil des von anderen erarbeiteten Mehrprodukts" durch eine Minderheit gesichert ist und der andere Teil der Gesellschaft von der Verfügung, Nutzung, Veräußerung, Zerstörung etc. über dieses Mehrprodukt ausgeschlossen ist.

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100

Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

Bei der Betrachtung der Entstehung von Klassengesellschaften durch die marxistische Theorie der ökonomischen Gesellschaftsformationen wird das Interesse auf die Sicherung der Eigentumsformen an Grund/ Boden und den Produktionsmitteln gelenkt. auf die sich die Auseinandersetzungen zwischen den Trägern der sozialen Bewegungen konzentrieren. Wenn aber die Arbeit als zweckmäßige Tätigkeit zur Steigerung ihrer Produktivität zwingend der Veränderung (Revolutionierung) der instrumentellen Herrschaft des Menschen über die Natur und/ oder der Kriegsführung bedarf. somit die Arbeitsmittel und die Arbeitsgegenstände als Produkte vergangener Arbeit. sowohl für die Fähigkeit Krieg zu führen. als auch die Produktion auf eine neue Stufe zu führen. entscheidend sind. reichen für eine längerfristige geschichtliche Betrachtung der Gesellschaftsentwicklungen die von Hauck präzisierten strukturellen Vorbedingungen nicht aus. Sie bedürfen einer Präzisierung und Ergänzung. deren Argumente von Ribeiro vorgebracht wurden. Hauck deutet die Problematik an. indem er im Anschluß an Marx darauf insistiert, daß zur Fähigkeit der sich ausbildenden herrschenden Klasse sowohl die militärische Überlegenheit. als auch die Monopolisierungvon Vermittlungsfunktionen aus den Bereichen Produktion, Reproduktion und Zirkulation gehören. Die militärische und organisatorische Überlegenheit ergibt sich in der längerfristigen Abfolge von Klassengesellschaften erst. wenn eine Seite über eine überlegene (Militär-) Technologie verfügt. Auf diese Bedingung geht Ribeiro besonders ein. Er entwickelt eine soziokulturelle Evolutionstheorie der Menschheit. die auf drei Grundbedingungen menschlicher Lebensweisen beruht: .,erstens dem akkumulativen Charakter des technischen Fortschritts, welcher sich in unumkehrbarer Folge von einfacheren zu komplexeren Formen vollzieht: 7.weitens den wechselseitigen Beziehungen zwischen der technologischen Ausrüstung einer Gesellschaft in ihrer Aktion über die Natur und die Größe ihrer Bevölkerung sowie der Organisationsform jener Verhältnisse nach innen und mit anderen Gesellschaften: drittens der Interaktion zwischen diesen Bemühungen um Kontrolle der Natur und um Ordnung der menschlichen Verhältnisse und der Kultur. Sie wird als symbolische Totalität der standardisierten Denk-. Produktions- und Erkenntnisweisen verstanden. welche materiell in Kunstwerken und Gütern. sozial im gesellschaftlichen Verhalten und ideologisch in der symbolischen Kommunikation und der Formulierung der gesellschaftlichen Erfahrung in Wissens-. Glaubens- und Werteinheiten manifest werden." (Ribeiro 1971. 20 f.)

Im Unterschied zu der Auffassung von Hauck. der sich bei der Bestimmung von Transformationsregeln des Obergangs von Vorklassengesellschaften auf die militärische Überlegenheit und zusätzliche Vermittlungsfunktionen der herrschenden Klasse beschränkt, gewichtet Ribeiro die Beziehungen innerhalb soziokultureller Formationen zwischen den durch die angewandte Technik bestimmten Produktionsbedingungen (dem adaptiven System). der sozialen Organisation der Gesellschaft (dem assoziativen

2. Historische Vorläufer der aktuell Armen in den Industrieländern

101

System) und dem ideologischen System anders. Er spricht der Akkumulation der technologischen Innovationen eine kausale und zielgerichtete Bedeutung für die evolutive Entwicklung der Menschheit zu. Nicht die Klassenauseinandersetzungen sind danach der ,Motor der Geschichte', sondern es sind längerfristig die "Wandlungen in der instrumentellen Ausrüstung der Herrschaft des Menschen über die Natur oder der Kriegsführung, welche qualitative Veränderungen in der Seinsweise der Gesellschaften hervorbringen." (36) Der Hintergrund dieser Kraft besteht in der Gleichförmigkeit der äußeren Natur, deren physikalisch-chemischen und biologischen Regeln die Menschen ihre Kulturen anpassen müssen . In der Abfolge von technologischen Systemen, die zunehmend produktiver werden, steigt die Macht der Gesellschaften, welche die jeweils höhere Technik entwickeln (25 f.) .. Auf dem Niveau großer historischer Reichweiten wirkt danach die Technologie als das Adaptionsniveau der Anpassung an die äußere Natur determinierend auf die soziale Organisation und den ideologischen Reflexionen der Gesellschaften. Bei der Analyse mittlerer historischer Reichweiten zeigt sich die .bedingende Kraft' von untereinander in Wechselbeziehungen stehenden sozialen Organisationen und auf kurze Sichtweise steigt die Bedeutung des ideologischen Interpretationsrahmens der kollektiven und individuellen Erfahrungen (279). Aus den Interaktionen zwischen den drei Ebenen sind die jeweils aktuellen historischen Entwicklungen erklärbar. Die äußere Natur stellt die Begrenzung dar für die soziokulturelle Entwicklung, die als kultureller Transformations- und Selbstüberwindungsprozeß verstanden wird. Radikale Veränderungen der produktiven und militärischen Technologie bewirken notwendige Veränderungen der Organisationsformen der Gesellschaft. Deren besondere Bedingungen. also die Determinanten der sozialen und kulturellen Natur, beschleunigen oder verlangsamen den technologischen Prozeß. Diversifizierungs- und Homogenisierungsprozesse der menschlichen Kulturen werden als Ergebnisse von ursprünglich autonomen unabhängigen Erfindungen und vor allem von Diffusionsprozessen zwischen einzelnen Gesellschaften und der zivilisatorischen Expansion begriffen. Dies führt zu den Problemen der zeitlichen Parallelität verschiedener Stufen der Evolution menschlicher Gesellschaften und deren Transformationen, die schon bei der Fünf-Stadien-Theorie sichtbar wurden. Ribeiro löst diese Probleme, indem er darauf insistiert. daß die Phasen der soziokulturellen Entwicklung von der Stammessituation zu den heutigen Groß-Gesellschaften zwar zeitlich aufeinander folgen müssen, die Reihenfolge der einzelnen soziokulturellen Formationenjedoch nicht von allen Gesellschaften eingehalten werden muß. Das kontinuierliche Durchlaufen mehrerer soziokultureller Sequenzen einer Gesellschaft bildet die Ausnahme (35). Da sozio-kulturelle Formationen sich

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Alte klassische Fbr·-< mation

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Eisen

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Barbarei

Sklaverei

Feudalismus

Merkantiler Kapitalismus

Wildheit

Neolithische Barbarei

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der Kupferzeit

Jäger und Sanmler

Ausbildung von von Agrarkulturen

Veibandsbildung

Blütezeiten

frühe Reiche

Eisenzeit Bronzezeit

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Dunkle Zeitalter

Zyklus imperialistischer Eroberungen

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Industrielle Revol.ution

Steward ( 1955)

Feudalismus

Childe ( 1936)

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(Kollektivis. )

Jäger- und Sanmlerstämme

Undifferenzierte Nanadisierende Gartenbaudörfer Hirtenstämme Nomadisierende Hirtenhorden

(Privatistisch)

Ländliche Handwerker-Staaten

Merkantil-SalSkiavistische vationistische Kolonien I.rrperien Despotisch- Salvationistische Reiche Feudale Regressionen Merkantil-Skla- Theokratische vistische Reiche Bewässerungsreiehe

Merkantiler Kapitalismus

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Industrieller

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Ribeiro ( 1968)

Abb. 5: Vergleich soziokultureller Entwicklungsmodelle (zit. nach Ribeiro 1970. 431)

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Steinzeit, Töpferei

Kultivierung ·QJ von Pflanzen, ~ Tierzähmmg

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3. Der Anspruch der Sozialhilfe als soziales Existenzminimum

Die Berechnung der länderspezifischen Eckwerte der Regelsätze erfolgte bisher auf Grundlage von Untersuchungen des .,Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge". Dabei wurde ein Bedarfsschema (Waren· korb) festgelegt. Dreimal wurden die Festlegungen korrigiert. Letztmalig wurde 1970 ein Warenkorb erstellt, durch den bis in die Gegenwart der Lebensstandard von Sozialhilfeempfängern weitgehend festgelegt wird. Tabelle 9

Bundesdurchschnittliche Regelsätze flir Haushaltsvorstände (Eckregelsatz) flir die Hilfe zum Lebensunterhalt, Jahr

1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964

I

jeweils zum Jahresanfang von 1957 bis 1983

DM

Jahr

63 68 69 75 78 107 107 114

1965 1966 1967 1968 1969

I

DM

Jahr

118 120 129 131 137

1970 1971 1972 1973 1974

l

DM

Jahr

155 188 203 218 236

1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983

l

DM 252 268 287 290 297 309 328 338 345

(Bundesminister flir Arbeit und Sozialordnung 1983, 8.16)

Die Steigerungsrate des Regelsatzes wurde für 1982 und 1983 aus finanz· politischen Gründen durch das 2. Haushaltsstrukturgesetz vom Bundesge· setzgebermehrfach begrenzt. Dem§ 22 BSHG wurdedabeiein neuer Absatz IV, 2 hinzugefügt. Alleinstehende und Haushaltsvorstände erhielten 1979 monatlich 297,· DM an Warenwerten und Dienstleistungen zugestanden, deren Verteilung auf die einzelnen Bedarfsgruppen nach dem in Tab. 10 angegebenen Schlüssel erfolgte. Je nach der Anzahl anspruchsberechtigter Haushaltsmitglieder und ihrem Alter werden als ,Personengewichte' bezeichnete alterspezifische Prozent· sätze des Regelsatzes für die weiteren Haushaltsmitglieder bezahlt: bis unter 7 Jahre 45 7 bis unter 11 Jahre 65 11 bis unter 15 Jahre 75 16 bis unter 21 Jahre 90 21 Jahre und älter 80

% % %

% %

184

Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum Tabelle 10

Aufteilung des Regelsatzes für Haushaltsvorstände und Alleinstehende nach Bedarfsgruppen Bedarfsgruppe Ernährung _______________________ Kochfeuerung und Beleuchtung _.. ___ Instandhaltung und Neubeschaffung von Kleidung, Wäsche und Hausrat ___ • Körperpflege und Reinigung _________ Persönliche Bedürfnisse ____ . ___ . ____

Aufteilung in %

Aufteilung in DM

57 9

169,29 26,73

5 9 20

14,85 26,73 59,40

100

297,00

(Hofmann I Leibfried 1980, o.S.)

Das gesamte Haushaltseinkommen ergibt sich dann aus dem Regelsatz des Haushalts, eventuellen Mehrbedarfszuschlägen, einmaligen Leistungen und den Unterkunftskosten. Die bereits 1977 begonnene und 1981 beendete Überarbeitung des Warenkorbs von 1970 durch den Arbeitskreis .Aufbau der Regelsätze', wurde vom Deutschen Verein nicht wie frühere Bedarfsschemata als Empfehlung, sondern nur als Arbeitsmaterial verabschiedet. Frühestens bis Anfang 1984 wird der neue Warenkorb, wenn überhaupt, aufgrund der Gesetzesänderungen eingeführt werden können. Die vorgeschlagene Erhöhung des Eckregelsatzes um 92,78 DM für 1979 (Bundesdurchschnitt) wird bis 1984 aufgrunddes 2. Haushaltsstrukturgesetzes noch nicht erreicht sein. Nach verschiedenen Analysen kann die Sozialhilfe ihre Aufgabe, den Anspruchsberechtigten ein über dem notwendigen Lebensunterhalt liegendes menschenwürdiges Leben zu garantieren, welches im vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben zuläßt, nicht erfüllen (Werkentin 1974; Hoffmann 1978; Stahlmann 1980). Auch die Experimente einer Projektgruppe der Fachhochschule Frankfurt zum .Leben aus dem Warenkorb' und die genauere Analyse des Warenkorbs 81 bestätigen diese Urteile (Projektgruppe 1982). Die allgemeine Präzisierung der Höhe der Zuwendungen, die über dem körperlichen Existenzminimum liegen und der ,Menschenwürde' entsprechen, wird anhand der Analyse von Haushaltsrechnungen unterer Verbrauchergruppen vorgenommen. Die aus den Verbrauchsgewohnheiten gewonnenen Werte gehen in den Warenkorb ein, der Grundlage des Regelsatzes wird. Die obere Grenze der Geldwerte- damit auch der auszuwählenden Verbrauchergruppen - wird durch Paragraph 4 (2) der Regelsatzverordnung bzw. § 22,3 BSHG bestimmt.

3. Der Anspruch der Sozialhilfe als soziales Existenzminimum

185

Im Bundessozialhilfegesetz wird das Prinzip der Individualisierung (§ 3 Abs. 1 BSHG), welches den Willen zur Einzelfallhilfe bekundet, betont. Nach pflichtgemäßen Ermessen sollen entsprechend den besonderen Umständen und der spezifischen Hilfebedürftigkeit Leistungen gewährt und Maßnahmen ergriffen werden. Wie dieser Anspruch verwirklicht wird, kann an der Gewährungspraxis der ,einmaligen Leistungen' abgelesen werden (Bronke/ Wenzel 1982; Rauch 1982). An der repräsentativen Umfrage von Rauch zur Vergabepraxis von einmaligen Beihilfen für Bekleidung, Möbel und Hausrat, Heizung, Erstlingsausstattung, Weihnachtsbeihilfe und Beihil~ fen in Sonderfällen (Mietrückstände, Stromschulden) im Bundesland Bay~ ern, beteiligten sich 45 Sozialhilfeverwaltungen (Rauch 1982, 6). Die dabei zutagegetretenen unbegreiflichen Differenzen in der Vergabepraxis zeigen, daß eine Pauschalierung der einmaligen Beihilfen im Sinne nach oben offe~ ner Mindeststandards unverzichtbar ist. Zusammengefaßt sind es vor allem 5 Forderungen, welche von Betroffenen und Wissenschaftlern zur Einlösung des BSHG~Anspruchs erhoben werden (für viele: Institut für Sozialfor~ schung und Gesellschaftspolitik 1979, 13). "Als Bemessungsgrundlage zur Erhebung der tatsächlichen Lebenshaltungsko~ sten von Sozialhilfehaushalten sollten nicht wie bisher 2~Personen~Rentnerhaus~ halte dienen, sondern Arbeitnehmerhaushalte mit durchschnittlichem Einkorn~ men. Nur diese Forderung wurde vom ,Arbeitskreis Aufbau der Regelsätze' bei dem in der Schublade liegenden Warenkorb 81 erfüllt. Zur Verbrauchsableitung diente ein Arbeitnehmerhaushalt mit durchschnittlichem Einkommen und zwei Kindern". (Projektgruppe 1982, 118) Einmalige Beihilfen sollen pauschaliert werden. Die Regelsätze sollen jährlich an die allgemeine Preisentwicklung angepaßt werden. Der Warenkorb sollte jährlich überprüft werden. Betroffene sollten bei der Bedarfsfestsetzung hinzugezogen werden.

Welche Perspektiven die Politikerangesichts der Finanzprobleme verfol~ gen, zeigen die Änderungen des 2. Haushaltsstrukturgesetzes: Abkehr vom Bedarfsprinzip, Kürzung des Mehrbedarfszuschlags von 30 auf 20%. Berücksichtigung des zukünftig zu erwartenden Einkommens bei einmaligen Beihilfen, Verschärfung der Zumutbarkeitsklauseln bei der Arbeitsauf~ nahme, bei asylsuchenden Ausländern Beschränkung des Anspruchs auf Hilfe zum Lebensunterhalt (Friedmann 1982, 88 ff.)1. 7 Nach Abschluß des Manuskripts hat die Bundesregierung im Bundeshaushaltsbegleitgesetz 1984 neben anderen Kürzungen im Sozialbereich festgelegt, daß bis Juli 1985 die Regelsätze nicht stärker als die zu erwartenden Teuerungen in den Lebenshaltungskosten angehoben werden dürfen. Die schon 1983 eingeführten Kürzungen in der Arbeitslosenversicherung passen das Arbeitslosengeld nach unten an die Sozialhilfe an. Wird der Haushaltsvorstand einer traditionellen Facharbeiterfamilie (erwerbstätiger Ehemann, Ehefrau, 2 Kinder) arbeitslos, so liegt sein Arbeitslosengeld schon heute unterhalb der Sozialhilfegrenze. Nicht der tatsächliche Verdienst wird zur Bemessung des Arbeitslosengeldes zugrunde gelegt, sondern nur der tariflich garantierte Stundenlohnmultipliziert mit

186

Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

Das soziale Existenzminimum ist bislang eine Konkretisierung dessen, was in Gesellschaften zu einer bestimmten Zeit ohne die Berücksichtigung der real bestehenden Ungleichheiten in der Sozialstruktur der Bevölkerung als Existenzminimum definiert wird. Dies kann bedeuten, daß die Sozialverbände, bzw. die zur Lebenserhaltung der Armen bestellten Institutionen, lediglich ein körperliches Existenzminimum zugestehen wollen oder ihre Hilfen an finanz- und verteilungspolitisch bestimmten, weitergehenden Erwägungen orientieren. Der derzeitige Spielraum der Erhöhung der Sozialhilferegelsätze wird eindeutig durch die durchschnittlichen Arbeitsentgelte unterer Lohngruppen begrenzt. Diese Regelung ist Folge der mate_riellen lntegration der Proletarier des 19. Jahrhunderts als ,Vollbürger' in die kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaft auf fortgeschrittener Produktionsstufe. In einer Gesellschaft, in der sich der Ideologie nach die ,objektiven und subjektiven Lebensverhältnisse der großen Zahl weitgehend nivelliert' haben, ist es zweckmäßig, als Grenze zwischen Integrierten und (nichtintegrierten) Armen die Durchschnittsentgelte der unteren Lohngruppen anzunehmen. Die geschichtlich hergestellten, sich weiter entwickelnden und neu herausbildenden realen Ungleichheiten bleiben allerdings dabei außerhalb der Betrachtung. Die Forderung nach der gesellschafts-und zeitspezifischen Analyse und Bestimmung der Armut kann aber an der Frage nach den realen Unterschieden in den Lebensverhältnissen der Menschen nicht vorbeisehen. Fragwürdig wird dieser Ansatz, weil die Definition von Armut aus den untersten Iohnabhängigen Schichten und der darunterliegenden materiell noch ärmeren Teile der Bevölkerung selbst entwickelt wird. An keiner Stelle wird untersucht, inwieweit mit den durchschnittlichen Arbeitsentgelten unterer Lohngruppen nicht selbst armutsverursachende Faktoren zusammenhängen und ob diese Gruppen nicht selbst zu den Armen gezählt werden müssen. Obwohl ersichtlich ist, daß aus dem Zwang zur individuellen Reproduktion durch Lohnarbeit ein Unabhängigwerden von der Sozialhilfe bei Erwerbstätigen primär durch Aufnahme einer solchen Tätigkeit geschehen muß, bleiben die Zusammenhänge von Beschäftigungsstruktur, -möglichkeiten und -entwicklung weitgehend ausgeklammert. Das Verhaftetsein an ein Individuum (Personengebundenheit), das sich individuell aus einer Notlage mit-befreien soll, vernachlässigt die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen der Lebenslage und -chancen der Betroffenen. Wie soll die den monatlich üblichen Arbeitsstunden. Weil die 68% Arbeitslosengeld bei Verheirateten nicht vom beitragspflichtigen Bruttoarbeitsentgelt berechnet werden. sondern von einem fiktiven Netto-Tariflohn, fallen die Arbeiterfamilien, in denen allein der Haushaltsvorstand erwerbstätig ist. mit der Arbeitslosigkeit zugleich auch unter die konventionelle Armutsgrenze. Selbst wenn die Familien versuchen, durch den Verbrauch der Ersparnisse den Gang zum Sozialamt zu verhindern, werden sie mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit nur ein kümmerliches Dasein fristen können.

4. Selbständigkeit und Anspruchsverwirklichung

187

Aufgabe des BSHG erfüllt werden, wenn die gesellschaftliche Produktion der Armen und ihre Funktionen unbeachtet bleiben? Das Sozialsystem wird implizit als gut und richtig hingestellt, wenn Armut als ,geschichtsloses' Phänomen gesehen wird (Strang 1970, S. I). Am weitesten wurde diese Vorstellung von Burghardt getrieben, bei dem die absolute Armut bezeichnet wurde als

"Einen Teil des Wesens jeder postprimitiven Gesellschaft, deren Angehörige stets differente Lebenschancen zwischen den Konstitutionen von ,reich' und ,arm' aufweisen; sie besteht jenseits der geschichtlichen und in einmaligen Lebenssituationen reflektierten Versorgungsbedingungen als in Versorgungschancen reflektierte Seinsweise der Sockelgruppe der Gesellschaft an sich." (Burghardt 1968, 351 f.)

Wer sich nur darauf verläßt, daß manche Menschen eben ,schlecht' seien, sich vor der Arbeit drücken wollten oder aufgrund von Defekten nicht anders könnten und der Organisation und Verteilung von Lebenslagen und -chancen und der sozialstruktureBen Entwicklung allenfalls eine beiläufige Bedeutung zu mißt, kann nur zu dem Ergebnis kommen, daß nichts anderes möglich ist, als die Erscheinungsform der Armut zu modifizieren und die Anzahl der Armen zu vermindern. Um Ausmaß. Intensität, Funktionen. Ursachen und Möglichkeiten der Abschaffung aktueller Armut in den entwickelten bürgerlich-kapitalistischen Ländern bestimmen und verstehen zu können, muß Armut aus dem geschichtlichen Werden der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschen analysiert werden. Die Reduktion auf die individuelle Notlage, wie sie vom BSHG vorgenommen wird, muß so lange eine Notlösung bleiben, wie die Organisation der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit privaten Eigentümern überlassen bleibt und die Arbeitenden von der qualifizierten Mitbestimmung ausschließt. Das soziale Existenzminimum, als erweiterte Form der interessenbestimmten staatlichen Gewährung erweiterter Grundbedürfnisse unter Abkoppelung der Entwicklung der realen gesellschaftlichen Ungleichheiten, stellt dennoch einen Fortschritt in der Entwicklung der Armenfürsorge dar. 4. Selbständige Lebensführung, Anspruchsni-veau und Verwirklichung von Ansprüchen In der formulierten Definition des sozialen Existenzminimums ist eine besondere gesellschaftliche Stellung des unterstützungsbedürftigen Menschen angelegt, auf deren im Individuum angelegte Widersprüchlichkeit i. f. eingegangen wird. Zunächst sind vier Voraussetzungen gegeben: -

Menschen weisen biologisch-psychische Unterschiedlichkeiten auf. Menschliche Gemeinschaften bzw. Gesellschaften weisen soziale Differenzierungen auf.

188 -

-

Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

Diese sozialen Differenzierungen können zu sozialen Ungleichheiten führen. Es besteht dann ein soziales Gefälle. oder soziale Gegensätze bestimmen das Erscheinungsbild der Gesellschaft. Der Analyse zugänglich erweisen sich die sozialen Differenzierungen anhand von Kategorien wie Macht. Einkommen und Besitz, Status, Rechte, Bildung. u. a. Wird die Unterstützungsberechtigung anerkannt, so bestehen gesellschaftliche Regelungen. die einen Ausgleich zwischen dem Mangel der Unterstützungsberechtigten und den ihnen gegenüber Bessergestellten anstreben.

Ergibt sich die Unterstützungsberechtigung aus Notlagen, welche von dem Hilfebedürftigen objektiv nicht zu beseitigen sind. wie bspw. körperliche oder geistige Behinderungen, die eine selbständige Beteiligung am Erwerbsleben nicht mehr oder nur eingeschränkt zulassen, so wird aus diesen individuellen (Konstitutions-) Bedingungen (bspw. alten Menschen) der Mensch zum ,Fall' für verwaltungs-und sozialfürsorgerische Organisationen. Insoweit diese Hilfebedürftigen ständige Pflege benötigen und diese bei fehlender privater Hilfe von staatlicher Seite geleistet wird, begrenzen die ersatzweise für die verwandtschaftlichen Bindungen eingesetzten Lohnbetreuer und Dienstleister Reichweite und Inhalt der Lebensäußerungen der Bedürftigen zwischen weitgehend individueller Lebensregulierung bis hin zur Entmündigung. Von dieser, zur Selbsthilfe nur begrenzt fähigen Gruppe, sind diejenigen Menschen zu unterscheiden, bei welchen die formale Chance besteht, sich zur selbständigen Lebensführung durch eigene Erwerbsarbeit zu befähigen. Unabhängig von den jeweils individuell gegebenen Besonderheiten der Notlagen gilt dann, daß -

aktuell eine staatlich anerkannte Unfahigkeit zur selbständigen Lebensführung besteht; - die zu leistenden Hilfemaßnahmen den einen Teil zur Erreichung des Ziels. Befähigung zur selbständigen Lebensführung darstellen; -- der andere Teil zur Zielerreichung in der erfolgreichen Zuarbeit des H ilfebedürftigen besteht.

Im folgenden wird nicht auf die Adäquanz der Leistungen, der Mittelausstattung u. a. Probleme der hilfeleistenden Institutionen eingegangen, sondern auf die allgemeinen Bedingungen und Mechanismen der individuellen Zuarbeit im Zusammenhang mit dem bereits in Kapitel I skizzierten Problem von Anpassung/ Widerstand gegen Armut. Es wird mitthematisiert, welche Wirkungen gesellschaftliche Vorgänge haben, die, unabhängig von den Steuerungsmöglichkeiten des einzelnen, dessen Lebensführung negativ oder positiv verändern können. In diesen äußeren gesellschaftlichstrukturellen Lebensbedingungen richten sich einzelne und überwiegend in Haushalten lebende Familien und Familienreste ein. In der konkreten Formung und Orientierung der Lebensführung des einzelnen (bzw. Haushalts) wirken sozialstruktureHe Veränderungen richtungsweisend, ohne die individuellen Entscheidungen festzulegen. Die Steuerungsfähigkeit der individuel-

4. Selbständigkeit und Anspruchsverwirklichung

189

Jen Lebensführung wird daher zugleich subjektiv-individuell und objektiv-kollektiv ausgefüllt und begrenzt. Sind gesellschaftlich die produktiven Tätigkeiten der Menschen erfolgreich, so vergrößern sich mit dem gestiegenen Sozialprodukt die Handlungsspielräume der Gesellschaftsmitglieder. Von dem konkreten Verteilungsergebnis der vergrößerten Handlungsspielräume auf schichtspezifische Lebenslagen (s. Kap. 111, 2.) hängt es ab, inwieweit die, jeglichem direkten Zugriff des einzelnen entzogenen, strukturellen Lebensbedingungen als Begrenzung seines Handlungsspielraums erweitert, gleichgeblieben oder verengt wurden. Für den Eintritt von anerkannter Sozialhilfebedürftigkeit können oftmals einengende Veränderungen der äußeren strukturellen Lebensumstände festgestellt werden. Die Hauptursachen der Hilfegewährung sind unzureichende Versicherungs- und Versorgungsansprüche, Tod des Ernährers oder Ausfall des Erwerbseinkommens, Verlust des Arbeitsplatzes, Krankheit, unzureichendes Erwerbseinkommen. Auch in diesen Fällen reduziert sich die kognitiv-rationale Steuerungsfähigkeit des einzelnen nicht auf das Extrem von nur zwei möglichen Alternativen, so lange die oben als formal bezeichnete Chance zur Befähigung einer selbständigen Lebensführung besteht. Aus der Sicht des Einzelnen stellt sich rational und emotional zuerst das Problem, ob und unter welchen Bedingungen er das Ziel der staatlichen Hilfeleistungen (Befähigung zu Lohnerwerb) akzeptiert und verinnerlicht. Hinzu kommt das Problem, wie hoch die individuelle Bereitschaft und Fähigkeit ist, bzw. sich entwickelt, für eine Loslösung von der staatlichen Hilfe zu arbeiten. Hierbei kommt der Ausprägung psychisch-sozialisierter Selbstregulierungseigenschaften wie Willens- und Entschlußkraft, Optimismus, Ausdauer, Frustrationstoleranz, Zielstrebigkeit, Reflexionsfahigkeit, Neigungen, Temperament und dem Sich-Einrichten in der aushaltbaren Lebenslage besondere Bedeutung zu. Ausdrückbar sind diese selbstregulierenden, teilweise widersprüchlichen Steuerungseigenschaften mit den Kategorien Anspruchsniveau, Orientierungsbedürfnis und reale Nutzungsmöglichkeiten. Zur längerfristigen Sicherung der körperlichen Selbsterhaltung in industriellen Gesellschaften muß sich der einzelne einer Vielzahl von - im Verlauf seiner Lebensgeschichte wechselnden- zuarbeitenden Quellen versichern. Das, was von ihm als individuelle Bedürftigkeit wahrgenommen wird, ist ein um Verbindlichkeit ringendes Erwartungsgefüge, welches sich ausgesuchter Ressourcen, Zeit- und Tätigkeitsverfügungen, Sinngebungen und Zu- und Abwendungen vergewissern will. Das, was Verbindlichkeit erlangt hat, wird real angestrebt. Die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisorientierungen kann nicht unabhängig von den infrastrukturellen Gegebenheiten betrachtet werden. Das, was kurzzyklisch (Hunger, Durst), permanent (Atmung), periodisch (Schlaf) als körperlich überprüfbare Stö-

190

Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

rung, Steuerungsverlust und zu behebender Mangel erwartet und gefühlt wird, unterscheidet sich von Erwartungen an Unterkunft, Kleidung, Zu- und Abwendung etc.. Weil der konsumtive Besitz identitätsstiftend wirkt, bleiben die letztgenannten Erwartungen stärker unmittelbar bezugsgruppen- und bezugssystemebestimmt Gleichwohl kann individuelles Wohlbefinden weder in seiner Entstehung (der Herausbildung der Erwartungen und Ansprüche), noch in seiner Erfüllung (der Übertragung von Objekten und ihrem Genuß sowie dem Spiel der eigenen Kräfte), auf die Vor- und Herstellung der Objekte in deren materiellen und zugesprochenen sinngebungsmäßigen Zu- und Abwendungsformen verzichten. Die arbeitsteiligen Verdichtungen und Spezialisierungen der Produktion der Gegenstände und der Menschen (sexuell und konsumtiv) führten zum separierten Verbrauch und der Nutzung der Gegenstände und Menschen. Die zeitliche Entkopplung und geplante Neuzusammensetzung des zirkulären Prozesses von Produktion und Konsumtion ermöglicht erst vielfältige individuelle Wahlfreiheiten. Indem also Menschen Abhängigkeiten im Sinne der Zurverfügungstellung ihrer individuellen Vermögen zur zeitlich begrenzten Nutzung durch andere Menschen (bspw. Unternehmer, Trainer, Pfarrer) eingehen, produzieren sie Bedürfnisbefriedigungsmittel, über deren Verteilung und Nutzung gesondert zu entscheiden ist. Ressourcen, Zeitverfügungen und Tätigkeitsmuster, Sinngebungen und Zu- und Abwendungen werden Leistungsfähigkeiten zugesprochen, welche das Wohlergehen fördern, bzw. die Lebensvollzüge sichern und f oder erweitern, indem sie auf unterschiedlichen Niveaus Zuarbeit verrichten. Der Zuwachs an Erwartungen an die Objekte, d. h. das spezielle Erwartungsgefüge, welches der einzelne in Abhängigkeit von seiner Ressourcenausstattung, seinen Zeitverfügungskombinationen und Tätigkeitsmustern sowie Zu- und Abwendungsbalancierungen situativ und prozessual herausbildet und den Objekten sinngebungsmäßig zuspricht, zerfällt gesellschaftlich in kommerzielle, staatliche, selbsthilfedominierte und private Sphären und individuell in Anspruchsniveau, Orientierungsbedürfnis und reale Nutzungsmöglichkeiten. Das Anspruchsniveau richtet sich auf das Ausmaß, die Dauer und die Güte, d. h. die Leistungsfähigkeit der Zuarbeit, die man sich von den Objekten erhofft und verspricht. Die realen Nutzungsmöglichkeiten sind, weil es sich um privat erwerb-und nutzbare, öffentlich-marktlieh nutz- und erwerbbare Objekte (Ressourcen, Zeitverfügungen . . .) und gesellschaftliche Tatbestände(installierte Verkehrsmuster wie Bildungssystem, Verkehrsnetz) handelt, nur in ihrem Gebrauch und dem Vergleich mit anderen bestehenden Möglichkeiten beurteilbar. Das Anspruchsniveau ist Teil der inneren Quellen der Verhaltenssteuerung (s. Kap. V, Abb. Innere Bezugsquellen der Verhaltenssteuerung). Es setzt sich aus Sinngebungen und psychischen Zu- und Abwendungen zusam-

4. Selbständigkeit und Anspruchsverwirklichung

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men, welche als aktualisierbare Intensitätsgrade von Intentionen auf die Erreichung bzw. Verfestigung der Verfügung über Zeit, Ressourcen, Tätigkeiten und Zuarbeit gerichtet sind. Mittels des Orientierungsbedürfnisses werden die Relevanz, Ausprägungen, Dauer und Prioritäten (Grad der Wertschätzung) der als Wünsche, Phantasien, Utopien, Interessen etc. vorhandenen Bedürfnisse und Interessen verbindlich festgelegt. Der Besitz oder die Nutzung, Verfügung über die Bedürfnisbefriedigungsmittel unterliegt Voraussetzungen, Begrenzungen und Bewertungen. Das individuelle Anspruchsniveau gliedert sich in Ansprüche an sich selbst, an die Bezugsgruppen und an die Bezugssysteme. Ansprüche sind oftmals nur teilweise bewußt, insoweit auch nur teilweise dem Selbstkonzept zugänglich. Die unbewußten Ansprüche sind psychische Fixierungen, deren Verfestigung im Sozialisationsprozeß erfolgte. Sie beinhalten angeeignete Erfahrungen, Normen und Werte. Die bewußten Teile der Ansprüche sind Bestandteil des Selbstkonzepts, welches mittels oszillierender Abwägungen zwischen den von den Bedürfnisorientierungen strukturierten, gewichteten und kontrollierten Beständen an Erwartungen, Interessen, Motiven, Ideen etc. und den von außen herangetragenen und wahrgenommenen Anforderungen, Belastungen, Belohnungen, Verstärkungen, Nutzungsmöglichkeiten und Sanktionen vermittelt. Nicht alle Ansprüche besitzen so hohe Prioritäten, daß in geplanten Handlungen versucht wird, sie zu verwirklichen. Oftmals bleiben sie aufgrund der subjektiven Nachrangigkeit Utopien, Illusionen, Wünsche, Erwartungen, Anregungen oder Hoffnungen, zu deren Erfüllung nichts oder nur unadäquates unternommen wird. Die konkrete Befriedigung der Ansprüche und Bedürfnisse wird dem Selbstkonzept innerlich vorselektiert, gewichtet und strukturiert durch das Orientierungsbedürfnis. Dieses ist eine teils rationale, teils emotionale Triebkraft, welche ein homöostatisches Gleichgewicht erstrebt zwischen den Spannungen der lebensgeschichtlichen Erfahrungen, verinnerlichten Erwartungen über von außen gestellte Anforderungen, Verhaltenszielen und dem individuellen Wertegefüge. Es präsentiert somit die Richtung und Intensität, in der das Anspruchsniveau erstrebt wird. Es strukturiert die Zeitpunkte, Dauer, Art und Aufwand der Anstrengungen vor. Das Orientierungsbedürfnis wirkt auf die Auswahl der zu gehenden Wege, die Geschwindigkeiten sowie Bindungsenergien, welche zur Erreichung der Ziele und der Abwehr von Vermeidungsstrategien und Verdrängungsmechanismen aufgewendet werden. Mißlingt dem Selbstkonzept die Selektion der zur Zielerreichung effektiven sozialen Aktivitäten und/ oder werden zur Zielerreichung ungeeignete Aktivitäten hoch bedeutsam. liegt Verdrängung. Mystifizierung, Kompensation oder Selbstverwirrung vor. Der Verlust der Steuerungsfahigkeit kann daher im Individuum verschiedene Ursachen haben. Der Verlust des Realitätsprinzips tritt ein, wenn das Orientierungsbedürfnis Ansprüche mit hoher Priorität ausstattet, die real nicht verwirklichbar sind und die vom Selbstkonzept aktiviert werden.

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Kapitel li: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

Eine andere Ursache ist in der Unlust zu erkennen, wenn den Menschen die Wege der Rückgewinnung der Steuerungsfähigkeit zu beschwerlich sind. Anspruchsniveau und Selbsteinschätzung sind gleichgewichtig ausbalanciert, wenn die aktuelle Verfügung/Nutzung überj von Bedürfnisbefriedigungsmitteln mit dem Anspruchsniveau übereinstimmt. Wenn das Erreichte mit dem Angestrebten übereinstimmt, besteht Zufriedenheit. Die Selbsteinschätzung zeigt bei Nichtübereinstimmung von Angestrebtem und Erreichtem die Differenz, den Stand (und die Fähigkeit zur Selbstreflexion) an. die zwischen realer Verfügung über Bedürfnisobjekte und dem angestrebten Niveau an Bedürfnisbefriedigung gesehen wird. Sie gibt Auskunft über Erfolg, Mißerfolg und Veränderungen in der Realisierung des Anspruchsniveaus und der Nutzungsmöglichkeiten. Obersteigerte bzw. untertriebene Selbsteinschätzung liegt vor, wenn die Beurteilungsfähigkeit der aktuellen Verfügung über Bedürfnisobjekte hinsichtlich einzelner Objekte oder insgesamt gestört und damit unzutreffend ist. Welche Gegenstände erworben (eingetauscht, genommen). welche Tätigkeitsmustererlernt und ausgeübt, welche Zu- und Abwendungsbalancierungen eingegangen, welche Sinngebungen übernommen werden hängt nicht nur vom Anspruchsgefüge ab, sondern auch von den Darreichungsformen, den äußeren Arrangements, in welchen die Zuarbeit angeboten bzw. wahrgenommen wird. Es bestehen strukturell unterschiedliche und partiell separierte Angebotsstrukturen und eroberte Freiräume. Die individuellen Ansprüche verändern sich mit den Veränderungen im eigenen Lebenszyklus vom Kleinkind bis ins hohe Alter und den Veränderungen der Realitätssegmente. Wenn über den Umweg des Gelderwerbs Ressourcen oder Zuarbeit gesichert werden, erfolgt dies normalerweise im Ablaufvon herrschaftsregulierter Leistungs- und Gegenleistungserbringung. Der Output der zeitlich befristeten Arbeitsvertragsverhältnisse berechtigt in arbeitsteiligen Gesellschaften alle Beteiligten zum Auftreten auf dem Markt als Nachfrager von als Waren angebotenen Ressourcen und Zuarbeit. Der Erwerb des atomisiert Angebotenen unterliegt keinerlei Separierungen, wenn man den Preis bezahlen kann (Ausnahme Waffen). Es herrscht Chancengleichheit. Die wichtigen Separierungen bestehen außerhalb, vor und nach dem Kaufakt. Die formale Gleichheit der qualitativ verschiedenen Waren auf den Märkten ergibt sich als zirkuläres Ergebnis von separiert organisierten Vereinigungen, in denen Menschen Erwerbsarbeit verrichten. die außerhalb dieser Herrschaftsorganisationen als einzelne und als Haushaltsmitglieder existieren. Sie führen insoweit eine Doppelexistenz. Als käufliche Ware Arbeitskraft erbringen sie in zwangskollektivierten Formen Arbeitsleistungen, von deren Ergebnisanteilen sie als einzelne auf den Märkten Waren zur Existenzsicherung erwerben können. Weil sie aber außerhalb der Erwerbsarbeitssphäre in Haushalten und weitgehend freigewählten

4. Selbständigkeit und Anspruchsverwirklichung

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Bezugsgruppen leben, regulieren sie vorwiegend ihr Verhalten weniger als einzelne und mehr als Mitglieder von Haushalten und von Bezugsgruppen. Die in der Abb. 13 aufgeführten Lebensbereiche, auf die sich Ansprüche richten und in denen Ansprüche verwirklicht werden, ließen sich interpretieren als hierarchisch differenzierte Möglichkeiten der Befriedigung von Bedürfnissen. Als in Kombinationen auftretende Absichten und erreichte Zustände sind sie jedoch aus der Sicht des einzelnen nach Form und Qualität von denjeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Entwicklungszuständen abhängige, variierende Muster erstrebter Lebensgestaltung. Die Hierarchiethese nimmt an, daß es eine Hierarchie menschlicher Grundbedürfnisse gibt, wobei zur Befriedigung der niederen, zum Oberleben notwendigen Bedürfnisse weniger Voraussetzungen erfüllt sein müssen, als bei den höheren Bedürfnissen. Maslow, als bekanntester Vertreter der Hierarchiethese, unterscheidet in aufsteigender Linie folgende fünf Grundbedürfnisse: physiologische Erhaltung der Existenz; Sicherheit und Angstabbau; Zugehörigkeit und Liebe; soziale Anerkennung; Selbstverwirklichung (Maslow 1954). Nach seiner Sichtweise können die höheren Grundbedürfnisse erst nach der Erreichung der niederen Bedürfnisse befriedigt werden. Scherhorn ( 1971) hat dagegen eingewandt, daß sich die Beschaffung von Bedürfnisobjekten im Sinne von Verlagerungen ändere. Erfolgte in früheren Zeiten die Befriedigung der Bedürfnisse weitgehend ohne Marktvermittlung und öffentliche Leistungen, so findet seit der Industrialisierung die Bedürfnisbefriedigung zunehmend über die Vermittlung von Märkten und staatlichen sowie verbandliehen Organisationen statt. Die Verlagerungsthese behauptet insbesondere, daß im Prozeß der Arbeitsteilung und Technisierung vorhandene Bedürfnisse und Verhaltensdispositionen aufgrund von Sättigungen, Aufstockungen, Anreicherungen auf neue Objekte gerichtet und dadurch neu kombiniert werden (Scherhorn 1982, 293 ff.). Wenn die Art und Weise des Erwerbs, der Nutzung und Verteilung von Ressourcen, Tätigkeiten und der Zeitverbringung geändert werden, schlägt sich dies nieder in neuen Lebensstilen, Anforderungen, Aufgaben und Institutionen zur Reproduktion der Gesellschaft. Beides geschieht gleichzeitig. Die Einführung neuer Techniken, die Ausdifferenzierung der Wirtschaftssektoren, der Bildungsinstitutionen, der staatlichen Aufgaben und Verwaltungsbereiche etc. verlagert mengenmäßig bestehende Kombinationen von Anspruchsniveaus und produziert neue Bedürfnisse, welche den erwirtschafteten Reichtum und gesellschaftliche Regelungsmuster zur Voraussetzung haben. Es genügt nicht, Anspruchsniveaus und selbständige Lebensführung auf der individuellen Ebene zu analysieren, weil dabei die Lebensbereiche und die in ihnen geltenden Entscheidungsverhältnisse, die vorstrukturierten Wahl- und Nutzungsmöglichkeiten, Herrschaftsverteilungen, Unsicherheiten und Normen nicht in das Blickfeld geraten. Das Verhalten der Menschen 13 Schäuble

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Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

in der GeseJischaft ist eingebunden in traditionale unhinterfragte und bewußt-reflexiv geschaffene Aktionsräume und Institionen, welche durch ihre Macht in der Lage sind, Verhalten und Handlungen selbstbestimmter Regulierung zu überlassen, zu verordnen, zu kontrollieren und zu unterbinden. "Zu den bestimmenden Größen der Entscheidungsverhältnisse gehören der Stand der technischen Entwicklung, das Rechtssystem, die Verteilung von Eigentum und Macht, die sich daraus ergebende Organisation der Produktion und der Verteilung, die Existenz von Klassen, um die wichtigsten zu nennen." (Matzner 1982. 37)

Wenn von der Verlagerung von Ansprüchen, deren Prioritäten und Neukombination die Rede ist, müssen auch die gesellschaftlichen Institutionen und Aktionsräume thematisiert werden, welche davon betroffen werden, sei es, daß sie untergehen, neu entstehen, gestärkt werden oder sei es, daß sie strukturierend eingreifen. Für den Fortbestand auf dem Besitzindividualismus gegründeter marktwirtschaftlicher Systeme ist die Erhaltung der Stabilität von vier Basisinstitutionen unerläßlich: Das Eigentum an Produktionsmitteln; der freie Arbeitsvertrag; Märkte für Geld, Kapital, Investitions- und Konsumgüter und Arbeitskräfte; und der Staat (Müller u. a. 1978; Matzner 1982). Dem Staat, verstanden als Gesamtheit der Gebietskörperschaften, kommt hierbei die Funktion zu, die Stabilität der geseJlschaftlichen Verhältnisse zu sichern, indem er die Voraussetzungen schafft für deren weitere Entfaltung und die Institutionen und Verkehrsformen konserviert, deren Entwicklung abgeschlossen ist (Matzner 1982, 54). Da die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft ohne die Expansion des Kapitals nicht längerfristig gewahrt werden können (Profit/Rendite als Existenzbedingung von konkurrierenden V nternehmen), erweist sich die Verlagerung der Ansprüche als eint! weitgel•end unbeabsichtigte, dynamische Strukturierung der Relationen und der Verteilung von Nutzenchancen in dem Gefüge von privater Selbsthilfe, Markt- und Staatssektor sowie dem Sektor nichtkommerzieller Unternehmen, Vereine, Initiativen. Prinzipiell können die Verlagerungen zwischen den einzelnen Sektoren Prozesse der gegenseitigen ErPänzung, Ersetzung, Blockierung oder Entwid Iungen ohne wechselseitigen Einfluß auf die Anspruchsniveaus und deren Befriedigung beinhalten Ein unabwendbarer Lebensdruck entsteht aus Wirkungen, bei de1 en Konstitution die Bezugsgruppen nur atomisierte Ele111ente der Zuarbeit sind. Mit der industriellen Trennung der Produktion in Sektoren (Landwirtschaft, Industrie, Dienstleistungen) verändern sich nicht nur die Anzahl und räumlichen Anordnungen der körperlich erreichbaren Orte, auch der Aufwand, um sie zu erreichen, steigt an (Henseler/Rüsch 1978; Kastner/Lammers 1979). Bedeutsam ist, daß in den verdichteten städtischen Aktionsräumen, den einzelnen sozialen Orten, die Spezialisierungen der Gesamtgesellschaft genauso widerfahren wie dem einzelnen Menschen. Die Orte, von denen aus

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Zuarbeit für die eigenen Lebensvollzüge geleistet werden kann, bzw. von denen aus der einzelne Zuarbeit für andere leistet oder empfängt, werden mehr und in ihren Gelegenheiten spezieller ausgerichtet. So kommt es, daß die Vielfalt spezialisierter Waren, sozialer Orte und Tätigkeitsmuster die Menschen bereichert, indem ihr materielles und geistiges Niveau an Beherrschung über Zuarbeit gehoben wird, aber auch, daß die Belastungen steigen, welche mit der Wahrnehmung der Chancen und der Orientierung und zufriedenstellenden Balancierung des Verhaltens verbunden sind. Im Unterschied zu den atomisierten Waren toter, gegenständlicher Art bleibt der Mensch an lebenszyklische soziale Phasen gebunden. Die Belastungen, welche die äußere Natur erfährt durch die Produktion, die Verteilung. den Transport und Kon'ltm der Waren, müssen kollektiv getragen werden. Das tägliche Hin- und Herschieben der Menschen in sich überschneidenden, trotzdem bezugsgruppenspezifisch separierten Aktionsräumen, charakterisiert die Dominanz der dinglichen Warenwelt. Die einzelnen Menschen folgen den kollektiv produzierten, komplexen Warenwirtschaftswegen nach, differenzieren sie weiter aus, verlieren sich dabei in Details, deren partielle Selbstregulierung von vielerlei Quellen gespeist wird und die überwiegend kollektiv von Vereinigungen verwaltet werden. Zur Eigenverfügung bleibt immer noch viel übrig. Einen Privathaushalt zu unterhalten ist heute leicht möglich, ohne Hausangestellte zuarbeiten zu lassen. Die technischen Dienste, von der Alarmanlage über die Waschmaschine bis zur elektrischen Zitronenpresse, die kommunalen Leistungen wie Müllabfuhr, Wasser- und Stromversorgung oder andere staatlich organisierten Dienste wie Radio, Telefon, Fernsehen, Polizei, Erziehungswesen, Politik erleichtern das unmittelbare Leben soweit, daß selbst ein einzelne,rmit viel Luxus gut über die Runden kommen kann. Das ist wohl das Ziel aller organisierten wirtschaftlichen, auch staatlichen Zuarbeit: Einzrlne Menschen hervorzubringen, die wie Robinson auf der Insel leben, d . h. jederzeit in ihrem Privatleben hinter sich die Türen zur Welt zumachen können. Der Preis dafür ist die Teilung des Tages, der Wochen . . . in einerseits Zeiten der betriebsamen Hektik, des Gedränges, der Konkurrenz in der Erwerbsarbeit und andererseits der privaten Organisation des Haushalts und des Lebens in privaten Bezugsgruppen. Weil die Arbeit im privaten Haushalt, die Reinigung, Instandhaltung der Räume und der Kleidung, die Lebensmittelversorgung und Nahrungszubereitung, die Neuanschaffung und Wiederbeschaffung von langlebigen Gebrauchsgütern, die Aufzucht der Kinder etc. dennoch umfangreich und anstrengend bleibt, arheiten die meisten Frauen im Haushalt. Die Gründe auf traditionelle Verharrung oder Benachteiligungen in der Erwerbssphäre zu schieben, ver~ kennt, daß nach wie vor die Geborgenheit häuslichen Wohlbefindens für die meisten Einzelmenschen nur im haushaltsspezifischen Kleinfamilienleben herstellbar ist. Dort sind gesellschaftlich den herrschaftsdominierten Ver~ dichtungenund Spezialisierungen räumlich Grenzen gesetzt. Sie gehen aber 13°

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Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

dennoch weitrr, weil die räumliche Anordnung und die funktionale Vielfalt im intimen familiären Aktionsraum fast aller Gelegenheiten beraubt wurde, welche den früheren sozialen und produktiven Reichtum ausmachten. Die Treue ist sexual-spezialisiert, die Zuverlässigkeit auf eine, zwei Personen begrenzt, die Kontinuität im Familienzyklus zerstört, weil die Alten abgeschoben werden und die Jungen abwandern. Was treibhausmäßig blüht, ist die Gewißheit, Ruhe zu haben vor all den äußeren Anforderungen und Bedrängungen, sowie, zumindest ideologisch, das Monopol sexueller Aufmerksamkeit der Ehepartner und zeitweise die Nähe zu den sich ausbildenden Kräften neuen Lebens in der Kinderaufzucht. Nun spricht nichts gegendenGenuß treibhausmäßig geförderter Ansprüche. Wichtig ist, zu wissen, daß die herausgebildeten Erwartungsgefüge an das eigene Wohlbefinden einerseits auf aktuelles und zukünftiges Handeln strukturierend wirken und andererseits jeden zum Sklaven der erwarteten und tatsächlichen bezugsgruppenspezifischen und öffentlich zugänglichen Handlungszusammenhänge und der dort dominierenden Wert-Normgefüge machen, weil nur dort bzw. in den eigenen Phantasien, dieses Wohlbefinden situativ und prozessual herstellbar ist. Wenn einzelne zuarbeitende Quellen weniger abgeben oder gar ganz versiegen, andere angestrebte ausfallen oder g~ringer als erwartet leistungsfähig sind, so daß Zuarbeit neu reorganisiert werden muß, womöglich auf einem Niveau schon überwundenen Wohlbefindens, entstehen außerordentliche Belastungen. Weil die Existenzweise in industriellen Gesellschaften aufgrund der Spezialisierungen auf sehr vielen infrastrukturell geordneten und institutionell und/oder organisiert verwalteten zuarbeitenden Quellen beruht, ist das Versagen oder Nichteinhalten organisierter bzw. institutioneller Versorgungs- und Dienstleistungen besonders ärgerlich. Der einzelne fühlt sich betrogen, wenn die erworbenen oder zugewiesenen Mitgliedscharten zur Existenzsicherung untauglich werden, wenn Inflation, Mietsteigerungen und Arbeitslosigkeit das Haushaltseinkommen schmälern. In der Regel ist es dann nicht mehr möglich, durch Erweiterung der privaten Haushaltsproduktion die geschwundenen Marktchancen auszugleichen. Industrielle Gesellschaften sind nicht nach den Regeln von Konsens suchenden und - wahrenden Gemeinschaften organisiert. Ihre vorwiegend institutionalisierten Konfliktregulierungsmuster zielen nicht auf Versöhnung und Aufnahme der Minderheiten oder Abweichenden in die Mitte des Zusammenhalts. Spezialisierte Produzenten von Sinngebungsmustern (religiöse, wissenschaftliche, alltägliche. massenmediale etc.) konkurrieren um Marktanteile. Sie lassen Eintracht und Vereinigung gegenseitiger Ansprüche nicht zu. Der einzelne Lohnabhängige, die Hausfrau, bleiben gegenüber gesellschaftlich relevanten Entscheidungen unmündig, hilflos und einflußlos. Weil in komplexen arbeitsteiligen Gesellschaften die Entscheidungs-

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kompetenzen in den Zentralen und an den Spitzen der Hierarchien konzentriert sind, bleiben die Außenseiter schikanierbar. Sie brauchen nicht gehört zu werden. Sie müssen selbst sehen, wie sie zurecht kommen. Allenfalls können sie mit der Wut der sozialökonomisch integrierten Mitglieder und überproportionalen Streichungen bei den zuarbeitenden Quellen rechnen, die von den Zentralen und ihren Gefolgscharten verwaltet werden. Weil die ganzen Bemühungen in der Erwerbsarbeit, in der Politik, vorwiegend auch der Kultur, auf individualisierte Entgeltung und Leistungsanerkennung zielen, führt die Verfolgung altruistischer Verhaltensziele zur Reduzie~ rung der Eigenverfügungen. Menschen, die freiwillig verzichten, bekommen Randmitgliedscharten zugewiesen. Aus gesellschaftlicher Sicht stellt sich die Verlagerung der Ansprüche in Anlehnung an Matzner wie in Abb. 13 dar. 8 Das in privater Selbsthilfe organisierte Leben in Primärgruppen (Familie, Haushalt, z. T. Verwandtschaft), wird durch die Auslagerung von produktiven, dienstleistenden und konsumptiven Funktionen, durch kommerzielle Unternehmen und den Staat entwertet. Zugleich schafft die kapitalistische Expansion durch Marktüberschüsse und Rationalisierungserfolge freiverfügbare Zeit, welche zunehmend eine relative ökonomische Überbevölkerung und das Problem schaffen, welche Wertschätzung die Freisetzungen füc die relative Überbevölkerung erfahren kann und inwieweit vom Markt nicht befriedigbare Bedürfnisse wieder in den privaten Selbsthilfesektor eingeführt werden können. Der expandierende Marktsektor, dessen Entwicklung von privat- dezentralen Unternehmensentscheidungen und staatlichen Interventionen reguliert wird, erweitert die nur geldwirtschaftlich zugänglichen Lebensbereiche durch die Steigerung der Vielfalt, Menge und Kombinationen von privat erwerbbaren Ressourcen und Tätigkeiten und der Einführung neuer Produktionsverfahren. Der Erlös der Beteiligung am Erwerbsleben verschafft dem einzelnen die Möglichkeit, Kombinationen von existenznotwendigen und gehobenen Bedürfnissen befriedigen zu können. Zugleich nimmt der Bedarf an infrastrukturellen Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der Marktwirtschaft, welche diese nicht aus sich heraus produziert, zu. Diese Aufgaben werden aufstaatliche und nicht kommerzielle Organisationen abgeschoben, weil sie Kollektivgutcharakter (wie Straßen, Bildung, Gesundheit, innere und äußere Sicherheit) besitzen, oder profitwirtschaftlich nicht zu erbringen sind. Die Abhängigkeit des einzelnen Menschen von dem Marktsektor verstärkt sich mit der Entwertung des privaten Selbsthilfesektors. Die Verlagerung der Bedürfnisbefriedigung durch die Vermittlung des Marktsektors auf besitzindividualistisch begrenzte Möglichkeiten kann längerfristig nur dann 8 Im Unterschied zu Matzner zählen wir die privaten Haushalte (Familien, Verwandtschaft, Wohngemeinschaft) nicht zum Nonprofitsektor.

NOi,PROFITSEKTOR

Private Nonprofitorganisationen, Nachbarschaftshilfen,Genossenschaften,gemeinnützige Vereine und Verbände , Bürgerinitiativen wirken zur Befriedigung von Gemeinschafts- und Gruppenbedürfnissen. Illegale Handlungen

UlWeltpol.

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Sozialpolitik S T A A T S S E K T 0 R

individualisierte Entscheidungsverhältnisse mit marktvermittelter Regulierung von Produktion,Verteilung,Nutzung und Verbrauch von Ressourcen, Zeit und Tätigkeiten. Zugang zu knappen Mitgliedschatten wird durch Arbeitsverträge nach Angebot/Nachfrage geregelt. Abhängig Erwerbstätige unterliegen der zeitlichen Kontrolle der Kapitaleigner bzw. deren Gefolgsleute

MA R K T S E K T 0 R

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öffentlich-rechtliche und staatliche Regulierung und Koordination des gesellschaftlichen Verkehrs, zur Sicherung der Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Entwicklungsmöglichkeiten der Institutionen. Verfügung über ein hierarchisch abgestimmtes und arbeitsteilig spezialisiertes Geflecht von

Abb. 13: Sektorenspezifische Strukturierung von Ansprüchen

kommerzielle Unternehmen reduzieren z.T. mit staatlicher Unterstützung die Funktionen des Selbsthilfe- und Nonprofitsektors durch: - Erweiterung der Produktevielfalt und Produktkombinationen - Kommerzialisierung öff.Leistungen - Erweiterung nur geldwirtschaftlich zugänglicher Lebensbereiche

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4. Selbständigkeit und Anspruchsverwirklichung

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zu zufriedenstellenden Erfolgen führen, wenn es gelingt, vom Markt und dem Staat nicht übernehmbare Versorgungs- und Dienstleistungen dem Selbsthilfe- und Nonprofitsektor zu erh:1lten bzw. zurückzuführen (Matzner 1982, 180 f.). Der Staat, als mit einem differenzierten Verwaltungs- und Herrschaftsapparat ausgerüstete Zentralmacht, verfügt über die Monopole der physischen Gewalt, der Steuereintreibung und von Ausnahmen abgesehen (Kirchen/ Tarifrecht), über das Monopol der Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtskontrolle. Er sichert nicht nur die Basisinstitutionen materiell ab, sondern versucht das gesellschaftliche Leben mittels der Interventionen seiner Gefolgscharten umgreifend und dezentral zu regulieren und zu koordinie-ren. Die wesentlichen Staatsaufgaben sind die Herstellung innerer und äußerer Sicherheit; Schaffung von Einrichtungen und Bereitstellung von Leistungen in den Bereichen Verkehr, Energie, Bildung und Ausbildung, Forschung, Gesundheitswesen, Entsorgung und Kultur (lnfrastrukturpolitik); Sozialpolitik; Wirtschaftsförderung und Umweltpolitik (ebd. 124 ff.). Die europäischen Staatsformen sind aus politischen Ausscheidungskämpfen zwischen dem Adel und dem Bürgertum entstanden (Elias 1980). Der Staat setzt nach der Verdrängung des Adels aus dem Staatssektor die Rahmenbedingungen zur Regulierung des Kräfteverhältnisses zwischen den besitzindividualistischen Unternehmerinteressen und den kollektiven Interessen der Lohnabhängigen und reguliert und koordiniert unter Bereitstellung von Dienstleistungen und der Produktion von Ressourcen die Stabilität und Entwicklung der Basisinstitutionen. Die Entscheidungsverhältnisse im Staatssektor sind daher geprägt von Eigeninteressen des Staates wie der Sicherung des Gewaltmonopols, aber auch der Aufrechterhaltung der Funktionen und Entwicklungsmöglichkeiten der anderen drei Basisinstitutionen sowie den Bemühungen zur Erhaltung der Zustimmung der Bevölkerung zu den Leistungserbringungen und verhaltensinduzierenden Steuerungsmaßnahmen des politisch-administrativen Systems. Der Staat selbst steht unter Rationalisierungsdruck. Insbesondere die Aufgabe der Sicherung der FunktionsHthigkeit der Infrastruktur wirdangesichtsknapper öffentlicher Kassen schwieriger. Infrastrukturen sind ein Produkt arbeitsteiliger Verdichtung von Verhalten bei der Eroberung von Realität mittels innerer Adaption. Bekanntlich bewirken zeitlich durch Parallelisierung verdichtete Handlungsfolgen und deren organisatorische und technische Rationalisierung Hebungen der gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit. Gesellschaftlich läßt sich die partielle persönliche unabhängige Selbstregulierung nur herstellen, wenn die Quellen der Zuarbeit (Ressourcen, Menschen) zumindest für relevante Minderheiten (Staat, Eigentümer) freigegeben, individuelle Verantwortung für die eigene Existenzweise und die Nutzung der Quellen verliehen und zumindest für die Behebung existenzieller Schädigungen und Notlagen gesellschaftlich vorgesorgt ist.

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Da die Handlungen der einzelnen Basisinstitutionen Einwirkungen der anderen Basisinstitutionen unterliegen, findet die machtmäßige Beeinflussung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses um die Sicherung und den Ausbau der Verfügung über Ressourcen (Zeit und Tätigkeiten) als miteinander verflochtene herrschaftsgesteuerte Intervention statt. Die Verflechtung der Einflußmöglichkeiten und -Wirkungen der einzelnen Basisinstitutionen führt dazu, daß die Funktionszusammenhänge und die Disziplinierungstechniken des Marktes und des Staates einen Selbstzwang dahingehend bewirken, daß der Gebrauch physischer Gewalt auf die Randbereiche rechtIich sanktionierten abweichenden Verhaltens beschränkt werden kann (Matzner 1982, 65). Der gesellschaftliche Regulierungsbedarfhat aus Gründen der Unsicherheit der Wirkungen dezentraler besitzindividueller Entscheidungen und der gehobenen Leistungserbringungen erheblich zugenommen. Zur Beseitigung der Unsicherheiten, aber auch der Reparatur systematischer Funktionsmängel des Marktsektors wachsen dem Staatssektor neue Aufgaben zu. Ansprüche an die Leistungen und Ressourcen, welche von den öffentlich-rechtlichen und staatlichen Organisationen zur Entwicklung und Funktionssicherung der Wirtschaft, zur Nutzung bzw. Sicherung von Lebenslagen und -chancen bereitgestellt werden, beinhalten Reaktionen auf den Verlust von eigenständiger Existenzsicherung, aber auch Versuche, auf Kosten der Allgemeinheit leben zu können. Weil der Staat seine verfügbaren Ressourcen überwiegend aus den Abgaben des Marktsektors bezieht, muß die staatliche Politik, will sie die produktiven Funktionen des Marktsektors nicht selbst übernehmen, die Unternehmer in ihrer Politik begünstigen, um den ,Preis der Institutionen' bezahlen zu können (Vickers 1974). Seit einigen Jahren befindet sich die Bundesrepublik (nicht nur sie) in einer Situation wirtschaftlicher Stagnation, die von relativ beschleunigten technisch-organisatorischen Rationalisierungen in allen drei Wirtschaftssektoren begleitet ist. Da nach wie vor Chancengleichheit auf den Konsummärkten (jeder kann mit seinem Geld kaufen was er will) und (weniger) soziale Gerechtigkeit (formale Öffnung der Karrierewege für alle Leistungswilligen, Leistungsentlohnung und Kompensationen für Hilfebedürftige und Notleidende) nur verfolgt werden können, wenn die Wohlstandsmaximierungsmaschinen (private Unternehmen) genügend Aufträge erhalten und Profite machen können, hängt der Wert der Mitgliedsausweise dieser Gesellschaft vom Wirkungsgrad (Automatisierungsgrad) der Wirtschafts- insbesondere der Produktionsmaschinen und dem Verbrauch an Betriebsstoff (Aufträge, Subventionen, Investitionen) ab. Weil jedermann weiß, daß private Unternehmen primär als vererbbare Wohlstandsmaximierungsmaschinen von kleinen Minderheiten unterhalten werden, verspürt niemand große Lust, deren Reichtum durch Einschränkungen im persönlichen Lebensstil (höhere Steuern, Sozialabgaben, Geldentwertung etc.) und Subventionierung zu vermehren. Weil aber die Erwerbsarbeitssphäre die entscheidende

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Quelle zur Sicherung von Zuarbeit und damit der Existenzsicherung ist, müssen sich die Gesellschaftsmitglieder, einschließlich der Politiker dazu entschließen, zuerst den Spezialinteressen der Kapital-, Grund- und Vermögensbesitzer nach Infrastrukturen und Privilegierungen (lukrative Standorte, Subventionen, Steuererleichterungen etc.) entgegenzukommen. Auf diese Weise werden die besonderen Probleme einiger Privilegierter zu Angelegenheiten von allen. Nicht nur die individuellen Mitgliedschaften und daran gebundene Positionen in der Erwerbsarbeitssphäre werden wertlos, wenn die Gewinnaussichten der Unternehmer zurückgehen. Auch der installierten staatlichen Umverteilungs- und Sicherungsmaschine wird das Geld knapp. Dort besinnt man sich auf härtere Maßstäbe und versucht, die knappen Gelder auf noch sozial nützliche und gutorganisierte Vereinigungen zu konzentrieren. Die vielgelobte Infrastruktur (Bildungs-, Gesundheits-, Verkehrs-, Soziales Sicherungssystem... ), welche die Autonomie partieller individueller Selbstregulierung ungemein erhöt hat, zeigt nun die unbeabsichtigten Folgen treibhausmäßig verdichteter Individualisierung. Bislang hat die staatliche Politik den Selbsthilfesektor kaum beachtet und dessen Entwertung durch Begünstigungen des Markt- und Staatssektors vorangetrieben (Matzner 1982, 164 ff.). Wenn wir Veränderungen in den Ansprüchen und Bedürfnissen der Menschen feststellen und die Forderung nach selbständiger Lebensführung erfüllbar bleiben soll, muß die staatliche Politik auch gegen die Partialinteressen von privilegierten Minderheiten die Voraussetzungen schaffen, welche unter besitzindividualistischen Verhältnissen für eine selbständige Lebensführung unverzichtbar sind. Die Zulassung der Schließung von Arbeitsmärkten für Arbeitswillige und im Gefolge der sukzessive Entzug von sozialer Sicherheit für die Ausgeschlossenen bis auf die Sozialhilfe, bei Beibehaltung gröbster Ungerechtigkeiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung, läßt eine selbständige, geregelte Lebensführung nur noch bei denen zu, welche sich eine Mitgliedschaft in der Erwerbsarbeit gesichert haben oder über Verwandtschaftsbeziehungen daran partizipieren können. Bei der bestehenden Fixierung auf marktmäßig bzw. vom Staat regulierten Wirtschaftstätigkeiten, erhält der Nonprofit- und der private Selbsthilfesektor nur geringe Chancen zur Wertschöpfung. Die Aneignung der öffentlich gültigen Realitätssichtweisen enthält eine Reihe von Paradoxien. Obwohl rechtliche Gleichheit postuliert wird, werden empirisch Ungleichbehandlungen der Sanktionsinstanzen festgestellt 9 • Obwohl Partizipation und der mündige Bürger, also das Verhandlungs- und Selbsthilfemodell postuliert werden, dominiert in der Ökonomie und der Politik das HerrschaftsmodelL Mit der Ausgestaltung der Partizipationsmöglichkeiten, welche horizontale Formen der Teilnahme an und vertikale 9 Vgl. bspw. Boy/Lautmann 1979; Lautmann 1972; Peters 1973; Schumann j Winter I97 I; Arbeitskreis junger Kriminologen I975; Gössner I Herzog I982.

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Formen der Einflußnahme auf politisches, ökonomisches und kulturelles Geschehen und dort anzustrebende Ziele beinhalten, wird Herrschaft nicht außer Kraft gesetzt. Vielmehr erobern die alten Erb- und die neuen Funktionseliten verlorenes Terrain zurück, indem sie neue Mitgliederpositionen in ihre Herrschaftsgefüge einbauen, deren Nutzung und Inanspruchnahme die Übernahme der installierten Herrschaftsdelegationen voraussetzt. Ob es sich um passive Wahlakte oder der aktiven Einnahme von Interessenvertretungsfunktionen in Gemeindeparlamenten, bis hin zum Bundestag, in Betrieben und Unternehmen oder kulturellen Vereinigungen handelt, fast immer bleiben die zugewiesenen Entscheidungskompetenzen den rechtlich abgesicherten Erbprivilegien der Eigentumseliten oder staatlichen Instanzen nachgeordnet. Die Sozialverpflichtung des Gebrauchs von privatem Eigentum erweist sich im Bereich der Wirtschaft und der Politik als ein Besänftigungsmittel für organisierte Benachteiligte, deren Griff nach der Macht durch Ausgestaltung der Herrschaftsbeziehungen in nachrangige Parallelinstitutionen und sozialer Folgenbearbeitung kanalisiert werden und die den eigentlichen privaten Verfügungsbesitz nicht antasten. Obwohl Wohlstand für alle mit der zivilisierten Gesellschaft postuliert wird, bestehen massenhafte ökonomische Benachteiligungen (s. Kap. III). Indem die einzelnen die Mühen scheuen, sich gleichgültig verhalten, davon profitieren oder unfähig sind, die Ursachen solcher Paradoxien in ihren strukturell herrschaftsdominierten segmentierenden Realitätseroberungen zu sehen, erhält sich die Dominanz alltagsweltlicher oberflächlicher Interpretationen. Weil die erlebbaren bezugsgruppenspezifischen Realitäten gedeutet werden als lineare Komplexitätsreduktionen gesamtgesellschaftlicher Realität, bleibt deren strukturell widersprüchliche Problematik in den Oszillationen der Suche nach sinngebenden Harmonie-, Utopie- und religiösen Versöhnungsmodellen gefangen und damit unbegriffen. Eigenverfügtes Handeln ist in vielen Bereichen sachlich an gesellschaftlich sanktionsfahige Instanzen übertragen worden. Diese Überweisungen an staatliche und quasistaatliche Interventionssysteme legen einerseits für die gehobeneren und sicheren Mitgliedschaften neue Aktionsräume frei, andererseits zerreißen sie gewachsene Lebenszusammenhänge, indem sie nach den tayloristischen Prinzipien der Zerstückelung, Parallelisierung und Reorganisation der Arbeitsprozesse Kompetenzen und Verantwortlichkeiten hierarchisch abstufen und damit eine anonyme, in Segmente zerfallende, Infrastruktur schaffen. Subjektiv zuständig sind die Einzelnen nur noch für abgezirkelte private, erwerbsarbeitsmäßig und interessenorganisatorisch mitgetragene Vereinigungen. Geschädigt wird die Gesamtbevölkerung als sozialer Lebenszusammenhang und insbesondere die in Randmitgliedschaften abgedrängten Gesellschaftsmitglieder, deren Existenzsorgen als spezifisch besondere (Drogen, Alkohol, Alter, Kriminalität, unvollständige Familie, Armut, Prostitution, Behinderung, Homosexualität, Arbeitslosigkeit etc.), beziehungslos

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und parzelliert verwaltet werden. Wer wirklich von der Symptomkurrierung und -verwaltung zurück will auf die Ursachen der Herauslösung sozialer Probleme aus den körperlich erlebbaren Lebensbereichen und sie beseitigen will, muß gesellschaftlich die infrastrukturell organisierten Beziehungen von befreienden und anstrengenden Zuständigkeiten, von erleichternden und mühevollen Verantwortlichkeiten zwischen individuellen Freiheiten und delegierten institutionellen Zuständigkeiten in den Bezugsgruppen neu organisieren. Das wesentliche Hindernis dieser Reorganisierung ist die heutzutage gelebte und propagierte individuelle Teilung der Tage und Nächte in Erwerbsteile und privates Leben. Wenn das Prinzip individuell freier Wahl beibehalten und zugleich versucht wird, die soziale Kontrolle und Verantwortung für den anderen in die individuellen nächstliegenden sozialen Lebenszusammenhänge gesellschaftlich zu vertiefen und zu intensivieren, stößt man auf eine neue Paradoxie: Herrschaftsdominierte Verhaltenssteuerung beinhaltet Konkurrenz und Kampf um Herrschaft und ihre Sicherung. Auch wenn Leistung und Gegenleistung, Förderung und Schädigung gegenseitig akzeptiert werden, bleibt immer eine ungleichgewichtige Balancierung von Fremd- und Eigenverfügungsanteilen bestehen. Die Partizipationschancen des Herrschaftsunterworfenen sind immer - auch wenn er mangels Bedarfs oder Intervention aktuell nicht oder nur passiv in den Leistungsbeziehungen steht - strukturell geringer als die der Fremdverfüger. Während also das Prinzip der separierten bürokratisch-interventionistischen Bearbeitung aller möglichen Arten abweichenden Verhaltens und sozialer Probleme mittels institutionell herrschaftsdominierteT Verhaltenssteuerung für alle Durchschnitts- und privilegierten Gesellschaftsmitglieder reale Lebenserleichterungen bringt, weil sie sich allenfalls professionell damit befassen müssen, beinhaltet sie mit der Herrschafts- und Verantwortungsdelegation an verwaltende Interventionssysteme, welche speziell für aussortierte, als problematisch, d. h. spezifisch normabweichend und negativ auffällige und hilfebedürftige Menschen zuständig sind, den Abbau sozialer Integration, bezogen auf die gesamte Gesellschaft und die Aufrechterhaltung minoritätsschädigender Leistungsbeziehungen. Solange der Ressourcenfluß für sozialökonomisch integrierte Mitglieder reichlich fließt, können diese sogar für den Abbau diskriminierender Zustände eintreten. Wenn die Ressourcenströme aber knapper werden und die Flucht in die Sachwerte zunimmt, erweist sich die strukturelle Abschiebung und separierte Verwaltung der Abweichenden integrationserhöhend innerhalb der Mittelschichten. Die Reorganisation von persönlich umgreifendeT Verantwortung und Zuständigkeit füreinander über die Kleinfamilie und die Bezugsgruppen hinaus bringt den Zwang zu stärker altruistisch organisierten Lebenszusammenhängen. Herrschaft ist dann nur noch funktional als zustimmungspflichtige Kompetenzverteilung auf Zeit ohne die Vergabe struktureller Vormachtstellungen und ererbter Mitgliedschaften erlaubt. Weder die herr-

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schaftslegitimierenden Ansprüche der Experten, der Parteien noch der fremdverfügenden Eigentümer von Produktionsmitteln (Kapitalisten, Vermögende) oder Sinngebungen (Kirchen, Parteien, Medien, Wissenschaften, Gerichte, Staat) auf privilegierte Dienstleistungen und Bevorzugungen, die nicht funktional begründet sind, könnten geduldet werden. Das Leben würde dann auf jeden Fall für viele, vielleicht die Mehrheit der Bürger, aufgrundder breit gestreuten Verantwortung und Entspezialisierung wieder anstrengender, erschwerender werden. Wer will schon die gewohnten Freizeitvergnügungenaufgeben zugunsten der Aufnahme in die eigenen Lebenszusammenhänge und der Verdichtung der Interaktionen mit straffällig Gewordenen, mit Armen, Waisen, Heimzöglingen, senilen Alten? Sowohl die angestellten und besonders die beamteten Gefolgschaften des Staatsapparates, die Partei- und Verbandsmanager als auch die erst in den letzten Jahren massenhaft professionalisierten Sozialpfleger, -arbeiter und pädagogen haben massive, freilich berufsegoistische Ressourcen- und statussichernde Interessen an der Aufrechterhaltung von separiert kontrollierten, nur ihren Professionen vorbehaltenen Aktionsräumen, in denen die Betreuten zu ihrer partiellen Selbstregulierung auf fremdverfügende Hilfen angewiesen sind . Reorganisationen der Lebenszusammenhänge, welche auf altruistische, selbsthilfedominierte Verhaltenssteuerungen in komplexen Gesellschaften zielen, müßten Kontrollinstanzen besitzen, die privilegierende Vorteile, wie sie die gegenwärtigen Ieistungs-, vererbungs-und herrschaftsdominierten hierarchischen Mitgliedschaftszu- und Verteilungen aufweisen, verhindern können. Abweichend wären dann statt der Behinderten, Hilfebedürftigen und in Notlagen geratenen, der Alten und ökonomisch Schwachen, Kinderreichen etc. die Egoistisch-Brutalen, Schwäche und Hilfsbedürftigkeit vortäuschenden, die aggressiv um Privilegierung Kämpfenden, die Simulanten, diejenigen, welche ihre Tätigkeiten und Leistungen und deren Belohnung und Bewertung sowie die Zu- und Abwendungen nicht von den Gruppendefinitionen mitbestimmen lassen wollen. Es müßten mit staatlich finanzierten Anreizen und wohnbauliehen Förderungen nachbarschaftliche Gemeinschaften gegründet werden, welche Behinderte, Alte oder Menschen mit mißbilligten Verhaltensweisen aufnehmen, patenschaftlieh stützen und damit auf Versöhnung zielende Integrationsmaßnahmen verwirklichen. Eine attraktive Utopie? Eine derartige Forderung ist natürlich utopisch und zugleich konservativ in einer Zeit, in der individuelle Leistungsfähigkeit und Tüchtigkeit die persönlichen Leitbilder begründen. Es ist ja gerade das Ziel politischer, schulischer, kultureller und der Erwerbsarbeitsbemühungen, den mündigen, nur von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen begrenzten und gesicherten einzelnen, unabhängigen Staatsbürger hervorzubringen und zu reproduzieren. Die Freiheit von nachbar- oder verwandtschaftlichen Abhängigkeiten und die formale Freiwilligkeit und lediglich vertragliche

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Verbindlichkeit aller einzugehenden Bindungen und Trennungen sind ja Essentials zivilisierten Lebens. Statt persönlich vorgegebener ständischer Fixierung und Sicherung der Lebenslage, sollen für die Vereinzelten infrastrukturelle staatliche und kommerzielle private Organisationen die berufliche und soziale Sicherung gewährleisten. Die gegenwärtigen Formen der Zuarbeit, auf die ja alle Menschen zu ihrer Existenzsicherung essentiell angewiesen sind, zielen gegenwärtig auf die Minimierung der personalen Abhängigkeiten, wobei die gesellschaftlichen Ungleichheiten (Einkommen, Bildung, Status etc.) sozial gerecht sein sollen. Die privaten Nonprofitorganisationen (s. Abb. 19) wie Nachbarschaftshilfen, Genossenschaften, gemeinnützige Vereine, Schutzorganisationen wie Technisches Hilfswerk, Rotes Kreuz, freiwillige Feuerwehren, Verbände, Bürgerinitiativen und Aktionsgemeinschaften bilden einen Sektor nichtkommerzieller Unternehmungen, in dem für die Befriedigung von Gemeinwohl-und/ oder Gruppenbedürfnissen gesorgt wird. Auch illegale Tätigkeiten. die hier als negativ bewertet werden, wie Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung, Drogenhandel, die mit der "Produktion und Transaktion von Gütern und Leistungen zu tun haben" (Matzner 1982, 165), zählen zu diesem Sektor. Die Leistungen des nichtkommerziellen Sektors wurden seit der Industrialisierung und insbesondere seit dem Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen bis in die siebziger Jahre durch den Markt- und Staatssektor reduziert. Die Finanzkrise des Staates, die Beschäftigungskrise, aber auch quantitative und qualitative Unterversorgungen von nur personalintensiv produzierbaren Ressourcen und personengebundenen Dienstleistungen (Baumoi/Oates 1975; 1979) sowie die Lohnarbeitszeitverkürzungen und die Arbeitslosigkeit lassen seit Mitte der siebziger Jahre den nichtprofessionalisierten Teil des nichtkommerziellen Sektors als Bereich von Bedürfnisbefriedigungen und Wirtschaftstätigkeiten wieder anwachsen (Matzner 1982, 168 ff.). Die vorübergehende, bei älteren Arbeitnehmern dauerhafte, Gefährdung des Reproduktionsniveaus, welche durch Unfälle, Krankheit, Dequalifizierung und Wirtschaftskrisen akut wird, ist ein Merkmal der arbeitsmarktbezogenen Gefährdung der Austauschbarkeil der Arbeitskraft. Die Minimierung der personalen Abhängigkeiten durch die Maximierung individuell erreichbarer Ziele ist nur dann vorteilhaft, wenn der damit verbundenen Unsicherheit, die richtigen Bildungs- und Berufswahlentscheidungen treffen zu müssen, ausreichende Chancen zur Verwirklichung der Handlungsoptionen gegenüberstehen. Wenn, wie gegenwärtig, ausreichend viele bereit und fähig sind, die gewünschten Leistungen (welche den Zugang zu Karrierewegen öffnen) erbringen zu wollen, aber diese Wege durch herrschaftsdominierte soziale Auslese im Marktsektor blockiert werden, erweist sich das Versprechen der westlichen Demokratien, die Rekrutierung von

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Kapitel li: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

Mitgliedern entsprechend den Handlungsoptionen der Bevölkerung zu ermöglichen. als nicht einlösbar. Mit der Stagnation oder gar dem Ausbleiben von Wirtschaftswachstum sinken die Chancen für die nachkommende und die ältere Generation. Erwerbsmitgliedschaften zu erobern und zu erhalten, welche einen stabilen oder gar steigenden Ressourcenfluß sichern. Der weitgehend akzeptierte Zwang, die Unsicherheit des eigenen Werdeganges zur Eroberung privilegierender Positionen zu nutzen. führt nicht mehr zum Ziel. Da die infrastrukturelle Versorgung, soziale Sicherung und Partizipationschancen und Informationsstände weitgehend mit der Zugehörigkeit zur sozialen Schicht gekoppelt sind (Wohngebiet. Lebensstile, Beruf, Bildung, Subkultur), müssen sich zunehmend Ansprüche an den Staat entwickeln, die Versorgungsdefizite und institutionellen Schranken zum Erwerb von Ressourcen und der Nutzung von Leistungen gerade für diejenigen zu beseitigen, welche am stärksten dadurch in ihren Entfaltungsmöglichkeiten behindert werden. Da die Akkumulations- und Konzentrationstendenzen des Marktsektors zunehmend freie Zeit produzieren (steigende Arbeitsproduktivität führt zu Arbeitslosen, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitszeitflexibilisierung), welche im Nonprofitsektor gesellschaftlich nützlich verwendet werden kann, sollte der Staat die Rahmenbedingungen des nichtprofessionalisierten Teils des Nonprofitsektors verbessern und Förderungsmöglichkeiten bereitstellen. Gerade weil die Arbeitsproduktivität personengebundener Dienstleistungen nur unwesentlich über den Einsatz technischer Mittel steigerbar ist, und diese Tätigkeiten deshalb im Verhältnis zu technisch substituierbarer Arbeit kostenintensiver werden (vgl. Baumoll Oates 1975), müßten Lohnarbeitszeitverkürzungen und Arbeitszeitflexibilisierung stärker mit Anreizen zu Tätigkeiten im Nonprofitsektor gekoppelt werden! Die Entscheidungsverhältnisse im Nonprofitsektor sind danach zu unterscheiden, ob die Tätigkeiten in kontrahierter und / oder professionalisierter Form ausgeführt werden, oder auf freiwilliger Beteiligung beruhen. Die bürokratisch, zum Teil zentralisiert betriebenen Teile des Nonprofitsektors tendieren dazu, Entgelte für ihre Leistungen zu verlangen, wodurch sie in die Abhängigkeit vom Staatssektor gelangen oder dem Marktsektor zurechenbar sind (Genossenschaften, Produktionskollektive). Die auf freiwilliger Beteiligung und Initiative beruhenden Vereinigungen, deren Leistungen und Produktionen nicht auf ökonomischen Gewinn- oder Machtkalkülen beruhen, werden in der Zukunft wachsende Bedeutung erhalten. Im Unterschied zum Staats- und Marktsektor hat ihr Verhalten, so weit es kollektiv betrieben wird, eine hohe Übereinstimmung in der Beurteilung der Handlungsziele zur Voraussetzung. Der jeweilige Konsens wird nicht über anonyme Instanzen oder Stellvertreter (Funktionäre) ausgehandelt, sondern über unmittelbare zwischenmenschliche Auseinandersetzungen ermittelt. Sollte der Nonprofitsektor, wie in den vergangeneo Jahren, einerseits Fundgrube für auf dem Markt verwertbare gehobene Leistungen und Ressourcen (wie

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Eheanbahnungsinstitute, professionelle Kultur- und Sozialarbeit, Therapieund Trimm-dich-Center), andererseits das Auffangbecken für unfreiwillig Arbeitslose bleiben, wird er notgedrungen die Erscheinungsformen der Armut ausweiten. Die negativeKumulationder Verwehrung von Erwerbsarbeitschancen wird alte Formen der Subsistenzwirtschaft (Gartenbau, Gelegenheitsarbeit) mit hohen existenziellen Belastungen wieder aufleben lassen. Es bestehen zwei Richtungen in der Herstellung von mehr Chancengleichheit, die auf die Verbreitung privilegierender Mitgliedscharten zielt. Der eine, lange Zeit erfolgreiche Weg, liegt in der Wachstumsförderung der Wirtschaft begründet. Mit der Steigerung des Reichtums sollen durch verstärkte Partizipation auch bislang Benachteiligte in den Genuß gestiegener, leistungsgerechter und sozialer Belohnungen kommen. Der andere Weg zielt stärker auf versöhnende Interaktionsverdichtung durch Förderung der Nivellierung der Chancen zur Verwirklichungverlagerter Ansprüche. Damit soll die Vielfalt an Gebrauchsmöglichkeiten der Zuarbeit von anderen und die Entwicklung selbstgewählter eigener Tätigkeiten für die Bevölkerung ausgeweitet werden. Privilegierung wird hier weniger als individuell erreichte, hierarchische soziale Distanz durch Einkommen und Berufstatus gesehen, sondern als zeitlich begrenzte Freistellung von der Erwerbsarbeit für selbstgewählte individuelle und vor allem soziale Aufgaben unter Weitergewährung eines Entgeltes, welches die Beteiligung am üblichen gesellschaftlichen Leben erlaubt (Rehn 1973; Krause 1982). Da, wie gezeigt, die Anspruchsniveaus mitwachsen und sich mit den wahrgenommenen Steigerungen und Senkungen der Lebenshaltung und -führung verlagern, differenziert sich der Armutsbegriff entsprechend der realisierten Vielfalt an individuellen und haushaltsspezifischen Konstellationen von angestrebten und erreichten Anspruchsniveaus und den individuellen sowie gesellschaftlichen Realisierungsmöglichkeiten. Oberhalb eines individualund haushaltsspezifischen Bereichs von Einkünften, Besitz und Vermögen, welche die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben als vollakzeptiertes Mitglied zulassen, besteht lediglich Anspruchsarmut. Sie kennzeichnet vor allem die ,.Armut" der sozialökonomisch integrierten Schichten (RS 4-Mitglieder). Sie ist der Bestandteil an gesellschaftlicher Ungleichheit, der zwischen deren Mitgliedern besteht und deren prinzipielle Einebnung sie nicht fordern. Die Anspruchsarmut kennzeichnet die Spannungsgefüge der ,relativ Benachteiligten' unter denjenigen, deren Existenzsicherheit und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gesichert ist. Sie resultiert aus absoluten und relativen aktuellen und/oder erwarteten Minderungen bzw. geringer als erwartet ausfallenden Bewegungen in der Einkommenserzielung, einer im Vergleich zu den Bezugsgruppenmitgliedern ungünstigen Chancenstruktur sowie haushaltsspezifischen Mehrausgaben bzw. Belastungen, denen die vergleichbaren Bezugsmitglieder nicht unterliegen. Mit der Ablösung der Zugehörig-

208

Kapitel li: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

keit von bestimmten Ressourcen zu exclusiven Personengruppen wurden schier unerschöpfliche Quellen von Ideen, phantasiegedrängten Realitätsproduktionen und Wünschen freigegeben. Da die VorstellunKen darüber, was den Lebenstil von sozialökonomisch integrierten Gesellschaftsmitgliedern (RS 4-Mitglieder) charakterisiert, sehr verschieden sind (z. B. Mittelklassewagen, akademische Bildung, Eigenheim, Weltreisen, teure Kleidung, gesicherte Existenz), bestehen vielfältige Erscheinungsformen der Anspruchsarmut. Selbst die Nutzer von Billigangeboten, welche jeden Pfennig umdrehen und die günstigsten niedersten Qualitäten kaufen (Flohmarkt, Second-hand-shops, Sperrmüll, Notschlachtungsmetzgereien, Butterfahrten) haben in gewissem Umfang alltägliche reale Wahlmöglichkeiten, so daß ihre Wunschträume und psychischen Rationalisierungen keineswegs auf Anhieb realitätsfremd sind. Die Freiheit, kaufen zu können, so weit das Geld bzw. die Kreditwürdigkeit reicht, erlaubt sowohl die Realisierung verschiedenster individueller Fetischierungen als auch die Obernahme von in der Werbung suggerierten Produktqualitäten wie: Marlboro = Freiheit und Abenteuer. Die mit dem massenhaft gestiegenen Lebensstandard geschaffenen vielfältigen Sinngebungsfreiräume bewirken, daß es dem einzelnen belassen bleibt, welche Zu- und Abwendungen, Identifikationen, Anerkennungen, Statusmerkmale er in die angestrebten bzw. erworbenen Besitztümer und Konsumgüter steckt. Die Anspruchsarmut wird zu einem konstitutiven Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Gleichwohl besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem hier präzisierten Begriff der Anspruchsarmut, dessen Definitionsbereich auf die sozialökonomisch integrierten Schichten der Bevölkerung begrenzt ist und der Armut derjenigen Menschen, die von der üblichen Lebensweise der sozialökonomisch Integrierten ausgeschlossen sind. Der Unterschied besteht darin, daß den ,echten' Armen die Ressourcen und die Anerkennung zur gesellschaftlich üblichen Lebensweise fehlen, somit die VoraussetzunKen zu der beschriebenen Anspruchsarmut nicht gegeben sind. Der Sinn dieser Unterscheidung liegt einerseits darin, der diffusen Vermischung verschiedener Sachverhalte zu begegnen, die sich in Sätzen wie ,auch der Reiche ist arm' oder ,jeder ist irgendwie arm' zeigen. Andererseits geht es darum, die Grenze aufzuzeigen zwischen der Armut, die ein zu beseitigendes soziales Problem ist und der (Anspruchs-) Armut, die gesellschaftlich tragbar ist. Wenn daher von überzogenen Ansprüchen der Sozialhilfeempfänger, von ausschweifenden und unkontrollierten Lebensformen der Armen die Rede ist, sollte man diese Unterscheidung im Auge haben. Das Anspruchsniveau der einzelnen Menschen existiert und entsteht nicht unabhängig von seiner Umwelt. Schon von klein auf finden in den privaten Beziehungsverhältnissen Vergleiche statt zwischen den Charakterzügen, Ausstattungen, Fähigkeiten etc. der Menschen. Diese Rivalitätsbeziehungen gibt es analog in der Lohnarbeitssphäre als Konkurrenzbeziehungen. Da im

4. Selbständigkeit und Anspruchsverwirklichung

209

tauschwirtschaftlich geregelten Bereich die Kaufkraft und das dahinterstehende Einkommen und Vermögen bestimmend sind für den Umfang der verfügbaren Bedürfnisbefriedigungsmittel, sind die Höhe und Sicherheit des Einkommens einerseits und die Verteilung der Ausgaben andererseits im Vergleich zu früheren Jahren, im Vergleich zu den Bezugsgruppen und zum Durchschnittshaushaltseinkommen zentrale Anzeiger für das realisierte Anspruchsniveau. Kommerzielle Interessenträger versuchen über Werbung, ,günstige' Zahlungsbedingungen für Massengüter u. a. ihre Waren als Symbole von Trägern hoher Anspruchsniveaus darzustellen. Doch die allgemein zugängliche Werbung täuscht. Anspruchsniveaus entstehen nach Bildungsstand, Alter, Gt:schlecht, Bezugsgruppenstandards, Schichtzugehörigkeit und der Interpretation der wahrgenommenen Änderungen der Standards. Die Erfahrungs- und Konsumhorizonte und realen Beziehungsverhältnisse werden weitgehend durch die Schichtzugehörigkeit begrenzt. Zwar gibt es Oberlappungen zwischen denen, die Hand- bzw. Kopfarbeiter sind, untereinander heiraten, ihre Freizeitaktivitäten teilen (bspw. Fußball, Basketball, Tennis, Golf, Reiten, Jagd, Hochseesegeln) und in denselben Stadtvierteln wohnen. Die Häufung verschiedener gemeinsamer Merkmale in den Lebensstilen, Arbeitstätigkeiten und den Einkommensverhältnissen läßt die Unterscheidung und Bestimmung gruppenspezifischer Anspruchsniveaus jedoch zu. Für die Entstehung und Entwicklung von Armut ist der Zusammenhang von schichtspezifischen Mitgliedschaften, sozialen Mobilitätsprozessen und Anspruchsniveaus bedeutend (s. Kap. III, 4. und IV). Die individuelle Steigerung der Bemühungen zur Realisierung eines höheren Anspruchsniveaus (= potentielle Erhöhung der Steuerungsfähigkeit) korrespondiert eng mit den objektiven Aufstiegschancen, die in der jeweiligen Schicht und Gesellschaft bestehen. Nur wenn gesellschaftliche Wege durchgesetzt werden, welche den sozialen Aufstieg ermöglichen (bspw. Zweiter Bildungsweg) oder Nivellierungen zugunsten der unteren Schichten (bspw. Abschaffung von Leichtlohngruppen oder Hebung des allg. Konsumstandards) erfolgen, können individuell gestiegene Anspruchsniveaus erreicht werden. Die Verteilungsvorteile und erweiterten Handlungsspielräume, welche mit der steigenden Verfügung über Bedürfnisbefriedigungsmittel verbunden sind, sind einerseits Ausdruck gestiegener Produktivität und des erhöhten Sozialprodukts, zugleich aber spalten sie die Gesellschaft mit der Tendenz der Verewigung der sozialen hierarchischen Differenzierung weiter auf. Ideologische Bindungen können scheinbar Ersatz für die verlorenen sinnlichen Lebenszusammenhänge bieten. Die Hilfeleistungen nach dem BSH G sollen zur Befähigung der selbstständigen Lebensführung der Hilfeberechtigten beitragen. Wenn jemand zum Kreis der Anspruchsberechtigten gehört, konnte er sich mit seinen Tätigkei14 Schäuble

210

Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

ten und Mitgliedschaften keine Verteilungsvorteile oder einen sozialen Aufstieg sichern. Er gehört zu dem Kreis der Abgestiegenen, Zurückgebliebenen oder Versagern. In der Regel (s. bspw. § 25 BSHG) spielt es freilich keine Rolle, ob die Mangelsituation selbstverschuldet ist oder nicht. Vielleicht kann man auch sagen: he never had a chance. Mit welchen Problemen sind Menschen konfrontiert, denen staatlicherseits eine Hilfeleistung erst dann gewährt wird, wenn zuerst offiziell ihre Unfähigkeit zur selbständigen Lebensführung festgestellt werden muß? In empirischen Untersuchungen zur subjektiven Vereinbarung von Ansprüchen und deren Verwirklichung im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen, werden neben der Beschreibung der Erscheinungsformen und der Messung des Umfangs der bekämpften und latenten Armut folgende Problemkomplexe beachtet: Sozialamt und Sozialhilfe (Ansprüche. Hemmnisse. Kenntnisse) Soziale Kontrolle und Stigmatisierung Verfestigung der Armut und Sozialarbeit, Ursachen (Defizite-Empfehlungen) Der erste Problemkomplex teilt sich in die Bereiche des Gesetzes, der Administration und der potentiellen sowie tatsächlichen Sozialhilfeempfänger. Die Konstruktion des BSHG ist so angelegt, daß der dem Grunde nach gegebene Rechtsanspruch des Antragstellers auf Sozialhilfe und die Verpflichtung zu familiengerechter Hilfe von dem Verwaltungsbeamten nach Ermessensgrundsätzen und unter Berücksichtigung familialer Unterhaltsverpflichtungen abgewogen werden muß. Diese vom Gesetzgeber her gewünschte Vermittlung zwischen Gleichbehandlungsgrundsatz und Rechtsanspruch einerseits und dem Individualisierungsprinzip und Ermessungsspielraum, Art undUmfangder Leistung andererseits, ist und bleibt die Quelle einer Reihe von Konflikten zwischen Sozialämtern und ihrem Klientel. Einerseits soll die Verwaltung rechtlich gesicherte Ansprüche befriedigen. welche die Selbständigkeit kompensieren und fördern sollen, andererseits muß sie kontrollieren, daß nur zur Selbsthilfe unfähige Menschen die Leistungen erhalten. Das Verwaltungshandeln ist organisatorisch gebunden an die Einhaltung formalbürokratisch praktikabler Datenbearbeitung, der effizienten Vergabe knapper Mittel und drittens der dem Einzelfall angepaßten Auslegung der Sozialpflicht des Staates als persönliche Hilfeleistung. In den Genuß der Leistungen und Ressourcen des Sozialamtes kann der Berechtigte kommen, wenn er Leistungen beantragt, wobei er entsprechende Auskünfte über seine familiären Verhältnisse, Einkünfte und Besitzverhältnisse zu geben hat. Seine aktive Mitarbeit ist erforderlich zur Erfüllung des Gebots, die Besonderheit des Einzelfalls zu erkennen (§ 3. I BSHG). Vor allem die Person des Hilfeempfängers, die Art ihres Bedarfs und die örtlichen Verhältnisse müssen berücksichtigt werden, wobei ,ange-

4. Selbständigkeit und Anspruchsverwirklichung

211

messene' und keine ,unvertretbaren Mehrkosten' erfordernde Wünsche des Hilfeempfängers, die sich auf die Gestaltung der Hilfe richten, zu beachten sind. Dies erfordert qualifizierte, sachkundige Bearbeiter einerseits und informierte. mündige Bürger andererseits. Die Bewältigung des Problemkomplexes Sozialamt und Sozialhilfe scheint nach vorliegenden empirischen Untersuchungen äußerst schlecht zu gelingen (vgl. bspw. Bujard/Lange 1978; Bronke/Wenzel 1982; Hartmann 1981; Silbereisen 1976: Rauch 1982). Die Arbeit der Sozialverwaltung wird kritisiert, sie beinhalte eine restriktive und diskriminierende Verwaltungspraxis, welche sich einerseits in ungerechtfertigten, selbst ausgestellten Erfolgsbescheinigungen und ideologischen Rechtfertigungen von Nichtinanspruchnahmen zeige, sich andererseits in der mangelhaften Information über mögliche Hilfeleistungen und deren rechtlichen Voraussetzungen sowie der sozialpädagogisch inadäquaten Behandlung der Hilfeempfänger ausdrücke (Bujard/Lange 1978, 171 ff.). Akzeptiert man die Vermittlungsfunktion des Sozialamtes, wird ersichtlich, welch hohe Anforderungen an die Sachbearbeiter bei dem Gebrauch ihrer Sanktionsmacht gestellt werden. Je nachdem, wie alt der Antragsteller ist und aus welcher sozialen Schicht er kommt, wird die Bereitschaft zur Revidierung des Anspruchsniveaus, aber auch die Forderung nach staatlicher Hilfe, schwanken. Ältere Frauen und Männer, deren realisiertes Anspruchsniveau nur unwesentlich über den Sozialhilfesätzen liegt, neigen eher zur resignativen Anpassung an die eigenen Möglichkeiten als arbeitslose jüngere Menschen (Hartmann 1981, 138 ff.). Auch die Erwartung, daß ,Vater Staat' Möglichkeiten der Existenzsicherung und der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß bereitstellt, sind unterschiedlich. Die ungleiche Verteilung der Kenntnisse über das Funktionieren der Bürokratie und ihre Sanktionsgrenzen bei den Sozialhilfeberechtigten beinhaltet die ungleiche Wahrnehmung und Nutzung der Chancen, die eigenen Ansprüche durchzusetzen. Wer die Wege des sozialen Aufstiegs und der sozialen Sicherung nur in Ansätzen kennt und nie gelernt hat, sie zu gehen, dessen Verhaltensteuerungsfähigkeiten beinhalten nicht die Energien und Richtungen, welche zur Eroberung und Nutzung erweiterter Handlungsspielräume gebraucht werden . In Übereinstimmung mit anderen Autoren kommt Hartmann zu dem Ergebnis, daß die Kenntnis wesentlicher Anspruchsvoraussetzungen, wie Vermögensfreibeträge und fehlende Rückzahlungspflicht rechtmäßig erhaltener Unterstützung, ebenso wie Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber den Ämtern, bei den Anspruchsberechtigten weitverbreitet sind (ebd. 152 f.). Nach Silbereisen neigt die Mehrheit der Sozialhilfeempfänger dazu, sich aktiv oder passiv an die von der Verwaltung gesetzten .. Spielregeln" der Vergabepraxis anzupassen; sei es, daß sie sich als ,.brave und folgsame Bürger aufführen" oder zum ,.verängstigten, bedrückenden Rückzug neigen" (Silbereisen 1976, 320). Lediglich eine Minderheit, welche eine distanzierte Haltung zu den Verwaltungsaktivitäten besitzt und deren emo14•

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Abb. 14: Die Spannung zwischen individuell verfügbaren Bedürfnisbefriedigungsmitteln und Anspruchsniveau I: beispielhafte Dimensionen und Bereiche

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Abb. 15: Die Spannung zwischen individuell verfügbaren Bedürfnisbefriedigungsmitteln und Anspruchsniveau II: Beispiel: Differenz zwischen Erreichtem und Angestrebtem

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11111111111D

214

Kapitel II: Entwicklung zum sozialen Existenzminimum

tionale Sicherheit hoch genug ist, den Belastungen des Selbstwertgefühls zu trotzen, hält den Sozialhilfebezug für unproblematisch (s. a. Bujard/Lange 1978. 108). Wenn jemand zu dem Kreis der Sozialhilfebezieher gehört. muß er mit der geringen sozialen Wertschätzung der Gesellschaftsmitglieder rechnen. Im Problemkomplex soziale Kontrolle und Stigmatisierung werden daher die Gefährdungen der individuellen Steuerungsfähigkeit durch Vorstrukturierungen der individuellen Meinung und durch sozialen Druck sowie Möglichkeiten der Entdiskriminierung von Sozialhilfeberechtigten analysiert. Abgesehen von den Kontrollmöglichkeiten. welche den Sozialämtern zur Legitimation ihrer Vergabepraxis zukommt, bestehen vielfältige normative Separierungsversuche aus der näheren und weiteren Umgebung der Sozialhilfebezieher. deren normativer Gehalt von diesen oft selbst geteilt wird. Nach Hartmann waren knapp über 50% potentieller Sozialhilfeberechtigter der Meinung. daß Sozialhilfeempfänger schief angesehen werden. Auf die Frage. welche Leute Sozialhilfe erhalten, wurde in den Antworten zwischen .echten' Armen (Behinderten. pflegebedürftigen Alten, Kinderreichen) und .Schwindler! nl. Faule! nl. Gauner! nl. Gammler! nl' etc. unterschieden (Hartmann 1981. 132 f.). Diese auch in der Obdachlosenfrage immer wieder thematisierte Unterscheidung zwischen schuldhafter und unverschuldeter Armut hat ihren Realitätsbezug in der Äquivalenzfunktionalität marktwirtschaftliehen Denkens. Wer Sozialhilfe erhält. wird aus Steuergeldern versorgt. ohne daß er etwas dafür tut. DieUmstellung des Selbstwertgefühls bei den Armen. von einer aus ,ehrlicher Arbeit' bzw. Vorsorgeleistungen erwachsenen Identität. auf eine aus Steuergeldern gewährte .Minimalidentität' fallt vielen Anspruchsberechtigten schwer. Der Verlust der Ehrbarkeit (Stolz/Scham) steckt auch hinter der Angst. daß Verwandte. Nachbarn oder Bekannte negative Konsequenzen ziehen könnten. wenn sie von dem Soziaihilfebezug erführen ( Hartmann 1981, 126 ff. ). Deshalb suchen viele Anspruchsberechtigte zuerst nach privaten Einschränkungsmöglichkeiten und verzichten auf die Einforderung des Sozialhilfeanspruchs. Der Problemkomplex Ve1:{estigung der Armut und Sozialarbeit deckt die Analysen ab. in denen nach den Ursachen des Verharrens in der Armut und deren Aufhebung geforscht wird. Da dieser Frage ausführlicher im Unterkapitel zur Subkultur nachgegangen wird. sei hier nur festgehalten. daß in der Bundesrepublik die Quote der armen Rentner und Rentnerwitwen seit Jahren konstant hoch ist. Neben dieser Gruppe ist bei den Nichtseßhaften und Obdachlosen eine hohe Selbstrekrutierungsquote zu beobachten. Inwieweit sich aus der (Jugend-) Arbeitslosigkeit eine neue Gruppe längerfristig Armer rekrutiert. hängt primär von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Die negativ-egoistische Handlungsperspektive als subjektive Aussichtslosigkeit und Steuerungsunfähigkeit bezüglich der Steigerung des Anspruchs-

4. Selbständigkeit und Anspruchsverwirklichung

215

niveaus, stabilisiert das Verharren in der Armut. Das Kapitel ,absolute Armut' könnte, vom Reichtum der industriell entwickelten Nationen aus gesehen. der Vergangenheit angehören. Da die Verteilung des gewachsenen Sozialprodukts nach anderen Regeln als der nach Gleichmäßigkeit und ,Gerechtigkeit' vorgenommen wird, rückt die vergleichende Betrachtung der Lebensverhältnisse der Menschen und damit die relativen Unterschiede ins Zentrum der Analyse . .. A poverty line cannot be defined in a vacuum. but only in relation to a particular society at a partictllar date. Poverty must be seen not in absolute but in relative terms." (Atkinson 1975. 188 f.)

Kapitel III

Relative Armut: Armut als Phänomen sozialstruktureHer Disparitäten Als Charakteristikum relativer Armutsbegriffe kann bestimmt werden, daß die Dimensionen von Armut immer in der Relation zu Merkmalen anderer Bevölkerungsgruppen festgelegt werden. Vor allem bei der empirischen Analyse der Einkommensarmut wird die Anwendung vorgeschlagen. Bei einer gegebenen Einkommensverteilung wird mit Hilfe eines oder mehrerer Armutsindikatoren die Entfernung zu einem bestimmten Bezugspunkt auf der Verteilungskurve sichtbar gemacht (vgl. Klanberg 1978, 64 ff.). Dadurch wird unter Absehung vom Existenzminimum die Armut verdeutlicht, die aus der Ungleichheit der Einkommensverteilung resultiert. Dehnt man den Anwendungsbereich auf die Unterschiede und Abstände zwischen verschiedenen Lebenslagen, die zu unterschiedlichen Lebenschancen führen, aus, so erreicht man die Kernaussage des relativen Armutsbegriffs: Armut ist dann gekennzeichnet durch die relative Ausschließung von und Benachteiligung (Entbehrung) an Bedürfnisbefriedigungsmitteln und -möglichkeiten, einschließlich sozialer Aktivitäten. Die Orientierung kann erfolgen an gesellschaftlich propagierten/akzeptierten Standards, an Fixpunkten von Verteilungskurven o. a .. Folgende Bereiche müßten nach Meinung der International Labour Conference in die Armutsbetrachtung einbezogen werden:

-Einkommen - Arbeitsbedingungen - Lebensbedingungen, Umwelt (Wohnung, Nutzen aus öffentlichen Einrichtungen, Benützen der Infrastrukturen, Möglichkeiten der Freizeitaktivitäten) - gleichmäßige Behandlung (ILO 1970, 97).

Die Schwierigkeit, die zuerst ersichtlich wird bei einer Ausdehnung des Armutsbegriffs über quantitativ erfaßbare Einkommensgrößen hinaus, ist einmal die Bestimmung der Indikatoren, die als Armutsmaße aussagekräftig sind, und zweitens nach der Selektion von möglichen Indikatoren, deren Wertung und Verbindungen untereinander. Es besteht die Gefahr, einseitige Bestimmungen vorzunehmen oder sich in einer unsystematischen Vielfalt von Aussagen und Urteilen zu verstricken, so daß eine Komplexitätsreduktion unmöglich erscheint. Hinzu kommt mit der Weiterentwicklung der

I. Das Konzept der relativen Deprivation

217

Gesellschaft auch die Veränderung von Armutsbedingungen und deren Erscheinungsformen. Auf diese Probleme gehen eine Reihe von Konzepten in unterschiedlicher Weise ein, von denen neben den im folgenden skizzierten Konzepten der ,relativen Deprivation' und dem Lebenslagenkonzept die Sozialindikatorenforschung und das Konzept der ,multiplen Deprivation' hervorzuheben sind. Im Konzept der ,multiplen Deprivation' fassen Baratz und Grigsby nach 5 Gesichtspunkten folgende Probleme zusammen:

- Mangel an physischem Komfort -Krankheit - Mangel an zureichender sozialer Sicherheit -Entbehrung von Wohlfahrtswerten -Benachteiligungen durch mangeinde Achtung und Autorität (Baratz, Grigsby l968, II - 34)

Dieses Konzept geht über die Analyse von Lebensstandards und der Verfügung über Ressourcen hinaus. Neben dem Versuch, Benachteiligungen und Unterversorgungen in ihrer komplexen Vielfalt und Wirkung zu untersuchen, gibt es Analysen, die auf einzelne Dimensionen multipler Deprivation gerichtet sind. Glatzer untersuchte für die Bundesrepublik die Wohnungsversorgung und fand heraus, daß 1972, 16,7% aller Personen in Privathaushalten weniger als einen Raum pro Person zur Verfügung hatten und 0,6% aller Personen weniger als 0,5% Räume pro Person (Glatzer 1977 a, 628). Er ging von einem Versorgungsziel von einem Raum pro Person aus. Diejenigen, welche weniger als 0,5 Räume pro Person zur Verfügung hatten, fielen nach ihm unter den ,extremen Armutsstandard', die anderen, die weniger als einen Raum pro Person hatten, unter den ,Minimalstandard'. Schert weist nach, daß Arme für vergleichbare Verbrauchsgüteraufgrund von Informationsmängeln, schlechterer Warenqualität u. a., mehr als die Nichtarmen bezahlen (Scherl1978, 110-123) und Joerges zeigte den Zusammenhang von Unterversorgung und höheren Kosten bei den Armen im Bereich des privaten Energieverbrauchs auf(Joerges 1979, 155-165). Hartmann, der ebenfalls wie Hauser u. a. das Konzept der multiplen Deprivation und Unterversorgung vertritt (Hartmann 1981, 19 f., 23), bezeichnet die Sozialhilfebedürftigkeit als den Teil der relativen, materiellen und immateriellen Mange/situation, auf den das Hilfeinstrumentarium des BSHG gerichtet ist (ebd. 25).

1. Das Konzept der relativen Deprivation Zur Bestimmung der Richtung der sozialen Entwicklung von Gesellschaften haben Drewnowski und Scott einen ,Level of Living Index' kreiert, mit dem operational die relativen Unterschiede in den Lebensstandards zwi-

218 Kapitel III: Relative Armut- Phänomen Sozialstruktureller Disparitäten

sehen Gesellschaften bestimmt werden sollten. ,Level of Living' bezeichnet die Höhe der Bedürfnisbefriedigung einer Population, die durch den Fluß der Güter und der Bereitstellung von Dienstleistungen in einer bestimmten Zeitdauer besteht (Drewnowski/Scott 1966, zit. nach Townsend 1970 a, 6). Eine zusammenfassende Übersicht nach Townsend zeigt Abb. 16. Die relative Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen bzw. Gesellschaften sollte durch den jeweilig unterschiedlichen Stand der Bedürfnisbefriedigung angezeigt werden. Das Verfahren istjedoch äußerst subjektiv und wert-, normbesetzt und geht zudem von der Vorstellung einer absoluten Deprivation von Bedürfnissen im Sinne eines physischen Existenzminimums aus. Das Konzept läßt auch eine Unterscheidung von objektiver und subjektiv wahrgenommener Benachteiligung nicht zu. Insoweit die Benachteiligungen gemessen werden, ohne zu berücksichtigen, ob diese von den Benachteiligten wahrgenommen und diese die Aufbebung wünschen, kann von objektiver relativer Armut gesprochen werden, wenn die Benachteiligungen als solche erfahren werden, von subjektiver relativer Armut. Die objektive Feststellung der Armut ist damit unterschieden von der Anerkennung, Beachtung und Wahrnehmung durch die Betroffenen, ebenso wie durch Nichtbetroffene. Die Bedeutung der subjektiv erlebten Benachteiligung als unabhängige Variable aktueller Benachteiligung kann nicht exakt gemessen werden. Die subjektiv (erlebte) Benachteiligung wird charakterisiert durch Gefühle des Mangels gegenüber anderen. Sie wird bestimmt durch die individuelle und schichtspezifische Wahrnehmung (materielle Güter, Bildung, Lebenstile u. a.) zu anderen. Sie zeigt nicht die Bedingungen der B~nachteiligung auf. Die oftmalige Differenz zwischen objektiv bestehender und subjektiv erlebter Benachteiligung ergibt sich aus dem unterschiedlichen Bewußtsein der eigenen Armut, der Erwartungen, Wünsche, des Erlebensund der Verarbeitung der Benachteiligungen; bspw. haben alte Menschen, die nach objektiven Kriterien im Lebensstandard substantiell benachteiligt sind, oft aufgrund ihrer bescheidenen Erwartungen nur eine geringe Mangelempfindung ihrer Benachteiligung. In der Folge von Stouffer u. a. (Stouffer u. a. 1949) und Merton (Merton 1957) entwickelte Runeiman den Begriff der relativen Deprivation weiter. Nach ihm liegt ,relative Deprivation' vor, wenn jemand wahrnimmt, a) daß er ein Mittel der Bedürfnisbefriedigung (materielle Objekte, soziale Beziehungen etc.) nicht hat b) daß andere Personen, ihn selbst zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt eingeschlossen, über das Mittel verfügen; c) daß er das Mittel haben will und d) daß er die Möglichkeit sieht, es zu bekommen (Runciman 1966)

1. Nahrung

(Anteil der eingeschulten Kinder: Schüler-LehrerVerhältnis)

4. Bildung

siges Einkommen

7. Uberschüs-

6. Sicherheit

(Einkommen , welches nach Abzug der Kosten zur Befriedigung der Basisbedürfnisse übrigbleibt)

(Morde pro Million Menschen der Bevölkerung im Jahr: Anteil der Bevölkerung, der gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit versichert ist und Anspruch auf Al terspensionen hat)

5. Freizeit und Erholung(Erwerbsarbeitsfreie Zeit pro Person im Jahr: tägliche Zeitungen pro Tausend Menschen der Bevölkerung: Radiound Fernsehgeräte pro Tausend Menschen der Bevölkerung)

(Geburten- und Kleinkindersterberate: Anteil der Bevölkerung mit adäquater medizinischer Versorgung)

(Kalorienaufnahme und Proteine pro Person) (Grad der Uberfüllung: strukturelle Ausrüstung)

I N D I K A T 0 R E N

3. Gesundheit

2. Unterkunft

Typen von

Abb. 16: Index zur Messung des Niveaus des Lebensstandards (zit. nach Townsend 1970a, 7)

Gehobene Bedürfnisse

Kulturelle Basisbedürfnisse

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Kapitel III: Relative Armut - Phänomen sozialstruktureller Disparitäten

Analysiert man Gesellschaften bezüglich der in ihr bestehenden Armut mittels eines Kategoriensystems, das Bedürfnisse und die Unterschiede in den Befriedigungsmöglichkeiten feststellt, so müssen auch soziale Bedürfnisse, die mit den Alltagshandlungen der Menschen in Verbindung stehen, beachtet werden. Für Menschen und soziale Gemeinschaften wie die Familie in einer fortgeschrittenen industrialisierten Gesellschaft, bestehen in Form propagierter Konsumnormen soziale Notwendigkeiten; bspw. die Anpassung an schichtspezifisch erwartete Bildungsinvestitionen, Wohnraumausstattung. Soziale Existenzminima in Industriegesellschaften berücksichtigen diese notwendigen sozialen Bedürfnisse zu wenig. Die Armen können jene Dinge nicht erwerben, die für ein ,normales' Leben als notwendig erachtet werden. Sie leben außerhalb der Stellungen und Kategorien, welche die Allgemeinheit für annehmbar hält und die den Lebensbedingungen eines gewöhnlichen Mitgliedes der Gesellschaft entsprechen. Selbst von der Sozialhilfe lebende Nicht-Arme (weil sie aufgrund der Unterstützung über die gesetzliche Armutsgrenze gelangen) unterliegen einer finanziellen staatlichen Bevormundung, die es ihnen nicht erlaubt, die Annehmlichkeiten eines allgemeinen Konsumstandards zu genießen. Als Grund dafür wird angeführt, daß bei einer Erhöhung der Unterstützungen die unteren Einkommensschichten und die Unterstützten nicht mehr zur Lohnarbeit bereit wären (Weisser, 1971, 130). In hochindustrialisierten Ländern gehört zu einer in der Öffentlichkeit akzeptierten Lebensbiographie bspw. eine ,gehobene' Ausbildung, die einen relativ sicheren Arbeitsplatz wahrscheinlich macht. Dieser korrespondiert mit einer Stellung, die einen Lebensstandard ohne materielle Sorgen erst möglich macht. Diesen ,mittleren', den gesellschaftlichen Verhältnissen zu einer gegebenen Zeit entsprechenden Lebensstandard, der als relative Bestimmung einer Armutsgrenze herangezogen werden kann, betont Townsend. Er begründet dies im wesentlichen damit, daß zur Erfüllung der Mitgliedsrechte und -pflichten in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft die Verfügung über eine Reihe von Ressourcen gehört, die über dem sozialen Existenzminimum liegen. Im folgenden wird das Konzept der relativen Deprivation nach dem Verständnis von Townsend skizziert. Er hat in verschiedenen Untersuchungen der 60er und 70er Jahre das Konzept in England erfolgreich erprobt und entwickelt. Der Begriff der relativen Deprivation wird von vielen Autoren benutzt. Townsends Definition beinhaltet die wesentlichen Elemente, die übereinstimmend verwendet werden. Sie ist sehr differenziert operationalisiert und vor allem in einer weltweit beachteten Publikation zugänglich. Townsend versteht unter ,relative deprivation' ..... the absence or inadequacy of those diets, amenities, standards, services and activities which are common or customary in society. People are deprived ofthe

I. Das Konzept der relativen Deprivation

221

conditions of life which ordinarily define membership of society. If they Iack or are denied resources to obtain access to these conditions of Iife and so fulfill membership of society, they are in poverty. Deprivation can arise in any or all of the major spheres of Iife at work, where the means largely determining one's position in other spheres are earned; at home, in neighbourhood and family; in travel; andin a range of social and individual activities outside work and home or neighbourhood. In principle, there could be extreme divergencies in the experience of different kinds of deprivation. In practise, there is a systematic relationship between deprivation and Ievel of resources." (Townsend 1979, 915)

Townsends Definition beinhaltet den Versuch, die Elemente zu bestimmen, welche in einer Gesellschaft, in der Ressourcen, konventionelle Verhaltensweisen, Dienstleistungen und Lebenschancen normativ ungleich verteilt werden, zur Sicherung der Partizipation an dem gesellschaftlich üblichen Leben unabdingbar sind. Sie kann daher als Konkretisierung der Definition des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft von 1975 angesehen werden, wonach Arme sind: Einzelpersonen oder Familien, die über so geringe Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als annehmbares Minimum angesehen wird. Townsend unterscheidet drei Formen der relativen Deprivation (ebd., 46 ff.): a) ,objective deprivation' im Sinne von wissenschaftlich feststellbaren Benachteiligungen bspw. in der Einkommensverteilung, Konsumstandard, Warenkorb. b) ,conventionally acknowledged or normative deprivation' im Sinne von gesellschaftlich anerkannter, beachteter, öffentlich wahrgenommener Armut. Für die Bundesrepublik können die Sozialhilfe, Jugendhilfe, Wohngeld, Familienhilfe und Eingliederungshilfen für Behinderte als gesellschaftlich anerkannte Armutsunterstützungen gesehen werden. Obwohl in den 60er Jahren in der Bundesrepublik empirische Untersuchungen über Armut deren weiteres Bestehen nachwiesen, drang damals das Wissen

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Die Realität wird e r s t durch sinnll:::he Re l at ion ierung des Wahrgenommen e n bcdeu tsam. In die 1'/a h r n e h mung de r Rea l itJt (hic die Fotograf ie) gehen selbst s chon Selcktionen ein.

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I. Verhalten und Realität

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arbeitung entscheidender Konflikte und die Gewöhnung an funktionale Beziehungskonstellationen in den frühkindlichen psychosexuellen Phasen (bspw. nach Erikson 1966: Urvertrauen kontra Mißtrauen, Autonomie versus Scham, Zweifel und Initiative gegen Schuldgefühl) nach familienspezifischen, d. h. an diesem sozialen Ort gebildeten privaten Bedeutungszuschreibungen und Konstellationen von und Abwendungen. Da der praktische Lebensvollzug nicht in die Öffentlichkeit dringt, intim bleibt, bleiben auch die öffentlich entwickelten Verhaltenserwartungen an ein normales Familienleben für das Kind lediglich Anregungen ohne starke effektive Stimulanz. Unterwürfige, arbeitsscheue, autoritäre, labile, desinteressierte, aggressive etc. Typen gibt es in allen Schichten.

Zu-

Die psychische Erfahrungswelt und damit ein wesentlicher Bestandteil psychosozialer Persönlichkeit wird mit zunehmendem Alter in unserer Kultur in der Auseinandersetzung mit außerfamiliären, sozialen und gesellschaftlichen Bestimmungen entfaltet. Deshalb gewinnen in der späten Kindheit, in der Pubertät und im Erwachsenenalter - statistisch gesehen schiebt- und minoritätsspezifische Verhaltensweisen, welche die Selbstkonzepte, Haltungen und Personeneigenschaften überformen und erweitern, realitätsbildenden Einfluß. Ober die Basisrollen hinaus werden mit dem Eintritt in neue Lebenszusammenhänge auch neue psychische Fertigkeiten, Verhaltenssteuerung, einschließlich veränderter Zu- und Abwendungsbalancierungen und Sinngebungen gelernt. Oftmals werden die persönlichen psychischen Strukturen von Unterschichtsangehörigen (in psychoanalytischer Ausdrucksweise) wie folgt benannt: -

Das Ich als bewußte Instanz, welche Beziehungen zur Außenwelt herstellt und die inneren Ereignisse und Relationierungsweisen kontrolliert und lenkt, weise eine geringfügige Autonomie aus. Dies äußere sich in Phantasie- und Beziehungsarmut, primitiver Abwehrstruktur, starker Autoritätsfixierung und Abhängigkeit von Bezugsgruppen. - Das Über-Ich als nur teilweise bewußte Instanz, welche mittels im Sozialisationsprozeß verinnerlichter Sozialgebote und -normen die Voraussetzung für Verhaltensge- und Verhaltensverbote des Ichs ist, sei trieb- und phantasiefeindlich, sehr rigide, lasse dem Ich kaum Aktionsräume, in denen es neue Ausmessungen, Sinngebungen und Zu- und Abwendungen versuchen und experimentell erproben könne. - Die präödipale Trieborganisation führe zu regressivem Verhalten in Konflikten und einer passiv-rezeptiven Anspruchshaltung (vgl. bspw. Schröter 1980).

Wesentlich ist hier nicht, die Ursachenbestimmung des Verhaltens aus psychoanalytischer Sichtweise und in psychoanalytischen Kategorien vorzunehmen. Es wird hier lediglich darauf verzichtet, denselben Sachverhalt in der Terminologie von Lerntheorien oder Systemtheorien auszuweiten. Er würde dann nicht unter dem Gesichtspunkt einer tieferliegenden Disposition zum Konflikt dargestellt, sondern als gelernte und aufrechterhaltene Verbal-

362

Kapitel V: Armut als Mitgliedschaftsproblem

tensweisen oder als implizite Regeln in den Systemen der Familie, Erwerbsarbeit etc. Die Entstehung solcher, statistisch in der Unterschicht häufiger als in den Mittelschichten anzutreffenden, Persönlichkeitsstrukturen wird verständlich, wenn der in ihr gebotene Grad an sozialer Kohäsion einerseits und die soziale Distanz zu bessergestellten Gruppen, deren Lebensweise im eigenen praktischen Lebensvollzug nicht direkt erfahrbar ist, andererseits, in die Betrachtung einbezogen wird. Weil Unterschichtsangehörige sich im alltäglichen Leben an den Mitteilungen, Anforderungen des RS 3 (Realität der Abweichenden) orientieren (die sie kurz- bis mittelfristig nur unter hohen direkten Sanktionserwartungen ignorieren können), erfolgt die individuelle Realitätsbildung und Verhaltenssteuerung innerhalb der engen sanktionsfreien und sanktionsunterworfenen Aktionsräume, welche das Normengeflecht der sozialen Bezugsgruppen erlaubt. Weil ihre realen Handlungsspielräume in der Erwerbsarbeit und der Freizeit entscheidend von ihrer Ressourcenausstattung und derem fortlaufenden Erhalt, ihrer Komplettierung und des Neuerwerbs bestimmt werden, führen von der sozialen Bezugsgruppe wahrgenommene und als störend empfundene Überschreitungen der gebotenen Verhaltensweisen zu Jebenserschwerenden, unlusterregenden sozialen Konfliktkonstellationen. Entscheidend ist nun, daß eine geringe Ressourcenausstattung einen einfachen, reduzierten Lebensvollzug impliziert und starke direkte Abhängigkeiten im Sinne äußerlich kontrollierter und vorgeschriebener Verhaltensweisen sowie strenger sozialer Distanz zu den Mittelschichtlern enthält. Unter diesen Rahmengegebenheiten sieht der einzelne Unterschichtsangehörige, der weder die Loslösung, Überwindung dieser Beziehungen und Bindung in Richtung auf individuelle, situative und soziale Neudefinition gelernt hat, noch als erfolgreich in seiner Umgebung miterlebt hat, keine Perspektive in der bewußten Veränderung dieser Umwelt. Wird eine vergleichbare Persönlichkeitsstruktur in den sozialen Mittelschichten angetroffen, wird der betreffende Mensch aus der Sicht der gesamtgesellschaftlich gültigen Realität (RS 4) eine günstigere soziale Bewertung erfahren, weil seinem rigiden Ich nicht die schichtspezifische Etikettierung angehängt wird und seine Mitgliedscharten das Ausleben seiner inneren Konflikte tolerierend zulassen. Die Ursachen solcher differierender Sinngebungen bleiben oftmals verdeckt, weil im Alltag von einem durchschnittlich gleichen sozialen Personenabstand ausgegangen wird, der real zwar zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Schichten nicht gegeben ist, jedoch im Normierungsbereich der allgemeinen Gesetzgebung und richterlichen Rechtssprechung und der Rechtsanwendung, nach der alle Gesellschaftsmitglieder mit gleichen Rechten ausgestattet sein sollen, annähernd erreicht wird. Es gibt eine breite Vielfalt an der zentralen Kontrolle unterliegenden sozial gleichen Personen-

I. Verhalten und Realität

363

abstände, deren Nichteinhaltung annähernd gleichen Sanktionswahrscheinlichkeiten unterliegt. In den vergangenen zwanzig Jahren ist die Verfügung über Ressourcen, die Verdichtung und Ersparung von Zeit, wodurch zusätzliche Zeit, aber auch Zeitknappheit produzierende Werkzeuge produziert wurden, sowie die Vielfalt und Potentalität von Tätigkeiten in den Industriestaaten ungeheuer ausgeweitet worden (Bsp. Freizeit). Da die gesellschaftlichen institutionellen Sanktionsgewalten in diesem Prozeß nicht organisch mitwachsen konnten, entstanden in großer Zahl neben den institutionell besetzten sozialen Infrastrukturen unbesetzte und ungenutzte Interaktionsfreiräume, welche gezwungenermaßen in Selbsthilfe individuell und bezugsgruppenspezifisch aus dem engsten sozialen Umfeld besetzt wurden. Auf der individuellen Ebene bleiben weiterhin diese Eroberungen und Besetzungen den gesellschaftlich dominierenden Sanktionsgewalten entzogen. Auf die gesellschaftlichen Folgen der installierten Großtechnologien, nämlich zunehmend unbezahlbarer sozialer Infrastrukturen, kann hier nicht eingegangen werden. Die individuellen und bezugsgruppenspezifischen Besetzungen der Realität erfolgen in erheblichem Umfang ohne Interaktionen mit gesellschaftlichen lokalen, regionalen und überregionalen lntegrationseinheiten. Sie verbleiben normalerweise in der Privatheit und sind gekennzeichnet von einem hohen Grad an unreflektierten, traumatischen oder phantasiegedrängten Herrschaftsansprüchen. Ich nenne sie Filme. Es sind privat gebildete Sinngebungen über soziale Realität, deren Ursachen, Funktionsweisen und ihre Bewertung. Sie werden wie selbstverständliche Fakten geäußert und speisen sich primär aus dissonanten, real enttäuschten und in der Phantasie aufrechterhaltenen Ansprüchen, Hoffnungen hinsichtlich von Zu- und Abwendungen sowie Ressourcen. Man kommt nur über den Beziehungsaspekt von Kommunikation an ihre realen Motive heran.

Realitätssegment 3 (RS 3): Die soziale Realität der Abweichenden. Als Abweichende werden Personen, Gruppen und Minderheiten bezeichnet, deren tatsächliches oder erwartetes Verhalten aus der Sicht des RS 4 (sozial gültige Realität) auffällige und / oder störende, minderwertige Merkmale aufweist oder denen solche Merkmale angeheftet werden, und zu denen eindeutig die negativen Sanktionen und Abwendungen dominieren. Es ist somit zu unterscheiden zwischen den realen Tätigkeitsvollzügen, Zu- und Abwendungen und Sinngebungen, welche die Abweichenden vollziehen und besitzen, mit demjenigen Verhalten, mit dem sie sich identifizieren und dem Verhalten, das ihnen zugeschrieben wird. Die spezifische Normalität abweichenden Verhaltens besitzt somit drei gesellschaftliche Quellen. Sie kann aber nur über zwei Quellen direkt regulierend verfügen. Deshalb unterliegt ihre partielle Selbstregulierungsfähigkeit erschwerten Bedingungen. Die Belastungen durch das RS 4 können einerseits gemindert werden durch Separierungen, d. h. der

364

Kapitel V: Armut als Mitgliedschaftsproblem

kompensierenden Eroberung (zugleich Rückzug) und Verteidigung von Reservaten, in denen sich dann eine höhere Selbstregulierungsfähigkeit gewinnen läßt. Voraussetzung für das Gelingen derartiger Separierungen ist, daß die Mitglieder, Produzenten und Kontrolleure der RS 4 die partielle soziale Distanzierung zulassen, also an diesem Arrangement der Beibehaltung einer geringen Integrationsdichte oder ihrer Reduzierung mit den Abweichenden aufgrund der erhöhenden Wirkung des Integrationsniveaus innerhalb des RS 4 interessiert sich. Versuche der Abweichenden, die Interaktionen mit den Mitgliedern des RS 4 zu erhöhen und dadurch Anerkennung zu finden und integriert zu werden, zeigen die andere Richtung des Abbaus der besonderen Belastungen an. Diese Versuche sind aber in der Regel auf die Zuarbeit von Dritten (Staat, Sozialarbeit etc.) angewiesen, wenn sie gelingen sollen. Bestehen bei den Abweichenden keine große kollektive Bereitschaft, keine Möglichkeiten oder keine funktionierende Organisation und nur geringe Ressourcen, mit denen die partiell oder umfassend zugeschriebenen oder tatsächlichen Verhaltensbesonderheiten als Waffe gegen die RS 4 zu richten wären, oder die Verhaltensweisen aufzugeben oder in die Normalität der RS 4 zu integrieren wären, büßen sie ihre kollektive partielle Selbstregulierungsfähigkeit ein (s. Kap. III, 4.). Zu den Abweichenden zählen bspw. Menschen bestimmter Hautfarbe, Kriminelle, Arme, geistig- und körperlich Behinderte, Prostituierte. Die Abweichenden besitzen Sichtweisen der Beurteilung des eigenen Verhaltens, welche in der Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen der gesamtgesellschaftlich gültigen Realitätsdefinitionen entstanden sind. Es handelt sich um die subgruppenspezifische und minoritätsbestimmte reaktive Auseinandersetzung mit und der Annahme von spezifischen Lebensbedingungen, Positions-und Statuszuweisungen, die zu einer Präsentation von Lebensweisen führen, welche den Mitgliedern der dominierenden gesamtgesellschaftlichen Realität als Beweis für die Richtigkeit ihrer Beurteilungen dienen. Erworben werden sowohl Minderheits- wie Mehrheitswerte und Verhaltensweisen. Abwertungen des eigenen Selbst und der zugehörigen Minderheitsgruppe ziehen die Suche nach Identifikation mit dem RS 4 nach sich. Besitzt die Minderheit nur eine niedere innere Interaktionsdichte, geringe Ressourcen und keine oder nur eine schwache Organisation, neigen ihre Mitglieder zu einem paradoxen Realitätsgefüge, welches einerseits auf den realen Lebensbedingungen fußt und diese annehmen muß, andererseits die eigene Minderheit ablehnt und sich mit der Realität des RS 4 identifiziert. Mitglieder von Minoritätsgruppen sind eingeschlossen in ein von dem RS 4 mitdefinierten Realitätssegment, wodurch zu den möglicherweise erworbenen, angeborenen und positiv akzeptierten Lebensbedingungen, an sie bestimmte Verhaltenserwartungen mit entsprechenden Anreiz- und negativen Sanktionsmustern gerichtet werden.

I. Verhalten und Realität

365

Realitätssegment 4 (RS 4): Die gesamtgesellschaftlich gültige Realität6 • Dieses Realitätssegment umfaßt die Variationsbreite der konkurrierenden und übereinstimmenden Sinngebungen, Verhaltensorientierungen, Regeln und Prinzipien, welche auf Angelegenheiten von öffentlichem Interesse gerichtet sind, sowie die Standardsanktionen und Regeln von Verhaltensweisen und Sichtweisen des Zusammenlebens, welche von einer Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder beachtet und in ihren Lebensvollzügen erwartet und anerkannt werden. Zu unterscheiden sind strukturelle und prozessuale zuarbeitende Quellen, deren unterschiedlichen Grade an Kodifizierung und Legitimationsbedürftigkeit, Reichweite, Anteile und Konkurrenzen an dem RS4. Als strukturelle Quellen werden diejenigen Institutionen und Organisationen (Bezu8Ssysteme) bezeichnet, welche als Zentralgewalt oder deren Pufferinstanzen gesellschaftliche Personenabstände regulieren. Dies sind im wesentlichen die vier Basisinstitutionen in ihren impliziten und expliziten Formen. In dem RS 4 scheinen Parlament, Regierung, Rechtssprechung, Parteien sowie die Spitzenverbände von Unternehmern und Arbeitnehmern und die Kirchen zu dominieren. Prozessual zuarbeitende Quellen sind die gesamtgesellschaftlich beachtetenTeile und Auffalligkeiten der RS'e abweichenden Verhaltens, der Wissenschaftsbetrieb, die Produzenten öffentlicher Meinung sowie mit dem geringsten Einfluß die einzelnen Gesellschaftsmitglieder als ökonomische und kulturelle Teilhaber und die vorwiegend unorganisierte Mehrheit, welche die bestehenden Herrschaftsformen trägt und anerkennt. Als Produzenten der öffentlichen Meinung werden die Personen und Körperschaften bezeichnet, welche die Kontrolle über den Selektionsprozeß besitzen, mit dem sie die Artikulationsformen (Massenkommunikationsmittel), Themen, deren aktuelle Priorität und Sinngebungsrichtungen der regional und überregional publizierten Meinungen, Informationen, Nachrichten, Hysterien, Illusionen etc. ordnen und bestimmen. Ihre Stellung als Pufferinstanz hat drei Quellen. Zum einen können aufgrund der beschränkten Aufnahmekapazitäten und Verarbeitungsgrenzen der Menschen nur sehr wenige Sinngebungen, Zu- und Abwendungen, Tätigkeitsvollzüge, Verhaltenssteuerungen, Meinungen, Wertungen etc. zum Gegenstand des regionalen und überregionalen Lebens gemacht werden. Die Besetzung des Zugangs zur massenwirksamen Definition des , Volkswillens' ist daher eine elitäre Schleuse der Meinungsbildung. Die zweite Quelle ergibt sich aus dem Berufskodex der Ausgewogenheit und statischen Orientierung an etablierten Verbänden und Lobbyisten. Die dritte Quelle gründet auf dem immens angewachsenen, vom Staat nicht effektiv kontrollierbaren regelungsbedürftigen Informationsbedarf der sozialen Infrastrukturen. Eine hocharbeitsteilige Gesellschaft, die zu ihrer Produktion und Reproduktion 6

Auch in der Kurzform identisch als ,sozial gültige Realität' bezeichnet.

366

Kapitel V: Armut als Mitglieds·:haftsproblem

aufwirtschaftliches Wachstum und Marktkonkurrenz als Regelungsmechanismus nicht verzichten will und riesige technische Systeme einsetzt, potenziert zwangsläufig zur Beherrschung dieser Großtechniken notwendige kommunikative Wechselwirkungen und neue Interaktionsdichten zwischen den Menschen und Maschinen, die zu Abhängigkeiten von Spezialwissen und deren Vermittlern führen . Zur öffentlichen Meinung zählen einerseits die vorherrschenden Sinngebungen, welche von den Regierenden und den dominierenden gesellschaftlichen Organisationen als politische Auslöser und Rückkopplungen zu Fragen des öffentlichen Lebens gehalten werden, sowie andererseits die Meinungen und Wertungen partikulärer Gruppen, denen es gelingt, ihre Anliegen zu Fragen des vorwiegend elitär definierten öffentlichen Lebens zu machen. Der verwendete Begriff der ,prozessualen Quellen' des RS 4 wird deshalb für geeignet gehalten, weil die Intensität und Dauer der Thematisierung ihrer Anliegen stark von wechselnden tagespolitischen Aktualitäten, punktuellen Ereignissen und jeweils aktuellen politischen Bewegungen und gesellschaftlichen Moden bestimmt wird, sowie von zahlreichen kurzlebigen Umdeutungen, Perspektivenwechseln, taktischen Täuschungen, Hinzufügungen etc. begleitet wird. Obwohl das Segment der gesamtgesellschaftlichen Realität seine Anerkennung erst im praktischen Vollzug der Lebensäußerungen einer Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft erhält, wird sie nur von einer, wenn auch partikularistisch-pluralen, privilegierten Minderheit erzeugt. Diese Minderheit setzt sich aus konkurrierenden institutionellen und/oder organisierten, partiell selbstregulierten Integrations- und 1oder Destabilisierungseinheiten zusammen. Der Streit geht um bewertete und phantasierte ,Fakten', um Denkmodelle, Anschauungsweisen und Verhaltenssteuerungen. Zur Eroberung, Sicherung und Fortentwicklungvon Positionen und relationalen Konstellationen des RS 4 werden abgestuft alle verfügbaren Formen der Verhaltenssteuerung eingesetzt, von roher physischer Gewalt über Kompromisse bis zu konsensgebundenen Entscheidungen. Das, was innerhalb der Mitglieder des RS 4 als Thema erscheint und dann umstritten ist, enthält bereits spezifische Selektionen in der Bestimmung der relationalen Beziehungen von Menschen untereinander und zu Ressourcen, Zeit und Aktivitäten, welche keine allseitige Anerkennung finden können. Diese Deutungen gehen weit über das hinaus, was ursprünglich wahrgenommen, nunmehr durch Sprache transformiert, reales Abbild von Zuständen, Entwicklungen und Prozessen sein soll. Die Produzenten dieses Realitätssegments handeln vorgeblich überwiegend im Gesamtinteresse, d. h. zum Wohl aller. Ihre Ausgangslage stellt sich für sie am günstigsten dar, wenn es ihnen gelingt, objektive Gegebenheiten, faktische sich aus der Natur der Sache ergebende

I. Verhalten und Realität

367

Zwänge, wissenschaftlich unabweisbare notwendige Maßnahmen oder andere allgemein zu akzeptierende Motive und Ziele höheren Ursprungs vorzutäuschen und den Gesellschaftsmitgliedern als besonders glaubwürdig anzubieten bis überzustülpen. Für den Konstituierungsprozeß des RS 4 ist dabei unerheblich, ob die Eroberer selbst an ihre Sinngebungen glauben oder sie als strategische oder taktische Mittel einsetzen. Den partiell konkurrierenden Eroberern und Besetzern des RS 4 wächst auch insoweit Sanktionsgewalt zu, als die zum Eingreifen in die überregionale Öffentlichkeit erforderlichen Kosten sehr hoch sind. Die Etablierungeines Massenkommunikationsmittels können sich praktisch nur Organisationen oder Reiche leisten. Das RS 4 ist ein typisches Produkt moderner Großgesellschaften. In den früheren Kleingesellschaften erfolgte kein Zerfall der Realität in partiell selbstregulierte Segmente. Gesellschaftlich waren dort die Sinngebungen präzisiert in traditionellen Bräuchen, rituellen Handlungen, Kulten, Mythen und religiös-absolut motivierten Deutungen aller drei Naturen, die an ein hohes Maß an Konsens gebunden waren. Die Interpretation, Inszenierung und Weitergabe dieser Sinngebungen erfolgte über einzelne Menschen, die in besonderen Verfahren oder zu besonderen Anlässj!n selektiert und legitimiert wurden. In der Funktion von Zauberern, Schamanen, Medizinmännern, Priestern, Häuptlingen, Kriegshelden sowie Stammes- und Ältestenräten dominierten sie eine auf Übereinstimmung und Versöhnung angelegte absolute und verpflichtete Realität. Seibel zeigt dies im Vergleich verschiedener afrikanischer Kleingesellschaften. Während in modernen Großgesellschaften negative Sanktionen das Integrationsniveau senken und Separierungen verstärken, waren Kleingesellschaften in ihren Sanktionen auf Erhaltung des Integrationsniveaus durch Versöhnung bedacht (Seibel 1972). Über einen vergleichbaren integrierenden Steuerungsmechanismus verfügt auch die katholische Kirche. Der gutwillige, aber schwache Gläubige wird punktuell immer wieder ein Opfer des Bösen. Als sündhafter Mensch kann er sich wieder in der Bewährung davon befreien, indem er durch den Rehabilitationsmechanismus von Beichte - Sündenvergebung - Buße, wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen integriert wird. Leider ist dieser Mechanismus inzwischen zur hohlen Phrase verkommen! Mit der arbeitsteiligen Differenzierung der Baupläne der Gesellschaften, sowie der Erhöhung der Interaktionen zwischen verschiedenen gesamtgesellschaftlichen vormals geschlossenen Weltbildern, durch den wissenschaftlichtechnischen Fortschritt, Handel, Mission, Eroberung, Koexistenz und den soziologischen und naturwissenschaftlichen Widerlegungen der allgemeingültigen religiösen Weltbilder, wurden die eroberten Realitätsräume immer wieder ausgedehnt, so daß die alten Zentralgewaltentrotz Machtzugewinn, Herrschaft abgeben mußten. Es etablierten sich neben den beiden

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Kapitel V: Armut als Mitgliedschaftsproblem

traditionalen Zentralgewalten Kirche und Staat, neue mit abgeleiteten Steuerungsgewalten versehene Organisationen. Die Kirche verlor einen Teil ihrer Machtbasis, weil ihren übernatürlichen Erklärungen der Wirkungen der äußeren Natur durch naturwissenschaftliche Erkenntnis und Steuerungsmöglichkeiten die Basis entzogen wurde. Der absolute Staat verlor seine ,göttliche' Legitimation und benötigte zur expandierenden Aufrechterhaltung seiner Macht die Zustimmung weiterer Teile der Bevölkerung. Auch heute liegen die dominierenden Besetzer des RS 4 nicht im prinzipiellen Streit. Sie verteilen ihre Rollen, so daß interne Informationen, bis hin zu Absprachen hinter den Kulissen zur Beruhigung der Gegner, bei geplanten öffentlichen Verbalattacken, zum Alltagsgeschäft gehören. Auch für ihre Beziehungen gilt: Wenn die Interaktionshäufigkeit auf Null gesetzt wird, zerbrechen die Brücken, ist die Gefahr der machtschmälernden Separierung und damit des gegenseitigen Widerstands und des Verlusts von Bezugsgruppen größer. Gegner, die sich gegenseitig nicht besiegen und voneinander profitieren können, optimieren ihre Beziehungen durch normativ geregelte konfliktorische Kooperation. Die Zuarbeitung und Rückkopplungen zwischen konkurrierenden Gegeneinander, geduldeten Nebeneinander und abgestimmten Miteinander variieren zwar von Angelegenheit zu Angelegenheit und Zielrichtung in ihrer Intensität und Dauer. Es bestehen aber systemimmanente Grundübereinstimmungen und stille Obereinkünfte wie bspw. der Grundkonsens der Demokraten, bei deren Antastung schon der vereinte Verbund der zentralen Besetzer des RS 4 einschließlich ihrer Pufferinstanzen, aus gemeinsam registrierter Bedrohung, sanktionierend einschreitet. Ein Beispiel ist die bis in die achtziger Jahre hinein durchgehaltene politische Weigerung, in KZ's umgekommene Sintisund Romaals Verfolgte des Naziregimes anzuerkennen und entsprechend zu entschädigen.

2. Schwierigkeiten und Wirkungen der Verhaltenssteuerung

Die allgemeine Analyse von Produktion und Reproduktion erbrachte das Ergebnis, daß die längerfristige Sicherung der körperlichen Existenz des einzelnen bei gesellschaftlich regulierten Prozessen der Herstellung, Verteilung und des Konsums der erzeugten Güter nicht von direkt zu erbringenden ökonomischen Beiträgen abhängen muß. Vielmehr hängt es von den anerkannten Regeln der Verteilung von Mitgliedschaften ab, wer was, wann und wieviel gegen welche Gegenleistung erhält. Der Arme als derjenige, welcher in der gesellschaftlich üblichen und akzeptierten Weise keinen Beitrag zur Herstellung des Lebensnotwendigen erbringen kann, will oder darf, befindet sich somit in einer vergleichbaren Situation mit anderen Hilfebedürftigen,

2. Schwierigkeiten und Wirkungen der Verhaltenssteuerung

369

wie Behinderten, chronisch oder vorübergehend Kranken, schwachen Alten, Siechen, bleibend Unfallgeschädigten oder Kriegsversehrten. Wie allgemein bekannt, erhält ein Teil des genannten Kreises immer regelmäßig aufeinanderfolgende Unterstützungen, die Armen jedoch nicht auf jeden Fall. Es ist daher den Gründen und Ursachen nachzugehen, welche Familien, Sippen, Stämme, Organisationen etc. veranlassen, bestimmten Hilfebedürftigen selbstverständliche Unterstützung angedeihen zu lassen und anderen nicht. Offenbar werden die Regeln der Mitmenschlichkeit und der Verteilung von Ressourcen nicht immer automatisch so entwickelt, daß alle Hilfebedürftigen mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden. Im vorhergehenden Abschnitt wurde versucht, wesentliche Gesichtspunkte hinsichtlich der Gründe, Ursachen, Formen und Bedingungen des Verhaltens und seiner Steuerung sowie der Realitätssicht der Menschen zu entwickeln. Dabei wurde ein Standpunkt eingenommen und eine Form der Darstellung gewählt, die es erlaubt, gleichermaßen Großgesellschaften als auch frühere Kleingesellschaften zu analysieren. Menschliche Gesellschaften verfügen über Ziele, Baupläne und Realisierungsmittel ihrer Existenz und Entwicklung. Die primär ökonomisch gerichtete Analyse zeigt die Mechanismen, mit denen Gesellschaften materiell ihre Produktion und Reproduktion vollziehen und welche beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen und Folgen dabei auftreten können. Die Analyse des Verhaltens und seiner Steuerung sowie der Realitätseroberung der Menschen differenziert und vertieft unser Reflexionswissen über die Entstehung von Lebensentwürfen, ihre Chancen, in Entscheidungsprozessen als (Teil-) Baupläne beschlossen zu werden, die Auswahl und Entwicklung der Mittel und der praktischen Realisierung in organisierten Handlungszusammenhängen und den dabei auftretenden aktuellen und prozessualen Wirkungen, Revisionen und beabsichtigten unvorhergesehenen und scheinbaren Folgen. Der eingenommene Standpunkt, die ,Versuchsanordnung'der Analyse wurde so gewählt, daß aus dem Zusammenwirken von Sinngebungen, Zu- und Abwendungen und Tätigkeitsvollzügen die interaktiven Verhaltenssteuerungen als bestimmend für die Fortdauer, Existenzsicherung und -ausweitung des gesellschaftlichen Lebens erkannt wurden. 2.1 Die inneren Bezugsquellen der Verhaltenssteuerung

Bevor die allgemeinen Formbestimmungen situativer Verhaltenssteuerung ohne Ansehen der Person und ihrer spezifischen kulturellen und Umweltbeziehungen relationiert werden, soll geklärt werden, wie und aus welchen inneren Bezugsquellen der Mensch seine Verhaltenssteuerung erzeugt und bezieht (Abb. 25). Die Bezugsquellen der Verhaltenssteuerung sind aufgrund der begrenzten Lebensgeschichte von einzelnen und ganzen 24 Scbäuble

370

Kapitel V: Armut als Mitgliedschaftsproblem

Gesellschaften nur historisch spezifisch bestimmbar. Ein afrikanisches Buschvolk wird uns selbstverständlich erscheinende Institutionen wie Schulen, Finanzämter, Polizei, Sportvereine, professionalisierte Kulturträger etc. nicht ausgebildet haben. Aber auch es muß lebensgeschichtliche alters-, geschlechtsspezifische Tätigkeiten und gesellschaftliche Positionen, Zu- und Abwendungen und Sinngebungen entwickeln und erhalten, vergeben und vollziehen, d. h. es hat eine Vielzahl von differenzierbaren gesellschaftlichen Lebensfunktionen ausgebildet, die zwar im Unterschied zu industriellen Gesellschaften allgemein im alltäglichen Leben der Gesellschaftsmitglieder zugänglich sind, dennoch schon rudimentäre separierte und kontrollierte Aktionsräume charakterisieren. Die Abb. 25 beschreibt symbolisch die inneren Bezugsquellen der Handlungsrelevanz eines Mitglieds industrieller Großgesellschaften. Die spezifisch zu erbringende Leistung des Eigenverfügers (5 bei Abb. 26) hinsichtlich seines Sinngebungs-, Zu- und Abwendungsbestandes wird nun näher präzisiert. Auf dem individuellen Sektor von unbewußt zuarbeitenden, partiell selbstregulierten, physiko-chemischen und psychischen Quellen baut sich ein Spannungsfeld auf, welches sich zusammensetzt aus spezifisch lebensgeschichtlich bestimmten und eingegrenzten Quellen des situativ regulierenden Verkoppelungsfeldes von äußerer Wahrnehmung und dem inneren Bestand an Sinngebungen und Zu- und Abwendungen. Das Verkoppelungsfeld setzt sich aus drei Teilen zusammen; aus einem latent handlungsrelevanten, d. h.jederzeit bereitstehenden, aktualisierbaren Kopplungsteil ( 1), welcher die habituell, reflexiven etc. handlungsrelevanten Verhaltenssteuerungen, die keine bewußte Selektion und Bestimmung von Relationierungen zulassen bzw. erfordern, enthält. Um diesen Teil erstreckt sich die manifeste (2) und die hypothetische (3) Handlungsrelevanz. Den manifesten und hypothetischen Teil des Verkoppelungsfeldes regiert das Selbstkonzept Der manifeste Teil des Verkopplungsfeldes gründet auf dem bewußt zugänglichen Teil von lebensgeschichtlicher Erfahrung, -

d. i. der Bestand an erlebten Privilegierungen bis Benachteiligungen, Leistungen, Zuarbeiten und Schädigungen hinsichtlich des Lebensstils, der vor allem familienspezifisch und bezugsgruppenspezifisch bestimmt ist (4); das sind - die EinflUsseaufgrund des eingeschlagenen Karrierewegs. Dazu zählen vor allem die Annahmen und Verarbeitungen der EinflUsse, welche von der besuchten Schulart, den Bezugsgruppen, der Familie, den Hobbys und der Erwerbsarbeitssphäre als dem einzelnen gegenObertretende gUltige Verhaltensanforderungen gestellt werden ( 5); - die Einbindung in religiöse, ethische und weltanschauliche Zusammenhänge und das sich daraus ergebende Interpretationsgefüge der Realität (6); - die erkannten und genutzten individuellen Freiräume und Beschränkungen durch FremdverfUger, welche in denen von ihnen kontrollierten Aktionsräumen Ober hohe Sanktionsgewalt verfUgen, woraus sich der Bestand an individuell verfOgbaren Verhaltenssteuerungsmitteln und deren Tauglichkeitserwartungen hinsichtlich der Verhaltenszielerreichungen ergibt (7);

2. Schwierigkeiten und Wirkungen der Verhaltenssteuerung

371

- die verankerte Balancierungsstruktur der Zu- und Abwendungen. Es handelt sich um die hierarchischen Festlegungen von emotionalen Sympathien, Abwehrhaltungen, Ekelschranken, Stimmungsfallen, ekstatischen Aggressionen bis lusterregenden Objekten (8).

Neben dem primär in der Erinnerung und dem Unbewußten verankerten und durch langewährende Übung und Wiederholung gefestigten Bestand an lebensgeschichtlicher Erfahrung sind die direkt im Alltagshandeln angewandten Regeln und Annahmen sowie Sichtweisen des Zusammenlebens in den Bezugsgruppen (10) (Arbeitskollegen, Bekannte, Verwandte) und der Familie (9) für die Kopplungen in die manifeste Handlungsrelevanz von wesentlicher Bedeutung. Sie stellen differenziertere, sanktionsbeschwerte, verinnerlichte Erwartung darüber, was die anderen, körperlich erlebbaren Interaktionseinheiten vom EigenverfügeT erwarten, fordern, tolerieren etc., dar und stärker situativ und den aktuellen, altersspezifisch variierenden Zufluß an Sinngebungen, Tätigkeitsanforderungen und Zu- und Abwendungen. Als letzter wesentlicher Teil ist das ausgebildete normative Verteilungsgefüge des Anspruchsniveaus (Sollzustand) hinsichtlich sich selbst (II) (Erfolg haben, verzeihen können, ehrlich, gerecht sein etc.) der Ansprüche an Bezugsgruppen ( 12) und an die Bezugssysteme ( 13) zu nennen. In ihm werden die aktualisierbaren Intensitätsgrade und Anteile von Intentionen, Motiven und Interessen verteilt. Hinter dem Verteilungsgefüge des Anspruchsniveaus stehen die Verhaltensziele, welche nach Inhalt, Intensitätsgrad der Zielverfolgung und Gegenwarts-Zukunfts-Vergangenheitsbezug variieren (14). Die hypothetische Handlungsrelevanz (3) kennzeichnet die Einsatzmöglichkeiten der entwickelten Reflexionsfähigkeiten, ihre Problematisierungskapazität, die Vielfalt an systematischen Abstraktionsdistanzen und -ebenen und die Fähigkeit, logisch-universal zu relationieren. Die Verarbeitung von Rückmeldungen und die flexible Neurelationierung von Teilen des Sinngebungsbestands hängt von den entwickelten Verknüpfungsformen, deren Dichte und quantitativen Fassungsvermögen ab. Der registrierte und verarbeitete Teil des Wertegefüges der gesamtgesellschaftlich gültigen Realität (RS 4) und der Realität abweichenden Verhaltens, werden als institutionell und über Organisationen vermittelte, individuell und mitgliedschaftsspezifisch aufgenommene Maximen, allgemeine Regeln, offizielle Orientierungen, nahegelegte Interessen und Interpretationsgefüge hinsichtlich des öffentlichen Lebens und institutionell kontrollierter Aktionsräume durch (15) symbolisiert. Wie schon an anderer Stelle ausgeführt wird das Selbstkonzept als zentrale statisch-dynamische Regulationsinstanz der individuellen Realitätseroberung gesehen. Die Bestandteile des Selbstkonzepts, seine Quellen, Erfahrungsbestände etc. produzieren zusammen das individuelle Realitätsgefüge. Es ist interaktiv in Kontakt mit der äußeren Realität, in Abb. 24 24°

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Abb. 25: Innere Bezugsquellen der Verhaltenssteuerung

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Abb. 26: Situative zirkulär-prozessuale Verhaltenssteuerung von Interaktionseinheiten

visuell/verbalisiertes Situationshandeln

374

Kapitel V: Armut als Mitgliedschaftsproblem

symbolisch dargestellt als einzelne Segmente der Totalität der Realität. Das Selbstkonzept entscheidet mittels oszillierender Abwägungen zwischen den von den inneren Quellen energetisch produzierten und mittels des Orientierungsbedürfnisses gewichteten und kontrollierten Beständen an Ansprüchen, Motiven, Interessen etc. und den von außen herangetragenen Anforderungen, Belastungen, Belohnungen, Verstärkungen, Sanktionen und führt selektiv dem Realitätsgefüge über erlebnisverarbeitende Reduktionen neue Erfahrungen, Ansprüche, Ziele etc. zu. 2.2 Die situativinteraktive Verhaltenssteuerung

Die allgemeine Struktur der situativen Verhaltenssteuerung von Interaktionseinheiten wird in Abb. 26 dargestellt. Das Modell beschreibt zwei ineinander verwobene Verläufe. Die zirkulär wiederholenden Phasen des Dreierschritts von Situationswahrnehmung (I) Definition (2) Tätigkeitsvollzug (3) und die prozessual fortschreitende Realisierung von Verhaltenssteuerungsstrukturen, die über Rückkopplungen (4) (Definitionen lassen sich durchsetzen, Verhalten bewährt sich oder nicht etc.) in habituelles, gewohnheitsmäßiges Verhalten als Bestandteil des Realitätsgefüges und des Selbstkonzepts eingehen. Dargestellt werden die beiden Verläufe anband eines Eigenverfügers über Zeit, Ressourcen, Tätigkeiten, Zu- und Abwendungen, Sinngebungen (EV), und den auf seine Versuche der Verhaltenssteuerung wirkenden Interaktionseinheiten, Fremdauslöser, Rückkopplungen, erwarteten und nicht erwarteten Einflüsse. Berücksichtigt wird auch die aktuelle körperlichpsychische Verfassung (bspw. beeinträchtigter Gesundheitszustand, Alter, Streßsituation) und habituelles etc. Verhalten, das nicht den bewußt vorgenommenen Steuerungsprozeß I - 3 durchläuft (6). Je nachdem, welches Verhaltenssteuerungsverfahren von den Eigenverfügern praktiziert wird, kämpfen oder verhandeln sie um Definitionsmacht, oder sie verdichten ihre gegenseitigen Erwartungen in gemeinsam getragene, vereinigte Definitionen. Es geht im wesentlichen um dreierlei: welche Realitätssichtweise läßt sich zur geltenden erheben, welche Definitionen lassen sich als gültig durch- : setzen und welche Handlungsvollzüge sind damit vereinbar oder werden damit bezweckt. Auf jeden Fall muß, wenn die Interaktionen glücken sollen, ein ,Einigungsprozeß' stattfinden, in dem die Verteilung der Definitionsmacht geregelt wird. Wer situative Definitionsmacht ohne Berücksichtigung von Zustimmung anderer Interaktionseinheiten durchsetzen will, ist auf Mittel angewiesen, die direkte oder indirekte Kontrolle von Tätigkeitsvollzügen ermöglichen. Ebenso ist die Folge von verhandlungsgesteuerter Interaktion oftmals die Einführung anerkannter Kontrolle zur Durchführung der Einhaltung der Beschlüsse. Geglückte interaktive Zu- und Abwendungsbalancierungen bedingen denVerzieht von gegenseitiger Kontrolle. Sie sind

2. Schwierigkeiten und Wirkungen der Verhaltenssteuerung

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nur herstellbar, wenn die real polyvalenten individuellen Erwartungen sich psychisch widerspruchslos vereinigen lassen in Definitionen und Handlungsvollzügen, deren strukturelle Affinität weit in die materielle Umwelt stimmig eingeht. Obwohl die einzelnen in ihrer Lebensgeschichte strukturell gültige Rangordnungen ihrer Zu- und Abwendungsbalancierungsgefüge erwerben, bleiben geglückte zwischenmenschliche Zu- und Abwendungsbalancierungen immer an Situationen gebunden; auch wenn die individuell vorgebildeten Rangordnungen hohe strukturelle Übereinstimmungen aufweisen. Mißglückte Balancierungen erinnern wie Friedhöfe an Vergangenes. Einerseits mahnen sie zur Vorsicht und nähren Vorurteile, andererseits erschweren sie neue Anhabnungen von situativem Wohlbefinden und Lusterleben. Die in der oberen Abbildungshälfte symbolisierten potentiellen Fremdauslöser der Verhaltenssteuerung sind unterschieden in Umgebungseinflüsse (7), Kenntnis der anerkannten und situativ anwendbaren gültigen Regeln des Verhaltens (8) und der direkten Einwirkungen durch andere Interaktionseinheiten (9). Die im prozessualen Verlauf auftretenden neuen Impulse und Rückmeldungen (10) wie Bestätigungen, Modifikationen etc. sowie Änderungen der Verhaltensziele und -intentionen, Wirkungen und Folgen, werden durch die Realitätsfilter RS I bis RS 4 beim Eigenverfüger (5) neu relationiert und über die Wahrnehmung neu in die Situation eingeführt. Diese Abbildung weist auf verschiedene allgemeine Schwierigkeiten individueller Verhaltenssteuerung hin. Defizite können bestehen in der zu reduktionistischen, oberflächlichen, überforderten etc. Relationierung der Wahrnehmung, in zu rigiden, festgefahrenen oder der kollektiven Zustimmung entzogenen Balancierungen der Zu- und Abwendungen oder in zu schematischer, stur gewohnheitsmäßig reproduzierender Wiederholung von Definitionen und Tätigkeitsvollzügen in verschiedenen Interaktionssituationen. Das grundlegende Problem besteht in der Abstimmung von neuen situativen und prozessualen Elementen in Interaktionen, welche einen höheren Aufmerksamkeitsgrad und Energieaufwand zur Relationierung fordern, und den bewährten, auf Wiederholung und Erfolgsgewöhnung basierenden Elementen. Die Folgen inadäquat erfolgender Verhaltenssteuerung sind unbeabsichtigte, zumeist die angestrebten Ziele störende, auf Umwege leitende Wirkungen. 2.3 Handlungen In Verflechtungszusammenhängen

In der Abbildung ,Elemente und Phasen von Handlungen in Verflechtungszusammenhängen' wird die individuelle, verhaltensgesteuerte Realitätseroberung auf der über der situativen Verhaltenssteuerung liegenden Komplexitätsstufe skizziert. Der einzelne tritt hier nicht isoliert als verhaltenssteuernde Interaktionseinheit auf, sondern als aktiv eingreifendes Eie-

FIKTIVER AUSGANGSPUNKT

voo W\SJ'E!Zifizierter

ABSCHLUSS DER HANDLUNG

DEFINITION DES PROBLEMZUSAMMENHANGS IN DER PLANUNGSPHASE

Kaltrolle

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BestlJmung des ZWecks der llandl~sabfolge, untel: .... 3

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2. Schwierigkeiten und Wirkungen der Verhaltenssteuerung

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ment innerhalb von kollektiv geplanten und arbeitsteilig durchgeführten Handlungsabläufen. Wäre situatives Handeln auf die beständige Neurelationierung von Umweltimpulsen und inneren Motiven beschränkt, müßten erfolgreiche Handlungen weitgehend von unwägbaren Zufällen abhängig sein. Während Verhalten in der Regel Reaktionen auf nicht (näher) erzeugte und durchschaute Ursachen beinhaltet und vorwiegend nicht beabsichtigte Wirkungen nach sich zieht, ist Handeln begründet und sind die Folgen des Handeins bezweckte Ergebnisse (im Idealfall) von Handlungsabfolgen. Handeln unterscheidet sich von yerhalten durch den höheren Präzisierungsgrad des raum-zeitlichen Zielhorizonts, der Perspektivenverschränkung mit anderen an der Handlung mittelbar und unmittelbar beteiligten Interaktionseinheiten und dem bewußten Einbezug und der Abwägung von Nutzen und Wert der Handlung. Da aber jede Handlung sich durch die Komplexitätsstufe der situativen Verhaltenssteuerung hindurch realisieren muß, bleibt der Begriff der Verhaltenssteuerung der Oberbegriff. Die Reduktion der Unsicherheit in der individuellen Verfolgung von Handlungszielen und die Stabilisierung des Handlungsgeschehens erfolgt mittels der Zerlegung des Handlungsprozesses in seine einzelnen Elemente, deren Ausgestaltung und der vorausschauenden und korrigierenden Abstimmung mit den anderen real und potentiell vorhersehbar an der Handlung beteiligten Interaktionseinheiten. Die wesentlichen Phasen von Handlungsabläufen (hier verkürzt wiedergegeben) sind: (I) Erfindung des Ausgangspunktes der Handlungsabfolge als normative Forderung, Intention, Bedürfnis oder Motiv. {2) Definition des Problemzusammenhangs zur Begründung der Planung einer Handlungsfolge zur Erreichung eines oder mehrerer spezifischer Handlungsziele. (3) Erarbeitung von groben Handlungsalternativen unter Einbezug von als Umwelt fungierenden anderen lnteraktionseinheiten, deren Handlungsziele, Mitteln und erwarteten Reaktionen auf das beabsichtigte eigene Handeln. Diese Planungsphase schließt neben vorausschauenden groben Prognoseformulierungen auch die Perspektivenverschränkung mit anderen von der Gesamthandlung oder einzelnen Handlungsschritten tangierten und/oder an ihr beteiligten Interaktionseinheiten ein. (4) In der Entscheidungsphase wird ein bestimmtes Vorgehen als Handlungsstrategie verbindlich festgelegt. Die Festlegung kann kraft der Sanktionsmacht von einzelnen, oder der von Mehr- oder Minderheiten, Kollektiven sowie durch Beschlüsse erfolgen. Zur Entscheidungsphase gehört auch die vorstrukturierte Differenzierung des Handlungsablaufs hinsichtlich der Rollen und Aufgaben der Akteure, der einzusetzenden Mittel und ihrer Einsatzzeiten/ürte sowie Obereinkünfte mit mittelbar an der Handlung beteiligten oder tangierten Interaktionseinheiten. Diese

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Kapitel V: Armut als Mitgliedschaftsproblem

Übereinkünfte unterliegen je nach Planung fortwährender begleitender Korrektur (4,1), (4,2), da unbeabsichtigte Folgen und neue Problemaspekte wahrgenommen werden. (5) Die Durchführung der Handlungsabfolge gliedert sich entsprechend der Planung in einzelne zeitlich fixierte Teilschritte. Der eigentlichen Handlung nebengelagert (5, I) sind Kontroll- und Prüfverfahren zur Einhaltung und Stabilisierung der Handlungsschritte. Soweit Abweichungen vom vorgesehenen Ablauf feststellbar sind und/ oder Zielkorrekturen vorzunehmen sind, werden die entsprechenden Änderungen vorgenommen und aufeinander abgestimmt. (6) Die Handlung wird beendet mit dem Erfolg der Handlung, dem Scheitern der teilweisen oder der gesamten Zielverwirklichung, welche die Verteilung des Nutzens bzw. der Verluste, welche die Handlung erbrachte, an die Beteiligten und Nutznießer einschließt. War die Handlung erfolgreich im Sinne der Wertschöpfung, wird sie sich einer hohen Wertschätzung erfreuen und das Verlangen nach Wiederholung evtl. sogar nach dauerhafter Installierung hervorrufen. Die Ergebnissicherung kann daher einhergehen mit Maßnahmen zu weiterführenden Planungen, mit dem Ziel der organisierten Zweckverfolgung durch arbeitsverpflichtete Mitglieder. Führen derartige Evaluationsverfahren zu dem Ergebnis der Organisationsgründung, wird eine neue, komplexere Stufe der verhaltensgesteuerten Realitätseroberung erreicht, die als strukturelle Verhaltenssteuerung bezeichnet wird (s. Kap. V, 4.). (7) Mit der Beendigung der Handlung wird auch der zu spezifischen Zwecken gebildete Handlungszusammenhang zunächst aufgehoben. Die kontrahierten Akteure der beendeten Handlung werden möglicherweise über andere Handlungen aktive miteinander kooperierende Elemente kollektiver Realitätseroberung sein. Aus der Betrachtung der einzelnen Handlung fallen die einzelnen beteiligten Interaktionseinheiten auf die Ausgangsstufe der situativen Verhaltenssteuerung zurück.

3. Organisation und Kodifizierung Handlungen können auf der Basis traditionaler, konventioneller Verhaltensregeln in mündlicher Kommunikation durchgeführt werden. Mit der Ausweitung der Anzahl der an der Handlung Beteiligten, der Herkunft und dem Umfang der Mittel, der Dauer und Menge von Teilschritten, der Zieldifferenzierung, der dauerhaften Wiederholung der Handlung, steigen die orga~ nisatorischen Anforderungen. Der Aufwand an Transaktionskosten (Vermittlungskosten) kann gesenkt werden, indem die einzelnen Handlungsschritte und die verschiedenen Tätigkeitsanforderungen arbeitsteilig spezialisiert werden (Planung, Durchführung, Kontrolle) und an einzelne

3. Organisation und Kodifizierung

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Mitglieder als dauerhafte Spezialaufgaben delegiert werden. Die Regulierung der Bedingungen, nach denen die kombinierten Handlungen dann bewertet werden, schafft neue Anforderungen. Ohne hier die im einzelnen für Organisationen charakteristischen Merkmale aufzählen zu wollen, dürfte klar geworden sein, daß die Bewältigung komplexer Aufgaben ohne Organisation, als dauerhafte raum-zeitliche Einrichtung zur Problembewältigung, schlechthin unmöglich ist. Der sachlich-funktionale Vollzug der Aufgaben zwingt zu spezifischen Verhaltensregeln und Sinngebungen, die der Verfügung der einzelnen Organisationsmitglieder insoweit entzogen sind, als sie sie nicht eigenmächtig ändern können, sie sie aber in ihrem Verhalten berücksichtigen müssen. Organisationen, die komplexe Aufgaben zu bewältigen haben, verteilen ihre Arbeit auf verschiedene Mitglieder. Sie entwickeln damit arbeitsteilige Organisationsformen, die zu hierarchisch angeordneten funktionalen Kompetenzverteilungen führen. Diese sind zunächst einmal nichts anderes als geteilte Eroberung der Realität. Die Kompetenzverteilungen sind aber dann auch spezifisch politisch zugeschnittene Tätigkeitsmuster, die sich, wenn sie auf Dauer und Wiederholung angelegt sind, rekrutierend verfestigen. Dann sind daraus sozial abgesicherte Spezialistenpositionen geworden, welche sich von ihrem Tätigkeitsvollzug her als planende, leitende, ausführende, reparierende, installierende, kontrollierende, sichernde, transportierende etc. Tätigkeitsmuster kategorisieren lassen. Wenn die Arbeitsteilung soweit fortgeschritten ist, daß der Aktionsraum des einzelnen statistisch nur noch einen winzigen unbedeutenden Ausschnitt von Tätigkeitsmustern umfaßt, haben sich neben den formellen zu verantwortenden Positions-, Kompetenz- und Tätigkeitsmusterzuweisungen auch informelle Organisationsstrukturen gehalten und I oder neu herausgebildet. Ihr spezifisches Kennzeichen ist, daß sie unter Nichtbeachtung und Umgehung, d. h. Abwendung und teilweiser Verletzung von formell sanktionierten Vorgaben in face-to-face Situationen die Tätigkeitsvollzüge und Kompetenzverteilungen neu koordinieren und relationieren. Neben den rechtlichen Sinngebungsbestand (explizite Institution) tritt somit ein sachlich funktionaler und daran gebundener strukturell ähnlicher, von der jeweiligen Organisationsrationalität abhängiger, tätigkeitspolitischer Sinngebungsbestand. Zudem etabliert sich ein hierarchisches Positionsgefüge, welches eine partiell von der reinen Aufgabenerledigung und -bewältigung gelöste Selbstregulierung vollzieht. Diese Selbstregulierung taucht in den situativen Interaktionen als Anforderung bis Zwang von Fremdverfügern auf. Über die Reg.ulierung von Mitgliedscharten werden Privilegien geschaffen, erhalten und anderen verwehrt. Die institutionellen und organisationsgebundenen Verhaltenssteuerungen weisen jeweils spezifische Kodifizierungen auf. Sie sind an allgemeines, kodifiziertes Recht gebunden, welches bestimmte Verfahrensweisen und -wege sowie bestimmte Mindestbedingungen und Grenzen des Umgangs mit

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Kapitel V: Armut als Mitgliedschaftsproblem

Ressourcen, Zeit und Tätigkeiten vorschreibt. Körperschaften und Institutionen verfügen in der Regel aus ihrer spezifischen Zweckhaftigkeit über zusätzliche Verhaltenscodes, die die Zweckverfolgung effektivieren, überprüfen, regulieren etc. sollen, d. h. sie haben übergeordnete und selbstproduzierte rechtliche Verhaltensregulierungs bestände. Diese Regelbestände sind zu unterscheiden hinsichtlich ihrer Anteile, welche sich funktional auf die Ausrichtung der Tätigkeitsvollzüge beziehen und denjenigen, welche die Interessenauseinandersetzungen regeln, sowie denjenigen, welche die Integration aufrechterhalten, indem sie die kollektiv relevanten Zu- und Abwendungen der Menschen festigen und kontrollieren. Als Anweisungssysteme für Tätigkeitsvollzüge ermöglichen sie erst den anonym befolgbaren arbeitsteiligen Lebensvollzug. Als materieller Ausdruck von verhaltensgesteuerten Mechanismen der Herrschaftssicherung, -verteilung und -abstinenz sowie der anerkannten Verhandlungsformen und -mechanismen und der Freiräume für Selbsthilfe, sind sie Vermittlungsmechanismen des Interessenausgleichs. Interessen sind im Unterschied zu Werten unmittelbar auf materielle Zweckverfolgung gerichtet. Als Anspruchs-, Geltungs- und Lebensphilosophien verkörpert ein weiterer Teil dieser Regelbestände Werte und daraus abgeleitete, im Allgemeinheilsgrad schwankende Verhaltensregeln, welche einerseits stark die Zu- und Abwendungsbalancen der Menschen bestimmen, andererseits positiv-aufnehmende Wirkungen nur erzielen können, wenn ihre soziale und individuelle Nützlichkeit, Attraktivität und Tauglichkeit funktional auf die individuellen psychischen Dispositionen passen und in kollektiven Übungen gefestigt werden. Sind diese sittlichen Gebote und Verbote wie Fairness, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Respekt, Nächstenliebe etc. als individuelle Regelungsprinzipien der psychischen Zu- und Abwendungsbalancierungen in das Selbstkonzept eingearbeitet worden, führen Regelverletzungen zu inneren Konflikten und der Gefahr gesellschaftlicher Reaktionen. Werte sind partiell verhaltensregulierend wirkende Institutionen; primär ideelle Schleusen, Antreiber, Ratgeber, Informanten, Meinungsführer, Schlüsselfiguren, Pförtner, Wachen etc. von kollektiv sanktionsbeschwert angeordneten, individuell als verbindlich anerkannten Sinngebungssystemen. Im Unterschied zu implizit institutionalisierten Werten, welche allgemeine Lebensorientierungen und -hilfen liefern, sind Normen als Verhaltensansprüche und -anweisungen die konkreten verbindlichen Verhaltensregeln, die im Alltag angewendet werden. Werte und Normen befinden sich in einem Verhältnis von Soll- und Realzustand. Sie liefern für die Realitätssegmente 3 und 4 in expliziten und impliziten Formen die gültigen Regulierungsmechanismen der Tätigkeitsvollzüge und begrenzen Zu- und Abwendungen. Mittels Werte und Normen wird Vergangenheit erklärt, gegenwärtiges Handeln angeleitet, werden Tabus und Freiräume festgelegt. Sie liefern führende, stabilisierende Verhaltensprinzipien, sichern system-

3. Organisation und Kodifizierung

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spezifische Erleichterung und Mitmenschlichkeit zu, spenden Trost, versprechen zukünftige Heilshoffnungen, Leistungen, Schädigungen, Niederlagen und bieten und fordern Eingliederungs-, Rehabilitations- und Bewährungsmaßnahmen. Zur Durchsetzung der Handlungsanweisungen der WertNormgefüge gibt es je nach Institutionsform (s. 1.1 u. 1.2). Integrationseinheiten, welche normativ-ideelle und 1oder materielle Sanktionsgewalt ausüben. Sie überwachen und verwalten die Inhalte und die als legitim oder illegitim gehaltenen Mittel der normativen Verhaltenssteuerung, regeln die Verantwortungsanteile an den TätigkeitsvollzOgen und die Ansprüche Dritter oder anderer Integrationseinheiten an den Resultaten der Tätigkeitsvollzüge. Eine soziologische Besonderheit des normativen Integrationsregelsystems besteht im spezifischen Wirkungszusammenhang von Handlung und Handlungsfolge: Parallel, aber auch unabhängig vom (möglichen) individuell auftretenden inneren Konflikt bei einer Regelverletzung, besteht die Gefahr von äußeren Zwangsmaßnahmen. Je nachdem, von wem und ob die Regelverletzung überhaupt bemerkt wurde, erfolgen abgestufte negative Sanktionen. Der Diebstahl eines Buches wird bei den Menschen, die von der Richtigkeit des etablierten Geld-Ware-Geld-Tauschs, d. h. von der Richtigkeit und Gültigkeit dieser Normen überzeugt sind, von inneren Konflikten begleitet. Sie werden solche Taten verheimlichen. Jemand, dessen - wahrscheinlich subkulturelles - Wertesystem ihm sagt, Bücher zu stehlen sei ein Akt individuellen Ausgleichs zwischen überhöhten profitorientierten und den an den Gebrauchswerten orientierten Preisen, wird statt eines normativen Regelverstoßes einen Akt der Gerechtigkeit im gelegentlichen Entwenden von Büchern erkennen. Er wird in seinen Bezugsgruppen für erfolgreiches Stehlen positive Zuwendung erfahren. Da jeweils historisch gesellschaftsspezifisch ein bestimmtes Wert-Normgefüge verbindlich für alle Gesellschaftsmitglieder aufrechterhalten und fortentwickelt wird, weiß natürlich auch der in ein vom gesamtgesellschaftlich gültigen Wert-Normgefüge abweichenden Geftige integrierte Mensch über die höhere Sanktionsgewalt der Vertreter des RS 4 Bescheid. Wenn sein, aus der Sicht des RS 4 (sozialgültiges Realitätssegment) regelverletzendes Verhalten, von einer Verkäuferin oder einem Kaufhausdetektiv beobachtet wurde und er daraufhin ,gefaßt' werden kann, muß er mit einer Anzeige, evtl. auch Hausverbot rechnen und die Kosten für entstandene Aufwendungen (Verkäuferinnen erhalten pro gestellten Dieb eine Fangprämie) tragen. Nach der hier vertretenen Auffassung ist zu unterscheiden zwischen den materiellen Schädigungen und der Beschränkung der Bewegungsfreiheit als Folge der Regelverletzung und dem Entzug von positiven Zuwendungen, die der Dieb als ehrlicher Kunde vorher erwarten konnte. In einem kleinen Dorf, wo jeder jeden kennt, hätte ein entdeckter Diebstahl sicherlich einen viel umfangreicheren Entzug von positiven Interaktionen und Übertragungen von negativen Abwendungen zur Folge als in der Anonymität der Großstadt,

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Kapitel V: Armut als Mitgliedschaftsproblem

in der eine aus dem alltäglichen Zusammenleben sich ergebende soziale Kontrolle des Verhaltens nur noch in den Bezugsgruppen und Familien möglich ist. Der grundlegende Unterschied zwischen der Verteilung von normativen Sanktionen und allen anderen Übertragungen liegt in dem prinzipiell damit verbundenen Entzug oder der Übertragung von Zuwendungen. Die erwartbaren normativen Folgen lassen sich weder automatisch aus dem System der Tätigkeitsvollzüge, noch aus dem System der funktional darauf bezogenen Sinngebungsregulierungen erkennen. Vielmehr besitzen Wert-Normgefüge über eigene partiell selbstregulierte Regulierungsmechanismen und Instanzen, welche die gesellschaftlichen Reaktionen auf regelverletzende Menschen festlegen und vollziehen. Es ist also nicht der Tätigkeitsvollzug, welcher die normative Sanktion auslöst, sondern sie ergibt sich aus einer Regelverletzung. Genauso wie die Entfaltung der Produktivkräfte und die Entwicklung der Herrschaftsverhältnisse spezifische Eigentendenzen aufweisen, unterliegen auch Wert-Normgefüge partiell selbstregulierten Entwicklungstendenzen. Einerseits zeigen sich diese in den Reaktionen auf die Zwänge, welche von den Veränderungen in den organisierten Tätigkeitsvollzügen und der funktional daran gebundenen Sinngebungssysteme auf neue, segmentelle Wert-Normkonstellationen drängen und andererseits in den Gesetzmäßigkeilen der Erhaltung und Stabilisierung eines gesellschaftlichen Integrationsniveaus über Null. Mittels Pufferinstanzen wird von der Zentralgewalt versucht, die Segmentierung und Differenzierung der WertNormgefüge zu begrenzen, einzugliedern und unterzuordnen. Korrespondierte früher bspw. im frühen Mittelalter, eine absolute und geschlossene religiöse Lebensphilosophie mit der stationären Wirtschaftsweise und der Bevölkerungsrekrutierung in Klassen und Ständen adäquat, so können ihre Maßstäbe von Treue, Kontinuität und Zuverlässigkeit in den heutigen kapitalistischen Gesellschaften, welche über anonyme Marktkonkurrenzen unter staatlicher Beteiligung und Eingriffen bei hoher individueller Verantwortung, nur noch beschränkt funktional sein, wenn man anerkennt, daß die Lebensfristung heutzutage lebensgeschichtlich mehrmals neue flexible Anpassungen, welche Norm- und auch Wertwandel provozieren, erfordern. Die Alternative wäre, sich in Angst und Schrecken vor der Zukunft an die alten Glaubenssätze, Zu-und Abwendungsbalancierungsgefüge zu klammern. Direkte, sich aus den partiellen Selbstregulierungsmöglichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Teilung in segmenteil dominante Institutionen ergebende Folgen sind die Notwendigkeit, Normendiskussionen zu führen, statt nur von oben anzuordnen, statt physischer Gewaltanwendung auf Zustimmung zu setzen und die gesellschaftlichen Interessenauseinandersetzungen auf rational beiderseits nachprüfbaren und anerkannten Grundlagen zu betreiben, statt Kriege zu führen (s. Abb. ,Die wesentlichen .. .').

gewalt

indiVidueller Sanktions-

nie:ierer

Bereidl.

5anktial5gewalt

heiler

Bereidl

Abb. 28: Die wesentlichen Institutionen, Organisationen, Bereiche und Interaktionseinheiten, welche die sozialen Personenabstände regulieren

Bez~sgruppenbeeinflusstes sowie mit:qliedsd>afts- W'd positioosbestinmtes Vernalten, wcldles nach lnlividueller Handlungsrelevanz relationiert wUd und in ö tfentiid·.en Wld privaten Räumen vollzogen wird.

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