Armut als Herausforderung: Bestandsaufnahme und Perspektiven der Armutsforschung und Armutsberichterstattung [1 ed.] 9783428509843, 9783428109845

Mit der Vorlage des ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung im Jahr 2001 ist eine neue Etappe der Armut

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Armut als Herausforderung: Bestandsaufnahme und Perspektiven der Armutsforschung und Armutsberichterstattung [1 ed.]
 9783428509843, 9783428109845

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Stefan Sell (Hrsg.) · Armut als Herausforderung

Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e. V. Band 23

Armut als Herausforderung Bestandsaufnahme und Perspektiven der Armutsforschung und Armutsberichterstattung

Herausgegeben von

Stefan Sell

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0435-8287 ISBN 3-428-10984-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Ein Teil der im vorliegenden Sammelband publizierten Beiträge geht auf Vorträge während der Jahrestagung der "Gesellschaft für Sozialen Fortschritt" im Oktober 2001 in Hennef zum Thema "Armutsforschung, Armutsberichterstattung - Und was dann?" zurück. Die Tagung wurde gemeinsam mit dem AWO-Bundesverband in der Berufsgenossenschaftlichen Akademie in Hennef durchgeführt. Angesichts der Komplexität und Breite des Themas wurden weitere Aufsätze in den Band aufgenommen, um den Forschungs- und Diskussionsstand möglichst umfassend abzubilden. Mit der Analyse und Diskussion des Themas "Armut" und den aktuellen Beiträgen der Armutsberichterstattung und Armutsforschung in der Schriftenreihe der Gesellschaft wird an eine Traditionslinie angeknüpft, die bis in die 50er Jahre des vergangeneo Jahrhunderts zurückreicht, als der erste Band im Duncker & Humblot-Verlag veröffentlicht wurde. Immer wieder hat die Gesellschaft für Sozialen Fortschritt sich gerade der normativ höchst umstrittenen Themenfelder der Sozialpolitik angenommen. Und auch das Thema "Armut" (in einem "reichen" Land) gehört zu diesen Feldern. Die normative Herausforderung wird bereits im (eigentlich) explikativen Bereich der Armutsforschung und -berichterstattung erkennbar, wenn man z. B. die höchst widersprüchlichen Operationalisierungen von Armutsschwellen betrachtet, die benötigt werden, um das Ausmaß eines Teils der Problemlagen quantifizieren zu können. Aber Armut - das zeigen die Beiträge in diesem Band deutlich - ist eben mehr als Einkommensarmut - und zuweilen liegt sie auch quer zur Frage der materiellen Ressourcenausstattung. An dieser schwierigen Schnittstelle bewegen sich die vorliegenden Abhandlungen und mögliche, naturgemäß höchst umstrittene Vorschläge für Wege aus der Armutsproblematik runden den Band ab. Remagen, im November 2002

Stefan Sell

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung Seil, Stefan Armutsforschung und Armutsberichterstattung aus Sicht einer lebenslagenorientierten Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Ergebnisse aus der Armutsforschung Böhnke, Petra Die exklusive Gesellschaft. Empirische Befunde zu Armut und sozialer Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Heitzmann, Karin Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung in Österreich: lmplikationen für eine vorbeugende Armutspolitik am Beispiel des Weltbank-Konzepts des "sozialen Risikomanagements" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Fachinger, Uwe Die Selbständigen - Armutspotential der Zukunft?

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Kölling, Amd Haushalte mit niedrigem Einkommen bei Vollerwerbstätigkeit einzelner Mitglieder: Armutsrisiken von Haushalten trotz Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . 131

111. Stand und Perspektiven der Armutsberichterstattung Hartmann, Helmut Armuts- und Reichtumsberichterstattung in der Bundesrepublik Deutschland .................. . ... . . ........... . .. . . .. .. ........ .. ... . . .... 155 Müllenmeister-Faust, Uwe Möglichkeiten und Grenzen der Armuts- und Reichtumsberichterstattung . . 169 Amdt, Joachim und Jung, Knut

Armuts- und Reichtumsberichterstattung fortsetzen und weiterentwickeln .. 193

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Inhaltsverzeichnis

IV. "Bekämpfte Armut"?Forschungsbefunde und Vorschläge zur Sozialhilfe Rentzsch, Doris und Olk, Thomas Sozialhilfedynamik in Ostdeutschland. Sozialhilfeverläufe und zeitdynamische Problemgruppen in der Halleschen Längsschnittstudie (HLS) . . . . . . . . 229 Engels, Dietrich Nicht-Inanspruchnahme zustehender Sozialhilfeleistungen ........... ..... 263 Bäcker, Gerhard Armut trotz Sozialhilfe? Zum Verhältnis von Einkommensarmut und Hilfe zum Lebensunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Tsalastras, Apostolos Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfangern . . . . . . . . . . . 309

V. Internationale Aspekte der Armutsforschung und Armutspolitik Butterwegge, Christoph Herrschaft des Marktes - Abschied von der Armut? Globalisierung, soziale Polarisierung und Pauperisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Hammel, Manfred Zur Kampagne der britischen Regierung, die Bevölkerung davon abzuhalten, Bettlern Geld zu reichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Hippe[, Eike von Massenelend als Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

VI. Perspektiven der Armutspolitik Winzek, Sören Das Verbraucherinsolvenzverfahren als Hilfe in Überschuldungssituationen 401 Klein-Reinhardt, Albert Wirtschaftliche und soziale Kompetenz stärken. Das Maßnahmenkonzept des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Armutsprophylaxe . ...... . .. ........... ....... . . . . . ... .. ....... . .... ... 431 Ehrenberg, Herbert Erfolgreiche Armutsbekämpfung braucht neue Finanzierungsgrundlagen . . . 449

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

I. Einleitung

Armutsforschung und Armutsberichterstattung aus Sicht einer lebenslagenorientierten Sozialpolitik Von Stefan Sell, Remagen 1. Zur Rezeption des ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung im Frühjahr 2001

Die Veröffentlichung des ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung mit dem Titel "Lebenslagen in Deutschland" (BT-Drucksache 14/5990) im Frühjahr 2001 ist der vorläufige Höhepunkt der Ausdifferenzierung einer Armuts- bzw. Sozialberichterstattung in Deutschland, die im wesentlichen aus zwei Linien besteht. Zum einen werden seit Ende der 80er Jahre zunehmend "amtliche Armutsberichte" auf der kommunalen Ebene bzw. von einzelnen Bundesländern vorgelegt. Als Vorreiter seien hier Bremen (1987), München (1987) oder Harnburg (1993) genannt, bezogen auf die Bundesländer finden die seit 1992 regelmäßig zu unterschiedlichen Themenfeldern erstellten Sozialberichte in Nordrhein-Westfalen oder der Bericht der Staatsregierung zur sozialen Lage in Bayern Beachtung. Die zweite Linie setzt sich zusammen aus den "nichtamtlichen" Armutsberichten der Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften; erwähnt seien hier nur der erste dieser Berichte ". . . wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land ..." von 1989, 1 der Armutsbericht "Arme unter uns" des Deutschen Caritasverbandes von 1993 (Hauser/Hübinger 1993) sowie der 1994 veröffentlichte Bericht des DGB und Paritätischen Wohlfahrtsverbandes "Armut in Deutschland" (Hanesch et al. 1994) und die 2000 vorgelegte Fortschreibung dieses Berichts (Hanesch et al. 2000). Das, was wir heute über Armut in Deutschland wissen, stammt vor allem aus diesen Armutsberichten, wenn es auch gerade aus dem "wissenschaftlichen" Lager immer wieder Kritik an diesen Berichten als "pauschale Skandalisierung" (Leisering 1993: 498) gegeben hat. Neben der Bestandsaufnahme und den armutspolitischen Ableitungen war es auch immer ein Ziel dieser "nichtamtlichen" Berichte, eine nationale Berichterstattung zu diesem Themenfeld durchzusetzen, was mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 4. Mai 1999, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht vorzulegen, nunmehr auch erreicht zu sein 1

Vgl. Blätter der Wohlfahrtspflege, November/Dezember 1989.

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Stefan Seil

scheint. Noch nicht einmal zwei Jahre liegen zwischen diesem Beschluss und der Veröffentlichung des besagten ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Die Federführung hatte das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) und die deutsche Armutsforschung war zum einen über das wissenschaftliche Gutachtergremium sowie über Expertisen in den Prozess eingebunden - allerdings mit einem weitaus schwächeren Einfluss als ihn die Wissenschaft in anderen Berichtssystemen hat (zu denken wäre hier an den Familien- oder Jugendbericht, den Altenbericht der Bundesregierung oder auch die Gutachten des Sachverständigenrates Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen). Hinsichtlich der Rezeption des Berichts in der breiteren Öffentlichkeit zeigte sich ein bekanntes Phänomen: Die Medien stürzten sich auf die Frage, wie viel Menschen in Deutschland denn nun "arm" sind und daran anschließend wurde noch darauf hingewiesen, dass natürlich die Arbeitslosen und vor allem auch die Alleinerziehende bzw. Familien mit vielen Kindern besonders bedroht sind von "Armut". Nun sollte man erwarten, dass der erste Armutsbericht der Bundesregierung die Frage, wie viel Menschen denn nun in Deutschland "arm" sind, beantworten kann. Dem ist im Prinzip auch so. Konkret kann man dem Bericht entnehmen, dass in Westdeutschland zwischen 5,3% und 20% der Menschen als "arm" zu bezeichnen sind, während es Ostdeutschland zwischen 2,8% und 29,6% sind. Hier nun reibt sich der nur am Rande beteiligte Zeitgenosse verwundert die Augen und ist durch diese Datenlage wohl eher verwirrt als das sie zur Aufklärung beigetragen hat. Der erste Armutsbericht hat sich nicht auf eine Definition von "Armut" festlegen können und ist insofern den etwas salomonischen Weg gegangen, die in der Armutsforschung üblicherweise diskutierten Abgrenzungen von Armutsschwellen additiv auszuweisen. Folgt man diesem Ansatz ergeben sich die in Tabelle 1 dargestellten 32 unterschiedlichen Armutsquoten. Das damit verbundene Spektrum hat natürlich zum einen den Vorteil, dass man sich je nach Verwertungsgesichtspunkt einen "niedrigeren" oder "höheren" Wert herausnehmen kann - irgendwie unbefriedigend ist das Ergebnis aber allemal. Zum anderen verdeutlicht die tabellarische Darstellung der Kombinationsmöglichkeiten hinsichtlich der Armutsbetroffenheit in der Bevölkerung auch die grundsätzlichen methodischen Schwierigkeiten einer quantitativen (Einkommens-)Armutsforschung: • Betrachtet wird hier die Verteilung des Einkommens auf die Haushalte/ Personen, allerdings in Form des so genannten Nettoäquivalenzeinkommens. Dieses wird ermittelt, in dem die individuellen Markteinkommen (die aus der Primäreinkommensverteilung resultieren) zu einem Haushaltsmarkteinkommen zusammengefasst werden, das dann nach einem spezifischen Äquivalenzgewicht (alte oder neue OECD-Skala) auf die

Armutsforschung und Armutsberichterstattung

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Tabelle 1

Alternative Armutsquoten und Armutsgrenzen (in DM/Monat) im Jahr 1998 Westdeutschland Westdeutscher Gesamtdeutscher Mittelwert Mittelwert alt•> neu•> alt neu

Ostdeutschland Ostdeutscher Mittelwert alt

neu

Gesamtdeutscher Mittelwert alt

neu

50% arithm. Mittel

10,9% 10,6% 9,0% 9,1% 4,4% 4,8% 15,0% 14,7% (1.462) (1.707) (1.394) (1.628) (1.106) (1.295) (1.394) (1.628)

50% Median

6,6% 7,1% 5,3% 5,8% 2,8% 2,9% 7,7% 8,5% (1.290) (1.519) (1.220) (1.439) (1.021) (1.196) (1.220) (1.439)

60% arithm. Mittel

20,0% 18,9% 17,2% 16,3% 11,9% 11,9% 29,6 % 28,9% (1.754) (2.048) (1.672) (1.953) (1.327) (1.553) (1.672) (1.953)

60% Median

13,1% 13,1% 10,9% 11,0% 7,9% 8,4% 18,8% 18,7% (1.547) (1.822) (1.464) (1.727) (1.225) (1.435) (1.464) (1.727)

Anmerkungen: •> Alte und neue OECD-Skala; Zahlen in Klammern: DM-Beträge der jeweiligen Schwellenwerte Armutsquoten und -grenzen beziehen sich auf die Nettoäquivalenzeinkommen; die Berticksichtigung der einzelnen Haushaltsmitglieder erfolgt bei der alten OECD-Skala nach der Gewichtung 1,0 (Bezugsperson), 0,7 (weitere Person ab 15 Jahre) sowie 0,5 (Person unter 15 Jahre), bei der neuen OECD-Skala nach der Gewichtung 1,0- 0,5- 0,3. Quelle der Daten: BT-Drucksache 14/5990: 38-39

einzelnen Haushaltsmitglieder verteilt wird (Marktäquivalenzeinkommen). Zum Nettoäquivalenzeinkommen gelangt man, in dem die Abgaben und Transfers auf das Haushaltsmarkteinkommen angerechnet werden. • Von großer Bedeutung ist der jeweils gewählte Gewichtungsfaktor für die Verteilung des Haushaltseinkommens auf die einzelnen Haushaltsmitglieder, um über die derart standardisierten Pro-Kopf-Einkommen zu vergleichenden Aussagen kommen zu können.

Tabelle 2

Gewichtungsfaktoren beim Nettoäquivalenzeinkommen Alte OECD-Skala

Neue OECD-Skala

Bezugsperson

1,0

1,0

Person> 15 Jahre

0,7

0,5

Person< 15 Jahre

0,5

0,3

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Stefan Seil

Der Konstruktion dieses Äquivalenzskalen liegt die Vorstellung von "economies of scale" durch eine gemeinsame Haushaltsführung zugrunde. Die alte OECD-Skala entspricht in etwa der Bedarfsbemessung im Rahmen der Regelsatzverordnung des BSHG (unter Berücksichtigung von Wohnkosten). Die neue OECD-Skala bezieht sich auf Ergebnisse von Analysen des Ausgabeverhaltens privater Haushalte sowie subjektiver Einschätzungen der Haushaltsgrößenersparnis. Die Unterschiede zwischen den beiden Skalen ist darin zu sehen, dass die neue Skala wegen der geringeren Gewichte für weitere Haushaltsmitglieder eine höhere Kostenersparnis größerer Haushalte impliziert. Dies führt zu einer Erhöhung des Durchschnittswertes der Äquivalenzeinkommen. Nach der neuen Skala muss z. B. eine Familie mit zwei Kindern "nur" das 2,1fache Einkommen eines Singles haben, um dessen Lebensstandard zu erreichen, während dieser Faktor nach der alten Skala mit 2,7 um fast 29% höher liegen würde. Die relative Einkommensposition der größeren Haushalte in der Einkommensverteilung ist nach der neuen Skala günstiger als unter der alten. Schon an diesen Ausführungen kann man erkennen, wie groß die Variationsbreite hinsichtlich der daraus abgeleiteten Armutsquoten ist. • Der nächste heikle methodische Aspekt ist die Frage der Durchschnittsgröße, die als Bezugsbasis herangezogen wird. Hier hat man die Wahl zwischen dem arithmetischen Mittel und dem Median. Das arithmetische Mittel hat den Nachteil, dass aufgrund seiner Konstruktionslogik einige wenige Ausreißerwerte überproportional in den Durchschnittswert eingehen. Haben wir also eine kleine, aber feine Gruppe von Personen, die extrem hohe Einkommen realisieren können, dann stellt sich das Problem, dass wir bei einer Armutsmessung von einem hohen durchschnittlichen Einkommen ausgehen und insofern eine relativ hohe (Einkommensarmuts-)Quote ausweisen müssen. Der Median hingegen als zentraler Wert hat die Eigenschaft, dass er sehr robust ist gegen Veränderungen der Ungleichheit im oberen Bereich, da er die gesamte Einkommensverteilung in zwei genau große Hälften spaltet. Eurostat, das statistische Amt in der Europäischen Union, geht neuerdings vom Median als dem geeigneten Maßstab aus, eben weil es unempfindlicher ist gegen Ausreißer bzw. Verschiebungen im oberen Einkommenssegment Als Schwellenwert werden 60% des Medians gesetzt. 2 2 Nach dieser Definition würden also die Armutsquoten in Deutschland im Jahr 1998 bei 13,1% in Westdeutschland und bei 8,4% in den neuen Bundesländern liegen - allerdings nur, wenn man die Nettoäquivalenzeinkommen auf den jeweiligen mittleren Wert in West und Ost bezieht. Nimmt man statt dessen den gesamtdeutschen Median als Bezugsgröße für die Festlegung der Arrnutsparameter, dann fällt die Quote in Westdeutschland auf 11 % und in Ostdeutschland steigt sie rapide an auf 18,7%.

Armutsforschung und Armutsberichterstattung

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Noch mal zurück zur Ausgangsfrage: Wie viele Menschen in Deutschland sind denn nun - gleichsam "amtlich" bestätigt - "arm"? Aggregiert man die vorliegenden Daten auf Gesamtdeutschland, dann lautet der Befund: 5,7% oder 19,6% aller Menschen sind arm. Die untere Grenze bezieht sich auf die Hälfte des Medianeinkommens (1998: 2.440 DM; die Hälfte davon sind 1.220 DM). Die obere Grenze resultiert aus 60% des Durchschnittseinkommens (1998: 2.788 DM; 60% davon sind 1.672 DM). 2. Die grundlegende Problematik: Wer ist wann und wie "arm"? Oder: Ist Armutsforschung eigentlich eine Wissenschaft? An den skizzierten methodischen Fragen, die mit der Bestimmung von relativen Armutsquoten über die Definition von Einkommensschwellen verbunden sind, setzt nun auch die Kritik an den Operationalisierungen des Mainstreams der deutschen Armutsforschung an. Prominentester Vertreter dieser Linie ist sicherlich Walter Krämer, der - obgleich in das wissenschaftliche Gutachtergremium in die Erstellung des ersten Armutsberichts eingebunden - zu den deutlichsten Kritikern an der mittlerweile gängigen Definition von Einkommensarmut gehört (Krämer 2000 und 2001). Prima facie bestechend ist seine Feststellung, dass - betrachtet man die oben dargestellten Armutsgrenzen in DM/Monat - die meisten Studenten in Deutschland als "Arme" zu klassifizieren seien, was aber in deren Selbstverständnis im Regelfall keine Entsprechung findet. Auf der anderen Seite wäre nach den Maßstäben der Vereinten Nationen in Deutschland niemand arm, denn deren Definition bestimmt die Armutsgrenze so, dass ein Mensch als arm gilt, wenn er weniger als einen Dollar pro Tag zum Leben zur Verfügung hat - umgerechnet wären das also etwa 60 DM im Monat. Nach dieser Definition ist also nun wirklich niemand in Deutschland arm - aber immerhin weltweit gesehen jeder fünfte Mensch, zusammen mehr als eine Milliarde. Seine zentrale Kritik an den Schwellenwerten der Armutsforschung lautet: ". . . bei einer gleichmäßigen prozentualen Erhöhung, etwa einer Verdopplung aller Einkommen, bleibt der Anteil der unter der Hälfte des Durchschnitts liegt immer gleich, d. h. . . . bei dieser Definition ist Armut niemals auszurotten. Dergleichen an Durchschnitten ... angelehnte Armutsmaße messen also weniger die Armut als die Ungleichheit ..." (Krämer 2000: 30). Grundsätzlich verweisen diese Kritikpunkte auf die Frage der Operationalisierung von Armut. Die grundsätzliche Entscheidung, ob ein absolutes oder relatives Armutskonzept zugrunde gelegt werden sollte, ist in der Forschungslandschaft zugunsten der relativen Konzepte gefallen. Man folgt hier u. a. auch einem Ratsbeschluss der EU im Rahmen des dritten Armutsprogramms vom

Stefan Sell

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---------------i Armutskonzepte I l l Relative 1

Absolute Armutskonzepte

Armutskonzepte

Bezugspunkt ist der durchschnittliche Lebensstandard der Bevölkerung

I

materielle Ressourcen Sozialhilfebezug oder 60%·, 50%-

l

Ressourcenansatz

!

Unterversorgung in ! 1 anderen Lebensbereichen 1 j wie Wohnung, Bildung, j 1 Gesundheit usw. 1

subjektives Empfinden

. . . . . . . . . . . . . . .!:::::::f:~f:~f~~~;~~±f:~:;; ; ; r.-.-.-.r· · · · · · · · ·-· · · · 1

;····································· ·······1············································· ·············· ···-r·····1

:~~~:::~!~~:~_! teten Einkommens

t.................. . . ... . ,

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!

i

L........................·--·---~!~~-~!.~.~P.~~~-!!!?.~..........1

Einschränkung eines allgemein gültigen Lebensstandards im Sinne durchschnittlicher Versorgungsniveaus verschiedener Bevölkerungsschichten

+

größtenteils konsumgüterbasierte Lebensstandardmessung

Abbildung 1: Konzepte zur Armutsmessung

19.12.1984, nach dem die "mittlere Lebensweise" eines Landes als Referenzpunkt herangezogen werden solle. Absolute, also auf ein physisches Existenzminimum abstellende Konzepte - Krämer (2000) kennzeichnet diese zutreffend als "veterinännedizinisch" - stehen heute nicht mehr zu Diskussion. Den relevanten relativen Armutskonzepten gemein ist lediglich, dass ihr Bezugspunkt der durchschnittliche Lebensstandard der Bevölkerung ist. An dieser Stelle hören dann auch schon die Gemeinsamkeiten auf und die bekannten und bis heute nicht befriedigend gelösten Operationalisierungsprobleme fangen an. Vereinfacht gesagt stehen sich hinsichtlich der Armutsmessung zwei große Blöcke "gegenüber": Zum einen der Ressourcenansatz, bei dem über die Messung der Positionierung im Einkommensgefüge der Aspekt der durch das Einkommen bereitgestellten Ressourcen abgebildet wird - wobei man sich vor allem aufgrund der in diesem Feld mittlerweile relativ gut verfügbaren Datenlage auf das Einkommen (des Haushalts) fokussiert. Das Konzept der Lebenslage hingegen stellt grundsätzlich ab auf eine "direkte Messung" der faktischen Lebensweise und stützt sich auf Informationen über die Konsumstrukturen und Konsumgewohnheiten oder auch Deprivationsindizes, mit denen die Multidimensionalität von Unterversorgungslagen in verschiedenen Lebensbereichen eingefangen werden soll.

Armutsforschung und Armutsberichterstattung

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Tabelle 3

Ansätze der Armutsmessung Ressourcenansatz

Lebenslagenansatz

Armut als Unterausstattung mit ökonomischen Mitteln, in der Regel mit dem Haushalt als wirtschaftliche Verbrauchsgemeinschaft. Fast ausschließlich wird nur eine einzige Ressource betrachtet, das verfügbare Einkommen, da es als die zentrale verfügbare Ressource gesehen wird, die ein bestimmtes Versorgungsniveau ermöglicht.

Dieser Ansatz stellt auf die tatsächliche Versorgungslage von Personen, Haushalten oder sozialen Gruppen in zentralen Lebensbereichen (z. B. Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben) ab. Eine Unterversorgung in einem oder mehreren dieser Bereiche wird als Ausdruck einer generell deprivierten Lebenslage interpretiert.

Man darf diese Gegenüberstellung aber nicht als eine "Entweder-Oder"Codierung lesen, denn zumindest vom Anspruch her versucht die neuere Armutsforschung beide Ansätze miteinander zu verknüpfen. So plädieren Böhnke/Delhey (2001) für eine Verknüpfung des Konzepts der Einkommensarmut mit dem lebensstandardbasierten Konzept der relativen Deprivation. Auch und gerade der 1. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung trägt den Anspruch ja schon im Titel, wenn er von "Lebenslagen in Deutschland" spricht. Die wichtigste Restriktion hinsichtlich der Konzepte ist natürlich die verfügbare Datenlage. Hier verwendet die deutsche Armutsforschung im wesentlichen die folgenden Datenquellen (vgl. z.B. Andreß 1999: 32 f. und 333-349 und die dort angegebene Literatur zur Verwendung der einzelnen Datenquellen in der Armutsforschung sowie BT-Drucksache 14/5990: 31 f.): • Einen "quasi-amtlichen" Charakter hat das "Sozio-ökonomische Panel" (SOEP) des DIW. Ein besonderer Vorteil dieses Panels ist die Möglichkeit von Längsschnittanalysen für einen Zeitraum seit 1984 und die Verfügharkeil entsprechender Vergleichsdaten für Ostdeutschland ab 1990. Vor allem das Arbeitsmarktverhalten und die Einkommensquellen des Haushalts sind dort gut abgebildet, gerade weil auch Informationen für jedes Haushaltsmitglied über 16 Jahre abgefragt werden. 1998 umfasste das SOEP 7.700 Haushalte der deutschen und ausländischen Wohnbevölkerung. Allerdings fehlen Angaben zur Einkommensverwendung und zum Lebensstandard des Haushalts. Aufgrund des beschränkten Stichprobenumfangs ist eine differenzierte Analyse von Teilgruppen (z. B. der Niedrigeinkommensbezieher) nur partiell möglich. 2 Seil (Hrsg.)

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Stefan Seil

• Bezogen auf die Defizitbereiche des SOEP kann auf die Einkommensund Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes ausgewichen werden, die aber für die akademische Forschung auf Mikrodatenebene erst seit 1997 zur Verfügung steht. Außerdem wird die EVS nur alle fünf Jahre durchgeführt, dann aber mit 70.000 Haushalten. Hinsichtlich der Einkommenserfassung stellt die EVS die verlässlichste Datenquelle dar. Ausgeschlossen sind aber Haushalte mit einem Nettoeinkommen über 35.000 DM/Monat und problematisch ist auch eine fehlende Repräsentativität hinsichtlich der ausländischen Bevölkerung. So stützt sich beispielsweise die in Tabelle 1 zusammengefasste Berechnung unterschiedlicher Armutsquoten auf Daten der EVS und die Auswertungen beziehen sich nur auf die Haushalte mit deutscher Bezugsperson? • Ebenfalls herangezogen wird die "Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften" (ALLBUS) sowie der Wohlfahrtssurvey, wobei beim letzteren positiv zu vermerken wäre, dass hier auch Daten zur subjektiven Wahrnehmung des jeweiligen Lebensbereichs durch die Befragten vorhanden sind (im wesentlichen handelt es sich um Zufriedenheitsindikatoren). • Neu hinzugekommen ist das so genannte Niedrigeinkommens-Panel (NIEP) des BMA, das rund 2.000 Haushalte im unteren Einkommensbereich erfasst. In diesem Panel erfolgt alle sechs Monate eine Wiederholungsbefragung der gleichen Haushalte aus dem Bereich der untersten 20% der Einkommensverteilung. Die erste Erhebungswelle lief vom November 1998 bis Mai 1999. Es ermöglicht die Verknüpfung monetärer Armutsanalyse mit dem mehrdimensionalen Lebenslagenkonzept Die Betroffenheit von einzelnen Deprivationen und kumulierter Deprivation kann im Zeitverlauf untersucht werden. Allerdings gelten die Einschränkungen angesichts des geringen Umfangs der Stichprobe auch hier. • Auf der europäischen Ebene spielt das European Community Household Panel (ECHP) gerade für die international vergleichende Armutsforschung eine wichtige Rolle. Dieses Panel basiert auf einer multidimensionalen Untersuchung mittels Standardfragebogen, bei der jedes Jahr Haushalte und Einzelpersonen zu zentralen Themen wie Einkommen (einschließlich Sozialtransfers), Gesundheit, Bildung, Wohnung, Beschäftigungsmerkmale usw. befragt werden. Das ECHP stellt auf Einkommensarmut ab. Die erste Welle des Panels wurde 1994 in den damaligen 12 Mitgliedsstaaten der EU durchgeführt. Die Erhebung basiert auf einer 3 Die größte Haushaltsstichprobe ist der vom Statistischen Bundesamt jährlich durchgeführte Mikrozensus, der 1% der Bevölkerung erfasst (rund 800.000 Personen in rund 370.000 Haushalten). Er liefert aber keine differenzierten Einkommensdaten und Vermögensdaten werden erst gar nicht erhoben.

Armutsforschung und Armutsberichterstattung

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Stichprobe von etwa 60.500 Haushalten mit etwa 170.000 Einzelpersonen. 1995 hat sich Österreich und 1996 Finnland dem Projekt angeschlossen. Schweden nimmt am ECHP nicht teil. Vielleicht muss man an dieser Stelle einfach konzedieren, dass die bisherigen Versuche einer Konzeptualisierung und vor allem Operationalisierung von Armut über relative Armutsbegriffe, partiell angereichert um Aspekte einer Lebenslagenfundierung sowie aggregiert zu Deprivationsindizes, die auch den vernachlässigten Faktor der subjektiven Wahrnehmung berücksichtigen und zu modellieren versuchen, im Sinne eines sukzessiven Fortschreitens einer wissenschaftlichen Armutsforschung zu interpretieren sind und wir uns eigentlich immer noch in einer eher "heuristischen" Phase befinden, in der es um die Herstellung nicht nur begrifflicher Klarheit, sondern auch um die Frage einer der Lebenswirklichkeit nahekommenden Typologisierung von "Armut" geht. Die vorliegenden Befunde der deutschen Armutsberichterstattung zeigen eine ganze Reihe an Erkenntnissplittern hinsichtlich der unterschiedlichen Betroffenheit von Unterversorgungslagen und deren Zuordnung zu bestimmten personalen bzw. gruppenspezifischen Merkmalen.4 Insofern hatte die interessierte Öffentlichkeit sehr wohl die zentralen Aussagen des Berichts erkannt: Im Gegensatz zu früher hat sich das (Einkommens-)Armutsrisiko vor allem auf die Kinder und die Familien mit mehreren Kindem verlagert (die Fachterminologie hat diese Verschiebung bereits seit längerem in den Begriff der "Infantilisierung" der Armut gegossen). Hervorgehoben wird die besonders schwierige Situation vieler Alleinerziehender. Immer wieder wird der Kontext zwischen· Arbeitslosigkeit und Armut hergestellt5 - obgleich die empirischen Befunde hier in der Gesamtschau nicht so eindeutig sind. So kann Stelzer-Orthofer (2001: 158 f.) im europäischen Vergleich unter Nutzung der Paneldaten des ECHP zeigen, dass der empirische Zusammenhang nicht so deutlich erkennbar ist. Ausgehend von einer Korrelation der nationalen Arbeitslosigkeits- und Armutsquoten kommt sie für die Jahre 1993 und 1994, also bezogen auf die beiden ersten Wellen des ECHP, zu Werten für den Spearmanschen Rangkorrelationskoeffizienten 4 Wobei der Schwerpunkt auf dem Bereich der gruppenspezifischen Zuordnung liegt, was mit dem Aggregationsniveau zusammenhängt. Die Vernachlässigung der personalen Dimension - im Sinne einer empirischen Unterbelichtung - wird noch zu thematisieren sein hinsichtlich der gegenwärtig inflationären Verwendung des Begriffs der Lebenslage. 5 Die in der Literatur immer wieder hervorgehobene und auf den ersten Blick ja auch einleuchtende Korrelation von Arbeitslosigkeit und Armut ist nicht erst ein Produkt der 80er und 90er Jahren mit ihrer hohen und vor allem verfestigten Arbeitslosigkeit, sondern schon der "Klassiker" der Arbeitslosigkeitsforschung - die Österreichische Manenthaistudie aus den 30er Jahren - wurde explizit als ein Beitrag zur Armutsforschung ausgewiesen. 2*

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von 0,22 bzw. 0,34. Hierbei handelt es sich um Werte, die zwar einen Zusammenhang anzeigen, dieser ist aber bei weitem nicht so stark ausgeprägt wie oftmals in der Literatur ausgeführt. Allerdings bleiben viele wichtige Fragen offen bzw. werden nur rudimentär angerissen. So die Frage nach den Wegen in die, dem Leben in der und den Wegen aus der Armut bzw. aus einer spezifischen Unterversorgungslage. Argumentiert wird in aller Regel mit Querschnittsdaten bzw. mit Paneldaten bezogen auf bestimmte Parameter wie z. B. dem Haushaltseinkommen. Fast vollständig fehlen Verlaufsdaten in den anderen Bereichen, die im Konzept der Lebenslage von Bedeutung sind. Womit wir bei der erkennbaren Inflationierung des Begriffs der "Lebenslagen" wären, die derzeit um sich greift und die einen expliziten Vertreter dieser Theorietraditionslinie innerhalb der deutschen Sozialpolitikwissenschaft eigentlich freuen müsste, wenn denn nicht damit auch zugleich die Gefahr einer Entleerung des eigentlichen Konzepts in seiner auf Neurath und vor allem Weisser zurückgehenden Fassung verbunden wäre. 3. Die lnflationierung des "Konzepts der Lebenslage" in der deutschen Armutsforschung

Obgleich der Begriff der Lebenslage an prominentester Stelle im 1. Armuts- und Reichtumsbericht auftaucht - nämlich bereits im Titel - findet sich im Bericht selbst nur versteckt ein Hinweis auf die Untiefen, die mit diesem selbstgesetzten Anspruch verbunden sind. "Dem mehrdimensionalen Charakter von Armut und Reichtum wird der Lebenslagenansatz gerecht. Neben der an Einkommen und Vermögen bemessenen Wohlstandsposition umfasst die Lebenslage einer Person eine Vielzahl von Dimensionen wie z. B. Bildung, Erwerbsstatus, Gesundheit, Wohnsituation einschließlich Wohnumfeld, die Farniliensituation und soziale Netzwerke. Der Lebenslagenansatz berücksichtigt die ,individuelle Ausfüllung des Spielraums, der durch äußere Umstände bestimmt ist.' Sind die Handlungsspielräume von Personen in gravierender Weise eingeschränkt und ist eine gleichberechtigte Teilhabe an den Aktivitäten und Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgeschlossen, so liegt im Sinne des Lebenslagenkonzeptes von G. Weisser ,Unterversorgung' vor." (BT-Drucksache 14/5990: 28).

Damit enden bereits die Hinweise zum Lebenslagenkonzept und es wird noch in einer sich anschließenden Fußnote darauf verwiesen, dass zur weiteren theoretischen Fundierung des Lebenslagenansatzes von der Bundesregierung ein Forschungsprojekt vergeben wurde, das in die zukünftige Armuts- und Reichtumsberichterstattung einfließen wird. Substanziell taucht dann der Lebenslagenansatz gleichsam fragmentarisch wieder auf in der

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additiven Abhandlung der einzelnen lebenslagenrelevanten Bereiche wie Wohnen, Bildung, Gesundheit usw. Dieses Vorgehen kann nun nicht wirklich zufriedenstellen, auch wenn man die restringierende Datenlage anerkennt und gleichsam die gut gemeinte Absichtserklärung wohlwollend zur Kenntnis nimmt. Denn mit dem Lebenslagenansatz sind eine ganze Reihe von Implikationen verbunden, die es - um das Fazit vorwegzunehmen - fragwürdig erscheinen lassen, bereits zum heutigen Stand der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung der Armutsforschung deren "erste" Befunde schon mit dem Etikett "lebenlagen-geprüft" zu versehen. Die Grundidee sozialer Lageanalysen findet sich bereits in der marxistischen Soziologie (verwiesen sei hier auf die Untersuchung von Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845) sowie in der "bürgerlichen" Soziologie bei Max Weber (z. B. Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, 1894)6 • Die Wurzeln des heutigen Konzepts der Lebenslage finden sich in den Arbeiten von Otto Neurath in den 20er Jahren (Neurath 1925), der als erster eine theoretische und methodische Bestimmung des Begriffs der Lebenslage vorgenommen hat. In den 50er Jahren wurde der Begriff der "Lebenslage" von Gerhard Weisser zur theoretischen Fundierung der Sozialpolitik als Wissenschaft übernommen, auch und gerade um sich gegen die vorherrschende neoklassische ökonomische Theorie der Wohlfahrtsproduktion über Märkte abzugrenzen? An der Weiterentwicklung dieser von Weisser ausgehenden bzw. angestoßenen Theorietradition haben sich Sozialpolitikwissenschaftler wie Thiemeyer, Engelhardt, Katterle, Lompe, Nahnsen, Schulz-Nieswandt u. a. beteiligt. Dem Konzept der Lebenslage ist ein elementarer Doppelcharakter eigen: Zum einen werden die Lebenslagen in ihrer objektiven Strukturiertheil als Ergebnis eines gesellschaftlich-historischen Entwicklungsprozesses verstanden. Zum anderen wird Lebenslage aber auch definiert als Lebens- und Existenzraum von Menschen mit individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Lebenserfahrungen, der sich in Erleben, Handeln und Entscheidungen aktualisiert. Der Lebenslagenansatz betont auch die kognitiven Deutungsund Verarbeitungsmuster, die sich mit den äußeren Lebensbedingungen in einer wechselseitigen Abhängigkeit entwickeln. Verdeutlichen kann man diese (häufig "vergessene") subjektive Seite am Beispiel der "RadikalisieVgl. auch Glatzer/Hübinger 1990. Vgl. zur Geschichte und weiteren Ausdifferenzierung des Konzepts der Lebenslage aus der umfangreichen Literatur z. B. Möller 1978 sowie die Monografie von Andretta 1991 speziell zur konzeptionellen Standortbestimmung des Ansatzes. Eine gute Zusammenfassung vor allem hinsichtlich der Thematisierung sozialer Umgleichheit und der Bedeutung des Konzepts für Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit findet sich bei Clemens 1994. 6

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rung", die dieser Strang des Lebenslagenansatzes bei Schulz-Nieswandt mit seiner Hinwendung zu einer anthropologischen bzw. mittlerweile sogar "gattungsgeschichtlichen" Fundierung der Sozialpolitik erfährt. 8 Aus der Vielzahl seiner Publikationen zu diesem Themenfeld sei hier nur SchulzNieswandt (1996) zitiert, in dem er sein Programm einer "modernen Mikrofundierung" der Sozialökonomie und Sozialpolitikwissenschaft skizziert. Nach seiner Auffassung ist das Konzept der Lebenslage • sozialökologisch fundiert, sofern darunter ein Handlungsspielraum ver-

standen wird und die Plastizität dieses Handlungsspielraumes von der exogen definierten Verfügbarkeit (wie auch Erreichbarkeit, Zugänglichkeit) sozialer, ökonomischer und infrastruktureller Ressourcen verstanden wird;

• zum anderen ist das Konzept personalistisch, da erst die endogen verstandene Nutzungskompetenz der Menschen diese Ressourcenpotenziale aktiviert und verwirklicht. Sozialpolitisch relevant ist der Raum der Ressourcen, hinsichtlich ihrer Allokation und Distribution werden sozialökonomische Fragestellungen offensichtlich. Durch den Kompetenzaspekt öffnet sich das Konzept für die psychologische Dimension wie auch für Fragen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Die Ausdifferenzierung der personalistischen Seite des Lebenslagenkozepts ist normativ von großer Bedeutung, da nunmehr die gesellschaftliche Ermöglichung von Selbständigkeit relevant wird. Begriffe wie "Verwundbarkeit" und "Abhängigkeit" werden vor diesem Hintergrund wichtig für eine Lebenslagenanalyse. In Anlehnung an die Stresstheorie taucht nunmehr eine Reformulierung des Lebenslagenkonzepts auf: Menschen müssen den lebenslagenspezifischen Stress bewältigen können. Dazu verfügen sie über unterschiedliche situative Stressbewältigungspotenziale. Diese können in den Bereich externer Ressourcen (Einkommen, Informationen, Zeit usw.) fallen, sie können aber auch personengebundenes, biografisch akkumuliertes Kapital darstellen (Bildung, Gesundheit usw.). 9 Durch diese hier skizzierte Öffnung des Konzepts zeigen sich interessante Anknüpfungspunkte 8 Es sei zugleich darauf hingewiesen, dass Schulz-Nieswandt aber nicht einer eindimensionalen "Individualisierung" anhängt, denn er weist darauf hin, dass er sich explizit z. B. auf das Akteursmodell des "homo figurationis" im Sinne der Soziologie von Norbert Elias bezieht, nach dem das Individuum immer nur im Kontext seiner sozialen Relationen zu verstehen ist. Diese berauben ihn nicht seiner Individualität, sondern konstituieren überhaupt erst Personalität. Letztendlich schließt diese Argumentationsfigur an die Soziologie von Georg Simmel an, der übrigens als theoretischer Bezugspunkt gerade auch in der modernen Soziologie der Armut herangezogen wird (vgl. hierzu z. B. Barlösius 2001 ). 9 Vgl. Schulz-Nieswandt 1996: 330.

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an die Copingansätze aus der Psychologie wie auch an den "capabilities"Ansatz aus der neueren sozialökonomischen Theorie im Umfeld der Arbeiten von Amartya Sen. Das Konzept der Lebenslage in seiner Weisserschen Fassung fokussiert auf die häufig zitierten ,,Spielräume" im Sinne einer Bedürfnisbefriedigung, wobei Weisser immer von der Befriedigung "wohlbedachter Grundanliegen" gesprochen hat. 10 In Fortführung dieses Gedankens hat Nahnsen (1975) in einer grundlegenden Arbeit auf die gesellschaftliche Bedingtheit der Interessenentfaltung und -befriedigung abgestellt. Nach Nahnsen ist die Lebenslage der Spielraum, den die gesellschaftlichen Umstände dem einzelnen zur Befriedigung und Entfaltung seiner wichtigsten Interessen bieten. Sie sieht folgende Einzelspielräume: • Versorgungs- und Einkommensspielraum, • Kontakt- und Kooperationsspielraum, • Lern- und Erfahrungsspielraum, • Muße- und Regenerationsspielraum, • Dispositionsspielraum. Betrachtet man diese (nun schon ältere) Systematik, dann muss konzediert werden, dass wir uns hinsichtlich der gegenwärtigen Armutsforschung vor allem bzw. ausschließlich im Segment des Versorgungs- und Einkommensspielraums befinden. In die anderen Bereiche stoßen wir erst langsam und sehr mühsam vor, da beispielsweise der Deprivatonsansatz explizit auch andere Spielräume ins Visier nimmt und auch versucht, diese zu quantifizieren. Dass es sich hierbei nicht um abstrakte Kategorien handelt, sondern um elementare Bestandteile eines auf "soziale Ungleichheit" bzw. Unterversorgungslagen abstellenden Ansatzes, soll an einem kleinen Exkurs verdeutlicht werden.

10 Der Zuschnitt auf die so genannten "wohlbedachten Grundanliegen" ist die Achillesferse des Weisserschen Konzepts (vgl. hierzu ausführlich die Thematisierung bei Andretta 1991 ), letztendlich ein Ausfluss des ,,kantianischen Paternalismus", in dem sich auch Weisser als Vertreter eines "freiheitlichen Sozialismus" bewegte. Im Grunde geht es um die höchst normative Frage, was denn für die Menschen "gut" bzw. zumindest erforderlich ist. Um die Beantwortung kommt man nicht herum, wenn man eine "lebenslagenorientierte Sozialpolitik" betreiben will und muss damit Setzungen vornehmen, die der modernen Mainstream-Ökonomik ein Dom im Auge sind. Zusätzlich wird der Konfliktgehalt erhöht, wenn daran anschließend meritorische Überlegungen hinsichtlich der sozialpolitischen Interventionsformen und ihrer Intensität, vor allem aber auch ihrer institutionellen Ausgestaltung formuliert werden.

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3.1 Exkurs A: Kinder und Jugendliche als "Problemgruppe" der Armutsforschung und ihre (mögliche) Berücksichtigung im Lebenslagenkonzept

Mit dem Begriff der "lnfantilisierung der Armut" hat die Armutsforschung bereits den Befund einer zunehmenden und überproportionalen Betroffenheit der Kinder und Jugendlichen von Armut hervorgehoben und zugleich damit ein Diskussionsfeld eröffnet, das sich durch eine Vielzahl von Untiefen und Stolpersteinen auszeichnet. Denn zum einen ist das Thema Armut von Kindern und Jugendlichen natürlich sehr stark emotionalisiert im Sinne einer "Stellvertreter-Diskussion" über die schwächsten Glieder der Gesellschaft, dazu noch ohne eigene Artikulationsmöglichkeiten, geschweige denn WählerstimmenpotenziaL Zum anderen werden an dieser Stelle "welfarization"-Thesen angeschlossen, man spricht von einer "Vererbung" der Sozialhilfebedürftigkeit bzw. der dependenten Strukturen, die aus der Ausgestaltung der Sozialhilfe resultieren und die in letzter Konsequenz traditionelle Klassen- und Schichtphänomene "familialisieren", sie zu einem "Sippenproblem" werden lassen. Ende der 90er Jahre waren bereits mehr als eine Million Kinder und Jugendliche auf Sozialhilfe angewiesen - zuzüglich einer (geschätzt) etwa gleich großen Gruppe, die mit ihren Familien unterhalb der fonnalen Sozialhilfegrenze liegen, den damit einhergehenden Sozialhilfeanspruch aber nicht realisieren. Jedes siebte Kind lebt in Familien, die mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens auskommen müssen und insofern als einkommensarm gelten. Üblicherweise wird das Themenfeld Kinderarmut an der überproportionalen Betroffenheit der Kinder und Jugendlichen im Sinne des Sozialhilfebezugs festgemacht. Die Daten zu diesem Teilaspekt der "bekämpften" Armut sind eindeutig: Ausweislich der neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes waren zum Jahresende 2000 knapp eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren von Sozialhilfe betroffen (992.000), das sind 37,1% aller Empfänger von Sozialhilfe "im engeren Sinne", also der Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen. Mehr als die Hälfte dieser Kinder (542.000 bzw. 54,7%) lebte in Haushalten von alleinerziehenden Frauen - vor allem Kleinkinder und Kinder im Kindergartenalter. Während am Jahresende 2000 insgesamt 3,3% der Bevölkerung Sozialhilfe im engeren Sinne bezogen, belief sich diese Sozialhilfequote bei den Kindern und Jugendlichen auf 6,3 %. Am höchsten war sie bei den Kleinkindern unter 3 Jahren mit 9,4%. Zum Vergleich: Die entsprechende Quote bei den über 65-jährigen betrug nur 1,4%. 11 Mittlerweile liegen zahlreiche Einzel- und Sammelpublikationen zum Thema Armut von Kindern vor. 12 Besondere Beachtung fand der im Okto11

Zu den Daten vgl. Haustein 2002.

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ber 2000 vom Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) veröffentlichte Sozialbericht "Gute Kindheit - Schlechte Kindheit" zum Thema Kinderarmut. Grundlage des Berichts war eine dreijährige Studie des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurt. 13 Ausgehend von der Defizitanalyse, dass Kinder und Jugendliche in der bisherigen Armutsforschung nur am Rande gestreift wurden als "Armutsrisiko" für die erwachsenen Bezugspersonen oder als Mitbetroffene im Haushaltskontext, wurde im Rahmen der Vorarbeiten zum AWO-Sozialbericht 1998/99 eine zweigeteilte Erhebung zur Lebenssituation von Vorschulkindern durchgeführt. Zuerst wurde die Problematik qualitativ anband von Fallbeispielen angegangen, um dann in einem nachfolgenden Schritt in einer Klientendatenerhebung in 60 Kindertagesstätten der AWO die Lebenssituation von etwa 900 armen und nicht-armen sechsjährigen Kindern zu untersuchen. Hierbei ging es um die untersuchungsleitende Fragestellung, wie sich Armut im Vorschulalter auf die Entwicklung der Kinder auswirkt. Basierend auf den gängigen Definitionen von (Einkommens)Armut bestand die Untersuchungsgruppe zu 26% aus armen und zu 74% aus nicht-armen Kindern. Zur Erfassung der konkreten Lebenslage der untersuchten Kinder wurden verschiedene Merkmale der kindlichen Entwicklung und Versorgung anband von vier zentralen kindorientierten Lebenslagendimensionen erhoben: Tabelle 4 Dimensionen der Lebenslage des Kindes Materielle Versorgung des Kindes

Grundversorgung, d.h. Wohnen, Nahrung, Kleidung, materielle Partizipationsmöglichkeiten

"Versorgung" im kulturellen Bereich z.B. kognitive Entwicklung, sprachliche und kulturelle Kompetenzen, Bildung Situation im sozialen Bereich

Soziale Kontakte, soziale Kompetenzen

Psychische und physische Lage

Gesundheitszustand, körperliche Entwicklung

Die in der Studie ermittelten Unterschiede zwischen den armen und den nicht-armen Kindern hinsichtlich der einzelnen Lebensbereiche stellen sich zusammenfassend folgendermaßen dar:

12 Vgl. aus der Vielzahl der vorliegenden Veröffentlichungen beispielsweise den Sammelband von Butterwegge/Klundt 2002 sowie Beisenherz 2001, der die Kinderarmut in den Globalisierungsdiskurs einzubetten versucht. 13 Vgl. hierzu ausführlich Hocket al. 2000.

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• Materielle Versorgung des Kindes: Hinsichtlich der Grundversorgung zeigten sich bei 40% der armen und nur bei 15% der nicht-armen Kinder Mängel. Dies manifestierte sich in den Einrichtungen im verspäteten und unregelmäßigen Zahlen von Essensgeld und sonstigen Beiträgen für Kindertagesstättenaktivitäten. Häufig kamen arme Kinder auch hungrig in die Kita und bei der körperlichen Pflege waren Defizite erkennbar. • "Versorgung" im kulturellen Bereich: 36% der armen Kinder sind hinsichtlich ihres Spielverhaltens auffallig (16% der nicht-armen Kinder) sowie 34% (versus 18%) beim Arbeitsverhalten. Arme Kinder, die ohnehin seltener den "regulären" Übertritt in die Regelschule mit sechs Jahren vollziehen (69% der armen, aber 88% der nicht-armen Kinder), treten noch seltener regulär in die Regelschule über, wenn sie in mehr als einem der Unterbereiche eingeschränkt beziehungsweise auffallig sind. Ist ein armes Kind in zwei der drei Bereiche eingeschränkt, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit für einen regulären Übergang auf nur noch 38%. • Situation im sozialen Bereich: 36% der armen Kinder zeigen hier Einschränkungen bzw. Auffalligkeiten (18% der nicht-armen Kinder). Arme Kinder suchen weniger häufig den Kontakt zu anderen Kindem in der Kita, nehmen weniger aktiv am Gruppengeschehen teil, äußern seltener ihre Wünsche und sind weniger wissbegierig als nicht-arme Kinder. Beobachtbar ist auch eine beginnende Ausgrenzung, denn die armen Kinder werden häufiger als nicht-arme Kinder von den anderen Kindem in der Kita gemieden. • Psychische und physische Lage: Hinsichtlich der gesundheitlichen Lage ist der Unterschied zwischen den armen und den nicht-armen Kindem am geringsten ausgeprägt.

Ein weiteres - hochinteressantes - Ergebnis der Studie ist, dass der "stärkste" Faktor für das Risiko des Kindes, "Auffalligkeiten" bzw. Defizite zu entwickeln, das Ausmaß der von der Familie gemeinsam durchgeführten Aktivitäten ist, während die Armutssituation erst an zweiter Stelle kommt. Die von der Familie gemeinsam durchgeführten Aktivitäten können als ein Indikator für die Kindzentriertheit oder Zuwendung zum Kind in der Familie betrachtet werden. Diese Zuwendung zum Kind scheint materiell defizitäre Familienbedingungen - insbesondere für Kinder im Vorschulalter partiell zu kompensieren. Die ungünstigste Konstellation liegt entsprechend dann vor, wenn materielle Defizite mit geringer Kindzentriertheit bzw. nur geringen gemeinsamen familiären Aktivitäten einhergehen. Die empirischen Befunde zu den Ausprägungen der vier Dimensionen der Lebenslage von Kindem im Vorschulalter wurden zu einem "Lebenslagenindex" zusammengefasst und in drei Lebenslagentypen gebündelt:

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Tabelle 5 Verteilung der Lebenslagentypen und Stellenwert professioneller Unterstützung Lebenslagetyp

Arme Kinder davon ... mit professioneller U nterstützungd>

Nicht-arme Kinder davon ... mit professioneller U nterstützungd)

Wohlergehena>

23,6%

28,6%

46,4%

12,8%

Benachteiligungb>

40,3%

56,5%

39,8%

27,1%

Multiple Deprivationc)

36,1%

67,4%

13,7%

47,9%

•> "Wohlergehen": wenn hinsichtlich der zentralen Lebenslage-Dimensionen aktuell keine Einschränkungen bzw. ,,Auffalligkeiten" festzustellen sind.

b> ,,Benachteiligung": wenn in einigen wenigen Bereichen Einschränkungen bzw. "Auffälligkeiten" festzu-

stellen sind. ,,Multiple Deprivation": wenn das Kind in mehreren zentralen Lebens- und Entwicklungsbereichen eingeschränkt bzw. "auffällig" ist. d) "Professionelle Unterstützung" bezieht sich hier auf Leistungen neben der Betreuung in der Kindertagesstätte; etwa 60% dieser Leistungen erhalten die Kinder direkt, z. B. durch Frühförderung; die übrigen Unterstützungsmaßnahmen richten sich an die Familie insgesamt, z. B. sozialpädagogische Familienhilfe oder Schuldnerberatung. c)

Auch an dieser Übersichtsdarstellung wird wieder erkennbar, dass Armut zwar ein wichtiger Faktor ist, der die Lebenslage des Kindes bestimmt, aber diese auch von anderen Faktoren beeinflusst wird. Interessant ist auch die Verteilung der professionellen Hilfen außerhalb der Kitas, denn immerhin 43% der multipel deprivierten armen Kinder bzw. deren Familien erhalten keine Unterstützungsleistungen außerhalb der Kita. Noch insuffizienter ist die Erreichbarkeit der professionellen Hilfen für multipel deprivierte Kinder aus nicht-armen Familien, von denen über die Hälfte keinen Zugang zu diesen Leistungen hat. Der Abriss der ISS-Studie zur Lebenslage von Kindern im Vorschulalter sollte zum einen demonstrieren, dass es durchaus möglich ist, in ersten Ansätzen eine Operationalisierung von Lebenslagen zu leisten und zum anderen, welche Differenzierungsbedarfe sich hinsichtlich der daraus ableitbaren sozialpolitischen Gestaltungsvorschläge ergeben, denn mehr als deutlich wird gerade am Beispiel der Kinder, dass die mit der tradierten Armutsforschung einhergehende Verengung auf den ressourcenfokussierten Ansatz der Einkommensarmut viel zu unterkomplex ist und zu einem Ausschluss bestimmter Personenkreise führt, für die aber gleichsam erheblicher sozialpolitischer Interventionsbedarf besteht. Von einem explizit am Weisserschen Lebenslagen-Ansatz in seiner durch Iogeborg Nahnsen ausdifferenzierten Form der fünf "Spielräume" orientierten Versuch einer Operationalisierung bezogen auf die Lebenssituation von

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Kindem berichtet eine Gruppe um Margherita Zander. Hierbei handelt es sich um ein an der Fachhochschule Jena durchgeführtes dreieinhalbjähriges Projekt zur "Benachteiligung in den Lebenslagen von Kindem unter spezifi~ scher Berücksichtigung der sozialen Situation in Thüringen", mit 14 Fallstudien in Jena und im Saale-Holzland-Kreis in Thüringen. Einige erste Befunde aus den Fallstudien hinsichtlich der die Lebenslage der Kinder definierenden "Spielräume" wurden bereits vorgestellt (Zander 2002): 14 • Einkommens- und Versorgungsspielraum: Die materielle Situation der Kinder ist durch die Einkommenslage der Familie geprägt, allerdings nicht nur durch die monetäre Lage der Familie, sondern auch durch das Haushaltsmanagement der Eltern, in der Regel der Mütter. Die reale Versorgungssituation der Kinder wird erheblich durch elterliche Kompensationsstrategien wie z. B. der Nutzung von so genannten "kleinen Ressour~ cen" (Tauschhandlungen usw.) bestimmt. Eine wichtige Rolle spielt die unterstützende Funktion sozialer Netzwerke, vor allem verwandschaftlicher Netzwerke, wobei hier in vielen Fällen eine interdependente Wirkung mit dem Kontakt- und Kooperationsspielraum besteht. Aus der Perspektive der Kinder wird die kinderkulturelle Symbolik von Kleidung oder Spielzeug bzw. der Teilnahme an bestimmten Aktivitäten hervorgehoben, denn hier werden für viele Kinder neben den erlebten materiellen Einschränkungen Differenzerfahrungen (vor allem bei der Kleidung) bis hin zu Ausgrenzungserfahrungen im schulischen Bereich generiert. • Lern- und Eifahrungsspielraum: Dieser Bereich hat für die Kinder vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung außerfarnilialer Sozialisationsbereiche einen zentralen Stellenwert. Interessant ist hierbei, dass die meisten Eltern von ihrem Bildungshintergrund her durchaus in der Lage wären, ihren Kindem bei den schulischen Aufgaben zu helfen, es aber tatsächlich eher nicht tun. Zugleich besucht ein relativ hoher Anteil der Kinder einen Hort (und dies ist eine "positive" Besonderheit in den neuen Bundesländern aufgrund der immer noch vorhandenen - im Vergleich zu Westdeutschland - vorbildlichen Betreuungsinfrastruktur), so dass diese Institution eine wichtige kompensatorische Funktion übernimmt bzw. übernehmen muss. 14 Die Publikation des Abschlussberichts ist für 2002 in Aussicht gestellt. Besonders hervorzuheben an dieser Arbeit ist nicht nur der Versuch, den Lebenslagenansatz mit seinen Spielräumen bezogen auf Kinder zu operationalisieren (was für die Vertreter dieser Richtung schon sehr gewinnbringend ist), sondern überhaupt eine auf Kinder bezogene Armutsbegrifflichkeit zu entwickeln. Dass es daran derzeit mangelt, wird an vielen Stellen in der Literatur beklagt und zugleich wird der Bedarf an einem hinsichtlich der Kinder modifizierten Armutsbegriff eingefordert nur findet man dann in der Regel keine weiteren Konkretisierungen. Vgl. nur als Beispiel hierfür Toppe/Dallmann 2000, die in der Kritik stark sind, ansonsten aber leider nur nebulöse Hinweise geben.

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• Kontakt- und Kooperationsspielraum: Die Kinder bewegen sich zunehmend in eigenen, von den Eltern unabhängigen Lebenswelten (zunächst im Wohnumfeld, aber auch in institutionell vermittelten Orten wie Schule und Hort). Besonders hervorgehoben werden die vielfaltigen Unterstützungs- und Kompensationsleistungen aus den primären sozialen Netzen der Familie und hierbei vor allem die Großeltern. • Muße- und Regenerationsspielraum: Betrachtet man die kindliche Entwicklung auch als "Lernarbeit", dann macht eine Betrachtung dieses Bereichs (der im ursprünglichen Lebenslage-Konzept nach Weisser/Nahnsen aus Sicht der erwerbstätigen erwachsenen Bevölkerung im Sinne eines Gegenpols zur fremdbestimmten Arbeit ausdifferenziert wurde) durchaus Sinn. Auch Kinder benötigen Ruhe und Regeneration, sie brauchen Entspannungs- und Rückzugsmöglichkeiten, also entsprechende räumliche und atmosphärische Rahmenbedingungen, wozu auch und gerade ein positives Familienklima, Stabilität in den familiären Lebensumständen sowie der Eltern-Kind-Beziehung gehört. Vor allem in den Familien, in denen kumulative Belastungen auftreten, bekommen die Kinder unzureichende Unterstützung für eine strukturierte Alltagsbewältigung, die ihnen beispielsweise die Schule abverlangt (z. B. morgens Wecken und Aufstehen, abends rechtzeitiges lnsbettgehen). In der Regel sind die Mütter bemüht, für die Kinder verlässliche häusliche Rahmenbedingungen herzustellen. Dies gelingt aber aufgrund der vielfältigen Belastungssituationen nicht in allen Fällen - so wurden in der Studie (wohl nicht überraschend) auch gravierende Fälle "pädagogischer Vernachlässigung" gefunden. • Dispositions- und Entscheidungsspielraum: Aus der Perspektive der Kinder spielt hier das intergenerative Verhältnis (oder Machtgefalle) eine entscheidende Rolle - die Unterschiede zwischen einem verhandlungsorientierten Erziehungsstil der Eltern und der Dominanz des so genannten "Befehlshaushaltes" können unmittelbar einleuchten.

Auch diese Hinweise können aufzeigen, dass im Konzept der Lebenslage enorme Erkenntnispotenziale für eine erweiterte Armutsforschung stecken aber das grundständige Problem dieser Richtung, also die bislang nicht geleistete empirische Repräsentativität der Operationalisierungen, läßt sich auch und gerade anband der Beispiele nicht verleugnen. 3.2 Exkurs B: Ansätze einer lebenslagenorientierten Sozialpolitik für Kinder

Der gesellschaftspolitische Gehalt des Lebenslagenansatzes wird als solcher erst erkennbar und bewertbar, wenn man die wichtige (und wie skizziert immer noch äußerst rudimentäre) Ebene der Analytik verläßt und mögliche Schlussfolgerungen für das sozialpolitische Handeln betrachtet.

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Unmittelbare sozialpolitische Empfehlungen ergeben sich aus dem Sozialbericht der AWO mit Bezug auf die Untersuchung der Situation der Vorschulkinder in den Kitas der AWO, die sich natürlich vor allem auf die Einrichtungen selbst beziehen (vgl. Hock et al. 2000): Kindertagesstätten haben für die Verhinderung und Bewältigung von Armutsfolgen große Bedeutung, was an den folgenden Punkten festgemacht werden kann: • Die Kitas stellen eine wichtige Kompensationsmöglichkeit für fehlende Erlebnis-, Entfaltungs- und Erprobungsräume der Kinder innerhalb der eigenen Familie dar. • Die Kita ist die wichtigste Entlastungsmöglichkeit für Eltern, um wieder berufstätig zu sein oder zu werden, was besonders relevant ist für die Gruppe der Alleinerziehenden oder der Eltern mit Niedrigeinkommen. 15 • Die Kita hat (bzw. könnte haben) die Funktion eines Seismografen für sich entwickelnde Problemlagen bei den Kindem und in den Familien. Be- oder Überlastungen werden bei genauerem Hinsehen ebenso offenkundig wie die Defizite, Probleme oder AuffäHigkeiten bei den Vorschulkindern. Dann bietet sich die Möglichkeit, über die Kita frühzeitige und vor allem präventiv ausgerichtete Kompensationsmaßnahmen, Hilfestellungen und Unterstützungsangebote zu entwickeln und umzusetzen. Allerdings: Die Erzieherinnen sind in der Regel weder zeitlich noch fachlich derzeit in der Lage, die mehrdimensionalen Problemlagen von Armutsfamilien selbst zu bearbeiten. Untersuchungsergebnisse deuten übrigens darauf hin, dass es bereits erhebliche Defizite beim Wahmehmen von Armut in der Kita gibt. 16 Unter anderen institutionellen und auch fachlichen Voraussetzungen könnten allerdings die Erzieherinnen direkte Zugänge zu weiteren Hilfesystemen schaffen. An dieser Stelle befinden wir uns dann auf der höchst aktuellen Ebene der neuen Diskussion über einen massiven Ausbau des so genannten "Elementarbereichs" (mit dieser Begrifflichkeil soll die Zugehörigkeit der Kindertagesstätten zum Bildungsbereich markiert werden). Im Gefolge der Debatte nach der Veröffentlichung der PISA-Studie mehren sich auch in Deutschland die Stimmen, die einen großen Sprung nach vom in diesem Bereich fordern und neben der bisherigen Betonung der arbeitsmarktbezogenen Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Familie die eigenständige Bildungsfunktion des Elementarbereichs hervorheben und zugleich gerade mit Blick auf die zentrale Dimension der "Chancengleichheit" auf die ungeheuren Potenziale verweisen, die in einem quantitativen und vor allem qua15 Und damit zwei Hauptgruppen der von relativer bzw. ,.bekämpfter" Armut betroffener Menschen. 16 Vgl. z.B. die Befunde aus einer vergleichenden Untersuchung zu diesem Problemfeld in Erfurter und Kölner Kitas bei Frühauf/Zeng 2001.

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litativen Ausbau der Kitas und der Schulen liegen. 17 Damit ist nun aber nicht nur die sozusagen elementare Finanzierungsfrage aller sozialpolitischen Maßnahmen verbunden - im vorliegenden Teilbereich zusätzlich verschärft durch die "föderale Finanzierungsverflechtungsfalle" zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und die eklatante Unterfinanzierung der Kitas18 - sondern hinzu kommen überaus brisante normative Fragen einer wirklich gestaltenden Gesellschaftspolitik. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Auf der Makroebene lassen sich zusätzliche Investitionen in den Elementarbereich aus den bereits genannten Gründen gut rechtfertigen - ergänzt mit Hinweisen auf die demografische Entwicklung und die zunehmende Einwanderung, die wir in den kommenden Jahren erleben werden, wobei sich hier natürlich ganz zentral die Frage nach einer aktiven Integrationspolitik stellt, zusätzlich belastet mit den massiven Integrationsdefiziten, die sich in den zurückliegenden Jahren angesammelt haben. Angesichts der Tatsache, dass ein Drittel der ausländischen Bevölkerung seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt, über die Hälfte mehr als 10 Jahre und ein Viertel hier geboren ist, werden die bereits vorliegenden Integrationsdefizite erkennbar, wenn man sich z. B. verdeutlicht, dass die Quote der Ungelernten bei den türkischen Jugendlichen mit 40% etwa fünfmal höher ist als bei den deutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen - und das mit steigender Tendenz. In dieses Bild passt eine Bestandsaufnahme der Stadt Essen zur so genannten Sprachkompetenz von Kindem in Kindertagesstätten. Neben 12.441 deutschen Kindem werden in den Kitas 4.555 Kinder aus 99 Herkunftsländern betreut. Nur in 22 Kitas der Stadt sind ausschließlich deutsche Kinder untergebracht, in 33 Kitas beträgt der Anteil der ausländischen Kinder hingegen mehr als 50%. Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme sind bestürzend: 59% der ausländischen Kinder können nicht richtig Deutsch. Ihre Sprachkompetenz wird zu 27% als "schlecht" eingestuft, bei 32% mit "geht so" und nur bei 41% mit "gut". Allerdings: Bei den deutschen Kindem war das Resultat auch nicht berauschend - hier wurden 8,4% mit "schlecht", 17,6% mit "geht so" und 73,5% mit "gut" klassifiziert.19 Eine logische Schlussfolgerung aus Sicht einer aktiven Integrationspolitik: Die Sprachförderung muss so früh wie möglich ansetzen, eben schon in den Kitas, vor allem, weil im Alter bis sechs Jahre wesentliche Lerngrundlagen gelegt und auch die Sprachkompetenzen entscheidend geprägt werden. So weit, so gut. Nur - wie soll nun mit der Tatsache umgegangen werden, dass die Migrantenkindem aus unterschiedlichsten Gründen nur unterdurchschnittlich oft in die Kitas geschickt werden? Wenn die besondere Bedeutung der Sprache gerade auch für den weiteren Positionie17 18 19

Vgl. als einführenden Überblick über dieneuere Debatte Sell 2002a. Vgl. zur Finanzierungsdiskussion Sell 2002b und 2002c. Vgl. zu den Daten Kummer 2002.

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rungsprozess in unserer Gesellschaft erkannt worden ist - muss dann nicht eigentlich eine Pflicht zum Besuch der Vorschule eingeführt werden (und zwar zu ganz anderen Bedingungen als der heute bestehende Rechtsanspruch auf eine vierstündige Betreuung in einem Kindergarten nach der Vollendung des dritten Lebensjahres bis zum Schuleintritt)? Oder reicht es aus, die Infrastruktur auszubauen und anzubieten, die Inanspruchnahme aber unter dem Motto der Wahlfreiheit den Betroffenen, in diesem Fall sogar noch abgeleitet den Eltern, zu überlassen und die durchaus vertretbare Position einzunehmen, dass es einer modernen Sozialpolitik vor allem um die Ermöglichung bestimmter Handlungsoptionen gehen sollte, der Staat bzw. die Sozialpolitik aber letztendlich nicht dafür verantwortlich ist, ob das Angebot auch angenommen wird und was die Betroffenen daraus machen?20 Ist es angesichts der vorliegenden Forschungsbefunde aus dem Bereich der Elementarpädagogik nicht durchaus legitim, ein paternalistisches Verhalten seitens der Sozial- bzw. Bildungspolitik gerade auch hinsichtlich der armutspräventiven Potenziale einer nicht nur ergänzenden, sondern singulären vorschulischen Betreuung und Erziehung zu fordern? Olk und Mierendorff ( 1998) haben aus sozialökonomischer Sicht die Grundlinien einer kindorientierten Reform des Sozialstaates skizziert. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Kritik, dass Strukturprinzipien und Funktionsweise des Systems der sozialen Sicherung die Bevölkerungsgruppe der Kinder als gesellschaftliche Gruppe weitgehend unsichtbar gemacht haben. Die Kinder werden an den familialen Binnenraum verwiesen und im öffentlichen Diskurs werden sie als ökonomisch unproduktiv, sozial inkompetent und rechtlich zumindest partiell unmündig wahrgenommen, wodurch sie ein Anhängsel bzw. Eigentum ihrer Eltern bleiben? 1 Grund20 Die Analogie zu den neueren Entwicklungen bzw. Diskussionen in den Kernbereichen des sozialen Sicherungssystems ist evident. Man denke hier an die Debatte über die Implementierung von Wahlleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, die bereits erfolgte Einführung staatlich geförderter, aber hinsichtlich der Inanspruchnahme freiwilliger Komponenten im Alterssicherungssystem mit der so genannten "Riester-Rente" oder auch im Gefolge des Umbaus der Bundesanstalt für Arbeit die Diskussion über entsprechende Modifikationen im System der Arbeitslosenversicherung im Sinne einer Aufspaltung in eine Basissicherung und optionale Absicherungselemente (vgl. hierzu Seil 2002d). 21 Der überwiegende Teil der neueren familienpolitischen Debatte dreht sich um eine "Entlastungsdebatte" bezogen auf die elterlichen Haushalte (bei faktisch zunehmender Belastung der Familien mit Kindem z. B. durch die ausgeweitete indirekte Besteuerung) und geht meistens implizit davon aus, dass entsprechende Budgetveränderungen zugunsten der elterlichen Haushalte automatisch auch den Kindem zufließen. Die grundsätzliche Skepsis hinsichtlich der tatsächlichen Effekte der "geldwerten" Leistungen in der Familienpolitik (in Verbindung mit den natürlich knappen Ressourcen) hat nunmehr auch im ll. Kinder- und Jugendbericht dazu geführt, dass die Sachverständigenkommission unter dem prägnanten Ausdruck "Dienste vor Geld" für die Priorität einer besseren Förderung der infrastrukturellen Angebote vor

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haustein für eine ,,kinderbezogene Sozialpolitik" sei die Einführung eines Grundeinkommens für Kinder (im Sinne einer eigenständigen Absicherung der Kinder mit treuhändenscher Verwaltung durch die Eltern). Mit einer solchen Maßnahme ließen sich auch andere Schnittstellenprobleme beseitigen, so z. B. die Lohnabstandsproblematik in der Sozialhilfe, die im wesentlichen darauf basiert, dass Kinder in der Sozialhilfe bedarfsorientiert berücksichtigt werden, im allgemeinen Familienlastenausgleich aber nicht. Eine Anerkennung des produktivistischen Arguments, dass die Kinder nicht erst zukünftig einen Nutzen für die Gesellschaft darstellen (vgl. hierzu beispielsweise die Argumentation in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Beitragsgestaltung in der Pflegeversicherung vom 3. April 2001), sondern bereits in der Kindheit und Jugend durchaus Bildungs- und Sozialisationsarbeit leisten, führt zum Modell eines "Kindergehaltes" und auch die Kreditgewährung an die nachwachsende Generation ließe sich ohne weiteres auf die Ausbildungsförderung übertragen. Die Autoren beziehen sich bei diesen Spezifikationen auf das ursprüngliche Modell eines "Drei-Generationenvertrages", wie es in den 1950er Jahren von Wilfried Schreiber mit seinem Vorschlag einer Kindheits- und Jugendrente entwickelt worden ist. Die damit verbundene mögliche Umsetzung in Form einer "Familienkasse" erfährt derzeit wieder eine Renaissance im Kontext der Diskussion über alternative Wege der Finanzierung der Kinderbetreuung (Sell 2002b). Konsequent weiter gedacht führt der Ansatz einer kinderbezogenen Sozialpolitik bis hin zu (allerdings sehr fragwürdigen) Vorschlägen, die auf eine Stärkung des politischen Gewichts der nachwachsenden Generation im öffentlichen Raum zielen, wie beispielsweise eine Herabsetzung des Wabialters auf 16 Jahre oder die Einführung eines "Familienwahlrechts".22 Der Exkurs zum Themenfeld lebenslagenorientierte Sozialpolitik für Kinder sollte gezeigt haben, welche enormen gesellschaftspolitischen Konflikte mit diesem Ansatz verbunden sind, wenn man denn die beschreibende Ebene der Lebenslagen-Analysen verlässt. 23

einer Erweiterung der individuellen finanziellen Transferleistungen (z. B. über das Kindergeld) plädiert. Vgl. Bundestags-Drucksache 14/8181 vom 4.2.2002: 54. 22 So haben die SPD-Politikerin Renate Schmidt und Rainer Eppelmann (CDU) eine Diskussion über ein solches Familienwahlrecht gefordert, nach dem sich die Spitzenvertreter der beiden Kirchen im April 2002 dafür ausgesprochen haben. Vgl. Rhein-Zeitung, 13.5.2002. 23 Vgl. nur beispielhaft den Beitrag von Butterwegge/Klundt 2001, die davon sprechen, dass in der neueren wohlfahrtsstaatliehen Debatte "das Kind" zum medialen Kultobjekt avanciert und "die Familie" wieder Fetischcharakter angenommen habe. "Indem die soziale immer mehr zu einer Familienfrage umdefiniert wird, kann die Diskussion über Kinderarmut politischen Alibi- und Ablenkungscharakter erhalten .. ." (Butterwegge/Klundt 2001: 57). 3 Seil (Hrsg.)

34

Stefan Sell

4. Die sozialwissenschaftliche Thematisierung von Armut bis hin zum Ansatz der "sozialen Exklusion" - oder: Zurück zur Makroebene der Armutsforschung Betrachtet man die international derzeit diskutierten Konzepte der modernen Annutsforschung, dann lassen sich die in der Abbildung 2 skizzierten Hauptentwicklungslinien erkennen. Die deutsche Diskussion hat dabei zum einen mit dem Lebenslagen-Ansatz in der Traditionslinie von Neurath und Weisser einen wichtigen und auch zukunftsträchtigen Ansatz vorzuweisen, zum anderen war die deutsche Armutsdiskussion in den 1980er und 1990er Jahren konzentriert auf die quantitative Ausdifferenzierung der Armutsberichte mit einer pragmatischen Schwerpunktsetzung auf Einkommensarmut und einer - nur vor dem Hintergrund der sozialpolitischen Entwicklung in diesen Jahren verständlichen - Fokussierung auf die Herstellung von Bezügen zwischen Armut und Arbeitslosigkeit bzw. dem Versagen der gewachsenen sozialen Sicherungssysteme. Etwas "gestört" wurden dann die armutspolitischen Kreise in den späten 80er und zu Beginn der 90er Jahre durch die Befunde aus der dynamischen Annutsforschung. Das auf der bereits in den 70er Jahren von David Ellwood in den USA herausgearbeitete Lebenslauf-Perspektive basierende Projekt "Sozialhilfekarrieren" am Zentrum für Sozialpolitik in Bremen arbeitete mit einer 10%-Längsschnittsstichprobe aus den erfolgreichen Neuanträgen auf Sozialhilfe in Bremen, welche über mehrere Jahre hinweg verfolgt wurden. Ziel war es, die Wege in, durch und aus der Sozialhilfe in eine typisierte Form zu bringen, also den zeitlichen Verlauf der Hilfebedürftigkeit herauszuarbeiten. Der damals gängigen These von der "Zwei-Drittel-Gesellschaft", die die Vorstellung eines monolithischen Drittels der Bevölkerung in Armut nahegelegt hat, wurde durch eine der Hauptbefunde, dass nämlich ein Großteil der Soziaihilfebezieher nur kurzzeitig als Überbrücker (57%) in der Sozialhilfe verblieb, ein schwerer Schlag versetzt, denn der Dreiklang der dynamischen Armutsforschung (Armut ist a) verzeitlicht, also häufig nur eine Episode im Lebenslauf, b) individualisiert, was eine subjektiv unterschiedliche - eben auch positive - Bewertung dieser Lebensphase bedeutet und c) sozial entgrenzt, dass also das Risiko der Verarmung bis weit in die mittleren Schichten hineinreicht) passte vielen Apologeten der Armutsdiskussion nicht ins Konzept. Nach bzw. neben der Konjunktur, die nunmehr das Lebenslagenkonzept vor allem durch den 1. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und die überall erkennbare Diffusion zurnindst der Begrifflichkeil in die scientific community erfahren durfte, stellt sich abschließend die Frage, inwieweit die deutsche Diskussion anknüpfen kann an Entwicklungen, die vor allem unter dem Begriff der "sozialen Exklusion", also Ausgrenzung, in vielen europäischen Ländern verhandelt wird und mittlerweile auch auf

Armutsforschung und Armutsberichterstattung

35

~- - - --

Armut als Subkultur (.,culture of poverty")

.!.

Diskussionslinie in den USA

.I-

Oscar Lewis .1..urban underclass"-Debatte (Gunnar Myrdal)

.!.

stigmatisierende Umdeutung durch Charles Murray

,~rmut'

i

Handlunes-

Lebenslagen- ·····-··-·· ---- Relative Ansatz Deprivation .1.1Weisser, Nahnsen Peter Townsend etal.

.!.

praktische Verwendung überwiegend in Form einer additiven Deskription von Unterversorgungslagen I

L..............·-··--·-· · ··-·-··

'--·-- --·-- ···· i ..

!

theoretische Strategie .1Amartya Kumar Sen .1sozialökonomischer .,capabllity approacb"

i

Multiple (kumulierte) Deprivation bzw. Kumulation sozialer Benachteiligungen

Diskussion innerhalb der EU -------------------+

Abbildung 2: Konzepte der modernen Armutsforschung

der Ebene der europäischen Kommission Eingang in die offizielle Politik gefunden hat. Zugleich eröffnet dies natürlich auch die reizvolle Perspektive eines europäischen Vergleichs. Außerdem signalisiert der Terminus "soziale Ausgrenzung" eine gesellschaftspolitische Dimensionalität, die gegen eine Reduzierung von Armutspolitik auf Sozialhilfe- oder maximal Einkommenspolitik gerichtet sein könnte. Die seit einigen Jahren in der EU erkennbare Verschiebung der Begrifflichkeit von ,.poverty" zu "social exclusion"24 hat ihren Ursprung in Frankreich. Dort tauchte der Exklusionsbegriff erstmals bereits in den 70er Jahren auf (vgl. Lenoir 1974). In einem allgemeinen Sinne versteht man darunter die "inability of an individual to participate in the basic political, economic and social functionings of the society in which he or she lives" (Tsakloglou/Papadopoulos 2001: 2). Während dem Armutsbegriff seine Eindimensionalität (im Sinne einer Begrenzung auf die materiellen Ressourcen und hierbei des Einkommens) sowie sein statischer Charakter vorgehalten wird, zeichnet sich der Terminus Exklusion nach Ansicht der Befürworter durch seine Multidimensionalität und seinen dynamischen Charakter aus. Nach Room (1995) besteht der Exklusionsbegriff aus fünf Komponenten: 24 Vgl. auch Mayes et al. 2001 zur Verwendung des Begriffs in den einzelnen europäischen Ländern.

Stefan Seil

36

• Multidimensional: mehrere Indikatoren für den Lebensstandard?5 • Dynamisch: Prozessorientierung und Betrachtung der Ein- und Ausstiege. • Räumliche Dimension: Nicht nur ein Defizit an perönlichen Ressourcen, sondern auch insuffiziente oder fehlende Ressourcen im Lebensumfeld der Menschen werden berücksichtigt.26 • Relational: soziale Teilhabe, soziale Integration und fehlende Macht innerhalb einer Gesellschaft werden thematisiert.

• Exklusion ist charakterisiert durch ausgeprägte Brüche im Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft. Eine empirisch auf Daten des Europäischen Haushaltspanels (ECHP) basierende Operationalisierung des Exklusionsbegriffs haben Tsakloglou/ Papadopoulos 2001 vorgelegt. Die von ihnen verwendeten Daten beziehen sich auf die ersten drei Wellen des ECHP aus den Jahren 1994 bis 1996. Von den 15 Staaten der EU beteiligen sich außer Schweden alle an diesem Panel, allerdings Österreich und Finnland erst nach der 1. Welle. Sie konstruieren Deprivationsindikatoren, die sich auf die folgenden vier Bereichen beziehen: • Poverty (Einkommensarmut): In Anlehnung an die EU-Definition verwenden sie 60% des mit der neuen OECD-Skala äquivalenzgewichteten Medianeinkommens. • Living conditions (Lebensbedingungen): Hier werden 22 ltems der Haushaltsausstattung berücksichtigt, die zu einem Wohlfahrtsindikator aggregiert wurden. Als Deprivationsgrenze wurde 80% des Medians der Verteilung gewählt. • Necessities of live (Lebensnotwendigkeiten): In einem ersten Schritt wurden länderspezifische Wohlfahrtsindikatoren gebildet und als Deprivationsgrenze 60% des nationalen Medians herangezogen. • Social relations (Soziale Beziehungen).

Die Verteilung der Betroffenheit hinsichtlich einer der vier Bereiche in der dritten Welle des ECHP zeigt die Tabelle 6:

Die Pionierarbeit hierzu stammt von Townsend 1979. Dies korrespondiert gut mit den Arbeiten der "welfare geography" . Vgl. hierzu und den Anknüpfungspunkten zu einer räumlichen Sozialpolitik Seil 1994. 25

26

Armutsforschung und Armutsberichterstattung

37

Tabelle 6 Bevölkerungsanteil in der 3. Welle des ECHP mit Deprivation Income

Living conditions

Necessities of life

Social relations

Belgien

13,3

7,6

11,1

8,5

Dänemark

12,8

3,4

5,7

3,4

Deutschland

9,9

5,6

10,7

4,3

Finnland

13,9

4,0

12,3

2,9

Frankreich

17,6

6,9

14,3

4,3

Griechenland

20,7

9,8

31,8

2,1

Großbritannien

22,3

5,4

17,7

1,8

Irland

15,0

10,0

15,5

0,7

Italien

15,8

8,6

15,0

6,6

Luxemburg

11,3

4,8

7,5

6,4

Niederlande

11,3

3,8

9,7

5,2

Österreich

11,0

6,8

11,3

5,7

Portugal

23,2

20,6

15,3

4,7

Spanien

18,8

7,6

15,5

2,3

Quelle der Daten: Papadopoulos/Tsakloglou 200 I: 7.

Den dynamischen Aspekt der sozialen Exklusion verdeutlicht die Tabelle 7, in der dargestellt ist, wie groß der Bevölkerungsanteil des jeweiligen Landes ist, der nie, ein, zwei oder drei Jahre in dem hier untersuchten Zeitraum 1994 bis 1996 mit einem hohen Risiko kumulativer Benachteiligung belegt war, wobei dies dadurch operationalisiert wurde, dass die Betroffenen in mindestens zwei der vier Bereiche als depriviert klassifiziert worden sind.27 Offensichtlich ist die enorme Spannweite der Exklusionswerte. So lag der Anteil der Bevölkerung, der über drei Jahre lang kumulativ benachteiligt war, in Portugal bei fast 10%, während es in Dänemark weniger als 1% der Bevölkerung waren. Nicht nur die unterschiedlichen sozialen Sicherungssysteme und natürlich auch ökonomischen Grundlagen der einzelnen EU-Staaten werden hier in ihren Effekten erkennbar, relevant ist die Streuung vor allem angesichts der auf der EU-Ebene über das Konzept der "so27 Da hierfür die Daten aus allen drei Wellen des ECHP herangezogen wurden, konnten Österreich und Finnland nicht berücksichtigt werden, da sie erst nach der ersten Welle hinzugekommen sind.

38

Stefan Seil Tabelle 7 Bevölkerungsanteil, der unter kumulativer Benachteiligung leidet, während einer Periode von drei Jahren

Nie

Mindestens ein Jahr

Mindestens zwei Jahre

Drei Jahre

Belgien

85,3

14,7

7,3

3,0

Dänemark

92,3

7,7

2,9

0,7

Deutschland

87,9

12,1

5,2

2,0

Frankreich

83,8

16,2

8,4

3,7

Griechenland

71,9

28,1

15,3

8,0

Großbritannien

78,4

21,6

13,2

7,2

Irland

85,1

14,9

7,9

3,4

Italien

81,1

18,9

9,5

4,4

Luxemburg

88,2

11,8

5,1

1,9

Niederlande

90,4

9,6

4,3

2,1

Portugal

72,9

27,1

16,7

9,7

Spanien

80,5

19,5

8,3

3,2

Quelle der Daten: Papadopoulos/Tsakloglou 2001: 13.

zialen Exklusion" laufenden Formulierung einer Armuts- bzw. gar Exklusionsbekämpfungspolitik, derzeit erst auf der Stufe einer Erstellung von Aktionsplänen durch die Mitgliedsstaaten, die mittel- und langfristig höchst brisante Fragen einer sich ausdifferenzierenden Umverteilung innerhalb des EU-Raumes aufwerfen wird - noch enorm potenziert durch die geplante EU-Osterweiterung. 5. Ausblick Wir wissen erst einiges, aber jedes Jahr mehr. So läßt sich vielleicht zutreffend der (für einige sicherlich eher verwirrende) Stand der Armutsforschung und Armutsberichterstattung beschreiben. Die Vorlage des 1. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung markiert einen wichtigen Etappenerfolg und nicht nur die angekündigte Fortschreibung (wenn auch in meiner Meinung nach zu großen zeitlichen Abständen) läßt auf systematisierende Effekte hoffen, vor allem auch der komplementär wirkende Druck seitens der EU-Ebene wird eine neue Dynamik entfalten. So müssen die Mitgliedsstaaten nicht nur so genannte National Action Plans for Social Inclusions (NAPincl.) vorlegen (der deutsche Aktionsplan wurde als Bundestags-

Armutsforschung und Armutsberichterstattung

39

Drucksache 14/6134 vom 17.5.2001 veröffentlicht), sondern künftig wird die EU in jedem Jahr die Fortschritte bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausschließung anband einer Liste von sozialen Indikatoren überprüfen, die von allen Mitgliedsstaaten in vergleichbarer Form erhoben werden müssen. Hierzu wird auch eine neue Einkommens- und Verbrauchsstichprobe - der European Union Survey of Income and Living Conditions (EUS/LC) - dienen, die jährlich in allen Ländern in gleichartiger Weise erhoben werden muss. Mit der Verknüpfung von auf europäischer Ebene harmoniserter und damit auch Vergleichen zugänglicher Armuts- und Exklusionberichterstattung und der Einforderung einer auf Inklusion ausgerichteten Politik kann mit der Bezugnahme auf das Konzept der sozialen Exklusion28 durchaus an den gesellschaftspolitischen Gehalt des Lebenslagen-Konzepts, wie es sich in der Weisserschen Traditionslinie in Deutschland ausdifferenziert hat, augedockt werden. Für das Lebenslagen-Konzept entscheidend wird sein, ob es in den kommenden Jahren gelingen kann, die intellektuell überaus fruchtbare begriffliche und theoriegleitete Ausdifferenzierung auch zu operationalisieren, gerade an der Schnittstelle des Ansatzes zu psychologischen und kulturanthropologischen Erkenntnissen, deren empirische Abbildung aber - in Verbindung mit einer naheliegenden Integration wesentlicher Elemente des sozialökonomischen "capabilities"-Ansatzes von Amartya Sen - verständlicherweise einen enormen Aufwand erfordert. 29 Literaturverzeichnis Andreß, H. J. (1999): Leben in Armut. Analysen der Verhaltensweisen armer Haushalte mit Umfragedaten, Opladen, Wiesbaden. Andretta, G. (1991): Zur konzeptionellen Standortbestimmung von Sozialpolitik als Lebenslagenpolitik, Regensburg.

28 Die Rezeption und Diskussion des Konzepts der "sozialen Exklusion" in Deutschland beginnt sich erst zu entfalten, vgl. aus der zunehmenden Literatur beispielsweise Kronauer 2002. 29 Die gegenwärtige Inflationierung der Verwendung der Lebenslagen-Begrifflichkeit (so rekurriert z. B. auch der aktuelle 11. Kinder- und Jugendbericht an mehreren Stellen auf diesen Ansatz als untersuchungsleitendes Konzept; vgl. BundestagsDrucksache 14/81818 vom 4.2.2002) wird zumindest hinsichtlich des l. Armutsund Reichtumsberichts überaus kritisch bewertet, so von Richard Hauser in seiner Analyse der Aussagen des Berichts zur Armut von Familien: "Man kann sich ... des Eindrucks nicht erwehren, dass das Plädoyer für eine Lebenslagendefinition der Armut nur verbergen sollte, dass man sich nicht festlegen wollte." (Hauser 2001: 33). Zu den weiteren Perspektiven des Lebenslagenkonzeptes im Zusammenhang mit der geplanten Fortschreibung des Armuts- und Reichtumsberichts vgl. auch Voges 2002.

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Stefan Seil

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II. Ergebnisse aus der Armutsforschung

Die exklusive Gesellschaft Empirische Befunde zu Armut und sozialer Ausgrenzung

Von Petra Böhnke, Berlin Ein scharfer Ton bestimmt derzeit die öffentliche Debatte über Lebenslagen in Deutschland. Eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, polarisierte Großstädte, soziale Ausgrenzung immer breiterer Schichten Schlagworte wie diese summieren sich zu einer Gesellschaftsbeschreibung, deren Hauptmerkmale wachsende Ungleichheit und Spaltung sind. Nachdem die Bundesregierung den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt hat, lässt sich erstmalig auf ein regierungsamtliches Dokument verweisen, will man politisch brisante Behauptungen belegen: zum Beispiel, dass es trotz Sozialhilfe Armut gibt und dass auch Erwerbstätige arm sein können. 1 Arm sein heißt in diesem Fall, über ein niedriges Einkommen zu verfügen, das den allgemeinen Versorgungsstandards in Deutschland nicht mehr entspricht. Der Regierungsbericht thematisiert neben der Einkommensverteilung auch Bildungsdefizite, die Wohnungsversorgung, Gesundheits- und Migrationsfragen, widmet sich also nicht nur den finanziellen Ressourcen, sondern der Lebenslage einer Person. Fazit von höchster Stelle: Soziale Ausgrenzung habe in nahezu allen Lebensbereichen zugenommen, Verteilungsgerechtigkeit abgenommen. Nichts Geringeres als die Integrationsfahigkeit der Gesellschaft stehe zur Diskussion; der Zugang zum Arbeitsmarkt, so eine Hauptthese der deutschen Debatte um soziale Ausgrenzung, bestimme wesentlich darüber, ob jemand "drinnen" oder "draußen" sei? Die gängigen Zeitdiagnosen stehen auf einem dürftigen empirischen Fundament. Es ist derzeit üblich, alle Facetten von Benachteiligung pauschalisierend als soziale Ausgrenzung zu interpretieren. Politische Statements und wissenschaftliche Forschung versehen das, was früher Armut und prekäre Lebenslage genannt wurde, mit dem neuen Vokabular der Spaltung. Armut und soziale Ausgrenzung als zwei Formen extremer sozialer Benachteiligung werden dabei oft vermischt, mitunter als Synonyme verwendet. SoVgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (2001). Vgl. Heitmeyer (1997), Kronauer (1997), Alisch/Dangschat (1998), Herkommer (1999), Willisch (2000). 1

2

46

Petra Böhnke

wohl eine definitorische Klärung als auch die Indikatorensuche zur Dokumentation sozialer Ausgrenzungsprozesse stecken erst in den Anfängen und stellen die Sozialberichterstattung vor neue Herausforderungen; eine empirisehe Untersuchung über den Zusammenhang von Armut und Ausgrenzung fehlt. Führt Niedrigeinkommen unabdingbar auch zu einer Gefährdung sozialer Integration? Oder sind es verschiedene Risiken, die Einkommensarmut bedingen und die soziale Ausgrenzung verursachen? Um diese Fragen beantworten zu können, werden im folgenden Überlegungen zur Definition und empirischen Handhabung von Armut und sozialer Ausgrenzung angestellt. Auf der Grundlage einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage aus dem Jahr .1998, dem Wohlfahrtssurvey, können Ausgrenzungstendenzen in mehrfacher Hinsicht dokumentiert werden: Durch eine Vielzahl von Informationen über die Versorgungslage einer Person lassen sich Benachteiligungen in mehreren Lebensbereichen darstellen. Darüber hinaus können deren Auswirkungen auf psychische und soziale Aspekte gesellschaftlicher Teilhabe analysiert werden. In der quantitativen Ungleichheitsforschung bislang unberücksichtigt ist die Einschätzung der Befragten selber: Wie zufrieden sind sie mit ihren persönlichen Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben? Auch hierzu liegen Informationen vor. 3 1. Von Armut zu Ausgrenzung: Die Definitionsfrage

Die empirische Sozialforschung hat mehrere Probleme, will sie Prozesse sozialer Ausgrenzung dokumentieren und analysieren. Dies hat vor allem mit der vagen Definition und der unbestimmten, schwer standardisierbaren Indikatorenauswahl zu tun. Soziale Ausgrenzung zielt auf einen Prozess der Degradierung und Destabilisierung von Lebenslagen. Dreh- und Angelpunkt ist die Gefahr einer eingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe immer breiterer Schichten, und zwar in vielfältiger Hinsicht: Neben ökonomischen Faktoren wie z. B. Niedrigeinkommen spielen auch Aspekte des sozialen, politischen und kulturellen Ausschlusses eine Rolle. 4 Auf europäischer Ebene hat der Begriff der sozialen Ausgrenzung in den 1990er Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Das aus Frankreich kommende Konzept fand Eingang in den Brüsseler Sprachgebrauch und erwei3 Der Wohlfahrtssurvey ist eine bevölkerungsrepräsentative Umfrage, die seit 1978 etwa alle fünf Jahre unter der Leitung von Prof. Wolfgang Zapf (WZB) durchgeführt wird. Die Erhebung stellt Informationen zu diversen Lebensbereichen bereit, fragt nach subjektivem Wohlbefinden und der Qualität der Gesellschaft. In der Umfrage von 1998 wurden zusätzlich Indikatoren zum Thema Integration und Exklusion erhoben, vgl. Habich/Noll/Zapf (1999). 4 Vgl. Room (1995), Kronauer (1999), Kuhm (2000).

Die exklusive Gesellschaft

47

terte das bis dahin auf Einkommen bzw. auf materielle Ressourcen konzentrierte Verständnis von Armut um partizipatorische Aspekte. Die Europäische Kommission hat Programme zur Analyse und Vermeidung von sozialer Ausgrenzung ins Leben gerufen, die die herkömmliche Armutsforschung ergänzen sollen.5 In die Präambel der Sozialcharta der Europäischen Union wurde die Vermeidung sozialer Ausgrenzung bereits 1989 als Zielvorstellung aufgenommen und ist seither wichtiger Bestandteil europäischer Sozialpolitik. Die einzelnen Mitgliedsstaaten waren im Jahr 2001 aufgefordert, nationale Aktionspläne zu erstellen, um die Koordinierung der Maßnahmen zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung im europäischen Verbund voranzutreiben.6 Doch was bezeichnet soziale Ausgrenzung? Obwohl als "Allzweckwort"7 gebrandmarkt und analytisch für unbrauchbar erklärt, prägt der Begriff europaweit die Politik und setzt einen beträchtlichen Aktionismus in Gang. Die EU versteht unter sozialer Ausgrenzung Benachteiligungen, die sich über mehrere Lebensbereiche erstrecken, also über finanzielle Restriktionen hinausgehen und eine stetige Abwärtsspirale in Bewegung setzen. Es geht auch um die negativen Auswirkungen materieller Nöte auf soziale Kontakte und psychisches Wohlbefinden. Ziel ist die Beseitigung von Defiziten bei der Teilnahme am Erwerbsleben sowie beim Zugang zu Ressourcen, Rechten, Gütern und Dienstleistungen. Soziale Ausgrenzung kann sich somit im Prinzip auf das Fehlen des existentiell notwendigen Versorgungsminimums in jedem Lebensbereich beziehen, sei es Einkommen, Arbeit, Bildung, soziale Netzwerke etc. Die Diskussion um soziale Gerechtigkeit ist jedoch nicht mehr nur auf Verteilungsaspekte beschränkt, sondern geht darüber hinaus. Thematisiert wird Chancengleichheit in Bezug auf soziale Rechte, und dies in umfassender Weise. Soziale Rechte reichen nach Thomas H. Marshall " ... vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis auf ein Recht auf Leben als ein zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards".8 Das im bundesrepublikanischen Grundgesetz verankerte Prinzip der Sozialstaatlichkeit sowie das Sozialgesetzbuch verpflichten zu materieller (Leistungen der Sozialversicherungen) und formeller (soziale Grundrechte wie bspw. Gleichheitsgrundsatz) Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, dessen Ausgestaltungsspielraum entsprechend groß ist.

s Vgl. Bergharn (1995).

6 Die einzelnen nationalen Aktionspläne sind einzusehen unter: http://europa.eu. int/comm/employment_social/news/200 l/jun/napsincl200 l _en.htm1 (04.1 0.2001 ). 7 Vgl. Castel (2000), S. 9. 8 Vgl. Marshall [1949](1992), S. 40.

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Petra Böhnke

Das Ausgrenzungskonzept fungiert als ein Oberbegriff, der unterschiedliche Inhalte bündelt und dennoch, bei aller definitorischer Unschärfe, eine wichtige Funktion übernimmt: Es wird ein Diskurs angestrengt, der das sozialstaatliche Prinzip als solches zur Disposition stellt. Reformbedürftigkeit tritt angesichts knapper Kassen, demographischer Herausforderungen, bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Notstände sowie sich verändernder Erwerbsbiographien deutlich zu Tage; Versorgungsängste und Unsicherheiten sind die Folge. Der Ausgrenzungsdiskurs zielt wesentlich darauf ab, dass ein wachsender Personenkreis nicht mehr von den bestehenden Umverteilungsstrategien und der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen profitieren kann. Die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung wird vor allem in jüngsten EU-Dokumenten als Modernisierungsmaßnahme für das europäische Sozialmodell thematisiert und nach dem "Mainstreaming"-Prinzip jedem Politikbereich als grundlegende Maxime unterbreitet. Ungesicherte Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit gelten als Schlüssel für die Polarisierung der Gesellschaft - hier ein Teil der Bevölkerung, der mit sich gegenseitig verstärkenden Benachteiligungen zu kämpfen hat und ohne staatliche Hilfe nicht mehr auskommt, und dort ein anderer, in weithin gesicherten Verhältnissen lebender BevölkerungsteiL Nicht mehr das Kontinuum zwischen oben und unten, sondern eine polarisierte Struktur Teil der Gesellschaft oder ausgeschlossen zu sein - wird zum Referenzpunkt für die Analyse sozialer Ungleichheit. Darüber hinaus allerdings ist man sich uneins: Inwiefern soziale Integration tatsächlich und ausschließlich an Arbeitsmarktteilhabe geknüpft ist, bleibt fraglich; konkretere Definitionen von Ausgrenzungen sind an sozialstaatliche Versorgungscharakteristika eines jeweiligen Landes und des dort vorherrschenden Diskurses gebunden.9 Auf empirischer Ebene hat sich immer wieder gezeigt, dass es diese idealtypisch formulierte Grenzziehung zwischen "drinnen" und "draußen" nicht gibt, und sie sich auch nicht als konstruktiv erweist, will man den "Teufelskreis" von sich gegenseitig verstärkenden Benachteiligungen einsichtig machen. 10 Jemanden als "sozial ausgegrenzt" einzustufen, mag plausibel erscheinen, wenn man Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit, Kriminalität oder Migration in den Mittelpunkt stellt. Hier geht es in der Tat um Rechtlosigkeit, verweigerte Zugangsansprüche, Stigmatisierung und räumliche Isolierung. Für soziale Benachteiligung, die sich aus dem Kontext von Arbeitsmarktkrisen herleitet und, so die weit verbreitete These, auf die "Mitte" der Gesellschaft übergreift, führt diese scharfe Begrifflichkeit jedoch in die Irre. Statt "Drinnen" oder "Draußen" ist es eher das "Mehr" 9 10

Vgl. Silver (1995). Vgl. Leisering (2000).

Die exklusive Gesellschaft

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oder "Weniger" an Teilhabechancen, das eine Lebenssituation prekär und instabil macht und eine Entwicklung der stetigen Marginalisierung bis hin zum Ausschluss aus gesellschaftlichen Teilsystemen einleiten kann. Dennoch wirft der enthusiastische Gebrauch der Ausgrenzungsterminologie ein bezeichnendes Licht auf die Aktualität der so gestellten sozialen Frage. Sie geht darauf zurück, dass ein umfassender sozialer Wandel konstatiert wird, der - vor allem im Zusammenhang mit hoher Arbeitslosigkeit, prekären Arbeitsverhältnissen und Versorgungsunsicherheit - als Bedrohung für gesellschaftliche Stabilität und die individuelle Wohlfahrt breiter Schichten wahrgenommen wird. 2. Von der Theorie zur Empirie: Die Indikatorenfrage

Die Offenheit der Definition von sozialer Ausgrenzung hat zur Folge, dass in diversen Studien unterschiedliche Formen extremer sozialer Benachteiligung mit diesem Label erfasst werden. Die Unschlüssigkeit darüber, wie man soziale Ausgrenzung in verschiedenen Lebensbereichen eigentlich messen soll, welche Indikatoren das Phänomen angemessen beschreiben und wie man mit einer Überlagerung mehrerer Formen von Unterversorgung umgeht, ist eine direkte Folge der eher politisch als theoretisch motivierten Begrifflichkeiten. Die Unbestimmtheit und der Symbolcharakter des Ausgrenzungskonzepts bringen es mit sich, dass für eine empirische Dokumentation keine normative Richtschnur zur Verfügung steht, anband derer eine unumstrittene Indikatorenauswahl getroffen werden könnte. Dennoch ist es durchaus möglich, mit vorhandenen sozialwissenschaftliehen Umfrageinstrumenten bestimmte Grundmerkmale und Thesen der Ausgrenzungsdebatte zu überprüfen. Als Orientierung können Studien aus dem Bereich der Sozialindikatorenforschung dienen, die Armutsanalysen schon seit längerem um Informationen zu prekären Lebenslagen und subjektivem Wohlbefinden ergänzen. 11 Neben der bestehenden Lücke zwischen Konzept und empirischem Nachweis gibt es eine Vielzahl offener Fragen zum Verhältnis von Armut und sozialer Ausgrenzung. Beide Begriffe werden nebeneinander gestellt, ohne dass klar wäre, ob sie sich auf ein und dasselbe Problem beziehen. Die Definition von Armut ist üblicherweise an den Mangel finanzieller Ressourcen gebunden. Wer ein niedriges Einkommen hat, mit dem ein durchschnittlicher Lebensstandard nicht erreicht werden kann, gilt als arm. Die Bemessungsgrundlagen sind dabei unterschiedlich und Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. 12 Das methodische Ringen um Gewichll

12

Vgl. Schott-Winterer (1990), Glatzer/Hübinger (1990), Habich (1996). Vgl. Becker/Hauser (1997), Dietz (1997), Andreß (1999), Krämer (2000).

4 Sell (Hrsg.)

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tungsfaktoren, Mittelwerte und die "richtige" Höhe relativer Armutsschwellen wird seit einigen Jahren um eine Indikatoren-Diskussion erweitert. Die auf das Einkommen fixierte Armutsmessung soll mit Informationen zu anderen Lebensbereichen ergänzt werden: Lebensstandard, Wohnungsausstattung, der Zugang zu sozialen Diensten und Institutionen sind wichtige Dimensionen, die das Bild von der Versorgungslage eines Menschen sinnvoll abrunden. 13 Immer, auch bei einer mehrdimensionalen Annutsforschung, geht es um die gerechte Verteilung materieller Ressourcen, die den Rahmen eines gesellschaftlich konsensfähigen sozialen Ungleichheitsspektrums nicht sprengen darf. Eine unzureichende Einkommenssituation gilt als eine nicht mehr legitime Form sozialer Ungleichheit, der entgegen zu treten ist. 14 Die Ausgrenzungsdebatte knüpft bei der Mehrdimensionalität an und konzentriert sich explizit auf Kumulationen von Problemlagen und deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Partizipation. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Entscheidung für die empirische Handhabung von Ausgrenzungstendenzen treffen. Drei Kriterien kreisen das Phänomen ein und unterscheiden es explizit von relativer Einkommensarmut (vgl. folgende Abbildung): Prekäre Lebensbedingungen werden zum einen als mehrdimensionale Unterversorgung, zum anderen als eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe gemessen. Im Mittelpunkt steht also die Kombination aus Benachteiligung in mehreren Lebensbereichen und verminderten Möglichkeiten, in kultureller, sozialer sowie politischer Hinsicht am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Als wichtige dritte Dimension wird die subjektive Wahrnehmung und Bewertung prekärer Lebensumstände hinzugezogen: die Einschätzung, nicht mehr voll und ganz in die Gesellschaft integriert zu sein. Mit Hilfe von bevölkerungsrepräsentativen Umfrageergebnissen des Wohlfahrtssurveys aus dem Jahre 1998 soll im Folgenden der Zusammenhang von Armut und sozialer Ausgrenzung näher erläutert werden. Der Datensatz gibt Aufschluss über prekäre Lebensbedingungen im Hinblick auf die Arbeitsmarktteilhabe sowie für die Bereiche Lebensstandard, Einkommen, Wohnbedingungen, Wohnungsumfeld und Ausbildungsniveau. Diese Benachteiligungen "objektiver" Art lassen sich durch Indikatoren zur sozialen Isolation, politischem Desinteresse, zu Anomiesymptomen sowie Ängsten und Sorgen ergänzen, so dass die beiden Dimensionen - mehrdimensionale Unterversorgung in Kombination mit eingeschränkter Teilhabe- abgedeckt sind (siehe folgende Abbildung). Darüber hinaus haben wir Informationen über das subjektiv empfundene Ausmaß von Zugehörigkeit: Die individuelle Einschätzung der Teilhabemöglichkeiten aus der Sicht der 13 14

Vgl. Upsmeier (1999), Böhnke/De1hey (2001). Vgl. Barlösius (2001).

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51

Dimensionen und Indikatoren sozialer Ausgrenzung

Prekäre Lebensbedingmgen Mehrdimensionale Unterversorgung Langzeitarbeitslosigkeit Unzureichender Lebensstandard Relative Einkommensarmut Schlechte Wohnsituation Probleme in der Wohnumgebung Ohne Ausbildungsabschluss

Eingeschränkte Teilhabe Soziale Isolation Politisches Desinteresse Anomiesymptome Ängste und Sorgen

Wahrnehmung und Bewertung Selbsteinschätzung: Schlechte Teilhabechancen

Messung sozialer Ausgrenzungstendenzen

Befragten gibt Aufschluss darüber, wie sich "objektive" Lebensbedingungen, wie zum Beispiel Langzeitarbeitslosigkeit oder Niedrigeinkommen, im Bewusstsein und Wohlbefinden der Menschen spiegeln. Von sozialer Ausgrenzung und ihren Gefahren für die Stabilität der Gesellschaft zu sprechen, bedeutet auch, dass Bevölkerungsgruppen ihre spezifischen Unterversorgungslagen subjektiv als solche wahrnehmen und sich nicht mehr zugehörig fühlen. Auf dieser Grundlage lassen sich Aspekte sozialer Ausgrenzung und ihr Verhältnis zu Einkommensarmut differenzierter darstellen. Drei Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden: - Mehrfachbelastungen und soziale Teilhabe: Wie wirkt sich Unterversorgung in mehreren Lebensbereichen auf soziale Teilhabe aus? Je prekärer die materiellen Lebensverhältnisse, desto schlechter das individuelle Wohlbefinden und die sozialen Teilhabechancen? - Mehrfachbelastungen und Einkommensverteilung: Wie häufig sind Überschneidungen von Unterversorgung in mehreren Lebensbereichen und 4*

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wie hängen sie mit dem zur Verfügung stehenden Einkommen zusammen? Je niedriger das Einkommen, desto stärker die Benachteiligung in mehreren Lebensbereichen? - Risikogruppen: Trifft das Armuts- bzw. Ausgrenzungsrisiko die gleichen

gesellschaftlichen Teilgruppen? Ist die "Mitte" der Gesellschaft von Ausgrenzungstendenzen bedroht? 3. Empirische Ergebnisse: Armut und Aspekte sozialer Ausgrenzung in Deutschland

Wie groß der Anteil der deutschen Bevölkerung ist, der unter der einen oder anderen Form materieller Benachteiligung leidet, ist bekannt: die Armutsquoten lagen 1998 bei ungefähr neun Prozent in den alten, bei etwa elf Prozent in den neuen Bundesländem 15 , die Quote der Arbeitslosen war im gleichen Jahr in Ostdeutschland doppelt so hoch wie in Westdeutschland (20% vs. 11 %), etwa ein Drittel der Arbeitslosen hatte bereits mehr als zwölf Monate keine Beschäftigung. 16 Für rund zehn Prozent der Bevölkerung sind die Wohnbedingungen schlecht, elf Prozent der Ostdeutschen, jedoch nur vier Prozent der Westdeutschen klagen über Probleme in der Wohngegend. Weniger als zehn Prozent der Deutschen berichten von Ängsten und Sorgen, leiden unter Depressionen oder haben Kontaktschwierigkeiten. Derartige Einschränkungen des subjektiven Wohlbefindens sind in den neuen Bundesländern zwar noch immer weiter verbreitet als in den alten; im Vergleich zum Anfang der 90er Jahre lässt sich jedoch eine erhebliche Verbesserung nachweisen. 17 3.1 Mehrfachbelastungen und soziale Teilhabe

Wie weit verbreitet sind nun aber kumulative Benachteiligungen, d. h. die Einschränkung des allgemein anerkannten Lebensstandards in verschiedenen Lebensbereichen zur gleichen Zeit? Eine solche Überschneidung macht das Zurückdrängen an den Rand der Gesellschaft wahrscheinlicher als eine - oft vorübergehende und an Statuspassagen geknüpfte - schwierige Einkommenssituation. Die Berechnungen aus dem Jahr 1998 beziehen sich auf Unterversorgung in den Bereichen Arbeit, Einkommen, Lebensstandard, Bildung, Wohnungsausstattung und Wohnumgebung.

15 16 17

Vgl. Hanesch et al. (2000), S. 79. Vgl. Statistisches Bundesamt (2000), S. 98. Vgl. Bulmahn (2000), Böhnke (2001), S. 17.

53

Die exklusive Gesellschaft Tabelle 1

Unterversorgung in mehreren Lebensbereichen und die Zufriedenheit mit den Möglichkeiten der sozialen Teilhabe, Deutschland 1998") Unterversorgung in ...

West

Ost

%

Zufriedenheit mit sozialer Teilhabeb)

%

Zufriedenheit mit sozialer Teilhabeb)

... keinem Lebensbereich

66

7,9

57

7,1

... einem Lebensbereich

25

7,2

28

6,6

... zwei Lebensbereichen

6

6,6

10

5,5

... drei und mehr Lebenshereichen

3

5,5

5

5,2

Anmerkungen: a) Die Unterversorgung ist für die Lebensbereiche Arbeit, Einkommen, Lebensstandard, Bildung, Wohnung, Wohnumgebung gemessen worden. Indikatoren: Langzeitarbeitslosigkeit (12 Monate und länger arbeitslos), relative Einkommensarmut (unter 50% des durchschnittlichen Äquivalenzhaushaltseinkommens), ungenügender Lebensstandard (Deprivationsindex), kein Ausbildungsabschluss, schlechte Wohnsituation (Größe und Ausstattung), Probleme in der Wohnumgebung (Sicherheitsgefühl und Lebensbedingungen in der Nachbarschaft) vgl. Böhnke (2001). b) Mittelwerte einer Skala, die von 0 (= ganz und gar unzufrieden) bis 10 (= ganz und gar zufrieden) reicht. Die dazugehörige Frage lautet: Wie zufrieden sind Sie mit ihren persönlichen Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen? Quelle: Wohlfahrtssurvey 1998.

An Tabelle 1 lässt sich zunächst ablesen, dass zwei von drei Westdeutschen und auch mehr als die Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung in keinem der aufgezählten Lebensbereiche einschränkt ist. Hinzu kommt etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung, das lediglich in einem Bereich benachteiligt ist. Wenn dies bspw. der fehlende Bildungsabschluss ist, muss sich dahinter nicht notwendigerweise eine prekäre Lebenssituation verbergen. Auch Probleme in der Nachbarschaft müssen für sich genommen kein Indiz für Deprivation sein. Es ist daher sinnvoll, erst bei mehrfacher Unterversorgung von prekären Lebensbedingungen zu sprechen. Im Vergleich zum Armutsrisiko müssen deutlich weniger Personen eine zugespitzte Lebenssituation mit mehrfacher Unterversorgung bewältigen. Für drei Prozent der westdeutschen und für fünf Prozent der ostdeutschen Bevölkerung ist eine in diesem Sinne starke Unterversorgung Realität. Am häufigsten geht relative Einkommensarmut mit einem unterdurchschnittlichen Lebensstandard einher: Konsumgüter und Vorsorgeaktivitäten wie beispielsweise ein Auto, Urlaub oder private Gesundheits- und Altersvorsorge sind nur noch eingeschränkt zugänglich. Die subjektive Wahrnehmung durch die Betroffenen ist entsprechend: Die Zufriedenheit mit den persönlichen Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, sinkt, je mehr Lebensbereiche von Benachteiligung betroffen sind.

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Tabelle 2

Überschneidungen von Unterversorgung und geringer sozialer Teilhabe (Zeilenprozente), Deutschland 1998a> Unterversorgung in ... b)

Anomie- Ängste und Soziale Politisches symptome Sorgen Isolation Desinteresse

4

Geringe soziale Teilhabe (Mehrfachbelastungt>

... keinem Lebensbereich

5

5

5

2

... einem Lebensbereich

10 10

10 16

11

7

9

... zwei Lebensbereichen

14

11

13

... drei und mehr Lebensbereichen

15

27

22

9

14

Langzeitarbeitslosigkeit

14

33

17

11

19

relative Einkommensarmut und ungenügender Lebensstandard

22

28

17

15

20

Anmukungen: a) geringe soziale Teilhabe wird anhand von vier Dimensionen gemessen: Anomiesymptome (sich einsam fühlen und das Leben zu kompliziert finden), Ängste und Sorgen, soziale Isolation (keine engen Freunde und schlechte Kon!aktmöglichkeiten), politisches Desinteresse (Pessimismus bezüglich Einflussnahme auf politische Entscheidungen und kein politisches Interesse) vgl. Böhnke (2001). b) Unterversorgung bezieht sich auf die Bereiche Arbeit, Einkommen, Lebensstandard, Bildung, Wohnsituation und Wohnumgebung. c) Zwei und mehr Dimensionen (von vier: Anomie, Ängste und Sorgen, soziale Isolation, politisches Desinteresse). Quelle: Wohlfahrtssurvey 1998.

Zwar äußert nahezu niemand, keinerlei Partizipationschancen mehr zu haben; bei etwa sechs Prozent der Bevölkerung in Westdeutschland und elf Prozent in Ostdeutschland sind die Lebensumstände jedoch derart, dass die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe als stark eingeschränkt empfunden werden. Nach der Zufriedenheit mit ihren persönlichen Möglichkeiten gefragt, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, geben sie auf einer Skala von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden) untere Werte an (0-4). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn materielle Notlagen mit Ängsten, Sorgen und sozialer Isolation einhergehen. Tabelle 2 zeigt die Überschneidungen prekärer Lebenslagen mit eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten in mehreren Dimensionen. Je schlechter die Lebenslage einer Person, d.h. je mehr Aspekte von Unterversorgung zusammentreffen, desto geringer sind die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe. Teilhabe ist anband der zur Verfügung stehenden Daten in vier Dimensionen gemessen worden: Anomiesymptome beziehen sich

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auf Einsamkeitgefühle und Bewältigungsprobleme, immer wiederkehrende Ängste und Sorgen, soziale Isolation und politisches Desinteresse beleuchten darüber hinaus weitere Integrationsdefizite. Die Ergebnisse in Tabelle 2 zeigen, dass es bezüglich der Teilhabechancen einen erkennbaren Unterschied zwischen prekärer Lebenslage und Wohlstand gibt. Gute Lebensbedingungen gehen vergleichsweise selten mit psychosozialen Problemen einher, nur etwa fünf Prozent der entsprechenden Bevölkerung ist betroffen. Wer hingegen in mehreren Lebensbereichen unterversorgt ist, büßt mehr Möglichkeiten der sozialen Teilhabe ein: die Prozentwerte steigen um das drei- und vierfache. Insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit und eine prekäre Versorgungssituation (Einkommensarmut und niedriger Lebensstandard) bergen neben psychischen Belastungen und Desorientierung auch die Gefahr, soziale Netzwerke zu verlieren: Jeder Fünfte, der von Langzeitarbeitslosigkeit oder doppelter Armut betroffen ist, ist in mehrfacher Hinsicht in seinen Partizipationschancen geschwächt (vgl. Tabelle 2, letzte Spalte). 3.2 Mehrfachbelastungen und Einkommensverteilung

Tabelle 3 gibt detaillierter Auskunft über den Zusammenhang zwischen dem Einkommensniveau und verschiedenen materiellen und partizipatorischen Einschränkungen. Erwartungsgemäß birgt eine unterdurchschnittliche finanzielle Versorgung ein hohes Risiko, auch in anderen Lebensbereichen auf das Notwendigste verzichten zu müssen. Eine erhebliche Anzahl detjenigen, die in strenger Armut leben (< 40% des Durchschnittseinkommens) sind langzeitarbeitslos (26% ), jede zweite Person muss auf essentielle Lebensstandardgüter verzichten. Soziale Isolation, politisches Desinteresse und andere Aspekte geringer sozialer Teilhabe sind weiter verbreitet, wenn die finanziellen Mittel knapp sind. Die Teilhabechancen sind größer, wenn sich das Einkommen durchschnittlichen Standards annähert. Die klare Tendenz ist: Je niedriger das Einkommen, desto höher das Risiko, in verschiedenen Lebensbereichen von Ausgrenzungstendenzen bedroht zu sein. Bündeln wir die Informationen zur Unterversorgung in einzelnen Lebensbereichen, so lässt sich dieser Eindruck mit drei summarischen Ausgrenzungskriterien untermauern (Tabelle 3): (1) Die Mehlfachbelastung als Indikator für Ausgrenzungstendenzen "objektiver" Art. Kriterium ist die Benachteiligung in mindestens zwei Versorgungsbereichen wie bspw. Einkommensarmut und unzureichender Lebensstandard und zusätzlich mindestens einer Dimension geschwächter sozialer Teilhabe wie zum Beispiel soziale Isolation. Bei etwa einem Drittel der Einkommensarmen werden die finanziellen Einschränkungen von weiteren Engpässen begleitet. (2) Die Selbsteinschätzung ist ein weiterer Indikator für die subjektive Wahr-

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Tabelle 3 Einkommensniveau, Unterversorgung und Ausgrenzungstendenzen, Deutschland 1998, Spaltenprozente 150%

.. . des durchschnittlichen bedarl'sgewichteten Netto-Haushaltseinkommens Langzeitarbeitslosigkeit

26

14

5

2

Unzureichender Lebensstandard

0

50

33

16

4

2

Ohne Ausbildungsabschluss

38

26

27

14

10

8

4

Schlechte Wohnsituation

27

16

16

9

5

6

2

Probleme in der Wohnumgebung

II

II

8

6

5

3

3

8

19

14

8

5

3

2

12

8

7

7

3

3

2

Soziale Isolation Politisches Desinteresse

0

Anomiesymptome

16

13

II

6

6

5

6

Ängste und Sorgen

21

19

12

7

6

4

2

"Objektive" Ausgrenzungstendenzen (Mehrfachbelastung)•>

34

27

8

0

0

0

"Subjektive" Ausgrenzungstendenzen (Selbsteinschätzung)b)

21

24

9

3

3

2

Risiko sozialer Ausgrenzung (objektiv + subjektiv)

Subjektive soziale Ausgrenzungc>

Familien-/Haushaltsfonn (Ref.kat.: Mehrpersonenhaushalt ohne Kinder) Alleinerziehend Einpersonen-Haushalt Einpersonen-Haushalt, verwitwet Einpersonen-Haushalt, geschieden Mehrpersonenhaushalt, mehr als zwei Kinder Mehrpersonenhaushalt, < = 2 Kinder

1,00 18,02 3,47 2,91 5,48 8,68 1,91

1,00 2,94 n.s. 2,26 4,61 n.s. n.s.

Erwerbsstatus (erwerbstätig, Vollzeit) Berufsunfähig Erwerbstätig, Teilzeit Arbeitslos Langzeitarbeitslos Hausfrau/-mann Rente Schule/Studium/Weiterbildung Sonstiges

1,00 7,23 4,28 7,67 27,78 3,60 2,96 14,92 3,34

1,00 3,10 n.s. 3,71 8,43 n.s. n.s. n.s. n.s.

Ehemalige oder derzeitige berufliche Stellung (Angestellte) Un-/angelernter Arbeiter Facharbeiter/Meister Beamte Freie Berufe/Selbständig Sonstiges

1,00 4,42 3,54 n.s. n.s. n.s.

1,00 2,39 n. s. n.s. n. s. n.s.

Region (Westdeutschland) Ostdeutschland

1,00 1,53

1,00 2,00

1,00

1,00

1,79

7,91

Langzeitperspektive (Gute Lebensbedingungen in letzten fünf Jahren) Permanent schlechte Lebensbedingungen in letzten fünf Jahren Anmerkungen: n. s. =nicht signifikant.

a) Ausgewiesen sind nur signifikante Werte mit p < 0.05; beide Modelle sind kontrolliert fur die Variablen Alter, Bildung, Geschlecht und Einwohnerzahl des Wohnortes. b) Relative Einkommensarmut (unter 50% des durchschnittlichen Äquivalenzeinkomrnens). c) Subjektive soziale Ausgrenzung (unzufrieden mit den persönlichen Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, Skalenpunkte 0-4 auf einer 0-10-Zufriedenheitsskala). Quelle: Wohlfahrtssurvey 1998.

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Petra Böhnke

habe tritt den Ergebnissen zufolge jedoch im Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen auf: Allein lebende Geschiedene und Verwitwete tragen ein Ausgrenzungsrisiko, was den Stellenwert sozialer Beziehungen und Gruppenidentitäten in der Debatte um soziale Ausgrenzung unterstreicht. Ein weiterer wesentlicher Einflussfaktor, der das Ausgrenzungsrisiko bestimmt, geht von der Langzeitperspektive auf die Entwicklung der Lebensbedingungen aus: Wer in den letzten fünf Jahren mit permanent schlechten Lebensbedingungen zurechtkommen musste, sieht seine Teilnahmechancen am gesellschaftlichen Leben stark beeinträchtigt. Für die Erklärung des Armutsrisikos hingegen ist diese Variable von nicht so großer Bedeutung. Die gegenseitige Verstärkung mehrfacher Belastungen und die dauerhafte Fixierung von Lebensbedingungen auf einem sehr niedrigen Niveau tragen wesentlich dazu bei, Spaltungslinien zu verfestigen. Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse widerlegen die Annahme, dass relative Einkommensarmut notwendigerweise mit sozialer Ausgrenzung einhergehen muss. Die Hälfte derjenigen, die mit einem sehr geringen Einkommen leben müssen, bleibt von weiteren Benachteiligungen vorerst verschont. Drei von zehn einkommensarmen Personen hingegen sind in mehreren Lebensbereichen deutlich schlechter gestellt; zwei von zehn beurteilen ihre Teilhabechancen als sehr gering. Um soziale Ausgrenzung wahrscheinlich zu machen, muss Einkommensarmut mit anderen Faktoren zusammentreffen. Vor allem die lange Verweildauer in einer schlechten Versorgungslage und das Wegbrechen stabilisierender Lebensumstände in sozialer und psychischer Hinsicht lassen Randgruppen entstehen und reduzieren soziale Teilhabechancen. Wer sich nicht mehr als Teil dieser Gesellschaft fühlt, verfügt mit hoher Wahrscheinlichkeit lediglich über ein Einkommen, das den durchschnittlichen gesellschaftlichen Versorgungsstandards nicht genügt. Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass ein unzureichendes Einkommen bzw. ein niedriger Lebensstandard unweigerlich in sozialer Ausgrenzung münden müssen. Wir können mit einiger Sicherheit sagen, dass das Zusammentreffen mehrfacher sozialer Benachteiligungen, die zudem noch mit Isolation, Depression und Hoffnungslosigkeit einhergehen, das Gefühl verursachen, am Rande der Gesellschaft zu stehen. Der versperrte Zugang zum Arbeitsmarkt, überwiegend in Form von Langzeitarbeitslosigkeit, erweist sich in der Tat als Schlüssel für einen solchen Prozess. Im Gegensatz zum Armutsrisiko spielt die Verstetigung schlechter Lebensbedingungen und der Verlust familiären Rückhalts bzw. sozialer Netzwerke eine entscheidende Rolle, um Ausgrenzungsprozesse in Gang zu setzen.

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Sozialpolitische Reformüberlegungen zur Verhinderung sozialer Ausgrenzung müssen demnach über Maßnahmen zur Armutsbekämpfung hinausgehen. Familienpolitische Veränderungen, die auf eine bessere Vereinbarkeit von Kindererziehung und Beruf abzielen, sind sicherlich geeignet, Armut in kinderreichen Familien oder bei Alleinerziehenden entgegenzuwirken. Soziale Ausgrenzung hingegen trifft andere soziale Gruppen, die auch nicht über das System der Sozialhilfe bzw. über monetäre Transfers allein zu erreichen sind. Vielmehr ist ein Zusammenspiel verschiedener sozialpolitischer Instrumentarien erforderlich, allen voran arbeitsmarktpolitische und qualifizierende Maßnahmen, begleitet von Beratungsangeboten, die sozialpsychologische Betreuung einschließen?0 Vor allem die Verstetigung prekärer Lebensumstände gilt es zu verhindern. Unscharfe Begrifflichkeiten erschweren zielsichere Sozialpolitik. Die Debatte um soziale Ausgrenzungsprozesse kann jedoch dazu beitragen, sozialpolitische Reformen auf ein bereichsübergreifendes Fundament zu stellen. Auf politischer Ebene steht der umfassende und pauschalisierende Charakter sozialer Ausgrenzung im Vordergrund, der es erlaubt, die soziale Frage für diese Zwecke neu zu stellen. Der nüchternere Blick der empirischen Sozialwissenschaften kann in diesem Zusammenhang helfen, das skandalisierungswirksame Vokabular zu entschärfen und Anhaltspunkte für verschiedene und möglicherweise typische Ausgrenzungscharakteristika aufzuspüren. Ein differenzierendes Werkzeug und eine Analyse, die auch die Selbstwahrnehmung der Individuen einschließt, kann zeigen, dass arm nicht gleich arm und auch nicht gleich ausgegrenzt sein muss, und man kann ebenso Zweifel anmelden, dass es sich bei derart extremen Benachteiligungen um eine "transversale Kategorie"21 handelt. Die bisherigen Ergebnisse zeigen eine starke Konzentration von Ausgrenzungsprozessen auf "lokalisierbare", sprich: mit entsprechender Sozialpolitik prinzipiell erreichbare benachteiligte Bevölkerungsgruppen, deren Risiken noch nicht bis in die "Mitte" der Gesellschaft hineinreichen. Eine Sozialberichterstattung, die Ausgrenzungstendenzen dokumentieren will, muss ihr Indikatorensystem entsprechend erweitern: um die Kumulation von Problemlagen, die Langzeitperspektive und die subjektive Bewertung prekärer Lebensumstände.

20 Ein Überblick zu existierenden Projekten ("best practice") zur Verhinderung sozialer Ausgrenzung in einzelnen Bundesländern ist im deutschen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu finden, abrufbar im Internet unter http:/ I europa.eu.int/comm/employment_social/news/200 1/jun/napincl200 1de_ de.pdf (04/10/2001). 21 Bude (1998).

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Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung in Österreich: Implikationen für eine vorbeugende Armutspolitik am Beispiel des Weltbank-Konzepts des "sozialen Risikomanagements" Von Karin Heitzmann, Wien Die Armutsforschung in Österreich hat in den letzten Jahren einen großen Nachholbedarf wettgemacht. Zwar steckt die dynamische Armutsforschung - im Gegensatz etwa zu Deutschland - nach wie vor in den Kinderschuhen. Erste Ergebnisse bestätigen allerdings die Relevanz kurzfristiger Armutsperioden, die mit Perioden der Nicht-Armut abwechseln. Die Implikationen dieser Ergebnisse für die Armutspolitik sind enorm, nicht zuletzt da deutlich gemacht wird, dass sich Politik gegen Armut nicht auf die aktuell Armen beschränken kann. Vielmehr müssen Maßnahmen ergriffen werden, die das Entstehen von Armut generell verhindern. Das in der Weltbank entwickelte Konzept des "sozialen Risikomanagements" versucht dieser Anforderung gerecht zu werden. Statt Armut steht die Verletzlichkeit von Haushalten im Vordergrund der Analyse, die - wenn sie verringert werden kann - Armutsphasen verhindert. Die Verletzlichkeit von Menschen hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, nicht zuletzt von "kritischen Ereignissen" oder Risiken (z. B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung, Tod des Partners), die oftmals die entscheidenden Auslöser für ein Abrutschen in die Armut sind. Wie mit diesen Risiken und ihren adversen Effekten umgegangen wird, in der Diktion der Weltbank mit dem Terminus "soziales Risikomanagement" bezeichnet, bestimmt letztlich ob Verletzlichkeit - und damit Armut bzw. auch potentielle Armut - reduziert oder erhöht wird. Ziel dieses Beitrages ist es nach einem kurzen Überblick über die Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung in Österreich (Kap. 1.) und der Darstellung des theoretischen Konzepts des "sozialen Risikomanagements" (Kap. 2.) am Beispiel der Arbeitslosigkeit ansatzweise zu untersuchen, wie der öffentliche Sektor in Österreich mit diesem Risiko und seinen Konsequenzen umgeht, und ob er den Anforderungen an eine vorbeugende und nachhaltige Armutspolitik gerecht wird (Kap. 3.). Eine Bewertung des "sozialen Risikomanagements" vor diesem empirischen Hintergrund beschließt diesen Beitrag (Kap. 4.). 5 Seil (tmg.)

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Karin Heitzmann

1. Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung

in Österreich

Lange Zeit fehlten dynamische Armutsanalysen für Österreich völlig. Der Grund dafür ist einfach erklärt: mangels geeigneter Datenquellen standen Längsschnitterhebungen schlicht nicht zur Verfügung. Mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union "adoptierte" das Land auch seine erste Panelstudie, das Europäische Haushaltspanel (ECHP), das seit 1994/1995 eingesetzt wird. Wiewohl das Österreichische Panel bezogen auf die Stichprobengräße relativ klein ist (die erste "Welle" des Panels enthielt lediglich Informationen über 3.380 Haushalte oder 9.579 Personen), erlaubt es doch einige Aussagen zur Dynamik der Einkommensarmut in Österreich zu treffen. Allen voran werden auch für Österreich jene Ergebnisse bestätigt, die in Ländern mit längerer Tradition in der dynamischen Armutsforschung bereits seit einiger Zeit bekannt sind: Einkommensarmut, d. h. ein verfügbares ProKopf-Einkommen von weniger als 60% des Medianeinkommens, ist zum überwiegenden Teil ein Problem, das viele Menschen nur zu bestimmten Zeiten in ihrem Lebensverlauf trifft. Nach den Ergebnissen des ECHP waren zwischen 1994 und 1997 knapp 9% der Österreichischen Bevölkerung zumindest einmal von Einkommensarmut betroffen, aber nur etwa 1% permanent während der vier Jahre (Förster et al., 2001: 43 ff.). Von allen einkommensarmen Personen lebte knapp die Hälfte (46%) nur ein Jahr unter der Armutsgrenze, etwa ein Viertel (24%) zwei Jahre, ein Sechstel (17%) drei Jahre und nur ein Achtel (13%) befand sich während der gesamten untersuchten Periode in Einkommensarmut (Förster et al., 2001: 47). Einkommensarmut ist damit für die Mehrzahl der betroffenen Menschen ein vorübergehendes Problem - das allerdings öfters im Lebensverlauf auftreten kann (vgl. Stelzer-Orthofer, 1997). Die Wege in die Einkommensarmut sind vielfliltig und hängen oft mit kritischen Ereignissen zusammen, z. B. dem Tod des Partners, der insbesondere ältere Frauen in Einkommensarmut stürzt. Eine Scheidung bzw. die Geburt eines Kindes sind in der Regel mit relativen Einkommensverlusten verbunden, die Familien in Einkommensarmut abrutschen lassen. Auch Arbeitslosigkeit gilt in Österreich als spezifischer Auslöser von Einkommensarmut, speziell wenn sie länger als sechs Monate andauert. Wie lange Menschen in Einkommensarmut bleiben hängt von vielen Determinanten ab, nicht zuletzt von spezifischen Merkmalen der Betroffenen (Heitzmann, 2002). Untersuchungen zeigen beispielsweise deutliche Unterschiede zwischen langzeitarmen (Einkommensarmut von vier Jahren) und kurzzeitarmen Personen (Einkommensarmut von einem Jahr). Beispielhaft kann das anband des Bildungsniveaus dargestellt werden (Förster et al.,

Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung in Österreich

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2001: 48). Nur etwa ein Drittel der langzeitarmen Personen verfügte über eine über die Pflichtschulausbildung hinausgehende Ausbildung. Demgegenüber wiesen bei den Kurzzeitarmen an die 60% eine höhere Ausbildung auf - ähnlich dem Wert in der Durchschnittsbevölkerung. Weitere "typische" Charakteristika der Langzeitarmen: Die Betroffenheit war vor allem in Haushalten mit Iangzeitarbeitslosen (ab sechs Monaten) Personen, in Pensionistenhaushalten und Haushalten von Nicht-EU Bürger/inne/n groß. Eine überproportionale Betroffenheit von Langzeitarmut konnte auch für kinderreiche Haushalte, Alleinerzieherhaushalte, Haushalte mit kranken oder behinderten Personen sowie Singlehaushalte festgestellt werden. Auch Frauen verblieben im Schnitt länger in Einkommensarmut als Männer. Schließlich spielen regionale Aspekte eine Rolle. In der Bundeshauptstadt Wien war Kurzzeitarmut überrepräsentiert, in den ländlichen Gebieten Langzeitarmut Für die Armutspolitik implizieren diese Ergebnisse zweierlei. Einerseits gilt es die Symptome von Einkommensarmut, etwa durch Einkommensersatzleistungen, zu bekämpfen. Damit werden akut einkommensarme Personen unterstützt und letztlich die Armutsquote gesenkt. Andererseits muss Armutspolitik vor dem Hintergrund periodischer und Kurzzeitarmut stärker auf die Ursachen von Einkommensarmut Bezug nehmen. Eine Bekämpfung dieser Ursachen bzw. eine Verbesserung des Umgangs mit armutsverursachenden Ereignissen könnte es ermöglichen kurzfristige Armutsphasen überhaupt zu verhindem - und damit die Armutsquote dauerhaft niedrig zu halten. Das Konzept des "sozialen Risikomanagements", das im folgenden beschrieben wird, stellt den Ursachen-Wirkungszusammenhang zwischen kritischen Ereignissen und dem Abrutschen in Einkommensarmut in einen konzeptuellen Rahmen und bietet damit einen theoretischen Ansatzpunkt für eine Neuorientierung armutspolitischer Maßnahmen. 2. Das Weltbank-Konzept des "sozialen Risikomanagements" Das Konzept des "sozialen Risikomanagements" (Holzmann und Jlllrgensen, 2000a; 2000b) basiert auf der einfachen Idee, dass Wohlfahrtsverluste - und damit auch das Abrutschen in Einkommensarmut - das Ergebnis von risikoreichen Ereignissen sind. Darunter werden Ereignisse verstanden, die entweder im Hinblick auf ihre Eintrittswahrscheinlichkeit oder ihren EiDtrittszeitpunkt unbestimmt sind. Zur ersten Kategorie zählt beispielsweise eine Naturkatastrophe, eine Krankheit oder das Risiko einer Geschäftspleite. Zur zweiten Kategorie gehört das Risiko des Todes, das im Hinblick auf die Lebenserwartung ungewiss ist. Der Eintritt von risikoreichen Ereignissen kann den Lebensstandard eines Haushaltes 1 verändern - und zwar zum positiven oder zum negativen. Im s•

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Karin Heitzmann

Fall von potenziellen oder bereits realisierten Wohlfahrtsverlusten gilt es mit Maßnahmen des Risikomanagements gegenzusteuern. Diese können eingesetzt werden bevor ein risikoreiches Ereignis eintritt (ex ante Risikomanagement) oder nachdem es sich materialisiert hat (ex post Risikomanagement). Abhängig von der individuellen Ausstattung von Haushalten bestimmt der Zusammenhang zwischen risikoreichen Ereignissen und dem eingesetzten Risikomanagement die Verletzlichkeit von Haushalten in Bezug auf adverse Ergebnisse, z. B. hinsichtlich eines potentiellen Abrutschens in Einkommensarmut (vgl. folgende Abbildung). Herkömmliche Armutspolitik konzentriert sich häufig nur auf einige Aspekte dieses Zusammenhangs: Erzielte Einkommensverluste sollen durch Maßnahmen des ex post Risikomanagements (in der Regel Einkommenstransfers) kompensiert werden. Das Konzept des sozialen Risikomanagements, das in der Weltbank entwickelt worden ist und im Rahmen des letzten World Development Reports (World Bank, 2000) an prominenter Stelle vorgestellt worden ist, plädiert demgegenüber für eine Reduktion von Verletzlichkeit - und damit eine stärkere Orientierung auf risikoreiche Ereignisse und eine Verbesserung des ex ante Risikomanagements von Haushalten. Durch diese Schwerpunktverschiebung wird das Augenmerk nicht zuletzt auf jene Prozesse gelenkt, die Einkommensarmut erst verursachen. Damit einher geht eine Schwerpunktverschiebung der Armutspolitik von einer "bloßen" Armutsbekämpfung hin zu einer präventiven und nachhaltigen Armutsvermeidung. Im folgenden werden zur besseren Veranschaulichung dieses Konzepts seine wesentlichen Komponenten beschrieben. 2.1 Risikoreiche Ereignisse und Schocks: Abgrenzungen und Kategorisierungen

Risikoreiche Ereignisse begegnen uns in allen Bereichen des täglichen Lebens. Es gibt vielfältige gesundheitliche Risiken, politische Risiken (z. B. ein politischer Putsch oder ein Bürgerkrieg), wirtschaftliche Risiken (z. B. Rezessionen, Konkurs eines Unternehmens, Arbeitslosigkeit), soziale Risiken (z. B. Gewalt), Risiken des Lebensverlaufs (z. B. Geburt, Tod, Scheidung), Umweltrisiken (z. B. eine atomare Katastrophe), Naturkatastrophen etc. Die bloße Existenz von Risiken bedeutet nicht, dass Haushalte diesen ausgesetzt sind. Beispielsweise sind nur Personen, die im Erwerbsarbeitsle1 Risikoreiche Ereignisse betreffen neben Haushalten auch Individuen, Gemeinschaften, Regionen, einzelne oder mehrere Staaten. Zur Vereinfachung der Argumentation und im Hinblick auf die Einkommensarmut, die auf Haushalte abstellt, werden die folgenden Ausführungen auf Haushaltsrisiken beschränkt (vgl. auch Kap. 2.2.3).

Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung in Österreich

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t

Risiko und Schock

Verletzlichkeit

Risikomanagement

Ergebnis (Wohlfahrtsveränderung)

Verletzlichkeit setzt sich aus unterschiedlichen Bestandteilen einer "Risikokette" zusammen:

(a) Risikoreiche Ereignisse und Schocks: Risikoreiche Ereignisse können, so sie eintreten (und damit zu "Schocks" werden), Wohlfahrtsverluste nach sich ziehen. Diese könnten z.B. einen Haushalt in Einkommensarmut abrutschen lassen. (b) Risikomanagement: Risikomanagement umfasst alle Maßnahmen, die getroffen werden, um auf risikoreiche Ereignisse bzw. Schocks und auf erwartete bzw. erzielte Wohlfahrtsverluste zu reagieren. Maßnahmen des Risikomanagements können damit angewandt werden, bevor ein risikoreiches Ereignis eintritt (ex ante Maßnahmen) oder nachdem es eingetreten ist (ex post Maßnahmen). (c) Wohlfahrtsveränderungen als Ergebnis: Die Charakteristika des Schocks und das getätigte Risikomanagement führen zu einem Ergebnis, d. i. eine Wohlfahrtsveränderung, die einen Haushalt unter Umständen unter eine festgelegte Wohlfahrtsgrenze (z.B. unter die Armutsgrenze) drücken könnte. Quelle: adaptien von Heitzmann et al., 2001: Box I.

Die "Verletzlichkeit" von Haushalten

ben stehen, auch dem Risiko der Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Gleichfalls sind nur Nationen (und ihre Grenznationen), die Atomstrom produzieren, einem potentiellen atomaren Unfall ausgesetzt. Daher gilt es, zwischen risikoreichen Ereignissen und Risikobetroffenheit zu unterscheiden. Auch der Schock muss vom risikoreichen Ereignis differenziert werden. Schocks sind realisierte oder eingetretene Risiken. Beispielsweise wird das Risiko der Arbeitslosigkeit zum Schock, wenn man/frau tatsächlich arbeitslos wird. Das Risiko eines atomaren Unfalls wird zum Schock, wenn der Unfall tatsächlich eintritt. Um der Vielfalt und Unterschiedlichkeit potentieller Schocks gerecht zu werden, können sie im Hinblick auf ihre Korrelation, Häufigkeit, Dauer und ihren Eintrittszeitpunkt kategorisiert werden.

70

Karin Heitzmann

2.1.1 Korrelation von Schocks

Viele Schocks betreffen lediglich einzelne Personen bzw. Haushalte (z.B. der Tod eines Einkommensbeziehers/in, die Geburt eines Kindes, eine Scheidung), wohingegen andere Schocks für eine größere Gemeinschaft oder Region relevant werden (z. B. ein Wirtschaftsabschwung, eine Dürre, ein Bürgerkrieg, Epidemien). Schocks der ersten Kategorie werden als idiosynkratisch oder nicht-korreliert bezeichnet, Schocks der zweiten Kategorie als korreliert (Holzmann und }ji)rgensen, 2000b). Eine Abgrenzung zwischen korrelierten und nicht-korrelierten Schocks ist nicht immer eindeutig zu treffen, sondern abhängig von den Ursachen der Schocks. Beispielsweise kann der Verlust eines Arbeitsplatzes sowohl ein nicht-korreliertes als auch ein auf eine bestimmte Region bzw. Branche korreliertes Ereignis sein, je nachdem aus welchen Gründen es zur Arbeitslosigkeit gekommen ist. Die Unterscheidung zwischen korrelierten und nicht-korrelierten Schocks ist insbesondere für die Auswahl eines geeigneten Reaktionsverhaltens bedeutsam. Beispielsweise wird ein einfacher Schnupfen mit anderen Instrumentarien (und unter Einbezug anderer Akteure, siehe Kap. 2.2.3) gemanagt werden als eine Epidemie. 2.1.2 Häufigkeit, Dauer und Eintrittszeitpunkt von Schocks

Neben der Korrelation von Schocks beeinflussen Häufigkeit, Dauer und Eintrittszeitpunkt von Schocks die Wahl des geeigneten Reaktionsverhaltens. Beispielsweise wird ein einmaliges, außergewöhnliches Erdbeben in einer Region zu anderen Mechanismen des Umgangs mit diesem Ereignis führen als regelmäßige Erdbeben. Eine lange Krankheit wird anderer Instrumentarien zu ihrer Bewältigung bedürfen als eine kurze Verkühlung. Eine Dürre vor der Erntezeit von nicht-dürreresistentem Getreide wird andere Maßnahmen verlangen als eine Dürreperiode nach der Erntezeit 2.2 Instrumentarien des Risikomanagements: Formen und Akteure

Haushalte können Maßnahmen des Risikomanagements bevor und/oder nach Eintritt eines Schocks anwenden, so derartige Maßnahmen zur Verfügung stehen (z. B. in Form von funktionierenden Versicherungsmärkten) bzw. Haushalte Zugang zu diesen Instrumentarien haben (z. B. Zugang zu einer eigenständigen Pensionsversicherung).

Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung in Österreich

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2.2.1 Ex ante Risikomanagement Bevor sich ein Schock ereignet können Risiken generell verhindert bzw. vermindert werden (Risikovermeidung bzw. -Verringerung). Beispielsweise könnte dem Risiko der FSME Erkrankung damit begegnet werden, dass Zecken als deren Verursacher durch landesweite Insektensprühaktionen vernichtet werden. Haushalte können ihr Infektionsrisiko zudem durch Schutzimpfungen eindämmen, in verseuchten Gebieten entsprechende Kleidung tragen oder einen Aufenthalt in zeckenverseuchten Gebiete vermeiden. Durch derartige Maßnahmen wird zwar nicht das Risiko an FSME zu erkranken an sich beseitigt, allerdings sind Haushalte durch derartige Maßnahmen diesem Risiko weniger stark ausgesetzt (Verminderung der Risikobetroffenheit). Bei dieser Form des Risikoprävention steht damit nicht zuletzt die Eigenverantwortung von Personen bzw. Haushalten im Vordergrund, die zwischen einem risikoreichen oder einem risikoaversen Verhalten wählen können. Schließlich können Haushalte vor dem Eintritt eines Schocks Maßnahmen zum Risikoausgleich ergreifen. Im Mittelpunkt dieser Form des ex ante Risikomanagements, zu der etwa der Abschluss von Risikoversicherungen zählt, steht nicht das risikoreiche Ereignis an sich, sondern das erwartete Ergebnis (im Fall der Einkommensarmut wäre das ein Einkommensverlust) gegen das es sich abzusichern gilt. Beispielsweise kann man/frau eine Krankenversicherung abschließen, um im Krankheitsfall einen Teil des erwarteten Einkommensverlustes durch die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen zu kompensieren. 2.2.2 Ex post Risikomanagement

Nach Eintreten des risikoreichen Ereignisses können Maßnahmen des Risikomanagements nur mehr bei den erzielten Ergebnissen ansetzen. Einkommenseinbußen im Krankheitsfall können beispielsweise durch staatliche Einkommenstransfers vermindert oder durch private Kreditaufnahme finanziert werden. Alternativ kann ein Haushalt seine Ausgaben reduzieren und dadurch eine Art der "Ergebnisbewältigung" vornehmen. Tabelle I fasst die unterschiedlichen Möglichkeiten des Risikomanagements zusammen.

2.2.3 Akteure des Risikomanagements Risikomanagement betrifft Individuen, Haushalte, nachbarschaftliehe oder gemeinschaftliche Gruppen (die Zivilgesellschaft), Nonprofit Organisationen, internationale Organisationen, Firmen, halböffentliche und öffentliche Institutionen - und zwar in dualer Form. Zum einen fragen alle Ak-

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Karin Heitzmann Tabelle 1 Strategien des sozialen Risikomanagements

Ex ante Mechanismen Risikoprävention: Risikovermeidung oder -Verringerung

Verminderung der Risikoaussetzung

Risikoausgleich: Verringerung der erwarteten adversen Effekte

Wirkungen Zielt auf ein risikoreiches Ereignis ab und versucht die Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos zu verringern. Zielt auf das Verhalten von Personen bzw. Haushalten ab um dadurch ihre Risikobetroffenheit zu verringern. Zielt auf das envartete Ergebnis eines risikoreichen Ereignisses ab und versucht im Eintrittsfall des Risikos den (finanziellen) Wohlfahrtsverlust zumindest teilweise zu kompensieren.

Ex post Mechanismen Ergebnisbewältigung: Management eines adversen, durch ein kritisches Ereignis verursachtes Ergebnis

Adressiert das erzielte Ergebnis eines realisierten Schocks, und versucht dieses zu verbessern.

Quelle: Adaptiert von Heitzmann et al., 2001: Box 3.

teure Instrumentarien des Risikomanagements nach, zum anderen bieten sie entsprechende Instrumentarien an. Sowohl in ihrer Rolle als Anbieter als auch als Nachfrager sind vielnHtige Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Akteuren möglich es kommt zu Synergie- aber auch zu Verdrängungseffekten (vgl. Heitzmann et al., 2001). Beispielsweise bestinunt das Risikomanagement des öffentlichen Sektors die Möglichkeiten und Grenzen des Risikomanagements von privaten formellen und informellen Akteuren2 • So haben Anreizwirkungen 2 Daraus ergeben sich auch Unterschiede im aktuellen Angebot von Ländern. So spielen informelle Akteure vor allem in Entwicklungsländern eine überwiegende Rolle, formelle, marktbezogene Instrumentarien in vielen Industrieländern (etwa in Australien, Neuseeland, oder den USA) und staatliche Interventionen (etwa in Form der gesetzlichen Sozialversicherung) vor allem in den reichen OECD Wohlfahrtsstaaten - u. a. auch in Österreich. Vor dem Hintergrund einer veritablen Budgetkrise in vielen OECD Staaten als auch des ideologisch erklärbaren vermehrten Rückdrängens öffentlicher Eingriffe werden private formelle und informelle Aktivitäten aller-

Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung in Österreich

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Tabelle 2

Strategien des sozialen Risikomanagements - Illustrative Beispiele nach dem Arrangement der Akteure Privat informelle Maßnahmen

Privat marktbestimmte Staatlich angebotene oder Maßnahmen vorgeschriebene Maßnahmen Risikoprävention

• Weniger risikoreiche • Berufsaus- und -Weiterbildung Produktionsformen • Finanzmarktkennt• Migration Gute Ernährungspraktiken nisse • Verbesserte Hygiene zur Krankheitsvermeidung

• Arbeitsmarktstandards • Berufsvor- und -Weiterbildung Arbeitsmarktpolitik • Maßnahmen zur Verringerung der Kinderarbeit • Behindertenpolitik • Gute makroökonomische Politik • AIDS-Vorsorge

Risikoausgleich • Mehrere Jobs • Investition in Real- und Humankapital • Investitionen in Sozialkapital • Heirat/Familie • Dorfgemeinschaften • Ernteteilung • Fronarbeit • Arbeitsverträge

• Investitionen in mul- • tiples Finanzvermögen • • Mikrofinanzinstitutio- • nen • Annuitäten • • Ernte-, Hochwasserund sonstige Schadensversicherung

Pensionssystem Vermögenstransfers Schutz von Eigentumsrechten Sozialversicherungsprogramme

Ergebnisbewältigung • Verkauf von Realvermö- • Verkauf von Finanzkapital gen • Abbau von Humankapital • Kredite von Finanzinstitutionen Kredite von der Gemeinschaft • Kinderarbeit • Almosen • Spenden Quelle: Auszug aus Holzmann und

J~rgensen,

• Sozialhilfe • Subventionen • Öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme

2000a: Tab. 2, S. 28.

dings auch in diesen Ländern vermehrt gefordert. Aus ökonomischer Sicht gilt es, vor dem Hintergrund dieser neuen Entwicklungen die Rolle des öffentlichen Sektors im Risikomanagement hinsichtlich der Effektivität und Effizienz der eingesetzten Maßnahmen zu analysieren.

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Karin Heitzrnann

der öffentlichen Sozialpolitik für bzw. gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen Auswirkungen auf deren Möglichkeiten Risikomanagement zu betreiben. Tabelle 2 zeigt beispielhaft Maßnahmen des Risikomanagements von öffentlichen und privaten formellen sowie informellen Akteuren auf. Aufgrund des dynamischen Charakters von risikoreichen Ereignissen und ihren potentiell wohlfahrtsvermindernden Ergebnissen kann ein "schlechtes" Risikomanagement heute die Möglichkeiten des Risikomanagements von morgen negativ beeinflussen. Beispielsweise vermindert eine Verringerung der finanziellen Ressourcen eines Haushaltes zur Abdeckung der Kosten einer eingetretenen Krankheit die Möglichkeiten desselben Haushaltes mit nachfolgenden Risiken (nicht zuletzt einer weiteren Krankheit) umzugehen. Demgegenüber könnte der Abschluss einer Krankenversicherung und die Deckung der Mehrausgaben und/oder des Einkommensverlusts im Krankheitsfall aus dem Versicherungspool die relative Position desselben Haushaltes im Hinblick auf zukünftige kritische Ereignisse zumindest nicht verschlechtern3. 2.3 Ergebnisse von Schocks: Wohlfahrts- bzw. Einkommensverluste

Abhängig vom "Erfolg" bzw. "Misserfolg" der verwendeten Instrumentarien des Risikomanagements können Schocks zu Wohlfahrtsverlusten führen. Ob der erzielte Wohlfahrtsverlust einen Haushalt unter oder tiefer unter die Armutsschwelle drückt, hängt neben den gewählten Maßnahmen des Risikomanagements allerdings auch von der ursprünglichen Ausstattung der Haushalte mit materiellen und immateriellen Gütern ab. Wiewohl die empirische Armutsforschung sich vornehmlich mit materiellen Werten, wie Geld oder Vermögen, beschäftigt, spielen vor allem auch immaterielle Werte, wie zum Beispiel Wissen oder Information, eine große Rolle (Siegel und Alwang, 1999). Beispielsweise wird man/frau sich nur dann gegen Zeckenstiche schützen, wenn die Infektionsgefahr bekannt ist. Aus dem Zusammenspiel der materiellen und immateriellen Aspekte ergibt sich die aktuelle Position eines Haushaltes und damit auch sein Grad an Verletzlichkeit in Bezug auf künftige Risiken. Weil sich diese Ausgangsbasis zwischen Haushalten unterscheidet, kann ein und dasselbe Risiko (z. B. der Verlust des Arbeitsplatzes) zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Wiewohl ein Haus3 In diesem Zusammenhang ist auf adverse Effekte von Maßnahmen des Risikomanagements selbst hinzuweisen. Beispielsweise kann der Abschluss einer Diebstahlsversicherung dazu führen, dass der Versicherte nicht alle geeigneten Maßnahmen zum Schutz seines Eigenturns vornimmt, eben weil er versichert ist (moral hazard Problem). Auf derartige Wechselwirkungen zwischen Risikobetroffenheit und Risikomanagement wird in diesem Aufsatz aus Platzgründen nicht näher eingegangen (vgl. dazu Heitzrnann et al., 2001).

Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung in Österreich

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halt durch die Arbeitslosigkeit eines Haushaltmitglieds in Einkommensarmut abrutschen kann, kann sich dasselbe Ereignis für einen anderen Haushalt als weniger dramatisch darstellen - etwa wenn mehrere Mitglieder dieses Haushalts erwerbstätig sind. Im folgenden wird ansatzweise aufgezeigt, welche Relevanz das Konzept des "sozialen Risikomanagements", das vor dem Hintergrund der Armut in Entwicklungsländern konzipiert worden ist, für einen Wohlfahrtsstaat wie Österreich hat. Exemplarisch wird das anband des risikoreichen Ereignisses Arbeitslosigkeit und des entsprechenden Risikomanagements des öffentlichen Sektors dargestellt4 • 3. "Soziales Risikomanagement" in der Praxis dargestellt am Beispiel der Arbeitslosigkeit in Österreich Empirische Evidenz zur Dynamik von Einkommensarmut in Österreich hat Arbeitslosigkeit als einen der Auslöser von kurz- und langfristigen Armutsperioden identifiziert (Kap. 1.). Die Gründe für den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut liegen auf der Hand: der Verlust des Erwerbsarbeitseinkommens führt - ceteris paribus - unweigerlich zu einer Verringerung des Haushaltseinkommens und lässt einen Haushalt unter Umständen in Einkommensarmut abrutschen5 • Ob dies passiert hängt neben der Einkommenssituation von Haushalten vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit auch vom Erfolg bzw. Misserfolg der gewählten Instrumentarien des Risikomanagements ab. Damit müsste nach den Vorstellungen des "sozialen Risikomanagements" (Kap. 2.) der Auslöser von Einkommensarmut ebenso in den Mittelpunkt einer vorbeugenden und nachhaltigen Armutspolitik gestellt werden wie der Umgang mit diesem Auslöser und die Bekämpfung der realisierten Einkommensarmut selbst. Im folgenden wird daher zunächst eine Analyse des Risikos der Arbeitslosigkeit in Österreich und eine Charakterisierung der betroffenen Personen vorgenommen (Kap. 3.1). Danach wird ein Überblick über Maßnahmen des Risikomanagements von Seiten des öffentlichen Sektors gegeben, die zum Teil vor Eintritt der Arbeitslosigkeit gesetzt werden (Kap. 3.2) und zum Teil nach deren Eintritt (Kap. 3.3). Eine Bewertung dieser Maßnahmen beschließt diesen Teil (Kap. 3.4).

4 Maßnahmen der formellen und informellen privaten Sektoren werden in diesem Beitrag nicht berücksichtigt. 5 Natürlich verschleiert cliese lineare Betrachtungsweise von Ursache und Wirkung, dass i. d. R. eine multivariate Ursachenkette Einkommensarmut verursacht. Zum besseren Verständnis wird diese Vereinfachung allerdings vorgenommen.

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Karin Heitzmann 3.1 Zum Risiko der Arbeitslosigkeit in Österreich

Arbeitslosigkeit ist in Österreich ein im europäischen Vergleich geringes Problem. Im Jahr 2000 belief sich die Österreichische Arbeitslosenquote nach der EUROSTAT Methode6 auf 3,7% im Vergleich zum EU-Durchschnitt von 8,2% (AMS, 2001: 152). Diese geringe Quote ist allerdings im Hinblick auf die im internationalen Vergleich niedrigen Erwerbsquoten von Frauen und älteren Menschen zu relativieren. Beim Österreichischen Arbeitsmarktservice waren im Jahr 2000 im Schnitt 194.000 Personen als arbeitslos vorgemerkt7 - das entspricht einem Jahresdurchschnittsbestand von 5,8%. Im selben Jahr waren knapp 689.000 Personen zumindest einen Tag von Arbeitslosigkeit betroffen8 , das sind immerhin 20,7% des gesamten unselbständigen Arbeitskräftepotentials (AMS, 2001: 145). In Bezug auf sozio-ökonomische Merkmale arbeitsloser Personen weisen Männer (21,3%) eine geringfügig höhere Betroffenheitsquote auf als Frauen (19,9%). Zunehmendes Alter erhöht die Wahrscheinlichkeit für beide Geschlechter arbeitslos zu werden; die Arbeitslosenquote der über 50-jährigen beträgt im Jahresdurchschnitt bereits 8,9%. Aber auch junge Arbeitskräfte weisen eine hohe Betroffenheit auf: fast ein Drittel aller 19-24 Jährigen war im Jahr 2000 zumindest einen Tag von Arbeitslosigkeit betroffen. Aufgrund ihrer relativ kurzen durchschnittlichen Verweildauer in der Arbeitslosigkeit spiegelt sich diese hohe Betroffenheit allerdings nicht in einem hohen Durchschnittsbestand wider. Generell sind Ausländer/innen dem Risiko der Arbeitslosigkeit eher ausgesetzt (31,8%) als Inländer/innen (19,4%). Arbeitslosigkeit korreliert schließlich auch mit dem Niveau der Ausbildung der Arbeitskräfte. So verfügen 45% aller arbeitslosen Personen im Jahr 2000 über keine über die Pflichtschulausbildung hinausgehende Ausbildung, weitere 39% haben ihre Ausbildung mit einer Lehre oder Meisterprüfung abgeschlossen. Demgegenüber sind lediglich 3% des gesamten Arbeitslosenbestandes Akademiker/innen.

6 Bei der Berechnung der Arbeitslosenquote nach der EUROSTAT Methode wird eine Stichtagsbefragung der Bevölkerung herangezogen. Jede Person, die in der Befragungswoche auch nur eine Stunde einer bezahlten Arbeit nachgegangen ist, gilt demgemäß nicht als arbeitslos. 7 Nach der Usancen des Österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS) basieren Berechnungen der Arbeitslosenquote auf der Anzahl der beim AMS registrierten arbeitslosen Personen. Selbständige Arbeitnehmer/innen werden dabei nicht berücksichtigt. 8 Im Gegensatz zum Durchschnittsbestand an arbeitslosen Menschen (d.i. eine Standardisierung der Bewegungen des Arbeitslosenregisters auf Jahresbasis) gilt eine Person als "betroffen", wenn sie im Beobachtungszeitraum mindestens einen Tag als arbeitslos vorgemerkt war.

Ergebnisse der dynamischen Annutsforschung in Österreich

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3.1.1 Arbeitslosigkeit als korreliertes und nicht-korreliertes Risiko Arbeitslosigkeit kann sowohl ein korreliertes (z. B. strukturelle, konjunkturelle und z. T. saisonale Arbeitslosigkeit) als auch ein nicht-korreliertes Ereignis sein (z. B. friktioneile Arbeitslosigkeit). In Österreich ist Arbeitslosigkeit zum einen ein regional-korreliertes Risiko, das Arbeitskräfte in bestimmten Regionen betrifft. Vor allem das Burgenland (28%) und Kärnten (29%) sind überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. In Wien führt eine überdurchschnittlich lange Dauer der betroffenen Arbeitslosen zu einer relativ hohen Bestandsquote (7%). Korrelierte Arbeitslosigkeit betrifft zudem Arbeitskräfte in spezifischen Branchen. Zum Beispiel belief sich die Bestandsquote 2000 im Gaststätten- und Seherbergungswesen auf 16,4%, im Bauwesen auf 12,3%, in der Land- und Forstwirtschaft auf 12,0% und bei den privaten Haushalten auf 12%. Aber auch Arbeitskräfte mit spezifischen sozio-ökonomischen Merkmalen weisen ein nur scheinbar idiosynkratisches Risiko auf arbeitslos zu werden (z.B. ältere Arbeitskräfte, Arbeitskräfte mit geringer Ausbildung, Ausländer/innen). Arbeitslosigkeit als nicht-korreliertes Risiko kommt beispielsweise in Form der kurzen friktioneilen Arbeitslosigkeit vor, die insbesondere bei Personen mit kurzer Verweildauer in der Arbeitslosigkeit vermutet werden kann, etwa bei jugendlichen Arbeitskräften. 3.1.2 Dauer, Häufigkeit und Eintrittszeitpunkt von Arbeitslosigkeit Auch im Hinblick auf die Dauer, Häufigkeit und den Eintrittszeitpunkt der Arbeitslosigkeit gibt es Unterschiede innerhalb der betroffenen Bevölkerung. Die Dauer der erwerbsarbeitsfreien Perioden hängt vor allem von den ökonomischen Bedingungen am Arbeitsmarkt ab (konjunkturelle und strukturelle Arbeitslosigkeit) und von Charakteristiken der Arbeitssuchenden (beispielsweise ihrem Lebensalter). Im Jahr 2000 betrug die durchschnittliche Gesamtdauer der Arbeitslosigkeit in Österreich 106 Tage. Bei den Frauen lag sie mit 112 Tagen deutlich über jener der Männer. Die Verweildauer nimmt bei beiden Geschlechtern mit zunehmenden Alter zu. In Bezug auf Langzeitarbeitslosigkeit (Arbeitslosigkeit von über 12 Monaten) schneidet Österreich im europäischen Vergleich noch relativ günstig ab (31,7% zu 46,0% im EU Durchschnitt; Badelt und Österle, 2001: 195). Im Zusammenhang mit einem flexibler werdenden Arbeitsmarkt kommt es im Hinblick auf die Häufigkeit erwerbsarbeitsfreier Perioden zu einem zunehmenden Wechsel zwischen Perioden der Erwerbsarbeit und der Arbeitslosigkeit. Diese Dynamik des Arbeitsmarktgeschehens lässt sich auch für Österreich nachweisen. Im Jahr 2000 waren immerhin 37 % aller arbeitslosen Personen zumindest zweimal von Arbeitslosigkeit betroffen. Die

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Zahl der Personen, die zwischen 1996 und 2000 von Arbeitslosigkeit betroffen waren, lag bei knapp 1,5 Millionen Menschen. Sie waren im Schnitt 2,62 mal arbeitslos (AMS, 2001 ). In Bezug auf den Eintrittszeitpunkts des Risikos Arbeitslosigkeit gibt es Unterschiede im Jahresverlauf. Beispielsweise nahm die Österreichische Arbeitslosenquote von Oktober 2000 (5,2%) bis Januar 2001 (7,7%) konstant zu, ab diesem Zeitpunkt kam es bis zum Juli 2001 zu einem Rückgang der Arbeitslosenquote auf 4,8 %, gefolgt von einem neuerlichen Anstieg danach (AMS, o.J.: 11). Diese zyklischen Bewegungen lassen sich vor allem auf das relativ hohe Ausmaß an saisonaler Arbeitslosigkeit (vor allem in den Saisonberufen Tourismus und Baugewerbe) in Österreich zurückführen, welche die Arbeitslosenquote in den Wintermonaten rapide ansteigen lässt. 3.2 Maßnahmen zum Management des Risikos Arbeitslosigkeit

Eine erste Bestandsaufnahme zum Risiko der Arbeitslosigkeit in Österreich zeigt, dass es sich um ein äußerst heterogenes Problem handelt. Im Hinblick auf die betroffenen Personen sind Ausländer/innen, ältere Arbeitnehmer/innen, Männer, sowie Personen mit geringem Ausbildungsniveau, Arbeitnehmer/innen in spezifischen Bundesländern (Burgenland, Kärnten, Wien) oder in spezifischen Branchen (Gaststätten- und Beherbergungswesen, Bauwesen, Land- und Forstwirtschaft) überdurchschnittlich vertreten. In Bezug auf die Dauer der Arbeitslosigkeit weisen Frauen Nachteile gegenüber Männern auf, sowie ältere Arbeitsnehmer/innen gegenüber jüngeren. Durch das hohe Ausmaß von Beschäftigten in den Saisonberufen Tourismus und dem Baugewerbe konnten zudem saisonale Veränderungen in der Arbeitslosenquote beobachtet werden. Dieser Vielfalt des Arbeitslosenproblems kann nur durch eine Reihe von unterschiedlichen Maßnahmen und unter Einbezug unterschiedlicher Akteure Rechnung getragen werden. Nach dem Konzept des sozialen Risikomanagements - und im Hinblick auf die armutsverursachende Wirkung von Arbeitslosigkeit - muss dabei zwischen Maßnahmen, die vor Eintritt von Arbeitslosigkeit getätigt werden (Instrumentarien der Risikoprävention und/ oder des Risikoausgleichs) und Maßnahmen, die nach dem Eintritt von Arbeitslosigkeit gesetzt werden (Ergebnisbewältigung) unterschieden werden. Im folgenden wird beispielhaft angeführt, welche Formen des Risikomanagements in Österreich vom öffentlichen Sektor eingesetzt werden um dem Risiko der Arbeitslosigkeit und seinen Folgen zu begegnen. Es handelt sich hierbei nicht um eine detaillierte Beschreibung aller relevanten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen. Vielmehr soll durch eine Auswahl von Maßnahmen skizziert werden, dass das Management des Risikos Arbeitslosigkeit in Österreich auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet.

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3.2.1 Maßnahmen der Risikoprävention Nach dem Konzept des sozialen Risikomanagements können vor Eintritt eines risikoreichen Ereignissen Maßnahmen der Risikoprävention und des Risikoausgleichs gesetzt werden. Im Rahmen der Risikoprävention geht es zunächst darum zu verhindern, dass Menschen überhaupt arbeitslos werden (Risikovermeidung bzw. -Verringerung). Österreich ist in dieser Hinsicht erfolgreich, wie die im EU-Vergleich äußerst niedrige Arbeitslosenrate beweist. Tatsächlich galt Vollbeschäftigung bis in die 1990er Jahre als primäres Ziel der Österreichischen Wirtschaftspolitik, das von allen wesentlichen politischen Akteuren getragen wurde (Unger, 1998). Arbeitsmarktprobleme wurden in der Vergangenheit vielfach an andere Bereiche der Wirtschaftspolitik "ausgelagert". Beispielsweise wird es durch das Ausländerbeschäftigungsgesetz ermöglicht die Beschäftigungsquote von ausländischen Mitbürger/innen festzulegen und damit - je nach Arbeitsmarktlage - direkten Einfluss auf ihr Arbeitsangebot zu nehmen (Kubin und Rosner, 2001: 91 f.). Das Problem der Altersarbeitslosigkeit wurde bis vor kurzem durch einen begünstigten Zugang zu frühzeitigen Alterspensionen "gelöst". Österreich weist für Frauen (1999: 56,7 Jahre) und Männer (58,4 Jahre) eines der niedrigsten faktischen Pensionseintrittsalter in Buropa auf (Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger, 2001). Aufgrund der demografischen Entwicklungen und des zunehmenden Finanzierungsproblems in der Pensionsversicherung zielten jüngste Reformen allerdings auf eine Erhöhung dieses Eintrittsalters ab. Das Arbeitsmarktangebot von Frauen wurde durch unterschiedliche Anreizmodelle (z. B. Karenzgeldregelungen, jüngst das Kindergeld) gering gehalten. Das erklärt nicht zuletzt, warum Österreich im internationalen Vergleich niedrige Erwerbsquoten von Frauen und älteren Menschen aufweist - mangels Teilnahme am Arbeitsmarkt sind sie dem Risiko der Arbeitslosigkeit erst gar nicht ausgesetzt. Aber auch für im Erwerbsleben stehende Personen ermöglichen verschiedene Maßnahmen des öffentlichen Sektors die Arbeitslosenquote gering zu halten. Österreichs Arbeitsmarkt ist beispielsweise durch ein starres System von Geboten und Verboten (z. B. Kündigungsschutz) sowie von Verfahren und Verhandlungssystemen (z. B. das im Rahmen der Sozialpartnerschaft ausgebaute Kollektivvertragsschema) gekennzeichnet, die nicht zuletzt auf eine Vermeidung von Arbeitslosigkeit abzielen. Bis Mitte der 1990er Jahre wurden Schwankungen der privaten Arbeitskräftenachfrage zudem durch die Aufnahme von Beschäftigten in den öffentlichen Sektor ausgeglichen (Scharpf und Schmidt, 2000). Konsolidierungsbemühungen der Regierung haben diese Form der Risikoprävention allerdings obsolet gemacht. Maßnahmen der Risikovermeidung bzw. -Verringerung von Seiten des öffentlichen Sektors setzt seither vor allem das Österreichische Arbeitsmarkt-

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service (AMS), das nicht zuletzt auf Ressourcen aus den europäischen Strukturfonds zurückgreifen kann. Das AMS gewährt unter Umständen Unternehmen in Gebieten von hoher Arbeitslosigkeit und geringer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit Darlehen, Zinsenzuschüsse, Zuschüsse oder Haftungsübernahmen sowie Kurzarbeits-Beihilfen, damit diese kurzfristige Beschäftigungsschwankungen ausgleichen können - und möglichst keine Arbeitsnehmer/innen entlassen müssen (Badelt und Österle, 2001). Ähnliches wird durch die Schlechtwetterentschädigung im Baugewerbe (zur Sicherstellung einer kontinuierlichen Anstellung von Bauarbeiter/innen) erreicht. Zudem werden von Arbeitslosigkeit bedrohte Personen durch die Einrichtung von Arbeitsstiftungen unterstützt. Ein spezifisches Angebot von Ausbildungs- und Umschulungsmaßnahmen soll einen gleitenden Übergang zwischen Arbeitsplätzen ermöglichen. An dieser Stelle sei an die positive Korrelation zwischen hohem Ausbildungsniveau und geringem Arbeitslosigkeitsrisiko erinnert, welche die Bedeutung von Humankapital für die Eingliederung am Arbeitsmarkt unterstreicht. Damit liegt es nicht zuletzt auch an den einzelnen Personen, ihre Risikobetroffenheit durch geeignete Ausbildungsmaßnahmen zu vermindern. 3.2.2 Maßnahmen des Risikoausgleichs Im Rahmen des vorbeugenden Risikoausgleichs steht nicht das Risiko der Arbeitslosigkeit an sich im Mittelpunkt, sondern das erwartete Ergebnis. Im Fall der Arbeitslosigkeit ist dies ein Einkommensausfall gegen den es sich abzusichern gilt. In Österreich stellt in diesem Zusammenhang die Arbeitslosenpflichtversicherung das wesentlichste Instrumentarium des Risikoausgleichs des öffentlichen Sektors dar, zu dem allerdings nicht alle Arbeitskräfte Zugang haben. Beispielsweise sind selbständig Erwerbstätige, öffentliche Bedienstete, einige Formen von atypisch Beschäftigten (z.B. geringfügig Beschäftigte; vgl. Talos, 1999) sowie Neueinsteiger/innen in den Arbeitsmarkt nicht durch die Arbeitslosenversicherung geschützt - und damit auf private Formen des Risikoausgleichs angewiesen. Generell sind die Arbeitsfähigkeit, Arbeitswilligkeit, Arbeitslosigkeit und eine gewisse Mindestdauer arbeitslosenversicherungspflichtiger Beschäftigung Voraussetzung für den Bezug der Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Das Arbeitslosengeld wird je nach Dauer der vorangegangenen Beschäftigung für 20 oder 30 Wochen zuerkannt. Mit zunehmendem Alter kann sich die Bezugsdauer auf bis zu 52 Wochen erhöhen (Badelt und Österle, 2001: 202). Das Einkommen aus Arbeitslosengeld ersetzt den Verlust des Erwerbsarbeitseinkommens nur zum Teil. Für die Kalkulation des Arbeitslosengeldes wird von einer Nettersatzrate von 55% ausgegangen (Badelt und Österle, 2001: 203). Eine Mindesthöhe des Arbeitslosengeldes

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ist nicht vorgesehen. Im Jahr 2000 wurde das Arbeitslosengeld in Österreich im Schnitt an knapp 108.000 Personen ausbezahlt (AMS, o.J.: 55) und betrug € 677,82 (ATS 9.327,-), wobei bemerkenswerte geschlechtsspezifische Unterschiede bestanden: Das durchschnittliche Arbeitslosenentgelt von Frauen belief sich auf nur 73% des durchschnittlichen Entgelts von Männern (AMS, 2001: 146). Wiewohl damit das Erwerbsarbeitseinkommen für viele Haushalte ein Leben oberhalb der Armutsgrenze garantiert, reicht der Einkommensersatz durch das Arbeitslosengeld häufig nicht mehr aus um ein Leben ohne Einkommensarmut zu führen. 3.2.3 Maßnahmen der Ergebnisbewältigung Das wichtigste Instrumentarium zum Ausgleich des Einkommensnachteils nach dem Eintritt von Arbeitslosigkeit, das vom öffentlichen Sektor über das AMS organisiert wird, ist die Auszahlung von Notstandshilfe. Dabei handelt es sich um eine der Sozialhilfe vergleichbare Fürsorgeleistung, die im Bedarfsfall im Anschluss an das Arbeitslosengeld unbefristet ausbezahlt wird. Die Notstandshilfe, die im Jahr 2000 an insgesamt knapp 75.000 Personen ausbezahlt wurde, belief sich im Durchschnitt pro Person und Monat auf € 536,33 (ATS 7.380,-). Wiederum bezogen Frauen eine geringere Leistung als Männer; sie erhielten im Schnitt nur 77% der durchschnittlichen Notstandshilfe von Männern (AMS, 2001: 146). Gegebenenfalls können Haushalte mit einem arbeitslosen Haushaltsmitglied auch Anspruch auf die Fürsorgeleistung Sozialhilfe haben, die subsidiär nach Ausschöpfung aller alternativer Unterstützungsleistungen gewährt wird. Neben der materiellen Unterstützung hilft der öffentliche Sektor arbeitslosen Menschen bei ihrer Suche nach einer neuen Beschäftigung - eine weitere Form der Ergebnisbewältigung. In Österreich wird ein Großteil dieser Suchprozesse zwischen Unternehmer/innen und Arbeitsgeberlinnen über das AMS abgewickelt (Badelt und Österle, 2001). Auch ein reichhaltiges Angebot an Ausbildungs-, Weiterbildungs-, Umschulungsmaßnahmen und "Qualifizierungsprojekten" steht bereit, welches als Teil der aktiven Arbeitsmarktpolitik eine Wiedereingliederung von arbeitslosen Personen zum Ziel hat. Schließlich organisiert das AMS auch Förderprogramme zur Reintegration von arbeitslosen Problemgruppen, durch die es ermöglicht werden soll einer arbeitslosen Person mittels Lohnsubvention zu einer Anstellung zu verhelfen (z. B. in Form der Eingliederungsbeihilfe). 3.3 Wirkungen der Österreichischen Arbeitsmarktpolitik

Wie wirkt nun die öffentliche Arbeitsmarktpolitik in Österreich in Bezug auf die Risikoprävention, den Risikoausgleich und die Ergebnisbewälti6 Seil (Hrsg.)

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gung? Wie erwähnt weist Österreich im EU-Vergleich eine geringe Arbeitslosemate auf - die Risikoprävention scheint gut zu funktionieren. Die vom öffentlichen Sektor gesetzten Maßnahmen der Risikoprävention wirken allerdings unterschiedlich. Zum einen wird das Arbeitsmarktangebot durch Regulierung (Ausländerbeschäftigung) bzw. sozialpolitische Anreizwirkungen (z. B. Frauenbeschäftigung) niedrig gehalten (Risikoverrneidung). Zum anderen werden aktive Beschäftigungsverhältnisse durch ein vergleichsweise starres Regulierungssystem sowie Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen (z. B. Beihilfen; i. e. Risikoverringerung) und von gefährdeten Arbeitnehmerlinnen (z. B. Umschulungen; i. e. Risikoverringerung und Verminderung der Risikoaussetzung) geschützt. Nichtsdestotrotz weist der Österreichische Arbeitsmarkt eine hohe Dynamik auf. Im Jahr 2000 waren knapp 690.000 Personen oder ein Fünftel des gesamten unselbständigen Erwerbspotentials zumindest einen Tag von Arbeitslosigkeit betroffen. In vielen Fällen dauert die Arbeitslosigkeit allerdings nur kurz an - Österreich verfügt über einen im EU-Vergleich geringen Anteil von Iangzeitarbeitslosen Personen. Damit ermöglichen nicht zuletzt auch die vielfältigen Maßnahmen der Ergebnisbewältigung des AMS eine rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Die Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung bestätigten, dass Arbeitslosigkeit, und vor allem Arbeitslosigkeit die länger als sechs Monate andauert, für viele Menschen ein Abrutschen in Einkommensannut bedeutet (vgl. Kap. 1). Damit sind zum Teil Maßnahmen des Risikoausgleichs (Arbeitslosengeld), vor allem aber Maßnahmen der (materiellen) Ergebnisbewältigung (Notstandshilfe) mangelhaft, da sie ein Abrutschen unter die Armutsgrenze mitunter nicht verhindern können. Zur Veranschaulichung dieses Problems dient ein einfacher Vergleich: 1997 betrug die monatliche Armutsschwelle in einem Einpersonenhaushalt € 622,88 (8.571,- ATS; Jahresvierzehntel). Sowohl die durchschnittlich ausbezahlte Notstandshilfe als auch die Sozialhilferiebtsätze der Bundesländer liegen unter dieser Schwelle, womit Einkommensannut von Iangzeitarbeitslosen Menschen vorprogrammiert ist. Im Sinne einer akuten Armutspolitik müssten damit die materiellen Ersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit erhöht (z. B. durch die Einführung einer Mindestgrenze beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe) bzw. angepasst werden. Im Hinblick auf den engen Zusammenhang zwischen Langzeitarbeitslosigkeit und Einkommensannut könnte beispielsweise das (im Vergleich zur Notstandshilfe höhere) Arbeitslosengeld länger ausbezahlt werden als bisher. Von Seiten des öffentlichen Sektors müsste zudem im Sinne einer vorbeugenden und nachhaltigen Armutspolitik die Risikoprävention für Risikogruppen am Arbeitsmarkt (z. B. ältere Arbeitnehmer/innen, Ausländer/innen) verbessert werden bzw. eine schnellere Wiederein-

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gliederung arbeitsloser Risikogruppen in den Erwerbsarbeitsmarkt ermöglicht werden. Denn bezahlte Beschäftigung reduziert das Risiko einkommensarm zu werden um die Hälfte (Förster, 2001: 202). 4. Bewertung des "sozialen Risikomanagements" für die Österreichische Armutspolitik und Ausblick Die Ausführungen in Kapitel 3 haben gezeigt, dass das Konzept des sozialen Risikomanagements einen sinnvollen Rahmen für die Analyse von Armutspolitik darstellt. Nicht zuletzt kann das Denkmodell auch in reicheren Wohlfahrtsstaaten angewandt werden, wiewohl es vor dem Hintergrund der akuten Armut in Entwicklungsländern konzipiert worden ist. Es ermöglicht Zusammenhänge zwischen risikoreichen Ereignissen und Einkommensarmut aufzuzeigen und unterschiedliche Maßnahmen des Risikomanagements systematisch zu bewerten. In Kapitel 3 wurde dies nur ansatzweise für das Risiko der Arbeitslosigkeit und unter Ausblendung von Aktivitäten privater Akteure gezeigt. Eine Einbeziehung und Bewertung von Maßnahmen, die im privaten formellen und informellen Bereich gesetzt werden, würde die Aussagekraft der Analyse deutlich erhöhen. Natürlich könnten alternativ zur Arbeitslosigkeit auch andere risikoreiche Ereignisse und ihre Wirkungen auf Einkommensarmut nach dem Konzept des sozialen Risikomanagement analysiert werden, wie z. B. der Eintritt einer Krankheit, einer Behinderung, die Geburt eines Kindes, der Eintritt in den Ruhestand. Nicht zuletzt erlaubt der konzeptuelle Rahmen auch eine Analyse des Zusammenhangs zwischen kritischen Ereignissen und alternativen Formen von Wohlfahrtsverlusten vorzunehmen (vgl. Holzmann und J0rgensen, 2000a). Beispielsweise könnte alternativ zum Ursachen-Wirkungszusammenhang Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut auch der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung analysiert werden - und Maßnahmen des Risikomanagements vor diesem Hintergrund bewertet werden. Generell wird durch Anwendung des Konzepts des sozialen Risikomanagements das Augenmerk der Armutspolitik nicht ausschließlich auf erzielte Wohlfahrtsverluste gelenkt, sondern auch auf risikoreiche Ereignisse, die diese Wohlfahrtsverluste erst verursachen. Damit wird der Ursachen-Wirkungszusammenbang in den Mittelpunkt gerückt. Eine Verbesserung von Maßnahmen der Risikoprävention, des Risikoausgleichs und/oder der Ergebnisbewältigung kann nach den Vorstellungen des sozialen Risikomanagements die Verletzlichkeit von Menschen dahingehend verringern, dass Armutsperioden verhindert bzw. kurz gehalten werden können. Damit kann Armutspolitik als Querschnittsmaterie interpretiert werden, die bereits bei jenen Politikbereichen (bzw. kritischen Ereignissen) ansetzen muss, die als 6*

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armutsverursachend in Frage kommen. Nicht von ungefähr wird das Ausmaß von Einkommensarmut in einem Land auch als ein Hinweis auf den Erfolg bzw. Misserfolg der öffentlichen (Sozial)Politik gesehen (vgl. Badelt und Österle, 2001: 222). In diesem Zusammenhang gewinnt auch die jüngst in Österreich erhobene Forderung nach einer Sozialverträglichkeitsprüfung aller politischen und sozialpolitischen Maßnahmen neues Gewicht: Derartige Maßnahmen beeinflussen die Verletzlichkeit von Haushalten in Bezug auf Risiken, denen sie gegenüberstehen durch eine Veränderung ihrer Möglichkeiten, mit diesen Risiken umzugehen. Literaturverzeichnis Arbeitsmarktservice Österreich. AMS (2001): Arbeitsmarktlage 2000. Wien: AMS. -

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Die Selbständigen - Armutspotential der Zukunft? Von Uwe Fachinger, Bremen

1. Einleitung Im Zuge des strukturellen Wandels der Erwerbsarbeit in Deutschland entstehen vermehrt Formen der selbständigen Erwerbstätigkeit 1 • Ein Großteil dieser Selbständigen ist nicht obligatorisch in einem sozialen Sicherungssystem versichert2• Hieraus könnten sich für diesen Personenkreis Probleme hinsichtlich der materiellen Absicherung ergeben. Falls beim Eintritt von Krankheit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit oder auch nach der altersbedingten Aufgabe der Tätigkeit - sogenannte "soziale Tatbestände" - keine Absicherung gegen die dadurch bedingten Einkommensausfälle oder zusätzlichen finanziellen Belastungen vorhanden ist, besteht die Gefahr der materiellen Armut. Hieraus ergibt sich die Frage nach sozialpolitischem Handlungsbedarf für diese spezifische Gruppe der Gesellschafe. Bei den Selbständigen handelt es sich aus ökonomischer Sicht um einen Personenkreis, der - unterstellt man das mikroökonomische Handlungskalkül - eine Risikovorsorge nach seinen individuellen Präferenzen frei wählen und damit eine optimale Form der Absicherung gestalten kann: - Sie können den Einkommensausfall infolge des Eintritts eines "sozialen Risikos", d.h. die Unsicherheit des zukünftigen Einkommensbezugs aufgrund der Wechselfälle des Lebens4 oder von Verlustmöglichkeiten5 , durch den Abschluß einer Versicherung in einem privatwirtschaftliehen Untemehmen6 absichern; 1 Siehe hierzu Bögenhold/Leicht (2000), Leicht (2000) oder Leicht/Philipp (1999). 2 Siehe beispielsweise zur Alterssicherung von Selbständigen Dräther et al. (2001), Fachinger/Oelschläger (2000), Fachinger (2000). 3 So auch Schmäh! (200 1), S. 317, bezogen auf die materielle Absicherung im Alter. 4 Hierzu zählen beispielsweise Krankheit, Witwen- und Waisentum, Pflegebedürftigkeit, Unfälle bzw. dadurch bedingte Invalidität, Mutterschaft oder auch "Langlebigkeit", in concreto die altersbedingte Aufgabe der Erwerbstätigkeit 5 Hierzu wären beispielsweise eine konjunkturbedingte "Auftragslosigkeit", als Pendant zur Arbeitslosigkeit bei abhängig Beschäftigten, eine Insolvenz oder auch die Geldwertminderung zu rechnen.

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- sie können sich freiwillig in einem der sozialen Sicherungssysteme versichem7; - sie können einen auf die individuelle Situation abgestellten public-private mix wählen oder - sie können teilweise oder vollständig auf derartige Formen der Risikovorbeugung verzichten. Inwieweit eine derartige Absicherung erfolgt, ist u. a. von der Sparfahigkeit8 und der Sparbereitschaft, d. h. den Möglichkeiten, den Kenntnissen und dem Willen zum Konsumverzicht, abhängig. Der Fokus des Beitrages liegt auf der Analyse der Sparfahigkeit von Personen bzw. Haushalten, deren Einkommen überwiegend durch selbständige Erwerbstätigkeit erzielt wird9 . Zunächst wird in Abschnitt 2. die Fragestellung konkretisiert und in Abschnitt 3. ein kurzer Überblick über den derzeitigen Kenntnisstand gegeben. Zur Beurteilung der Sparfahigkeit sollen Informationen über die Einkünfte von Haushalten mit einer selbständig erwerbstätigen Bezugsperson ermittelt werden, zu deren Beurteilung der Haushaltstyp bzw. die spezifische Haushaltssituation zu berücksichtigen ist. Weiterhin wird ein Vergleich mit der Einkommenssituation der abhängig Beschäftigten durchgeführt, anband dessen Aussagen über die spezifische "Schutzbedürftigkeit" von selbständig Erwerbstätigen abgeleitet werden können. Dies geschieht auf der Grundlage eines scientific use files der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 1998, der in Abschnitt 4. knapp erläutert wird. In Abschnitt 5. werden die Ergebnisse der Analyse präsentiert und abschließend in Abschnitt 6. ein kurzes Resümee gezogen. 2. Konkretisierung der Fragestellung

Unter Armut wird in der Regel die zur Sicherung eines relativen Existenzmtmmums nicht ausreichende materielle Ausstattung von einzelnen Personen bzw. Bedarfsgemeinschaften oder Haushalten verstanden 10. Zur 6 Dies sind beispielsweise private Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung, Lebensversicherung. 7 Möglich ist das beispielsweise in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- oder Rentenversicherung, nicht aber in der Arbeitslosenversicherung. 8 Die Sparfähigkeit wird von Althammer (1997), S. 598, als die maßgebliche Determinante der Vermögensbildung betrachtet. 9 Es geht somit um eine spezifische Gruppe der selbständig Erwerbstätigen. Der Begriff selbständige Erwerbstätigkeit bzw. Selbständige(r) ist in der Literatur nicht eindeutig festgelegt; siehe für eine kurze Darstellung Bögenhold et al. (2000), S. 81 f., mit zahlreichen weiteren Verweisen, sowie ausführlicher Bögenhold (1999), European Commission (1998), Gunning (1996) oder Martinelli (1994).

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Vermeidung einer derartigen materiellen Notlage dient u. a. die Vorsorge gegenüber einem Einkommensausfall oder einer zusätzlichen finanziellen Belastung infolge des Eintritts eines "sozialen Risikos" durch bewußten Konsumverzicht, d.h. dem Ansparen von Einkommensteilen zur Akkumulation von Vermögen, oder auch durch den Erwerb von sogenanntem Sozialvermögen, d. h. von Ansprüchen an Institutionen der sozialen Sicherung. Selbständig Erwerbstätige sind in der Bundesrepublik Deutschland in der Mehrzahl nicht sozialversicherungspflichtig. Somit kann auf diesem Wege kein "Sozialvermögen" akkumuliert werden, durch das der Eintritt materieller Armut vermieden werden könnte. Sie sind auf eine private Vorsorge angewiesen. Es ist derzeit allerdings weitgehend unbekannt, ob, in welchem Umfang und auf welche Risiken bezogen eine derartige Vorsorge erfolgt. Für den Fall, dass keine freiwillige Vorsorge erfolgt ist und die Haushalte in eine Situation geraten, in der für einen gewissen Zeitraum die Einkünfte aus der selbständigen Erwerbstätigkeit fehlen - beispielsweise durch Krankheit oder Auftraglosigkeit -, besteht die Gefahr des Eintritts materieller Armut. Aus sozialpolitischer Sicht stellt sich hier die Frage nach der Notwendigkeit, präventiv tätig zu werden und Maßnahmen zu treffen, die zu einer Vorsorge beitragen. Zur adäquaten Ausgestaltung derartiger Maßnahmen muss u. a. die Sparfähigkeit der entsprechenden Haushalte bekannt sein. Bezogen auf die Vorsorge gegenüber dem Eintritt von materieller Armut stellt sich damit die Frage, ob die Sparfähigkeit von Selbständigen hoch genug ist, um a) eine Absicherung erreichen oder ein Vermögen akkumulieren zu können, das den Ausfall von Erwerbseinkommen kompensieren kann, der während der Erwerbstätigkeitsphase beispielsweise durch Krankheit, Invalidität oder auch für Phasen mit wenigen oder gar keinen Aufträgen eintritt, sowie b) über ein ausreichendes Einkommen zur Aufrechterhaltung der materiellen Lebenslage nach der altersbedingten Aufgabe der Erwerbstätigkeit zu verfügen, d.h. um nicht bis an das ,,Lebensende" auf die Erzielung von Erwerbseinkommen angewiesen zu sein. Erste Indizien über die Sparfähigkeit von Individuen bzw. Haushalten können aus der Differenz zwischen den laufenden Einnahmen und Abgaben abgeleitet werden. Dies bedeutet, dass die Sparfähigkeit von Personen und damit die Fähigkeit, eine Risikovorsorge betreiben zu können, durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflußt wird. Um dies zu verdeutlichen, sind in der Tabelle I einige Beispiele angegeben. 10 Siehe zum Begriff "Armut" beispielsweise Hauser (1997), S. 527 ff., Hauser (1998), S. 160, sowie Scheurle (1991).

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Tabelle 1 Wichtige Einkunfts- und Abgabenarten von Haushalten sowie deren Determinanten Determinanten

Einkunfts- und Abgabenarten - Erwerbseinkünfte aus unselbständiger und selbständiger Tätigkeit - Vermögenseinkünfte (ohne Versicherungen) - Renten und Pensionen von Sozialversicherungen, Gebietskörperschaften, berufständischen Versorgungswerken, Betrieben und Privatversicherungen - weitere Transferzahlungen aus öffentlichen Haushalten wie z. B. Sozialhilfe und Wohngeld - interfamiliäre monetäre Transfers

- Erwerbstätigkeit im formellen und informellen Sektor - Sparen, Schenkungen und Vererbung - Leistungsrecht der sozialen Sicherungssysteme: Art und Umfang früherer Erwerbstätigkeit im formellen Sektor, Familienstand (z. B. bei Hinterbliebenenrenten), Gesundheitszustand (z. B. bei Invalidität) und Pflegebedürftigkeit - übrige Einkünfte, Haushaltsgröße, -Zusammensetzung und -struktur, Mietausgaben usw. Familienbeziehungen und ökonomische Situation von Familienangehörigen

Summe der Bruttoeinkommen - Lohn- und Einkommensteuer - Rückzahlung (einschl. Zinsen) von Hypotheken, Grundschulden und Krediten

- Abgabesätze für Einkommen bzw. einzelne Einkunftsarten - Zinssätze

Summe der (Netto-) Einkommen - Auflösung von Geld oder/und Sachver- Vermögensbestand und Summe der mögen Nettoeinkommen im Verbältnis zum "Bedarf' - nichtmonetäre Einkommenselemente - Leistungsrecht und Familienbeziehungen (Sachleistungen) u. a. aus öffentlichen Haushalten und aus Privathaushalten, z. B. intrafamiliäre Transfers - Art der Einkommensverwendung - Preisvergünstigungen - Art der Einkommensverwendung - indirekte Steuern - Zuzahlungen im Krankheits- und Pflegefall - Leistungsrecht der sozialen Sicherungssysteme, Gesundheitszustand Materielle Lebenslage (ohne Risikovorsorge) - Sozialversicherungsbeiträge an: Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, sowie Bundesanstalt für Arbeit - vergleichbare Beiträge bei nicht sozialversicherungspflichtiger Erwerbstätigkeit

- Abgabesätze für Einkommen bzw. einzelne Einkunftsarten

Materielle Lebenslage (mit Risikovorsorge) Quelle: Modifizierte Darstellung nach Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001),

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Allerdings ist die Bedeutung der einzelnen Einkunfts- und Abgabearten sowie deren Determinanten sehr unterschiedlich. So dominieren beispielsweise spezifische Einkunftsarten in bestimmten Lebensphasen. Während der Erwerbstätigkeit sind die Einkünfte aus der oder den jeweiligen Tätigkeiten in der Regel vorherrschend, wohingegen Renten und Pensionen bei Haushalten älterer Menschen in der Nacherwerbsphase -beispielsweise nach der Aufgabe der Erwerbstätigkeit aus Altersgründen - grundsätzlich die Haupteinkunftsart darstellen 11 • Der untere Teil der Tabelle 1 verdeutlicht weiterhin, dass bezüglich einer Analyse der Sparfabigkeit zwischen zwei Gruppen der selbständig Erwerbstätigen zu unterscheiden ist: zum einen gibt es Selbständige, die nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegen und über keine abgeleiteten Ansprüche verfügen 12. Die andere Gruppe bilden die Selbständigen, die sozialversicherungspflichtig sind. Bei diesen ist allerdings zu fragen, ob sie erstens der Sozialversicherungspflicht nachkommen und ob zweitens die Absicherung hoch genug ist, um den Eintritt materieller Armut zu vermeiden. Die Risikovorsorge hat neben den individuellen Gegebenheiten auch die der anderen Haushaltsmitglieder - inwieweit diese versichert sind und bei Ehepartnern z. B. abgeleitete Ansprüche entstehen - zu berücksichtigen. So kann beispielsweise im Rahmen der Familienmitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder des Anspruchserwerbs in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) eine Absicherung gegen Risiken, die dort abgedeckt sind, vorhanden sein. Dies bedeutet, dass zur Beurteilung der Sparfabigkeit die gesamte Haushaltssituation zu berücksichtigen ist. Zur Strukturierung und zur Verdeutlichung der Komplexität des Vorsorgeverhaltens sei zunächst darauf hingewiesen, dass man einerseits eine individuenbezogene Betrachtung vornehmen sollte. Allerdings ist die materielle Armut keine ausschließlich auf die individuelle Situation ausgerichtete, sondern eine haushaltsbezogene Problemlage. Da die Einkommenserzielung jedoch individuell erfolgt, kann an der personenbezogenen Betrachtungsweise angesetzt werden.

11 Siehe beispielsweise Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001), Fachinger (2001 a) sowie Fachinger (2001 b). 12 Siehe hierzu ausführlicher Fachinger/Oelschläger (2000) oder Fachinger (2000).

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Bei der Vorsorge gegen den Ausfall des individuellen Einkommens handelt es sich um ein vielschichtiges Problem. Aus individueller Sicht können folgende Situationen vorliegen: 1. Die selbständig erwerbstätige Person kann ausschließlich eigene Ansprüche erwerben bzw. erworben haben. Dabei ist zwischen folgenden Möglichkeiten zur Status quo Beschreibung zu differenzieren. Die Person - kann freiwillig vorsorgen, - kann der Sozialversicherungspflicht unterliegen, - kann freiwillig vorsorgen und gleichzeitig versicherungspflichtig sein oder - betreibt keine gezielte Risikoabsicherung. 2. Eine Risikovorsorge muss aber nicht ausschließlich durch eigene Reitragsleistungen entstehen. Gerade im Bereich der sozialen Sicherung existieren Regelungen, nach denen auch Ansprüche ohne explizite Beitragszahlung entstehen. Es können daher auch sogenannte abgeleitete Ansprüche vorliegen, die von der oder dem Ehepartner(in) auf den selbständig Erwerbstätigen übergehen. Somit ist ferner zu beachten, ob Ansprüche vom Ehepartner auf den Selbständigen übergehen können. So gibt es beispielsweise im Bereich der GKV die kostenlose Familienmitversicherung. Im Bereich der GRV existiert die Möglichkeit des Anspruchserwerbs im Rahmen der Hinterbliebenenabsicherung. 3. Des weiteren muss noch zwischen selbständigen Personen, die ausnahmslos über abgeleitete Ansprüche verfügen, und denjenigen, die sowohl eine eigene Vorsorge betreiben als auch über abgeleitete Ansprüche aus der Vorsorge des Ehepartners verfügen, unterschieden werden. Dies bedeutet, dass die personenbezogene Sichtweise erweitert werden muss. Hält man sich das Voranstehende vor Augen, wird deutlich, dass hinsichtlich der Gefahr des Eintritts materieller Armut insbesondere die Selbständigen von besonderem Interesse sind, die nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegen und die nicht über abgeleitete Ansprüche verfügen. Da selbständige Landwirte über eine spezifische soziale Absicherung in der Bundesrepublik Deutschland verfügen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann 13 , wird im folgenden die Gruppe der Selbständigen außerhalb der Landwirtschaft näher betrachtet. Der Beitrag konzentriert sich somit auf einen Personenkreis, für den nicht davon auszugehen ist, dass die Erwerbstätigen obligatorisch in einem sozialen Sicherungssystem abgesichert sind. Es stellt sich allerdings auch für diejenigen, die der Sozialversicherungspflicht 13 Siehe ausführlich Breuer/Lehle (1996), Koch/Möller-Schlotfeldt (1999), Kraus (1993).

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unterliegen, die Frage, ob deren Absicherung hoch genug ist, den Eintritt materieller Armut bei einem Ausfall des Einkommens aus selbständiger Tätigkeit und/oder bei einer zusätzlichen finanziellen Belastung durch den Eintritt eines allgemeinen Lebensrisikos zu vermeiden.

3. Stand der Forschung Überblickt man die Literatur, so ist zuvorderst festzuhalten, dass insgesamt gesehen die der wissenschaftlichen Forschung zugänglichen Informationen über die Einkommenslage und die Risikovorsorge von Selbständigen und damit der Stand des Status quo als dürftig zu charakterisieren sind. Da keine Datenbasis existiert, die ausreichende Informationen enthält, wurden zur Analyse der Einkommenssituation von selbständig Erwerbstätigen unterschiedliche Statistiken bzw. Datengrundlagen herangezogen. Neben der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) wurde auch auf Angaben der Einkommensteuerstatistik, von Interessensverbänden sowie Institutionen der sozialen Sicherung, hier insbesondere der Rentenversicherungsträger, zurückgegriffen. Da diesen Datensätzen teilweise ein unterschiedlicher Einkommensbegriff zugrunde liegt, aber auch die Bezugseinheiten divergieren, sind die Ergebnisse in der Regel nicht im Detail vergleichbar. Dass dennoch auf diese unterschiedlichen und jeweils nur bedingt geeigneten Datengrundlagen zurückgegriffen wurde, liegt zum einen an der Unzulänglichkeit des alternativ verfügbaren Materials, zum anderen am differenzierten Informationsbedarf der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik - ohne das letzterer bisher zu einer besseren Erfassung geführt hätte. Empirische Analysen zur Einkommenslage von Selbständigen basieren überwiegend auf den EV-Stichproben des Statistischen Bundesamtes. In der Literatur wird zwar auch auf die Einkommensangaben im Mikrozensus (MZ) rekurriert - versehen mit der Anmerkung, dass diese eigentlich nicht besonders verläßlich seien, aber immerhin Indizien über die Verteilung liefern können 14• Hierzu ist anzumerken, dass die auf Selbsteinschätzung beruhenden klassifizierten Angaben im MZ über die Höhe des Einkommens erhebliche Abweichungen von der Verteilung der auf Einzelnachweisen beruhenden dezidierten Einkommen aufweisen und die Verteilung der selbstgeschätzten Einkommen sehr stark verzerrt ist 15 . Ergebnisse von Ein14 Als Beispiel für eine derartige Beurteilung siehe Leicht (2000), der vermutet, dass " ... zumindest die proportionale Verteilung der Einkommensgruppen . .. " sich anband des Mikrozensus einschätzen ließe. 15 Siehe hierzu ausführlich Münnich (2000), S. 689. Die Abfrage der Einkommenshöhe im MZ stimmt mit der der Befragung im Einführungsinterview der EVS im Prinzip überein. Der Vergleich mit den auf Grundlage der Feinanschreibung er-

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Uwe Fachinger

kommensanalysen auf der Grundlage des Mikrozensus sollten daher nicht zur Beurteilung der Einkommenssituation von Personen oder Haushalten herangezogen werden 16. In den Auswertungen, deren Datengrundlage die EVS bildet, wurde auf die Einkommenssituation von Selbständigen meist im Zusammenhang und im Vergleich mit der Situation der abhängig Beschäftigten eingegangen 17 • Diese Veröffentlichungen enthalten vor allem Durchschnittswerte, wobei zwischen den Selbständigen, die in, und denen, die außerhalb der Landwirtschaft tätig sind, unterschieden wird. Weitere Informationen, insbesondere über die Streuung der Einkommen, sind darin nicht enthalten 18• Eine Ausnahme hiervon bildet die Arbeit von Münnich (2000). Hier wird die Einkommenssituation ausführlicher dargestellt. Neben der Zusammensetzung der Einkommen von Selbständigen19 sind beispielsweise auch die Dezilgrenzen der Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen angegeben20. Dabei zeigt sich, dass der Bereich, über den die Einkommen streuen, sehr groß ist, wobei die unteren Dezile vergleichsweise geringe Anteile an der Summe der Nettoäquivalenzeinkommen aufweisen. Zu im Endeffekt vergleichbaren Resultaten - auch wenn im Detail die Untersuchungseinheit sowie der Einkommensbegriff nicht identisch sind - kommen die Analysen auf der Grundlage des SOEP21 . Ausführlichere Informationen liegen für die freiberuflichen Zahnärzte vor. Hierzu tragen vor allem die Statistiken bei, die von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung veröffentlicht werden. In Bedau (1999d) wird die Verteilung der Bruttoeinkünfte aus selbständiger Tätigkeit für das Jahr 1997 dargestellt22 . Es wird bei einem sehr hohen Durchschnittseinkommen von 197.600 DM eine beträchtliche Disparität erkennbar. Die breite Streuhaltenen Informationen für 1998 zeigt, dass weder die Größenordnung - in der Regel wird die Höhe des Einkommens unterschätzt - noch die Struktur der Verteilung - beispielsweise die Streuung und die Schiefe - auch nur annähernd übereinstimmen. 16 So auch schon Euler (1985), S. 56. 17 Die aktuellste Veröffentlichung ist Münnich (2000). Die EVS liegt auch verschiedenen Arbeiten von Bedau zugrunde; siehe z. B. Bedau (1999 a), Bedau (1999e), Bedau (1996b) sowie Bedau (1997). 18 Siehe beispielhaft aus der jüngeren Vergangenheit Bedau (1999a), Bedau (1999b), Bedau (1998a), Bedau et al. (1993). Für das Jahr 1992 wurde in Bedau (1994) eine auf Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung unter Verwendung amtlicher Statistiken beruhende Einkommensschichtung der Haushalte von Selbständigen in und außerhalb der Landwirtschaft veröffentlicht; siehe zur Beurteilung der Verteilungsrechnung des DIW z.B. Lindner (1986). 19 Münnich (2000), S. 681. 20 Münnich (2000), S. 688. 21 Analysen anhand des SOEP wurden beispielsweise von Frerichs/Himmelreicher (2000), S. 183 ff., sowie Bemtsen (1992), S. 99 ff., vorgelegt.

Die Selbständigen - Armutspotential der Zukunft?

95

ung der Verteilung wird dadurch deutlich, dass 18,5 vH über Bruttoeinkünfte von 300.000 DM oder mehr vetfügten und 3 vH mindestens 500.000 DM im Jahr 1997 erzielten. Andererseits lag das Bruttoeinkommen von 11,4 vH der freiberuflich tätigen Zahnärzte unter 50.000 DM und von 14,2 vH zwischen 50.000 DM und 100.000 DM. Bedau vermutet, dass es sich hierbei u. a. um sogenannte "Neueinsteiger" handelt, die ihre abhängige Beschäftigung aufgegeben haben und daher nur einen Teil des Jahres selbständig erwerbstätig waren. Aufgrund der schlechten Informationslage wurde auch auf die Einkommensteuerstatistiken zurückgegriffen. Obwohl hier nur die der Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit je Steuereinheil etfasst werden, bietet diese Statistik in der Bundesrepublik Deutschland die einzige Möglichkeit, nach Berufsgruppen differenziert Einkommensangaben für freiberuflich Tätige zu erhalten23 . Da durch diese Statistik keine zeitnahen Daten zur Vetfügung gestellt werden können, ist die Darstellung der Einkommen von Steuerpflichtigen in den Freien Berufen aus dem Jahr 1992 von Bedau (1999c) zwar nicht aktuell, weist aber auf erhebliche Abweichungen zwischen den Berufsgruppen hin. Die folgende Tabelle zeigt zum einen diese Differenzen in den Durchschnittseinkommen, zum anderen verdeutlicht sie die unterschiedlich hohe Anzahl an in den jeweiligen Berufsgruppen Tätigen. Bemerkenswert an den Befunden in der Tabelle 2 ist, dass in den künstlerischen Berufen im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen sehr niedrige Bruttoeinkünfte erzielt werden. Weiterhin ist darauf zu verweisen, dass in der Gruppe der sonstigen Freien Berufe anteilsmäßig mehr als die Hälfte der freiberuflich Tätigen enthalten ist - und diese vetfügen mit durchschnittlich 37.588 DM pro Jahr über die zweit niedrigsten Bruttoeinkünfte. Der Anteil der Berufsgruppen mit Bruttoeinkünften von über 170.000 DM pro Jahr liegt bei 16,6 vH. Hieran wird eine erhebliche Heterogenität zwischen den Berufsgruppen deutlich. Inwieweit diese auch innerhalb der Gruppen auftritt, lässt sich anband des Datenmaterials nicht feststellen. Es liegen allerdings für die Gruppe der freiberuflich tätigen Künstler und Publizisten, die in der Künstlersozialkasse (KSK) versicherungspflichtig sind, relativ aktuelle Informationen über die Verteilung der Jahresarbeitseinkommen, die der KSK gemeldet wurden, vo~4 • Im Ergebnis zeigt sich, dass die Durchschnittseinkommen vergleichsweise niedrig sind. Im Jahr 2000 22 Für eine Darstellung der Bruttoeinkünfte von freiberuflich tätigen Zahnärzten aus früheren Jahren siehe z. B. Bedau (1998b) oder Bedau (1996a). 23 Siehe Statistisches Bundesamt (1997). Die Einkommensteuerstatistik des Jahres 1989 bildet die Grundlage der Analyse von Bedau (1995). 24 Bundesregierung (2000), S. 16 ff.

Uwe Fachinger

96

Tabelle 2 Durchschnittliche Bruttoeinkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit je Steuerpflichtigen mit positiven Einkünften aus freiberuflicher Tätigkeit im Jahr 1992 Berufsgruppe

Durchschnittliche Bruttoeinkünfte

freiberuflich Tätige

in DM pro Jahr

absolut

in vH

Ärzte

171.102

120.110

12.5

Zahnärzte

221.585 66.653

37.646 8.259

3.9

Tierärzte Heilpraktiker

45.842

7.959

0.8

Rechtsanwälte und Notare

129.776

45.811

4.8

Steuerberater und -bevollmächtigte

135.458

32.627

3.4

Wirtschafts- und Buchprüfer

183.419

1.926

0.2

Architekten

105.448

70.109

7.3

0.9

Ingenieure und Techniker

94.320

32.251

3.4

Künstlerische Berufe

27.453

52.261

5.5

Sonstige Freie Berufe

37.588

549.237

57.3

Freie Berufe insgesamt

78.195

958.196

100.0

Quelle: Bedau ( 1999c), S. 54 ff., sowie eigene Berechnungen.

betrug das Durchschnittseinkommen aller Versicherten 21.852 DM. Die Einkommen variieren dabei zwischen den Geschlechtern und den vier Berufsgruppen25, nach dem Alter der Versicherten und nach ihrer Berufserfahrung. So haben beispielsweise die Männer im Alter von über 60, die dem Bereich Wort zugeordnet sind, mit 40.217 DM das höchste und die Frauen im Bereich darstellende Kunst, die jünger als 30 Jahre sind, mit 12.415 DM das niedrigste Durchschnittseinkommen erzielt. Bei diesen Einkommensangaben handelt es sich um Schätzungen der Versicherten. Daher ist es fraglich, inwieweit diese Angaben im Hinblick auf ihre Validität besser als die im Mikrozensus sind. Allerdings wird im Bericht darauf hingewiesen, dass die Angaben ". . . nicht erheblich von den tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen abweichen ... " würden26. Der Bericht liefert damit Indizien für im 25 Es wird unterschieden zwischen den Bereichen Wort, Musik, bildende Kunst und darstellende Kunst; siehe Bundesregierung (2000), S. 13 f., sowie Zimmermann/Schulz (2000). 26 Bundesregierung (2000), S. 25.

Die Selbständigen - Armutspotential der Zukunft?

97

Durchschnitt niedrige Einkommen in den künstlerischen Berufen, allerdings wird auch die Vermutung geäußert, dass es sich bei diesen gemeldeten Einkommen nicht um die einzigen Einkünfte handle27 . Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass derzeit nur relativ grobe Informationen über die Einkommen der selbständig Erwerbstätigen vorliegen. Dabei zeichnet sich eine heterogene Situation mit relativ vielen hohen, aber auch zahlreichen niedrigen Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit ab. Lediglich für einige Gruppen sind detailliertere Angaben vorhanden. Allerdings handelt es sich hierbei um spezifische Einkommensangaben, die entweder auf einer Selbsteinschätzung des individuellen Jahresarbeitseinkommens beruhen oder sich auf die der Einkommensbesteuerung unterliegenden Einheit beziehen. Daher sind die Angaben nicht vergleichbar. Ein weiterer Mangel ist, dass sie keine Informationen über die Soziodemagraphie der Haushalte enthalten. Solche sind aber für eine Analyse der Sparfahigkeit, wie der Tabelle 1 entnommen werden kann, erforderlich. 4. Datenbasis Zur detaillierten Deskription der Einkommenssituation selbständig Erwerbstätiger wird als Grundlage im folgenden ein scientific use file der EVS aus dem Jahre 1998 verwendet28 . Die EVS bietet, neben den ausführlichen Informationen über die Einkommens- und Abgabearten, aufgrund der Stichprobengräße auch eine hinreichend hohe Fallzahl, um eine entsprechend tiefe Untergliederung nach sozioökonomischen Kriterien zu ermöglichen. Die EVS hat allerdings einen gravierenden Nachteil: es ist keine Unterscheidung in einzelne Berufsgruppen möglich. Eine Trennung der Selbständigen kann lediglich in die in der Landwirtschaft und in die außerhalb der Landwirtschaft Tätigen erfolgen. Anband des Datensatzes ist somit lediglich eine erste Situationsbeschreibung auf aggregierter Berufsgruppenebene durchführbar. Hierbei ist zwischen zwei Betrachtungsebenen zu unterscheiden: 1. Bei Eintritt eines sozialen Risikos reduziert sich das Einkommen aus selbständiger Tätigkeit und diesen Einkommensausfall gilt es zu substituieren, falls das Lebenshaltungsniveau aufrecht erhalten bleiben soll. Somit rückt eine spezielle Einkunftsart in den Mittelpunkt der Betrachtung. Zur Analyse einzelner Einkunftsarten bietet die EVS eine gute Grundlage. Sie liefert dezidierte Angaben zu den Bruttogrößen, so dass beispielsweise die Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit auch nach Siehe Bundesregierung (2000), S. 26. Im folgenden werden die Charakteristika des Datensatzes, deren Kenntnis für die Analyse notwendig sind, kurz dargelegt. Zur ausführlichen Beschreibung dieser Datenbasis siehe Kühnen (1999), Münnich (2000) sowie Münnich/Illgen (2000). 27

28

7 Seil (Hrsg.)

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Uwe Fachinger

Personen differenziert untersucht werden können. Gleichzeitig ermöglicht es der Datensatz, diese Einkommen sowohl auf Haushalts- als auch auf Personenebene mit denen aus unselbständiger Erwerbsarbeit zu vergleichen. Als eine zentrale Größe wird im folgenden das Bruttoeinkommen aus selbständiger Arbeit verwendet, da dies das Einkommen ist, das bei Eintritt eines sozialen Risikos zu kompensieren ist. 2. Im Unterschied dazu fußt die Messung der Sparfähigkeit auf einem weiten Einkommensbegriff. Daher werden auch die sogenannten Gesamteinnahmen verwendet, die die Situation des Haushalts widerspiegeln. Sie bestehen aus folgenden Einkunftsarten29 : - Einkommen aus Erwerbstätigkeit, d. h. Bruttoeinkommen aus unselbständiger und aus selbständiger Arbeit, - Einnahmen aus Vermögen, dies sind Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung (ohne Untervermietung), der Nettomietwert von Eigentümerwohungen und -häusem sowie die Einnahmen aus Geldvermögen, - Einnahmen aus Transferzahlungen, - Einnahmen aus Untervermietung und aus dem Verkauf von Waren, - Einnahmen aus der Auflösung von Sachvermögen, - Einnahmen aus der Auflösung von Geldvermögen, - Einnahmen aus Kreditaufnahme sowie - sonstige Einnahmen. Die genannten Einkunftsarten ergeben die Summe der Bruttoeinkünfte von Haushalten. Um die materielle Lebenslage erfassen und die Sparfähigkeit selbständig Erwerbstätiger beurteilen zu können, sind hiervon u. a. die Abgaben zu subtrahieren. Bei den Abgaben handelt es sich zum einen um Lohn- und Einkommensteuern, zum anderen um Beiträge zur Sozialversicherung. Bei den Beiträgen zur Sozialversicherung wird im verfügbaren scientific use file der EVS '98 personenbezogen unterschieden zwischen30: a) dem Arbeitnehmeranteil der Pflichtbeiträge zur - gesetzlichen Rentenversicherung, - sozialen Pflegeversicherung, - privaten Pflegeversicherung, - gesetzlichen Krankenversicherung und - Arbeitslosenversicherung; 29 Eine ausführliche Beschreibung ist in Statistisches Bundesamt (1999a), S. 1 ff., enthalten. 30 Siehe für eine ausführlichere Beschreibung Statistisches Bundesamt (1999c).

Die Selbständigen - Armutspotential der Zukunft?

99

b) dem Arbeitnehmeranteil der freiwilligen Beiträge zur - gesetzlichen Rentenversicherung und - gesetzlichen Krankenversicherung. Zusätzlich können die Prämien für eine private Krankenversicherung ermittelt werden. Damit sind im Prinzip die selbständig erwerbstätigen Personen identifizierbar, die der Sozialversicherungspflicht nachkommen. Ein besonderes Problem bilden lediglich die Beiträge von Freiberuflern an die jeweilige Versorgungskasse. Diese Zahlungen werden zwar im Rahmen der Haushaltsanschreibung separat erfasst, im scientific use file werden sie aber nicht getrennt ausgewiesen, sondern der Kategorie "Prämien für Lebens-, Ausbildungs-, Aussteuer- und Sterbegeldversicherung" zugewiesen. Diese enthäle 1: - Prämien für Lebens-, Ausbildungs-, Aussteuer- und Sterbegeldversicherungen einschließlich eventuell vermögenswirksamer Leistungen (z. B. Alters-, Erbschaftssteuer-, Feuerbestattungs-, Kapital-, Direkt-, Heiratsversicherungen u. ä.) und einschließlich Versicherungssteuer und Leistungsentgelte (Abschluss-, Ausfertigungs- und Hebegebühren), - Beiträge für private Rentenversicherungen, - Einkauf in Lebensversicherungen sowie die - Beiträge von Freiberuflern an Versorgungskassen. Die Auflistung offenbart ein weiteres Problem der Datenbasis hinsichtlich der Informationen über die soziale Absicherung in der Bundesrepublik Deutschland: es lassen sich die entsprechenden Altersvorsorgeinstitutionen nicht voneinander trennen. Handelt es sich doch bei der Absicherung in Versorgungswerken um eine nur bestimmten Gruppen der freiberuflich Tätigen offenstehende Form der Vorsorge- z. T. mit Zwangscharakter -, während der Abschluß einer Lebensversicherung im Prinzip allen offensteht Weiterhin findet eine Vermischung von unterschiedlich begründetem Vermögensaufbau statt. Während beispielsweise eine Lebens- oder private Rentenversicherung als eine Maßnahme der privaten Altersvorsorge betrachtet werden kann, ist die Ausbildungs-, Heirats- oder auch Sterbegeldversicherung anderen Zielen gewidmet. Des weiteren ist darauf zu verweisen, dass im verfügbaren Datensatz keine Angaben über eine Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsahsicherung außerhalb der GRV enthalten sind. Der Datensatz bietet somit nur die Möglichkeit, zwischen den Personen bzw. Haushalten, die eine Risikovorsorge bezüglich der Tatbestände "Krankheit" und "Alter" betreiben, und denjenigen ohne eine vergleichbare Risikovorsorge, zu unterscheiden. Dabei sind 31 7*

Siehe Statistisches Bundesamt (1999c), S. 125.

100

Uwe Fachinger

bezogen auf die private freiwillige Vorsorge und hinsichtlich der Beiträge von Freiberuflern Unschärfen in Kauf zu nehmen. 5. Ergebnisse Den Ansatzpunkt der Darstellung der Sparfahigkeit von selbständig Erwerbstätigen bildet deren Bruttoeinkommen aus der jeweiligen Tätigkeit. In einer ersten Annäherung sind in der Abbildung 1 die Häufigkeitsverteilungen der Bruttoeinkommen aus selbständiger und unselbständiger Arbeit von Haushalten dargestellt, wobei auf der Abszisse jeweils die Klassenobergrenze angegeben ist. Es wird die unterschiedliche Struktur der Verteilungen sichtbar. Während die der Bruttoeinkommen aus abhängiger Beschäftigung eine für Einkommensverteilungen typische rechtsschiefe Form aufweist - lediglich die unterste Klasse ist vergleichsweise stark besetzt -, ist die Verteilung der Bruttoeinkommen aus selbständiger Tätigkeit mit einer 35,1 vH betragenden Besetzung der untersten Einkommensklasse und sich einer sukzessive reduzierenden Klassenbesetzung bei steigendem Erwerbseinkommen eher als ungewöhnlich zu bezeichnen. Die in der Abbildung 1 dargestellte Verteilung der Bruttoeinkommen aus selbständiger Tätigkeit mit 35,1 vH unter 1.000 DM charakterisiert nicht die Einkommenslage der Haushalte. Auf der Grundlage dieses Befundes kann nicht unmittelbar und ohne Kontrolle anderer Einkünfte auf die Einkommenssituation eines Haushalts geschlossen werden. Zu vermuten ist vielmehr, dass die niedrigen Einkommen in der Regel nicht das Haupteinkommen der Haushalte darstellen und eine, andere Einkünfte ergänzende, Funktion haben 32. Es ist daher zu unterscheiden, ob es sich um das Einkommen der Person, die als die oder der Haupteinkommensbezieher(in) (HEB) gilt, oder ob es sich um ein ergänzendes Einkommen handelt. In der Abbildung 2 ist deshalb dieser Verteilung die der Bruttoeinkommen aus selbständiger Arbeit von Haushalten, bei denen diese Einkommen dominieren, gegenübergestellt. Die Abbildung 2 verdeutlicht, dass die Einkommen in der untersten Klasse überwiegend eine das Haushaltseinkommen ergänzende Funktion haben und lediglich für rund 3,8 vH der Haushalte ein Einkommen von unter 1.000 DM pro Monat die Haupteinkunftsart darstellt. Es wird allerdings ebenfalls deutlich - und dies ist schon ein erster Hinweis auf die Sparfahigkeit der Haushalte -, dass auch die unteren Einkommensklassen der Vertei32 Zu bedenken ist auch, dass im Datensatz keine Informationen über die Arbeitszeit vorhanden sind. Gemäß den Angaben aus dem Mikrozensus des Jahres 1998 arbeiteten immerhin 5,5 vH der Selbständigen unter 15 Stunden pro Woche, 4,6 vH zwischen 15 und 20 Stunden und 6,0 vH zwischen 21 und 35 Stunden; Statistisches Bundesamt (1999b), S. 106, sowie eigene Berechnungen.

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Abbildung 1: Verteilung der Bruttoeinkommen aus selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit unter 20.000 DM 1998 in vH

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des scientific use files der EVS '98.

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Abbildung 2: Vergleich der Bruttoeinkommen aus selbständiger Arbeit von allen Haushalten mit denen von Haushalten mit einer selbständig erwerbstätigen HEB 1998 in vH

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des scientific use files der EVS\ 998.

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Armuttrotz Sozialhilfe?

307

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20•

Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängern Von Apostolos Tsalastras, Bonn

1. Einleitung Das Grundgesetz bildet mit Art.l Abs.l, Art. 20 und Art. 28 die Grundlage für das Sozialstaatsgebot, das allen Menschen einen Mindeststandard an sozialer und materieller Teilhabe garantiert. Diese Grundlage ist die Basis für das Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Die Sozialhilfe hat die Aufgabe, Hilfeempfangem/-innen ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Dies bedeutet, dass sie nicht allein darauf ausgerichtet ist das zum physischen Überleben Notwendige sicher zu stellen, sondern auch Beziehungen zur Umwelt und die Teilnahme am kulturellen Leben zu ermöglichen. 1 Nach dem BSHG wird die Sozialhilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) - auch Sozialhilfe im engeren Sinne - und als Hilfe in besonderen Lebenslagen (HBL) gewährt. Aufgabe der Hilfe zum Lebensunterhalt ist es den Grundbedarf des täglichen Lebens für diejenigen zu decken, die nicht aus eigener Kraft oder mit eigenen Mitteln dazu in der Lage sind. Die Hilfe in besonderen Lebenslagen wird bei besonderen Bedarfssituationen gewährt und soll nicht Gegenstand der weiteren Betrachtungen sein. Der Beitrag beschränkt sich auf die Sozialhilfe im engeren Sinne, die im Folgenden gemeint ist, wenn von der Sozialhilfe gesprochen wird. Neben der Sicherung des Lebensunterhalts hat die Sozialhilfe das Ziel, die auf sie angewiesenen Menschen zu befähigen, soweit wie möglich unabhängig von ihr zu leben. Aus diesem Grunde ist die Hilfe zum Lebensunterhalt als vorübergehende Leistung konzipiert worden, die Menschen in Not hilft, ihre schwierige Lebenslage zu überwinden oder in einer schwierigen Übergangsphase ein menschenwürdiges Leben sicher zu stellen. 2 Diese zwei Funktionen sind der Grund dafür, dass in der Literatur und der öffentlichen Debatte, Sozialhilfe oft als "bekämpfte Armut" 3 bezeichnet wird, ohne dabei genau zu definieren, was unter Armut verstanden wird. I

2

Vgl. § 12 BSHG. Vgl. § 1 Abs. 2 BSHG.

310

Apostolos Tsalastras

Gleichzeitig wird die Sozialhilfe in vielen Publikationen zur Definition der Armutsgrenze herangezogen und die Sozialhilfequote mit der Armutsquote gleichgesetzt. In den weiteren Ausführungen wird untersucht, ob die Sozialhilfe den an sie gestellten Anforderungen gerecht wird. Es soll dargestellt werden, in welcher Form soziale Ausgrenzung trotz Sozialhilfebezugs oder durch Sozialhilfebezug stattfindet und in welcher Form die Überwindung von Ausgrenzung stattfinden kann. Dabei bleibt es Ziel, dass allen Menschen in dieser Gesellschaft ein Leben in Selbstverantwortung und die Verwirklichung des eigenen Lebensentwurfs so weit es geht ermöglicht werden soll. 2. Struktur und Ursachen des Sozialhilfebezugs Zur Darstellung von Ausgrenzungsstrukturen und Überwindungsstrategien bedarf es einer genauen Betrachtung der unterschiedlichen sozialen Gruppen mit ihren Lebenslagen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind und der Ursachen für diese Lebenslagen. Der Nationale Armutsbericht der Bundesregierung (NARB) bietet dafür zahlreiches Material, auf das im Folgenden u. a. zurückgegriffen wird. Die Armutsberichterstattung hat mit diesem auf Kontinuität angelegten Berichtswesen in der Bundesrepublik einen entscheidenden Schritt getan, der eine wichtige Grundlage für eine planvolle Sozialpolitik geworden ist. In Deutschland bezogen 1998 etwa 2,9 Mio. Menschen Sozialhilfe, was einer Sozialhilfequote von 3,5% entsprach.4 Diese Zahl berücksichtigt noch nicht alle Anspruchsberechtigten, da nach wie vor nicht bekannt ist, wie viele Menschen ihren Sozialhilfeanspruch nicht wahrnehmen. Die Schätzungen sind ziemlich ungenau, weshalb es sehr zu begrüßen ist, dass die Bundesregierung für den nächsten NARB versuchen wird anband einer Studie dieses Problem wissenschaftlich zu untersuchen. Grob geschätzt kann man davon ausgehen, dass noch mal genauso viel Menschen anspruchsberechtigt sind wie zur Zeit Sozialhilfe beziehen. Aussagekräftiger als die Gesamtzahl der Sozialhilfebezieher ist die unterschiedliche Betroffenheit verschiedener Personengruppen. Besonders auff~il­ lig ist die Tatsache, dass über ein Drittel der Sozialhilfebezieher Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind. Das sind 1,1 Mio. Kinder, was eine Sozialhilfequote von 6,8% bedeutet, während im Vergleich dazu nur 1,3% der über 65-jährigen Sozialhilfe beziehen. Damit sind Kinder die am stärks3 Vgl. Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, BRat-Drs. 328/01, s. 66. 4 Vgl. Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, BRat-Drs. 328/01, s. 67 ff.

Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängern

311

ten betroffene Bevölkerungsgruppe, was auf die schwierige Situation von Familien hinweist. Familien mit Kindern weisen mit einer Sozialhilfequote von 6,1 % gegenüber 4% für alle Haushalte ein höheres Sozialhilferisiko aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass über die Hälfte der Sozialhilfe beziehenden Kinder in Ein-Eltern-Familien leben. Damit haben wir den am meisten betroffenen Haushaltstyp in unserer Gesellschaft identifiziert. 18,4% aller Ein-Eltern-Haushalte bezogen 1998 Sozialhilfe. Damit war fast jeder fünfte Haushalt von Alleinerziehenden abhängig vom Sozialhilfebezug. Bei den Alleinerziehenden in der Sozialhilfe handelt es sich fast ausschließlich um Frauen (97%); sie stellen fast ein Viertel aller Bedarfsgemeinschaften. Bei ihnen stellen wir sogar eine Sozialhilfequote von 28,1 % fest, womit mehr als jede vierte alleinerziehende Mutter auf Sozialhilfe angewiesen ist. Im Gegensatz dazu waren nur 2,6% der Paarfamilien von Sozialhilfe betroffen. Nur Paare mit drei und mehr Kindern tragen mit 5,6% SH-Quote ein höheres Risiko.5 Eine zweite besonders betroffene Bevölkerungsgruppe sind die in unserer Gesellschaft lebenden Menschen ohne deutschen Pass. 9,1% der Ausländerl-innen beziehen Sozialhilfe, wobei festgehalten werden muss, dass hier nicht die Zahl der Bezieherl-innen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz berücksichtigt sind. Demgegenüber beträgt die Sozialhilfequote der deutschen Bevölkerung 3% was so viel wie eine dreifach so hohe Gefahrdung von Ausländern bedeutet. Von 1965 bis 1998 ist der Anteil der Ausländer unter den Sozialhilfebezieherl-innen in den alten Ländern von 3% auf 26% gestiegen. Damit ist jeder vierte Sozialhilfebezieher Ausländer. Besonders betroffen von Sozialhilfe sind demnach Kinder in Familien mit Migrationshintergrund. Während die Sozialhilfequote deutscher Kinder und Jugendlicher unter 18 Jahren bei 5,9% lag bezogen 14,1% der ausländischen Kinder Sozialhilfe. Bemerkenswert ist auch die Bezugsdauer bei den ausländischen Betroffenen. Trotz eines erhöhten Sozialhilferisikos ist die Verweildauer in der Sozialhilfe geringer, als bei deutschen Hilfeempfängerl-innen.6 Wenn hier der etwas unglückliche Begriff der Ausländerl-innen verwendet wird, so liegt das daran, dass nicht alle Migranten an dieser Stelle berücksichtigt werden. Während Asylbewerberl-innen unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, werden Aussiedlerl-innen als Deutsche erfasst, so dass sich über ihre Sozialhilfeabhängigkeit keine konkreten Aussagen treffen lassen. Aus der Erfahrung in den sozialen Arbeitsfeldern lässt sich jedoch feststellen, dass sich ihre soziale Situation nicht entscheidend von jener der ausländischen Bevölkerung unterscheidet. 5 6

Ebenda S. 69. Vgl. ebendaS. 69 f. und S. 135 ff.

312

Apostolos Tsalastras Tabelle 1 Sozialhilfequoten für ausgewählte Gruppen

Personengruppe

Anzah/1998

Sozialhilfequote

1998 Bundesrepublik

2,88 Mio.

3,5% 3,7%

Alte Länder

2,7%

Neue Länder Deutsche

2,22 Mio.

1994: 2,4 %

3,0%

Ausländer

0,66 Mio.

1994: 6,3%

9,1%

1980: 2,1%

Kinder< 18 Jahren

1,10 Mio.

-Deutsche

0,83 Mio.

- Ausländische

0,25 Mio.

Kinder < 3 Jahren Bezieher> 65 Jahre

14,1% 1991: 4,8%

9,5 % 1,3 %

0,17 Mio.

18,4%

Ein-Eltern-Familien Alleinerziehende Frauen

6,8 % 5,9%

1980: 19,0%

28,1 %

Paare mit 3 und mehr Kindem

5,6%

Paarfamilien

2,6%

Quelle: Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht 2001. 7

Neben der Identifikation der besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen und Haushaltstypen bedarf es einer Betrachtung der Ursachen, um weitere Schlüsse ziehen zu können. Hauptursache für den Sozialhilfebezug ist eindeutig Arbeitslosigkeit. So war für 37% der Hilfeempfangerl-innen in den alten Ländern und 56% in den neuen Ländern ein fehlender Arbeitsplatz die Ursache für den Erhalt von Sozialhilfe. Als weiterer entscheidender Grund für die Notlage von Hilfeempfangernl-innen werden Trennung bzw. Scheidung vom Lebenspartner oder die Geburt eines Kindes genannt. Aber auch ein zu niedriges Einkommen wird immer mehr zu einer Ursache für den Bezug ergänzender Sozialhilfe. Mittlerweile ist der Anteil der Bezieherl-innen mit geringem Einkommen auf 8,4% gestiegen. In den alten Ländern ist der Anteil der erwerbstätigen Hilfeempfängerl-innen von 6,6% in 1994 auf 8,6% in 1998 gestiegen. 8 Zahlen aus dem NARB zu einer Tabelle zusammengefasst. Vgl. Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, BRat-Drs. 328/01, s. 69-78. 7

8

Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängern

313

Tabelle 2

Erwerbsstatus der Sozialhilfeempfanger/-innen von 15-65 Jahren in 1998 Erwerbsstatus Erwerbstätig (8,4%) Arbeitslos (40,2%) Nicht erwerbstätig (51,4%)

Anteile in%

Anzahl

Vollzeit

3,9

69.000

Teilzeit

4,5

79.000

Mit AFG-Leistungen

16,1

285.000

Ohne AFG-Leistungen

24,0

424.000

Aus- und Fortbildung

6,1

108.000

15,7

276.000

Krankheit

7,7

136.000

Alter

1,6

29.000

20,4

360.000

Häusliche Bindung

Sonst. Gründe Quelle: Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht 2001.9

Die Dauer der Arbeitslosigkeit steigt mit dem Alter der Betroffenen und korrespondiert mit der Bezugsdauer von Sozialhilfe. Je älter die Betroffenen sind, um so länger ist ihr Sozialhilfebezug. Bei genauer Betrachtung stellt man fest, dass die wesentliche Hürde, einen Erwerbsarbeitsplatz zu erhalten, die mangelnde schulische und berufliche Qualifikation ist. 51,5% haben einen Volks- bzw. einen Hauptschulabschluss und 13,3% haben gar keinen Schulabschluss. Damit haben Sozialhilfeempfängerl-innen einen deutlich niedrigeres Bildungsniveau als der Bevölkerungsdurchschnitt. Noch schwieriger stellt sich die Situation bei der Berufsausbildung der Hilfeempfängerl-innen dar. 52,8% besitzen keinen Berufsabschluss. Dies ist eine Entwicklung, die sich in den letzten zehn Jahren immer weiter zugespitzt hat. 10 Besonders dramatisch erweist sich die Situation der ausländischen Sozialhilfebezieherl-innen. 81,3% beziehen Sozialhilfe aufgrund ihrer Erwerbslosigkeit. Damit ist die Erwerbslosenquote unter ihnen fast doppelt so hoch wie bei den Deutschen. Hauptursache für die hohe Erwerbslosenquote ist die fehlende sprachliche, schulische und berufliche Qualifikation. 11 Die Schul- und Berufsausbildung der ausländischen Hilfeempfängerl-innen ist noch geringer als die der deutschen, was ihre Chancen auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt noch weiter verschlechtert. Ebenda S. 71. Ebenda S. 76 ff. 11 Ebenda S. 137 ff.

9

IO

314

Apostolos Tsalastras Tabelle 3

Schul- und Berufsabschlüsse deutscher und ausländischer Hilfeempfängerl-innen in 1998 Schulabschlüsse

Deutsche Hilfeempfängerl-innen

Ausländische Hilfeempfängerl-innen

Kein Schulabschluss

10,9%

25,0%

Volks- und Hauptschule

54,0%

40,0%

Höhere Abschlüsse

35,7%

35,1%

Kein Berufsabschluss

50,4%

63,0%

Abgeschlossene Lehre

40,4%

23,5%

9,2%

13,8%

Berufsabschlüsse

Höherer Abschluss

Quelle: Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht 2001Y

3. Gesellschaftliche Ausgrenzung von SozialhilfeempfängerI -innen Um Ausgrenzung erfassen und darstellen zu können, ist eine Sozialberichterstattung unerlässlich. Die Bundesregierung hat mit dem NARB einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet. In ihm finden sich zahlreiche Belege über die Ausgrenzung von Menschen in unserer Gesellschaft. Doch auch die zahlreichen Studien und Berichte der Wohlfahrtsverbände und der Wissenschaft sind unerlässlich, um das soziale Bild unserer Gesellschaft zu vervollständigen. Für die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung benötigt man jedoch auch genauere Darstellungen auf der örtlichen Ebene. Die kommunale Sozialberichterstattung ist unverzichtbar, um konkrete Erkenntnisse über die Situation vor Ort zu bekommen. Die nachfolgenden Betrachtungen basieren auf den Ergebnissen des NARB, dem Sozialbericht 2000 der AWO zur Kinderarmut13 und zahlreichen kommunalen Berichten und Analysen. Obwohl die Sozialhilfe den Anspruch erhebt, Armut zu bekämpfen, sind Sozialhilfeempfängerl-innen von sozialer Ausgrenzung betroffen. Wir verstehen darunter den fehlenden oder eingeschränkten Zugang zu Gütern materieller und immaterieller Art sowie die Einschränkung von Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft.

12 13

Zusammengestellt aus den Zahlen im NARB. "Gute Kindheit - Schlechte Kindheit" AWO-Sozialbericht 2000.

Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängern

315

Der NARB macht deutlich, dass die Sozialhilfe aufgrund ihrer materiellen Ausstattung nur ein Einkommen ermöglicht, dass unterhalb aller bekannten relativen Armutsgrenzen liegt (siehe Tabelle 4). Die Höhe der Regelsätze entspricht seit Anfang der neunziger Jahre nicht mehr den gesetzlich festgeschriebenen Anforderungen zur Regelsatzanpassung. Während das Statistikmodell den Versuch darstellte, die Regelsätze am Verbrauch der Haushalte im unteren Einkommensbereich zu orientieren, hat die Bundesregierung mit ihrer Entscheidung 1993 die Regelsätze zu deckeln und später an der Rentenentwicklung zu orientieren, diesen Versuch außer Kraft gesetzt. Das Resultat ist, dass seither die Regelsätze hinter der realen Entwicklung zurückgeblieben sind und eine Bedarfsunterdeckung eingetreten ist. Damit einher ein geht eingeschränkter Zugang zu Gütern des täglichen Bedarfs. 14 Fehlende und falsche Ernährung vor allem der Kindem vieler Sozialhilfeempfänger ist die Folge. 15 Während sich die Wohnungsversorgung von Sozialhilfeempfängern aufgrund des sozialen Wohnungsbaus im Laufe der Jahre stark verbessert hat, gibt es dennoch Unterschiede in der Ausstattung mit Gütern und in der Wahrnehmung von Dienstleistungen. Als weiteres Ergebnis der schlechten materiellen Ausstattung ist eine schlechtere Gesundheitsversorgung von Sozialhilfeempfängeml-innen. Die schlechtere Gesundheitslage resultiert nicht nur aus einer erhöhten Gefährdungslage aufgrund des psychischen Drucks sondern auch aus der Tatsache, dass Gesundheitsdienste und Vorsorge von Sozialhilfeempfängernl-innen weniger in Anspruch genommen werden als vom Rest der Bevölkerung. 16 Aus Unkenntnis aber auch aufgrund repressiven Verhaltens zahlreicher Sozialämter werden Hilfeempfänger von Angeboten der gesundheitlichen Versorgung ausgeschlossen; auch wenn das BSHG ihnen dies zusichert. Besonders dramatisch ist die Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängernlinnen vom Erwerbsleben. Auch wenn das Arbeitskräftepotential in der öffentlichen Debatte verzerrt dargestellt wird, gibt es viele Menschen in der Sozialhilfe, die einen Arbeitsplatz suchen und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Vgl. Studie des DPWV. Vgl. AWO-Sozialbericht 2000, S. 50 ff. 16 Vgl. Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, BRatDrs. 328/01, S. 124. 14

15

1.117

1.103

1.100

Lebensgemeinschaft mit !Kind

Lebensgemeinschaft mit 2 Kindern

Lebensgemeinschaft mit 3 Kindern

-------L........

1.120

Lebensgemeinschaft ohne Kinder

--

1.297

Alleinstehend mit 2 Kindern zw. 7 u. 13 Jahren

--

1.315

Alleinstehend mit 1 Kind unter 7 Jahren

-----·-----

1.210

1.210

Alleinstehend

1.100

1.103

1.117

1.120

1.297

1.315

1.754

1.290

1.462

1.100

1.103

1.117

1.120

1.297

1.315

1.210

60% Mittelw.

50% Median

1.100

1.103

1.117

1.120

1.297

1.315

1.210

1.547

60% Median

Äquivalenzeinkommen laut alter OECD-Skala in DM

50% Mittelw.

Haushalt

1.466

1.418

1.366

1.269

1.621

1.517

1.210

1.707

50% Mittelw.

1.466

1.418

1.366

1.269

1.621

1.466

1.418

1.366

1.269

1.621

1.517

1.210

1.210 1.517

2.048

60% Mittelw.

1.519

50% Median

1.466

1.418

1.366

1.269

1.621

1.517

1.210

1.822

60% Median

Äquivalenzeinkommen laut neuer OECD-Skala in DM

Tabelle 4 Armutsschwellen und Sozialhilfeanspruch

3.519

2.978

2.458

1.904

2.594

1.972

1.210

Sozialhilfeanspruch 17

w ......

"'

~

"'a

"' >-l

~

> '8

0\

Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfangern

317

Tabelle 5 Arbeitskräftepotential zum Jahresende 1998 für 18- bis 59jährige Empfänger laufender Hilfe zum Lebensunterhalt

2.879.000

-Minderjährige -Personen über 60 Jahre

1.073.000 279.000

= Personen im Alter von 18-59 Jahren

1.527.000

- Nichterwerbstätige wegen häuslicher Bindung

273.000

- Nichterwerbstätige wg. Krankheit, Behinderung, Arbeitsunfahigkeit

112.000

= (Brutto )Arbeitskräftepotential

- Erwerbstätige (Voll- und Teilzeit) - Nichterwerbstätige wegen Aus- und Fortbildung

1.141.000

144.000 48.000

(Netto )Arbeitskräftepotential Bestehend aus

=

949.000

- Arbeitslosen

679.000

- Nichterwerbstätigen aus sonstigen Gründen

270.000

Quelle: Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht 2001. 18

Zwei Drittel der arbeitslosen Sozialhilfeempfanger/-innen haben keinen Zugang zu Leistungen des SGBIII (Arbeitsförderung), was ihnen die Chance auf Wiedereingliederungsmaßnahmen und Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt nimmt. Obwohl das BSHG mittlerweile mit den §§18 ff. (Hilfe zur Arbeit) einen umfangreichen Katalog von Maßnahmen ermöglicht, ist das Instrument der Beschäftigungsförderung in der Praxis noch nicht ausreichend entwickelt. Auch wenn viele Kommunen mittlerweile ein ausdifferenziertes System zur Beschäftigungsförderung und der Vermittlung in den Arbeitsmarkt entwickelt haben und eine enge Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt praktizieren, glauben die meisten Kommunen das Instrument der Hilfe zur Arbeit sei ein Abschreckungsinstrument, um Sozialhilfeempfängerl-innen den Bezug zu verleiden. Statt Hilfeplan, Ausstiegsberatung und passgenaue 17 Der dargestellte Sozialhilfeanspruch setzt sich zusammen aus Durchschnittswerten nach dem NARB S. 319, die Armutsschwellen nach dem Äquivalenzeinkommen von S. 38. Umrechnung der Sozialhilfe anband der neuen und alten Äquvalenzskalen der OECD. Gewichtung alte OECD-Skala: Bezugsperson = 1; Person ab 15J = 0,7; Person unter 15J = 0,5. Gewichtung nach neuer OECD-Skala: Bezugsperson= I; Person ab ISJ = 0,5; Person unter 15J = 0,3. 18 Vgl. Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, BRatDrs. 328/01, S. 73.

318

Apostolos Tsalastras

Vermittlung sind oft diskriminierende Hilfsjobs ohne Zukunftsperspektive an der Tagesordnung. Das neue Job-AQTIV-Gesetz und das Gesetz zur Verbesserten Zusammenarbeit zwischen Sozial- und Arbeitsämtern weisen einen neuen Weg, der in der Arbeitsmarktpolitik in die richtige Richtung geht. Besonders problematisch wirkt sich für alleinerziehende Frauen der in

§ 18 Abs 3 BSHG geregelte Vorrang der Erziehungsaufgaben vor der Ein-

gliederung in den Arbeitsmarkt. Dadurch werden sie von allen Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung ferngehalten, was sowohl die Dauer ihres Sozialhilfebezuges verlängert wie auch ihre Eingliederungschancen drastisch verschlechtert. Zu diesem Umstand kommen der unflexible Arbeitsmarkt, die geringen Hinzuverdienstmöglichkeiten und unzureichende Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren und im Schulalter hinzu. Frauen finden in der Regel keine Teilzeitjobs, die eine Arbeitszeit nach ihren Bedürfnissen gestalten und ein ausreichendes Einkommen ermöglichen. Für viele lohnt sich eine Beschäftigung auch gar nicht, weil die geringen Hinzuverdienstmöglichkeiten im deutschen Sozialhilferecht, ihnen kaum ein höheres Einkommen ermöglichen als in der Sozialhilfe ohne Erwerbstätigkeit. Die Vereinbarkeit von Farnilie und Beruf bzw. Erwerbstätigkeit ist insbesondere für alleinerziehende Frauen kaum realisierbar. 19 Bereits in der Darstellung der Ursachen von Sozialhilfebezug ist die geringe Schul- und Berufsqualifikation aufflillig. Damit sind die zukünftigen Zugangsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen im Sozialhilfebezug in den Arbeitsmarkt stark eingeschränkt und eine Arbeitslosen- und Sozialhilfekarriere ist frühzeitig vorgezeichnet. Die Zukunftschancen dieser Kinder sind bereits vorgezeichnet und Perspektivlosigkeit macht sich breit. Der NARB zeigt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Ausbildung der Eltern und den Bildungschancen der Kinder. 20 Schon in den Kindertagesstätten ist festzustellen, dass Kinder aus sozial schwachen Familien, besonders verhaltensauffällig sind und sowohl sprachlich wie auch körperlich oft hinter gleichaltrigen in der Entwicklung zurückliegen. Ihre Chancen auf einen qualitativ hohen Bildungsabschluss sind unterdurchschnittlich ausgeprägt. Es ist eindeutig zu beobachten, dass die Bildungskarrieren von Kindern aus Familien, in denen geringe Schul- und Bildungsabschlüsse vorherrschen, vorgezeichnet ist. Lebenslagen und Bildungsabschlüsse werden über die Generationen weitergegeben und es entsteht ein Teufelkreis der Armut, der von allein nicht durchbrachen werden kann. Völlig zu Recht wird darauf verwiesen, dass Bildung der Schlüsselfaktor zur Überwindung einer schwierigen sozialen Lebenslage ist. 21 19 Vgl. Nationaler Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, BRatDrs. 328/01, S. 69 ff., S. 82 f., S. 93 ff., S. 102 ff. 20 Ebenda, S. 93 ff.

Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängern

319

Neben Bildung ist Mobilität einer der Schlüsselfaktoren für die gesellschaftliche Integration geworden. Aufgrund der hohen Kosten für die Haltung eines eigenen Fahrzeugs oder die Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sind viele Sozialhilfeempfängerl-innen an ihren engeren Sozialraum gebunden. Die Möglichkeit der Arbeitsplatzsuche ist ebenso eingeschränkt wie die Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Ereignissen. Während in der Vergangenheit Sozialhilfeempfängernl-innen und Menschen mit geringem Einkommen besondere Nutzungsmöglichkeiten des ÖPNV ermöglicht wurden, stehen solche Angebote in den Kommunen immer öfter zur Disposition. Dadurch werden immer mehr Menschen aus der Gesellschaft herausgedrängt und soziale Lagen verfestigt. Besonders deutlich wird die Ausgrenzung an der gesellschaftlichen Teilhabe, wenn die Wahlbeteiligung in Stadtteilen mit hoher Sozialhilfequote betrachtet wird. In den letzten Jahren ist die Wahlbeteiligung in diesen Stadtteilen permanent zurückgegangen. Dieser bewusste Verzicht auf Teilnahme, zeigt, wie wenig gerade diese Bevölkerungsgruppe von der Gesellschaft erwartet und ist ein eindeutiger Indikator für gesellschaftliche Ausgrenzungstendenzen. Dies sind nur ein Teil der beobachteten Ausgrenzungsformen. Sie betreffen Migrantenl-innen im Sozialhilfebezug noch umfangreicher. Der Anteil der von Ausgrenzung Betroffenen ist in jedem dargestellten Beispiel weit höher als der Anteil Deutscher. Je nach Aufenthaltstatus kommt auch noch der psychische Existenzdruck hinzu. Besonders der permanente Ausweisungsdruck für Sozialhilfeempfängerl-innen ohne deutschen Pass und nicht verfestigtem Aufenthaltstitel dürfte für eine enorme Dunkelziffer unter der ausländischen Bevölkerung führen. Viele werden aus Angst vor Ausweisung auf einen Sozialhilfeanspruch verzichten. In den Betrachtungen der Ausgrenzung stendenzen sind nicht die dramatischen Ausgrenzungsformen der Asylbewerberl-innen im Asylbewerberleistungsgesetz berücksichtigt. Die dargestellten Ausgrenzungserscheinungen erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, machen aber deutlich genug, dass der Bezug von Sozialhilfe mit bekämpfter Armut nur zum Teil in Verbindung gebracht werden kann. Zumal die Formen der Ausgrenzung zu einer Verfestigung von Armut beitragen. So kann festgehalten werden, dass Armut zu Ausgrenzung führt und Ausgrenzung Armut verfestigt. Ein Teufelskreis entsteht, der ohne aktives Handeln nicht durchbrachen werden kann. Ursprünglich war die Sozialhilfe als Übergang gedacht, der den Menschen, Hilfe in einer Notlage gewährte, um sich aus dieser zu befreien. Die Entwicklung der letzten 20 Jahre hat diese Konzeption überfordert. Die vorgelagerten Sicherungssysteme grenzen immer mehr Menschen von ihren 21

Vgl. AWO-Sozialbericht 2000, S. 61 ff.

320

Apostolos Tsalastras

Leistungen aus und belasten so die Sozialhilfe als Grundsicherung unserer Gesellschaft und letztes Auffangnetz. Mittlerweile erhalten fast drei Millionen Menschen Sozialhilfe, von denen eine Million Kinder und Jugendliche sind. Nicht nur die soziale Entwicklung hat damit eine inakzeptable Situation erreicht; auch die kommunalen Finanzen werden dadurch in eine besonders schwierige Lage gebracht. Zwar ist der Sozialhilfebezug der meisten Betroffenen nur von kurzer Dauer, sie hat sich aber auch für einen nicht geringen Teil der Sozialhilfebezieherl-innen zu einer Art Rente entwickelt, die über viele Jahre hinweg notwendig geworden ist, um den Lebensunterhalt abzusichern. 22 Sozialhilfe ist damit für viele Menschen weder bekämpfte Armut noch eine kurzfristige Hilfe zur Überwindung einer Notlage sondern fast schon eine lebensbegleitende Rente mit einzelnen Unterbrechungen. Mittlerweile werden sogar generationenübergreifenden Sozialhilfekarrieren beobachtet. 4. Strategien zur Überwindung der Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängerl-innen 4.1 Materielle Verbesserungen

Eine Fonn des Abbaus der Ausgrenzung von Sozialhilfeempfangerl-innen ist eine verbesserte materielle Ausstattung. Dies kann durch die Erhöhung der staatlichen Transferleistungen oder durch den Erhalt eines ausreichenden Erwerbseinkommens geschehen. Um die materielle Ausstattung verbessern zu können sind einige sozialpolitische Änderungen notwendig. Die Sozialhilfe sollte nicht mehr wie bisher der Ausfallbürge für das Versagen der vorgelagerten Sicherungssysteme sein. In den vorgelagerten Systemen sind Grundsicherungen einzuziehen, die auf dem Niveau der jetzigen individuellen Sozialhilfeschwelle die Existenzsicherungsfunktion übernehmen. Das bedeutet, dass sowohl in der Rente wie auch in der Arbeitslosenversicherung niemand aufgrund zu geringer Ansprüche ergänzende Sozialhilfe erhalten muss. Die Bundesregierung ist mit der Einführung der Grundsicherung für alle über 65jährigen und Erwerbsunfähigen einen entscheidenden Schritt in diese Richtung gegangen. Die Transferleistungen im Arbeitsförderungsrecht müssen diesem Beispiel folgen. Nach wie vor sollte die Sozialhilfe eine nachrangige Leistung sein. Grundsätzlich gilt, dass jeder verpflichtet ist, soweit ihm möglich, seinen Unterhalt durch Arbeit bzw. ein eigenes Einkommen und vorhandenes Ver22

des.

Vgl. "Reform der Sozialhilfe", 2000, Stellungnahme des AWO-Bundesvorstan-

Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängern

321

mögen zu sichern. Auch Leistungen aus anderen Sicherungssystemen sowie vorhandene Unterhaltsverpflichtungen haben Vorrang vor der Inanspruchnahme der Sozialhilfe. Im Rahmen der Grundsicherung für Menschen ab dem 65. Lebensjahr und Erwerbsunfähige entfallt berechtigterweise die Unterhaltsverpflichtung. Sie erhalten, wenn sie kein ausreichendes Einkommen haben und unterhalb einer zu bestimmenden Vermögensgrenze liegen, eine bedarfsorientierte Mindestrente. Damit soll verschämte Armut überwunden werden. Bisher haben viele ältere Menschen Sozialhilfe nicht in Anspruch genommen, weil sie die Befürchtung hatten, dass ihre Kinder in Anspruch genommen werden. Die Sozialhilfe sollte in Zukunft pauschal ausgezahlt werden. Die neuen Regelsätze sollen den jetzigen Einmalbedarf und den Regelsatz zu einer Pauschale zusammenfassen. In die Pauschale dürfen aber nicht die Miete und die Mietnebenkosten einbezogen werden, die analog zur Wohngeldregelung an Höchstgrenzen orientiert mit ihrem tatsächlichen Aufwand übernommen werden. Die Höhe der pauschalen Sozialhilfe soll wie bisher orientiert sein am Existenzminimum, das eine kulturelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Das Prinzip der statistischen Ermittlung des kulturellen Existenzminimums anband der Einkommensverbrauchsstatistik (EVS) als Basis der Festlegung der Sozialhilferegelsätze soll wieder Anwendung finden, damit die jahrelange Deckelung der Regelsätze wieder durch ein bedarfsorientiertes System ersetzt wird. Darüber hinaus sollte sichergestellt werden, dass niemand auf Sozialhilfe angewiesen ist, nur weil Kinder im Haushalt leben. Das bedeutet, dass Familienleistungen erhöht werden und die Betreuungs- und Erziehungsaufgaben der Eltern ausreichend auch in Familien im unteren Einkommensbereich finanziell ausgeglichen werden. So wird sichergestellt, dass Kinder nicht mehr im Sozialhilfebezug sind, da sie andere Transferleistungen erhalten. Die Erhöhung der Sozialhilfe als auch anderer Transferleistungen hat neben dem positiven Aspekt einer besseren materiellen Ausstattung auch Nachteile. Im Fall einer Sozialhilfeerhöhung besteht die berechtigte Befürchtung einer Diskussion über einen Verstoß gegen das Lohnabstandsgebot Es gibt dazu unterschiedlichste Untersuchungen, die alle zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Wenn man aber das Lohnabstandsgebot als Gegenargument zu einer Sozialhilfeerhöhung bemüht, muss man sich aber auch die Frage gefallen lassen, ob nicht mittlerweile die Erwerbseinkommen zu niedrig sind. Die steigende Zahl der Menschen unterhalb der Armutsschwelle trotz Erwerbstätigkeit lässt einen solchen Schluss mittlerweile zu. Bei aller Notwendigkeit zu einer materiellen Verbesserung muss bedacht werden, dass eine Erhöhung der Sozialhilfe kaum zu einem Abbau der so21 Seil (Hrsg.)

Apostolos Tsalastras

322

zialen Ausgrenzung führen würde. Die Formen der Ausgrenzung, die im vorigen Kapitel aufgezeigt worden sind, können nicht durch finanzielle Transfers, sondern müssen durch strukturelle Veränderungen und konkrete Hilfeleistungen überwunden werden. Wenn die Erhöhung der Transfers zur Folge hätte, dass an Fördermaßnahmen, Beratungsstellen und sozialen Diensten gespart werden muss, dann wären solche finanziellen Verbesserungen kontraproduktiv. Diese Gefahr verschärft sich vor allem dann, wenn die enge Verknüpfung zwischen Sozialhilferegelsätzen und steuerlichem Existenzminimum erhalten bleibt. Mit einer Sozialhilfeerhöhung geht ein Milliardenverlust bei der Einkommensteuer einher, da der existenzielle Steuerfreibetrag erhöht werden müsste. 4.2 Aktivierende Sozialpolitik23

Wesentlich wirkungsvoller als eine reine Erhöhung von Transferleistungen ist eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt mit einem ausreichenden Erwerbseinkommen. Auch wenn das Erwerbspersonenpotential nur 950.000 von 2,9 Mio. beträgt24, so muss doch berücksichtigt werden, dass ein großer Teil der Kinder in der Sozialhilfe in Familien mit mindestens einem arbeitslosen Elternpaar lebt. Dabei wird es wesentlich darauf ankommen, Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Dies bedarf sicherlich eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums, das aber mit einer gerechteren Verteilung der Erwerbsarbeit kombiniert werden muss. Dazu gehören sicherlich neue Arbeitszeitregelungen, Überstundenabbau, Flexibilisierung und eine stärkere Beteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Zu einer Reform der Sozialhilfe gehört auch ein Anreizsystem, das Beschäftigung belohnt. Wer ein zu geringes Einkommen aus dem 1. Arbeitsmarkt erhält, der soll einen Zuschuss in Form ergänzender Sozialhilfe erhalten. Besonders die Integration Jugendlicher in berufliche Ausbildung und Qualifizierung bedarf flexibler, dem Arbeitsmarkt angepasster Entlohnung (Qualifizierungstarifverträge), die sich an den Ausbildungsvergütungen in der Wirtschaft orientieren. Ergänzende Hilfen als Anreiz zur Umsetzung des Hilfeplans und der Sicherstellung der Ausbildung sind dringend erforderlich. Alle Menschen haben das Recht in das gesellschaftliche Leben integriert zu werden. Wir gehen davon aus, dass neben der finanziellen Absicherung des Lebensunterhalts auch die Bereitstellung einer Beschäftigung oder an23

des. 24

Vgl. "Reform der Sozialhilfe", 2000, Stellungnahme des AWO-BundesvorstanVgl. Tabelle 4.

Überwindung sozialer Ausgrenzung von Sozialhilfeempfängern

323

gemessener Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit elementarer Bestandteil einer sozialen Integrationspolitik sind. Arbeitslose, die auf dem Arbeitsmarkt keinen Arbeitsplatz finden, sollen einen Anspruch auf eine Hilfemaßnahme nach einem vereinbarten Hilfeplan haben, die auch eine Beschäftigung oder Aus-/Fortbildung vorsieht. Sie sollen aber auch verpflichtet werden, nach einer Zumutbarkeits- und Fristenregelung partnerschaftlieh an der Erarbeitung eines Hilfeplans mitzuwirken. Wer den Hilfeplan und/oder eine angebotene Arbeit ablehnt, dessen Soziaihilfeanspruch kann bzw. sollte eingeschränkt werden. Anspruch auf Hilfe zur Arbeit haben alle arbeitslosen Sozialhilfeempfänger/-innen. Ein Ausstieg aus der Vereinbarung von Seiten der Arbeitslosen ist jederzeit möglich, falls eine andere Alternative gefunden worden ist. Die kommunale Sozialberatung stellt den Rahmen für ein Hilfeplanverfahren zur Verfügung. In einer "Leitstelle für Arbeit"25 "Sozialagentur"26 oder "Job-Börse'm, wie sie in verschiedenen Kommunen heißen, wird eine Potentialanalyse durchgeführt, die die Fähigkeiten und Stärken des Einzelnen feststellt und notwendige Hilfsmaßnahmen aufzeigt. Falls erforderlich werden in Fallkonferenzen aus Sozialamt, Arbeitsamt und freien Trägem die notwendigen Hilfsmaßnahmen koordiniert. Es folgt ein auf den Einzelfall angepasster Hilfeplan, der zwischen der "Leitstelle" und dem/der Hilfesuchenden vereinbart wird. Die Hilfeplanvereinbarung ist verbindlich in das BSHG und SGB III aufzunehmen und für alle arbeitsfähigen Grundsicherungsbezieher/-innen zu erstellen. Der Hilfeplan enthält die Potentialanalyse und alle notwendigen Beratungs- und Hilfsmaßnahmen. Das Hilfeplanverfahren muss eine konkrete verbindliche Ausstiegsvereinbarung zwischen Betroffenem und Sozialberatung vorsehen. Das Sozialamt hat die Pflicht der ausführlichen Information, damit das Recht auf eine Hilfeplanvereinbarung nicht zu einer willkürlichen Arbeitspflicht umgewandelt wird. In Zusammenarbeit mit freien Trägem ist ein Beratungssystem aufzubauen, das ausführlich über Rechte und Pflichten informiert und die Hilfeempfängerl-innen bei der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit l:>egleitet. Um die Wirksamkeit der Hilfepläne sicherzustellen, sollen Regelungen der Sozialhilfe und des SBG III zusammengeführt und vereinheitlicht werden, um eine möglichst optimale Umsetzung gewährleisten zu können. 25 Kommunale Leitstelle zur Beschäftigungsförderung von Sozialhilfeempfängerlinnen in Freiburg. 26 Modellprojekt der Landesregierung NRW. 27 Arbeitsvermittlung der Stadt Köln in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt und Freien Trägem. Darüber hinaus gibt es neues Projekt das Job-Center, das gemeinsam von Stadt Köln und Arbeitsamt betrieben wird. 21•

324

Apostolos Tsalastras

Alle Arbeitslosen erhalten in der Beschäftigungsförderungsstelle (Leitstelle für Arbeit), die von Sozial- und Arbeitsamt gemeinsam geführt wird, beschäftigungs- und ausbildungsfördernde Leistungen oder werden in den Arbeitsmarkt vermittelt. Beim Arbeitsamt werden die Bereiche der finanziellen und Beratungsleistungen vor Ort voneinander getrennt. Die Leistüngen zur Beschäftigungsförderung werden in einer vom örtlichem Arbeitsamt und Sozialamt gemeinsam geführten Beschäftigungsförderungsstelle (Leitstelle für Arbeit) organisiert und wo nötig mit dem Jugendamt koordiniert. In Stadtteilen oder kreisangehörigen Städten mit besonderen sozialen Brennpunkten werden Filialen der Leitstelle eingerichtet, um eine dezentrale Anlaufstelle zu haben. Die Aufgaben der "Leitstelle für Arbeit" sind Hilfeplanvorbereitung, Potentialanalyse, Job-Akquise, passgenaue Vermittlung in den Arbeitsmarkt oder in eine Beschäftigungsfördermaßnahme und darüber hinaus sogar die Schaffung und Erfindung von Arbeitsplätzen (Job-Creation, vor allem im Bereich einfacher und sozialer Dienstleistungen), um Menschen im zweiten Arbeitsmarkt zu beschäftigen. Viele Langzeitarbeitslose benötigen eine lange Vorlaufphase, bis eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt überhaupt denkbar wird. Für die Organisation neuer Arbeitsplätze bedarf es einer engen Kooperation zwischen der Leitstelle, den Wohlfahrtsverbänden mit ihren sozialen Diensten und der lokalen/regionalen Wirtschaft. Während das Sozialamt für die Umsetzung des Hilfeplans im Bereich der notwendigen Sozialen Hilfen zuständig ist, hat die "Leitstelle für Arbeit" die Aufgabe, passgenaue Vermittlung von Arbeit und Maßnahmen der Beschäftigungsförderung zu organisieren. Die Bundesanstalt für Arbeit finanziert alle notwendigen Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung, während die soziale Arbeit (Schuldnerbeartung, Obdachlosenhilfe, Drogenberatung, Streetwork etc.) mit Iandes- und kommunalen Mitteln zu finanzieren ist. Zugang zur "Leitstelle für Arbeit" und zu ihren Leistungen haben alle Arbeitslosen. Mit dieser gemeinsamen Einrichtung wird die Zuordnung an verschiedene Träger vermieden und die gemeinsame Verantwortung in den Vordergrund gestellt. Für einige besonders von Ausgrenzung betroffenen Gruppen sind besondere zusätzliche Maßnahmen erforderlich. So sind gerade zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf bessere bedarfsgerechte Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder von Alleinerziehenden erforderlich. Auch flexiblere den Anforderungen Alleinerziehender gerechter Arbeitszeiten sind notwendig, um dieser besonders gefährdeten Gruppe eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen. Darüber hinaus sind Beschäftigungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten zum Erhalt der Beschäftigungsfahigkeit dringend erforderlich, ansonsten droht der Anschluss an den Arbeitsmarkt verloren zu

I

V

~

V

ArbeMolos • \

versichert

Art>e~SIOSI-\

unversichert

ArDitSIOSI

I---Aufgaben

Filiale in Stadtteilen mit bes. sozialen Problemen

erwerbsfähig

I

HiWeplanvereinbarung/ allkonferenzen

führt durch

entwicken

Aufgaben einer Leitstelle

führt durch

c:r

- Hineplanvorberei\Jng - Potentialanalyse - Joi>-Akquise - pessgenaue Vermittlung in Job

Aufgaben

Lehstelle für Arbeit Sozialamti w•rwerbsfähig -~ Jugendamt u. Arbehsamt

Datenaustausch geminsame Datenbank

Arbehsamt

Sozialamti kommunale Sozialberatung

4

'

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Beschäftigungs- und Ausbildungsförderung Qualifikation gemeinnützige Arbeh

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Soziale HIHan (Schuldner-, Drogenberatung, Wohnungslosen-hine, etc.)

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