Von der "Leutenot" und der "Not der Leute": Armut in Nordostdeutschland 9783205792000, 9783205784647

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Von der "Leutenot" und der "Not der Leute": Armut in Nordostdeutschland
 9783205792000, 9783205784647

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Simone Kreher (Hg.)

Von der „Leutenot“ und der ­ „Not der Leute“

Armut in Nordostdeutschland

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Die Untersuchung/das Projekt wurde durch die DFG gefördert, die Konferenz durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung

Gedruckt mit Unterstützung durch die Hochschule Fulda Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-205-78464-7

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­ setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von A ­ bbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com Coverabbildung: © Roger Melis, Berlin Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier.

Druck: Generál, HU-6726 Szeged

Inhalt Von der »Leutenot« und der »Not der Leute« – ­Ländliche Armut in Nordostdeutschland 7

Simone Kreher

Von der Interessengemeinschaft zum Interessengegensatz. Max Webers Landarbeiter-Enquêten von 1892 . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dirk Kaesler

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Was passiert, wenn Regionen „verarmen“? Überlegungen zur Verknüpfung von Armuts- und Regionalforschung . . . . . . . . 37

Stephan Beetz

Armut und Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands. Theoretische Kontexte und Herausforderungen eines Projektes zur Armutsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Simone Kreher

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen ­Verzeitlichung und Verstetigung? Befunde aus der Analyse prozessproduzierter Ereignisdaten . . . . . . . . . . . 105

Simone Kreher

Facetten von Prekarität und Armut bei ostdeutschen ­Frauen – Rekonstruktion dreier Fallgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Simone Kreher, Bettina Brünner und Katharina Matthäus

Armut nach gesetzlicher Lesart – ländliches Prekariat – ­Unterschicht? Zur Wahrnehmung von Armut und zur sozialen Konstruktion der/des Armen in der ostdeutschen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Simone Kreher und Katharina Matthäus

Aufstieg auf Widerruf? Soziale Mobilität und Tradierung von Armut in der Familiengeschichte der Fähre-Böhmes . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Ana Lúcia Mazur und Simone Kreher

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Inhalt

Handlungsspielräume und Paradoxien bei den „Modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ – Fallmanagement im ländlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Birgit Storr

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ­ Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Thomas Elkeles, Michael Popp, Enrica Hinz, Christof Röttger, unter Mitarbeit von Maik Paulitschke

Beschäftigungswandel in der ostdeutschen Landwirtschaft – zwischen radikalem Arbeitsplatzabbau und aufkommender „Leutenot“ . . . . . . . 305

Theodor Fock

„Auf dem Land die Tradition, in der Stadt der Trend?“ Die Suche nach einer typisch ländlichen Ernährungsweise . . . . . . . . . . . . 317

Angela Häussler

Bildungsnöte auf dem Lande. Über die Bildungssituation in Mecklenburg-Vorpommern . . . . . . . . . . . . 331

Beate Krais

Armutsräume. Konsequenzen für die Gesellschaftsanalyse und die soziologische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Sighard Neckel

Die AutorInnen des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

Von der „Leutenot“ und der „Not der Leute“ – ­ Ländliche Armut in Nordostdeutschland Simone Kreher Mehr als zwei Jahre begleitet mich nun Roger Melis’ Bild der Landarbeiter in der Uckermark aus dem Jahre 1975, das ich am 7. Februar 2008 gemeinsam mit ihm bei unserem ersten persönlichen Zusammentreffen in seinem Atelier für das Plakat der interdisziplinären Fachtagung „Leutenot“ und „Not der Leute“. Lebensverhältnisse im ländlichen Raum Nordostdeutsch­ lands, die vom 2. bis 4. Juli 2008 am Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg in Greifswald stattgefunden hat, ausgewählt habe. Noch länger, geschätzte fünf Jahre, beschäftigte mich, die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die beteiligten Studierenden die Frage, welche Art von Armut, welche Facetten prekären Lebens und welche Verarmungserscheinungen wir mit unserem Projekt in ländlichen Gebieten Ostvorpommerns tatsächlich würden erfassen und auf unsere Weise erforschen können.1 Das eindrucksvolle Foto auf dem Buchumschlag betrachtend, können wir nicht genau wissen, ob und welche „Nöte“ die Arbeiter in den 1970er-Jahren des letzten Jahrhunderts bewegt haben. War es die Sorge um die Leistungsfähigkeit ihrer Arbeitsbrigade oder um die Gesundheit eines ihrer langjährigen Kollegen? Waren es die Widrigkeiten des als unzulänglich empfundenen Arbeitsalltags, Kümmernisse, mit denen man sich abfinden musste oder existenzielle Fragen? Vermutlich handelt es sich bei den vier Männern im soziologischen Sinne nicht einmal um Landarbeiter. Die Hände in den Taschen, relativ warm angezogen, stehen sie in ihren Gummistiefeln auf dem Weg vor einem Hänger, der mit Stroh oder Mist beladen ist. Wir spüren

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Die Forschungsarbeiten zur Armutsentwicklung in Ostvorpommern, die in mehreren Kapiteln dieses Bandes dargestellt werden, beruhen auf Erhebungs- und Auswertungsarbeiten, die Dr. Doris Rentzsch (06/05–02/06), PD Dr. Vera Sparschuh (06/05–03/08), Dipl.-Soz. Olaf Jürgens (05/06–09/07) sowie Dipl.-Soz. Susanne Niemz (12/07–08/08) als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dem von Simone Kreher geleiteten DFG-Projekt „Armutsdynamiken im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“ (KR 1888/2-1/2) realisiert haben. In der letzten Förderphase (03/08–08/08) wurde Susanne Niemz von Dipl.-Soz. Werner Hofmann methodisch beraten (Hochschule Fulda) und von Benjamin Zurek (B. Sc.) als studentischem Projektmitarbeiter technisch unterstützt. Bettina Brünner, Katharina Matthäus, Ana Lúcia Mazur und Benjamin Zurek haben von März 2008 bis Februar 2009 im Rahmen ihrer Studienprojekte im Masterstudiengang (Public Health) gemeinsam mit Simone Kreher an vertiefenden Auswertungen gearbeitet.

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die feuchte Kälte des spätherbstlichen Tages fast ein wenig oder können sie an den hochgezogenen Schultern ablesen. Die von Roger Melis gewählte Perspektive lässt uns in drei der vier Männergesichter blicken: Im Vordergrund und Profil nehmen wir vor allem Sachlichkeit wahr, die in der Mitte auf skeptische Ablehnung des Gesagten zu treffen scheint und von der Seite mit abwartender Unentschiedenheit begleitet wird. Über der Formation liegt etwas Träges, Zähes, vielleicht auch etwas Lähmendes, das möglicherweise auf eine stillgestellte Zeit, aber nicht auf existenzielle Verunsicherung, eine infrage gestellte Identität oder bedrückende Armut verweist. Im Gegenteil: Mit festem Blick und in widerständiger Pose erörtern die vier eines der Probleme, das sie nicht aus der Bahn werfen wird, mit dem sie entweder längst zu leben oder es zu ignorieren gelernt haben. Auf den Männern mit je unterschiedlichen Kopfbedeckungen und in ihrer individuellen Arbeitskleidung ruht der empathische Blick des ­Fotografen und der Betrachterinnen, einzig die Schieflage des Gestänges vom Anhänger, das die Szenerie rahmt, mutet etwas skurril an. Wir fragen nach Alter und Zustand der Zug­ maschine vor dem voll beladenen Hänger. Also passt das Bild gar nicht zum Gegenstand unseres Interesses, zur Armut im ländlichen Raum? Für mich schon, da es eine komplexe Untersuchung der Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse braucht, um Armutsentwicklung der letzten beiden Jahrzehnte als einen sozialen Prozess in historischer und sozialräumlicher Perspektive erfassen zu können. Ohne Rekurs auf gesellschaftlich übliche, als mehr oder weniger misslich empfundene oder privilegierte Existenzbedingungen können wir über die unterdurchschnittlichen nichts aussagen. Roger Melis empfand und fotografierte die Arbeits- und Lebenswelt der Menschen in der DDR, in dem stillen Land nicht im eigentlichen Sinne dokumentarisch, sondern so, wie er sie erfahren und gesehen hat. Während „die starren Lebensverhältnisse des vormundschaftlichen Staates manche zur Verzweiflung trieben, verlieh der nicht unbedingt schöne, aber sichere soziale Lebensgrund vielen anderen – vor allem den einfachen Leuten, den Arbeitern, Angestellten und auch den Leuten auf dem Dorf – Gelassenheit, Stärke und ein Selbstbewußtsein, das sich mit gesunder Skepsis gegen alle Zumutungen mischte“. In der Mitte der 1970er-Jahre konnten solche Zumutungen auch in dem „unglaublich archaischen, kargen“ Leben bestehen, „das – abgesehen von den paar Traktoren, die die LPG hatte – weitgehend dem am Ende des 19. Jahrhunderts glich“ (Melis 2007, S. 7). Roger Melis’ Foto vermittelt auf subtile Weise einen Eindruck von einer bestimmten historischen Zeit, den 1970er-Jahren, und das Gefühl für eine besondere Region, die Uckermark, die unweit unseres Forschungsfeldes gelegen ist. Die 1970er-Jahre der DDR, dieses Zeitscheibchen, lässt unsere Gedanken in die Vergangenheit wandern, zu den Eltern und Großeltern der Fotografierten, die möglicherweise ostelbische Land- oder Wanderarbeiter im Weber’schen Sinne gewesen sein mögen. Der Weg am Rande zwischen einer Weide, dem begrenzenden Weg und den Hecken im Hintergrund bringt nicht nur die Frage auf, was aus diesem idylli-

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schen Flecken geworden ist, wem er jetzt gehört oder ob und von wem er wohl bewirtschaftet wird. Insofern assoziiert das Foto Historizität und Regionalität als die beiden theoretischen Dimensionen, die unsere retrospektive Fallstudie zur Armut in Ostvor­pommern, die in einem guten Teil des vorliegenden Bandes vorgestellt wird, entscheidend präg(t)en. Ausgehend von diesen Assoziationen können wir fragen, wie sich die Lebensverhältnisse in Nordostdeutschland während des letzten Jahrhunderts verändert haben, worin die Nöte der Leute heute denn bestehen könnten, ohne dass uns freilich dieses einzige Bild eine schlüssige Antwort geben könnte. Als Sozialwissenschaftlerinnen werden wir differenzierter fragen müssen, welche Facetten von Prekarität, welche Gesichter von Armut sich unter welchen gesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen offenbaren und was das Von-Armut-betroffen-sein für die Menschen in den jeweiligen zeithistorischen Umständen, sozialpolitischen Systemen und Alltagspraxen bedeutet(e). Während ich in Martin Riesebrodts Einleitung zu Max Webers Untersuchung über die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland den Begriff der „Leutenot“ 2 (hier der Mangel von Landarbeitern der verschiedensten Provenienz) mit geschärfter Aufmerksamkeit las (1984, S. 5), konnte ich nicht umhin, in einer Art Wortspiel seine Umkehrung, eben die „Not der Leute“ als zeitspezifischen und zeitgemäßen Ausdruck dessen zu denken, was wir als Armut bezeichnen, für den sich in den beiden letzten Jahrzehnten in der soziologischen Fachliteratur der Begriff „Armutsdynamik“ etabliert hat. Tatsächlich finden sich auch bei Max Weber beide Seiten – die „Leutenot“ und die „Not der Leute“ – des Problems, die von ihm in einem dialektischen Zusammenhang gesehen werden. Noch 1848/49 wurde in einer großen Landarbeitererhebung des Preußischen Landes-­ Oeconomie-Collegiums untersucht, „ob die verschiedenen Klassen von Landarbeitern genügend Beschäftigung fänden und ein Existenzminimum erwirtschaften könnten. Doch im Verlauf der 1850er- und 1860er-Jahre wandelte sich das Problem. Die Auswanderungen nach Übersee, vor allem in die Vereinigten Staaten von Amerika, nahmen enorm zu. Gleichzeitig zog die aufstrebende Industrie Arbeitskräfte vom Lande ab und wuchs vor allem durch die Einführung des Hackfruchtbaus der saisonale Bedarf an Landarbeitern. […] Es waren vor ­allem die niedrigen Löhne und die geringen beruflichen und gesellschaftlichen Aufstiegschancen, die die Landarbeiter zur Auswanderung nach Übersee und zur Abwanderung in die Städte und Industriegebiete motivierten, wobei bis in die 1890er-Jahre die Auswanderung überwog. Im 2

Später fand ich an den verschiedensten Stellen im Text auch andere Komposita wie „Leutehäuser“, „Leutewohnungen“, „Leutekartoffeln“, „Leutevieh“, wobei im Begriff der Leute und den entsprechenden Wortverbindungen insofern Achtung und Anerkennung mitschwingt, als dass es sich immer um Arbeits- oder Lebensbedingungen handelte, die den verschiedenen Beschäftigtengruppen durch die Gutsbesitzer gewährt wurden, ihnen aufgrund ihrer Arbeitsleistungen für das jeweilige Gut zustanden.

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Zeitraum 1880–1893 fand die letzte große Auswanderungswelle aus Deutschland statt: Von den nahezu 1,8 Millionen Auswanderern kamen etwa 39 % aus dem deutschen Nordosten, vor allem aus Westpreußen, Posen und Pommern“ (Riesebrodt 1984, S. 5 f.). Die Landarbeitererhebung des Vereins für Socialpolitik, die zwischen Dezember 1891 und Februar 1892 als aufwendigste ihrer Zeit durchgeführt wurde, „sollte Daten über die materielle Lage der verschiedenen Kategorien von Landarbeitern erbringen, sowie Ursachen und tatsächliches Ausmaß der ,Leutenot‘ ermitteln. Außerdem sollte sie Auskunft über die Folgen der Wiederzulassung der polnischen Wanderarbeiter geben“, durch deren geringe Lohnansprüche ein mögliches Absinken des Lebensstandards der deutschen Bevölkerung hervorgerufen werden könnte. „Wegen dieser Verknüpfung von Fragen des Arbeitsmarktes mit solchen der Nationalitätenpolitik kam der Untersuchung der Landarbeiter in den ostelbischen Gebieten eine besondere Bedeutung zu“ (Riesebrodt 1984, S. 8). Nicht nur Ostvorpommern als Untersuchungsgebiet, sondern auch das Alfried-KruppWissenschaftskolleg in Greifswald als prominenter Ort für unsere interdisziplinäre Fach­ tagung, die im Juli 2008 stattfand, liegen inmitten eines der damaligen Berichtsgebiete der von Max Weber ausgewerteten Enquête, das um 1900 auch mit dem Gesamtnamen „Ückermünder Heide“ bezeichnet wurde. Es erstreckt sich von den „mächtigen Waldrevieren Altvorpommerns, die sich von der Oder bis zur Peene und vom Stettiner Haff bis nach der Uckermark und Mecklenburg“ hinziehen und wird im Westen begrenzt durch eine Linie von Heinrichswalde über Ferdinandshof, die mecklenburgisch-pommersche Grenze sowie die Peene entlang der Bahnlinie Ferdinandshof – Ducherow – Usedom (Uecker-Stettin 1998, S. 89 ff.). Zur B ­ odenbeschaffenheit schreibt Max Weber: „Von Stargard nördlich nach der See zu ist das Land mit Ausnahme einiger günstiger Lehmstriche so stark mit Dünensand versetzt, oder bildet morastiges Bruchland, daß hier eine höchst ungleichmäßige Kultur neben ganz extensiver Beweidung steht. In der ziemlich schmalen Oderniederung findet sich neben vorzüglichen Wiesen in den Kreisen Randow und Demmin vortreffliches Ackerland, mit das beste der Provinz, während die Kreise Ückermünde, Anklam, Usedom-Wollin meist zu leichten Sandboden, nur teilweise durchlässigen Lehm haben“ (1892, S. 419). In seiner eingehenden Untersuchung der Arbeitsverfassung in den verschiedenen Provinzen arbeitete Max Weber „die Eigenart der Agrar- und Sozialstruktur“ als besondere Art der „sozialen Organisation“ heraus (Riesebrodt 1984, S. 15 f.), die er in besonderer Weise im Instverhältnis repräsentiert sieht. Auch in Vorpommern beruhte die Arbeitsverfassung zu dieser Zeit „noch regelmäßig auf einer Kombination von Gesinde und Instleuten beim großen Gut und von Gesinde und Einliegern, welche Erntearbeit bei den Bauern leisten als Entgelt für die Wohnung […] In den Dörfern bilden diese Einlieger überall einen großen Teil der Gesamtarbeiterschaft. Auf den großen Gütern ist im Osten das Gesinde überall knapp; die Instleute überwiegen, teilweise bis zur Ausschließlichkeit, in den wirtschaftlich weniger entwickelten Kreisen; im Kreise

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Randow bilden sie noch die Hälfte der Arbeiterschaft, während in den Kreisen Saatzig und Kammin die freien Tagelöhner überwiegen. Im Kreise Greifenberg beschäftigt ein größeres Gut folgende Arbeitskräfte: 6 Aufseher etc., 12 Hirten etc., 36 Tagelöhnerfamilien (à ca. 2 1/5 Arbeitskräfte), 24 Deputatknechte (do.), 28 unverheiratete Knechte, dazu 72 nicht gebundene freie Arbeiter, zusammen 166 volle und 60 Erntearbeitskräfte von Kontraktarbeitern, 72 freie daneben“ (Weber 1892, S. 421 ff.). Die Landarbeiterenquête und Max Webers Arbeiten wurden bei ihrer Veröffentlichung von Vertretern verschiedenster politischer Strömungen aufgegriffen, zitiert und in etwa so kontrovers diskutiert, wie wir es aktuell für die Zukunftsszenarien Mecklenburg-Vorpommerns seit der Wiedervereinigung kennen. Als Soziologinnen können wir uns nicht einen Moment der Gang-und-gäbe-Vorstellung hingeben, als hätten alle Menschen zu allen Zeiten die gleichen – oder zumindest sehr ähnliche – Nöte zu erdulden, die im Großen und Ganzen darin bestehen, ein zufriedenstellendes Leben führen oder zumindest ein irgendwie auskömmliches Dasein fristen zu können. Die „Leutenot“ und die „Nöte der Leute“ zu unterschiedlichen historischen Zeiten, in verschiedenen politischen und ökonomischen Systemen, in sich wandelnden sozialen und geografischen Räumen sowie im Empfinden der Menschen müssen in soziologischer Perspektive je nach sozialer Lage als gänzlich verschiedene und untereinander nicht ohne Weiteres vergleichbare begriffen werden. Sie müssen eben in ihrer historischen Veränderlichkeit, in ihrer ganzen Vielfalt, Komplexität und Widersprüchlichkeit wahrgenommen, theoretisch durchdacht und empirisch erforscht werden. So einfach und so kompliziert, so herausfordernd und so unerfüllbar zugleich stellt sich das Unterfangen dar, dem sich der vorliegende Band mit diesem Wortspiel im Titel verpflichtet fühlt. Nach einer knappen Rekapitulation der Geschichte der Weber’schen Arbeiten im Zuge der beiden Landarbeiter-Enquêten des vorletzten Jahrhunderts und einer komprimierten Präsentation ihrer zentralen Ergebnisse diskutiert Dirk Kaesler im ersten Beitrag des Bandes, wie sich aus der „Interessengemeinschaft“ ein Interessengegensatz entwickelt. Veränderungen in der vorherrschenden Wirtschaftsweise, insbesondere der Stellung der Getreideproduktion, stark schwankende Weltmarktpreise und sich wandelnde Konsumgewohnheiten der Bevölkerung (Substitution der Getreideproduktion/des Cerealienverbrauchs durch Kartoffeln) unterliefen die ländlichen Arbeits- und Sozialstrukturen Ostelbiens, führten zu einer Proletarisierung der Landarbeiter und Kleinwirte. Im Kern sei der daraus entstandene Gegensatz der von Kapital und Arbeit, sodass Dirk Kaesler folgend aus soziologischer Sicht nichts dagegen spräche, ihn heute noch immer als ursächlich für ländliche Armut, deprivierte und prekäre Lebenslagen der Menschen in ländlichen Regionen anzusehen. Stephan Beetz untersucht in seinem Beitrag, was oder wie es geschieht, dass Regionen verarmen, und betont dabei sowohl die Bedeutung räumlich-kollektiver Bedingungen als auch

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die von Peripherisierungsprozessen. Peripherisierung als zirkulär verlaufender Verarmungs­ prozess dokumentiert sich in ländlichen Gebieten Nordostdeutschlands seiner Auffassung nach in drei wichtigen Aspekten: als Herausfallen peripherisierter Gebiete aus wesentlichen Bereichen der Daseinsvorsorge (z.B. Gesundheitsversorgung), als einseitige Abhängigkeit von politischen und ökonomischen Entscheidungen in den Machtzentren und als selektive Einbindung in überregionale und globale Wirtschaftskreisläufe, aus denen peripherisierte Gebiete jedoch nur geringe Wohlstandsgewinne ziehen können. Die Verarmung von Regionen in ihrer Differenziertheit zu analysieren, ihre gesellschaftlichen Konsequenzen als Gerechtigkeitsproblem für die Bewohner zu begreifen und verarmte Regionen mit eigensinnigen Akteuren als relevantes Politikfeld zu identifizieren, das fordert eine konzeptuell aufeinander bezogene raumsensible Armutsforschung und eine armutssensitive Regionalforschung – wie es bei Stephan Beetz’ Beitrag mehrmals anklingt – geradezu heraus. Auf die beiden ersten Beiträge folgen insgesamt fünf Kapitel mit Ergebnissen aus dem von mir geleiteten DFG-Projekt „Armutsdynamiken im ländlichen Raum MecklenburgVorpommerns“ (KR 1888/2-1/2), die hier erstmals umfassend publiziert werden. Im ersten Kapitel werden die theoretischen Diskurse und Konzepte für ein Projekt zur Armutsforschung im ländlichen Raum aufgearbeitet und im nachfolgenden die empirischen Befunde aus den Ereignisdatenanalysen zu den Sozialhilfeverläufen und zum Alg-II-Bezug in Ostvorpommern im Zeitraum von 1990 bis 2008 dargestellt. Dabei wird sowohl auf die beiden Referenzprojekte aus der Tradition der dynamischen Armutsforschung (Buhr 1995; Olk, Mädje, Mierendorff, et al. 2004) als auch auf die aktuelle sozialwissenschaftliche Diskussion zur Entwicklung von Prekarität und Armut Bezug genommen (vgl. z.B. Castel, Dörre 2009; Groh-Samberg 2009; Lindner, Musner 2008). Die drei folgenden Kapitel enthalten in unterschiedlichen Autorinnenkonstellationen Ergebnisse vertiefender Analysen der qualitativen Datenbasis des Projektes, die zwischen März 2008 und Mai 2009 von mir gemeinsam mit einer Studierendengruppe – das sind Bettina Brünner, Silvia Heckenhahn, Katharina ­Matthäus und Ana Lúcia Mazur – aus dem Masterprogramm Public Health der Hochschule Fulda erarbeitet wurden. Basierend auf den Fallrekonstruktionen der Lebensgeschichten dreier Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern (Kapitel 6), werden detailreiche fallvergleichende und ­fallübergreifende Befunde zur Thematisierung und Wahrnehmung von Armut vorgestellt (Kapitel 7), ehe Momente der Armutsgefährdung und des Umgangs mit Prekarität und Armut in der generationenübergreifenden Perspektive einer Familiengeschichte untersucht werden (Kapitel 8). Aus dieser Analyse eines Familiengesprächs der besonderen Art wird ersichtlich, mit welchen Handlungsstrategien die Familienmitglieder verschiedener Generationen den sozialen Aufstieg der Familie über die historische Zäsur der Wende hinweg zu sichern suchen, obgleich ein Zweig der Familie längst von Armut und sozialem Abstieg betroffen ist.

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Im Beitrag von Birgit Storr wechselt die Perspektive: Sie betrachtet die atheoretischen Wis­ sensbestände von FallmanagerInnen, die in einer nordostdeutschen Kleinstadt Erwerbslose beraten, und in deren handlungsleitenden Orientierungen sich als Reflex auf gesetzliche Regelungen und gesellschaftliche Verhältnisse eine spezifische Sicht auf Erwerbslosigkeit als der bedeutsamsten Ursache von Armut dokumentiert. Jenseits individueller Differenzen im Beratungshandeln arbeitet Birgit Storr sowohl in sich widersprüchliche als auch konsistente Orientierungsrahmen heraus, die ihrer Auffassung nach jedoch die Erwartungen an eine qualitativ gute und professionellen Standards entsprechende Beratung Arbeitssuchender mitnichten zu erfüllen vermag. Die ForscherInnengruppe um Thomas Elkeles stellt in ihrem Beitrag erste Befunde einer inzwischen abgeschlossenen Panelstudie „Gesundheit und alltägliche Lebensführung in nordostdeutschen Landgemeinden“ (Elkeles; Beck; Beetz, et al. 2010) vor. Die Autorinnen der Studie ermittelten zwischen den beteiligten Gemeinden deutlich variierende Armutsrisikoquoten (bei einer leicht sinkenden Gesamtquote von 19,4 % für 1994 auf 18,4 % für 2008 für alle untersuchten Landgemeinden). Überraschenderweise dokumentieren sich im empirischen Vergleich zwischen den armutsbetroffen Bevölkerungsgruppen und den Nichtarmen weniger starke und eindeutige Differenzen bei Gesundheitszustand und der Gesundheitszufriedenheit als erwartet. Indes lassen sich jedoch deutliche Differenzen bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit und erwartungsgemäß gravierende Unterschiede bei den Zufriedenheiten mit der Arbeitssituation und mit der finanziellen Lage nachweisen. Theodor Fock erörtert in seinem Beitrag die Szenarien des Beschäftigungswandels in der ostdeutschen Landwirtschaft – zwischen radikalem Arbeitsplatzabbau und „Leutenot“. Nicht nur globale Entwicklungen oder eine am Weltmarkt orientierte technisch effiziente Wirtschaftsweise, sondern auch regionalisierte Kreisläufe, die Orientierung an ökologischen Produktionsweisen und die unausgeglichene Altersstruktur der heute (und in den nächsten Jahrzehnten) in der Landwirtschaft Beschäftigten strukturieren seiner Auffassung nach die Chancen und Restriktionen für ländliche Regionen wie Vorpommern. Als Angela Häußler die Einladung zur Beteiligung am vorliegenden Sammelband bereits angenommen hatte, realisiert sie bei der Arbeit am Text, wie desolat sich die Datenlage tatsächlich darstellt und dass ihre Suche nach typisch ländlichen Ernährungsweisen ins Leere laufen muss. Weder auf der Basis der amtlichen Statistik noch auf der Grundlage der bevölkerungsrepräsentativen II. Nationalen Verzehrsstudie (2008) lassen sich derzeit kleinräumige Analysen realisieren, die Aufschluss über spezifisch ländliche Ernährungsweisen geben könnten. Am Ende ihres Beitrags mit wichtigen Prämissen für eine ländliche Lebensstilforschung, die auch Essen und Ernährung in den Blick nimmt, konstatiert die Autorin, dass regionale Aspekte im Zusammenhang mit ländlichen Ernährungsweisen nicht nur aktuell von großer Bedeutung sind, sondern dass es auch gilt, sie viel differenzierter zu erforschen, als das bislang geschieht.

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Bildungsarmut und „Bildungsferne“ – zwei Begriffe, die in der politischen Debatte der letzten Monate omnipräsent zu sein scheinen – sind auch in Mecklenburg-Vorpommern an bestimmten Orten zu Hause, treffen in bestimmten sozialen Milieus auf die „passenden“ räumlichen Gelegenheitsstrukturen und konstituieren je eigene, sich immer wieder reproduzierende soziale Weltsichten. Die Gründe dafür sucht Beate Krais sowohl in der aktuellen Bildungssituation des Landes als auch in sozialhistorischen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte. Obgleich es trotz der breit angelegten soziologischen Forschung zum Zusammenhang von ungleichen Bildungschancen und sozialer Herkunft auch hier an kleinräumlichen Analysen mangelt, kann sie über die Unterscheidung zweier gegeneinander abgeschotteter Pfade der Teilhabe an Bildung zeigen, dass aus dem Zusammenspiel mehrerer Prozesse Zonen der Bildungsarmut entstehen: Einer Distanziertheit gegenüber der legitimen Kultur, wie sie insbesondere das Gymnasium repräsentiert, steht bei den Landarbeitermilieus und der Arbeiterklasse die Präferenz für eine berufliche Ausbildung im gewerblichen Bereich gegenüber, die eine kulturelle Tradition der DDR fortschreibt und ohne Abitur eben keinen Zugang zu den modernen, attraktiven Berufsausbildungen im Dienstleistungssektor ermöglicht. Zudem greifen die Selektivität des dreigliedrigen Schulsystems in Mecklenburg-Vorpommern und die ökonomische Umstrukturierung auf dem Lande nach 1990 praktisch so ineinander, dass die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aus einfachen sozialen Verhältnissen und aus armen Familien nachhaltig beeinträchtigt werden, Armut und Bildungsnöte sich gegenseitig verstärken. Sighard Neckel hat im abschließenden Konferenzbeitrag mit Raum, Zeit und Generati­ onen, Kultur der Armut und Verräumlichung der Armut sowie mit der Definition von Armut selbst wichtige Grundbegriffe für die Armutsforschung im ländlichen Raum aufgegriffen, um mögliche Differenzierungslinien zu skizzieren und theoretische Verfeinerungen anzumahnen. Interessengemeinschaft und Interessengegensatz, Abwanderung und Widerspruch, Varianten der stationären Lebensführung und des sich Einrichtens im niedrigen Lebensstandard, die Kulturen der Armut und des sich Durchwurschtelns bilden in seinen Augen soziologische Interpretationsangebote für ländliche Armut im östlichen Vorpommern, die einerseits ihre jeweils epoche- (oder: zeit-) und geschlechtsspezifischen Ausformungen erfahren, andererseits aber auch als historische Kontinuitäten zu denken sind. Auch wenn die vorliegenden Untersuchungen und Konferenzbeiträge zur ländlichen ­Armut in Nordostdeutschland Sighard Neckels Forderungen höchstens in Gestalt eines er­ weiterten Forschungsprogramms zu erfüllen vermögen, das noch dazu erst am Ende der vertiefenden Auswertungen resp. bei der unmittelbaren Arbeit an den Texten für diesen Band deutlichere Konturen gewinnen konnte, verweist es auf Desiderate und Integrationspotenziale der bisherigen Armutsforschung. Es entwirft ein Tableau für eine empirisch fundierte Armutsforschung (vgl. Abbildung 11 in Kapitel 4), der das Etikett des Historischen (der Zeit-

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sensitivität) oder der Regionalität (der räumlichen Differenziertheit) nicht erst im Nachhi­ nein angeheftet wird, sondern die sie als konstitutiv für die Theorieentwicklung auf mehreren Ebenen betrachtet:

Ebenen oder Dimensionen von Zeitlichkeit Theorien Zeitebene 1: Aussagen zu den Mustern und Verläufen des Sozialhilfe- oder Alg-IIBezugs; Aussagen zu individuellen Wahrnehmungs-,Verarbeitungs- und Bewältigungsformen von Armut. Theorien Zeitebene 2: Aussagen zu individueller und kollektiver Mobilität, zur Entstehung und Reproduktion armutsgefährdeter oder armutsbetroffener Soziallagen; Aussagen zu familialen und transgenerationalen Mustern der Tradierung von Armut. Theorien Zeitebene 3: Aussagen zur Epochespezifik und Klassenstrukturiertheit von Armut.

Ebenen oder Dimensionen von Räumlichkeit Theorien räumliche Ebene 1: Aussagen über die lokale Situiertheit von Armut, über mögliche Handlungsstrategien zur Verhütung von Armut und Interventionsstrategien gegen weitere Verarmung. Theorien räumliche Ebene 2: Aussagen zu regionalen Entwicklungen, zur regionalen Verteilung von armutsbetroffenen Familien, zu Konzentrations- und Peripherisierungstendenzen. Theorien räumliche Ebene 3: Aussagen zur interregionalen und überregionalen, nationalstaatlichen und internationalen Armutsentwicklung. Mit der Idee, die Theorien über Armut auf verschiedenen Ebenen von Zeitlichkeit und verschiedenen Dimensionen von Räumlichkeit anzusiedeln, verbindet sich auch die Möglichkeit, Paul Lazarsfeld (1960, S. 22) zu folgen und eine integrale Interpretation theoretischer Aussagen zu versuchen. Die systematische Bezugnahme theoretischer Aussagen unterschiedlicher Ebenen zueinander bietet Chancen zu einer stärkeren theoretischen Integration soziologischer Theorieentwürfe. Erklärungsmuster, die auf einer oben genannten Ebene durchaus Plausibilität besitzen, können aus der Perspektive der anderen Ebenen hinterfragt werden, um Interdependenzen, gegenseitige Verstärkungen oder Nivellierungen sozialer Prozesse beschreiben zu können. Eingedenk der weltweit zunehmenden Disparitäten in den Lebensverhältnissen der Menschen, der sich vertiefenden Ungleichheitsstrukturen in den meisten europäischen Gesell-

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schaften und nicht zuletzt angesichts der sich verschärfenden sozialen Spannungen in der deutschen Gesellschaft kann es ein Weiter so! in der Armutsforschung nicht geben. Selbst wenn das Ausfüllen des hier knapp skizzierten Tableaus für eine zeitsensible, räumlich differenzierte und sensitive Armutsforschung praktisch unter den gegebenen Bedingungen drittmittelgeförderter Projektforschung nicht realisierbar bleibt, können auch die Gedanken, die auf dem Gebiet der Armutsforschung einmal gedacht wurden, nicht zurückgenommen werden.3 Besonderer Dank gilt an dieser Stelle allen von Armut betroffenen Frauen und Männern, die uns während der Interviews Einblicke in ihr Leben, in ihre Alltagspraxis, in ihre „Nöte“ und Strategien zu deren Bewältigung gewährten. Darüber hinaus danken wir den Expertinnen und Experten der kommunalen Sozialverwaltung, insbesondere der Sozialagentur Ostvorpommern, für ihre umfangreiche und ausdauernde Unterstützung der Forschungsarbeiten im Rahmen des DFG-Projektes „Armutsdynamiken im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“ (KR 1888/2–1/2). Ohne den Zugang zu den Sozialhilfeakten und zu den Datenbanken zum Alg-II-Leistungsbezug, den uns der Landkreis, insbesondere Herr Dr. Armin Schönfelder, seinerzeit 1. Stellvertreter der Landrätin, sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialagentur des Landkreises eröffneten, wären diese Forschungsarbeiten nicht möglich gewesen. Weiterer Dank geht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die die Stellen der Mitarbeiterinnen über zwei Förderphasen hinweg finanziert hat, und an die Hochschule Fulda, die das Forschungsvorhaben insgesamt mitgefördert hat und auch die vorliegende Veröffentlichung finanziell ermöglicht. Schließlich danke ich der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die die interdisziplinäre Fachtagung großzügig finanziert hat, dem Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg in Greifswald, in dessen Räumen die Tagung durchgeführt werden konnte, allen Kolleginnen und Kollegen, die sich dort mit Vorträgen und Diskussionsbeiträgen beteiligt und/oder als Autorinnen und Autoren Texte für den Band verfasst haben.

Literatur: Buhr, Petra: Dynamik von Armut. Dauer und biographische Bedeutung von Sozialhilfebezug, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, 248 S. 3

So auch Johann Wilhelm Möbius, ein Patient, in dem 1962 uraufgeführten Stück „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt (1983, S. 60).

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Castel, Robert; Dörre, Klaus: „Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts“, Frankfurt am Main, New York: Campus 2009. Dürrenmatt, Friedrich: „Die Physiker“, in: Stücke 2, Berlin: Volk und Welt 1983. Elkeles, Thomas; Beck, David; Beetz, Stephan, et al.: „Gesundheit und alltägliche Lebensführung in nordostdeutschen Landgemeinden (Landgesundheitsstudie – LGS). Abschlussbericht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)“, Neubrandenburg: Hochschule Neubrandenburg 2010, 121 S. Groh-Samberg, Olaf: Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur Integration multi­ dimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. Lazarsfeld, Paul: „Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Vorspruch zu neuen Ausgabe“, in: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch, hg. v. Marie Jahoda; Paul F. Lazarsfeld; Hans Zeisel, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1960, S. 11–23. Lindner, Rolf; Musner, Lutz: Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der „Armut“ in Geschichte und Gegenwart, Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag 2008. Melis, Roger: In einem stillen Land. Fotografien 1965–1989, Leipzig: Lehmstedt Verlag 2007, S. 191. Olk, Thomas; Mädje, Eva; Mierendorff, Johanna, et al.: „Sozialhilfe- und Armutsdynamik in den neuen Bundesländern“, Halle/Saale: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2004, S. 244. Riesebrodt, Martin: „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Einleitung“, in: Max Weber Gesamtausgabe, hg. v. Martin Riesenbrodt, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1984, S. 1–17. Uecker-Stettin, F.: „Pommern in Wort und Bild. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe des Pestalozzivereins der Provinz Pommern, Stettin 1904“, Augsburg: Weltbildverlag 1998, 404 S.  Weber, Max: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1892.

Von der Interessengemeinschaft zum Interessengegensatz. Max Webers Landarbeiter-Enquêten von 1892 Dirk Kaesler Zusammenfassung: Wer sich mit der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Mustern der Armut im nordostdeutschen Raum befasst, kommt an der Tatsache nicht vorbei, dass sich bereits der bedeutendste Klassiker der Soziologie, Max Weber (1864–1920), mit ebendieser Thematik intensiv befasst hat. Die anschließenden Ausführungen beabsichtigen 1. eine knappe Rekapitulation der Geschichte der beiden Landarbeiter-Enquêten, an denen Max Weber mitgewirkt hat, 2. eine komprimierte Präsentation ihrer zentralen Ergebnisse und deren Interpretation durch Max Weber, 3. einige Bemerkungen über seine bislang nicht genau bestimmte Rolle im gesamten Zusammenhang und 4. Bemerkungen zur bleibenden Bedeutung der Landarbeiter-Enquêten Max Webers. Schlüsselwörter: Max Weber, Landarbeiter-Enquêten, „Polenfrage“

Wer sich mit der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Mustern der Armut im nordostdeutschen Raum befasst, kommt an der Tatsache nicht vorbei, dass sich bereits der bedeutendste Klassiker der Soziologie, Max Weber (1864–1920), mit ebendieser Thematik intensiv befasst hat. Verhilft uns jedoch die Rekapitulation der Ergebnisse und Zusammenhänge der beiden großen Landarbeiter-Enquêten von 1892, an denen Max Weber mitgearbeitet hat, zu einer auch heute relevanten Sicht auf die Lebensverhältnisse im ländlichen Raum Nordostdeutschlands? Sind es zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch die vergleichsweise ähnlichen Zusammenhänge, die zu ländlicher Armut, deprivierten und prekären Lebenslagen der Menschen in diesem Raum führen, wie sie Max Weber am Ende des 19. Jahrhunderts erforschte? Gibt es also überhaupt eine „Entwicklung“, eine „Dynamik“ der Armut im ländlichen Raum Nordostdeutschlands? Diese Fragen insgesamt zu beantworten übersteigt die Absicht der anschließenden Ausführungen. Mit ihnen soll lediglich versucht werden, 1. eine knappe Rekapitulation der Geschichte der beiden Landarbeiter-Enquêten, an denen Max Weber mitgewirkt hat, 2. eine komprimierte Präsentation ihrer zentralen Ergebnisse und deren Interpretation durch Max Weber, 3. einige Bemerkungen über seine bislang nicht genau bestimmte Rolle im gesamten

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Zusammenhang zu machen und 4. mit wenigen Bemerkungen zur bleibenden Bedeutung der Landarbeiter-Enquêten Max Webers zu enden.

Die Geschichte der beiden Landarbeiter-Enquêten, an denen Max Weber beteiligt war „Die westlichen Ausläufer des pommerschen Landrückens bilden im Kreise Saatzig einen Strich kräftigen Weizenlandes und im übrigen auf den Abdachungen gegen Stargard hin gutes, aus durchlässigem Lehm und Sand gemischtes Roggenland. Ebenso hat der Kreis Pyritz einen breiten Strich vortrefflichen Weizenbodens, und schließt sich westlich gutes Gerstland an, welches indessen in den nach der Oder zu liegenden Teilen des Kreises Greifenhagen einem steinigen Quarzsand Platz macht; dort ist nur in den Thälern durch intensive Düngung eine bedeutende Hebung des Bodenwertes gelungen.“ (Weber 1892b, S. 418 f.)

Mit diesen Passagen beginnt der Bericht Max Webers über die ländlichen Arbeitsverhältnisse in den Regierungsbezirken Stettin und Stralsund in der Provinz Pommern des Königreichs Preußen aus dem Jahr 1892. Von den zahlreichen Arbeiten Max Webers, die sich unter der Überschrift „Studien zur Sozial- und Wirtschaftsverfassung des Wilhelminischen Deutschland“ zusammenfassen lassen, ragen seine Untersuchungen zur Lage der ostelbischen Landarbeiter ganz besonders hervor. Sie illustrieren Webers fachlichen Ruhm und zugleich die politische Irrelevanz seiner Erträge und sind somit unverzichtbar für das Verständnis des Weber’schen Werks insgesamt. Bevor Max Weber sich mit diesem Thema auseinandersetzte, hatte er bereits mit früheren Arbeiten, insbesondere seiner Dissertation4 und seiner Habilitationsschrift5, sein Interesse an Agrargeschichte und der Geschichte des Kapitalismus deutlich gemacht. Eben dieses Zusammenwirken von Agrargeschichte und Kapitalismus war auch das übergreifende Thema seiner Landarbeiterstudien.

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Max Weber: Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen, Stuttgart: F. Enke Verlag 1889. Max Weber: Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, Stuttgart: F. Enke Verlag 1891.

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Die Untersuchungen des Vereins für Socialpolitik Der Verein für Socialpolitik6 beauftragte im September 1890 seine Mitglieder Max Sering, Hugo Thiel und Johannes Conrad mit der Planung und Durchführung einer Enquête über „Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland“, deren Ergebnisse auf der Generalversammlung im September 1892 vorgetragen werden sollten. Ein erster Fragebogen wurde im Dezember 1891 an 3 180 Landwirte versandt, deren Adressen die Landwirtschaftlichen Centralvereine Deutschlands angegeben hatten. Von den knapp über dreitausend Befragten antworteten 2 277. Im Februar 1892 wurde ein zweiter Fragebogen an 562 ausgewählte Berichterstatter für ganze landwirtschaftliche Bezirke gesandt, von denen 291 antworteten. Mithilfe dieser groß angelegten Befragung versuchte der Verein für Socialpolitik Auskunft über die Lage der Landarbeiter im deutschen Kaiserreich zu erhalten, und zwar nicht durch die Befragung der Landarbeiter selbst, sondern durch schriftliche Auskünfte ihrer Arbeitgeber, der Gutsbesitzer. Es handelt sich also streng genommen weniger um eine Landarbeiter-Enquête als vielmehr um eine Gutsbesitzer-Enquête. Über die Motive dieser groß angelegten Untersuchung gibt das Anschreiben vom Dezember 1891 Auskunft: „Unter allen Fragen, welche die Landwirte jetzt bewegen, steht die Arbeiterfrage oben an, und wird dieselbe aus den verschiedensten Gründen wirtschaftlicher und socialer Natur auch so bald nicht von der Tagesordnung verschwinden. Um vorhandene Schäden in dem ganzen Arbeiter-Verhältnis verbessern, mangelhaften Zuständen abhelfen, unberechtigten Anforderungen mit Erfolg entgegentreten und die öffentliche Meinung und damit auch den Gang der Gesetzgebung rechtzeitig beeinflussen zu können, ist eine klare und zuverlässige Darlegung der thatsächlichen Verhältnisse erste Vorbedingung.“7

Die Auswertung und Interpretation der eingegangenen Fragebogen wurden von sieben Berichterstattern übernommen; die Gesamtergebnisse wurden in drei Bänden der Schriften des Vereins (Bände 53, 54, 55) von zusammen über 2 000 Druckseiten veröffentlicht. Max Weber wurde die Aufgabe der Auswertung und Interpretation der eingegangenen Fragebögen – an deren Formulierungen er keinen Anteil hatte – übertragen, soweit sie das ostelbische Deutschland betrafen, also Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, 6 7

Über diese Organisation und über den gesamten Kontext der Enquête geben detailliert und erschöpfend Auskunft „Einleitung“ und „Editorischer Bericht“ von Martin Riesebrodt im Rahmen der Max-WeberGesamtausgabe (MWG I/3). Auf diese Ausgabe stützt sich der hier abgegebene Bericht insgesamt. Vgl. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Nordwestdeutschland, Württemberg, Baden und in den Reichslanden. Schriften des Vereins für Socialpolitik. LIII. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland. 1. Bd., Leipzig: Duncker & Humblot 1892, S. VIII.

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Brandenburg, Mecklenburg und Lauenburg. Grundlage seiner Auswertung waren 77 General- und 573 Spezialberichte, die er, nach Provinzen und Regierungsbezirken aufgeschlüsselt, in tabellarischer Form ordnete und auswertete. Unter erheblichem Zeitdruck – der Rücklauf der zweiten Fragebogen erfolgte im Februar 1892, die Publikation des Berichts war für die Tagung im September des gleichen Jahres angesetzt – legte der 28-jährige Privatdozent die Ergebnisse seiner Arbeit termingerecht dem Verein vor, die als Band III der Landarbeiter-Enquête publiziert wurden. Webers wissenschaftliche und politische Bewertung dieser 891-seitigen Untersuchung zogen sich von nun an wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. Kurz einige Bemerkungen zur Vorgehensweise und den zentralen Ergebnissen der VereinsEnquête. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: Nach einer knappen Vorbemerkung und einer kursorischen Skizzierung der Arbeitsverfassung des deutschen Ostens folgt der Materialteil von ca. 700 Seiten, an den sich eine kritische Würdigung und Zusammenfassung der Untersuchung anschließt. Im Gegensatz zu den beiden anderen Bänden bezog Weber in seine Untersuchung die bis dahin bereits vorliegenden vergleichbaren Arbeiten von Alexander von Lengerke8 und von Theodor von der Goltz9 ein, da es seine Absicht war, über die Bestandsaufnahme des aktuellen Standes hinaus zur Darstellung eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses zu gelangen. Er schreibt dazu: „Die Wandlungen, welche sich seit einer Reihe von Jahrzehnten in der socialen Gliederung der Landwirtschaft des Ostens vollziehen und welche wir auch aus den Berichten erkennen können, haben den Charakter von Massenerscheinungen und beruhen im wesentlichen auf dem mächtigen Druck einer allgemeinen socialen Umschichtung der Bevölkerung.“ (1892b, S. 4)

Die Richtung dieser Umwandlungsprozesse deutlich zu machen war die eigentliche Absicht Webers. In groben Zügen skizzierte er die Arbeitsverfassung des deutschen Ostens in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Das strukturelle Hauptproblem jeder ländlichen Arbeitsverfassung ist das des variablen Bedarfs an Arbeitskräften während des Jahres, wobei diese Schwankungen bei unterschiedlichen Bodennutzungs- und Verwertungssystemen sowie unterschiedlichen Produktionstechniken nochmals erheblich variieren können. Insbesondere der Großgrundbesitz der sogenannten „Junker“, mit dem sich Weber als der typischen Form der deutschen Ostgebiete befasste, löste dieses Problem durch die kontinuierliche Beschäftigung eines Stammes von Arbeitern, die je nach Bedarf durch vorübergehend Beschäftigte ergänzt wurden.10 8 9

Alexander von Lengerke: Die ländliche Arbeiterfrage, Berlin: E. H. Schroeder 1849. Theodor von der Goltz: Die Lage der Landarbeiter im Deutschen Reich, Berlin: Wiegandt, Hempel & Parey 1875. 10 Vgl. dazu Cornelius Torp: Max Weber und die preußischen Junker, Tübingen: Mohr-Siebeck 1998.

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Nach Aufhebung der Leibeigenschaft und durch die preußische Agrargesetzgebung des 19. Jahrhunderts war die Möglichkeit der Heranziehung von dienstpflichtigen Bauern zu Handund Spanndiensten während der Zeiten der Feldbestellung und Ernten weggefallen; an ihre Stelle trat die Beschäftigung von Arbeitern mittels Arbeitsverträgen. Der variable Bedarf an landwirtschaftlichen Arbeitskräften führte im Wesentlichen zu zwei Hauptkategorien von Arbeitern: einerseits dem kontraktlich gebundenen Arbeiter, der auf dem Gut wohnte und seine Arbeitskraft jederzeit zur Verfügung stellen musste, unabhängig von saisonalen Schwankungen, andererseits dem sogenannten „freien“ Arbeiter, der sich ohne Kontrakt für verschieden lange Zeiträume verdingte, je nach Arbeitsanfall. Weber unterschied innerhalb der ersten Gruppe der kontraktlich gebundenen Landarbeiter drei Typen voneinander: 1. das dauernd erforderliche, meist ledige, „Gesinde“, dessen Stellung mit der von städtischen Dienstboten vergleichbar ist, 2. die „Chargen“ der Wirtschaftsbeamten, Vögte, Statthalter, Oberschäfer u.a., deren feste Entlohnung zur Bezeichnung „Deputatisten“ führte, 3. die „Instleute“, die Gutstagelöhner. Diesen Instleuten galt das besondere Interesse Webers, er schilderte ihre Situation folgendermaßen: Sie wohnten auf dem Gut in einzelnen Katen oder in sogenannten „Familienhäusern“ – die Weber durchgängig als „ländliche Arbeiter-Mietskasernen“ bezeichnet –, sie waren durch einen meistens einjährigen Arbeitsvertrag, der mit der ganzen Arbeiterfamilie abgeschlossen wurde, zur Arbeit verpflichtet und erhielten, im Gegensatz zu den Deputatisten, kein festes Entgelt, sondern eine Kombination von Geldzahlung, Naturalbezügen, Landanweisung zur eigenen Nutzung und Weideberechtigung, wobei das Verhältnis dieser einzelnen Bestandteile der Entlohnung und deren jeweilige Regelung stark unterschiedlich waren. Der Instmann stellte zudem nicht nur seine eigene Arbeitskraft und die seiner Frau und Kinder zur Verfügung, sondern zumeist auch noch die eines oder zweier „Scharwerker“ oder „Hofgänger“, die er selber entlohnte. Der Instmann war somit gegenüber dem Gutsherrn Arbeitnehmer, den Scharwerkern gegenüber jedoch selbst Dienstherr. Dieser Grund und weitere Gründe führten dazu, dass nur verheiratete, nicht völlig besitzlose Arbeiter diese Position bekleiden konnten. Ein zusätzliches, außerordentlich wichtiges Moment der Entlohnung der Instleute war die proportionale Beteiligung am Gesamtertrag des landwirtschaftlichen Betriebs beim Dreschen, das die Instleute hauptsächlich allein ausführen „durften“. Eine Entlohnung nach Tageslohn fand nur während der Zeit von Saat und Ernte statt: Die übrige Zeit des Jahres – bis zu acht Monaten – galt der Arbeit des Ausdreschens. Die Erträge des „Dreschmaßes“ schwankten naturgemäß je nach dem Ausfall der Ernte – und damit auch das Einkommen der Instleute.

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Den Juristen Max Weber interessierte die rechtliche Natur des Verhältnisses zwischen Großgrundbesitzer und Instmann außerordentlich, weil dieses als eine Mischung sehr heterogener arbeitsrechtlicher Momente erschien. Es war einerseits kein reiner Arbeitsvertrag, da ja nicht nur ein Arbeitsverhältnis, sondern darüber hinaus ein „Herrschaftsverhältnis über die Person des Instmanns“ (Weber 1892b, S. 79) bestand, weil der Gutsbesitzer nicht nur Arbeitgeber war, sondern zugleich auch die Gerichtsobrigkeit innehatte. Andererseits war es jedoch auch kein reines Lohnarbeitsverhältnis, da die Entlohnung nicht nur durch einen festen Lohn, sondern auch durch eine Beteiligung am Gesamteinkommen der Gutswirtschaft geregelt war. Weber schreibt dazu: „Das Verhältnis trug so einerseits die Eierschalen der Unterthänigkeit noch an sich, deren Beseitigung dem Gutsherrn in materieller Beziehung mindestens ebensoviele Pflichten als Rechte abgenommen hatte, es machte und macht den Arbeiter in besonders hohem Grade abhängig von der persönlichen Leistungsfähigkeit und auch von den Willkürlichkeiten des Herrn, andererseits aber begründete es eine intensive Interessengemeinschaft zwischen dem Gutsherrn und seinen Instleuten, welche diesen täglich vor Augen stehen musste.“ (1892b, S. 79 f.)

Somit wurde die Gutswirtschaft, trotz ihres Charakters als eines, wie Weber sie bezeichnet, „straff monarchisch-centralisierten wirtschaftlichen Organismus“, insgesamt eine Gemeinschaft der wirtschaftlichen Interessen von Instleuten und Gutsherren. Der Instmann wurde zum Teilhaber an der Wirtschaft des Herrn, gewissermaßen ein „Kleinunternehmer“. Weber interpretiert diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Die streng patriarchalische Leitung wurde ertragen, wenn sie den wirtschaftlichen Unterlagen des Verhältnisses entsprach. Ob dies noch heute der Fall ist und künftig der Fall sein wird, das zu untersuchen muß eine der Hauptaufgaben der nachfolgenden Darstellung sein.“ (1892b, S. 80)

Webers These war dabei, dass im Falle eines Divergierens der wirtschaftlichen Interessen von Instleuten und Gutsherren mit dem Fortbestand des alten Verhältnisses „schlechterdings nicht zu rechnen“ (1892b, S. 19) war. Die Gruppe der sogenannten „freien“ Arbeiter wurde deswegen so bezeichnet, weil sie im Allgemeinen nicht der Polizei- und Gerichtsbarkeit des Gutsherrn unterlagen, nicht durch einen festen Arbeitskontrakt, zusammen mit ihren Familien, auf ein Jahr an den Gutsbetrieb gebunden waren, sondern auf der Grundlage eines normalen Lohnarbeitsverhältnisses arbeiteten. Bei ihnen war eine reine Geldentlohnung die Regel. An dieser Gruppe interessierte Weber vor allem die Frage, welche Chancen dieser Personenkreis hatte, zu selbstständigen Kleinbauern aufzusteigen und sich somit aus ihrer weitgehenden Abhängigkeit vom Großgrundbesitzer zu befreien. Diese Chancen hingen nach seiner Ansicht von mehreren Mo-

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menten ab: ob und in welchem Lebensalter der Arbeiter finanzielle Rücklagen bilden konnte und ob in der jeweiligen Gegend überhaupt die Gelegenheit des Kaufs oder der Pachtung kleinbäuerlicher Wirtschaften geboten wurde. Aber neben diesen „äußeren Verhältnissen“ erschien Weber die „subjektive Disposition“ des Arbeiters, ein Kleinunternehmer zu werden, als mindestens ebenso entscheidend. Im Gegensatz zu den Instleuten hatte dieser Personenkreis meistens keine Gelegenheit, die notwendigen Kenntnisse eigener Wirtschaftsführung zu erlangen, und er kam vor allem nicht dazu, „sich den Gedanken einer Standesehre des landwirtschaftlichen Betriebes anzueignen“ (Weber 1892b, S. 97). Die Entlohnung durch den reinen Geldlohn „fordert zum Vergleich auf mit den teils wirklich, teils (angesichts der städtischen Wohnungsund Marktpreise) nur scheinbar günstigeren Lohnbedingungen der Industrie und legt ihm den Gedanken nahe, durch Übergang zum gewerblichen Arbeiterstand sich ein – allerdings nur in seiner Vorstellung bestehendes – Ascensionsverhältnis zu schaffen. Es prädisponieren ihn auch seine materiellen Interessen, welche in Bezug auf die Preisstellung der Produkte denjenigen der Arbeitgeber entgegenlaufen, ohnehin dazu, sich von dem in großartiger Entwickelung begriffenen Klassenbewußtsein des modernen, Stadt und Land umfassenden Proletariats ergreifen zu lassen, und vor allen Dingen hat er wenigstens in vielen Fällen nicht die Qualifikation zur Führung einer eigenen Wirtschaft“ (Weber 1892b, S. 97 f.).

Neben diesem Typus der sogenannten „freien“ Arbeiter gab es zudem nicht kontraktlich gebundene Arbeiter, die eigenen Grundbesitz oder eine selbstständige Wirtschaft auf gepachtetem Land besaßen. Die Erträge aus der eigenen Wirtschaft genügten in aller Regel nicht zur Deckung des Nahrungsmittelbedarfs, was vertrackte Konsequenzen nach sich zog: „In der That besteht der eigenartige Widerspruch in den materiellen Interessen dieser Leute, daß sie einerseits Landwirte sind, andererseits einen Teil ihres Nahrungsbedarfs regelmäßig sich durch Zukauf beschaffen müssen und die Preisgestaltung der notwendigen Lebensmittel daher ihr Interesse gerade im entgegengesetzten Sinn berührt wie dasjenige des Gutsherrn und der Bauern. Während diese an hohen, haben sie an niedrigen Lebensmittelpreisen ein Interesse, und dieser Gegensatz ist zum Teil die latente Grundlage des vielfach gerade zwischen dieser Kategorie von Arbeitern und den Grundbesitzern bestehenden Misstrauens.“ (Weber 1892b, S. 99)

Im anschließenden Materialteil der Untersuchung der Verhältnisse in den einzelnen Bezirken wurde jeweils ein Bericht über die Bodenverhältnisse, die Grundbesitzentwicklung und über die Verteilung der angeführten Arbeiterkategorien vorausgeschickt; daran schlossen sich tabellarische, außerordentlich detaillierte Darstellungen der allgemeinen Arbeitsverhältnisse an: Arbeitszeit, Überstunden, Sonntagsarbeit, Frauenarbeit, Kinderarbeit, Alters-, Invaliditätsund Krankheitsversorgung, Angaben über Bildungseinrichtungen usw.

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Trotz unzweifelhafter Mängel, vor allem vom Stand heutiger sozialwissenschaftlicher Methodologie aus geurteilt – Weber fehlten vor allem die Kenntnisse der Wahrscheinlichkeitsund Stichprobentheorie –, stellte diese Auswertung des erhobenen Materials eine wichtige Etappe in der Entwicklung sozialwissenschaftlicher Methoden und Techniken dar, ganz abgesehen von der anhaltenden Relevanz für das historische Verständnis der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten des damaligen Deutschen Reiches. In seinem Schlussteil ging Max Weber auf drei Aspekte der Landarbeiter-Enquête ein: methodologische Einordnung und Kritik, rechtliche Fragen und sein eigener Versuch, Richtung und mögliche, vor allem politische Konsequenzen der bisherigen Entwicklung zu formulieren. Weber wollte weder eine Zusammenfassung noch eine umfassende Würdigung der Ergebnisse vorlegen. Die Hauptfunktion der Studie sah er in der Korrektur mancher landläufiger Ansichten seiner Zeit, vor allem der, dass die Lage der Landarbeiter eine besonders erbärm­ liche sei, verglichen mit der angeblich erheblich erfreulicheren Lage der Industriearbeiter. Trotz der hohen Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Erfolg des Gutsbetriebs und dem guten Willen des Gutsherrn bezeichnete Weber die Lage gerade des Gesindes und der Instleute als derart, dass „bei durchschnittlichen Verhältnissen ihre materielle Lage ungleich gesicherter ist als die auch der bestgestellten gewerblichen Arbeiter und unter einigermaßen günstigen Bedingungen schlechterdings nicht damit verglichen werden kann“ (1892b, S. 896). Warnend wies Weber jedoch auf Entwicklungstendenzen der ländlichen Arbeitsverfassung hin, die diesen relativ befriedigenden Zustand erschüttern könnten. Diese Tendenzen hingen vor allem mit der veränderten Stellung der Getreideproduktion und mit allgemeinen Konsumveränderungen zusammen. Ausführlich stellte Weber diese Prozesse dar, vor allem den großen Einfluss, den der Konsum von Kartoffeln und mehr Fleisch bei der Landbevölkerung ausübte. Dazu kamen die Wirkungen, die stark schwankende Getreidepreise auf dem inländischen Markt und dem Weltmarkt auslösten, sowie die Einführung intensiverer Anbaumethoden und von Dreschmaschinen. Alle diese Momente zusammen bewirkten, in der Einschätzung Webers, dass die traditionellen Grundlagen einer „Interessengemeinschaft“ zwischen den Grundbesitzern als Arbeitgebern und den ländlichen Arbeitern als Arbeitnehmern allmählich beseitigt wurden. Damit kam es zunehmend auf die Frage an, „wie die Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich zueinander stellen, auf die wirt­ schaftliche Interessenposition und auf die sociale Schichtung der Arbeiter […], und zwar aus­ schließlich […], wenn man die Zeichen der Zeit deuten will. Der Übergang vom Kleinwirt und vom Kleinunternehmertum überhaupt zum Proletariat bedeutet, rein materiell betrachtet, meist eine Erleichterung; eine gewaltige Last von Sorgen wird damit von den Schultern des Instmanns, dem der Himmel und der Weltmarkt den sauer miterarbeiteten Ernteertrag schmälern konnten, genommen; […] Aber das ändert nichts daran, daß der frühere Kleinwirt eben

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Proletarier geworden ist, daß seine Interessen die des Konsumenten sind, daß er überhaupt die stets vor Augen stehende Interessenbeziehung zum einzelnen Gut verliert und Glied der großen einheitlichen Masse der Besitzlosen wird“ (Weber 1892b, S. 901).

Dieses Zerbrechen der traditionellen Interessengemeinschaft und die Proletarisierung der Landarbeiterschaft machte Gutsherren und Landarbeiter zu ökonomischen Gegnern, für die nach Weber gilt: „Zwischen natürlichen wirtschaftlichen Gegnern giebt es eben nur den Kampf, und es ist eitler Wahn, zu glauben, daß eine Stärkung der ökonomischen Macht der einen Partei der socialen Position der anderen zu Gute kommen werde.“ (1892b, S. 903) Der gemeinsame Nenner für diese Entwicklungsprozesse ist nach Weber die Umwandlung einer patriarchalischen Organisation in eine moderne, kapitalistische. Somit sei es keinesfalls böser Wille einzelner Handelnder, die diese Entwicklung verursachten und denen daraus ein Vorwurf gemacht werden könne: „Es arbeiten beide Teile, Arbeiter und Arbeitgeber, nach der angedeuteten Richtung hin, und der einzelne Arbeitgeber handelt lediglich in Konsequenz der nun einmal mit zwingender Gewalt sich gestaltenden Verhältnisse. Will er unter den jetzigen Konkurrenzverhältnissen und bei der Schwierigkeit des Arbeitsmarktes bestehen, so kann er nicht anders verfahren. Gerade das ist das Bedrohliche der Situation, daß die Wirksamkeit der darin liegenden Entwicklungstendenzen von dem Thun und Lassen Einzelner unabhängig ist.“ (1892b, S. 915)

Weber ging ausführlich auf die – größtenteils ungewollten bzw. nicht bedachten – Konsequenzen dieser Entwicklung ein: die Auswirkungen auf die militärische Disziplin, die Verdrängung der einheimischen, deutschen Arbeiterschaft durch die Wanderarbeiter, den allmählichen Verlust der ökonomischen Machtstellung der ostelbischen Großgrundbesitzer, dieser einstigen „Stütze der Monarchie“. In diesem Zusammenhang stellte sich für Weber die „ländliche Arbeiterfrage“ nicht primär als eine sozialpolitische Problematik, sondern als eine politische, die „vom Standpunkt des Staatsinteresses gewiß nicht gleichgültig“ (1892b, S. 917) sein kann. Sie war in seinen Augen daher primär eine „Landfrage“, d. h., es ging seiner Ansicht nach darum, ob man gerade den deutschen Arbeitern „nach oben“ Luft schafft, ob man ihnen die Möglichkeiten eines Aufsteigens zu einer selbstständigen Existenz bietet oder solche verhindert: „Die wichtigste Frage ist, ob ihnen [den Arbeitern] ein Aufsteigen in den Bauern­ stand ermöglicht werden kann, und damit läuft die ländliche Arbeiterfrage für den Osten in die Frage der inneren Kolonisation aus […]“ (1892b, S. 926). In diesem Zusammenhang sah Weber im Import slawischer Wanderarbeiter durch die Großgrundbesitzer eine Gefährdung des „Deutschtums“ in einem sich entvölkernden Osten, in dem die deutsche Kultur vor die „Existenzfrage“ gestellt sei:

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„Ob man die Konsequenzen dieser Situation entschlossen zieht, davon wird die Zukunft des deutschen Ostens abhängen. Die Dynastie der Könige von Preußen ist nicht berufen zu herrschen über ein vaterlandsloses Landproletariat und über slawisches Wandervolk neben polnischen Parzellenbauern und entvölkerten Latifundien, wie sie die jetzige Entwickelung im Osten bei weiterem Gehenlassen zu zeitigen vermag, sondern über deutsche Bauern neben einem Großgrundbesitzerstand, dessen Arbeiter das Bewußtsein in sich tragen, in der Heimat ihre Zukunft im Aufsteigen zu selbständiger Existenz finden zu können.“ (1892b, S. 928 f.)

Nach seiner intensiven Beschäftigung mit dem Enquête-Material war es Max Weber ein dringendes Anliegen, seine Ergebnisse einem größeren Kreis von sozialpolitisch und wissenschaftlich Interessierten bekannt zu machen. Es war ihm wichtig, dass die von ihm vorgeschlagenen sozialpolitischen Empfehlungen in den politisch zuständigen Institutionen diskutiert wurden. Aus diesen Gründen veröffentlichte er in den Jahren 1893/94 mehrere Aufsätze (Weber 1893b; Weber 1893c; Weber 1894a; Weber 1894b), bei denen sich erkennbar – neben seiner Absicht, aufgetauchte Missverständnisse aufzuklären und kritischen Einwänden zu begegnen – die Akzente immer mehr in Richtung der politischen Forderungen verschoben. Einen gewissen Höhepunkt dieser Akzentverschiebung stellte ohne Zweifel die Freiburger akademische Antrittsvorlesung von 1895 dar (Weber 1895), in der Webers politische Überzeugungen in den größeren Zusammenhang einer Analyse der historisch-politischen Situation des deutschen Kaiserreiches gestellt wurden und in der die Nation zum obersten Wert einer Volkswirtschaftspolitik erhoben wurde. Auch mit seinem Referat (Weber 1893d) auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik im März 1893 in Berlin beabsichtigte Weber keine Wiederholung der Ergebnisse, sondern die „Überleitung zur Debatte“ und vor allem eine Erörterung „gewisser hochpolitischer Fragen“, die er – wie er selbst eingestand – „etwas provokatorisch“ vortrug (ebd.). Er verglich seine Ergebnisse von vornherein mit denen der Untersuchungen der anderen Teile Deutschlands, wobei ihm wiederum die sogenannte „Polenfrage“, d. h. die Problematik der polnisch-russischen Wanderarbeiter, das vordringlichste Anliegen war. Als Begründung für diese Schwerpunktsetzung formulierte er unmissverständlich: „Ich betrachte die ‚ländliche Arbeiterfrage‘ hier ganz ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Staatsraison; sie ist für mich keine Frage der Landarbeiter, also nicht die Frage: geht es ihnen schlecht oder gut, wie ist ihnen zu helfen?“ (Weber 1893d, S. 74) Auch seine praktischen Forderungen standen ausschließlich in diesem Zusammenhang: Weber forderte einen absoluten Ausschluss der russisch-polnischen Arbeiter aus dem deutschen Osten und die Förderung der „inneren Kolonisation“ durch staatliche Schaffung von bäuerlichen Kleinstellen. Diese Maßnahmen waren gedacht zur „friedlichen Verteidigung der östlichen Grenze des Deutschtums“ (1893d, S. 85).

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Die Landarbeiter-Enquête des Evangelisch-sozialen ­K ongresses Noch im Jahr 1892, als er mitten in der Auswertung der Vereins-Enquête steckte, regte Weber an, die Ergebnisse durch die Durchführung von Privatenquêten zu ergänzen und zu korrigieren. Und bereits im Dezember desselben Jahres führten Max Weber und der Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses, Paul Göhre, im Auftrag ebendieses Kongresses eine zweite Enquête über die Lage der Landarbeiter Deutschlands durch. Gerade im Anschluss an die eigenen und von anderen geäußerten Zweifel an der Vollständigkeit und Glaubwürdigkeit der Angaben der Gutsbesitzer über die Situation „ihrer“ Landarbeiter suchten Weber und Göhre nach „möglichst unbefangenen Mittelspersonen“ (Weber 1893a, S. 536), die weitere, eventuell korrigierende Angaben machen könnten. Aus Gründen der Durchführbarkeit verwarfen beide die Anregung, dafür die Landärzte zu befragen, und wandten sich stattdessen an die evangelischen Pfarrer in Deutschland, an deren Adressen sie durch den Kongreß unschwer gelangten. Ein von Weber und Göhre entwickelter Fragebogen mit 23, teilweise außerordentlich detaillierten Fragen (abgedruckt in Weber 1899, S. 1) wurde an sämtliche evangelischen Geistliche des Deutschen Reiches – etwa 15 000 – gesandt; bis Juni 1893 liefen davon nur 1 000 beantwortet zurück. Die Auswertung dieser Berichte teilten sich Göhre und Weber auf: Göhre bearbeitete den Westen und Süden Deutschlands, Weber erneut den Osten. Bereits Ende des Jahres 1893 berichtete Max Weber von Verlauf und Zielsetzung dieser Enquête (1893a) und bekannte, dass Göhre und er dem Material „fast ratlos“ gegenüberstünden, insofern „als wir bisher nicht im klaren sind, wie es verarbeitet werden soll“ (1893a, S. 540). Im Mai 1894 fanden in Frankfurt am Main die Verhandlungen des 5. Evangelisch-sozialen Kongresses statt, auf dem sowohl Göhre als auch Weber über die vorläufigen Ergebnisse berichteten (Göhre 1894; Weber 1894c). Die endgültige Veröffentlichung eines Teils der Ergebnisse und des Materials begann erst 1899 (vgl. Weber 1899). Göhre betonte dabei den Charakter der Untersuchung als einer „Ergänzungsenquête“ (Weber 1894c, S. 46), deren Absicht es gewesen sei, die Untersuchung des Vereins für Socialpolitik zu erweitern, zu kontrollieren und durch auf anderen Wegen gewonnene Ergebnisse zu ergänzen. Die Entscheidung, die Pfarrer zu befragen, sei bestimmt gewesen von der Überzeugung, diese seien ganz besonders gut dafür geeignet: „Denn der Geistliche beobachtet […] den Landarbeiter von einem anderen Gesichtspunkt aus als der Arbeitgeber. Dieser ist Partei, wie der Arbeiter selbst, der Geistliche einer der wenigen Unparteiischen, die auf dem Lande überhaupt zur Verfügung stehen.“ (Göhre 1894, S. 45) Max Weber betonte in seinem Koreferat vor allem den Aspekt, dass die Geistlichen ihre Angaben durch die Befragung der Landarbeiter selbst beschaffen mussten, so dass die teilweise außerordentlich ausführlichen Berichte „eine Fülle von Angaben aus Arbeitermund“ (1894c, S. 62) enthielten. Daneben habe die Enquête jedoch noch eine zweite Zielsetzung ge-

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habt: die der Schulung des sozialpolitischen Denkens der Pfarrer, d.h., diesen durch den systematischen Fragebogen „die erleichterte Möglichkeit zu geben, in ihrem eigenen und ihrer Gemeinde Interesse sich einen Einblick in die ökonomischen-sozialen Existenzbedingungen ihrer Gemeindeangehörigen zu verschaffen“ (Weber 1899, S. 10). Wiederum endeten Webers Schlussfolgerungen mit politischen Überlegungen, wobei sich seine Kritik an der traditionellen Großgrundbesitzerschicht der ostelbischen Junker erheblich verschärft hatte: „Diesem Grundadel eigen war das naive Bewußtsein, die Vorsehung habe es so eingerichtet, daß er zum Herrscher und die Anderen auf dem Lande zum Gehorsam berufen seien. Warum? Darüber machte er sich keine Gedanken. Die Abwesenheit der Reflexion war ja eine seiner wesentlichen Herrschertugenden.“ (1894c, S. 70) Weber, der sich in diesem Zusammenhang selbst als einen „klassenbewußten Bourgeois“ bezeichnete (1894c, S. 77), sah sowohl auf der Seite der Großgrundbesitzer wie auf der Seite der Landarbeiter dominante Tendenzen der Klassenbildung: Die einen wurden zur einheitlichen Klasse von Kapitalisten, die anderen zu der des Proletariats (Weber 1894c, S. 70 f.). Durch diese Entwicklung wurden die ehemaligen persönlichen Herrschaftsverhältnisse allmählich durch eine „unpersönliche Klassenherrschaft“ ersetzt: „Nur die Klasse kann mit der Klasse verhandeln; die Verantwortlichkeitsbeziehungen zwischen dem einzelnen Herrn und dem einzelnen Arbeiter verschwinden; der einzelne Unternehmer wird gewissermaßen fungibel, er ist nur noch Typus der Klasse. Die persönliche Verantwortlichkeitsbeziehung verschwindet; etwas Unpersönliches, die Herrschaft des Kapitals pflegt man es zu nennen, tritt an die Stelle.“ (Weber 1894c, S. 71)

Durch diese Entwicklung entstehe der Hass der einen Klasse gegen die andere, den Weber mit dem „Nationalhaß“ gegen den „Erbfeind“ verglich. In Verbindung mit dem objektiven Interessengegensatz erwachse der Klassenkampf, von dem Weber sagte: „Der Klassenkampf ist da und ein integrierender Bestandteil der heutigen Gesellschaftsordnung.“ (1894c, S. 73)

Einige Bemerkungen über Max Webers Rolle bei der Erhebung des Vereins für Socialpolitik Trotz jahrzehntelanger Weber-Forschung ist die Frage bislang nicht eindeutig geklärt, welches die genaue Rolle Max Webers bei der Enquête des Vereins für Socialpolitik gewesen war. Erinnert sei an jenen Disput, den Florian Tennstedt und Martin Riesebrodt Ende der 1980er-Jahre über diese Fragen miteinander austrugen. Tennstedt11 hatte in seiner Bespre11 Florian Tennstedt 1986: Junker, Bürger, Soziologen. Kritisch-historische Anmerkungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Max Webers. – In: Soziologische Revue, 9. Jg., S. 8–17.

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chung der Riesebrodt’schen Edition der Landarbeiter-Enquête im Rahmen der Max-WeberGesamtausgabe, neben scharfer Kritik wegen fehlender Kontextpräsentation zur allgemeinen Diskussion über die innere Kolonisation, insbesondere die angeblich grobe Fahrlässigkeit des Herausgebers bei der „biografischen Recherche“ bemängelt. Er kritisierte insbesondere die Vernachlässigung folgender Punkte: 1. die Tatsache, dass Max Weber senior der Kommission des Preußischen Abgeordnetenhauses zur Vorbereitung des „Polengesetzes“ der inneren Kolonisation angehört habe, 2. die Tatsache, dass Max Weber junior bereits Ende Juli 1888 den Gnesener Landrat Otto Nollau, einen der bekanntesten Eiferer für die innere Kolonisation, um eine Einladung zur Besichtigung eines Kolonisationsgutes gebeten hatte, 3. die Tatsache, dass Weber 1889 eine seiner Dissertationsthesen der inneren Kolonisation gewidmet habe, die Verschärfung des Konflikts mit den konservativen Agrariern begrüßt, den Leiter der inneren Kolonisation in der Provinz Posen, Robert Graf von ZedlitzTrützschler, gelobt und eine neue „Kolonisationsepoche“ herbeigesehnt habe, 4. die Tatsache, dass der Vortragende Rat im Preußischen Landwirtschaftsministerium, Hugo Thiel, eine der zentralen Persönlichkeiten bei der Vorbereitung der Enquête – in den Jahren 1873–1879 – ebenso wie Max Weber senior nationalliberales Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus gewesen sei, zugleich und zusätzlich auch noch Referent und Kurator für die Königlich Landwirtschaftliche Hochschule in Berlin, als solcher über einen Dispositionsfonds von beträchtlichem Umfang für wissenschaftliche Zwecke verfügte und sich privat an einer ostelbischen Kolonisationsgesellschaft beteiligt hatte, 5. die Tatsache, dass Friedrich Großmann, ein weiterer Enquête-Mitarbeiter, nicht nur schlichter „preußischer Verwaltungsbeamter“ war, wie Riesebrodt angemerkt hatte, sondern ebenfalls bei der Posener inneren Kolonisation tätig gewesen war, 6. die Tatsache, dass Weber Anfang 1891 nach Abschluss seiner Habilitationsschrift, nach der er nur wenig Antrieb gehabt hatte, „gerade jetzt noch erst viele dicke Bücher zu schreiben“ (Brief Max Webers an Hermann Baumgarten vom 3. Januar 1891, in: Max Weber: Jugendbriefe. Tübingen: Mohr-Siebeck 1936, S. 327), nur ein Jahr später eben jenen Arbeitsauftrag angenommen hatte, der innerhalb von fünf Monaten auf über 900 Seiten angewachsen war. Was Tennstedt mit dem Verweis auf diese Tatsachen zu belegen suchte, war die These, dass in Anlage und Durchführung dieser Enquête „Politik und Wissenschaft von Anfang an eng verquickt waren. Daß sie also weniger eine freie wissenschaftliche Arbeit im Auftrag eines unabhängigen Vereins für Sozialpolitik war, sondern sehr viel mehr ein mit dem Preußischen Landwirtschaftsministerium abgesprochenes Gutachten zugunsten der inneren Kolonisation und damit eines nationalliberalen Reformprogramms zu Agrarpolitik nach dem Wahldebakel von 1884.“ (1986, S. 10)

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Verständlicherweise machte Riesebrodt seine Zurückweisung der Tennstedt’schen „Komplementärgeschichte“ an dessen vager Formulierung fest, sie „könnte so verlaufen sein“12. Gerade wenn man dem von Tennstedt genannten Kriterium folgt, demzufolge „der Sorgfaltsgrad der biografischen Recherche einen entscheidenden Qualitätsindikator der MWG“ (1986, S. 11) ist, so zeigen sich bei dem hier in Erinnerung gerufenen Disput sehr genau die Defizite unserer bisherigen und derzeitig zugänglichen biografischen Kenntnisse über Max Weber. Die vermeintlich so einfache Frage: Wie kam es dazu, dass dem 28-jährigen Juristen Max Weber Auswertung und Interpretation der bis zum Februar 1892 beim Verein für Socialpolitik eingegangenen Berichte über die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland übertragen wurden?, kann auf der Grundlage der uns derzeit vorliegenden Publikationen nicht definitiv beantwortet werden. Was spielt es jedoch für eine Rolle, ob man nun weiß, wie und warum Max Weber mit der Auswertung der Landarbeiter-Enquête beauftragt wurde? Wir haben den Text, wir haben die zahlreichen seiner weiterführenden publizierten Arbeiten zum Landarbeiter-Thema, und wir wissen relativ viel über Rezeption und Wirkung der Weber’schen Interpretation. Genügt das nicht, um diesen Text adäquat zu verstehen? Ich sage: Nein, auch wenn ich selbst nicht in der Lage bin, diese Leerstelle der Weber-Forschung zu füllen. Ich mache jedoch kein Hehl daraus, dass ich – wenn auch eher intuitiv – der Hypothese von Tennstedt zuneige, dass wir es bei Webers Auswertungen weniger mit einer werturteilsfreien sozialwissenschaftlichen Analyse zu tun haben, sondern dass es sich eher um ein mit dem Königlich-Preußischen Landwirtschaftsministerium abgesprochenes Auftragsgutachten zugunsten der inneren Kolonisation und damit eines nationalliberalen Reformprogramms der preußischen Agrarpolitik handelt.13

Abschliessende Bemerkungen zur bleibenden Bedeutung der Landarbeiter-Enquêten Max Webers Fragt man nach der bleibenden Bedeutung der hier kursorisch rekapitulierten Landarbeiterenquêten, so ist diese einigermaßen offensichtlich. Es sind gründliche empirische Arbeiten zur Analyse relevanter Aspekte jener Gesellschaft, in der Max Weber lebte. Es darf nicht vergessen werden, dass etwa im Jahre 1881 noch 47 % der erwerbsfähigen Bevölkerung 12 Martin Riesebrodt 1986: Editoren, Rezensenten, Karikaturisten. Replik auf Florian Tennstedt. – In: Soziologische Revue, 9. Jg., S. 228–231. 13 Vgl. zum gesamten Zusammenhang: Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein Verlag 2005.

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des Deutschen Reiches in ländlicher Beschäftigung standen („Verhandlungen“, vgl. Weber 1893d, S. 194). Weber untersuchte vor allem die wechselseitigen Auswirkungen der allmählichen Durchsetzung des modernen, rationalen Betriebskapitalismus im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion und die komplexen Auswirkungen dieser Version des neuzeitlichen Kapitalismus auf ökonomischem, gesellschaftlichem, politischem, psychologischem und ethischem Gebiet. Um derartige Ursachen und Folgen übergreifender Prozesse aufzeigen zu können, bemühte Weber sich um eine möglichst umfassende Analyse sowohl der nicht unmittelbar gesellschaftlich abhängigen Faktoren (Bodenqualität, klimatische Bedingungen etc.) als auch der gesellschaftlichen Bedingungen (Grundbesitzverteilung, Arbeitsorganisation, Sozialeinrichtungen etc.). Zugleich verband er analytisch lokale Gegebenheiten mit nationalen Verhältnissen, wie den Getreideschutzzöllen und der staatlichen Landwirtschaftspolitik, und zudem mit internationalen Verhältnissen, wie vor allem dem Getreidepreis auf dem Weltmarkt. Weber stellte diese für ein begrenztes Territorium gültigen Ergebnisse in einen kausalen und funktionalen Zusammenhang mit politisch-nationalen Entwicklungen, so etwa der sogenannten „Polenfrage“ und mit „universalen“ Entwicklungen, vor allem jener vom Traditionalismus/Patriarchalismus zum Kapitalismus/Rationalismus. Dass er im Anschluss an seine analytische Aufarbeitung des von ihm nicht selbst erhobenen Materials zu praktischen Empfehlungen und einer tagespolitischen Bewertung seiner Ergebnisse fortschritt und dass ihm diese außerordentlich wichtig waren, sei nochmals betont. Wenigstens erwähnt sei jedoch, dass Webers politische Forderungen, insbesondere seine nationalistisch geprägte Kritik an der Arbeitsmarktpraxis des ostelbischen Junkertums, als insgesamt vollkommen wirkungslos eingeschätzt werden müssen. In seinem „Schlußbericht über die Provinz Pommern“ (1892b, S. 373–403) konstatiert Weber für die Lage der pommerischen Landarbeiter, dass deren „Nahrungsstand“ ein günstigerer sei als der in Ost- und Westpreußen. Dennoch hält er fest, dass die Deputate an Cerealien zunehmend abnehmen und durch den Konsum von Kartoffeln ersetzt werden. Sein Fazit lautet, in Übereinstimmung mit der bereits angeführten allgemeinen Entwicklung: „Es besteht mithin bei jedem Übergange aus dem Instverhältnis in eine andere Form des Arbeitsverhältnisses hier wie sonst die Gefahr eines Sinkens der relativen Bedeutung des Cerealienkonsums in der Ernährung der Arbeiter zu Gunsten des Verbrauchs von Kartoffeln und zugleich eine Lösung der Interessengemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeiter in Bezug auf den Ernteertrag und die Höhe der Getreidepreise und Verwandlung derselben in letzterer Beziehung, in einen Interessengegensatz.“ (1892a, S. 465)

Dieser sich entwickelnde „Interessengegensatz“, der im Kern der Gegensatz von Kapital und Arbeit ist, wurde von Max Weber als treibende Kraft hinter der zunehmenden Verschlechterung der Lage der Landarbeiter im ostelbischen Pommern ausgemacht. Aus soziologischer

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Sicht spricht nichts dagegen, dass es heute und noch immer derselbe Zusammenhang ist, der zu ländlicher Armut, deprivierten und prekären Lebenslagen der Menschen in diesem Raum führt. Zweifel mögen also erlaubt sein, ob es überhaupt zu einer „Entwicklung“, einer „Dynamik“ der Armut im ländlichen Raum Nordostdeutschlands kommen kann, solange dieser Interessengegensatz vorherrscht.

Literatur: Göhre, Paul: „Die deutschen Landarbeiter. [Referat] 1894“, in: Bericht über die Verhandlungen des 5. Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. Nach den stenographischen Protokollen. Berlin, S. 43–61. Kaesler, Dirk: Max Weber. München 2011. Weber, Max: „,Privatenquêten‘ über die Lage der Landarbeiter 1892a.“, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, hg. v. Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses. Nr. 4 vom 1. April 1892, S. 3–5; Nr. 5 vom 1. Juni 1892, S. 3–6; Nr. 6 vom 1. Juli 1892, S. 1–5, Berlin. Weber, Max (1892b): Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (Preußische Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Brandenburg, Großherzogtümer Mecklenburg, Kreis Herzogtum Lauenburg). Dargestellt auf Grund der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebungen, Leipzig: Verlag von Duncker & Humblot 1892. Weber, Max: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Herausgegeben von Martin Riesebrodt, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1984, 2 Halbbände. (= Max Weber Gesamtausgabe Abteilung I, Band 3) Weber, Max (1893): „Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands 1893a“, Die Christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, (23)7. S. 535–540. Weber, Max: Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter 1893b. In: Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande. Hg. Heinrich Sohnrey, I. Bd. Berlin, Nr. 1, S. 8–9; Nr. 2, S. 24–26; Nr. 3, S. 43–45; Nr. 4, S. 58–59; Nr. 8, S. 129–130; Nr. 9, S. 147–148. Weber, Max (1893c): Wie werden einwandfreie Erhebungen über die Lage der Landarbeiter angestellt?, Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande, I. Bd. Berlin, Nr. 4, S. 59–60. Weber, Max: Referat [über „Die ländliche Arbeitsverfassung“]. 1893d. Verhandlungen der am 20. und 21. März 1893 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für So-

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cialpolitik über die ländliche Arbeiterfrage und über die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes. Auf Grund der stenographischen Niederschrift herausgegeben vom Ständigen Ausschuß. Leipzig, S. 62–86. Weber, Max (1894a): Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik. Vierteljahresschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder (7)1. S. 1–41. Weber, Max (1894b): Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, Preußische Jahrbücher (77)3. S. 437–473. Weber, Max: Die deutschen Landarbeiter. [Korreferat und Schlusswort] 1894c. In: Bericht über die Verhandlungen des 5. Evangelisch-Sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. Nach den stenographischen Protokollen. Berlin, S. 61–82; 92–94. Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik 1895. Akademische Antrittsrede. Freiburg i. Br. und Leipzig. Weber, Max: Vorbemerkung des Herausgebers 1899. In: S. Goldschmidt: Die Landarbeiter in der Provinz Sachsen, sowie den Herzogtümern Braunschweig und Anhalt. Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands. In Einzeldarstellungen nach den Erhebungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses, hg. Von M. Weber, Tübingen, S. 1–11. Weber, Max: Jugendbriefe. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1936.

Was passiert, wenn Regionen „verarmen“? Überlegungen zur Verknüpfung von Armuts- und Regionalforschung Stephan Beetz Zusammenfassung: Räumliche Kontexte bilden einen eigenständigen Faktor zu Erklärung individidueller Lebenslagen und Lebensqualitäten. Der Artikel bezieht deshalb die Forschungsstränge der Armuts-, Stadt- und Regionalforschung konzeptionell aufeinander, um gemeinsame Perspektiven, aber auch unterschiedliche Ausgangslagen und Diskurse kenntlich zu machen. Dazu werden auch die Merkmale und die Besonderheiten individueller und regionaler Armut besprochen. Im weiteren Verlauf erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob ländliche Räume durch besondere Armutslagen in individueller wie regionaler Hinsicht geprägt sind. Im Ergebnis wird diskutiert, dass die Untersuchung räumlicher Prozesse mindestens ebenso wichtig ist wie die von regionalen Strukturmerkmalen. Daraus ergeben sich – durchaus unter Anleihen aus der Armutsforschung – wichtige Konsequenzen für eine regionalwissenschaftliche Forschung. Schlüsselwörter: Regionalforschung, ländliche Räume, Peripherisierung

Individuelle Lebenslagen und Lebensqualitäten entstehen nicht allein aus der individuellen Verfügbarkeit respektive dem Mangel an Ressourcen, sondern beruhen auf räumlich-kollektiven Bedingungen (vgl. Korczak 1995). Beispielsweise ist der Zugang zu einer privaten Krankenversicherung die eine Seite, derjenige zu einer hochwertigen notärztlichen Versorgung die andere. Raum und Armut konzeptionell aufeinander zu beziehen verspricht zudem eine deutlich verbesserte Erklärung von Armuts- und Stigmatisierungsvorgängen (vgl. Neckel in diesem Band). Dazu müssen einige konzeptionelle und methodische Schwierigkeiten überwunden werden. Der Aufsatz setzt sich in erster Linie mit diesen auseinander, zeigt aber auch Forschungsergebnisse aus der regionalen Armutsforschung auf. Schließlich akzentuiert er darauf, dass es nicht ausreicht, „arme“ Regionen nach regionalen Strukturmerkmalen zu beurteilen, sondern gesamtgesellschaftliche Prozesse auf ihre räumlichen Wirkungen hin zu analysieren.

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Soziale Ungleichheit und Sozialer Raum Zwar besaß die Erforschung von Armut seit ihren Anfängen eine räumliche Dimension, doch war diese auf bestimmte Problemgebiete bezogen und praktischen Anforderungen geschuldet. Kennzeichnend für Forschungen über soziale Ungleichheit war deshalb, dass Armut – auch wenn von Dorfarmut und städtischem Proletariat die Rede war – in erster Linie auf soziale Gruppen bezogen wurde, so die landlosen Bauern, die sogenannten Landstreicher, die ungelernten Arbeiter (vgl. Kronauer 1998, S. 13f.). Räumliche Merkmale der Armut richteten sich überwiegend auf die unmittelbare Wohnsituation wie z.B. die Belegung, die Ausstattung und die Hygiene des Wohnens (vgl. Kaelble 1983, S. 120ff.). Vor allem die Chicagoer Schule der Stadtforschung setzte in ihrer Anfangszeit darauf, mit ethnografischen Mitteln die Verhaltensweisen in einem räumlichen Umfeld und die Fragmentierungen der Großstadt zu untersuchen (vgl. Lindner 1990). Die sich hieraus entwickelnde, die Stadtforschung dominierende Raumökologie wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren von einer Stadtsoziologie hinterfragt, die einen engen Bezug auf die Ungleichheitsforschung nahm. Insbesondere die deutsche Ungleichheits- und Armutsforschung tat sich allerdings − anders als z.B. in angelsächsischen Ländern − mit der räumlichen Dimension schwer. Aus dieser inkonsistenten Forschungslage lassen sich sehr grob die folgenden drei „Traditionslinien“ der Verknüpfung von Armut und Raum nachzeichnen: 1. Die Konzeption des sozialen Raumes, der durch unterschiedliche soziale Positionen gekennzeichnet ist, wurde maßgeblich durch Pierre Bourdieu geprägt. Der in erster Linie als Ordnungsmuster benutzte Raumbegriff wurde von ihm auch auf empirische Orte angewendet. Der soziale Raum entsteht entweder aus sozialer Distinktion und symbolischer Repräsentation oder einfach aus Lokalisationsprofiten (Lage, Adresse, Nähe). In der Unterscheidung zwischen Domizil (Wohnung), Lokalisation (Position) und Platz (Besitz, Demonstration eines angeeigneten Raumes) wird deutlich, dass im Raumkonzept Alltagspraxis, Repräsentation und Macht zu berücksichtigen sind (vgl. Bourdieu 1991). Die von der Lebensstilforschung vorgenommene Verknüpfung von sozialen Gruppen mit bestimmten Raumtypen machte allerdings sichtbar, dass die Zuordnungen nicht stringent ausfallen, also nicht von einer Identität von Domizil und Position ausgegangen werden kann (vgl. Spellerberg 2004). 2. Untersuchungen zur Konzentration von Armut innerhalb der Städte leistet seit Langem die Stadtforschung. Als Segregation wird die ungleiche Verteilung der Wohnbevölkerung nach sozialen Merkmalen, das heißt vor allem die räumliche Konzentration von (sozial benachteiligten) Gruppen verstanden. In den letzten Jahrzehnten wurden vielfältige Anleihen aus der Ungleichheitsforschung übernommen, wie sie sich in den Diskussionen um „underclass“ und „Kultur der Armut“ ausdrücken. Daran anknüpfend werden mit

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sozialräumlicher Polarisierung ungleiche Entwicklungen der Auf- und Abwertung von Quartieren innerhalb der Städte beschrieben, die infolge zunehmender Marktprozesse und räumlicher Ausdifferenzierung die soziale Integration infrage stellen (z.B. Häußermann; Kapphan 2000). 3. Unter dem Begriff der regionalen Disparitäten werden Unterschiede zwischen Regionen hinsichtlich der Arbeits- und Lebensbedingungen (vor allem Arbeitsmarkt, Einkommen, Umwelt, Bildung, Infrastruktur, Wohnen) behandelt. Darunter werden auch verbesserte Rahmenbedingungen für die Handlungsfähigkeit der Gebietskörperschaften und Unternehmen diskutiert. Die Behandlung regionaler Differenzierungen ist allerdings unter ungleichheitstheoretischen Gesichtspunkten konzeptionell nur schwach entwickelt. Auf der politischen Ebene blieben in der Phase des Wirtschaftswachstums regionale Unterschiede zwar virulent, sie werden aber seit Anfang der 1990er-Jahre deutlich stärker in Zusammenhang mit Fragen der Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen diskutiert. Der Begriff territoriale Ungleichheit wird verwendet, um die Teilhabechancen des Individuums an bestimmten Wohnorten zu beschreiben (vgl. Neu 2006, S. 14). Tab. 1: Armutsbegriff im Vergleich von Ungleichheits-, Stadt- und Regionalforschung Stadtforschung Räumliche Segregationen Bürgerstadt, soziale Mischung

Regionalforschung Regionale Disparitäten Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen

Bezugsebenen Bezugsrahmen Politische Ziel­setzungen

Ungleichheitsforschung Soziale Ungleichheiten Leistungs- oder Chancengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit Individuum, Haushalte Nationalstaat, EU, OECD Soziale Inklusion

Stadtteile Stadt Sozial gemischte Stadt

Anwendung von ­Kategorien

Sozialstrukturelle Merkmale (z.B. Einkommen)

Operationalisierungen

Existenzminimum 60%-, 50%- oder 40%-Grenze, gemessen am Durchschnittseinkommen Arme Haushalte (z.B. Alleinerziehende, Migranten, Arbeitslose) Soziale Schichtung Klassenunterschiede

Sozialstatistische Merkmale (z.B. Umzüge, Arbeitslosigkeit, Wahlbeteiligung) Segregationsindex

Regionen Nationalstaat, EU, OECD Gleichwertige Lebensbedingungen Regionalökonomische Merkmale (z.B. Bruttoinlandsprodukt, Bevölkerungsentwicklung) Wirtschaftskraft 75%-Grenze, gemessen am durchschnittlichen BIP

Thema Wertvorstellungen

Typisierungen

Theoretische ­Überlegungen

Benachteiligte Quartiere (z.B. Arbeiterwohnquartiere, Großsiedlungen) Segregationen Polarisierungen

Strukturschwache Räume (z.B. ländliche und altindustrielle Räume) Wachstumspoltheorie Peripherisierung

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Dynamisierungen

Handlungsansätze Politische Strategien

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Ungleichheitsforschung Lebensverlauf, Krisen, familiäre Traditionen, hohe Verlaufsdynamik Lebenslagen, Bewältigung Soziale Sicherung

Stadtforschung Selektive Wanderungsbewegungen, „Kippen“ von Wohngebieten Entwicklungspotenziale Erneuerung Stadtentwicklung

Regionalforschung Strukturumbrüche, starke regionale Pfadabhängigkeiten Entwicklungspotenziale, Gestaltungsfähigkeit Regionalförderung

Quelle: Eigene Darstellung 2009

Während also das Konzept des sozialen Raumes allgemein die räumliche Ordnung des Sozialen thematisiert, sind Begriffe wie räumliche Segregation und regionale Disparitäten bereits auf bestimmte Räume und ihre Besonderheiten bezogen. In der Stadtforschung wurde vor allem die zunehmende Deindustrialisierung diskutiert, von der viele Städte betroffen waren und die zur Verarmung vor allem der Arbeiterschicht führte. Stadträumlich schlägt sich dies in den sozialen Brennpunkten der frühen Arbeiterquartiere und Migrantenviertel nieder, aber auch die Vorortestädte der unteren Mittelschicht sind zunehmend von der „neuen“ Armut betroffen (vgl. Bourdieu et al. 2005). Die klassische Erklärung, wie sich die Zunahme von sozialer Ungleichheit im Stadtraum niederschlägt, liefert im Wesentlichen der Wohnungsmarkt, der aufgrund von Bodenrenten und Mietangeboten das Wohnverhalten innerhalb einer Stadt entscheidend beeinflusst. In der Regionalforschung geht es weniger um die Verteilung von Armut innerhalb der Regionen, sondern um Wohlstandsdifferenzen zu anderen Regionen. Um dies zu erklären, werden vor allem regionalökonomische und infrastrukturelle Bedingungen angeführt, die im Weiteren noch genauer untersucht werden. In Tabelle 1 wurde der Versuch unternommen, den Armutsbegriff in der Ungleichheits-, der Stadt- und der Regionalforschung systematisch aufeinander zu beziehen. Es zeigt sich, dass die Diskussionsstränge durchaus ähnlich verlaufen, aber andere Bezüge bestehen.

Individuelle und regionale Armut Wenn in diesem Beitrag von einer „Verarmung von Regionen“ gesprochen wird, dann gilt es zu bedenken, dass hierbei soziale Konstrukte verwendet werden, die nicht gleichbedeutend mit denen der Ungleichheitsforschung sind, auch wenn in den Diskursen eine gewisse Parallele ersichtlich ist. Der heute überwiegend relational verwendete Begriff von Armut beruht auf Gerechtigkeitsvorstellungen, die auf ein – stets neu zu definierendes – Maß an sozialer Gleichheit innerhalb einer Gesellschaft ausgerichtet sind (vgl. Liebig 2006, S. 27f.): Wer oder was als arm angesehen wird, beruht auf dem Vergleich mit anderen. Der Bezugsrahmen für solche Vergleiche ist meist territorial definiert. Nicht verwunderlich ist, dass sich die Ungleichheits-

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forschung überwiegend auf den Bezugsraum Nation stützt, ist er doch (noch) die Basis der wichtigsten sozialstaatlichen und regionalökonomischen Regulierungen und Ausgleichsmaßnahmen. Historisch bedeutsam, heute in abgeschwächter Weise, dient die Gemeinde ebenfalls als Bezugsraum mit entsprechenden Gleichheitsvorstellungen für ihre Bürger. Die Europäische Union bzw. die OECD gewinnt immer mehr an Bedeutung als Vergleichsmaßstab. Entsprechend dem Bezugsraum fällt das Ergebnis aus, wie Armut definiert ist. Doch all diese Vergleiche beziehen sich letztlich auf das Individuum beziehungsweise den Haushalt. Ethisch gesehen sind dies handlungsfähige Subjekte, die prinzipiell einen moralischen Anspruch erheben und diesen vertreten können, auch wenn sie faktisch oft abhängig und ohnmächtig sind. Diese Vorstellung von Gerechtigkeit ist nicht ohne Weiteres auf das Konstrukt Region übertragbar. In der Regionalforschung hat sich eine Auffassung von Region durchgesetzt, die sie nicht nur als handlungsstrukturierende Umwelt von Individuen, sondern als kollektive „Handlungseinheit“ ansieht. Regionen sind in diesem Sinne kommunikative Zusammenhänge mit bestimmten Akteurskonstellationen in ökonomischen und politischen Kooperations- und Entscheidungsprozessen (Blotevogel 1999, 56). Zur normativen Begründung von regionaler Gerechtigkeit wird häufig der Grundsatz der Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen herangezogen. Obwohl dieses politische Konstrukt im deutschen Grundgesetz eher schwach vertreten und in keiner moralphilosophischen Tradition verankert ist, dürfte unstrittig sein, dass die regionalen Umweltbedingungen die Chancen und Leistungen der Individuen maßgeblich bestimmen. Gerechtigkeitsvorstellungen können daher nicht allein am isolierten Subjekt ansetzen, so wie der Ressourcenansatz in der Armutsforschung die Besonderheiten von Umwelt- und Gemeinschaftsgütern zu beachten hat. Die Diskussion um Gleichwertigkeit weist aber noch einen weiteren interessanten Aspekt auf: Es ist angesichts der Vielfalt regionaler Bedingungen gar nicht erstrebenswert, eine auch nur abgeschwächte Gleichheit zu postulieren, vielmehr gilt es, gerade die Verschiedenartigkeit zu berücksichtigen (vgl. Barlösius 2006, S. 18). Gerechtigkeit zwischen Regionen herzustellen ist keine Frage von Gleichheit, auch nicht im Sinne der Angleichung ausgewählter Lebensbedingungen. Die beiden letzten Kapitel dieses Beitrages werden darauf zu sprechen kommen. Schließlich ist bei der Verwendung des Begriffes „arme Regionen“ zu berücksichtigen, dass Räume nicht allein territorial, sondern durch sehr unterschiedlich genutzte und miteinander verflochtene Konfigurationen geprägt sind (wie Wohnräume, öffentliche Räume, Betriebsstätten, Pendeleinzugsbereiche). Raum ist nichts Feststehendes und die Verflechtung sowie die Hete­ rogenität von Raumbezügen ist ernst zu nehmen. Auch der sogenannte Sozialraumbezug, wie er in der Sozialen Arbeit immer häufiger verwendet wird, um die verschiedenen Aspekte von Armutslagen zu integrieren, stellt ein soziales Konstrukt dar. Leider verleitet die Verwendung des Raumbegriffes immer wieder dazu, Räume als etwas Substanzielles bzw. Feststehendes anzusehen. Dieser Umstand ist zu bedenken, wenn in diesem Beitrag statistische Gebiete, Siedlungs-

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einheiten oder Landkreise zur Beschreibung von sozialen Räumen herangezogen werden. Dies gründet forschungspraktisch auf Datenlagen, aber es ist immer wieder zu fragen, wie sich Armut eben in unterschiedlichen Raumbezügen äußert (z.B. auf Arbeits- und Wohnungsmärkten, in Gesundheits-, Verwaltungs- und Kommunikationsräumen). Es geht darum, die Besonderheiten regionaler Armut, aber auch deren Verschränkung mit individueller Armut zu beachten.

Kategorien der räumlichen Dimensionen von Armut Nachdem auf die Besonderheiten der Übertragung von Ungleichheitskategorien auf soziale Räume aufmerksam gemacht wurde, soll nun geprüft werden, welche Kategorien und Indikatoren zur Definition „armer“ Regionen herangezogen werden. Dafür wird seit Langem vor allem ein regionalökonomisches Maß verwendet, nämlich die regionale Abweichung des Bruttoinlandsproduktes. Eine wichtige Operationalisierung dieses Indikators liegt in der Gewichtung förderfähiger Regionen der Europäischen Union, wobei hier die 75-Prozent-Grenze vom durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukt zur Bestimmung der Regionalförderung he­ rangezogen wird. Andere statistisch verwandte Möglichkeiten, „arme“ Regionen zu definieren, beruhen auf dem durchschnittlichen Einkommen oder der Kaufkraft der Haushalte. Diese Indikatoren geben auf Grundlage der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung die ökonomische Leistungsfähigkeit einer Region im Vergleich zu anderen an. Eine gänzlich andere Zugangsweise besteht in der Identifizierung der räumlichen Konzen­ tration von Armut auf der Haushaltsebene in bestimmten Gebieten. Die Berücksichtigung der Einkommensverteilung und damit des Anteils armer Haushalte ist aufgrund des Mikrozensus für größere Regionen möglich, für kleinere Gebietszuschnitte ist es oft nur möglich, dass man sich mit dem Anteil der in einer Region lebenden Langzeitarbeitslosen oder Leistungsempfänger nach SGB II behilft. Die Aussagen der beiden Zugangswege sind keineswegs deckungsgleich. Beispielsweise ist in Kernstädten oft eine höhere Wertschöpfung als in den Umlandgemeinden, aber in der Einkommensverteilung − infolge der Wohnsuburbanisierung − sind mehr ärmere Haushalte zu verzeichnen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Verwendung von regional- und sozioökonomischen Indikatoren grundsätzliche Widersprüchlichkeiten beinhaltet. So werden die Raumbezüge häufig entlang der Datenverfügbarkeit und nicht nach raumwissenschaftlichen Überlegungen entwickelt. Die eingangs erwähnte Herausforderung in der Bestimmung „armer“ Regionen besteht darin, die sozialräumlichen Bedingungen der Haushalte zu untersuchen, die dazu beitragen, in Armutslagen zu geraten, mit ihnen umzugehen, sie zu verlassen oder von ihnen verschont zu bleiben. Die Analyse „arme“ Regionen mittels regional- und sozioökonomischer Indikatoren zu identifizieren reicht nicht aus. Es bedarf eines eigenständigen

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Ansatzes, um die Lebensbedingungen und die Lebensqualität von Menschen zu beschreiben sowie in ihrer Bedeutung für die Wahrnehmung von Lebenschancen zu bewerten. Entsprechend dem Lebenslagenansatz in der Ungleichheitsforschung ist in der Regionalforschung der Multidimensionalität von Armut Rechnung zu tragen. Auf der Ebene der Haushalte sind diesbezüglich zwar bestimmte Aussagen in der regionalen Verteilung möglich (zum Beispiel Erwerbsbeteiligung, Bildungsbeteiligung), andere jedoch nicht zu treffen (zum Beispiel Gesundheitsstatus, soziale Netzwerke). Hier können indirekt erhobene Daten, z.B. aus der laufenden Arbeit der Kommunalverwaltung, weiterhelfen. Die Auswirkungen der Umweltbedingungen auf die Lebenslagen der Bewohner einer Region sind ausgesprochen schwierig zu erfassen. Dies kann anhand der aktuell diskutierten Gesundheitsversorgung gut verdeutlicht werden: Ein Maß, den Versorgungsgrad zu definieren, liegt in der Festlegung einer bestimmten Anzahl von Ärzten je Einwohner. Bei Unterschreitung der festgelegten Arztdichte um 25 % wird eine Unterversorgung konstatiert, wobei die regional differenzierten Sollwerte höchst problematisch sind (vgl. Elkeles 2007, S. 51). Die vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung herausgegebenen Karten veranschaulichen, dass die Erreichbarkeit von Krankenhäusern in einigen Gebieten Norddeutschlands über 25 Minuten PKW-Fahrzeit liegen (vgl. BBR 2005, S. 122). In versorgungsarmen Gebieten sinken die Zugangschancen der Bewohner zur gesundheitlichen Versorgung, wobei selbstverständlich zu berücksichtigen ist, dass Mobilität und Telemedizin Versorgungslücken teilweise ausgleichen können. Aber für arme Bevölkerungsgruppen kann diese Situation besonders kritisch werden, weil sie beispielsweise selbst weniger mobil sind. Dies legt die These einer doppelten Benachteiligung nahe. Des Weiteren führt der geringe oder zurückgehende Anteil von stabilisierenden und ausgleichenden Haushalten (z.B. Privatpatienten) dazu, dass keine Kompensation von individuellen Armutslagen erfolgt. Weitere Beispiele stellen der Arbeits- und der Wohnungsmarkt dar. In Regionen mit einem geringen Arbeitsplatzangebot ist insgesamt ein Mangel an beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten vorhanden. Jedoch ist der Anteil von Langzeitarbeitslosen besonders hoch, vor allem Bewohner mit geringerer beruflicher Qualifikation und kulturellen Kompetenzen haben außerordentlich geringe Chancen auf einen Arbeitsplatz. Auch auf dem Wohnungsmarkt ist zu berücksichtigen, dass er armen Bevölkerungsgruppen ökonomisch nur eng umrissene Wahlmöglichkeiten belässt, während reiche Bevölkerungsgruppen ökonomisch über größere Wahlmöglichkeiten verfügen.

Ländlicher Raum als „armer Raum“ In den letzten Jahren wurden wiederholt regionalökonomische und sozioökonomische Daten regional aufbereitet und kartografisch dargestellt. In dem teilweise sehr bunten Flickenteppich

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von Indikatoren regionaler Disparitäten sind nicht ohne Weiteres Regionstypen zu erkennen, die besonders „arm“ im erwähnten Sinne sind. Einige Differenzierungen sind wiederholt diskutiert worden: Nachdem die Erforschung der Stadt-Land-Unterschiede in den 1970er-Jahren erlahmte, flammte die Diskussion um Nord-Süd-Unterschiede auf (vgl. Bohler; Hildenbrand 2006) und erlebten in den 1990er-Jahren die Ost-West-Unterschiede eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit (vgl. Gornig; Häußermann 1994). Genau genommen beruhen Letztere auf national definierten Räumen, die die Wiedervereinigung regionalisiert überdauern. Zunehmend werden regionale Unterschiede jenseits von Ost und West diskutiert, weil diese räumliche Typisierung keineswegs ausreichend ist (vgl. bereits Strubelt 1995). Seit den 1990er-Jahren werden zum Beispiel die Probleme altindustrieller Regionen im Gegensatz zu den neuen Wachstumszentren (vgl. Friedrichs 1996) und den divergierenden Entwicklungen ländlicher Räume (vgl. Bade 1997) behandelt. Trotz dieser Diskussionen klafft in der Regionalforschung eine Lücke zwischen regionalstatistischen Befunden und regionalwissenschaftlichen Theorien. Die Armutslagen in ländlichen Räumen sind oftmals mit einer Reihe von „Mythen“ verbunden, die nur ungenügend durch empirische Ergebnisse abgesichert sind (vgl. O’Hare 1996, S. 128). Tatsächlich bestätigen die regional- und sozioökonomischen Daten ein Wohlstandsgefälle zwischen verdichteten und ländlichen Räumen. Letztere weisen in der Regel eine geringere Bruttowertschöpfung auf, wobei in Ostdeutschland dieser Unterschied auf dem ohnehin niedrigeren Niveau geringer ausfällt als in Westdeutschland. Hinsichtlich der Einkommensentwicklung der privaten Haushalte verringerte sich die Differenz in den fortgeschrittenen Industrieländern zwischen 1950 und 1970 erheblich und blieb seitdem annähernd konstant. Ein anderes Bild zeigt sich, wenn als Indikator der Anteil der Leistungsempfänger staatlicher Transferzahlungen herangezogen wird. Die Empfängerquote liegt z.T. erheblich unter der verdichteter Räume, wobei sich mit der Einführung des Arbeitslosengeldes II die Unterschiede verringert haben. Trotz dieser allgemeinen Tendenzen ist große Vorsicht bei Verallgemeinerungen geboten, denn zwischen den ländlichen Räumen bestehen erhebliche Unterschiede. In den letzten Jahrzehnten ist wiederholt auf die zunehmende Divergenz zwischen eher strukturstarken und strukturschwachen ländlichen Räumen in den entwickelten Industrieländern aufmerksam gemacht worden (vgl. Terluin; Post 1999). Unterzieht man die in unserem Zusammenhang wichtigen regionalökonomischen, demografischen und sozioökonomischen Indikatoren14 aller Landkreise und kreisfreien Städ14 Hierzu wurden aus einem Set von 15 regionalstatistischen Indikatoren als wichtigste erklärende Variablen herausgefiltert: der Anteil der Fachhochschul- und Hochschulabsolventen an den sv-Beschäftigten, das Pendlersaldo und die Bevölkerungsdichte (zusammen als Faktor Zentralität bezeichnet), der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss, die Bevölkerungsentwicklung, die Arbeitslosenquote und das durchschnittliche verfügbare Haushaltseinkommen (zusammen als Faktor Wohlstand bezeichnet).

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te Deutschlands einer Faktorenanalyse, so bildet diese im Wesentlichen zwei übergreifende Einflussfaktoren ab: den regionalen Wohlstand und die Zentralität. Regionaler Wohlstand bzw. Armut bildet sich kaum entlang der Kategorie ländlich-städtisch, sondern viel deutlicher entlang der Großregionen Ost-Nord-Süd-Deutschland ab. Stellt man den Anteil der Leistungsempfänger nach SGB II den Faktoren Zentralität und Wohlstand gegenüber, so zeigt sich deutlich, dass die individuelle Armut deutlich stärker in regionalökonomisch armen Landkreisen vertreten ist. Tendenziell ist die individuelle Armut in Kreisen mit höherer Zentralität ebenfalls höher. Tab. 2: Anzahl der Landkreise nach Anteil der Leistungsempfänger nach SGB II an der Bevölkerung unter 65 Jahren und Zentralität und Wohlstand im Jahr 2006 Anteil der Leistungsempfänger nach SGB II an der ­Bevölkerung unter 65 Jahren in den Landkreisen

unter 5 Prozent Anzahl

5 bis unter 10 Prozent

10 bis unter 15 Prozent

über 15 ­Prozent

Gesamt

Zentralität und Wohlstand Landkreise und Kreisfreie Städte mit … niedriger Zentralität/ niedrigem Wohlstand

hoher Zentralität/niedrigem Wohlstand

niedriger Zentralität/hohem Wohlstand

hoher Zentralität/ hohem Wohlstand

Gesamt

3

0

62

9

74

Erwartung

19,0

12,2

28,2

14,5

74,0

Prozent

2,8

0,0

39,5

11,1

18,0

Anzahl

18

3

81

46

148

Erwartung

38,1

24,4

56,4

29,1

148,0

Prozent

17,0

4,4

51,6

56,8

35,9

Anzahl

42

21

14

25

102

Erwartung

26,2

16,8

38,9

20,1

102,0

Prozent

39,6

30,9

8,9

30,9

24,8

Anzahl

43

44

0

1

88

Erwartung

22,6

14,5

33,5

17,3

88,0

Prozent

40,6

64,7

0,0

1,2

21,4

Anzahl

106

68

157

81

412

Erwartung

106,0

68,0

157,0

81,0

412,0

Prozent

25,7

16,5

38,1

19,7

100,0

Quelle: eigene Berechnungen nach Statistik Regional 2008 und Bundesagentur für Arbeit (Pearson Chi-Quadrat 272,9 bei einer Signifikanz von 0,000)

Regionalstatistische Analysen reichen in der Regel nicht aus, die notwendige Komplexität zu erfassen. Es gibt allerdings eine umfangreiche Armutsforschung, die sich mit spezifischen

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regionalen Bedingungen befasst und/oder sich qualitativer Methoden bedient, um beispielsweise die Besonderheiten von Armut in ländlichen Räumen herauszuarbeiten. So finden sich in Untersuchungen zur ländlichen Armut Hinweise auf spezifische Armutslagen und -dynamiken (vgl. Pfaffenberger; Chassé 1993, ASG 1990, Wiesinger 2000). Grob verallgemeinert existiert eine weitaus größere Armutswahrscheinlichkeit bei eigentlich relativ stabilen sozialen Schichten, z.B. älteren Ehepaaren und Beschäftigten. Das Phänomen von working poor, also der Armut trotz Beschäftigung, hängt eng mit der geringen Entlohnung, der geringen Angebotsbreite an Beschäftigungen und den temporären bzw. prekären Beschäftigungsverhältnissen zusammen. Gering Qualifizierte sind durch den Abbau von Arbeitsplätzen in sogenannten „verlängerten Werkbänken“ (z.B. der Textilindustrie) und durch enorme ­Rationalisierungen in der Landwirtschaft mit großen Beschäftigungsproblemen konfrontiert. Dafür, dass Armut nicht nur eine Folge der Beschäftigungslosigkeit ist, spricht auch, dass Arbeitslosigkeit – mit Ausnahme der sehr wirtschaftsschwachen Räume – in ländlichen Räumen weniger ausgeprägt ist, allerdings bei niedrigerer Erwerbsbeteiligung von Frauen. Auch landwirtschaftliche Familienbetriebe sind – im Vergleich zu allen anderen Selbstständigengruppen – noch immer in hohem Maße von Armut betroffen. Einige soziale Gruppen, z.B. geschiedene Frauen und Migranten, sind in höherem Maße von Armut betroffen, wenn sie auf dem Land wohnen. Es existiert außerdem eine relativ hohe Altersarmut, die zwar in den letzten Jahrzehnten abnahm, bei der jedoch eine hohe Dunkelziffer angenommen wird (vgl. Wiesinger 2005, S. 18f.). Die Armut wirkt häufig unauffällig und unsichtbar, erweckt weniger politischen Handlungsdruck. Dies resultiert nicht zuletzt aus einer gewissen Ambivalenz aus schamvollem Verstecken und soziokultureller Normalität der Armut. Eine weitere Besonderheit ländlicher Räume wird darin gesehen, dass sie zwar regionalökonomisch „ärmer“ sind, aber dafür eine geringe sozialstrukturelle Binnendifferenzierung aufweisen. Mag dies im Allgemeinen zutreffen, so zeigten jedoch viele Untersuchungen zu ländlichen Gemeinden die – regional mehr oder weniger stark ausgeprägten – sozialen Spaltungen innerhalb der Dörfer auf. Neben traditionelle soziale Gruppierungen (z.B. ­Ziegen-, Kuh- und Pferdebauer oder Landarbeiter, Bauer, Gutsherr) traten neue soziale Differenzierungen durch Zuziehende (z.B. gut verdienende Familien, Rentner, Sozialleistungsempfänger) und zwischen Verlierern und Gewinnern des ländlichen Strukturwandels (z.B. Verschuldung ehemaliger Großbauern) bzw. der ostdeutschen Transformation (z.B. Abbau von Dienstleistungen und Verwaltungen in den Dörfern). Innerhalb der Dörfer lassen sich durchaus unterschiedliche Typen von Armut aufzeigen: Die traditionelle Armut (z.B. wor­ king poor in der Landwirtschaft) hat kulturelle Umgangsweisen mit Armut entwickelt (z.B. ­Minimierung von Ansprüchen) und ist in die dörfliche Gesellschaft integriert. Die Nischen­ armut (z.B. Aussteiger) verfügt über ein relativ hohes soziales und kulturelles Kapital und schafft sowohl Kompensationsmöglichkeiten (Subsistenzwirtschaft, Nischenökonomien,

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Transfereinkommen) als auch alternative Lebensstandards. Die marginalisierte Armut (z.B. Langzeitarbeitslose) beinhaltet die kulturelle Ausgrenzung von Personen und Bevölkerungsgruppen aufgrund des sozioökonomischen Status. Die Ursachen der „alten“ Armut in ländlichen Räumen sind in Agrarkrisen und Flächenkriegen zu suchen, die gravierende Versorgungsnotstände in der Bevölkerung hervorriefen, weil nur wenige Ressourcen vorhanden waren. Ländliche und städtische Erwerbsmöglichkeiten konnten wechselseitig einen Teil der Armutslagen ausgleichen. Erst in der Phase der fordistisch geprägten Wohlfahrt entstand eine „neue Armut“, weil viele ländliche Räume hinter der Entwicklung der Städte zurückblieben. Befürchtungen sind nicht unbegründet, dass vor allem die bislang stabile und stabilisierende ländliche Mittelschicht (zum Beispiel Lehrer, Verwaltungsangestellte, Handwerker) durch die Verwaltungsreformen und Dienstleistungskonzentrationen schwindet, wenn dies nicht durch Wohnfunktionen kompensiert wird. Auch die Strategien im Umgang mit Armut scheinen sich in ländlichen und städtischen Räumen zu unterscheiden, weil subsistenzwirtschaftliche Settings, informelle Ökonomien und Mehrfachbeschäftigungen eine kompensatorische Funktion besitzen. Gerade für ländliche Räume gilt, dass Einkommensvergleiche in ihrer Aussagefähigkeit begrenzt sind, andere Relationen zwischen den Einnahmen und Ausgaben der Haushalte bestehen, weil einige wirtschaftliche und soziale Aktivitäten bis heute nicht „monetarisiert“ wurden (informelle Ökonomien, Nachbarschaftshilfe, Familienarbeit) und andere soziale Sicherungssysteme existieren (Hauseigentum). Doch sollte dies nicht überschätzt werden, denn z.B. verringern eine stark industrialisierte Landwirtschaft und nur gering diversifizierte regionale Wirtschaftsangebo­ te die Möglichkeiten informellen Wirtschaftens. So sind Strategien im Umgang mit Armut häufig blockiert, weil die Opportunitäten der Erwerbsarbeit sehr einseitig sind. Dies erklärt möglicherweise, dass in ländlichen Räumen Armutslagen von höherer Persistenz geprägt sind (mehr Langzeitarbeitslose), während städtische Armutslagen eine höhere Dynamik aufweisen, weil dort Kleingewerbe und niedrig qualifizierte Dienstleistungen mehr Einkommensalternativen bieten. In dieser Hinsicht fallen Überlebensstrategien schwerer und die Abwanderung ist dringender geboten. Strittig ist auch, inwieweit Arme in den unterstützenden dörf­ lichen Netzwerken aufgefangen werden. Es finden sich ebenso soziale Exklusion, Verlust von ­Sozialprestige, stigmatisierende Kontrollen und Anonymität. Trotzdem scheint in dörflichen Sozialsystemen die personale Integration einen hohen Stellenwert zu besitzen, durch die ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe und Unterstützung gesichert wird. Dafür spricht, dass Unterstützungen Ärmerer sowohl durch die Familien als auch die Bekannten erfolgen (vgl. Meier et al. 1991). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Armut gesellschaftlich eher akzeptiert, aber soziale Abhängigkeit und Nichtarbeit oftmals schärfer sanktioniert wird. Die ehemals geringeren Sozialhilfequoten in ländlichen Räumen deuteten auf eine erhebliche verdeckte Armut, die vor allem auf Scham vor sozialer Abhängigkeit zurückzuführen ist (vgl. Pensé 1994).

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Peripherisierung – Verarmung als sozialräumlicher Prozess Es ist bereits deutlich geworden, dass Regionen nicht deshalb „arm“ sind, weil sich dort viele arme Haushalte befinden, sondern dass die Entwicklungsoptionen blockiert sind, was auf der individuellen Ebene zu geringeren Teilhabechancen führt (vgl. Kreckel 1992; Keim 2006). Mit dem etwas sperrigen Begriff der Peripherisierung soll einerseits der räumliche Aspekt von Verarmung und andererseits ihr Prozesscharakter hervorgehoben werden. Der Begriff ist nicht zu verwechseln mit konkreten geografischen Beschreibungen von Peripherien, d.h., Peripherisierung kann gleichermaßen in Stadt und Land, regional und kleinräumig in Stadtvierteln auftreten (vgl. Beetz 2008, S. 9). Die folgenden drei Aspekte der Peripherisierung sind in der Untersuchung ländlicher Gebiete in Nordostdeutschland deutlich geworden: 1. Wichtige Bereiche der Daseinsvorsorge fehlen oder werden abgebaut. Die Ursachen dafür sind im Wandel des Wohlfahrtsstaates zu suchen, der sich bislang weniger in der gesellschaftlichen Mitte, sondern vor allem an den Rändern vollzog. Kennzeichen der Peripherisierung ist, dass die Ressourcen zur Aufrechterhaltung von Daseinsfunktionen in den Regionen fehlen, was bis in die Mittelschicht zur Exklusion von gesellschaftlichen Teilbereichen führt (vgl. Keim 2006, S. 5). Hinzu kommt, dass die gesellschaftliche Bereitschaft sinkt, in ohnehin strukturschwache Regionen zu „investieren“. Peripherisierung ist in diesem Sinne als Herausfallen aus wesentlichen Bereichen der Daseinsvorsorge zu verstehen. Die soziale Ungleichheit nimmt zu, weil wesentliche Teile der Gesellschaft auf sozialstaatliche Instrumente angewiesen sind, die immer weniger Wirkung entfalten. Die Abkoppelungen haben quantitative und qualitative Mängel in den Versorgungs- und Erwerbsmöglichkeiten zur Folge (siehe das obige Beispiel Gesundheitswesen). Mit zurückgehendem Steueraufkommen und erhöhten Transferzahlungen befinden sich die Kommunen immer weniger in der Lage, Daseinsvorsorge zu organisieren. Damit schwinden wiederum die Ressourcen dafür, dass Haushalte oder Regionen aus der Armut herauskommen. 2. Mit dem Begriff der Peripherisierung wird auch eine einseitige Abhängigkeit von politischen und ökonomischen Entscheidungen in den Machtzentren ausgedrückt. Die betroffenen Regionen sehen sich kaum in der Lage, an politischen Entscheidungsprozessen zu partizipieren, ihre Stellung ist durch Machtferne, Kräftezersplitterung und Konkurrenz zu anderen Peripherien geprägt (vgl. Kreckel 1992). Das Ungleichgewicht von Zentren und Peripherien führt dazu, dass sie ihre Situation und ihre Interessen in der Öffentlichkeit nicht selbst vertreten können, sondern auf stellvertretende Deutungen angewiesen sind. Schließlich leidet auch die Zivilgesellschaft, denn periphere Regionen können sich weniger durchsetzen. „Sich nicht (mehr) gegen Benachteiligungen wehren zu können, das bedeutet Peripherie“ (Neu 2006, S. 13). 3. Unter Peripherisierung ist zudem die Einbindung von Regionen in überregionale und

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globale Wirtschaftskreisläufe zu verstehen, aus der sie nur geringe Wohlstandsgewinne ziehen können (vgl. Beetz 2008, S. 11f.). Vielfach wird der Prozess der Peripherisierung als Abkopplung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen fehlgedeutet, die Gebiete seien „überflüssig“ oder „vergessen“. Es schien so, als bedarf es keiner inneren Kolonien mehr, weil diese Funktionen global neu verteilt werden (vgl. Nolte 2001). Die empirischen Untersuchungen weisen in eine andere Richtung: Diese Gebiete erfahren weiter eine ökonomische und ökologische Nutzung, doch der entscheidende Punkt ist, dass es ihnen nicht gelingt, eine höhere Wertschöpfung zu erzielen. So geht eine intensive Landnutzung zur Produktion von Nahrungsmitteln, nachwachsenden Rohstoffen und Lebensqualität mit einer vergleichsweise geringen Honorierung der damit verbundenen Leistungen einher. Des Weiteren ist die vermeintliche Leere von Nutzungskonkurrenzen und -konflikten geprägt, bei denen stets die Frage virulent ist, wer (zukünftig) Nutzen und Gewinn aus der Landnutzung erzielt. Schließlich führen die Konzentrationsprozesse in der Daseinsvorsorge dazu, dass sich der tertiäre Sektor zurückentwickelt. Mit dem Begriff der Peripherisierung wird versucht, sozialräumliche Wirkungszusammenhänge aufzuzeigen, die zur Verarmung von Regionen führen. Kern der „neuen“ Armut ist eine unterschiedliche Wohlstandsverteilung, die regionalökonomisch durch sektorale Wertschöpfungsvorsprünge und standortbezogene Konzentrationsvorteile der Städte erklärt wird. Ausdruck dessen ist ein Bedeutungsverlust der Agrarwirtschaft, die nur noch zwei Prozent des Bruttosozialproduktes ausmacht. Wertschöpfungsintensive Wirtschaftsbereiche sind hingegen überwiegend in den Städten angesiedelt. Die Effizienz- und Marktorientierung in vielen Bereichen der Daseinsvorsorge führt ebenfalls zu Konzentrationsprozessen. Kritiker halten dem entgegen, dass es sich bei der Wohlstandsverteilung zwischen Zentren und Peripherien nicht um selbstlaufende Prozesse handelt, sondern um gesellschaftlich hervorgebrachte und stets erneuerte „Produktion von Raum“ (vgl. Tovey 2001, S. 5). Hierbei ergeben sich inte­ ressante Parallelen zu den in den 1960er- und 1970er-Jahren geführten entwicklungssoziologischen Debatten (vgl. Beetz 2008, S. 10). Verarmung ist vor allem dann ein Problem, wenn sich der Horizont an Möglichkeiten verengt. „Für Menschen im Zentrum des ,Geschehens‘ scheinen sich die Handlungsspielräume in einer globalisierten Welt eher zu vergrößern […] für andere in peripheren Lagen hingegen verkleinert sich die Welt.“ (Neu 2006, 15)

Konsequenzen für die raumwissenschaftliche Forschung In der gegenwärtigen öffentlichen und regionalwissenschaftlichen Diskussion um „arme“ Regionen wird die Prozesshaftigkeit der Verarmung kaum thematisiert. Strukturschwäche und

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Armut werden stattdessen den Regionen als räumliche Eigenschaften zugeschrieben. Dieses Vorgehen weist erstaunliche Parallelen zur Diskussion um die sogenannte underclass auf: Die Erklärung wird fast ausschließlich in den Regionen selbst gesucht: weil sie in ihrer Geschichte immer arm waren, sich in Ungunstlagen außerhalb der Blauen Banane befinden oder die geringe Besiedlungsdichte kein kreatives Milieu schafft. In den Regionen selbst wechselt die Stimmungslage zwischen Selbstbehauptung und Selbststigmatisierung – den aus der Armutsforschung bekannten Wechselwirkungen. Hinzu kommt, dass sich die öffentliche Diskussion der Rhetorik vom internationalen Wettbewerb der Regionen bedient, um daraus die Legitimierung abzuleiten, strukturschwache Regionen nicht weiter zu unterstützen. Auch hier werden verteilungspolitische Konfliktlinien in der Regionalforschung zu wenig reflektiert (z.B. zwischen sogenannten „Wachstumskernen“ und der „Fläche“). Interessanterweise wurde in der Ungleichheitsforschung die Dimension von Peripherie und Zentrum eingeführt, um eine andere Perspektive als die der Unterscheidung von Oben und Unten einzunehmen. Kategorien wie Geschlecht und Nationalität können hinsichtlich von Machtstrukturen und Integrationsleistungen teilweise aussagefähiger sein (vgl. Kreckel 1992). Sogenannte Rankings führen gegenwärtig ein Oben und Unten mittels demografischer und ökonomischer Kennzahlen zwischen den Regionen ein und verhalten sich damit opportun zum Gedanken des Wettbewerbs der Regionen (vgl. Beetz; Neu 2005). Die Gefahr besteht, dass hierdurch die sozialräumlich angelegte Komplexität einfach übergangen wird, weil eben nicht nach den Reproduktionsmechanismen sozialräumlicher Ordnungen gefragt wird. In den 1990er-Jahren wurden diese Fragen vor allem als Folgen der Transformation diskutiert. Welche Inklusions- und Exklusionsprozesse lassen sich im Zuge der neuen globalisierten räumlichen Ordnungen beschreiben? Die räumlichen Entwicklungen − auch im ländlichen Raum − verlaufen hinsichtlich der Wohn- und Wohnumweltqualitäten kleinräumig differenziert, in den sozioökonomischen Bedingungen eher in größeren regionalen Maßstäben. Strittig ist in der Regionalforschung, inwiefern diese großflächigen Standortfaktoren für die Gesamtentwicklung bestimmend sind oder eine wechselseitige Beeinflussung vorliegt (vgl. Schrader 1999). Empirisch gesehen gelingt es in dem einen Dorf, Wohlstand zu generieren und Lebensqualität herzustellen, während in dem anderen nichts davon zu bemerken ist. Systematischer ist deshalb zu untersuchen, welche Auswirkungen in insgesamt „verarmten“ Regionen lokale Entwicklungsimpulse haben: So erfolgt zum Beispiel der Zuzug einkommensstarker und/oder hoch qualifizierter Haushalte in arme Regionen aufgrund attraktiver Naturräume, niedriger Immobilienpreise und interessanter Freizeitmöglichkeiten. Verbunden ist damit aber oft eine unterschiedliche sozioökonomische und kulturelle Position von Zugezogenen und Einheimischen. Dies kann, muss aber nicht zu sozialen Spannungen führen. Ursachen und Wirkungen länd­ licher ­Gentrifizierung sind in der angelsächsischen Literatur verhältnismäßig gut erforscht, in Deutschland fast ausschließlich in Bezug auf Großstädte. Soziale Spannungen entstehen

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vor allem dort, wo eine agrarische, gewerbliche oder touristische Wertschöpfung vorhanden ist, an der aber nur geringe Teile der Region und der Bewohnergruppen teilhaben (vgl. Land 2005, S. 5f.). Die Verarmung von Regionen stellt dann ein Gerechtigkeitsproblem dar, wenn die Chancen ihrer Bewohner insgesamt beeinträchtigt sind. Die oben beschriebenen Auswirkungen der Peripherisierung legen dies nahe, weil sich jene ökonomischen Opportunitäten, institutionellen Kapazitäten und infrastrukturellen Bedingungen verschlechtern, die Chancengerechtigkeit erlauben. Wie damit politisch umgegangen wird, wird sehr unterschiedlich diskutiert: 1. Eine Position kann so zusammengefasst werden, dass in armen Regionen durch alternati­ ve Lebensweisen mit einem Mix von (zurückgehenden) wohlfahrtsstaatlichen Leistungen mehr Subsistenzwirtschaft und sinkenden Ansprüchen durchaus Lebensqualität erzielt werden kann. Obwohl viele Dienstleistungen nicht monetär erkauft werden können und wohlfahrtsstaatliche Leistungen nur ungenügend greifen, erfüllen soziale Netzwerke eine wichtige Unterstützungsfunktion. Lokal ausgerichtete ökonomische Kreisläufe verhindern den Abfluss der Wertschöpfung. Die heute armen Regionen werden zur Avantgarde neuer Lebensarrangements. 2. Im Gegensatz dazu werden die Nachteile regionaler Schließung und die Sicherung der Wett­ bewerbsfähigkeit hervorgehoben. Insbesondere für wirtschaftliche Aktivitäten sind überregionale, ja globale Beziehungen erforderlich. Deshalb ist es wichtig, zum Beispiel über Produktspezialisierung, niedrige Arbeitskosten und deregulierte Arbeitsbedingungen den Anschluss an die globalen Wirtschaftskreisläufe zu halten. Die Konzentration auf die eigene Region führt dagegen zu politischen Verkrustungen und blockiert die Innovationsfähigkeit. 3. Die Position der passiven Sanierung geht davon aus, dass die Menschen ohnehin aus armen Regionen weggehen werden, weil sie ihre Lebenschancen in den reichen Regionen sehr viel besser wahrnehmen können. Förderstrategien verlangsamen nur eine durch den globalen Wirtschaftswandel bedingte selbstläufige Entwicklung. Der demografische Wandel führt ohnehin zur Entleerung der armen Landstriche. Deswegen sollte die Mobilität des Individuums gefördert werden. 4. Das Festhalten an den Aufgaben des Sozialstaates ist eine Position, die die Tragfähigkeit des Wohlfahrtsstaates nicht vorschnell aufgeben will. Arme und reiche Regionen befinden sich durchaus in einer nationalen oder europäischen Solidargemeinschaft, die nicht in erster Linie durch regionalen Wettbewerb bestimmt ist. Aufgabe des sozialstaatlichen Ausgleiches ist es, die durch die faktische Marktmacht existierenden ungleichen ökonomischen Tauschverhältnisse zu verringern.

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Aufgabe der Regionalforschung ist es sicherlich nicht, die eine oder andere Position zu vertreten, wohl aber diese Diskurse hinsichtlich der darin enthaltenen Vorurteile und Inte­ ressenbestände kritisch zu begleiten sowie in ihren räumlichen Auswirkungen zu untersuchen. Es liegt außerdem am disziplinären Selbstverständnis, ob „verarmte“ Regionen als rele­ vantes Politikfeld überhaupt identifiziert werden. Voraussetzung hierfür ist in der Regel, dass sie als entwicklungsfähig eingeschätzt werden. Die Auseinandersetzung, inwieweit Prozesse der Verarmung von Regionen veränderbar oder umkehrbar sind, wird in der regionalen Governanceforschung unter dem Gesichtspunkt der Pfadabhängigkeit geführt. Das heißt, „verarmte“ Regionen können nicht einfach aus ihrem bisherigen Entwicklungsweg heraustreten, weil sie sich im Zirkel der Peripherisierung befinden und die Kapazitäten abnehmen, sich zu behaupten. Grundlegende Veränderungen sind in der Regel nur bei langfristigen Anstrengungen öffentlicher Akteure, konzentrierten staatlichen Unterstützungen, Chancen beim Eintritt in neue Marktsegmente oder veränderten geografischen Beziehungen (z.B. Grenzöffnungen) zu verzeichnen. Inwieweit solche ausgesprochen komplexen und oft einzigartigen Faktoren überhaupt steuerbar sind, bleibt ein interessantes Feld der Regionalforschung. Eine nicht unwichtige Forschungsfrage ist in diesem Zusammenhang, wie sich Bewohner in „verarmten“ Regionen mit ihrer Situation auseinandersetzen. Es gibt nicht wenige Menschen, die sich unter den Verlusterfahrungen früher empfundenen Wohlstandes passiv zurückziehen. Auch kann der relativ stabile „sekundäre Integrationsmodus“ (Land 2005) dazu führen, dass die Akteure und die entstandenen Infrastrukturen zur Bekämpfung von Armut (z.B. Arbeitsloseninitiativen, Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften) sich in dieser Situation „eingerichtet“ haben. Es gibt ebenso Beispiele dafür, dass insbesondere Menschen in verarmte Regionen gehen, die sich von der Wohlstandsgesellschaft abwenden, für die Natur, Eigenarbeit oder Tradition neue Sinnzusammenhänge stiften. Doch in wesentlichen Teilen orientiert sich die Bevölkerung verarmter Regionen am Wohlstand anderer Regionen: Insbesondere die Jugendlichen gehen dorthin, wo sie diesen finden, vorausgesetzt, dass sie über entsprechende Ressourcen verfügen (vgl. Beetz 2009, S. 142–149). Das differenzierte Wissen über den Umgang mit der Verarmung von und in Regionen und das Verständnis für die gesamtgesellschaftlichen Prozesse, die zu Verarmung von Regionen führen, bilden wichtige Forschungsfragen in der Verknüpfung von Armuts- und Regionalforschung.

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Armut und Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands. Theoretische Kontexte und Herausforderungen eines Projektes zur Armutsforschung Simone Kreher Zusammenfassung: Im ersten von mehreren Kapiteln des Bandes, die sich auf ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt zur Armutsentwicklung im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns von 1990 bis 2008 (KR 1888/2-1/2) beziehen, werden zunächst die Konturen des Forschungsfeldes umrissen. Dazu werden sozialhistorische Befunde zur Entwicklung der ländlichen Sozialstrukturen Nordostdeutschlands aufbereitet, theoretische Ansätze und empirische Untersuchungen aus der Ungleichheitsforschung zu ihrem Beitrag für die Analyse ländlicher Armut befragt und der Erkenntnisstand raum- oder regionalwissenschaftlicher Studien über ländliche Regionen zusammengetragen. Auf allen drei Zugangspfaden zeigen sich trotz umfangreicher Forschungsaktivitäten unzureichende Kenntnisstände und blinde Flecken, die die Ausgangslage für ein Projekt, das Armut zeitsensibel und räumlich differenziert untersuchen will, nicht eben klar und eindeutig erscheinen lassen: 1. Die weitgehend akzeptierte Vorstellung der Erosion jener ländlichen Sozialstrukturen, die bäuerliche und landarbeiterliche Traditionen des 19./20. Jahrhunderts mit kollektivistischen Orientierungen der DDR-Gesellschaft überformt hatten. Die Annahme, dass die Reprivatisierung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nach 1990 nicht nur zum Zusammenbruch des Beschäftigungssystems in der Landwirtschaft, sondern auch zur erneuten Umschichtung der Bevölkerung und (Re-)Etablierung von Positions- und Statusdifferenzen, die in der DDR an Bedeutung verloren hatten, geführt hat, ohne dass uns eine gesicherte Datenbasis für Ostdeutschland insgesamt und in regionalisierter Perspektive zur Verfügung steht. 2. Die Intensivierung bevölkerungsrepräsentativer Untersuchungen zur sozioökonomischen Entwicklung, in denen die ländlichen Räume Nordostdeutschlands nicht angemessen repräsentiert sind und damit die räumliche Situiertheit von Armut und sozialer Ungleichheit in ihrer regionalen Differenziertheit weitgehend unerforscht bleibt. So haben wir einerseits sehr genaue Daten zur Einkommens- und Vermögensentwicklung oder zur wohlfahrtsstaatlichen Sicherung auf nationaler Ebene zur Verfügung, können andererseits kaum belastbare Aussagen für kleinere soziale Räume treffen.

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3. Die Professionalisierung und mediale Verbreitung von Szenarien aus der Bevölkerungsgeografie und Regionalökonomie, die wirtschaftliche Potenziale, Bevölkerungsbewegungen oder touristische Profile von Landkreisen und Gemeinden genauestens darstellen können, ohne dass eine Verbindung mit theoretischen und empirischen Ansätzen der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung hergestellt wird. Schlüsselwörter: Armut und soziale Ungleichheit, ländliche Sozialstrukturen und territoriale Ungleichheit, zeitsensible und räumlich differenzierte Armutsforschung

1 Auf zu dünnem Eis? Theoretische Arenen, empirische Zugänge und blinde Flecken der Wahrnehmung von Armut in Armuts­ forschung in ländlichen Regionen Nordostdeutschlands In seinem viel diskutierten Buch über die „elementaren Formen der Armut“ schätzt Serge Paugam ein, dass Armut trotz der allseits intensivierten und international stark ausgeweiteten Forschungsaktivitäten gegenwärtig noch immer „kein einheitliches Forschungsfeld der Soziologie“ darstellt (2008, S. 27). Vielmehr noch wird im Folgenden zu zeigen sein, dass die Armutsforschung nicht nur nicht über allgemein anerkannte Konzepte, Methoden und Theorien verfügt, sondern im Gegenteil immer noch mit einer ganzen Reihe von theoretischen Orthodoxien, methodischen Vereinfachungen, systematischen Leerstellen und ideologischen (Zerr-) Bildern zu kämpfen hat. Dabei trifft der subtile fachwissenschaftliche Diskurs über Armut und Armutsbekämpfung regelmäßig auf eine über herausgegriffene Einzeldaten leicht zu beeindruckende Medienöffentlichkeit, gegen die sich empirische Forschung kaum zu behaupten vermag. Je intensiver man sich mit der Armutsthematik auseinandersetzt, desto stärker wird der Eindruck, dass der Diskurs über Armut, Prekarität und Unterschicht in sehr verschiedenen Arenen gleichzeitig stattfindet, so dass theoretische Konsistenz, analytische Klarheit oder auch die bloße Orientierung über die aktuelle Forschungslage nur schwer zu erlangen sind. Das hängt vor allem damit zusammen, dass jede Thematisierung von Armut sowohl mit dem Selbstverständnis einer Gesellschaft, in Deutschland also nach wie vor mit den Selbstverständnissen der beiden deutschen Teilgesellschaften, als auch mit den jeweiligen theoretischen Reflexionen der sozialen Ungleichheit in den Sozial-, Kultur- und Politikwissenschaften, mit speziellen disziplinären Kontexten und der Perspektive der in ihnen Forschenden verbunden ist. Theoretische Konzepte über Armut sind also genau genommen nicht als feststehende, ein für alle Mal gegebene Vorstellungen, sondern als epochespezifische, sozialhistorisch und kulturell geprägte soziale Konstruktionen zu verstehen.

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Da im Weiteren nicht alle Perspektiven der Wahrnehmung von Armut und der Armutsforschung verfolgt werden können und sollen, konzentriert sich der Text auf die Sichtung und Aufarbeitung genau solcher Ansätze und Befunde, die unser Projekt15 zur Armutsentwicklung in Ostvorpommern als Interpretationsfolie, als theoretische Hintergründe oder empirische Ausgangsdatenbasis fundieren können. Disziplinär gedacht, sind in diesem Kapitel insbesondere sozialhistorische Befunde zur Entwicklung der ländlichen Sozialstruktur in Nordostdeutschland, soziologisch empirische Untersuchungen zu Armut und sozialer Ungleichheit und raum- oder regionalwissenschaftliche Studien zu rezipieren. Beginnen wir in diesem ersten Abschnitt des Kapitels mit einigen Positionen zum Wandel der Wahrnehmung von Armut im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs, die die Leserinnen und Leser auf blinde Flecken, methodische Fragen und theoretische Probleme in der gegenwärtigen Armutsforschung aufmerksam machen sollen. Hans-Jürgen Andreß und Martin Kronauer periodisieren die Wahrnehmung von Armut im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs wie folgt: Die „Ablösung des Fürsorgerechtes durch das 1961 eingeführte Bundessozialhilfegesetz“ markiert den Abschluss der wirtschaftlichen Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht mehr die Armut des Volkes (wie noch in den 50er-Jahren), sondern die Armut des Einzelnen sollte bekämpft werden. Wiederentdeckt wurde das Armutsthema dann in den 70ern als Armut von marginalisierten, stigmatisierten und ausgegrenzten Randgruppen. Eine neuerliche grundlegende Veränderung der Situation führte mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit und dem Abbau sozialer Sicherungsleistungen in den 80er-Jahren dazu, dass „die Armutsproblematik wieder politik- und wissenschaftsfähig wurde“ (2006, S. 31). In den 1990er-Jahren verblasste „vor dem Hintergrund der Einkommens- und Arbeitsmarktprobleme der Neubürger […] die Armutsproblematik der alten Bundesrepublik.“ (Andreß; Kronauer 2006, S. 31; Hervorhebungen SK).

Spätestens seit den 1960er-Jahren begann sich also das Armutsverständnis der westdeutschen Soziologie weg von einem Begriff der absoluten und hin zu einem Begriff der relativen Armut 15 Die Forschungsarbeiten zur Armutsentwicklung in Ostvorpommern, die in mehreren Kapiteln dieses Bandes dargestellt werden, beruhen auf Erhebungs- und Auswertungsarbeiten, die Dr. Doris Rentzsch (06/05–02/06), PD Dr. Vera Sparschuh (06/05–03/08), Dipl.-Soz. Olaf Jürgens (05/06–09/07) sowie Dipl.-Soz. Susanne Niemz (12/07–08/08) als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dem von Simone Kreher geleiteten DFG-Projekt „Armutsdynamiken im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“ (KR 1888/2-1/2) realisiert haben. In der letzten Förderphase (03/08–08/08) wurde Susanne Niemz von Dipl.-Soz. Werner Hofmann methodisch beraten (Hochschule Fulda) und von Benjamin Zurek (B. Sc.) als studentischem Projektmitarbeiter technisch unterstützt.

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zu entwickeln, das Verständnis von Armut erweiterte sich jenseits seiner statistischen Erfassung sukzessive, sodass inzwischen alle diejenigen Personen oder Gruppen von Menschen als arm gelten, die nicht am allgemeinen (durchschnittlichen) materiellen Lebensniveau einer Gesellschaft partizipieren und die als üblich geltenden politischen, sozialen und kulturellen Teilhabechancen wahrnehmen können. Dieses heute in weiten Teilen der Sozialwissenschaft verbreitete, komplexe Verständnis von Armut ist jedoch sowohl in der öffentlichen/veröffentlichten Meinung der Massenmedien als auch im politischen Feld nach wie vor umstritten. Das zeigen ganz aktuell auch die seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze auf- und abschwellenden Diskussionen um die Höhe und Höchstgrenzen von Unterstützungsleistungen ebenso wie die Debatte um jede einzelne Sachleistung oder die Bildungschipkarten für arme Kinder. Die einzige verfügbare retrospektive Untersuchung über das Ausmaß von Armut, den Lebensstandard und das Konsumtionsniveau in der DDR der 1970er- bis zum Ende der 1980erJahre von Günter Manz leitet Wolfgang Voges mit der Feststellung ein, dass es ausgehend „von der Unterscheidung zwischen Existenzminimum und Armut […] auch in der DDR Armut gab, das System der sozialen Sicherheit die hiervon betroffenen Menschen jedoch trotz bürokratischer Hemmnisse und qualitativer Mängel vor einer sozialen Marginalisierung bewahrte“ (1992, S. XI). In „einem weitaus größeren Maße als im Konzept der Subventionspolitik als ,Anti-Armutsstrategie‘ angenommen, hingen die Lebenschancen in der DDR von Ressourcen, Dienstleistungen und Schutzrechten ab, die an Erwerbstätigkeit bzw. an die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Betrieb geknüpft waren. Dies wurde einem Großteil der ,DDR‘-Bevölkerung erst bewußt, als infolge des Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft, des sich dadurch verengenden Arbeitsmarkts und eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten Arbeitslosigkeit als das wesentliche Risiko der Einschränkung der Lebenschancen auftrat“ (Voges 1992, S. XII). Leisering und Mädje typisieren Armut in Ostdeutschland in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung als besondere, indem sie drei sich überlagernde Muster unterscheiden: „zum einen »Umbruchsarmut« infolge abrupt einsetzenden sozialen Wandels; aus dem Westen »importierte« Armutsstrukturen, die sich aus den westlichen Basisinstitutionen Arbeitsmarkt, Familie und Sozialstaat ergeben und insoweit unter dem Druck des weltweiten Strukturwandels stehen; und schließlich Formen von Armut, die sozialstrukturellen Besonderheiten der neuen Bundesländer, gleichsam Sedimentierungen der DDR-Gesellschaft, geschuldet sind. […] Die Armut im Osten ist durch die westlichen Basisinstitutionen strukturiert, durch Pfropfung auf eine anders geartete Sozialstruktur resultiert jedoch eine andere Struktur von Ungleichheit und Armut.“ (1996, S. 907) Im Gegensatz zu den beiden letztgenannten Autoren begreift Hanna Haupt die Armutsentwicklung in den neuen Bundesländern „angesichts der Verstetigung der Armuts­

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risiken, der quantitativen Zunahme der Betroffenheit, der […] vom staatlichen Sozialabbau ausgehenden armutsverschärfenden Tendenzen“ nicht als „Umbruchsarmut“, sondern als „eine sich in Richtung Normalität der Marktwirtschaft einpegelnde Armut“. Sie sei sowohl durch die Veränderung der ökonomischen, politischen, juristischen und sozialen Verhältnisse „bestimmt“, vor allem durch Arbeitslosigkeit verursacht, gleichzeitig aber auch „Resultat der in der DDR gelebten Ungleichheit“16 (1998, S. 48). Hans-Jürgen Andreß untersucht die „Verhaltensweisen bundesdeutscher Privathausalte im Armutsbereich“ in Ost- und Westdeutschland vergleichend „um einerseits die Dauerhaftigkeit von Armutslagen einschätzen zu können und um andererseits die unterschiedlichen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen in den neuen und alten Bundesländern zu kontrollieren“. (Andreß 1999, S. 31 f.) Unabhängig vom verwendeten Armutsindikator17 konstatiert er eine fortlaufende und erheblich höhere Armutsbetroffenheit der Ostdeutschen. Bei der Einkommensentwicklung der Ostdeutschen beschreibt er dann widersprüchliche Tendenzen je nach Bezugssystem: „Einerseits haben ihre Einkommen gegenüber den westdeutschen aufgeholt, so daß sie verglichen mit dem west- oder gesamtdeutschen Standard immer weniger einkommensarm sind. Andererseits haben sich die Einkommen am unteren Ende der ostdeutschen Einkommensverteilung weiter ausdifferenziert, so daß eine zunehmend größer werdende Gruppe Ostdeutscher an den überdurchschnittlichen ostdeutschen Einkommenszuwächsen nicht mehr partizipiert und ,relativ‘ dazu verarmt.“ (Andreß 1999, S. 137)

Auch für Christoph Butterwegge bekam die Armut durch den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 ein anderes Gesicht. „Das soziale Problemfeld der Arbeitslosigkeit wie der Armut wurde in seiner Struktur grundlegend verändert und verlagerte sich stärker nach Osten, wohingegen das Altbundesgebiet sogar von einem mehrjährigen „Vereinigungsboom“ profitierte.“ Die mit der irreführenden Vorstellung „der Transforma-

16 „Die geschlechtsspezifische Segmentierung des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes, die Konzentration der Frauenbeschäftigung in tariflich gering entlohnten Bereichen wie Handel, Leichtindustrie, Textilindustrie, Dienstleistungsbereich u.a. führten gegenüber Männern zu Lohndefiziten und geringeren Beiträgen für die eigene Alterssicherung.“ (Haupt 1998, S. 49) 17 „Im Sinne eines solchen multidimensionalen Meßkonzeptes von Armut haben wir vier verschiedene Indikatoren von Armut verwendet, um erstens die Frage zu klären, wie groß der Umfang der Armutspopulation insgesamt ist, ob sich dabei zweitens erhebliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland zeigen und ob drittens die verwendeten Indikatoren die gleichen Personen als arm klassifizieren. Konkret haben wir ein deprivationsbasiertes und drei einkommensbasierte Armutsmaße verwendet: subjektive Deprivationsarmut sowie relative, politische definierte und subjektive Einkommensarmut.“ (Andreß 1999, S. 29)

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tionsarmut“ in „Übergangsgesellschaften“ einhergehende Hoffnung, „dass es sich um ein Problem handelt, […] das nach kurzer Zeit mehr oder weniger von selbst verschwindet“, habe sich nicht erfüllt, da „die (Bundes-)Politik weder durch eine allgemeine Grundsicherung noch durch Schritte der Umverteilung „von oben nach unten“ gegensteuerte“, sich „die seit der „Wende“ in Ostdeutschland auftretende Armut“ verfestigte und „zu einer dauerhaften Unterversorgung der Menschen“ führte (Butterwegge 2009b, S. 148). Armut im Ostdeutschland sei keine Randerscheinung, keine „nachwirkende Folge des Staatssozialismus und seiner verkrusteten Planwirtschaft“, sondern „Resultat der Implementierung der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur“ (Butterwegge 2009b, S. 148 f.). In vielen Veröffentlichungen zur Armutsentwicklung – das zeigen auch die hier referierten Quellen – bleibt unklar und unbenannt oder implizit und im Vagen, welche Referenzsysteme18 den Analysen und vor allem den daraus abgeleiteten Interpretationen zugrunde liegen. Oftmals wird noch von Armut im Generellen und Allgemeinen gesprochen und so letztlich auch der Eindruck vermittelt, mit sehr kleinen Stichproben und speziellen Forschungsfragen Grundlegendes über die Armutsentwicklung aussagen zu können. Wenn in Untersuchungen über die Armutsentwicklung historische Bedingungen oder gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen überhaupt ins Kalkül gezogen werden, geschieht das in der Regel auf der Ebene programmatischer Bekundungen; für empirische Erhebungen und Theoriebildung bleibt es dagegen folgenlos. So wird regelmäßig außer Acht gelassen, dass auch die DDRGesellschaft verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen hat und die Lebensbedingungen von 1989/1990, die uns als Referenzzeitpunkt für das wiedervereinigte Deutschland mit seinen beiden Teilgesellschaften dienen, nicht mit denen der 1960er- oder 1970er-Jahre zu vergleichen sind. Für die Ungleichheitsentwicklung in der longue dureé sind sie aber durchaus relevant. Sehen wir uns noch einmal genauer an, wie in der Forschungsliteratur mit der Ost-WestDifferenz umgegangen wird, so ergibt sich ein aufschlussreiches Bild. Nahezu alle einschlägigen Publikationen oder empirischen Studien und alle Autoren auf dem Gebiet der Armutsforschung registrieren, betonen, typisieren, skandalisieren oder hinterfragen die OstWest-Unterschiede; nur einige wenige ignorieren sie oder blenden sie als inzwischen oder immer noch als irrelevant aus. Beispielsweise will Olaf Groh-Samberg mit seinen viel beachteten Armutsuntersuchungen „ein empirisches Konzept der Armutsmessung […] entwickeln, dass multidimensionale und längsschnittliche Perspektiven vereint und auf diese Weise sowohl einem differenzierten sozi­ alpolitischen Informationsbedarf wie auch zentralen ungleichheitssoziologischen Erkenntnisinte­ 18 Gemeint sind mit Referenzsystemen hier besondere Untersuchungsgruppen, speziell konstruierte Stichproben oder ausgewählte Untersuchungsregionen, die in den Studiendesigns der Forschungsberichte zwar dargestellt, bei weiteren Veröffentlichungen jedoch zumeist außen vor bleiben.

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ressen Rechnung trägt“ (Groh-Samberg 2009, S. 18; Hervorhbg. SK). Klassenzugehörigkeit, Bildung, Haushaltsformen, Migrationshintergrund und Ost-West-Unterschiede, Alter und Geschlecht werden von Olaf Groh-Samberg „als Determinanten des Armutsrisikos untersucht, und zwar sowohl in Bezug auf den kombinierten Armutsindikator (2000–2004) als auch auf die Trendentwicklungen (1984–2006)“ (2009, S. 21). Die selbstformulierten Ansprüche des Autors sind aus der Perspektive kritischer Leser jedoch in zweierlei Hinsicht zu relativieren: 1. „Bei der Berechnung der relativen Einkommenspositionen sowie bei der Bildung der Lebenslageindikatoren werden keine regionalen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland berücksichtigt, sie beziehen sich stets auf Deutschland insgesamt. Diesem Vorgehen liegt die Überzeugung zu Grunde, dass die zentrale Referenz für die Analyse von Armut in Deutschland nicht die nach wie vor ungleichen Wohlstandsniveaus beider Landesteile sein können, sondern die weitgehend geteilten Anspruchsniveaus an die gesellschaftliche Teilhabe.“19 (Groh-Samberg 2009, S. 132) 2. Obgleich Armut ihre Wirkungen erst in der longue dureé entfaltet, werden Trendentwicklungen für Westdeutschland stark in den Vordergrund gerückt, die Entwicklungen für Ostdeutschland eher als „Sondersituation aufgrund historischer Zäsuren“ bewertet. Inwiefern Armut in Ostdeutschland vom Autor dabei als eine zu vernachlässigende Marginalie oder eine schwer zu interpretierende Besonderheit begriffen wird, kann so nicht genau gesagt werden (vgl. Groh-Samberg 2009, S. 46, 49, 132). Wir treffen also auch in ambitionierten Studien zur Armutsentwicklung auf eine – mitunter methodisch induzierte oder begründete – Ausblendung der sozialhistorischen Kontexte Ostdeutschlands (oder ihrer Spätfolgen), die die sozioökonomische Entwicklung, die Repro19 „Die Annahme, dass sich Ost- wie Westdeutsche bei der Beurteilung ihrer Lebensstandards an demselben nationalen Wohlstandniveau orientieren, kann sich etwa auf die deutlich geringeren Werte der subjektiven Zufriedenheitsmessungen in Ostdeutschland stützen, die dem Wohlfahrtsdifferential zu folgen scheint (vgl. Christoph 2006). Die Zugrundelegung eines gemeinsamen Referenzrahmens für die Analyse von Armut folgt aber auch unabhängig von den tatsächlichen subjektiven Referenzpunkten dem gemeinsamen sozialpolitischen Bezugsrahmen und dem wie immer kontrafaktischen Versprechen der deutschen Einheit. Die Quoten der relativen Einkommensarmut haben sich – bei gesamtdeutschen Durchschnittswerten – mittlerweile weitgehend angeglichen. Sowohl die Durchschnittseinkommen wie auch die interne Ungleichverteilung der Einkommen ist in Ostdeutschland nach wie vor geringer als im Westen, aber beide Differenzen halten sich in Bezug auf die Einkommensarmut nunmehr die Waage. Die auch fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung noch beträchtlichen Ungleichheiten der Lebenslagen zeigt die Abbildung 10. Die extremste Differenz markiert die Arbeitslosigkeit, von der im Osten doppelt so viele Personen betroffen sind als im Westen.“ (GrohSamberg 2009, S. 132 f.)

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duktion sozialer Ungleichheit und die Verbreitung von Armut und Unterversorgung eher verschleiert als offenlegt. Zwar sind die ostdeutschen Länder in alle bevölkerungsrepräsentativen Studien integriert, jedoch infolge der Stichprobenverhältnisse in so geringem Maße, dass bei Sonderauswertungen sehr schnell kritische Fallzahlen erreicht werden (vgl. Zurek 2010, S. 44 ff.). Zudem verschärft sich die Repräsentationsproblematik der Untersuchung von Armut auch in Surveys wie dem Sozioökonomischen Panel dadurch, dass die Panelmortalität der Befragten mit niedrigen Einkommen, Sozialhilfebezug oder Alg-II-Bezug besonders hoch ist und arme Haushalte auch im SOEP von vornherein als unterrepräsentiert gelten (vgl. K. Schuldt, zitiert nach Cremer 2001, S. 52 f.). Daraus folgt, dass Aussagen zur Ungleichheitsentwicklung in Ostdeutschland aufgrund der nach wie vor unsicheren Datenlage nur sehr vorsichtig formuliert oder gar nicht gewagt werden können (Pollak 2004, Pollak 2008). Nachdem sich die westdeutsche Soziologie zu Beginn der 1990er-Jahre weitgehend aus der „Dauerbeobachtung von Ungleichheitsstrukturen in Ostdeutschland“ verabschiedet hat (vgl. Kollmorgen 2009, Mayer 2006, S. 1336), kann für Außenstehende allzu schnell der Eindruck einer vermeintlich nicht mehr geteilten Gesellschaft entstehen. Für die Armuts- und Ungleichheitsforschung in unserem Land werden solche Blindstellen und analytischen Defizite nachhaltige Folgen haben. So wird in einem Zuge die gelungene Wiedervereinigung gefeiert und der östliche Landesteil als modernisierungsresistentes Problemgebiet begriffen. Die im Vergleich zur Bundesrepublik nivellierte Sozialstruktur der DDR erscheint als eine vormoderne, deren genaue Analyse bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Solga 1995) der Mühe nicht wert ist. Auch das Aufbrechen der Ungleichheitsstrukturen nach 1990, das von Michael Klein als „Entfesselung der Sozialstruktur“ bezeichnet wird, die „zu einer neuen Vertikalisierung“ mit „gravierender Bedeutung für das Statusbewusstsein“ der Ostdeutschen führt, wird kaum ernsthaft wissenschaftlich reflektiert (Klein 2001, S. 31). Mit unseren Forschungen zum ländlichen Raum in Ostvorpommern begeben wir uns in eine Region Ostdeutschlands, die historisch gesehen einerseits eine lange Armutstradition aufweist (1892a), in der andererseits durch die von der DDR verfolgten Staatsdoktrin Armut nicht als diskursfähig galt, nach der es in einer sozialistischen Gesellschaft keine Armut und demzufolge auch keine Armutsforschung geben könne.20 Armut wurde in Ostdeutschland zumindest für die sozialistische Gesellschaft der 60er-, 70er- und 80er-Jahre als überwunden angesehen. Paradoxerweise galten in der offiziellen (öffentlichen) Wahrnehmung der DDR-Gesellschaft durch die Bundesrepublik mehr oder weniger ernst gemeint alle DDR-Bürger als „arm“. Jenseits dieser ideologisch gefärbten Thematisierung von Armut liegt auf der Hand, dass die Ar20 Das dokumentiert sich nicht zuletzt darin, dass Armut resp. Armutsforschung nicht einmal als Stichwort in Wörterbuch der DDR-Soziologie (1977) enthalten war.

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muts- und Reichtumsentwicklung in der Langzeitperspektive und in ihrer sozialräumlichen Differenziertheit nur zu untersuchen ist, wenn neben der Phase der gemeinsamen Geschichte nach 1990 auch die der Teilungsgeschichte zwischen 1945 und 1989 nicht außer Acht gelassen wird, wenn die Unterschiede zwischen urbanen, suburbanen und ländlichen Regionen der unterschiedlichsten Provenienz theoretisch und empirisch ernst genommen wird. In der neueren deutschen Armutsforschung wird die Bedeutsamkeit von Zeit, sei es als Verlaufsforschung oder in der Langzeitperspektive – wie bei Groh-Samberg – verbal schnell anerkannt, während die Frage nach der räumlichen Situiertheit von Armut in großen Studien weitgehend ignoriert oder in Spezialdisziplinen der Stadt- und Regionalforschung verwiesen wird. Fassen wir diese Eindrücke zur Thematisierung und Wahrnehmung von Armut in der Forschungsliteratur zusammen, so ergeben sich drei Vereinfachungen, die für unsere Untersuchung der Armutsentwicklung im ländlichen Raum Ostvorpommerns bedeutsam sind: a) ein eindimensionales Verständnis von Zeit als stetige, die Armut als Einkommensarmut in Monaten und Jahren misst; b) ein Verständnis von Raum, das bestenfalls als Ost-West-Differenz operationalisiert wird, nicht aber die lokale Situiertheit von Armut und deren sozialräumliche Entwicklung in bestimmten Regionen erfasst; c) ein Verständnis der beiden deutschen Teilgesellschaften als sich homogenisierende, d.h. sich den westdeutschen Verhältnissen angleichende Sozialstruktur. In den nun folgenden Abschnitten des Kapitels wird zu prüfen sein, ob sich dieser erste Eindruck zum Stand der Armutsforschung verfestigt oder nicht und welche forschungsmethodologischen Konsequenzen das für die Erforschung der Armutsentwicklung in Ostvorpommern haben muss. Die Konturen des Forschungsfeldes werden dabei in mehreren Schritten umrissen: Zunächst sollen die sozialhistorischen Befunde zur Entwicklung der ländlichen Sozialstrukturen in Nordostdeutschland rezipiert werden, danach soziologisch empirischen Untersuchungen zu sozialer Ungleichheit und Armut hinsichtlich ihres Beitrags für die Analyse ländlicher Armut befragt und schließlich der Erkenntnisstand aus raum- oder regionalwissenschaftlichen Studien über ländliche Regionen in Nordostdeutschland zusammengetragen werden. Abschließend werden die Leserinnen und Leser mit wichtigen strukturellen Bedingungen unseres Untersuchungsfeldes in Ostvorpommern vertraut gemacht und die methodologischen Herausforderungen einer zeit- und raumsensiblen Armutsforschung erörtert.

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2 Theoretische Kontexte der Armutsforschung in ländlichen Regionen Nordostdeutschlands 2.1 Die ländliche Arbeits-, Eigentums- und Sozialverfassung Nordostdeutschlands im Spiegel sozialhistorischer Entwicklungen Im Unterschied zu den bäuerlichen Familienbetrieben und Höfen in Südwestdeutschland war und ist die Landwirtschaft im Nordosten Deutschlands durch großbetriebliche Strukturen charakterisiert. Große Güter oder Produktionseinheiten, seien es die Rittergüter des vorletzten Jahrhunderts, die kollektivierte Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (LPG und VEG) oder die großen Agrargenossenschaften und GmbH nach 1990, benötigen für ausgedehnte Flächen andere Beschäftigtengruppen und erzeugen andere soziale Strukturen, als wir sie in bäuerlichen Familienbetrieben welcher Größe auch immer vorfinden. Versuchen wir im Folgenden zusammenzutragen, was sich an empirisch gehaltvollen Beschreibungen über die Entwicklung der ländlichen Sozialstruktur in Nordostdeutschland finden lässt, so sehen wir eher einen Flickenteppich denn ein umfassendes Bild, der von den Arbeiten Max Webers vom Ende der 90er-Jahre des vorletzten Jahrhunderts (1892a, 1892b) bis zu den aktuellen sozialhistorischen Untersuchungen Arnd Bauerkämpers aus den letzten Jahren (1994, 2003) reicht. Insbesondere für die nicht mit der neueren Geschichte Vorpommerns vertrauten Leserinnen und Leser werden auf den nächsten Seiten einige Schlaglichter der sozialhistorischen Entwicklung der ländlichen Gesellschaft in kondensierter Form dargestellt. Max Weber (1892a) beschreibt in seinen Schriften zur Lage der Landarbeiter in Ostelbien den Charakter der Arbeitsverfassung und die verschiedenen Kategorien der Arbeitskräfte, die neben den Groß-/Grundbesitzern die größte soziale Gruppe bildeten, eingehend und auch regional differenziert, sodass wir unsere Untersuchungsregion Ostvorpommern im Text und den beigefügten Tabellen von Fall zu Fall identifizieren können. Je nach kontraktlichen Gegebenheiten unterscheidet er verschiedene Kategorien der ländlichen Arbeiterschaft des Ostens, hinter der sich – wie wir es heute formulieren würden – ein differenziertes Gefüge sozialer Positionen (Klassenpositionen) verbirgt: a) auf dem Gut im Dienstbotengelass wohnendes und sich dauernd zur Arbeit verpflichtendes lediges Gesinde (männlich und weiblich) mit einem festen Jahreskontrakt und Jahreslohn, mit freier Beköstigung und teilweise freier Kleidung, das zu bestimmten qualifizierten Arbeiten herangezogen wurde (Pferdeknechte; Schäfer; Viehfütterer; Hütejungen; Meierinnen; Wirtschafterinnen; Haus-, Stuben- und Milchmädchen) und das in seiner Stellung den städtischen Dienstboten entsprach; b) Wirtschaftsbeamte, Vögte, Statthalter und Oberschäfer, die sich vom gewöhnlichen Gesinde unterschieden und mit ihren Familien in einzelnen Katen oder Familienwohnun-

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gen auf dem Gut lebten und einen Jahreslohn sowie Deputate und etwas Land zum eigenen Bewirtschaften erhielten; c) gewöhnliche Feldarbeiter mit festem Jahreslohn, Landanweisung und Viehweide sowie einem festen Deputat; d) Instleute, die sich nicht als Einzelpersonen, sondern mit ihrer gesamten Familie ihrem Dienstherrn verpflichteten und in den Fällen, da sie noch schulpflichtige Kinder hatten, sogenannte Scharrwerker verpflichteten, die der Instmann seinem Gutsherrn außer der eigenen (als Drescher) und der Arbeitskraft seiner Ehefrau auch noch zur Verfügung zu stellen hatte. Instverhältnisse waren keine reinen Arbeitsverträge, keine Lohverhältnisse im modernen Sinne, sondern besondere Abhängigkeitsverhältnisse in Bezug auf die Leistungsfähigkeit und Willkürlichkeit des Dienstherrn, das sich andererseits in einer besonderen Interessengemeinschaft ausdrückte, da der Lohn der Instleute kein fester gewesen ist, sondern von der jährlichen Ertragslage des Gutes und seinem Geschick in der eigenen Viehhaltung und Gartenbewirtschaftung abhing. Zudem waren Instleute – als eine Art Kleinunternehmer – zugleich Arbeitnehmer und Dienstherren gegenüber ihren Scharwerkern oder Hofgängern. In guten Jahren konnten Überschüsse und Rücklagen gebildet werden, in mittleren war das Auskommen gesichert und nach Missernten gerieten die Haushalte der Instleute in Defizitlagen. Lebenshaltung und Nährstand der verschiedenen Landarbeiterkategorien, die in enger Verbindung zum Gut lebten und arbeiteten, sah Max Weber als erstaunlich gut an, besser als in den Industrieregionen und Industriebetrieben der schnell wachsenden Städte. Er hielt die Instleute für die interessanteste Kategorie der ländlichen Arbeiter, die er einerseits durch eine spezifische Form der Interessenübereinstimmung (vgl. Text von Dirk Kaesler in diesem Band) mit den Grundbesitzern verbunden sieht, deren Zukunft andererseits jedoch infrage steht (vgl. Weber 1892a, S. 68–82). Durch Auflösung der traditionellen Wirtschaftsweise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere den Rückgang der Getreideproduktion zugunsten des Hackfruchtbaus und des Futterpflanzenanbaus und die damit verbundene Veränderung in der Ernährungsweise der Landarbeiter hin zu einer kartoffelbetonten (mit Fleisch ergänzten) und weg von einer aus Milch, Käse, Cerealien und um gelegentlichen Fleischverzehr (aus eigener Viehhaltung) ergänzte Ernährungsweise, sah Max Weber das Instverhältnis als soziale Struktur als bedroht an (vgl. Weber 1892b, S. 886–929). Weniger Getreideanbau bewirkte einen geringen Druschumfang und damit weniger Einkommen für die Instfamilien. Insgesamt bedeutete das eine stärkere Abkopplung größerer Arbeitergruppen von den Gutswirtschaften und tendenzielle Proletarisierung (damit weniger eigenes Interesse am Umfang der Ernte), die im Süden stärker war als im Norden, wo die patriarchalischen Verhältnisse stabiler erschienen.

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Der stärkere Einsatz von polnischen und russischen Saisonarbeitern beim Rüben- und Kartoffelanbau, wo die qualifikatorischen Anforderungen, aber auch die Löhne geringer waren, die im Winter nicht gutsseitig versorgt werden mussten, sondern zurück in ihre Heimat „abgeschoben“ werden konnten und somit auch abgelöst vom Gut lebten, bewirkte ebenfalls Veränderungen in der ländlichen Sozialstruktur. Diese Veränderungen können im Grunde genommen als sozialstrukturelle Entdifferenzierungsprozesse beschrieben werden, die jedoch in Mecklenburg und Vorpommern die historische Kontinuität der großbetrieblichen Strukturen nicht durchbrachen. Das geschah – und nur für eine relativ kurzfristige Dauer – erst durch die Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg. Arnd Bauerkämper belegt beide Prozesse, d.h. sowohl die Prolongierung großbetrieblicher Strukturen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart als auch die fundamentalen Umschichtungen in der Klassen- und Sozialstruktur der ländlichen Bevölkerung Nordostdeutschlands mit zahlreichen Einzelbefunden, die hier zusammengefasst wiedergegeben werden (vgl. Bauerkämper 2003). Mit der Aufhebung der Gesindeordnung (1918) und Einführung der Landarbeitsordnung (1919) büßten die adligen Großgrundbesitzer nach dem Ersten Weltkrieg ihre gesellschaftliche Führungsposition, nicht aber ihren politisch-sozialen Einfluss in den Dörfern sukzessive ein. In den 1920er- und 1930er-Jahren gerieten zahlreiche Güter durch den Preisverfall auf den internationalen Märkten und die heraufziehende Weltwirtschaftskrise unter großen ökonomischen Druck. Die Aufsiedlungspolitik der Nationalsozialisten und das Reichserbhofgesetz vom 29. 9. 1933, das Bauern mit Höfen von 7,5 bis 125 ha vor Konkursen schützen sollte, tasteten den Großgrundbesitz im Nordosten jedoch kaum an. Nach 1945 kam es mit der Enteignung des adligen Großgrundbesitzes in der gesamten sowjetisch besetzten Zone zu einer fundamentalen Veränderung der ländlichen Sozialstruktur, die als Reruralisierung und Unterschichtung (vgl. Mayer 2006, S. 1331) in großem Maßstab zu verstehen ist. Im Zuge der Bodenreform wurden nach 1945 Höfe mit einer Fläche von mehr als 100 ha sowie die von Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern rigoros enteignet, die Betriebsmittel konfisziert und auf 77 178 Neubauernstellen mit einer durchschnittlichen Größe von 9,5 ha an landlose Bauern, Landarbeiter und Flüchtlinge verteilt. Adel und Großbauerntum wurde zerschlagen, Neubauern, Landarbeiter, alteingesessene Kleinbauern und kleinbürgerliche Schichten konnten in den Übergangsjahren zunächst fortbestehen und prägten neben den Flüchtlingen, die in Mecklenburg-Vorpommern die Hälfte der Bevölkerung (Kossert 2008) ausmachten, die ländliche Sozialstruktur, obgleich die materiellen Grundlagen ihrer jeweiligen Existenz weitgehend zerstört waren. In Mecklenburg-Vorpommern lebten im Jahre 1949 922 088 Vertriebene, die einen Anteil von 43,3 % an der Gesamtbevölkerung ausmachten (vgl. Kossert 2008, S. 196). In den Landkreisen und Gemeinden, die in unserem Untersuchungsfeld liegen, sind die Anteile der Flüchtlinge und Vertriebenen unmittelbar nach Kriegsende besonders hoch:

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Armut und Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands

Tabelle 1: Bevölkerungszahlen aus dem Untersuchungsgebiet Kreis

Einwohner gesamt

Einheimische absolut

Vertriebene absolut

in Prozent

Anklam

49 936

30 322

19 614

40,0

Demmin

90 837

44 141

45 896

50,9

Greifswald

71 502

35 003

36 499

51,0

Usedom

35 151

22 650

12 501

35,6

694 020

385 169

308 051

44,5

2 043 985

1 146 789

896 218

43,9

Vorpommern gesamt Mecklenburg-Vorpommern gesamt

Quelle: Auszug aus einer Tabelle zu den Bevölkerungszahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Stand 30. April 1946 (vgl. Kossert 2008, S. 197)

Auch wenn Andreas Kossert keine Daten zur Bildungs- und Berufsstruktur der Vertriebenen in systematischer Form vorlegt, so finden sich im Text selbst Hinweise darauf, dass neben Personen mit qualifizierten Handwerksberufen (z.B. Fachkräfte aus der böhmischen Schmuckindustrie, die nach Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt kamen), Fischer, Schlachter, Bäcker, Fachkräfte aus der Flachsverarbeitung und Kleinbauern unter den Vertriebenen waren. Sie versuchten – oftmals gegen die Widerstände der alteingesessenen Bevölkerung – eine neue Existenz aufzubauen, wobei besonders den Gebildeten unter ihnen eine starke Aufstiegsorientierung zugeschrieben wird (vgl. Kossert 2008, S. 206–213). In den 1950er- und 1960er-Jahren setzte die DDR-Planwirtschaft auf einen forcierten Wiederaufbau der Industrie, was eine Abwanderung der Bevölkerung und von Arbeitskräften in die Städte und Industrieregionen bewirkte. „So verringerte sich von 1952 bis 1960 der Anteil der in der Land-, Forst- und Wasserwirtschaft Beschäftigten im Bezirk Neubrandenburg von 55,7 auf 45,3 Prozent, im Bezirk Rostock von 33,5 auf 25,6 Prozent und im Bezirk Schwerin von 45,2 auf 36,1 Prozent.“ Damit übertrafen die drei Nordbezirke aber noch deutlich den in der DDR statistisch registrierten Durchschnittswert von 17,5 % als Beschäftigtenanteil für den primären Sektor. Gleichzeitig setzte eine zügige, fast vollständige und durch Zwangsmaßnahmen begleitete Kollektivierung der Landwirtschaft ein, die in den beiden Folgejahrzehnten deutliche Qualifikationsgewinne bei den Beschäftigten21 und Produktivitätszuwächse 21 „Die Beschäftigten verbesserten auch schnell ihre Qualifikation; so hatten in den Bezirken Neubrandenburg, Rostock und Schwerin schon mehr als 40 % der LPG-Vorsitzenden eine Hoch- oder Fachschulausbildung absolviert. Mit dem Ausbau der Versorgungs-, Dienstleistungs- und Kultureinrich-

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Simone Kreher

erreichte, immer stärker zu industriemäßigen Produktionsmethoden überging und mit den Kooperativen der Tier- und Pflanzenproduktion schließlich einen Höhepunkte erreichte, der in den 1980er-Jahren etwas zurückgenommen wurde. Nach 1990 wurde die Landwirtschaft in den nordöstlichen Bundesländern erneut grundlegend umgestaltet. Mit dem rapiden Schwund des Absatzes landwirtschaftlicher Produkte, der Einführung der EU-Richtlinien und des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes wurde die Existenz der staatlichen und genossenschaftlichen Betriebe grundlegend infrage gestellt. Die LPG mussten in Kapitalgesellschaften, eingetragene Genossenschaften oder Gesellschaften bürgerlichen Rechts umgewandelt werden. Für die Landwirtschaft in den drei Nordbezirken bedeutete das einen Zusammenbruch des Beschäftigtensystems. Zwischen 1989 und 1993 ging die Anzahl der Erwerbstätigen in diesem Sektor von 219 300 auf 43 000, bis 1996 dann noch einmal auf 32 700 zurück. „Da mit dem Ende der Hof- und Erbkontinuität der intergenerationelle Zusammenhang durch die Kollektivierung abgebrochen worden war, überwiegend nur wenig Land zurückgefordert werden konnte, der Zugang zu Krediten eingeschränkt war und das für eine Bewirtschaftung moderner Agrarbetriebe erforderliche Fachwissen in der spezialisierten Ausbildung in den LPG nicht vermittelt worden war, haben sich in den 1990erJahren nur wenige LPG-Bauern entschlossen, als ,Wiedereinrichter‘ Höfe aufzubauen. Auch wegen der traditionell großbetrieblichen Struktur und den restriktiven Rahmenbedingungen der EU-Agrarpolitik dominieren agrarstrukturell die großen, überwiegend rentablen Nachfolgebetriebe der LPG. So bewirtschaften mit den Unternehmen juristischer Personen – vor allem GmbH und eingetragene Genossenschaften – 14 aller landwirtschaftlichen Betriebe rund 56 Prozent der LN.“ (Bauerkämper 2003, S. 25) Ebenso wie die großbetrieblichen Strukturen wirken traditionelle Werte auch über die politischen Umbrüche hinaus, so dass sich auch im „,sozialistischen Dorf ’ […] keine umfassende Nivellierung vollzog, sondern traditionale Gegensätze sowie status- und schichtenspezifische Differenzierung“ der ländlichen Sozialstruktur fortbestanden (Bauerkämper 2003, S. 33). Überformt von den spezifischen Erfahrungen aus der DDR-Gesellschaft und in Auseinandersetzung mit den quasi über Nacht implementierten marktwirtschaftlichen Strukturen und den dominierenden Institutionen der Bundesrepublik, brechen sie seit 1990 in veränderter Gestalt hervor und führen zu einer widersprüchlichen Wechselbeziehung von Traditionalität und Moderne (Bauerkämper 1994, Bauerkämper 2003). Das belegt auch die von Andreas Willisch in Mecklenburg-Vorpommern durchgeführte Gemeindestudie. Unter dem Dach der LPG wirkten familiale, arbeitsteilige und kooperative Strukturen eine Zeit lang fort, ehe sich ein facharbeiterliches Selbstverständnis der Beschäftigten durchsetzte, das eher an dem der großindustriellen, spezialisierten Facharbeit orientiert tungen wurden die LPG in den 1960er Jahren zudem über ihre Funktion als Erwerbsbetriebe hinaus in den Dörfern Zentren des sozialen Lebens.“ (Bauerkämper 2003, S. 22)

Armut und Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands

71

war als an den Traditionen bäuerlicher Familienbetriebe. Für den nach 1990 politisch gewollten Aufbau einer familienbäuerlichen Landwirtschaft nach westdeutschem Vorbild fehlten in Nordostdeutschland „die Bauern als arbeitsbereite Eigentümer und auch die einfachen Landarbeiter. […] Dominierend sind große Spezialbetriebe, die ausschließlich Land von mehr als 300 bis zu 1000 und selbst bis zu 2000 Hektar bewirtschaften und – von uns so genannte – gutsähnliche Betriebe, in denen wir die Strukturierungsprinzipien der LPGs und ihrer Vorgänger, der Güter wiederfanden“ (Willisch 2008, S. 52). Die neuen landwirtschaftlichen Großunternehmen prägen wie ehedem die Landschaft in Mecklenburg-Vorpommern, bieten aber nur noch einem Bruchteil der vormals beschäftigten Menschen eine Erwerbstätigkeit. Wir haben es also in unserem Untersuchungsfeld mit wirtschaftlichen und sozialen Strukturen zu tun, die von den historischen Zäsuren nach 1945 und 1990 geprägt sind und die insbesondere in den beiden letzten Jahrzehnten zu massiven Umstrukturierungsprozessen in der Bevölkerung geführt haben. Kontinuitäten und Kontinuitätsbrüche, Reprivatisierung sowie selektive Zu- und Abwanderungen mit ihren Langzeitwirkungen für die Sozialstruktur der ländlichen Gesellschaft in dünn besiedelten Regionen haben eine widersprüchliche Gemengelage erzeugt, die die Ausgangslage für unser Projekt, das die Armutsentwicklung in Ostvorpommern zwischen 1990 und 2008 untersuchen will, bildet. 2.2 Theoretische Konzepte und empirische Befunde zur ländlichen Sozialstruktur Nordostdeutschlands In den Jahren 1977, 1979 und 1981 wurden von verschiedenen soziologischen DDR-Forschungseinrichtungen drei empirische Untersuchungen zur Lage und Entwicklung der Genossenschaftsbauern im Bezirk Dresden und in den drei Nordbezirken durchgeführt, in denen nahezu 10 000 Personen, die auf dem Lande lebten und arbeiteten, befragt wurden. Trotz der politisch-normativen Vorstellungen von der Notwendigkeit der Annäherung der Klassen und Schichten, genauer gesagt aller sozialen Gruppierungen an die „führende“ Arbeiterklasse, gingen die Untersuchungen davon aus, dass sich die Klasse der Genossenschaftsbauern mit den ihr eigenen kulturellen Traditionen in der Wirtschafts- und Lebensführung weiterentwickeln werde und zum „Wesen des Sozialismus“ gehöre (Krambach; Bell; Müller, et al. 1984, S. 5), das heißt also nicht in einer noch stärker nivellierten Sozialstruktur aufgehen würde. Abgeleitet von den Besonderheiten der Existenzbedingungen der Genossenschaftsbauern wurde auch von einer spezifischen Lebensweise der ländlichen Bevölkerung ausgegangen, die im Vergleich zu den urbanen Regionen im Süden der DDR in den Nordostdeutschen Regionen infolge von Defiziten in der Infrastruktur (Wasser- und Abwasserversorgung; Schandflecken in den Dörfern und Gemeinden) auch in den 1960er-Jahren noch immer mit schlechteren Wohnbedingungen, einem weniger vielfältigen geistig-kulturellen Leben und schlechterer Versorgung

72

Simone Kreher

mit Waren und Dienstleistungen als in den Städten und industriellen Zentren verbunden war (vgl. Krambach; Bell; Müller, et al. 1984, S. 214 f.). Eine weitere Besonderheit der Lebensführung auf dem Lande war, dass zwei Drittel aller Haushalte von Genossenschaftsbauern und ein Viertel aller Haushalte in ländlichen Regionen, insbesondere in kleinen Siedlungen und Gemeinden, bis in die 1980er-Jahre hinein Landwirtschaft oder Tierhaltung im Nebenerwerb betrieben. „1981 betrug der Anteil der Kleinerzeuger […] am Gesamtaufkommen in der DDR zum Beispiel bei Gemüse 28,8 Prozent, bei Obst 50,7 Prozent, bei Kaninchenfleisch 99,8 Prozent, bei Eiern 44,2 Prozent und bei Bienenhonig 98 Prozent. […] Zur landwirtschaftlichen Kleinproduktion im Dorf gehört jedoch in der Regel noch mehr: die persönliche Hauswirtschaft der Genossenschaftsbauern und Arbeiter der Landwirtschaft, die Haltung von Schweinen, Schafen, Ziegen, Geflügel, Bienen sowie die Bewirtschaftung eines in der Regel größeren Gartens bzw. von Splitterflächen, die Nutzung von Straßengräben, Wegerändern, die Gewinnung von zusätzlichem Futter durch Nachsammeln oder „Stoppeln“ der abgeernteten Kartoffeln-, Rüben-, Mais- und anderer Felder […].“ (Krambach; Bell; Müller, et al. 1984, S. 202 f.) Das materielle Lebensniveau war in der ländlichen Bevölkerung zumindest in den 1970erund 1980er-Jahren relativ hoch. Armut und Unterversorgung, Stigmatisierung und Exklusion großer Bevölkerungsgruppen und deren Position in der Klassen- und Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft werden in keiner dieser Untersuchungen thematisiert, obgleich der ländliche Raum mit seinen landwirtschaftlichen Betrieben und überschaubaren Netzwerkstrukturen auch in gewissem Maße als Auffangbecken für gering qualifizierte Beschäftigte und sozial marginalisierte Personengruppen galt (vgl. Weiß 1992). Die von Günter Manz (1992) in seiner retrospektiven Untersuchung zu Armut, Lebensniveau und Konsumtionsniveau der DDR-Bevölkerung für 1990 ermittelten Haushaltsausgaben für Konsumgüter und Dienstleistungen bestätigen das in gewisser Weise, verzeichnen sie doch für die LPG-Haushalte22 jeweils die höchsten Ausgaben. Tabelle 2: Haushaltsausgaben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen der DDR, 1990 Insg.

1 Pers.

2 Pers.

3 Pers.

4 Pers.

Arbeiterhaushalt

2.002

967

1.821

2.114

2.368

Ehepaar mit 2 Kindern

2.318

--

--

--

--

LPG-Haushalt

2.371

--

1.991

2.405

2.529

729

529

1.095

--

--

Rentnerhaushalt ohne eigenes Arbeitseinkommen

Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR, 1990: 319–322; Angaben in Mark der DDR; (Manz 1992, S. 105) 22 Der Begriff LPG-Haushalt wird nicht näher bestimmt. Eine Differenzierung nach Qualifikationsniveau oder beruflichem Status würde für un- und angelernte Landarbeiter vermutlich andere Ausgabenstrukturen ergeben.

Armut und Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands

73

Dieter Voigt, Werner Voß und Sabine Meck (1987, S. 145 ff; insbes. S. 164 f.) kommen in ihrer Publikation über die Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft aus der Sicht der westdeutschen Sozialstrukturforschung zu der Ansicht, dass sich ihr Schichtungsgefüge der DDRGesellschaft nicht wesentlich von dem entwickelter westlicher Gesellschaften unterscheiden würde. Nach eigenen Schätzungen stellten sie soziale Schichtung und Statusaufbau der DDR, den sie sich analog der Bolte’schen Zwiebel vorstellten, für das Jahr 1974 wie folgt dar: Abbildung 1: Soziale Schichtung bzw. der Statusaufbau der DDR im Jahre 1974; (n = 17 050 000 Einwohner)

Oberschicht (Nomenklatura) – ,  Obere Mittelschicht –   Mittlere Mittelschicht –   Untere Mittelschicht – ,  Obere Unterschicht –   Untere Unterschicht –  

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Voigt; Voß; Meck 1987, S. 164

Erläuternd schreiben die drei Autoren, dass sich die „Unterschicht der DDR […] vor allem […] aus Landarbeitern bzw. einem Teil der LPG-Bauern, niedrig entlohnten Arbeitern und Angestellten (in Leichtindustrie, Handel, Dienstleistungsgewerbe), aus politischen benachteiligten oder bestraften Personen (sie erhalten oft keine Arbeit und werden nicht selten von der Kirche eingestellt) sowie aus einer Vielzahl von Rentnern und Fürsorgebedürftigen“ zusammensetzen würde (Voigt; Voß; Meck 1987, S. 165). In direkter Auseinandersetzung mit der oben referierten normativen Vorstellung von der stetigen Annäherung der Klassen und Schichten wurde die DDR-Gesellschaft kurz vor ihrem Zerfall aus der Perspektive der empirisch arbeitenden Sozialstrukturforschung als eine funktional ausdifferenzierte und sozial geschichtete begriffen, als moderne Industriegesellschaft, die

74

Simone Kreher

im Wesentlichen durch Klassen und Schichten strukturiert, in weiten Teilen jedoch von der Parteibürokratie ständisch überformt ist (Engler 1999, Lötsch 1993, Meier 1990) und sich wie folgt strukturierte: Tabelle 3: Sozialstruktur der DDR 1970 und 1982 im Vergleich Arbeiterklasse

1970

1982

77,2 %

75,0 %

Klasse der Genossenschaftsbauern

8,6 %

6,5 %

Schicht der Intelligenz

8,0 %

15,0 %

Kleine Gewerbetreibende, private Handwerker und Bauern

3,1 %

1,7 %

Gruppe der Genossenschaftshandwerker

3,1 %

1,8 %

Quelle: Eigene Darstellung nach Belwe (1989, S. 131); zitiert nach Solga (vgl. 1995, S. 26 und 31)

Diese Tabelle verweist für den Zeitraum zwischen 1970 und 1982 zum einen auf abnehmende Anteile aller sozialstrukturellen Gruppen (auch der Arbeiterklasse) mit Ausnahme der Intelligenz. Auch die Genossenschaftsbauern, die privaten Bauern, Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden, die am ehesten der ländlichen Sozialstruktur zuzuordnen wären, verzeichnen im dargestellten Zeitraum sinkende Anteilswerte. Zum anderen werden die un- und angelernten Landarbeiter(innen), die Voigt, Voß und Meck der Unterschicht der DDR-Gesellschaft zuordnen und die für unsere Analysen zur Tradierung von Armutslagen besonders interessant gewesen wären, nicht extra ausgewiesen. Ungleich differenzierter als alle Untersuchungen zuvor, jedoch nicht in regionalisierter Perspektive geht Heike Solga bei ihren umfassenden Mobilitätsanalysen von der vormaligen Existenz einer staatssozialistischen Klassengesellschaft aus, die sich aus reinen und wider­ sprüchlichen Klassenlagen zusammensetzt. Diese Klassenlagen untersucht sie in Abhängigkeit von den „Produktionsweisen und relevanten Eigentumsformen“, den „Verfügungsgewalten über die Produktionsmittel für die einzelnen Eigentumsformen“ sowie der „Zuordnung von Handlungsträgern zu diesen Klassenlagen“ (1995, S. 61 f.).

Armut und Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands

75

Abbildung 2: Die Klassenlagen der DDR-Gesellschaft, unabhängig von ihrer historischen Existenz23 Dominante Produktionsweise

Untergeordnete Produktionsweisen

Sozialistische Warenproduktion

Einfache Warenproduktion

Kapitalistische Warenproduktion

Staatliches Eigentum

Kleines Privateigentum

Kapitalistisches Privateigentum

Genossenschaftliches Eigentum (ab 1952)

Parteielite Betriebseigentümer, d.h. Eigentümer mittelständischer Industriebetriebe, oft mit staatlicher Beteiligung

Administrative Dienstklasse Operative Dienstklasse

Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums, z. B. LPG-Vorsitzende PGH-Handwerksmeister

Sozialistische Arbeiterklasse

Genossenschaftsbauern, d.h. Mitglieder der LPG, unabhängig von ihren jeweiligen beruflichen Qualifikationen und ausgeübten beruflichen Tätigkeiten

Selbstständige, Handwerk und Gewerbetriebe mit maximal 10 Beschäftigten und Freiberufler in nicht-akademischen Berufen

Bürgerliche Dienstklasse, z. B. Würdenträger und Funktionäre der Kirchen, freischaffende Künstler und akademische Berufe

Selbstständige Kleinbauern, d.h. es wurde auf Parzellen gewirtschaftet, die die Mitarbeit des Eigentümers erforderten

Quelle: Heike Solga (1995, S. 66); fett: reine Klassenlagen; kursiv: widersprüchliche Klassenlagen; für die hier interessierende ländliche Sozialstruktur wurden einige Beispiele eingefügt, SK

Bei dieser Darstellung fällt wiederum ins Auge, dass die Kategorie der Landarbeiter fehlt, die in der Codierung der Klassenlagen dann jedoch implizit enthalten ist. Hier unterscheidet Heike Solga (vgl. 1995, S. 231) die Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums (mit

23 „Für die Interpretation [der Abbildung; SK] ist anzumerken, dass die in Abbildung 2 dargestellten Abstufungen nicht als Hierarchie interpretiert werden können, da es sich hier um eine Klassenstruktur handelt und dementsprechend die relationalen Beziehungen der einzelnen Klassenlagen zueinander im Vordergrund stehen. Die Darstellungsweise versucht, diese relationalen Beziehungen der Klassenlagen zueinander zum Ausdruck zu bringen.“ (Solga 1995, S. 66)

76

Simone Kreher

privilegierten Organisationsbefugnissen) und von den Genossenschaftsbauern, die entweder eine hoch qualifizierte oder manuelle Tätigkeit ausüben und den Genossenschaftsbauern ohne Berufsausbildung. Je nach konkreter Entwicklungsphase der DDR-Gesellschaft modifiziert Heike Solga das oben dargestellte Klassenschema, welches sie sowohl als Produkt historischer Veränderungen als auch (partei-)politischer Interventionen begreift. Dabei arbeitet sie entsprechend ihrer historischen Periodisierung24 Entdifferenzierungsprozesse, die Reproduktion spezifischer Ungleichheitsstrukturen und auch zunehmende Schließungstendenzen heraus, die das hohe Maß an struktureller und intergenerationeller sozialer Mobilität der Nachkriegsjahre von Jahrzehnt zu Jahrzehnt einschränkten (Solga 1995). In Bezug auf die uns hier besonders interessierende ländliche Sozialstruktur25 bedeutet das, dass zunächst kollektive und transgenera­ tionelle Klassenübergänge in erheblichem Ausmaß stattfanden: „(1) für die um 1929–31 Geborenen: Übergang von den landarmen Bauern und Landarbeitern der Elterngeneration zu den Neubauern in der Kindergeneration durch die Bodenreform; (2) für die 1939–41 Geborenen: Übergang von den selbständigen Bauern der Elterngeneration zu den Genossenschaftsbauern in der Kindergeneration durch die Kollektivierung der Landwirtschaft.“26 „(3) Die „forcierte Industrialisierung der 1950er Jahre“ führte „zu einer Reduzierung der Bauernklasse in der Kohorte 1939–41 (unabhängig von der jeweiligen Eigentumsform) […], die auch in den Folgejahren aufgrund der ökonomischen Entwicklung anhielt. Während die Elterngeneration der zwischen 1939 und 1941 Geborenen 14 Prozent der Bauernklasse angehörten, waren es bei den Kindern nur noch 5 Prozent, und dieser Prozeß der Reduzierung setzte sich über die Kohorten hinweg fort […] Strukturelle Mobilität in den beiden jüngeren Kohorten war vor allem durch ein Anwachsen der Arbeiterklasse, eine weitere Reduzierung der Bauernklasse 24 Sie periodisiert die Entwicklung der DDR-Gesellschaft wie folgt: Die Antifaschistisch-demokratische Umwälzung (1945–1949), die Übergangsperiode zum Sozialismus (1949–1961), die Phase der Dezentralisierung (1961–1971), die Phase der Rezentralisierung und Vollendung der staatssozialistischen Klassenstruktur (1971–1979) und die Periode sozialer Redifferenzierung (1980–1989) (vgl. Solga 1995, S. 93–124). 25 Diese Aussagen werden eingedenk der Tatsache dargestellt, dass das Hauptaugenmerk der Analysen auf Mobilitätsprozesse insgesamt, die strategisch bedeutsamen sozialistischen Dienstklassen und weniger bei den marginalisierten Formationen der Sozialstruktur lag und nicht nach Regionen differenziert wird. In die empirischen Analysen gehen die Genossenschaftsbauern unabhängig von ihrer Qualifikation und Stellung im Produktionsprozess als einheitliche Klassenlage ein (vgl. Solga 1995, S. 137, 165). 26 Bezug nehmend auf „Untersuchungen von DDR-Soziologen“ gibt Heike Solga an, dass „sich die Mitglieder der LPG [1960] ihrer sozialen Herkunft nach aus 65,9 Prozent ehemaligen Klein- und Mittelbauern [zu einem großen Teil Neubauern], 5,1 Prozent ehemaligen Industriearbeitern und 5,3 Prozent ehemaligen Großbauern“ zusammensetzten (Solga 1995, S. 79).

Armut und Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands

77

und ein jedoch nur die Kohorte 1951–53 betreffendes Wachstum der sozialistischen Dienstklassen gekennzeichnet“, von dem die jüngste Kohorte (1959–1961 Geborene; SK) und die Bauernkinder, die über den gesamten Untersuchungszeitraum die geringsten Chancen auf höhere Schulabschlüsse hatten, nicht (mehr) profitieren konnten (Solga 1995, S. 165 f.; 188 f.). Für den Zeitraum nach 1990 liegen uns für Ostdeutschland insgesamt und für die uns besonders interessierenden ländlichen Regionen nur wenige empirische Untersuchungen zur Restrukturierung der Sozialstruktur vor. Ohne das Ausmaß an struktureller und individueller Mobilität empirisch zu untersuchen, wird in den meisten Publikationen davon ausgegangen, dass sich die grundlegenden sozialen Strukturen irgendwie denen der alten Bundesrepublik angleichen würden. Hinweise auf eine besondere Vertikalisierung der Sozialstruktur finden sich allerdings bei Michael Klein (2001, S. 31), Deklassierungen werden bei Karl-Ulrich Mayer als solche benannt und intergenerationell als „weniger häufige Aufstiege von Männern und Frauen im letzten Jahrzehnt“, als „Vererbung am unteren Ende“ oder als Aufbrechen der alten, hohen „Geschlossenheit der qualifizierten Facharbeiter“ umschrieben (2006, S. 1341 ff.). Artur Meier und Jörg Müller setzen mit ihren Untersuchungen zu Jugend und Familie während der Agrarrevolution am Beispiel ausgewählter Regionen in Mecklenburg und Sachsen-Anhalt bei den elaborierten und empirisch fundierten Ansätzen zu Klassenlagen, Mobilität und sozialer Ungleichheit der DDR-Gesellschaft an. Bei differenzierter Betrachtung ihrer Untersuchungsregionen betonen beide Autoren die sozialstrukturelle Heterogenität der Landbevölkerung der DDR/Ostdeutschlands. Selbst in den landwirtschaftlich geprägten Nordbezirken der DDR fielen infolge der Industrialisierung Arbeiten und Leben auf dem Lande auseinander, so dass Landfamilien in den wenigsten Fällen Bauernfamilien waren. Hierarchisch geschichtete Gesellschaftsstrukturen brachten auch für das Land mit sich, „dass dort nicht einer Schicht oder einem Stand zugehörige Bauernfamilien leben, sondern, im Gegenteil, mehrzählig Familien von nicht in der Landwirtschaft Beschäftigten mit unterschiedlichem sozialen Status“ (Meier; Müller 1997, S. 23). Selbst wenn die Datengrundlagen beider Untersuchungen nicht vergleichbar sind und sich die Größe der Untersuchungspopulation von Meier und Müller eher im Rahmen einer in die Tiefe gehenden Fallstudie bewegen, so repräsentieren sich bei Meier und Müller auf der einen Seite und Voigt, Voß und Meck auf der anderen Seite gegensätzliche Vorstellungen vom Statusaufbau der ostdeutschen Gesellschaft: Voigt, Voß und Meck sehen 43 % der Bevölkerung in der Unterschicht und 37 % in der Mittelschicht angesiedelt, Meier und Müller klassifizieren dagegen ca. 18 % der von ihnen untersuchten Landfamilien als solche mit niedrigem sozialem Status, 38 % der Familien mit mittlerem und 43 Prozent mit höherem und hohem Sozialstatus. In weiteren Analysen stellen Meier und Müller auch die Bildungs- und Ausbildungsstrukturen der Bevölkerung in den von ihnen untersuchten Landkreisen sowie die Veränderung des Erwerbsstatus im Zuge des gesellschaftlichen Trans­formationsprozesses dar.

78

Simone Kreher

Abbildung 3: Der Sozialstatus der Familien (erweitertes Sample; Clusterung der 4 Variablen; Schulbildung, Berufsbildung, berufliche Tätigkeit und Stellung)

Hoher sozialer Status –  

Höherer sozialer Status –  

Mittlerer sozialer Status –  

Niedriger sozialer Status –  

Niedriger Sozialstatus

Männer mit 8 Klassen, Frauen größtenteils darüber, Facharbeiter

148 Familien

Mittlerer sozialer Status

Männer und Frauen, 10. Klassen, Facharbeiter, Meister und qualifizierte Angestelltentätigkeiten

235 Familien

Höherer sozialer Status

Männer und Frauen mit 10. Klasse, Männer Abitur, Fachschule, auch Hochschule und qualifizierte Tätigkeiten, Facharbeiter, Vorarbeiter und Meister, z. T Selbstständige und Freiberufler

221 Familien

Hoher sozialer Status

Männer und Frauen mit Abitur, Hochschulabschluss, in hoch qualifizierten Tätigkeiten, z. T. Selbstständige und Freiberufler

142 Familien

Quelle: Simone Kreher; eigene Darstellung und Zusammenstellung nach Meier und Müller (1997, S. 74–77)

79

Armut und Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands

Dabei verzeichnen sie für ihr Untersuchungsgebiet in Nordwestmecklenburg und SachsenAnhalt zwischen 1979 und 1997 sowohl eine Verbesserung der schulischen und beruflichen Bildung der jeweils befragten Elterngeneration (insbesondere auch der Mütter) als auch weitere Differenzierungsprozesse in der ländlichen Sozialstruktur, wenn die berufliche Stellung von Eltern aus dem Jahr 1989 und mit der des Jahres 1995 verglichen wird. Diese Veränderungen sind variantenreicher, komplexer und widersprüchlicher als von den Autoren erwartet (vgl. Meier; Müller 1997, S. 74–77). Tabelle 4: Schulabschluss der Eltern von Schulabsolventen aus der 9., 10. und 12. Klasse im Vergleich 1979, N = 827, zu 1995, N = 855, in Prozent Vater 1979

Vater 1997

4

1

3

0

Abschluss der 8. Klasse

57

16

58

8

Abschluss der 10. Klasse

30

61

31

71

9

22

8

21

weniger als 8. Klasse

Abitur

Mutter 1979

Mutter 1997

Quelle: Tabelle Simone Kreher; eigene Zusammenstellung nach Abbildung 3 (vgl. Meier; Müller 1997, S. 72) Tabelle 5: Stellung der Eltern im Beruf 1989 im Vergleich zu 1995 nach Geschlecht, in Prozent, N = 200 Berufliche Stellung

Vater 1989

Un- bzw. Angelernte

Mutter 1995

1989

1995

1,1

0,5

2,5

2,6

Facharbeiter und Angestellte mit gleicher Qualifikation

58,5

52,2

34,7

31,1

Vorarbeiter/Meister/Poliere

10,5

9,4

1,6

0,5

Angestellte mit qualifizierter Tätigkeit

8,8

10,4

42,0

41,5

17,7

13,8

16,1

17,1

Freie Berufe/Selbstständige

0,6

3,8

0,5

1,0

Sonstige Selbstständige

2,8

8,8

1,6

5,7

Angestellte mit hoch qualifizierter Tätigkeit

Mithelfende Familienangehörige Gesamt Frage beantwortet keine oder ungenaue Angaben Insgesamt

--

1,1

1,1

0,5

100,0

100,0

100,0

100,0

95,5

91,0

96,5

96,5

9,5

9,0

3,5

3,5

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Quelle: eigene Zusammenstellung (vgl. Meier; Müller 1997, S. 70)

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Die Befunde und Interpretationen der Forscherinnengruppe um Artur Meier und Jörg Müller lassen sich eher als Diversifizierung und Konsolidierung ländlicher Sozialstruktur der untersuchten Regionen Nordwestmecklenburgs und Sachsen-Anhalts lesen denn als Deklassierungsprozesse in großem Umfang. In Bezug auf die uns besonders interessierende Armutsthematik formulieren sie: „Obwohl es auch in der sozialistischen Gesellschaft ebenfalls schon eine starke soziale Differenzierung der Landbevölkerung gegeben hat, war eine Armutspopulation nicht vorhanden. Im Vergleich zur Situation vor 1989 nehmen dennoch heute über die Hälfte der Familien auf dem Lande in den ostdeutschen Untersuchungskreisen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage wahr; nur 13,5 Prozent halten sie für schlechter als damals, der große Rest erstaunlicherweise für gleichartig.“(Meier; Müller 1997, S. 197) In Ostvorpommern, unserer Untersuchungsregion, dürfte sich das anders darstellen (vgl. dazu den Beitrag von Beate Krais in diesem Band). Da uns jedoch vergleichbare Untersuchungen zu Sozial- und Bildungsstruktur für Ostvorpommern nicht vorliegen, wäre es verfehlt, von parallelen oder ähnlichen strukturellen Gegebenheiten und Entwicklungen auszugehen. Publikationen von Wolfgang Weiß (1992, 2004) und anderen zufolge weisen die Landkreise im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns ein viel schwächeres Bildungspotenzial, desolatere soziale Strukturen und fragilere Netzwerke sozialer Beziehungen bei zunehmendem Männerüberschuss auf, da sich in diesen Gebieten ungünstige demografische Entwicklungen aus der DDR-Zeit und Veränderungen nach dem Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften bündeln und gegenseitig verstärken. Letzteres entspricht insgesamt eher unseren Erfahrungen im Untersuchungsfeld als die Befunde der von Meier und Müller im mecklenburgischen Grevesmühlen und im altmärkischen Osterburg durchgeführten Studie zu Jugend und Familie auf dem Lande, die die revolutionären Veränderungen ländlicher Strukturen in Ostdeutschland mit der Auflösung der rural Society in Iowa (USA) vergleicht (vgl. 1997, S. 189–191).

2.3 Ländliche Sozialstrukturen als Desiderat in der aktuellen Armuts- und Ungleichheits­forschung Bezeichnenderweise hat die empirische Sozialforschung im Kontext der politischen System­ auseinandersetzung in beiden deutschen Staaten auf ihre Weise zur Ausblendung der Armutsthematik beigetragen: Zum einen die Ungleichheitsforschung der Bundesrepublik mit der These der Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen und Milieus und ihrer Thematisierung von Armut als temporär für bestimmte Lebensphasen oder Problematik für bestimmte Randgruppen. Zum anderen die Sozialstrukturforschung der DDR mit ihrer Nivellierungskonzeption der sogenannten Annäherung aller Klassen und Schichten und einer Konzeption

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von sozialer Sicherheit, der zufolge es in einer sozialistischen Gesellschaft keine Armut geben könne. Die (Klassen-)Strukturierung von Armut, instabilem Wohlstand und von Prekarität wurde in beiden Konzeptionen von Ungleichheitsforschung nicht erfasst. Den Mainstream der bundesrepublikanischen Sozialforschung mit ihren „Szenarien einer individualisierten Risikogesellschaft und die Metaphern einer Innen-Außen-Spaltung“, die sich „als ungleichheitssoziologische Alternativmodelle zu traditionellen Vorstellungen einer in stabile soziale Klassen segmentierten Gesellschaft“ verstehen, kritisiert Olaf Groh-Samberg als „der Realität immer weniger angemessen […]. Obwohl Armutsstudien immer wieder auf das erhöhte Armutsrisiko von Personen aus der Arbeiterschicht verweisen (vgl. Schott-Winterer 1990; Hanesch et al. 1994: 174; Hübinger 1996: 139 ff. und 220), finden sich kaum empirische Studien, die dem Zusammenhang von Armut und Klassenstruktur systematisch nachgehen.“ (2009, S. 199 f.) Mit seinen eigenen Arbeiten (2004, 2009) zu Armut, sozialer Ausgrenzung und Klassenstruktur will er die in der Bundesrepublik jahrzehntelang gehegte Abkopplung der Armutsvon der Ungleichheitsforschung überwinden, indem der Zusammenhang von Klassenstruktur und Armut sowohl auf theoretischer Ebene als auch in empirischen Analysen (wieder-) hergestellt wird. Dabei knüpft er an zwei zentrale Befunde der international vergleichenden Klassentheorie und Klassenanalyse an. Zum einen seien die klassenspezifischen Ungleichheiten nach wie vor erheblich und zum anderen erwiesen sich ungleiche Mobilitätschancen und ungleiche Chancen im Bildungserwerb auch in der lebensverlaufs- und intergenerationalen Perspektive als hochgradig stabil (vgl. Groh-Samberg 2009, S. 203). Klassenanalysen haben seiner Auffassung nach auf empirischer Ebene die Vorzüge, dass sie auf deskriptiver Ebene ein klassifikatorisches Konzept anbieten, „das vielfältige Dimensionen der Ungleichheit von Lebenschancen und ihrer Reproduktion bündelt [und so die] Unterscheidung primärer und sekundärer Effekte […] sozialer Ungleichheiten“ ermöglicht. Zudem „bieten die unterschiedlichen Ansätze der Klassentheorie auch theoretische Erklärungsmodelle für die Entstehung und Reproduktion klassenspezifischer Ungleichheit an, die die Mikroebene sozialer Handlungsstrategien mit der Makroebene struktureller Ungleichheiten verbinden“ und sich so „gewinnbringend auf Armut beziehen“ lassen (Groh-Samberg 2009, S. 212 f.). Hauptergebnis seiner Analysen ist der enge Zusammenhang von Klassenposition und Armutsbetroffenheit, die er für den Zeitraum zwischen 1996–2000 sowie für 2000–2004 untersucht hat. „Die beiden Arbeiterklassen, insbesondere aber die einfachen ArbeiterInnen sind deutlich überproportional von Armut und Prekarität betroffen und weisen die geringsten Quoten des Wohlstandes auf. So befinden sich nur 31 Prozent der einfachen ArbeiterInnen im gesicherten Wohlstand, aber ganze 15 Prozent in dauerhaft multipler Armut. Jeweils weitere 14 Prozent leben in einer Zone der Prekarität oder sind einseitig, also entweder in der Einkommens- oder in der Lebenslagendimension dauerhaft arm. Die Klasse der FacharbeiterInnen weist das zweitstärkste Risiko dauerhaft multipler Armut auf.“ (Groh-Samberg 2004, S. 669)

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„Das Risiko, dauerhaft in multipler Armut leben zu müssen, erweist sich auch gegenwärtig als hochgradig klassenspezifisch strukturiert. Das zeigt sich auch in der sozialen Zusammenset­ zung der Wohlstands- und Armutsgruppen nach der sozialen Klassenposition“ (Groh-Samberg 2004, S. 670). Abbildung 4: Struktur der Armut nach Klassenposition (Angaben in Prozent)

Grafik: Simone Kreher Quelle: SOEP, Wellen Q-U (Längsschnittpopulation); Auszug aus Tabelle 45 (Groh-Samberg 2009, vgl. Anhang)

Als besonders markant für die Strukturierung von Armut arbeitet Groh-Samberg den Migra­ tionshintergrund und die Ost-West-Unterschiede heraus (Groh-Samberg 2009, S. 219). Sehen wir uns Risiko und Struktur der Armut im Ost-West-Vergleich und für Personen mit Migrationshintergrund an, so zeigt sich in seinen Analysen27, dass das Risiko, von ver27 Olaf Groh-Samberg merkt an, dass „das SOEP mit den Substichproben B und D eine hinreichend große Fallzahl von ImmigrantInnen für die 1980er und 1990er Jahre[n] sicherstellt“, „seither aber auf ein Oversampling von ImmigrantInnen verzichtet worden“ ist. „Das führt dazu, dass für den betrachteten Zeitraum nur ganz wenige Personen mit Migrationshintergrund in Ostdeutschland im Sample verbleiben. Aus diesem Grund wurde eine einzige Variable gebildet, die die drei Gruppen der Westdeutschen, der Ostdeutschen und der MigrantInnen unterscheidet.“ (2009, S. 218)

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schiedenen Formen von Armut betroffen zu sein, in den drei hier unterschiedenen Gruppen sehr ungleich verteilt ist. Die ostdeutschen Befragten teilen – wenn auch in unterschiedlichem Maße – mit den MigrantInnen ein höheres Risiko, von Armut betroffen zu sein, und die schlechteren Chancen, in stabilem Wohlstand zu leben. Abbildung 5: Risiken der Armut (Angaben in Prozent)

Grafik: Benjamin Zurek Quelle: SOEP, Wellen Q-U (Längsschnittpopulation); Auszug aus Tabelle 45 (Groh-Samberg 2009, vgl. Anhang)

Allerdings geben Groh-Sambergs Analysen bedauerlicherweise keinen Aufschluss über Struktur und Umfang der ländlichen Armut. Obgleich neben Klassenposition und Bildung auch die haushaltsspezifischen Lebensformen, Alter, Geschlecht und Ethnizität auch die Region zu den zentralen, zu untersuchenden Faktoren gehören sollte, wird die „sozialräumliche Segregation von Armut“ als Quartierseffekt, nicht aber in regionaler Perspektive untersucht (vgl. 2009, S. 200, 247 ff.). Zudem sind aus dem SOEP keine regionalisierten, d.h. auf kleinere soziale Räume bezogenen Informationen verfügbar (vgl. Zurek 2010) und schließlich werden die Klassenpositionen der ländlichen Sozialstruktur (zu ihrer Bestimmung wird ein

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individualistisches Einordnungsverfahren verwendet) in einschlägigen Veröffentlichungen nicht ausreichend differenziert abgebildet. „Die kleine Gruppe der ,sonstigen non-manuellen Berufe‘ wurden den ,einfachen Büroberufen‘ zugeordnet, die ,LandarbeiterInnen‘ den ,einfachen ArbeiterinInnen‘ und die ,Landwirte‘ und ,Selbstständige ohne MitarbeiterInnen‘ den ,kleinen Selbstständigen‘ (mit bis zu 20 MitarbeiterInnen)“ (Groh-Samberg 2004, S. 668; Hervorhebg. SK). Die Gruppierungen der ländlichen Sozialstruktur gehen aufgrund ihrer vermeintlichen Marginalität in modernen Gesellschaften und ihrer geringen Fallzahlen zwar in bevölkerungsrepräsentative Surveys ein, werden aber nicht gesondert analysiert und einzeln ausgewiesen. Insgesamt weisen die Datenlage und der derzeitige Forschungsstand zur Sozialstruktur speziell der ländlichen Bevölkerung in Ostdeutschland, möglicherweise aber für ländliche Regionen der Bundesrepublik insgesamt Defizite auf, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind und einander inzwischen so überlagern, dass die weißen Flecken/Blindstellen unsere Forschungen über die Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands zwar nicht unmöglich machen, aber doch fundamental erschweren: 1. Da die Bauern und Beschäftigtengruppen in landwirtschaftlichen Betrieben auch in den rekonstruktiven Analysen zu Klassenlagen und Mobilität von Heike Solga (1995) nur am Rande behandelt werden, haben wir zwar grundlegende Erkenntnisse über die Entwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern und sie betreffende Mobilitätsprozesse, aber nur eine vage Vorstellung von den eher untergeordneten Gruppen der ländlichen Sozialstruktur, wie den un- und angelernten Landarbeiter(innen), selbstständigen Kleinbauern und Gewerbetreibenden, Handwerkern oder Dienstleistungsbetrieben im Umfeld der Landwirtschaft, deren Eigner sich oftmals in widersprüchlichen Klassenlagen befanden. Agrarsoziologische Publikationen zum Arbeiten und Leben auf dem Lande von Lothar Krambach et al. (1984) sind zu stark der Doktrin der Annäherung der Klassen und Schichten an die Arbeiterklasse und deren Lebensweise verhaftet, als dass sie uns einen differenzierten Aufschluss über die Mikrostrukturen der ländlichen Gesellschaft der DDR geben können. 2. Da die widersprüchlichen Prozesse der Transformation der Sozialstruktur der ostdeutschen Teilgesellschaft als Ganzes nach 1990 zu wenig empirisch erforscht sind, sie gemeinhin als eine in der gesamtdeutschen Gesellschaft aufgehende, zu vernachlässigende Größe angesehen werden, verfügen wir nur über rudimentäre oder an einigen Stellen in die Tiefe gehende Erkenntnisse über die Mobilität und Neupositionierung bestimmter Statusgruppen in der gesamtdeutschen Klassen- und Sozialstruktur.28 Fallstudien zu einzelnen Gruppen oder 28 Anders ist das im Falle der Sozialstruktur Polens, deren Rekapitalisierung Martin Krzywdzinski (2005) detailliert beschreibt. Insbesondere mit der Entstehung einer großen Anzahl von kleinen Unternehmen sowie der Privatisierung von Handels-, Gastronomie- und Dienstleistungsunternehmen bis zur

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Teilfragestellungen der Entwicklung der ländlichen Gesellschaft, die von Meier, Müller (1997), Willisch (2008) etc. vorgelegt wurden, können bei einer notwendigen Gesamtschau jedoch nur bedingt Abhilfe schaffen. 3. Ländliche Regionen, die Bezieher von niedrigen Einkommen und armutsgefährdete Bevölkerungsgruppen sind in den gängigen bevölkerungsrepräsentativen Studien (z.B. SOEP) eher unterrepräsentiert und neigen bei Paneluntersuchungen häufiger dazu, auszuscheiden, sodass sie insbesondere für die dünn besiedelten, nordostdeutschen Regionen, die anteilsmäßig mit wenigen Befragten in solche Surveys eingehen, keine gesicherte Datenbasis über die Entwicklung ländlicher Armut bieten können. Zudem werden Befragte mit geringen oder ohne berufliche Qualifikationen aufgrund von niedrigen Besetzungszahlen der entsprechenden Zellen nicht differenziert ausgewiesen, sondern mit anderen zusammengefasst, sodass die einfachen LandarbeiterInnen mit den einfachen ArbeiterInnen, mitunter auch mit den Routine-DienstleisterInnen eine Kategorie bilden und einer gemeinsamen sozialen Position zugeordnet werden (Groh-Samberg 2004, Groh-Samberg 2009, Pollak 2008). Um solche Defizite zu beseitigen, wären disproportionale Ergänzungsstichproben oder Sondererhebungen notwendig. 4. Auf der Basis von Querschnittsdaten (offizielle Statistik über Leistungsbezieher) sowie von individuellen Verlaufsdaten aus der Rekonstruktion von Sozialhilfeverläufen, dem IAB-Panel oder dem SOEP können wir für ländliche Räume bestenfalls das Hellfeld von Armut, die staatlich bekämpfte Armut beschreiben, nicht aber ihr Dunkelfeld, die sogenannte verdeckte Armut. Hierbei sind wir nach wie vor auf Schätzungen und Modellrechnungen (Becker 2007) angewiesen bzw. auf Analysen des sich in den letzten Jahren stark ausdehnenden Niedrigeinkommensbereichs (Andreß; Krüger 2006). Irene Becker ermittelt in einer Mikrosimulation auf der Basis des SOEP von 2004, „das die Vorschriften zur Bemessung des Existenzminimums und zur Bedürftigkeitsprüfung von Bedarfsgemeinschaften abbildet […] ein Potenzial von etwa 10 Mio. Bürger(innen) mit Anspruch auf Alg II bzw. Sozialgeld“, wobei die Zahl der bedürftigen Bedarfsgemeinschaften die mit tatsächlichem Leistungsbezug erheblich übersteigt (um ca. 1 Mio.). Insgesamt weist sie eine Bedürftigkeitsquote von 16 % aus, die „in den neuen Ländern […] bei 23 % [und] in den alten Ländern bei lediglich 15 %“ liegt (2007, S. 1, 33 ff.). Kleinräumige regionale Mitte der 1990er-Jahre sei der Kern der zukünftigen Bourgeoisie bereits formiert gewesen. Im Unterschied zu den akademisch ausgebildeten Spezialisten und Managern der mittleren Leitungsebene hätten „Arbeiter und Bauern [nur] relativ geringe Chancen, von den neu eröffneten Karrierewegen zu profitieren“ (vgl. 2005, S. 77 ff.). Die Bauern, die im Unterschied zu anderen westlichen Industriegesellschaften in Polen traditionell ein besonders großes Gewicht haben, seien als „die großen Verlierer des Transformationsprozesses“ zu begreifen, da sie bei Zunahme der Einkommensdisparitäten nach wie vor die unterste Stufe der Einkommensleiter einnehmen.

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Unterschiede jenseits der überproportionalen Bedürftigkeit und Armutsbetroffenheit der ostdeutschen im Vergleich zur westdeutschen Bevölkerung, die uns näheren Aufschluss über die Armut in ländlichen Regionen geben, werden in der Simulation nicht erfasst. 5. Wollen wir für Untersuchungen zur Armutsentwicklung die ja prinzipiell flächendeckend vorhandenen prozessproduzierten Daten aus den Sozialverwaltungen nutzen, so haben wir in der Regel die Schwierigkeit, dass weder die Sozialämter, die für die Hilfe zum Lebensunterhalt zuständig waren, noch die Arbeits- und Sozialagenturen, die das Alg II berechnen, die Daten zu den von ihnen betreuten Personen und Bedarfsgemeinschaften so erheben, dass sie unmittelbar für sozialwissenschaftliche Zwecke benutzt werden können. Außer der Tatsache, dass die einzelnen Institutionen verschiedene Datenbanksysteme nutzen, mit denen verschiedene Datenstrukturen erzeugt werden, wird es von ihnen als „weitgehend irrelevant“ angesehen, „in welchen strukturellen Lebens- oder Klassenlagen [sich] hilfebedürftig gewordene Haushalte befinden“ (Groh-Samberg 2004, S. 678). Das bedeutet, dass die Sozialverwaltungen, die nicht mehr mit Handakten, sondern EDVbasiert arbeiten, zwar alle Zahlungsvorgänge minuten- und centgenau erfassen, nicht aber in jedem Fall fundamentale soziodemografische Daten (Alter, Geschlecht, Schulbildung oder ausgeübte berufliche Tätigkeiten) der von ihnen zu betreuenden Personen oder Bedarfsgemeinschaften. 2.4 Ländliche Regionen Mecklenburg-Vorpommerns und territoriale Ungleichheit in der Raum­ soziologie und Regionalforschung Für die Armutsforschung in der Bundesrepublik ist in den letzten Jahrzehnten zweierlei kennzeichnend gewesen: Zum einen fand sie, das wurde im letzten Abschnitt gezeigt, weitgehend abstinent von der Klassenanalyse und der Ungleichheitsforschung statt und zum anderen betrachtete sie die Ansätze der Stadt- und Regionalforschung oder Raumsoziologie – das werden wir im Folgenden sehen – als wenig relevant für die Armutsentwicklung. Das hat zur Folge, dass für ein Forschungsvorhaben zur Armut im ländlichen Raum Ostvorpommerns nicht nur der Zusammenhang von Armut und Reproduktion sozialer Ungleichheit hergestellt werden muss, sondern auch der zur Re-Produktion territorialer Ungleichheit. Im Rahmen theoretischer Diskussionen sind wir sehr schnell dazu bereit, Raum und Zeit als soziale Konstruktionen zu begreifen, beide jeweils als relational zu denken. Was es bedeutet, soziale Räume auch in empirischen Untersuchungen in ihrer gegenseitigen Konstituiertheit zu konzeptualisieren, ist schon nicht mehr so unumstritten. Konsequenterweise wären dann dünn besiedelte, ländliche Räume beispielsweise erst in Relation zu verdichteten vorstellbar, ländliche Räume in der Nähe von Städten von verschiedenen Varianten städti-

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scher Räume unterscheidbar etc. Bei der praktischen Durchführung empirischer Erhebungen werden relationale Raumkonzepte aus forschungsökonomischen Gründen oft zurückgenommen, sodass sich in der Phase der Operationalisierung, vor allem jedoch bei der Interpretation der Befunde und bei Theoriebildung das Raumverständnis auf ein absolutistisches reduziert. Raum wird zur bloßen physikalischen Hülle, in der Untersuchungseinheiten auf eine bestimmte Weise lokalisiert sind. Entgegen der von Martina Löw kritisierten Raumblindheit (vgl. 2001, S. 9), war für unser Projekt Raum in verschiedenen Dimensionen von Anfang thematisch. Die Frage nach der ländlichen Armut und ihrer besonderen Ausprägung in Ostvorpommern ist nicht ohne eine Arbeitsdefinition des ländlichen Raumes, ohne Bestimmung von Ländlichkeit oder der ländlichen Lebensweisen zu beantworten. Deshalb haderten wir immer wieder mit der von uns empfundenen Unterbestimmung ländlicher Räume, wie wir sie in unserem Untersuchungsfeld vorfanden und die von Wolfgang Weiß nicht nur als ländliche Räume, sondern als ländlichste Räume Deutschlands bezeichnet werden (Weiß 2002). Unsere als Erhebungsgebiet ausgewählte ländliche Region bestimmt sich zum einen über den Amtsbereich für die Vollerhebung der Sozialamtsakten und den Landkreis Ostvorpommern, über den sich Expertengespräche, biografische und familienbiografische Interviews sowie ethnografische Beobachtungen erstreckten. Als spezifisches Untersuchungsfeld konstituiert es sich für uns als Forscherinnen jedoch erst in der Relation zu Mecklenburg-Vorpommern, zum Norden Ostdeutschlands oder als historischer Entwicklungsraum Ostelbiens, der sich im gesellschaftlichen Prozess über das Handeln kollektiver und individueller Akteure fortlaufend neu konfiguriert. Mit dem dezidierten In-Beziehung-Setzen verschiedener Datenarten und räumlicher Aggregationsebenen sind die methodologischen, methodischen, forschungspraktischen und theoretischen Probleme relationaler Raumkonzepte bei Weitem noch nicht gelöst, bestenfalls ist ein erster Schritt zu ihrer Realisierung getan. Die eigentlich erforderliche prozessuale Operationalisierung des in stetigem Wandel befindlichen ländlichen Raumes konnte freilich im Rahmen des Projektes zur Armutsentwicklung in Ostvorpommern nicht gelingen (vgl. Abschnitt 3 in diesem Kapitel). Indes gibt es seit geraumer Zeit verstärkte Bemühungen um kleinräumige Analysen zur Bevölkerungsentwicklung, zur Wirtschaftskraft, den Einkommens-, Beschäftigungs- und Versorgungsstrukturen sowie zu regionalen Disparitäten in der Entwicklung der Lebensqualität, die in der Regel auf Kreisebene realisiert werden. Je nach Interessenlage der Auftraggeber und Forschenden werden sie als Rankings der Zukunftspotenziale der Regionen begriffen oder beziehen sich auf das im Grundgesetz unseres Landes verankerte Gebot der Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen (vgl. Bundesministerium für Familie; Prognos AG 2005, Bundesministerium für Familie; Prognos AG; Deutscher Industrie- und Handelskammertag 2007, Prognos 2007, Spellerberg; Huschka; Habich 2006). Besonders spektakuläre und me­dial gut vermarktbare Befunde, die zugleich wichtiger Referenzpunkt aller sozialwissen-

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schaftlichen Forschungen und Szenarien über regionale Entwicklungen sind, werden in den zwanzig Jahren seit der Wende seitens der Demografie, Bevölkerungsgeografie und Regionalökonomie vorgetragen. Um es vorwegzunehmen: Bei all diesen Bilanzierungen gehört der von uns untersuchte Landkreis Ostvorpommern neben Demmin und Uecker-Randow zu den Verlierern, zu den Regionen mit den wenigsten Ressourcen, dem desolatesten Arbeitsmarkt, mit einer eher unterdurchschnittlichen Lebensqualität und schwächsten Entwicklungspotenzialen: (1) Tanja Buch, Silke Hamann und Annekatrin Niebuhr prognostizieren im Zuge der demografischen Veränderungen, insbesondere der Abnahme der Anzahl der Erwerbspersonen, einen sich verschärfenden Wettbewerb der Regionen – d.h. der Großstädte, der Agglomerationsräume, der verstädterten und ländlichen Räume – um qualifizierte Arbeitskräfte (vgl. Buch; Hamann; Niebuhr 2010, S. 9). In ihren nach Qualifikationsniveau und siedlungsstrukturellem Kreistyp differenzierten Analysen der Wanderungsbilanzen für Deutschland in den Jahren 2000 bis 2007 legen sie Befunde zu den Ost-West-Wanderungen vor, die auch das Wanderungsgeschehen in den ländlichen Räumen Nordostdeutschlands erhellen. So wird von einer Gesamtabwanderung von Arbeitskräften im Untersuchungszeitraum ausgegangen, die mehr als 100 000 versicherungspflichtige Beschäftigte, aber nicht alle Qualifikationssegmente des ostdeutschen Arbeitsmarktes gleichermaßen umfasst, angegeben. Aufgrund der schlechten Beschäftigungsbedingungen für Geringqualifizierte in Ostdeutschland wiesen die Ungelernten mit 7,5 % die höchste negative Nettomigrationsquote auf (sind also von Ost nach West abgewandert). Akademiker haben zwar traditionell die höchste Mobilitätsneigung, wandern jedoch in beide Richtungen, „so dass die Nettoabwanderung aus Ostdeutschland in diesem Qualifikationssegment mit knapp 10.000 Personen vergleichsweise gering ausfällt“ (2010, S. 14 f.). Die Wanderungsbilanzen nach siedlungsstrukturellen Kreistypen sind zum einen durch die Ost-West-Mobilität sowie durch Stadt-Umland-Wanderungen in Ostdeutschland selbst geprägt: „Alle siedlungsstrukturellen Kreistypen im Westen weisen […] gegenüber Ostdeutschland einen positiven Wanderungssaldo auf“ (2010, S. 15 f.). Die ländlichen Kreise in Agglomerationsräumen Ostdeutschlands können einen Wanderungsgewinn (9,5 % pro Jahr) erzielen, die hoch verdichteten und verdichteten Kreise in Agglomerationsräumen verlieren mit ca. 2,4 % pro Jahr vergleichsweise weniger an Wohnbevölkerung als die ländlichen Kreise mit ca. 6 % pro Jahr (Buch; Hamann; Niebuhr 2010, S. 17 f.). Insgesamt präzisieren diese Befunde die gängigen Vorstellungen von den schrumpfenden, sich entleerenden Räumen Nordostdeutschlands, sofern es um die Abwanderung gering qualifizierter Beschäftigter und die mögliche selektive Zuwanderung Hochqualifizierter geht.

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(2) Annette Spellerberg, Denis Huschka und Roland Habich verweisen in ihrer Untersuchung zur Entwicklung der Lebensqualität in ländlichen Kreisen auf die nach wie vor bestehende deutliche Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland, die die Unterschiede zwischen ruralen und urbanen Regionen überlagert und die längst zu beachtenswerten kleinräumigen Problemlagen geführt hat (vgl. Spellerberg; Huschka; Habich 2006, S. 845 ff.). Die Analysen für die hier nach ökonomischer Lage, Infrastrukturausstattung und Bevölkerungspotenzial typisierten Landkreise verweisen für die nordostdeutschen ländlichen Regionen auf die Gefahr wirtschaftlicher und demografischer Abwärtsspiralen, insgesamt jedoch auf Disparitäten in der Lebenslage und Lebensqualität, die das Verfassungsziel der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in Deutschland infrage stellt. Für empirische Forschungen zur Entwicklung der Lebensverhältnisse in Deutschland oder in international vergleichender Perspektive bedeutet dies nicht zuletzt, dass sie sich konsequenter als bislang den Herausforderungen regionalisierter Erhebungen und Analysen stellen müssen. (3) Im Rahmen vergleichender Untersuchungen zu peripheren, ländlichen Räumen in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und in der Wojewodschaft Zachodniopomorskie (Woiwodschaft Westpommern), die an der Hochschule Neubrandenburg durchgeführt wurden, hat Peter Ebert den bislang umfassendsten Ansatz zur Typisierung von kleinen Siedlungs- und Gemeindeeinheiten für Nordostdeutschland vorgestellt (vgl. Elkeles; Dehne 2009, S. V). Dabei wurde ein für Kleinstädte zuvor bereits erprobtes Typisierungsverfahren, das mit funktionalen Leitmotiven (Fremdenverkehr, Landwirtschaft, Dienstleistung, Wohnen, Arbeiten und Gemeinden ohne spezifische Ausrichtung) arbeitet, auf insgesamt 929 kleine, dörfliche Gemeinden Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns angewendet (vgl. Ebert 2009, S. 71 ff.). Im Zuge dieser Untersuchung wurden auch 86 von insgesamt 96 kleinen, dörflichen Gemeinden aus dem Landkreis Ostvorpommern typisiert und in ein Ranking nach sechs sozioökonomischen Zustands- und Entwicklungsindikatoren (Einwohnerentwicklung, Arbeitslosenentwicklung, Wanderungssaldo, Baufertigstellungen, Steuereinnahmekraft, Arbeitslosenrate) einbezogen (vgl. Ebert 2009, S. 23). Peter Eberts Arbeiten decken unser Untersuchungsfeld nahezu vollständig ab und erlauben es, den Landkreis Ostvorpommern in seinen weiteren regionalen Kontext des ländlichen Raums in Nordostdeutschland einzubetten und ihn auf der Grundlage kleinräumiger Strukturen noch genauer zu charakterisieren, als das bislang möglich war. Sehen wir uns den Landkreis Ostvorpommern genauer an, so fällt ins Auge, dass: ‚‚ 35 ländliche Gemeinden ohne Leitmotiv, ‚‚ 29 mit dem Leitmotiv Wohnen, ‚‚ 8 mit dem Leitmotiv Landwirtschaft, ‚‚ 7 mit dem Leitmotiv Arbeiten und ‚‚ 5 mit dem Leitmotiv Fremdenverkehr klassifiziert sind.

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Dabei gibt es ein Nord-Süd-Gefälle, demzufolge sich im Norden des Landkreises eher Gemeinden mit dem Leitmotiv Wohnen konzentrieren, auf der Insel Usedom touristisch orientierte Gemeinden und im südlichen Teil des Landkreises eher Gemeinden ohne Leitmotiv bzw. als landwirtschaftlich charakterisierte ländliche Gemeinden liegen. In unmittelbarer Nähe zu Anklam, dort wo sich der von uns untersuchte Amtsbereich befindet, haben wir je eine ländliche Gemeinde, für die Arbeiten, Wohnen oder Landwirtschaft als Leitmotiv ausgewiesen wird, sowie mehrere Gemeinden, für die kein Leitmotiv ausgewiesen wird. (Siehe Farbkarte 1 Leitmotive von kleinen Gemeinden Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs.29) Betrachten wir das Gesamtranking der kleinen, ländlichen Gemeinden in MecklenburgVorpommern und Brandenburg, so wird deutlich, dass die Gemeinden um den Kreissitz Anklam (also auch unser Untersuchungsgebiet) eher im unteren Bereich des Rankings liegen (zwischen –2 und –4). Die von Peter Ebert publizierte Typisierung und das Ranking der Kleinstädte und kleinen Gemeinden weisen „im Norden und Nordwesten Mecklenburgs sowie südlich und südöstlich von Berlin im Durchschnitt deutlich positivere Indikatorenwerte [auf ] als die Kleinstädte und kleinen Gemeinden in Vorpommern und im Elbe-Elster-Kreis“ (Ebert 2009, S. 117 f.). Generell erreichen Gemeinden mit deutlich ausgeprägten leitmotivischen Orientierungen bessere Indikatorenwerte und haben tendenziell mehr Entwicklungsperspektiven als die Gemeinden, denen kein Leitmotiv zugeordnet werden konnte. (Siehe Farbkarte 2: Sozioökonomisches Gesamt-Ranking der kleinen Gemeinden Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs.30)

3 Ostvorpommern als Untersuchungsfeld für ländliche Armut in Nordostdeutschland Bereits bei Projektbeginn zeigte sich, dass der Landkreis Ostvorpommern31, in dem unser Untersuchungsfeld liegt, ein Landkreis mit sehr heterogener Struktur ist. Zu ihm gehören sowohl die touristisch bedeutsamen Dreikaiserbäder auf der Insel Usedom als auch lange Zeit großagrarisch genutztes Hinterland sowie die Hansestädte Anklam und Greifswald (als kreisfreie 29 Für die Erlaubnis, die Karte hier abdrucken zu dürfen, danke ich Peter Ebert und Peter Dehne (2009, S. 84). 30 Für die Erlaubnis, die Karten hier abdrucken zu dürfen, danke ich Peter Ebert und Peter Dehne (2009, S. 106). 31 Ostvorpommern gehört zu den sogenannten Optionskommunen oder optierenden Landkreisen, die Betreuung von Arbeitssuchenden, Langzeitarbeitslosen und Empfängern von Grundsicherung in Eigenregie durchführen.

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Universitätsstadt). Aus forschungspragmatischen und forschungsökonomischen Gründen – das stand von Anfang an fest – konnte keine Erhebung realisiert werden, die die ländlich geprägte Region Ostvorpommern als Ganze und mit ihren kleinräumigen Differenzierungen erfasst.32 In der Phase der Felderschließung und in enger Kooperation mit den Expertinnen der So­ zialagentur wurde für unsere Sozialamtaktenanalysen letztlich ein Amtsbereich ausgewählt, der zum agrarisch strukturierten Binnenland ohne touristisch erschlossene Küstenbereiche gehört. Der ausgewählte Amtsbereich entsprach unseren zu Projektbeginn definierten Kriterien für eine ‚ländliche Region‘ am besten und galt den Analysen wichtiger statistischer Amtsdaten zu Bevölkerungsentwicklung und Infrastruktur durch Dr. Doris Rentzsch als repräsentatives Untersuchungsgebiet; sowohl für den Landkreis als auch für Mecklenburg-Vorpommern insgesamt. Tabelle 6 stellt die jeweils verfügbaren Querschnittsdaten für die Bevölkerungsdichte, Kaufkraftkennziffer je Einwohner, Arbeitslosenquote und Sozialhilfedichte auf unterschied­ lichen Aggregationsebenen dar. Tabelle 6: Ausgewählte sozioökonomische Kennziffern in räumlicher Differenzierung33 Bevölkerungsdichte Kaufkraftkennziffer in Einwohner je pro Einwohner Quadratkilometer (2007)

Arbeitslosenquote (2006) in Prozent

Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt (2004) je 1000 Einwohner

Untersuchter Amtsbereich

22





27

Landkreis Ostvorpommern

57

76,2

24

35

MecklenburgVorpommern

74

80,8

20,8

41





19,2

26

231

100

12

27

Neue Bundesländer Bundesrepublik Deutschland

Tabelle: Susanne Niemz und Benjamin Zurek (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. 21) 32 Für das auf zunächst zwei Jahre angelegte Projekt mussten ja Sozialamtsakten über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren entarchiviert und vor Ort erfasst werden, und das mit der Forschungskapazität von nur zwei Mitarbeiterinnen und wenigen studentischen Projektmitarbeiterinnen. Zudem galt es, bei dem Forschungsvorhaben die Belastungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der kommunalen Armutsverwaltungen in Grenzen zu halten und ihre Kooperationsbereitschaft nicht überzustrapazieren. 33 Auf der Ebene des Amtsbereichs und Landkreises basieren die Berechnungen auf den Angaben des Statistischen Landesamtes Mecklenburg-Vorpommern. Auf Bundesland- und Bundes-Ebene sind die Angaben in der Regel den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes entnommen. Der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) danken wir für die freundliche Bereitstellung der Angaben zur Kaufkraft.

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Im ausgewählten Amtsbereich lebten im Dezember 2004 13 488 Einwohner, von denen zu diesem Zeitpunkt 437 Personen (das entsprach 3,2 % der Bevölkerung des Amtsbereiches) Hilfe zum Lebensunterhalt (HLu oder Sozialhilfe) bezogen. Unmittelbar vor Projektbeginn im Januar 2005 betrug die Anzahl der Leistungsempfänger im Landkreis Ostvorpommern (OVP) ca. 20 000 Personen bei einer Einwohnerzahl von 111 471 (31.12.04). Die Sozialhilfedichte lag damit im untersuchten Amtsbereich etwas unter dem Landesdurchschnitt von Mecklenburg-Vorpommern und exakt bei den Werten für die Bundesrepublik insgesamt. Schon anhand dieser Darstellung lässt sich erkennen, dass Befunde – je nach sozialräumlicher Ebene – ein stark variierendes Bild ergeben. Erst durch die Bezugnahme auf die nächstgrößere bzw. kleinere räumliche Dimension bekommen die einzelnen Kennziffern ihre spezifische Aussagekraft und Bedeutung für die Beschreibung von Lebenslagen. Je kleinräumiger wir den physischen Raum sehen, umso augenfälliger werden die Schwankungen in der Bevölkerungsdichte: Während schon das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern nur noch eine Siedlungsdichte von 32 % im Vergleich zur gesamten Bundesrepublik aufweist, verschärft sich dieses Bild von Ebene zu Ebene weiter – der von uns untersuchte Amtsbereich zeigt gerade mal noch 9,5 % der Siedlungsdichte der BRD. Inwiefern diese äußerst geringe Bevölkerungsdichte als Merkmal des ländlichen Raumes Armut in den kleinen Städten und Dörfern Ostvorpommerns (un-)sichtbar werden lässt, Raum also, wie Schroer es formuliert, auch in unserem Forschungsfeld in spezifischer Weise „für die Sichtbarkeit sozialer Strukturen“ (2006, S. 106) sorgt, war eine Frage, der sich das Projekt immer wieder von Neuem stellen musste. Bei der Betrachtung von Arbeitslosenquoten und Sozialhilfedichten für das Jahr 2004 (vgl. Abb. 8; beides in relativen Kennziffern) zeigt sich ein analoges Bild: Obwohl OVP die höchste Arbeitslosenquote (mehr als doppelt so hoch wie der Bundesschnitt) aufweist, liegt die Sozialhilfedichte lediglich knapp über der für die Bundesrepublik. Da Arbeitslosigkeit als Hauptursache für die Beantragung von Hilfe zum Lebensunterhalt gilt, ließen sich genau genommen noch viel höhere Sozialhilfedichten erwarten. Möglicherweise fällt es in dem so überschaubaren sozialen Raum leichter, Ansprüche auf Arbeitslosengeld geltend zu machen als Fürsorgeleistungen in Anspruch zu nehmen, die nicht auf dem Gedanken der Leistungsgerechtigkeit (Äquivalenzprinzip) beruhen. Schließlich vermitteln neben den Sozialhilfedichten und Arbeitslosenquoten auch die im Vergleich zu anderen Landkreisen und kreisfreien Städten von der Gesellschaft für Konsumforschung erhobenen Kaufkraftkennziffern pro Einwohner einen Eindruck von den ökonomischen Lebensverhältnissen im ländlichen Raum Nordostdeutschlands. Für Ostvorpommern liegen sie im Jahre 2007 mit 76,2 deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 100 (vgl. für Berlin: 88–96; für Bad Doberan: 80–88; für Hamburg: 104–112; für München und den Landkreis um München 128 und mehr; Cham in Bayern und das Weser Ems-Gebiet: 80–88).

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Abbildung 8: Arbeitslosenquoten und Sozialhilfedichten 2004 in räumlicher Differenzierung

Grafik: Susanne Niemz (vgl. Kreher; Niemz 2008, S. 11)

Betrachtet man die Anzahl der Empfänger(innen) von HLu (außerhalb von Einrichtungen) in Relation zur Bevölkerungszahl der jeweils betrachteten Ebene im Zeitraum zwischen 1994 und 200434 (vgl. Tab. 6), so zeigt sich tendenziell eine stetige Zunahme der Sozialhilfedichte in allen von uns unterschiedenen räumlichen Dimensionen (Bundesrepublik Deutschland, ostdeutsche Länder, Mecklenburg-Vorpommern sowie im Landkreis OVP35). Bei den Sozialhilfedichten für Mecklenburg-Vorpommern und Ostvorpommern zeigen sich stetige, 34 Vor 1994 liegen die (Sozialhilfe-)Daten beim Statistischen Bundesamt nur in Papierform vor. Im Zuge der Hartz-IV-Reformen wurde die Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt ab 01.01.2005 durch das sog. „Arbeitslosengeld II“ (durch die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II) ersetzt. Insofern können die Zeitreihen nicht fortgeschrieben werden. Experten des Statistischen Bundesamtes zufolge sind jedoch fast alle ehemaligen Sozialhilfebezieher nach der Reform zunächst in die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit übergegangen, da sich Arbeitslosengeld II ausschließlich an erwerbsfähige Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren richtet. Die beiden Sozialleistungen – HLu und Alg II bzw. Sozialgeld – sind als Indikator für politisch erfolgreich bekämpfte Armut formal äquivalent, sichern sie doch als letztes soziales Auffangnetz zumindest das Überleben der Bevölkerung in Form eines soziokulturellen Existenzminimums. Beides sind (im Gegensatz zum Arbeitslosengeld I) aus Steuermitteln finanzierte Fürsorgeleistungen. 35 Auf Amtsbereichsebene, also auf der kleinsten räumlichen Erhebungseinheit, liegen diese Daten leider nicht in elektronischer Form vor, sodass hier auf eine Aufbereitung verzichtet werden musste.

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aber deutlich steilere Anstiege als in den neuen Ländern insgesamt. Im Bundesdurchschnitt setzt um die Jahrtausendwende zwar eine leichte Entspannung ein, doch in Verbindung mit den Daten für die neuen Bundesländer lässt sich diese Konsolidierung auf der Bundesebene nur als Folge stark sinkender Zahlen, also konjunkturellen Aufschwungs in den alten Bundesländern, vermuten. Der Landkreis Ostvorpommern erreicht bei den Sozialhilfedichten 2003/2004 exakt das Niveau der Bundesrepublik, welches deutlich über den neuen Ländern, aber unter den Durchschnittswerten für Mecklenburg-Vorpommern liegt. Abbildung 9: Entwicklung der Sozialhilfedichten in räumlicher Differenzierung

Graphik: Susanne Niemz (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. 21)

Von Amts wegen erhobene Querschnittsdaten sind, auch wenn sie für lange Zeitreihen und für verschiedene räumliche Aggregationsebenen vorliegen, allesamt stichtagsbezogen und können freilich keine Auskunft über individuelle Armutsverläufe oder die Dauer von familien- und haushaltsbezogenen Armutserfahrungen geben. Auch wenn wir bereits in der Phase der Erschließung unseres Untersuchungsgebietes erkannt hatten, dass sich die Gegebenheiten vor Ort, beispielsweise durch die Kreisgebietsreformen, schnell veränderten und der ländliche Raum im Zuge der Restrukturierung der Landwirtschaft nach 1989 mit seiner massenhaften Freisetzung von Arbeitskräften bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer großflächigen Bewirtschaftungsweise mit nunmehr deutlich weniger

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Arbeitskräften in stetiger Veränderung begriffen war, gingen wir davon aus, dass sich unsere Forschungsfragen zur Armutsentwicklung im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns im ausgewählten Untersuchungsgebiet mit den von uns konzipierten empirischen Erhebungs- und Analysestrategien beantworten lassen würden. Um auch die Frage nach den spezifischen Differenzen zwischen städtischer und ländlicher Armut nicht aus den Augen zu verlieren, ist neben der Definition dessen, was unter einem ländlichen Raum verstanden werden soll, das Attribut ländlich näher zu charakterisieren. Eine solche Charakterisierung, die zwischen dörflich, ländlich, suburban und kleinstädtisch unterscheidet, war nicht nur für die Bestimmung des Untersuchungsbereiches für die Analysen der Sozialamtsaktenanalysen relevant, sondern insbesondere auch für die Auswahl der Familien und Gesprächspartner im qualitativen Teil der Studie. Stephan Beetz bemerkt verschiedentlich, dass lebensweltlich „geteilte Bilder und Vorstellungen von dem, was ländlich sei, […] einer wissenschaftlichen Analyse nur bedingt“ standhielten und eine allgemein akzeptierte Definition des Ländlichen nicht vorliegen würde. „Vielmehr werden bestimmte statistische Indikatoren oder symbolische Attribute mit bestimmten räumlichen Funktionsmerkmalen in einen Zusammenhang gebracht.“ (Beetz; Nebelung; Röding 2009, S. 285) Das sind in der Regel Indikatoren wie die Besiedlungsdichte, der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft sowie die Erreichbarkeit von Zentren und die Beschreibung der Siedlungsstrukturen als dörfliche, der Wirtschaftsstrukturen und Landnutzung als agrarisch-forstwirtschaftliche und nicht zuletzt die distanzierte Lage in Bezug auf urbane Zentren. Stephan Beetz et al. begreifen Ostvorpommern, also die Region, in der wir unsere Untersuchung durchgeführt haben, „als nordostdeutsches Binnenland“36, das aufgrund der „Regionalisierung von strukturellen Bedingungen“ „von Peripherisierung betroffen ist“ (2009, S. 350 f.). Mit diesem – etwas sperrigen Begriff – beabsichtigt Stephan Beetz sowohl den „räumlichen Aspekt von Verarmung“ als auch ihren „Prozesscharakter“ hervorzuheben Beetz 2012 in diesem Band, S. 49 f.).

36 In Agnieszka Kiernozycka-Sobejkos Untersuchung werden den westpommerschen Gemeinden aufgrund ihrer positiven Entwicklungsindikatoren und ihrer Nähe zu Deutschland sehr gute Entwicklungspotenziale zugeschrieben. Aus der Perspektive der empirischen Untersuchungen zu Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg stellt es sich genau anders herum dar (vgl. Beetz; Nebelung; Röding 2009, S. 349, vgl. Kiernozycka-Sobejko; Beetz; Elkeles, et al. 2009, S. 144).

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4 Über die Herausforderungen einer Regionalisierung und Historisierung der Armutsforschung Gemeinhin gelten die Forschungsarbeiten zur Armutsdynamik aus dem Bremer Sonderforschungsbereich 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ (Buhr 1995, Leisering 2008, Ludwig 1996) als entscheidende Zäsur in der Armutsforschung der Bundesrepublik, als die Wiederaufnahme der lange ad acta gelegten Armutsthematik in der deutschen Sozial­ wissenschaft. Seit geraumer Zeit spitzt sich die Kritik an der Tradition der Dynamischen Armutsforschung jedoch zu, wenn sich Christof Butterwegge (2009a, S. 147) mit den, wie er einräumt, von den Forscherinnen und Forschern nicht intendierten politischen Implikationen ihrer Arbeiten auseinandersetzt oder Olaf Groh-Samberg die methodologischen Voran­nahmen, Operationalisierungsweisen und vor allem die Interpretation des temporären So­zialhilfebezuges als kurzfristige Armut kritisiert. Seiner Auffassung nach wird der vermeintliche „empirische Nachweis der Dominanz von Kurzzeitarmut zum zentralen Hebel für ein neues Armutsbild“, das er für irreführend hält. Seiner Auffassung nach haben wir es eben nicht mit einer „hohen Dynamik“ von Armut hin zu gesicherten Wohlstandslagen zu tun, sondern mit einer „Verfestigung von milderen Armutslagen bzw. prekären Lebenslagen“, mit einer „verhärteten Armut“. Obgleich die Kritik an der dynamischen Armutsforschung bereits bei Projektbeginn nicht gänzlich unbekannt gewesen ist (vgl. Groh-Samberg 2004), knüpfte das in diesem Band erstmals ausführlich vorgestellte Forschungsvorhaben zur Armutsentwicklung im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns in seinem quantitativen Teil zunächst eng an das Konzept der Bremer Sozialhilfestudie an. Für die Durchführung eines zu den Sozialhilfestudien in städtischen Lebenskontexten vergleichbaren Projektes im ländlichen Raum sprachen trotz der kritischen Diskussionen folgende Argumente: 1. Armut im ländlichen Raum, in Dörfern, Kleinstädten und ländlichen Gemeinden war im Jahre 2005 ungleich weniger erforscht als Armut in urbanen Gebieten, sei es in den sozialen Brennpunkten der Großstädte oder in sogenannten Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf. 2. Der Bremer Ansatz zur retrospektiven Analyse von Sozialhilfeakten (prozessproduzierter Daten) war auch für Halle an der Saale und damit neben Bremen für eine ostdeutsche Großstadt genutzt worden, sodass vergleichbare Daten für Ost- und Westdeutschland vorlagen (Olk; Mädje; Mierendorff, et al. 2004). 3. Als zweifach erprobter empirischer Forschungsansatz zur Analyse prozessproduzierter ­So­zial­hilfedaten konnte an die Tradition der Dynamischen Armutsforschung auch deshalb unmittelbar angeknüpft werden, weil Doris Rentzsch (Rentzsch; Olk 2002), die maßgeblich an der Konzipierung und Realisierung der quantitativen Arbeiten der ersten Förderphase unseres Projektes mitgearbeitet hat, über persönliche Arbeitserfahrungen mit den in

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Bremen und Halle an der Saale benutzten Erhebungsinstrumenten und Auswertungsverfahren verfügte. 4. Es gelang, den Landkreis Ostvorpommern als Kooperationspartner unseres Forschungsvorhabens dafür zu gewinnen, dem Projektteam einen Zugang zu bereits abgeschlossenen Sozialhilfeakten für den Zeitraum von 1990 bis 2004 zu eröffnen, sodass wir eine empirische Basis aufbauen konnten, die den gesamten Zeitraum der Gültigkeit des Bundesso­ zialhilfegesetzes für die neuen Bundesländer und damit auch für unser Untersuchungsfeld – einen für den Landkreis OVP repräsentativen Amtsbereich – abdeckte. Seit Projektbeginn und insbesondere in der Phase der vertiefenden Auswertung der erhobenen Datenbasis haben sich die Arbeitsperspektiven der Projektbeteiligten in Nuancen immer wieder leicht verschoben, dennoch stand von Beginn an die Idee im Raum, die Armutsentwicklung in einer ländlichen, dünn besiedelten Region in möglichst langfristiger Perspektive, d.h. über einen sehr langen Beobachtungszeitraum zu erfassen: a) in den Sozialhilfeverläufen seit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes für die neuen Länder und darüber hinaus seit dem Inkrafttreten der Gesetzte für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (1990–2004; 2005–2008); b) als Tradierung und Bewältigung von Armut und prekären Lebenslagen in transgenerationeller Perspektive (die Zeit einer gesamten Lebensgeschichte bzw. der Familiengeschichte über mehrere Generationen). Anders als das jetzt in der Retrospektive möglich ist, konnten wir während der Projektarbeit selbst weder alle Unwägbarkeiten in der Feldarbeit antizipieren noch die zum damaligen Zeitpunkt bereits bekannten und in der Forschungspraxis immer wieder spürbaren methodischen Defizite beseitigen. Dennoch enthielt unser Vorhaben von vornherein eine Reihe innovativer Momente, die Erkenntnisgewinne erwarten ließen: Zum Ersten die Möglichkeit der Integration von Analysen prozessproduzierter quantitativer Daten zum Sozialhilfebezug und familien-/biografisch orientierter qualitativer Daten zu Wahrnehmung und Bewältigung prekärer Lebenslagen in der Mehrgenerationenperspektive. Zum Zweiten der sozialräumliche Bezug zum für Nordostdeutschland typischen peripheren ländlichen Raum als Region mit schrumpfenden Dörfern und Gemeinden ohne bäuerliche Tradition. Zum Dritten die Perspektive, das Projekt bei einer Verlängerung über die sozialpolitische Zäsur der Einführung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zum 1. 1. 2005 fortschreiben zu können und damit eine, für die Bundesrepublik einmalige, Datenbasis aufbauen zu können. Die folgende Abbildung 10 gibt einen groben Überblick über den Projektverlauf mit den wichtigsten Erhebungs- und Auswertungsarbeiten.

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Abbildung 10: Projektverlauf im Überblick Interdisziplinäre Fachtagung Wissenschaftskolleg Greifswald 2. bis 4. Juli 2008 2005

2006

06/05

2007

Abschlussbericht an die dfg 30. September 2008

2008

2009

09/07 11/07

08/08

1. förderphase

2. förderphase

· Erschließung des Forschungsfeldes · 13 Experteninterviews · Analysen von Handakten · 33 (familien-)biographische Interviews in vier Phasen · Aufbereitung der Rohdaten · Analyse der qualitativen Daten · Auswertung der prozessproduzierten Ereignisdaten

· Vertiefende Experteninterviews · Folgeinterviews mit Kindern und Großeltern · Auswertung der Datenbank zum alg-ii-Bezug · Fallrekonstruktive Auswertung der qualitativen Datenbasis · Auswertung regionalisierter Daten aus dem soep

(06/05–09/07)

(11/07–08/08)

Quelle: eigene Darstellung

Was wir bei Projektbeginn auch nicht vorwegnehmen konnten, war, wie sich die Armutsentwicklung in unserer Gesellschaft nach 2005 gestalten würde und welche Intensität die Forschungen über Armut, prekäre Lebenslagen und soziale Exklusion in den Jahren unserer Projektarbeit annehmen würden (vgl. Kapitel 7 in diesem Band). Jetzt, nach Beendigung des Projektes, begreifen wir unsere Arbeiten als eine Art retrospektive Fallstudie der Armutsent­ wicklung in einer ländlichen Region mit lang andauernder Armutstradition. Unsere Untersuchung fühlt sich damit den Anforderungen, die Karl Ulrich Mayer an eine „glaubwürdige“ und politisch sensible Ungleichheitsforschung formuliert, verpflichtet: „Quantitative Längsschnittforschung muss ergänzt werden durch breit angelegte Fallstudien und ethnografische Beobachtungen. Und Zeitdiagnosen müssen sich jenseits der Bestätigung durch Publikumsakzeptanz empirischen Begründungsverpflichtungen stellen. Notwendig sind sowohl das Aufspüren von neuen, je aktuellen Risikogruppen als auch die Analyse von weniger transparenten Folgeprozessen im Aggregat, über die historische Zeit und im Lebensverlauf“ (Mayer 2006 , S. 1350).

Unsere retrospektive Fallstudie der Armutsentwicklung in Ostvorpommern geht dabei nicht nur von einem spezifischen Verständnis der Multidimensionalität von Armut aus, sondern interpretiert die Befunde im Kontext sozial-historischer Entwicklungen und in sozial-räumlicher Perspektive. Dabei werden jeweils verschiedene empirische Zugänge für die unterschiedlichen Ebenen von Zeitlichkeit und verschiedenen Dimensionen von Räumlichkeit genutzt:

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Abbildung 11: Dimensionen von Raum und Zeit in der Datenerhebung und Theoriebildung

Empirische Zugänge über

Ebenen von Zeitlichkeit

Ausgewählter Amtsbereich (R1)

prozessproduzierte Ereignisdaten (D1)

Präsentistische oder „kurze“ Zeit (Z1)

Landkreis und Region Vorpommern (R2)

biografische, familiengeschichtliche und ethnografische Daten (D2)

Zeit der Generationen (Z2)

Überregionale, nationalstaatliche und internationale Vergleiche (R3)

Bevölkerungsrepräsentative Quer- und Längsschnittdaten (D3)

„longue durée“ (Z3)

Ebenenspezifische Theoriebildung

differenzierte empirische Zugänge

methodenplurale Analysestrategie Dimensionen von Räumlichkeit

Integrale Interpretation

Tabelle: Simone Kreher

Bei unseren Analysen und Interpretationen waren wir nicht auf ein kleines Beobachtungsfenster, ein Zeitscheibchen oder eine einzige spezielle Datenart angewiesen und konnten die Armutsentwicklung als komplexen, in sich widersprüchlichen und historisch langfristigen sozialen Prozess untersuchen. Das bot einerseits die Chance, das empirisch Vorgefundene aus sehr verschiedenen Perspektiven zu interpretieren, ist andererseits mit dem Risiko verbunden, dass wir gerade die Perspektive, die einzelne Leser möglicherweise am stärksten interessiert, nicht fokussieren. Nehmen wir Paul Lazarsfelds Idee einer integralen Interpretation (vgl. 1960, S. 22), die der jeweiligen sozialwissenschaftlichen Fragestellung nicht nur das Etikett des Historischen (der Zeitsensitivität) oder des räumlich Sensiblen anheftet, sondern als konstitutiv für eine umfassende Theorie über Armut betrachtet, so bedeutet dies für unsere Untersuchung, dass wir auf folgenden Ebenen theoretische Aussagen zu formulieren hätten: Ebenen oder Dimensionen von Zeitlichkeit TZ1: Aussagen zu den Mustern und Verläufen des Sozialhilfe- oder Alg-II-Bezugs; Aussagen zu individuellen Verarbeitungs- und Bewältigungsformen von Armut; TZ2: Aussagen zu individueller und kollektiver Mobilität, zur Entstehung und Reproduktion armutsgefährdeter oder armutsbetroffener Soziallagen; Aussagen zu familialen und transgenerationalen Mustern der Tradierung von Armut; TZ3: Aussagen zur Epochespezifik und Klassenstrukturiertheit von Armut.

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Ebenen oder Dimensionen von Räumlichkeit TR1: Aussagen über die lokale Situiertheit von Armut, über mögliche Handlungsstrategien zur Verhütung von Armut und Interventionsstrategien gegen weitere Verarmung; TR2: Aussagen zu regionalen Entwicklungen, zur regionalen Verteilung von armutsbetroffenen Familien, zu Konzentrations- und Peripherisierungstendenzen; TR3: Aussagen zu interregionalen und überregionalen, nationalstaatlichen und internationalen Entwicklungen bei prekären und armutsbetroffenen Lebenslagen. Auch wenn die im Folgenden ausführlich dargestellte Untersuchung zur Armutsentwicklung in Ostvorpommern diesen soeben formulierten Herausforderungen nicht allesamt gerecht wird, so wird doch versucht, bei der Präsentation der vielfältigen Befunde des mehrjährigen Projektes Historizität und Räumlichkeit als konstitutive Dimensionen in einem Maße systematisch einzubeziehen, wie dies weder in der Bremer Sozialhilfestudie noch in der Hallenser Untersuchung zur Sozialhilfe- und Armutsdynamik der Fall gewesen ist.

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Rentzsch, Doris; Olk, Thomas: „Sozialhilfedynamik in Ostdeutschland. Sozialhilfeverläufe und zeitdynamische Problemgruppen in der Halleschen Längsschnittstudie (HLS)“, in: Armut als Herausforderung. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Armutsforschung und Armutsberichterstattung, hg. v. Stefan Sell, Berlin: Dunker und Humblot 2002, S. 229–262. Schroer, Markus (2006): Raum, Macht und soziale Ungleichheit. Pierre Bourdieus Beitrag zu einer Soziologie des Raums, Leviathan (34)1. S. 105–123. Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen den Generationen in der DDR, Berlin: Akademie Verlag 1995. Spellerberg, Annette; Huschka, Denis; Habich, Roland: „Angleichung und Polarisierung: Entwicklung der Lebensqualität in ländlichen Regionen“, in: Soziale Ungleichheit, Kul­ turelle Unterschiede. Plenumsbeiträge beim 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sozio­ logie in München 2004, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main: Campus 2006, S. 839–861. Voges, Wolfgang: „Vorwort. Zur Thematisierung von Armut in Deutschland“, in: Armut in der „DDR“-Bevölkerung. Lebensstandard und Konsumtionsniveau vor und nach der Wende, hg. v. Günter Manz, Augsburg: Maro-Verlag 1992. Voigt, Dieter; Voß, Werner; Meck, Sabine: Sozialstruktur der DDR. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1987. Weber, Max: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1892a. Weber, Max: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1892b. Weiß, W.: „Deformierung demographischer Strukturen agrarer Regionen als Auswirkung der Land-Stadt-Migration. Verschiebung des intellektuellen Potentials und sexualspezifische Verzerrungen“, KSPW 1992. Weiß, Wolfgang: „Der Ländlichste Raum – Regional-demographische Begründung einer Raumkategorie“, Röbel: Thünen-Institut 2002. Weiß, Wolfgang: „Demographisch-soziologische Disproportionen der Residualbevölkerung ländlicher Abwanderungsgebiete, dargestellt am Beispiel Mecklenburg-Vorpommern“, Prof. Dr. Wilhelm Steingrube, Universität Greifswald 2004. Willisch, Andreas: „Drogen am Eichberg oder Feuer im Ausländerheim“, in: Exklusion. Die Debatte über die „Überflüssigen“, hg. v. Heinz Bude; Andreas Willisch, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008, S. 50–63. Zurek, Benjamin: „Gesundheitliche und ökonomische Lage von Männern und Frauen in ländlichen und städtischen Regionen Deutschlands – Sekundäranalysen bevölkerungsrepräsentativer Untersuchungen“, in: Pflege und Gesundheit, Fulda: Hochschule Fulda 2010, 111 S.

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen ­Verzeitlichung und Verstetigung? Befunde aus der Analyse prozessproduzierter Ereignisdaten37

Simone Kreher Zusammenfassung: In dem Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse der quantitativen Analysen zu den Sozialhilfeverläufen für Ostvorpommern im Zeitraum von 1990 bis 2004 sowie 2006 bis 2008 erstmals in diesem Umfang publiziert. Dabei werden die Bremer Sozialhilfestudie und die Hallenser Untersuchungen zu den Sozialhilfeverläufen im städtischen Raum als Referenzprojekte genutzt, um unsere empirischen Befunde zur Armutsentwicklung in Ostvorpommern exemplarisch zu diskutieren. Obgleich die Armutsforschung in den letzten Jahrzehnten deutlich mehr Aufmerksamkeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der wissenschaftlichen Diskussion erlangt hat, zeigt sich, dass es selbst bei zunächst ähnlichen methodischen Ansätzen im Detail Vergleichbarkeitsprobleme gibt, die eine einfache Fortschreibung der Erhebungen oder Datenbasen nicht erlauben. Deshalb schlagen wir im Ergebnis unseres Forschungsvorhabens einen theoretisch-methodischen Ansatz vor, der mit Zeitsensibilität und räumlicher Differenzierung in der Datenerhebung und in der Theoriebildung über die bisherigen Konzepte der Armutsforschung hinausgeht. Zudem interpretieren wir die mit unseren Untersuchungen für den ländlichen Raum Ostvorpommerns erarbeiteten Befunde im Gegensatz zur Tradition der dynamischen Armutsforschung als Verstetigung und Sedimentierung von Armut; und zwar über historische Zäsuren und sozialpolitische Systemwechsel hinweg. Schlüsselwörter: Sozialhilfeverläufe, prozessproduzierte Ereignisdaten, dynamische Armutsforschung

37 Die Befunde zu den Sozialhilfeverläufen in Ostvorpommern, die in diesem Kapitel dargestellt werden, beruhen auf Erhebungs- und Auswertungsarbeiten, die Dr. Doris Rentzsch (06/05–02/06), Dipl.-Soz. Olaf Jürgens (05/06–09/07) sowie Dipl.-Soz. Susanne Niemz (12/07–08/08) als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dem von Simone Kreher geleiteten DFG-Projekt „Armutsdynamiken im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“ (KR 1888/2–1/2) durchgeführt haben. In der letzten Arbeitsphase (03/08– 08/08) wurde Susanne Niemz von Dipl.-Soz. Werner Hofmann methodisch beraten (Hochschule Fulda) und von Benjamin Zurek (B Sc.) als studentischem Projektmitarbeiter technisch unterstützt.

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Simone Kreher

1 Verzeitlichung vs. Verstetigung der Armut – zentrale ­T hesen und Befunde der Armutsforschung Im Vergleich zu den beiden in der wissenschaftlichen Literatur zur Armutsforschung breit diskutierten Referenzprojekten zur Dynamik von Armut und Sozialhilfeverläufen in Bremen und Halle an der Saale (Buhr 1995, Ludwig 1996, Olk; Mädje; Mierendorf, et al. 2004) kamen die quantitativen Untersuchungen zur Dauer des Sozialhilfebezuges im ländlichen Raum Ostvorpommerns für die erste Phase des Projektes (1990–2004) bezüglich der zeitlichen Strukturen des Sozialhilfebezuges zu frappierend ähnlichen Befunden (vgl. Tabelle 1). Wie in den beiden Vorgängerstudien verblieben den Sozialamtsaktenanalysen zufolge die „Empfänger/innen von Hilfe zum Lebensunterhalt (HLu) durchschnittlich sieben Monate im Leistungsbezug. Knapp zwei Drittel (62 %) von ihnen durchlebten innerhalb von drei Jahren eine einzige Sozialhilfe-Episode, die in 26 % dieser Fälle mindestens ein Jahr (= 12 Monate) andauerte.“ (Kreher; Sparschuh; Jürgens 2007) Die Bremer Untersuchung zu den „Wegen durch die Sozialhilfe“, der ersten bundesdeutschen Längsschnittstudie zur zeitlichen Dynamik des Sozialhilfebezugs (Buhr 1995, S. 5) ergab, dass Armutslagen im individuellen Lebensverlauf häufig als Episoden von relativ kurzer Dauer auftreten würden. Mit 40 % sei der Anteil von Kurzzeitbeziehern relativ hoch und als Indiz dafür zu werten, dass „Sozialhilfe als ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ besser“ funktioniere als gemeinhin angenommen. „Nicht dauerhafte, sondern kurzfristige Armut ist nach den Ergebnissen der quantitativen Analysen das vorherrschende Zeitmuster“ (Buhr 1995, S. 225 ff.). Diese Interpretation ging als sogenannte Verzeitlichungsthese in die weitere Diskussion ein und begründete die Bremer Tradition der dynamischen Armutsforschung.38 Auch für Halle an der Saale, eine „Großstadtregion der neuen Bundesländer [wurde] nachgewiesen, dass ein lang anhaltender Sozialhilfebezug relativ selten und ein kurzzeitiger – relativ häufig vorkommt (Olk; Mädje; Mierendorf, et al. 2004). In einer hier anschließend erarbeiteten Langzeitstudie mit einem auf insgesamt 9 Jahre ausgedehnten Beobachtungsfenster ergab sich parallel dazu, dass der Anteil der Langzeitbeziehenden mit der Länge des Beobachtungszeitraumes anwächst“ (Rentzsch; Sparschuh 2004, S. 7). Das führte zu der Vermutung, dass die durchschnittliche Sozialhilfebetroffenheit und der Anteil langfristig von Hilfe zum Lebensunterhalt Betroffenen zunehmen würde; dies sowohl bei Verlängerung des Beobachtungszeitraums als auch infolge der Friktionen des Transformationsprozesses in der ostdeutschen Teilgesellschaft (vgl. Olk; Mädje; Mierendorf, et al. 2004, S. 71–82). 38 Auch Ronald Gebauer (2007: 174) stützt auf der Basis von Daten des SOEP-Sozialhilfekalendariums (1991–1999) in seinem Buch „Arbeit gegen Armut“ die zentrale Hypothese der dynamischen Armutsforschung, indem er immer wieder betont, dass Armutsepisoden temporäre Phasen im Lebensverlauf, im Alltag einer Familie – also vorübergehend – seien.

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

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Tabelle 1: Vergleichbare Untersuchungen mit prozessproduzierten Daten Untersuchung

Grundgesamtheit/Stichprobe

Beobachtungszeitraum

Durchschnittliche Sozialhilfebezugsdauer

Bremen (1983–1987)

10 %-Längsschnitt-Stichprobe der HLu-Neuantragsteller im Einzugsbereich der Stadt Bremen aus dem Jahre 1983 (N = 586)

bis 1987 (= 5 Jahre: 69 Monate; Olk S. 35)

erste Episode: 4 Monate Nettodauer: 8 Monate Bruttodauer: 17 Monate

Halle (Saale) (1994–2002)

5- bzw.10 %-LängsschnittStichprobe der HLu-Neuantragsteller im Einzugsbereich der Stadt Halle von 1990 bis 1993 (N = 800; Olk, S. 52)

bis 1997 (= 58 Monate)

erste Episode: 6 Monate Nettodauer: 8,5 Monate Bruttodauer: 12 Monate

Ostvorpommern (2005–2008)

Vollerhebung der HLu-Neuantragsteller eines Amtsbereichs im Landkreis OVP von 1990 bis 2004 (N = 560)

bis 2004 (36-MonatsZensierung = 3 Jahre)

erste Episode: 4 Monate Nettodauer: 7 Monate Bruttodauer: 9 Monate

Ostvorpommern (2005–2008)

Vollerhebung der Alg-II-Neuantragsteller eines Amtsbereichs im Landkreis OVP von 2006 bis 2008 (N = 1 415)

bis Februar 2008 (= 20 Monate)

erste Episode:13,5 Monate Nettodauer: 16,6 Monate Bruttodauer: 18 Monate

Quelle: eigene Darstellung

Die Ergebnisse der zweiten Förderphase der Untersuchung in Ostvorpommern (2005–2008), die dann die Armutsentwicklung schon vor dem Hintergrund der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (SGB-II- oder Hartz- IV-Gesetze) untersuchte, unterschieden sich jedoch grundlegend von den Bremer und Hallenser Befunden, aber auch von denen aus der ersten Projektphase. Die Dauer der ersten Episode des Hilfebezugs (mit 13,5 Monaten), die Bruttodauer (18 Monate) und die Nettodauer (16,6 Monate) steigen gegenüber den ermittelten Dauern aus der ersten Projektphase deutlich an. Interpretationen, die von im Großen und Ganzen übereinstimmenden zeitlichen Verläufen des Hilfebezugs ausgehen (mit einer Nettodauer von 7 bis 8 Monaten), können so nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Befunde zum Alg-II-Bezug stützen eher die These einer Verstetigung der Armut im Untersuchungsraum und entkräften Annahmen, die von einer Verzeitlichung der Armut ausgehen. So sind 70 % aller Personen, die Leistungen nach den gesetzlichen Regelungen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt erhalten, Langzeitbezieher, d.h., sie erhalten mindestens 17 der durch unseren Beobachtungszeitraum definierten möglichen 20 Monate Leistungen. Von ihnen sind acht von zehn während des gesamten Untersuchungszeitraums ununterbrochen im Leistungsbezug, was

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Simone Kreher

ebenfalls auf eine Verfestigung prekärer Lebenslagen schließen lässt (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. i). Die Ergebnisse zu den Dauern des SGB-II-Leistungsbezuges stehen also nicht mehr in der Kontinuität der Vorgängeruntersuchungen. Alles in allem haben wir es mit einer Befundlage zu tun, die nicht leicht zu interpretieren ist und – aus dem Blickwinkel der Untersuchungen in Mecklenburg-Vorpommern – eine ganze Reihe von Fragen aufwirft: 1. Wie sind die für den ländlichen Raum Ostvorpommerns erhobenen Daten zur Armutsentwicklung insgesamt zu interpretieren? Welche Differenzierungsebenen (räumlich, zeitlich oder auf eine veränderte Rechtslage bezogen) sind notwendig, um die Befunde umfassend darzustellen und in die bundesdeutsche Armutsforschung einzubetten? 2. Vor welchem theoretischen Hintergrund sind die Ergebnisse zu den Sozialhilfeverläufen im städtischen und ländlichen Raum als einander ähnlich zu begreifen? 3. Weshalb haben wir es mit anscheinend ähnlichen Oberflächenphänomenen zu tun, da sich doch die ökonomischen, sozialpolitischen und sozialhistorischen Kontexte der drei Untersuchungen deutlich voneinander unterscheiden? 4. Müssen die Befunde der Analysen prozessproduzierter Sozialhilfedaten generell als Artefakte der Erhebungsinstrumente angesehen werden? 5. Ist die Verlängerung der Dauer von Armuts-Episoden möglicherweise als Konsequenz der Datenbankkonstruktion vor Ort oder als statistischer Artefakt der Ausdehnung der Beobachtungsfenster zu begreifen?

2 Referenzprojekte in der Tradition der dynamischen Armutsforschung – Ausgangspositionen und ­V ergleichsperspektiven Während Forschungsprojekte, die ein Feld neu eröffnen, immer mit den Unwägbarkeiten des Neubeginns zu kämpfen haben, sich jedoch prinzipiell in die Zukunft orientieren, müssen sich nachfolgende Projekte sowohl zu ihren Vorgängern verhalten als auch die Tradition mit Blick auf Künftiges mit kritischen Momenten anreichern und adaptiert fortsetzen. Das strategische Ziel der Vergleichbarkeit von Erhebungen und Befunden geht dann immer in Konkurrenz zur Innovation; sei es nun als methodische Neuerung der Instrumentarien oder als theoretische Fortentwicklung der Interpretationsperspektiven. Unser von 2005 bis 2008 im Landkreis Ostvorpommern realisiertes Forschungsvorhaben zur Armutsentwicklung in ländlichen Regionen stand von Beginn an vor der Herausforderung, einerseits die Tradition der Dynamischen Armutsforschung der Bremer und Hallenser Studie (Buhr 1995, Ludwig 1996, Olk; Mädje; Mierendorf, et al. 2004) fortzusetzen und sie – nicht zuletzt infolge der inzwischen merklich gewordenen Kritik an dem Ansatz – andererseits ein Stück weit zu verlassen oder über sie hinauszugehen.

1984

1985

1986

1987

1988

1992

1993

1994

1995

1996

Vollerhebung in einem ausgewählten Amtsbereich Sozialhilfeakten von 15 Zugangskohorten

ostvorpommern

5–10 % Stichprobe Sozialhilfeakten von 4 Kohorten

1991

halle a. d. saale

1990

Wende Wirtschafts-, Währungsund Sozialunion zum 1. Juli 1990

1989

Quelle: Darstellung Simone Kreher

10 % Stichprobe Sozialhilfeakten der 1983er Zugangskohorte

bremen

1983

Zäsuren

Abbildung 1: Beobachtungszeiträume der Referenzprojekte

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2007

Vollerhebung Datenbank zum alg-ii-Bezug

2006

2008

ostvorpommern

2005

Einführung der Hartz-IV-Gesetze zum 1. Januar 2005

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

109

110

Simone Kreher

Tabelle 2: Programmatische Aussagen, methodisches Design und Hauptaussagen Programmatische Aussagen Bremen 1983–1987 Referenzprojekte

dynamische Armutsforschung in den USA SOEP und Bielefelder Datenbank „Sozialhilfe-Statistik“

Theoretische Ausgangspositionen

a) Verzeitlichung von Ungleichheit b) Strukturierung des Lebenslaufs durch staatliche Sozialpolitik c) Beendigung von Sozialhilfe kann ein erster Schritt zur Selbstständigkeit sein weg von Diskriminierung und Stigmatisierung

Ziele

Kurzzeitarmut systematisch untersuchen und mit Langzeitarmut vergleichen

Fragestellungen

Analyse von Zeittypen innerhalb der sozialstrukturellen Typen Analyse von sozialstrukturellen Differenzen in den verschiedenen Zeittypen

a) quantitativ

b) qualitativ Erhebungen Bremen 1983–1987 a) quantitativ

Sozialamtsakten

b) qualitativ

Narrative, biografische Interviews nach Leitfaden

c) Sekundärdaten Auswertungen a) quantitativ

Ereignisanalysen prozessproduzierter Daten; Dauern, (Dis-)Kontiniuität, Ursachen des Sozialhilfebezuges; Escaper, Langzeitbezieher, Überbrücker, Pendler, Mehrfachüberbrücker

b) qualitativ

Fallanalysen (ausführlich und verkürzt); darauf aufbauend Typenbildung; subjektive Zeittypen gebildet und die biografische Bedeutung der Sozialhilfe rekonstruiert im Anschluss an die objektiven Zeittypen

Hauptaussagen/Befunde Bremen 1983–1987 Dynamisierung und Verzeitlichung von Armut; Sozialstrukturelle Typen und Zeittypen liegen quer zueinander (Buhr 1995, S. 159); Kontinuität und Diskontinuität wichtige Ergänzung zur Dauer; Dynamisierung des Ursachenbegriffs; Kurzzeitbezug ist oft administrativ verursacht

Quelle: Zusammenstellung Simone Kreher aus: Buhr, Petra: Dynamik von Armut. Dauer und biographische Bedeutung von Sozialhilfebezug, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995. Kreher, Simone; Niemz, Susanne; Sparschuh, Vera: „Armutsdynamiken im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns. Kurzfassung des Abschlussberichtes“, Fulda: Hochschule Fulda 2008. Ludwig, Monika: Armutskarrieren zwischen Abstieg und Aufstieg im Sozialstaat, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?



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drei Untersuchungen im Überblick (HB, HAL, OVP)

Halle/Saale 1990–1993

Ostvorpommern 1990–2008

Bremer Studie zur Armutsdynamik

Bremer und Hallenser Studie zu den Armutsdynamiken und Sozialhilfeverläufen

a) Verzeitlichung von Armut b) Ansätze der nachholenden Modernisierung und c) der Transformationsforschung d) soziale Ungleichheit in dynamischer Perspektive

a) Dynamisierung von Armut b) Generationenkonzepte und familiale Tradierungsprozesse c) Entwicklungstendenzen der ländlichen Gesellschaft, insbesondere Peripherisierungsdebatte

Formierung und Differenzierung der ostdeutschen Armutsbevölkerung am Beispiel der Großstadtregion Halle/ Saale empirisch untersuchen

methodisch-quantitative und methodisch-qualitative mikroanalytische Untersuchung der Armutsdynamik des ländlichen Raums im Transformationsprozess

Verbesserung der Lebenslage und Armutsentwicklung in Ostdeutschland als gleichzeitig stattfindende Prozesse Armutsentwicklung: ein Übergangsproblem der Transformationsgesellschaft?

Analyse der ländlichen Sozialhilfedynamik mittels retrospektiver Analyse von Sozialhilfeverläufen seit 1990; Armutsverläufe nach Einführung der Gesetze für „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“

Wege durch bzw. aus der Sozialhilfe heraus bei Ostdeutschen Individuelle Bewältigungsstrategien von Armut

Untersuchung von Erfahrungen mit Benachteiligung bzw. Armut und deren Bewältigung in Familien über drei Generationen

Halle/Saale 1990–1993

Ostvorpommern 1990–2008

Sozialamtsakten; standardisierte Befragung von Abgänger(inne)n aus Sozialhilfe

Sozialamtsakten, Datenbank zum Alg-II-Bezug

Problemzentrierte Interviews mit erzählgenerierenden Fragen Panel in 3 Wellen (1994, 1997, 1999)

Experteninterviews; Narrativ-biografische Erst- und Folgeinterviews

Alle zugänglichen als Zeitreihen und in möglichst vielen räumlichen Dimensionen (Bundesland, Landkreis, Amtsbereich etc.) Ereignisanalysen prozessproduzierter Daten; Dauern, (Dis-)Kontiniuität, Ursachen des Sozialhilfebezuges; Escaper, Langzeitbezieher, Überbrücker, Pendler, Mehrfachüberbrücker

Ereignisanalysen prozessproduzierter Daten; Dauern, (Dis-)Kontiniuität, Ursachen, des Sozialhilfebezuges; sozio-demografische Strukturen der Zugangskohorten; Verlaufsmuster beim Übergang zum Alg-II-Bezug

idealtypische Strukturanalyse und Typenbildung; Copingstrategien: Handeln und Indifferenz; Zufriedenheit ostdeutscher Sozialhilfeempfängerinnen mit den Systemen der sozialen Sicherung

Typisierung des Umgangs mit Armut; Herausarbeitung innerfamilialer Strukturen in drei Generationen übergreifender familialer Orientierungsmuster

Halle/Saale 1990–1993

Ostvorpommern 1990–2008

Keine Gesamtschau der quantitativen und qualitativen Eher Verstetigung als Verzeitlichung von Armut in der UntersuBefunde im Rahmen des Berichtes chungsregion; Armutsentwicklung als sozialer Prozess muss auf verschiedenen Ebenen von Zeitlichkeit (präsentistische Zeit der Sozialhilfeverläufe, Zeit der Generationen und „longue durée“) und in regionalisierter Perspektive untersucht werden; Wahrnehmung von Armut; ländliche Armut und stationäre Form der Lebensführung

Olk, Thomas; Mädje, Eva; Mierendorff, Johanna, et al.: „Sozialhilfe- und Armutsdynamik in den neuen Bundesländern“, Halle/Saale: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2004. Rentzsch, Doris; Sparschuh, Vera: „Armutsdynamik im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“, 2004.

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Simone Kreher

Auch wenn dieses Kapitel zuallererst das Ziel verfolgt, die Ergebnisse der prozessproduzierten Daten zu den Sozialhilfeverläufen in Ostvorpommern zu präsentieren, ist eine Bezugnahme auf alle drei Projekte für die Leser und Leserinnen auch gerade deshalb eine spannende Perspektive, weil so ein mehr als 30-jähriger Zeitraum der Armutsforschung in den Blick genommen werden kann. Zugleich ist diese Perspektive eine problematische, was sich bereits an der Stichprobenkonstruktion verdeutlichen lässt: Die Untersuchungen in Bremen und Halle/Saale ziehen eine 10 %- bzw. 10 %–5 %-Stichprobe aus der Grundgesamtheit der Wohnbevölkerung zweier Großstädte, in Ostvorpommern wird dagegen eine Vollerhebung in einem Amtsbereich eines dünn besiedelten, peripheren Landkreises realisiert. Die mit den drei Untersuchungen umgriffenen Beobachtungszeiträume (siehe dazu Abbildung 1) erstrecken sich über mehr als 30 Jahre, sind jedoch historisch so verschieden gelagert, dass bei einer vergleichenden Erörterung ihrer Ergebnisse veränderte sozialpolitische, ökonomische und sozialgeschichtliche Kontexte nicht als marginale Störgrößen, sondern als konstitutiv für jeglichen ernst zu nehmenden Interpretationsversuch zu begreifen sind. Damit deutet sich schon vorsichtig an: Auch wenn alle drei Projekte mit ähnlichen Instrumentarien bei der Erhebung der Sozialhilfeverläufe operier(t)en, variieren sie bei den jeweils anderen Erhebungs- und Auswertungsverfahren der multimethodischen Designs mehr oder weniger stark. Das steht einer unmittelbaren Vergleichbarkeit der drei Studien entgegen. Die tabellarische Übersicht (Tabelle 2) zu den programmatisch-theoretischen Ausgangspositionen, den Zielen und Fragestellungen der drei Untersuchungen sowie deren methodischer Umsetzung in konkrete Erhebungs- und Analysestrategien und schließlich zu den Hauptbefunden und theoretischen Ergebnissen soll zeigen, welche Anschlussstellen, aber auch welche Vergleichbarkeitsprobleme damit im Raum stehen.

3 Sozialhilfeverläufe in Ostvorpommern – Analysen prozessproduzierter Ereignisdaten Sozialhilfeverläufe39 in Ostvorpommern zu untersuchen bedeutet, sich mit der sogenannten bekämpften Armut auseinanderzusetzen, die in den meisten entwickelten Industrieländern als ein wichtiger Indikator der Armutsforschung gesehen wird, auch wenn bestimmte Aspekte von Unterversorgung und Ressourcenknappheit von Haushalten so nicht erfasst werden können. 39 Der Terminus Sozialhilfeverlauf bezieht sich vor allem auf die zeitlichen Strukturen/Merkmale des Ereignisses Sozialhilfebezug. Beginn, Unterbrechung und Ende einer Episode des Sozialhilfebezugs werden monatsgenau festgehalten. Alle Zustandswechsel, mögliche Ursachen dafür und gleichzeitig eintretende Ereignisse gehen in Ereignisdatenfiles ein.

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

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Irene Becker bezeichnet diese politisch gesetzte, institutionell ausgerichtete Sichtweise auf Armut als „Armut nach gesetzlicher Lesart“, die beispielsweise verdeckte Armut, die Nichtinanspruchnahme und/oder Nichtgewährung von Sozialleistungen von vornherein unberücksichtigt lässt und damit das Anspruchspotenzial und das tatsächliche Ausmaß von Bedürftigkeit unterschätzt40 (Becker 2007, S. 1 ff.). Mit diesem Begriff verweist sie so darauf, dass es jenseits dieser mehr oder weniger erfolgreich bekämpften Armut nach gesetzlicher Lesart weitere Arten, Dimensionen, Ausprägungen oder Facetten von Armut gibt, die für die so­zial­ wissenschaftliche Artmutsforschung höchst relevant sind, auch wenn sie die Sozialgesetzgebung nicht erfasst/thematisiert. Die Armutsentwicklung im Landkreis Ostvorpommern mit seinen kleinen dörflichen Gemeinden und agrarischer Landnutzung und ausgeprägten Peripherisierungserscheinungen wird in dem hier präsentierten Projekt als Prototyp ländlicher Armut für den nordostdeutschen Raum gesehen (vgl. Beetz; Nebelung; Röding 2009). Der Landkreis Ostvorpommern entstand im Zuge der Kreisgebietsreform von 1994 aus den Kreisen Wolgast, Greifswald-Land und Anklam. Er grenzt im Norden an die Ostsee und den Greifswalder Bodden, im Westen an die Landkreise Demmin und Nordvorpommern und im Süden an den Landkreis UeckerRandow sowie in östlicher Richtung an die Wojewodschaft Zachodniopomorskie (Woiwodschaft Westpommern) in Polen. Im ausgewählten Untersuchungsbereich lebten im Dezember 2004 13 488 Einwohner, von denen 437 Personen (das entsprach 3,2 % der Bevölkerung des Amtsbereiches) Hilfe zum Lebensunterhalt (HLu oder Sozialhilfe) bezogen. Unmittelbar vor Projektbeginn Sommer 2005 betrug die Anzahl der Leistungsempfänger im Landkreis Ostvorpommern (OVP) ca. 20 000 Personen bei einer durchschnittlichen Einwohnerzahl von 110 631. Der Landkreis Ostvorpommern (57 Einwohnern je km2), insbesondere jedoch der untersuchte Amtsbereich gehört mit 22 Einwohner je km2 tatsächlich zu den äußerst dünn besiedelten Regionen. Während das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern (74 Einwohner je km2) noch ein Drittel der durchschnittlichen Siedlungsdichte der Bundesrepublik aufweist (231 Einwohner je km2), liegt sie beim untersuchten Landkreis nur noch bei einem Zehntel. Die Sozialhilfedichte lag mit 27 Hilfeempfängern je 1 000 Einwohner im untersuchten Amtsbereich unter dem Landesdurchschnitt von Mecklenburg-Vorpommern (MV: 41 je 1 000 Einwohner; Neue Bundesländer: 26 je 1 000 Einwohner) und zugleich exakt bei den 40 Irene Becker schätzt die Dunkelziffer von Armut (die Nichtinanspruchnahme zustehender Leistungen), bezogen auf den tatsächlichen Leistungsbezug der Jahre 2005/06, auf etwa 1 Million Bedarfsgemeinschaften. Verdeckte Armut betreffe dabei insbesondere Alleinerziehende, Erwerbstätige (hier erhalten nur ein Drittel der Berechtigten Leistungen als sogenannte „Aufstocker“ [vgl. Becker 2007, S. 37 f.]). Eine kleinräumige regionale Differenzierung findet sich in ihrem Mikrosimulationsmodell, das mit den Daten des SOEP von 2004 arbeitet, nicht.

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Simone Kreher

Werten für die Bundesrepublik insgesamt, sodass auf den ersten Blick nichts für eine außerordentliche Armuts- resp. Sozialhilfebetroffenheit sprach. Wie oben bereits dargestellt, starteten die quantitativen Erhebungen und Analysen unseres Projektes im Jahre 2005 von den theoretischen und methodischen Ausgangspositionen, die durch die Forschungen zur Armutsdynamik im städtischen Kontext vorgelegt wurden (Buhr 1995, Olk; Mädje; Mierendorf, et al. 2004). Um die Vergleichbarkeit der Daten zu ermöglichen, wurden in der ersten Projektphase auch keinerlei Veränderungen an den Erhebungsund Aufbereitungsverfahren der Daten aus den Handakten vorgenommen (vgl. Rentzsch; Sparschuh 2004, S. 16 f.). Das bedeutet, dass es sich bei diesen empirischen Daten um sogenannte prozessproduzierte Daten handelt, die in der kommunalen Verwaltung entstanden sind und ursprünglich nicht für wissenschaftliche Analysen gedacht waren. Zwischen August und September 2005 wurden aus den verfügbaren Handakten heraus 633 Personen, die zwischen 1990 und 2004 erstmalig Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. einmalige Beihilfen bezogen haben, erfasst.41 Nach Ausschluss jener Personen, die lediglich einmalige Beihilfen und zu keinem Zeitpunkt Hilfe zum Lebensunterhalt bezogen hatten, verblieben 560 Personen in unserem Ausgangsdatensatz.42 Sie bildeten über den retrospektiv erfassten Beobachtungszeitraum von 1990 bis 2004 die fünfzehn von uns untersuchten Zugangskohorten zur Sozialhilfe. Abbildung 1 zeigt, dass sich die Zugänge zur Sozialhilfe mit sehr verschiedenen Häufigkeiten pro Untersuchungsjahr/Zugangskohorte über den gesamten Beobachtungszeitraum erstrecken. Sie variieren zwischen 21 für 1990 und 78 für 1991, nehmen dann wieder leicht ab, ehe 1995 mit 62 Fällen ein zweiter Gipfel auftritt. Zwischen 1996 und 2000 registrierten wir eine abnehmende, danach erneut eine zunehmende Zahl von Neuzugängen in die Sozialhilfe. Diese uneinheitliche Entwicklung ist vermutlich sowohl auf die Einführung des Bundessozialhilferechtes für die Neuen Länder als auch unmittelbarer Reflex auf die Reprivatisierung der Land-/Wirtschaft in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre zurückzuführen. Dafür spricht auch, dass in 70,4 % der Fälle (n = 394) Arbeitslosigkeit oder ein unzureichendes Erwerbseinkommen als erste Ursache für die Beantragung von Sozialhilfe angegeben wird.

41 Zu Beginn der Erfassungsarbeiten waren zuständige Mitarbeiterinnen des Amtsbereiches anwesend, um bei Unklarheiten über das Zustandekommen von Akteneinträgen Auskunft geben zu können. Die Angaben aus den Dateneingabebögen wurden später wiederum manuell in ein elektronisches Datenfile übertragen und nach internen Plausibilitätsprüfungen von Inkonsistenzen bereinigt. 42 Bei der Untersuchung handelt es sich um eine Vollerhebung und nicht um eine Stichprobe, was bedeutet, dass die soziodemografische Struktur der Untersuchungspopulation nicht geschätzt werden muss, sondern direkt erhoben wird. Damit wurde eine annähernd so große Anzahl von Personen erfasst wie in der 10 %-Stichprobe der Bremer Untersuchung, aber deutlich weniger als in der Hallenser Stichprobe.

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

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Abbildung 2: Zugangskohorten zur Sozialhilfe für das Untersuchungsgebiet in Ostvorpommern (1990–2004; Hilfe zum Lebensunterhalt mit einmaligen Beihilfen; N = 560)

Grafik: Susanne Niemz (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. 9)

Bei allen Auswertungsarbeiten des Projektes standen die zeitlichen Muster des Sozial­ hilfebezuges,43 die soziodemografische Struktur der untersuchten Sozialhilfepopulation sowie die Ursachenanalyse für den Hilfebezug bzw. die Beendigung des Sozialhilfebezugs im Mittelpunkt des Interesses. Die vielfältigen Ergebnisse der quantitativen Analysen können an dieser Stelle freilich nicht insgesamt und en detail präsentiert werden, vielmehr sollen ausgewählte Befunde zur Armutsentwicklung im ländlichen Raum vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungsliteratur diskutiert werden. Bei den Ursachen für die Beantragung und den Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt ist auf den ersten Blick eine relativ hohe Konsistenz sichtbar (vgl. Tabelle 3). Erwartungsgemäß ist Ar43 Für die Untersuchung zeitlicher Muster, beispielsweise auch von Erwerbs- oder Familienverläufen sind Ereignisdaten das Mittel der Wahl. Sie können entweder als individuelle Verlaufsdaten in aufwändigen standardisierten Befragungen erhoben werden oder als prozessproduzierte Ereignisdaten wie im Falle der Sozialhilfeverläufe, die aus den Handakten rekonstruiert wurden. Ereignisdaten sind demnach noch aussagekräftiger als Paneldaten, da sie lückenlos über die Ereignisse im gesamten Beobachtungszeitraum und nicht nur zu bestimmten, definierten Erhebungszeitpunkten informieren. Die Datenqualität selbst hängt in beiden Fällen von der konkreten Verfahrensweise ab, im Falle von Akten- oder Datenbankanalysen auch immer von der Arbeitsweise der jeweiligen Institution, von der wir die Daten zur Verfügung gestellt bekommen.

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Simone Kreher

beitslosigkeit sowohl im städtischen, aber noch stärker im ländlichen Raum die Haupt­ursache für den erstmaligen Sozialhilfebezug. Ein zu geringes Erwerbseinkommen ist die zweithäufigste Ursache für den Sozialhilfebezug im ländlichen Raum. In Ostvorpommern ergeben beide Ursachen zusammen 84 %, die anderen Fälle verteilen sich mit eher geringen Häufigkeiten auf die anderen möglichen Ursachen. Der Befund des arbeitsmarkt- oder erwerbstätigkeitsinduzierten Sozialhilfebezugs bestätigt sich auch bei der Analyse von Ursachenkombinationen. In der Mehrheit der untersuchten Fälle (in 251 von 353 Fällen) wird keine weitere Ursache angegeben, sodass die Dauer des Bezuges unmittelbar mit der Arbeitsmarktentwicklung in der Region verknüpft scheint. In der Untersuchung für Halle/Saale werden dagegen Zuwanderungen, ein unzureichendes Einkommen und familiäre Ereignisse als weitere relativ häufig auftretende Bezugsursachen für den Bezug der Hilfe zum Lebensunterhalt angegeben. Tabelle 3: Ursachen des Erstbezugs von Sozialhilfe für die Zugangskohorten 1990–1993; Halle/Saale und OVP im Vergleich Ursachen Erstbezug Sozialhilfe Zugangskohorten 1990–1993

Arbeitslosigkeit Ausbildung Unzureichendes Einkommen Rente Krankheit Schwangerschaft/Geburt Familie Besondere soziale Situationen Zuwanderung Sonstiges

Halle/Saale 5%–10% Stichprobe N = 800

Fälle 431 28 67 24 27 39 62 23 99 11

Ang. in % 53,8 3,5 8,3 3 3,4 4,8 7,7 2,8 12,4 1,3

OVP, Vollerhebung Amtsbereich N = 176

Fälle 128 3 19 9 3 5 3 1 1 3

Ang. in % 73,1 1,7 10,9 5,1 1,7 2,9 1,7 0,6 0,6 1,7

Tabelle: Zusammenstellung Simone Kreher Daten für Halle/Saale: Olk et al. (2004, S. 60 Tab. 16) Berechnungen für OVP: Olaf Jürgens

Obgleich die Bezugsursachen für beide Studien nach der Rekodierung der Daten aus Ostvorpommern hier vergleichend dargestellt werden, ist bei allen Interpretationen zu bedenken, dass es sich bei der Hallenser Untersuchung um eine Stichprobe, bei der in Ostvorpommern jedoch um eine Vollerhebung handelt und das Beobachtungsfenster mit insgesamt 15 Jahren deutlich länger ist als bei der Vorgängerstudie. Das gilt auch für die Betrachtung der Ursachen für die Beendigung des Bezugs von Hilfe zum Lebensunterhalt, die in der folgenden Tabelle dargestellt sind (vgl. Tabelle 4).

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

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Hauptursache für die Beendigung des Bezugs von Sozialhilfe sind eintretende vorrangige Sozialleistungen, dies jedoch wiederum mit beträchtlichen Unterschieden in der Häufigkeit, aber bei gleichzeitigem Verweis darauf, dass diese Teilgruppen der Untersuchungspopulationen vermutlich auch nach dem Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen sein werden. Zudem spricht den Analysen zufolge ein beachtlicher Anteil der ehemaligen Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt nicht ein zweites Mal vor, ohne dass wir nachvollziehen können, ob sich die Versorgungs- und Anspruchslage im Haushalt tatsächlich verändert hat. In Halle/Saale nahmen immerhin 10,7 % der Bezieher von Sozialhilfe eine Erwerbstätigkeit auf und beendeten den Bezug Hilfe zum Lebensunterhalt, in OVP trifft dies lediglich für 5,1 % zu. Das könnte ebenfalls als Hinweis auf Zeitverschiebungen und/oder Unterschiede beim Zusammenbruch der Restrukturierung der regionalen Arbeitsmärkte interpretiert werden. Auf jeden Fall verweisen sowohl die Einstiegs- als auch die Ausstiegsursachen sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum auch auf die essenzielle Bedeutung fehlender Erwerbsmöglichkeiten für die Armutsentwicklung. Zudem begleitet oder befördert Sozialhilfe – selbst wenn wir sie als temporäre Episode betrachten wollten – vor allem in Ostvorpommern und bei den hier dargestellten Sozialhilfekohorten eher den Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit denn einen Wiedereinstieg. Tabelle 4: Ursachen der Beendigung des Sozialhilfebezugs für die Zugangskohorten 1990–1993; Halle/Saale und OVP im Vergleich; erste Episode Ursachen Beendigung Sozialhilfebezug Zugangskohorten 1990–1993

Bezug nicht beendet Vorrangige Sozialleistungen Arbeitsaufnahme Erhöhung des Einkommens/der Rente Ausbildung/Umschulung Private Versorgung Abschiebung/Rückkehr/Umzug Keine weitere Vorsprache Sonstige

Halle/Saale 5%–10%-Stichprobe N = 801

Fälle 51 295 86 35 27 31 46 162 68

Tabelle: Zusammenstellung Simone Kreher Daten für Halle/Saale: Olk et al. (2004, S. 63 Tab. 18) Berechnungen für OVP: Olaf Jürgens

Ang. in % 6,4 36,8 10,7 4,4 3,8 3,9 5,7 20,2 8,5

OVP, Vollerhebung Amtsbereich N = 176

Fälle 10 106 9 1 5 12 1 24 7

Ang. in % 5,7 60,6 5,1 0,6 2,9 6,9 0,6 13,7 4,0

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Simone Kreher

Ehe die Befunde zu den zeitlichen Mustern des Sozialhilfebezuges eingehend dargestellt werden sollen, lohnt sich ein Blick auf die soziodemografische Struktur der Sozialhilfepopulationen (Tabelle 5), die in den drei Längsschnittstudien untersucht wurden. Ein solcher Vergleich ermöglicht eine Annäherung an die Fragestellung der spezifischen Charakteristik von städtischer und ländlicher Armut. Tabelle 5: Soziodemografische Charakteristika der Grundgesamtheiten bzw. Stichproben der drei Referenzuntersuchungen Bremen Zugangskohorte 1983 10%-Stichprobe N = 586*

Halle/Saale 1990-1991 5-10%-Stichprobe N = 801

Geschlecht (absolute Werte/Spaltenprozent) männlich 352 60% 387 48,3% weiblich 233 40% 414 51,7% Alter zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung (absolute Werte/Spaltenprozent) bis 20 Jahre 133 22,7% 112 14% 21 bis 30 Jahre 321 39% 311 53% 31 bis 40 Jahre 228 29% 41 Jahre und älter 199 34% 134 17% Familienstand (absolute Werte/Spaltenprozent) ledig 394 50% verheiratet 116 15% getrennt lebend 62 8% geschieden 186 24% verwitwet 21 3%

Ostvorpommern 1990-2004 Vollerhebung Amtsbereich N = 538

253 284

47,1% 52,9%

129 156 155 98

24% 29% 28,8% 18,2%

288 132 39 65 12

53,7% 24,6% 7,3% 12,1% 2,2%

* Sofern sich die angegebenen Werte nicht zur Gesamtzahl (N) addieren, liegen bei der jeweiligen Variablen entsprechend viele missings (fehlende Werte) vor. Tabelle: Zusammenstellung Simone Kreher Daten für Bremen: Buhr (1995, S. 142, Tabb. 15) Daten für Halle/Saale: Olk et al. (2004, S. 31–34, 52)

Vergleichen wir die Bremer Untersuchungspopulation mit den beiden ostdeutschen, so sind etwa 10 % mehr Antragstellerinnen zu registrieren, was möglicherweise auf ein anderes Verständnis vom „Haushaltsvorstand“ zurückzuführen sein könnte. Im Vergleich von Halle/Saale und Ostvorpommern fällt auf, dass jeweils die Hälfte der Antragsteller ledig ist. Zudem sind sie im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns tendenziell jünger und zu einem größeren Anteil verheiratet; in Halle/Saale verzeichnen wir dagegen einen höheren Anteil geschiedener Antragsteller.

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Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

Sehen wir uns im Weiteren die Untersuchungspopulation aus der ersten Projektphase in Mecklenburg-Vorpommern (1990–2004) genauer an, so erscheint es zunächst sinnvoll, die fünfzehn im Datenfile enthaltenen Zugangskohorten etwas zusammenzufassen, sodass zum einen eine bessere Übersichtlichkeit gegeben ist und zum anderen das Problem der zu kleinen Fallzahlen vermieden werden kann. Um nicht von vornherein mit kritischen Fallzahlen arbeiten zu müssen, wurden deshalb für die folgenden Untersuchungen drei Bezugskohortengruppen (1990–1993, 1994–1997, 1998–2004) gebildet.44 Auf diese Weise lässt sich der zeitliche Ablauf auf der Grundlage ausreichender Fallzahlen in den jeweiligen Kategorien interpretieren. Tabelle 6 veranschaulicht deren soziodemografische Merkmale. Tabelle 6: Zugangskohorten und soziodemografische Parameter (alle Fälle) Zugangskohorte

1990–1993 N %

1994–1997 1998–2004 Insgesamt N % N % N % absolute Fallzahlen und relative Häufigkeiten, Spaltenprozente

Geschlecht männlich 86 49,1 90 weiblich 89 50,9 98 Alter zum Zeitpunkt der (ersten) Antragstellung bis 20 Jahre 30 17,1 44 21 bis 30 Jahre 47 26,9 61 31 bis 40 Jahre 61 34,9 52 41 und mehr Jahre 37 21,1 31 Haushaltsform alleinstehend 48 27,7 31 allein erziehend 26 15,0 22 Paare ohne Kinder 12 6,9 11 Paare mit Kindern 49 28,3 45 andere 38 22,0 79 Familienstand ledig 70 40,2 103 verheiratet 55 31,6 50 getrennt lebend 10 5,7 13 geschieden 32 18,4 18 verwitwet 7 4,0 4 N=538

47,9 52,1

77 97

44,3 55,7

253 284

47,1 52,9

23,4 32,4 27,7 16,5

55 48 42 30

31,4 27,4 24,0 17,1

129 156 155 98

24,0 29,0 28,8 18,2

16,5 11,7 5,9 23,9 42,0

43 18 14 32 68

24,6 10,3 8,0 18,3 38,9

122 66 37 126 185

22,8 12,3 6,9 23,5 34,5

54,8 26,6 6,9 9,6 2,1

115 27 16 15 1

66,1 15,5 9,2 8,6 0,6

288 132 39 65 12

53,7 24,6 7,3 12,1 2,2

Berechnungen: Olaf Jürgens 44 Die unterschiedliche Zeitspannbreite der Kohortengruppen erklärt sich durch die forschungspragmatische Orientierung an einer möglichst gleich verteilten Fallzahl. In den ersten vier Jahren nach der Wende (1990–1993) sind insgesamt 175 Personen, in den folgenden vier Jahren (1994–1997) 188 und in den letzten sieben Jahren vor den Hartz-IV-Gesetzen (1998–2004) 174 Personen zugegangen.

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Simone Kreher

Die Entwicklung der Fallzahlen hinsichtlich der Geschlechterverteilung zeigt deutlich, dass zu Beginn des Beobachtungszeitraumes, d.h. in den ersten drei Jahren nach der Wende, Männer und Frauen gleichermaßen von Sozialhilfe betroffen sind, bei den späteren Kohorten jedoch der Anteil der weiblichen Bezieher steigt. Insgesamt sind etwas mehr Frauen von Sozialhilfe betroffen als Männer, diese Schere öffnet sich über die Zeit hinweg zunehmend. In Bezug auf die Altersgruppen steigt der Anteil der jüngsten Bezugsgruppe (bis 20 Jahre) stetig. Auch Bezieher zwischen 21 bis 30 Jahren nehmen über die Zeit hinweg mit leichten Schwankungen zu. Entsprechend sinken die Zahlen für ältere Menschen; Personen über 40 sind vergleichsweise wenig vertreten. Hinsichtlich der Haushaltskonstellation überwiegen Alleinstehende (wegen des geringeren Selbsthilfepotenzials) sowie Paare mit Kindern. Paare ohne Kinder sind kaum vertreten. Dementsprechend überwiegen auch beim Familienstand ledige Personen. Denken wir die Ursachen für den Bezug von Sozialhilfe und für den Ausstieg aus der Sozialhilfe wie zuvor dargestellt und die Altersstruktur der von uns untersuchten Sozialhilfepopulation zusammen, so lässt sich vermuten, dass die besondere Betroffenheit der beiden jüngeren Altersgruppen von Sozialhilfe und Erwerbslosigkeit bzw. nicht existenzsichernder Erwerbstätigkeit, kombiniert mit dem seltenen Wiedereinstieg in eine Erwerbstätigkeit, für eine bestimmte, dann im Hilfesystem alternde Personengruppe langfristige Armutslagen begründet. Sehen wir uns in einem nächsten Schritt die Dauer des Sozialhilfebezugs differenziert nach Ursachen und für die gebildeten Zugangskohorten an, so konturiert sich das Bild weiter. Die Bezugsdauer wird auf der Grundlage der Kaplan-Meier-Methode analysiert45 (Blossfeld; Rohwer 1995). Die folgende Darstellung zeigt eine je nach Bezugsursache unterschiedliche Austritts-/Verbleibswahrscheinlichkeit in der Sozialhilfe (vgl. Abbildung 3). So sind 12 Monate nach Beginn des Bezugs noch 28 % derjenigen, die die Sozialhilfe aus familialen Gründen beantragt haben, und 39 % der erwerbslosen Antragsteller weiterhin im Bezug. Die nächste Abbildung zeigt die Dauer des Sozialhilfebezugs vor dem Hintergrund verschiedener Ausstiegsursachen. Der Sozialhilfebezug geht beim Einsetzen vorrangiger Sozialleistungen (häufigster Ausstiegsgrund) mit kürzeren Bezugsdauern einher als bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (relativ seltener Ausstiegsgrund).

45 Die Verweildauern in der Sozialhilfe bis zum Bezugsende werden mit einem Sortieralgorithmus in aufsteigender Länge sortiert. Zu jedem Zeitpunkt, zu dem Austritte aus der Sozialhilfe stattfinden, wird auf der Basis der Austrittsanzahl und der jeweiligen Population zu diesem Zeitpunkt die entsprechende Überlebensfunktion kalkuliert. Die Überlebensfunktion lässt sich dann als Wahrscheinlichkeit interpretieren, zu einem bestimmten Zeitpunkt die Sozialhilfe noch nicht beendet zu haben.

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

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Abbildung 3: Dauer des Sozialhilfebezugs bei verschiedenen Ursachen für den Beginn des Bezugs (Nettodauer; N = 461) Grafik und Berechnungen: Olaf Jürgens

Abbildung 4: Dauer des Sozialhilfebezugs und Ursachen der Beendigung des Bezugs (erste Episode; N = 538) Grafik und Berechnungen: Olaf Jürgens

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Simone Kreher

Bei den folgenden Analysen zur Dauer des Sozialhilfebezugs für unterschiedliche Zugangskohorten (vgl. Abbildung 5 und 6) flachen sich die Survivalkurven für die später zugehenden Kohorten deutlich ab, d.h., ihnen gelingt der Ausstieg aus der Sozialhilfe mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit als den Antragstellern, die in der ersten Hälfte des Beobachtungszeitraums zugegangen sind. Oder anders formuliert: Zwölf Monate nach Beginn der Sozialhilfe sind bei den zwischen 1990 und 1994 zugegangenen Hilfeempfängern noch 36 % im Bezug, bei den zwischen 1995 und 2001 zugegangenen dagegen noch zwischen 40 und 46 %. Dieser Befund zeigt sich unabhängig davon, ob wir die Dauer der ersten Episode, die Bruttodauer oder – wie hier dargestellt – die Nettodauer des Sozialhilfebezugs untersuchen. Eine solche Verlängerung der Dauern des Sozialhilfebezugs bei den später hinzukommenden Kohorten muss als Indiz für eine Verstetigung der Armutslagen interpretiert werden. Die Wahrscheinlichkeit, den So­zialhilfebezug bereits nach kurzer Zeit zu beenden, sinkt also tendenziell im Verlauf unseres 15-jährigen Beobachtungsfensters. 46

Abbildung 5: Dauer des Sozialhilfebezugs bei verschiedenen Ursachen und Kohorten (Nettodauer; N = 461; Bezugskohorten 1990–1994) Grafik und Berechnungen: Olaf Jürgens

46 Bei den Darstellungen fällt auf, dass die Grafik für einige Ursachen sich nicht durchgängig über die gesamte Prozesszeit erstreckt, sondern vorher abbricht: Dies ist darauf zurückzuführen, dass für die verbleibenden Fälle innerhalb des Beobachtungszeitraumes keine Austritte mehr erfolgen und somit auch keine Punktschätzungen mehr vorliegen.

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

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Abbildung 6: Dauer des Sozialhilfebezugs bei verschiedenen Ursachen und Kohorten (Nettodauer; N = 461; Bezugskohorten 1995–2001) Grafik und Berechnungen: Olaf Jürgens

In den bislang vorliegenden Untersuchungen zu Sozialhilfeverläufen werden in der Regel die Dauern als kurze (bis zu einem Jahr), mittlere (1 Jahr bis unter drei Jahre) und lange (drei Jahre und länger) Dauer unterschieden. In einer vergleichenden Darstellung, die die Vorgaben der Bremer Untersuchung aufgreift, ergibt sich folgendes Bild (vgl. Abbildung 7): Der Anteil an Kurzzeitbezügen in der Untersuchung von Ronald Gebauer (2007), die auf dem Sozialhilfekalendarium des Sozioökonomischen Panels (SOEP) beruht, ist am höchsten und der Anteil der Langzeitbezüge ist am geringsten. In der Teilstichprobe47, die aus den verfügbaren Daten der bevölkerungsrepräsentativen und jährlich wiederholten Untersuchung gebildet wurde, sind sowohl west- als auch ostdeutsche Personen, Zuwanderer und Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit enthalten. Die beiden Untersuchungen zum Sozialhilfeverlauf in Ostdeutschland, die sich auf konkrete städtische und ländliche Armutspopulationen beziehen, weisen dagegen deutlich höhere Anteile an Langzeitbezügen und dementsprechend geringere Anteile an sogenannten Kurzzeitbezügen aus.

47 Die Daten beziehen sich auf 842 Personen: Davon sind 251 Westdeutsche (29,8 %), 325 Personen Ausländer und Zuwanderer (38,6 %), 236 Ostdeutsche (28 %) sowie 30 Personen (3,6 %) aus einer Ergänzungsstichprobe. Die 471 Frauen gehen mit 56 % und die 371 Männer mit 44 % in die Untersuchungspopulation ein (vgl. Gebauer 2007, S. 175 ff.).

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Simone Kreher

Abbildung 7: Verlaufstypen des Sozialhilfebezugs kategorisiert

Grafik: Simone Kreher Daten für Bremen vgl. Buhr (1995, S. 114) Daten für Halle/Saale vgl. Olk (2004, S. 74) Daten für das SOEP vgl. Gebauer (2007, S. 170) Berechnungen für OVP Olaf Jürgens

Dass die erhobenen Befunde auch von der Länge des jeweiligen Beobachtungszeitraumes abhängen, zeigt sich, wenn wir die Hallenser mit denen aus Ostvorpommern vergleichen. Für beide Studien sind Daten verfügbar, die sich auf einen je kürzeren und längeren Beobachtungszeitraum beziehen. Die Hallenser Armutsforscherinnen unterscheiden einen lang- und mittelfristigen Beobachtungszeitraum, der 9 beziehungsweise 5 Jahre umfasst (vgl. Olk; Mädje; Mierendorf, et al. 2004, S. 71–82). Für die Vollerhebung im untersuchten Amtsbereich in Ostvorpommern haben wir ein Datenfile, das den gesamten Beobachtungszeitraum von 15 Jahren umfasst (alle Fälle, auch die 2004 nicht beendeten Bezüge; N = 538) sowie ein Datenfile, das mit einer einheitlichen Prozesszeit von 36 Monaten arbeitet, was entsprechende Zensierungen generiert und mit Informationsverlusten verbunden ist. Sozialhilfebezieher, die nach dem Dezember 2001 erstmals Hilfe zum Lebensunterhalt bezogen haben und die dann nicht mehr über 36 Monate beobachtbar gewesen wären, sind hier ausgeschlossen (vgl. Jürgens 2007, S. 6).

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

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Abbildung 8: Verlaufstypen des Sozialhilfebezugs, kategorisiert für unterschiedliche Beobachtungszeiträume (Halle/Saale und OVP im Vergleich)

Grafik: Simone Kreher Daten für Bremen vgl. Buhr (1995, S. 114) Daten für Halle/Saale vgl. Olk (2004, S. 74) Berechnungen für OVP Olaf Jürgens

Beide Untersuchungen zeigen, dass sowohl im städtischen als auch im ländlichen Kontext Ostdeutschlands der Anteil der Langzeitbezüge mit der Dauer der Beobachtung ansteigt; in der Hallenser Untersuchung sogar auf das Doppelte, in Ostvorpommern ebenfalls deutlich. Sowohl die Survivalanalysen als auch die Untersuchung der gruppierten Dauern verweisen tendenziell auf längere Bezugszeiten der Hilfe zum Lebensunterhalt für Ostdeutschland seit Beginn der 1990er-Jahre und damit seit dem Fortschreiten des Transformationsprozesses. Statt einer Verzeitlichung und Überwindung temporärer Armut deutet sich hier die Sedimentierung von Armutslagen an; und dies selbst, wenn wir uns ausschließlich auf Daten und Analysen zum Ausmaß der bekämpften Armut beziehen.

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Simone Kreher

4 Verlaufsmuster des Alg-II-Bezugs nach Inkrafttreten der Gesetze für „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ Besonders spannend für die Armutsentwicklung in Deutschland ist die Phase des Übergangs vom Bundessozialhilfegesetz zu den Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, genauer seit Inkrafttreten des IV. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) zum Jahreswechsel 2004/2005.48 Ein Zeitraum, den wir mit weiteren Erhebungen in unserem Untersuchungsgebiet während einer zweiten Förderphase, die im Juli 2006, also nach kurzer Unterbrechung des Beobachtungszeitraumes der ersten Förderphase, ansetzt und bis Februar 2008 reicht, ebenfalls noch abbilden können. Diese Unterbrechung des Beobachtungszeitraumes war von uns nicht beabsichtigt. Im Gegenteil: Wir wollten versuchen, den Übergang von Haushalten und Personen aus der Sozialhilfepopulation in das neue Unterstützungssystem zu rekonstruieren49. In Abbildung 9 fallen die deutliche Zunahme der Zugänge zum Alg II im Jahre 2005 und der enorme Anstieg der Zugänge in 2006 ins Auge, die sich zunächst einmal durch die Zusammenlegung von Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) und Arbeitslosenhilfe erklären lassen. Während die Zugangskohorten für den untersuchten Amtsbereich zwischen 1990 und 2004 zwischen 21 und 66 Fällen lagen, verzeichneten wir für 2005 insgesamt 118 Zugänge, für 2006 sogar 1 026 und für 2007 dann wiederum 90 Zugänge in den Geltungsbereich des Alg II50. Der optisch eindrucksvolle Balken für die vermeintlichen Zugänge zum Alg II aus dem Jahre 2006 darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es hier keineswegs mit vergleichbaren Daten zu tun haben (vgl. Tabelle 7). Vielmehr signalisiert er die Unterschiedlichkeit der Datengrundlagen: auf der einen Seite die Rekonstruktion von Sozialhilfeverläu48 Seit Inkrafttreten der Gesetzesänderung am 1. Januar 2005 erhalten alle hilfebedürftigen Personen zwischen 15 und 64 Jahren zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes entweder – wenn sie erwerbsfähig sind – Arbeitslosengeld II oder – wenn sie nicht erwerbsfähig sind und mit erwerbsfähigen Angehörigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben – Sozialgeld (http://www.sozialhilfe24.de/alg-2.html [15.04.2008]). 49 Aufgrund von datenschutzrechtlichen Problemen, datentechnischer Schwierigkeiten bei der Erfassung der Antragstellung in einer neu installierten Datenbank vor Ort sowie der zeitlichen Begrenzung der II. Förderphase des Projektes auf nur 6 Monate Laufzeit konnte dieses Vorhaben nicht realisiert werden. 50 Insgesamt beinhaltet das File 1 415 Personen, die im Zeitraum zwischen Juli 2006 und Februar 2008 in der Datenbank erfasst sind. Bei der hohen Fallzahl der vermeintlichen Zugänge im Juli 2006, also zu Beginn des Zeitraumes, zu dem wir mit einiger Sicherheit Aussagen machen können, ist zu vermuten, dass in der Mehrzahl der Fälle bereits in den 1,5 Jahren zuvor Leistungen geflossen sind. Zumal zwischen dem 1. Juli 2006 und 28. Februar 2008 lediglich 340 Erstantragsteller registriert sind (vgl. Niemz 2008, S. 23 ff., unveröffentliches Manuskript).

Armutsdynamiken in Ostvorpommern zwischen Verzeitlichung und Verstetigung?

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Abbildung 9: Zugangskohorten zum Sozialhilfe-/Alg-II-Leistungsbezug für den untersuchten Amtsbereich in Ostvorpommern (Anzahl der Fälle)

Grafik: Benjamin Zurek * die Trennlinie markiert die Veränderung der Gesetzeslage und der Erhebungsgrundlage (1990– 2004 Rekonstruktion der Handakten zum Sozialhilfebezug, N = 538; 2005–2007 Analyse von Daten aus der Datenbank X-Sozial BA-SGB II, Version 2.4.1, N=1415)

fen auf der Basis von Handakten und auf der anderen Seite die Analyse prozessproduzierter Daten aus einer neu installierten und von den Bearbeiterinnen noch nicht sicher gehandhabten modularen Datenbank, die eine Fülle von Informationen enthalten kann, deren Validität jedoch zu hinterfragen ist.51

51 Susanne Niemz dokumentierte neben zahlreichen Eingabefehlern auch Schwierigkeiten bei der Plausibilitätsprüfung der Daten, die ihrer Auffassung nach durch den Aufbau der Datenbank begründet waren. Es zeigte sich, dass zwar eine Fülle von Informationen zu den Bedarfsgemeinschaften, zu den einzelnen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft sowie zur Leistungshöhe und Leistungsart tagesoder monatsgenau erfasst wurden, dass diese Daten jedoch nicht ohne aufwändige Prozeduren der Datenaufbereitung in ein Ereignisdatenfile transferiert werden konnten (vgl. Niemz 2008, S. 19 ff., unveröffentliches Manuskript).

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Simone Kreher

Tabelle 7: Struktur der quantitativen Datenbasen Prozessproduzierte Daten

1. Förder-/Projektphase

2. Förder-/Projektphase

Datenproduzent

Sozialamt eines Amtsbereiches in OVP

Sozialagentur des Landkreises OVP

Armutsindikator

Sozialhilfe

Arbeitslosengeld II

Datenquelle

Papierakten/Handakten

Datenbank „X-Sozial“

Beobachtungszeitraum

Oktober 1990 bis Dezember 2004 (= 171 Monate)

Juli 2006 bis Februar 2008 (= 20 Monate)

Grundgesamtheit

(leistungsbeziehende) Einwohner des Amtsbereiches

(leistungsbeziehende) Einwohner des Amtsbereiches

Tabelle: Susanne Niemz

Auch wenn es aufgrund der vielfältigen Schwierigkeiten nicht gelang, die erhobenen Daten als Ereignisdatenfile aufzubereiten und entsprechend auszuwerten, so können doch erste, in der Regel deskriptive Befunde weiteren Aufschluss über die Armutsentwicklung im untersuchten Amtsbereich unmittelbar nach Einführung des Alg II geben. Die folgende Tabelle stellt – trotz dieser Einschränkungen in der Vergleichbarkeit – die soziodemografischen Charakteristika der beiden Untersuchungspopulationen, d.h. das Sample zum Sozialhilfebezug (Oktober 1990 bis Dezember 2004) sowie das Sample zum Alg-IIBezug (Juli 2006 bis Februar 2008), dar. Tabelle 8: Soziodemografische Charakteristika der beiden Grundgesamtheiten 1. Förder-/ Projektphase Vollerhebung aller Zugänge zur HLu N = 538 bzw. zum Alg II im Beobachtungs(ohne Empfänger ausschließzeitraum = Grundgesamtheit lich einmaliger Beihilfen)

2. Förder-/ Projektphase N = 1415 (davon 187 Fälle ohne Leistungen)

Geschlecht männlich

253 (47,1 %)

769 (54 %)

weiblich

284 (52,9 %)

646 (46 %)

Alter zum Zeitpunkt der (ersten) Antragstellung bis 20 Jahre

129 (24,0 %)

62 (10,5 %)

21 bis 30 Jahre

156 (29,0 %)

128 (21,7 %)

31 bis 40 Jahre

155 (28,8 %)

131 (22,2 %)

98 (18,2 %)

269 (45,6 %)

41 Jahre und älter

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1. Förder-/ Projektphase Vollerhebung aller Zugänge zur HLu N = 538 bzw. zum Alg II im Beobachtungs(ohne Empfänger ausschließzeitraum = Grundgesamtheit lich einmaliger Beihilfen)

129

2. Förder-/ Projektphase N = 1415 (davon 187 Fälle ohne Leistungen)

Familienstand ledig

288 (53,7 %)

133 (74,5 %)

verheiratet

132 (24,6 %)

39 (16,8 %)

39 (7,3 %)

5 (3,1 %)

geschieden

65 (12,1 %)

5 (3,1 %)

verwitwet

12 (2,2 %)

5 (2,5 %)

getrennt lebend

Tabelle: Susanne Niemz

Beide Untersuchungspopulationen unterscheiden sich deutlich: Die Geschlechterproportionen drehen sich um, die über 41-Jährigen machen den größten Anteil der Alg-II-Empfänger aus und die Ledigen stellen in beiden Untersuchungspopulationen mehr als die Hälfte der LeistungsbezieherInnen. Der sukzessive Wandel in der Geschlechterverteilung der beiden Untersuchungspopulationen soll im Folgenden im Zeitverlauf, d.h. über den gesamten Beobachtungszeitraum abgebildet werden (vgl. Abbildung 10). Bei den hier gruppiert dargestellten Zugangskohorten zeigt sich deutlich, dass in den ersten drei Jahren nach der Wende Männer und Frauen im untersuchten Landkreis gleichermaßen von Sozialhilfe betroffen waren, bei den später zugehenden Kohorten jedoch der Anteil der Frauen steigt. Umso augenscheinlicher ist dann die Umkehrung der Geschlechterproportion beim Alg-II-Bezug nach 2005. Auch bei der Analyse der prozessproduzierten Daten zum Bezug von Arbeitslosengeld II interessieren uns insbesondere die zeitlichen Strukturen, die sogenannten Verlaufsmuster. Wie bereits zu Beginn des Textes (vgl. Abbildung 1) dargestellt, haben wir bei den Analysen zum Hartz-IV-Leistungsbezug (2006–2008) für unseren 20-monatigen Beobachtungszeitraum deutlich längere Verweildauern ermittelt als noch bei den Analysen zum Sozialhilfebezug (1990–2004): ‚‚ für die erste Episode eine durchschnittliche Dauer von 13,5 Monaten, ‚‚ eine durchschnittliche Nettodauer von 16,6 Monaten sowie ‚‚ eine Bruttodauer von 18 Monaten.

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Simone Kreher

Abbildung 10: Zugangskohorten zur Sozialhilfe bzw. zum Alg II für OVP nach Geschlecht

Grafik: Susanne Niemz (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. 11)

In den beiden folgenden Abbildungen werden die Episodenstruktur beider Untersuchungspopulationen sowie die Dis-/Kontinuität des Leistungsbezugs vergleichend für beide Leistungsarten dargestellt, um die Verlaufsstrukturen noch eingehender untersuchen zu können (vgl. Abbildung 11 bzw. Abbildung 12). Sowohl beim Sozialhilfebezug (66,4 % der HLu-Empfänger) als auch unter Alg II (70 % der Alg-II-Bezieher) überwiegen demzufolge die Personen mit nur einer einzigen, dafür lang andauernden Episode. Das heißt, sie haben eine durchgehende Episode des Leistungsbezugs während des gesamten Beobachtungszeitraumes von 171 bzw. 20 Monaten. Zwischen 20 und 30 % der Leitungsbezieher durchleben zwei Episoden des Sozialleistungsbezugs und jeweils 10 % mindestens drei Episoden Für die Untersuchungspopulation, die seit 2005 Arbeitslosengeld II bezieht, können wir noch einmal nach unterschiedlichen Dauern und Kontinuität differenzieren und zeigen, ob es sich um einen ununterbrochenen Leistungsbezug handelt oder nicht.

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Abbildung 11: Anzahl der Episoden des Sozialhilfebezuges im untersuchten Amtsbereich (OVP; N = 538)

Grafik: Susanne Niemz (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. 12) Abbildung 12: Anzahl der Episoden des Alg-II-Bezugs im untersuchten Amtsbereich (OVP; N = 1415)

Grafik: Susanne Niemz (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. 12)

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Abbildung 13: Nettobezugsdauer der Alg-II-Bezieher (Anzahl der Personen, Dauer gruppiert; N = 1415)

Grafik: Susanne Niemz (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. 12)

In Abbildung 13 wird deutlich, dass die Kurzzeitbezüge von ein bis vier Monaten aus einer Episode bestehen und die Bezüge, die zwischen fünf bis 16 Monate dauern, häufiger Unterbrechungen erfahren, während Bezüge von mehr als 17 Monaten Dauer zu 80 % als ununterbrochene erfolgen und als Langzeiterfahrung von Armut interpretiert werden müssen. Kategorisieren wir diese Bezüge von Alg II analog zu den Sozialhilfebezügen (vgl. Abb. 8 auf Seite 125), so treffen wir hier auf eine Dreiteilung: Kontinuierliche Kurzzeitbezüge (das sind hier 18 % aller Bewilligungen) und Langzeitbezüge (70 % aller Bewilligungen) stehen 10 % mittleren Bezügen von etwas größerer zeitlicher Heterogenität gegenüber. Die Vielfältigkeit der individuellen Sozialhilfeverläufe und der Kurzzeitbezug als vorherrschendes Zeitmuster52, wie in der Bremer Längsschnittstudie für die 1983er-Zugangskohorte konstatiert, sind für die beiden Untersuchungspopulationen (1990–2004; 2006–2008) in Ostvorpommern nicht auszumachen. Fassen wir an dieser Stelle noch einmal zusammen, was bisher an Befunden zu den Verlaufsmustern des Sozialhilfe- bzw. des Alg-II-Bezuges vorgetragen wurde, so entsteht folgen52 „Nicht dauerhafte, sondern kurzfristige Armut ist nach den Ergebnissen der quantitativen Analysen das vorherrschende Zeitmuster“ (Buhr 1995, S. 227; Hervorhebung aufgehoben, SK).

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der Gesamteindruck: Obgleich sich in der ersten Projektphase die ermittelten Dauern des Bezugs von Hilfe zum Lebensunterhalt im ländlichen Raum nicht wesentlich von den Ergebnissen der Bremer und Hallenser Untersuchungen zu unterscheiden scheinen, ordnet sich das Bild neu, sobald tiefer gehende Analysen durchgeführt werden. a) Erwartungsgemäß wird eine eingetretene Erwerbslosigkeit auch in Ostvorpommern als Hauptursache für die Beantragung von Sozialhilfe angegeben; dies jedoch beim Vergleich der Zugangskohorten (1990–1993) noch einmal um 20 Prozentpunkte häufiger als in Halle/Saale. Umgekehrt wird die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in OVP nur in 5 %, in Halle an der Saale jedoch in mehr als 10 % der Fälle als Ursache für die Beendigung des Sozialhilfebezugs angegeben. Die Arbeitsmarkt- und Sozialhilfeentwicklung scheinen im ländlichen Raum Ostdeutschlands sehr viel unmittelbarer miteinander verbunden zu sein. b) Innerhalb des 15 Jahre langen Beobachtungszeitraumes werden die Antragsteller in Ostvorpommern tendenziell jünger, das heißt auch, dass die Möglichkeit besteht, dass sie über deutlich längere Zeit im Sozialsystem verbleiben könnten. Zudem sind auch die SozialhilfebezieherInnen im ländlichen Raum zu einem großen Teil ledig (53,7 %), geschieden (12,1 %) oder getrennt lebend (7,3 %), was bedeuten könnte, dass sie in Haushaltkons­t­ ellationen leben, die eher instabile soziale Nah- und Netzwerkbeziehungen aufweisen. c) Die Dauern des Sozialhilfebezuges steigen über den Beobachtungszeitraum im Untersuchungsgebiet hinweg tendenziell an. Zum einen zeigt sich das empirisch darin, dass die später in den Sozialhilfebezug eintretenden Kohorten länger im Bezug bleiben, und zum anderen, dass der Anteil der kontinuierlichen Langzeitbezüge mit der Ausdehnung der Beobachtungszeit wächst. Dies gilt sowohl für den städtischen (Halle/Saale) als den ländlichen Untersuchungsraum (OVP). Nach Inkrafttreten der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt konturiert sich das Bild der Armutsentwicklung im ländlichen Raum noch einmal neu: a) Unabhängig vom verwendeten Konzept (1. Episode, Netto- oder Bruttodauer) verlängern sich die ermittelten individuellen Dauern des Alg-II-Bezugs noch einmal deutlich (vgl. Abbildung 8). Kurze und mittlere Bezugsdauern bei den Sozialleistungen sind gegenüber dem Langzeitbezug, der seit 2005 im untersuchten Amtsbereich in Ostvorpommern deutlich angestiegen ist, von abnehmender Bedeutung. b) Alle Einzelbefunde deuten darauf hin, dass wir in unserem Untersuchungsfeld nach 2005 nur noch zu einem geringen Anteil von einem kurzzeitigen, temporären oder vorübergehenden Bezug von Sozialleistungen ausgehen können. Alle hier referierten Daten und dargestellten Ergebnisse stützen eher die These einer Verstetigung und Verfestigung von Armut, die – wie mehrfach betont – hier immer als bekämpfte Armut resp. als Armut nach gesetzlicher Lesart untersucht wurde.

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5 Verzeitlichung vs. Verstetigung von Armut? Zentrale ­B efunde zur Armutsentwicklung im ländlichen Raum ­O stvorpommerns vor dem Hintergrund der aktuellen ­w issenschaftlichen Diskussion Hans-Jürgen Andreß (Andreß 1995, Andreß 2006) geht in zwei einschlägigen Sammelbesprechungen mit der Armutsforschung in Deutschland hart ins Gericht, wenn er ihre Innovationsfähigkeit und den erreichten Erkenntnisgewinn aus der Perspektive der zehnjährigen Entwicklung, die sich in den vorliegenden Publikationen dokumentiert, bewertet: Die Armutsforschung könne ihre theoretischen Ansprüche, insbesondere ihre Einbindung in gesellschaftstheoretische Überlegungen, nicht einlösen, sie verharre in eng geführten, individualisierenden oder typisierenden Zugängen und einem sozialpädagogischen Impetus und sie habe drüber hinaus kein kritisch-reflexives Verhältnis zu ihren Grundbegriffen. Obgleich eine Fülle von Publikationen vorlägen und die meisten von ihnen vorgeben, einem multidimensionalen Verständnis von Armut zu folgen, würde dies nicht in anspruchsvollen empirischen Designs und überzeugend dargestellten Ergebnissen zum Ausdruck kommen. Auch wenn in den vergangenen fünf Jahren erneut eine Vielzahl von Publikationen zur Armutsthematik erschienen ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass all diese Defizite der Armutsforschung bereits beseitigt wären, die kritischen Einwände bei neueren Studien ihre Berechtigung verloren hätten. Sehen wir uns zunächst an, welches Selbstverständnis die dynamische Armutsforschung in jüngster Zeit entwickelt hat, wie sie ihre Innovationsfähigkeit und den mit ihren Arbeiten erreichten Erkenntnisfortschritt beurteilt, ehe wir andere Stimmen aus der Scientific Community zu Wort kommen lassen. Lutz Leisering begreift die Etablierung der dynamischen Armutsforschung in der deutschen und europäischen Armutsforschung als einen Paradigmenwechsel, der überkommene statische oder deterministisch-dynamische Sichtweisen von Armut infrage stellt. „Armut gilt hier nicht als Lage einer Gruppe in der Sozialstruktur oder gar als Eigenschaft einer Gruppe, sondern methodisch als Episode (englisch: spell) im Lebenslauf, die von unterschiedlicher Dauer sein kann. [...] Die dynamische Armutsforschung fokussiert Zeit als eigenständige Dimension von Armut. Dabei werden Längsschnittdaten verwendet, Methoden der Verlaufs­ analyse eingesetzt und neue Einsichten in die Beschaffenheit von (meist: Einkommens-)Armut und in die Wirkungsweise der Sozialhilfe erzeugt. Es geht also um die Dynamik individueller Armutsverläufe, nicht um die Veränderung aggregierter Armutsziffern im historischen Zeitverlauf “ (vgl. 2008, S. 119 f.).

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Das schlägt sich auch in den entscheidenden theoretischen Begriffen Verzeitlichung, Indi­ vidualisierung und Entgrenzung von Armut in der Risikogesellschaft, die von Lutz Leisering als wesentliche Ergebnisse der dynamischen Armutsforschung aus den letzten Jahren hervorgehoben werden, nieder: ‚‚ Armut sei „häufig nur von kurzer Dauer“; ‚‚ „die Armen [seien] grundsätzlich handlungsfähig [...] (coping)“; ‚‚ „Armutslagen [seien] oft mit Ereignissen im Lebensverlauf verknüpft [...], wie Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung oder Geburt eines Kindes“; ‚‚ „Armut [reiche] als vorübergehende Erfahrung und als Abstiegsdrohung über herkömmliche Randschichten hinaus.“ (2008, S. 118) Zeitsensibilität/Zeitsensitivität ist für Lutz Leisering der entscheidende Vorteil der dynamischen Armutsforschung. „Zeit wird als eigenständige Dimension in die Messung und die Analyse von Armut eingeführt. Dabei wird Zeit in zwei Dimensionen gefasst, als Dauer (gemessen als Bruttodauer, Nettodauer oder Episodendauer; s. Buhr 1995) und als Kontinuität/ Diskontinuität von Armutsverläufen“ (2008, S. 120). Dadurch werde nicht nur die Armutsmessung selbst verändert, sondern auch die damit erforderlichen methodischen Verfahrensweisen. Leiserings Auffassung zufolge können individuelle Lebenschancen, also auch Armutsverläufe und „die subjektive Perspektive der Betroffenen am besten“ mit einer längerfristigen Beobachtung von Zugangskohorten zum Arbeitslosengeld II oder in Einkommensarmut gemessen werden (2008, S. 120 f.). Damit präferiert er genau das methodische Design, das auch unserer Studie zur Armutsentwicklung im ländlichen Raum Ostvorpommerns zugrunde liegt. Doch welche Dimension(en) von Zeitlichkeit spricht Lutz Leisering an, wenn er so dezidiert formuliert, dass es auf der Grundlage von Längsschnittdaten „um die Dynamik individueller Armutsverläufe, nicht“ aber „um die Veränderung aggregierter Armutsziffern im historischen Zeitverlauf“ (2008, S. 119) ginge, und welche Bedeutung weist er der Zeitlichkeit bei der Interpretation und Theoriebildung in der Armutsforschung zu? Rekapitulieren wir die auf der Analyse von Sozialamtsakten (Buhr 1995, Olk; Mädje; Mierendorf, et al. 2004) oder des Sozialhilfekalendariums (Gebauer 2007) beruhenden Untersuchungen, so operieren sie allesamt auf der Ebene präsentistischer Zeit53. Ebenso wie unsere 53 Der Begriff präsentistisch wird hier benutzt, um eine auf die unmittelbare Gegenwart gerichtete Zeit­ ebene resp. einen sehr kurzen Beobachtungszeitraum zu bezeichnen. Wenn Dauern, Kontinuität oder Diskontinuität von Sozialhilfeverläufen in kurzen Zeiträumen von wenigen Monaten oder Jahren im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen, wird dem an die Soziologie adressierten Vorwurf, eine Zeitscheibchen-Wissenschaft (time-slice social science) zu sein, Vorschub geleistet (vgl. Laslett 1997, S. 40). Komplexe Verlaufsmuster (Interaktionen, Interferenzen oder einander kompensierende Wir-

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Studie im ländlichen Raum Ostvorpommerns verfolgen sie mit ihren Ereignisdatenanalysen Zugangskohorten über einen bestimmten Zeitraum und ermitteln Netto-, Brutto- oder Episodendauern, die sie als bestimmte, individuelle Zeit- oder Verlaufstypen kategorisieren, und berechnen Übergangswahrscheinlichkeiten. In der Tat wird Zeit so als eine eigenständige Di­ mension bei der Untersuchung der Armutsentwicklung aufgegriffen und empirische Befunde auf der Ebene der kurzen, noch gegenwärtigen und stetig dahinfließenden Zeit einiger Monate oder Jahre generiert und interpretiert. Diese eine Zeitebene der Erhebung, Analyse und Interpretation von Daten – das zeigte sich bei der Realisierung unseres Forschungsvorhabens immer wieder – reicht jedoch nicht aus, um die Armutsentwicklung im ländlichen Raum Nordostdeutschlands in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit als Prozess zu untersuchen. Genau das fordert ein Projekt zur Armutsforschung, das in dem schon von Max Weber (1892a, 1892b) in der Enquête zur Arbeits- und Sozialverfassung in Ostelbien untersuchten Gebiet durchgeführt wird und das im letzten Jahrhundert von mehreren historischen Zäsuren geprägt wurde, jedoch geradezu heraus. Dafür ist ein erweitertes Verständnis von Zeitlichkeit erforderlich, das neben der kurzen Dauer auch die Zeit der Generationen und die longue durée umfasst. Zeitsensibilität, in der empirischen Datenbasis bewusst hergestellt und als konzeptuelle Erweiterung begriffen, verändert damit sowohl unsere theoretische Sicht auf die Armutsentwicklung im ländlichen Raum Ostvorpommerns von Zeitebene zu Zeitebene als auch die jeweils erforderlichen Datenqualitäten. Sie ermöglicht die Generierung unterschiedlicher Typen von Theorien ebenso wie eine Reichweitendifferenzierung bei den Interpretationen. Auch wenn dieses Konzept nicht alle von Hans-Jürgen Andreß (Andreß 1995, Andreß 2006) reklamierten Defizite der Armutsforschung beseitigen und nicht auf alle kritischen Argumente reagieren kann, so geht es doch über die bisher vorgelegten Befunde der dynamischen Armutsforschung hinaus und verändert die Sicht auf Armut im ländlichen Raum Nordostdeutschlands grundlegend. Es argumentiert nicht nur gegen ein vereinfachtes Verständnis von einer stetig dahinfließenden Zeit der „kurzen Dauer“ und gegen eine reduktionistische Vorstellung invarianter Räume in der Erhebungsphase, sondern begreift Raum und Zeit als konstitutiv für die Theoriebildung und Interpretation. Als Erweiterung eines Konzeptes zur Erforschung der Armutsentwicklung als sozial-historischen Prozess wird es hier zum ersten Mal eingehend dargestellt. Leserinnen und Lesern, die mit der Literatur auf dem Gebiet der Armutsforschung vertraut sind, ist vermutlich nicht entgangen, dass das von Lutz Leisering so stark gemachte kungen) verschiedener Ereignisse, die in gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen (Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons) eingebettet sind, können so nicht untersucht werden (vgl. Tilly 1984).

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Forschungsprogramm der dynamischen Armutsforschung in der wissenschaftlichen Diskussion nicht ohne Kritik geblieben ist. Diese Kritik richtet sich sowohl auf das Verständnis von Armut und ihre Messung in der dynamischen Armutsforschung, als auch auf ihre gesellschaftstheoretische Einbettung und die sozialpolitischen Implikationen, die aus ihr abgleitet werden können. Kontrastiv zum oben dargestellten Selbstverständnis der dynamischen Armutsforschung wird im Folgenden exemplarisch auf einige Kritiklinien eingegangen.

a) „Verzeitlichung“ und „soziale Entgrenzung“: Ein neuartiges Bild von Armut? (vgl. Groh-Samberg 2009, S. 91–102) Ausgangspunkt der Kritik Olaf Groh-Sambergs an der die bundesdeutsche Diskussion dominierenden Bremer Sozialhilfestudie ist ihre eindimensionale Operationalisierung von Armut über den Sozialhilfebezug ohne Berücksichtigung weiterer Deprivationsindikatoren.54 Ihr Verständnis von Armut als eine „verzeitlichte Lebenslage, [...] vorübergehende Phase, die, als Risiko, individualisierten Lebensläufen inhärent“ sei, lasse „den Zusammenhang von Armut und Klasse nicht sichtbar werden“, sondern stelle „eine überraschend hohe Dynamik von Armut“ fest (2009, S. 89–93). Olaf Groh-Samberg zweifelt nicht nur die Dominanz von Kurzzeitarmut als zentralen empirischen Befund an, sondern nach seiner Re-Analyse auch die Fehlinterpretationen der sogenannten Wartefälle und der Beendigung des Sozialhilfebezugs als Überwindung von Armut. Seiner Auffassung nach verweisen diese als Pfade aus der Sozialhilfe heraus klassifizierten Bewegungen allesamt „auf strukturelle Lagen in Armutsnähe oder im ‚prekären Wohlstand‘ (Hübinger 1996), die mit einem erhöhten Sozialhilferisiko einhergehen. Der kurzzeitige Sozialhilfebezug bedeutet also nicht kurzzeitige Armut, sondern steht selbst im Armutskontext. [...] In diesen Fällen kann zwar von einer Dynamik der Sozialhilfe, aber kaum von einer Dynamik der Armut die Rede sein“ (2009, S. 98). „Obwohl sich die neuere Armutsforschung im Grunde einig ist, dass sich Armut nur angemessen erfassen lässt, wenn Armut multidimensional und dynamisch betrachtet wird, ist bislang kaum versucht worden, beide Aspekte miteinander zu integrieren [...] Während die multidimensionale Armutsanalyse bislang implizit von einer Strukturierung der Armut ausging und die empirisch gefundenen Inkonsistenzen als Ausdruck von Validitätsproblemen

54 Diese Begrenztheit des Instrumentariums wird unserer Erfahrung nach auch bestehen bleiben, wenn es nicht mehr um die Rekonstruktion von Sozialhilfeakten, sondern um Analysen der Alg-II-Bezüge auf der Grundlage der elektronischen Datenbanken, die in den Sozialagenturen geführt werden, geht. In unserem Untersuchungsbereich nahmen die BearbeiterInnen zwar die zahlungsrelevanten Merkmale genau auf, die soziodemografischen jedoch viel weniger akribisch.

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ihrer Messmodelle interpretierte, ging die dynamische Armutsforschung implizit von einer hohen Validität ihrer Armutsindikatoren aus und interpretierte die beobachtbaren Dynamiken [als] Ausdruck einer Entstrukturierung von Armut“ (Groh-Samberg 2009, S. 112). Verzeitlichung, soziale Entgrenzung, Individualisierung und Biografisierung von Armut begründen Groh-Samberg zufolge ein „neues Armutsbild“ (2009, S. 96), das den Erfordernissen einer multidimensionalen und dynamischen Armutsforschung nicht entspricht55 und das Christoph Butterwegge als eines der Zerrbilder von Armut bezeichnet (vgl. 2009b, S. 96 ff.).

b) Armutsrisiken in der »Risikogesellschaft« (vgl. Butterwegge 2009a, S. 139–148) Christoph Butterwegge hinterfragt die dynamische Armutsforschung der Bremer Forschungsgruppe vor allem in ihren sozialpolitischen Implikationen. Eingebettet in das Forschungsprogramm einer postmodernen Soziologie ließen sich ihr zufolge jenseits der Klassen und Schichten soziokulturelle Milieus und pluralisierte Lagen ausmachen, in denen sich soziale Risiken als individualisierte darbieten. Als solche und fest eingebunden in den Mainstream der Modernisierungstheorien werden sie fortan von der empirischen Forschung fast ausschließlich konzeptualisiert. Butterwegge kritisiert neben der Überschätzung der Handlungsautonomie des Einzelnen bei der Überwindung der lebensabschnittsspezifischen temporären Armut die Unterschätzung der strukturierenden Wirkung von „politischen Rahmenbedingungen [...], sich [...] verändernden Kräfteverhältnissen zwischen Klassen, Schichten und Gruppen, aber auch staatlichen Institutionen, Parteien, Verbänden und sozialen Bewegungen“ innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung durch die Bremer WissenschaftlerInnen (2009b, S. 145–147). Seiner Auffassung nach erfuhr die dynamische Armutsforschung seitens „der liberal-konservativen Bundesregierung und der Medien [...] mehr oder weniger Unterstützung, da sich mit [ihren] Deutungsmustern die politische Entwarnung hinsichtlich der zunehmenden Arbeitslosigkeit und Armut scheinbar wissenschaftlich untermauern ließ. Zwar [sei] die lebenslauftheoretische Armutsforschung nicht darauf gerichtet [gewesen], den Sozialhilfebezug bzw. die Armut als ihren Forschungsgegenstand zu verharmlosen“ und habe dennoch unabhängig von den Intentionen ihrer Protagonist(inn)en genauso gewirkt (Butterwegge 2009b, S. 147 f.).

55 „Es geht um die Begründung eines Armutskonzeptes, das sowohl den normativen Ansprüchen eines sozialpolitischen Armutskonzeptes wie auch den analytischen Anforderungen eines sozialwissenschaftlichen Armutsverständnisses genügen kann.“ (Groh-Samberg 2009, S. 111)

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c) Wie lässt sich Armut empirisch beobachten? (Andreß 1999) Hans-Jürgen Andreß kritisiert an der bundesdeutschen Armutsforschung die Selektivität ihres Herangehens sowohl beim Sampling in der qualitativen Forschung als auch bei der Stichprobengewinnung in mehr oder weniger (bevölkerungs-)repräsentativen Untersuchungen (vgl. 1999, S. 25–33), die dazu führen würde, dass jeweils nur bestimmte Gruppen oder Teile der Armutspopulation erfasst würden. Das gelte insbesondere auch für die vorliegenden Sozialhilfestudien, die weder das Dunkelfeld von Armut erhellen würden noch Aussagen über Lebenslagen im Umfeld der gesetzlich definierten Armutsgrenze erlaubten. Mit seinen Fallstudien zu den Armutsverläufen, die auf einer Analyse der Daten des SOEP (genauer einer Teilgruppe von westdeutschen Befragten; 1985er-Zugangskohorte N = 49), für die Längsschnittdaten für den Zeitraum von 1985 bis 1992 vorliegen, kommt er zu dem Ergebnis, dass die Befunde „eher gegen eine Überbetonung der Heterogenität der Armut [sprechen; SK]. Bei genauerem Hinsehen [sei; SK] sowohl die Vielfalt an Armutsverläufen als auch an sozialstrukturellen Merkmalen begrenzt“ (1999, S. 226). Insgesamt kommt Hans-Jürgen Andreß mit diesen Verlaufsanalysen zu sehr ähnlichen empirischen Ergebnissen und Interpretationen, wie wir sie in diesem Kapitel für die Armutsentwicklung im ländlichen Ostvorpommern auf der Basis von Sozialhilfe- und Alg-II-Daten präsentiert haben. „Zusammengefaßt stellen wir also fest, daß die Thesen einer ,Verzeitlichung‘ und ,sozialen Entgrenzung von Armut‘ in diesem Kapitel in ihrer Pauschalität nicht bestätigt werden konnten. Es zeigten sich im Wesentlichen nur etwa zwei gleich stark besetzte Verlaufsformen von Armut: kontinuierlich arme Haushalte und Aufsteiger-Haushalte.56 Stellt man zusätzlich die eben diskutierten Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Einkommensindikatoren in Rechnung, läßt sich vermuten, daß die zeitliche Heterogenität der Armut in Teilen auch ein Resultat oberflächlich bleibender quantitativer Analysen sein kann. Interpretiert man die Ergebnisse schließlich anhand des Familienzyklus-Konzeptes, so erscheint der Lebenslauf einiger Bevölkerungsschichten als ,Achterbahn‘ mit zyklusabhängigen Höhen und Tiefen. Dieser Verlauf ist vornehmlich bei Personen mit niedriger Schulbildung zu finden. Ihnen wird sozusagen zum ,Verhängnis‘, daß sie neben ihrem Risikofaktor niedrige Bildung und den damit verbunden beruflichen Positionen auch noch die riskantere Lebensform, die traditionelle Hausfrauenehe mit (mehreren) Kindern, wählen.“ (Andreß 1999, S. 228)

56 In Tabelle 5.5 werden für die 49 zwischen 1985 und 1992 retrospektiv beobachteten Haushalte folgende Verlaufsformen von Armut angegeben: Kontinuierlich arme Haushalte (N = 19), Aufsteiger-Haushalte (N = 22) und diskontinuierlich arme Haushalte (N = 8).

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Facetten von Prekarität und Armut bei ostdeutschen ­Frauen – Rekonstruktion dreier Fallgeschichten Simone Kreher, Bettina Brünner und Katharina Matthäus Zusammenfassung: Das Kapitel enthält die fallrekonstruktiven Analysen dreier Lebensgeschichten nordostdeutscher Frauen, die im Rahmen des Forschungsvorhabens zur Armutsentwicklung im ländlichen Raum Ostvorpommerns interviewt wurden. Interpretative Verfahren, die in der Biografie- und Familienforschung lange erprobt und weit verbreitet sind, wurden für die Armutsforschung adaptiert, um zeigen zu können, wie eng sozialhistorische Entwicklungen, gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen und kulturelle Muster mit biografischen Prozessen verwoben sind. Im Ergebnis der Analysen erweisen sich biografische Selbstpräsentation sowie Wahrnehmung und Erfahrung von Prekarität und/oder Armut selbst bei den drei Biografinnen ähnlicher generationeller Lagerung als individuell sehr verschieden und nicht ausschließlich mit den politischen und sozioökonomischen Veränderungen nach 1990 assoziiert, sodass Interpretationen und theoretische Erklärungen auch über die sogenannte Transformationstheorie hinausreichen müssen. Die fallbezogenen Hypothesen zur gelebten und erzählten Lebensgeschichte von Angelika Klein, Karin Groß und Carola Bandelow bilden die empirische Grundlage für die weitergehenden fallübergreifenden qualitativen Analysen des nächsten Kapitels. Schlüsselwörter: Fallrekonstruktive Armutsforschung, biografische Selbstpräsentation, berufs- und familienbiografische Muster

1 Pfade der qualitativen Armutsforschung im ländlichen Raum: Ausgangspunkte, Design und Forschungspragmatik Zweifellos hat in den letzten Jahren nicht nur die gesellschaftliche Brisanz von Armut und ihre öffentliche Wahrnehmung stark zugenommen, sondern auch eine außerordentliche Diversifizierung der Forschungen über Armut, Prekarität und Prekarisierung der Lebensführung stattgefunden. Diese Ausdifferenzierung der Armutsforschung zeigt sich im Gefolge der Bilanzierung von Hans-Jürgen Andreß (1995, 2006) vor allem in ihrer methodischen Verfeine-

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rung und der Entwicklung einer international vergleichenden Perspektive, weniger jedoch in zunehmender theoretischer Kohärenz. Eine wichtige Unterscheidung in der Forschungslandschaft, die auch für das in diesem Kapitel vorgestellte Forschungsvorhaben57 bedeutsam war, ist die zwischen der eher quantitativ vorgehenden und der qualitativ orientierten Armutsforschung. Sowohl der Projektantrag als auch der Beginn des Forschungsvorhabens „Armutsdynamiken im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“ waren anfangs sehr stark von den Arbeiten der Bremer und Hallenser Forscherinnen und Forscher in der Tradition der dynamischen Armutsforschung inspiriert. Im Unterschied zu diesen beiden Studien sollten in dem von uns durchgeführten Projekt jedoch die zeitlichen Muster des Sozialhilfebezuges und die Bewältigung von Armut im ländlichen Raum untersucht werden. Während sich die quantitativen Erhebungen in der ersten Förderphase des Projektes unter der Federführung von Doris Rentzsch sehr eng an die Verfahrensweisen der Bremer und Hallenser Untersuchungen anlehnten, ging Vera Sparschuh mit den qualitativen Arbeiten von Beginn an einen anderen Weg. Dieser war vor allem von der Idee bestimmt, die Mehr-Generationen-Perspektive systematisch zu entwickeln. Die Bewältigung prekärer Lebenslagen wurde von ihr zunächst als generationsspezifische Betroffenheit gedacht. Dabei wurden die (Groß-)Elterngeneration, die Fokusgeneration58 und die (Enkel-)Kindergeneration bezogen auf den Referenzpunkt Al­ ter zum Zeitpunkt der Wende/Wiedervereinigung konzeptualisiert (Rentzsch; Sparschuh 2004) und es wurde davon ausgegangen, dass die drei im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden Generationen ihre Erfahrungen des Transformationsprozesses auf je unterschiedliche Art und Weise verarbeiten.

57 Die qualitativen Analysen, die in Kapitel 6 und 7 dargestellt werden, haben Bettina Brünner, Sivlia Heckenhahn, Katharina Matthäus und Ana Lúcia Mazur (Studierende des Masterstudiengangs Public Health der Hochschule Fulda) im Zeitraum von März 2008 bis Februar 2009 im Rahmen ihrer Studienprojekte unter der Leitung von Simone Kreher durchgeführt. Das Material für diese Arbeiten wurde von PD Dr. Vera Sparschuh (06/05–03/08) als Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Armutsdynamiken im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“ (KR 1888/2-1/2) erhoben und von verschiedenen Personen transkribiert. 58 Vera Sparschuh bezeichnete die zwischen 1950 und 1965 Geborenen aus zwei Gründen als Fokusgeneration: Im Projektantrag wurde die Hypothese formuliert, dass diese Geburtsjahrgänge von den gesellschaftlichen Veränderungen nach 1990 in gravierender Weise betroffen und deshalb für die Armutsforschung besonders interessant seien, weshalb sie den Fokus bilden sollten, vom dem ihre qualitativen Analysen ausgehen sollten.

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Abbildung 1: Generationenkonzept

Grafik: Vera Sparschuh

Das qualitative Sample der Untersuchungen zur Armutsentwicklung in Ostvorpommern wurde in einem mehrstufigen Verfahren gewonnen. Die Auswahl der zu befragenden Personen erfolgte forschungspraktisch nach den Kriterien Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug bzw. dem Alg-II-Bezug sowie nach Alter, Geschlecht und Bildung in möglichst großer Differenzierung. Um potenzielle InterviewpartnerInnen zu finden, nahm Vera Sparschuh Kontakt zu den örtlichen Sozialeinrichtungen (z.B. die Caritasstelle) und den Fallmanagerinnen der Sozialagentur auf. Sie stellte unser Forschungsvorhaben vor und bat darum, die Informationsbriefe sowie die frankierten Rückumschläge an InteressentInnen weiterzugeben, um eine Kontaktaufnahme mit uns zu ermöglichen. Ein solches Verfahren bedeutet, dass es durchaus wahrscheinlich ist, dass sich einerseits individuell sehr verschiedene InterviewpartnerInnen melden, andererseits ein sehr spezielles Sample zustande kommt, da es immer auch Gruppen von Betroffenen – von Armen und armen Familien – gibt, die wir mit unseren Bitten um ein Interview überhaupt nicht erreichen. Dies gilt es im gesamten Forschungsprozess, vor allem aber bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen und bedeutete auch für unsere qualitative Untersuchung, dass sie sich im Bereich der sogenannten bekämpften Armut bewegte (Becker 2007). Über die ersten Gespräche mit Personen aus den anvisierten Geburtsjahrgängen rückten jeweils weitere Familienmitglieder und deren Herkunftskontexte in den Blickpunkt der Untersuchung und konnten interviewt werden. Zudem wurde die in Mecklenburg-Vorpommern vorhandene regionale Vielfalt berücksichtigt, indem neben dem genuin ländlichen Bereich auch die Seebäder und kleinere Städte einbezogen wurden. Die Gruppe der working poor, die sich verstärkt in den küstennahen Urlaubsgebieten unter den saisonal Beschäftigten findet, und auch einige Familien, die nicht von Armut betroffen sind und in einem ländlichen Beruf von ihrer Arbeit leben können, wurden ebenfalls gezielt ins Sample aufgenommen.

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Um sowohl die gesellschaftlichen Transformationsprozesse als auch die Mehr-Generationen-Perspektive als wichtige Themen im Forschungsvorhaben präsent zu halten, haben wir die Planung der qualitativen Erhebungen stärker am narrativen Paradigma und an biografietheoretischen Überlegungen orientiert, als das Monika Ludwig in ihren qualitativen Untersuchungen von „Armutskarrieren“ im Rahmen der Bremer Untersuchungen zur dynamischen Armutsforschung mit ihren leitfadengestützten narrativen Interviews getan hat (Ludwig 1996). Sie hatte sich für den Einsatz eines Leitfadens mit den drei thematischen Bereichen „Sozialhilfe“, „Biografie“ und „allgemeine Fragen“ entschieden und damit den Interviewverlauf thematisch (und formal) von außen vorstrukturiert, was den Grundprinzipien der offenen Interviewführung widerspricht (Ludwig 1996, S. 94 f.). Im Unterschied zu Monika Ludwig hat Vera Sparschuh die Interviewpartner und Interviewpartnerinnen unseres Samples gebeten, ihre Lebensgeschichte frei – d.h. spontan und ihrem Relevanzsystem folgend – zu erzählen. Dabei sollten die Gesprächspartnerinnen angeregt werden, sich an einzelne Erlebnisse und Situationen aus ihrem Leben zu erinnern und sie so detailliert wie möglich darzustellen (zu verbalisieren). Dieses Vorgehen folgt erzähltheoretischen Grundannahmen und methodischen Prinzipien wie Empathie und Offenheit, die in der Methodenliteratur eingehend diskutiert sind. Wichtigstes Ziel dabei ist, den Interviewten die Möglichkeit zu geben, eine Gesamtgestalt ihrer autonomen, lebensgeschichtlichen Präsentation zu entwickeln und ihren Möglichkeiten folgend zu versprachlichen (Rosenthal 1995, Rosenthal 1987). Dahinter steht der Grundgedanke, dass wir als InterviewerInnen und ZuhörerInnen nicht wissen können, welche Erlebnisse und Situationen für die SprecherInnen zu einem Thema gehören, ob es sich genau in die thematischen Bereiche strukturiert, die wir als Forscherinnen vorweggenommen haben. Während der gesamten Projektlaufzeit wurden von Vera Sparschuh fünf mehrwöchige Interviewphasen realisiert. Die erste erstreckte sich von September bis zum November 2005. Im Februar und März des Jahres 2006 folgten zwei weitere Phasen. Im August 2006 wurden dann die Interviews in einigen Familienverbänden vervollständigt. Die letzten Gespräche inklusive einiger Wiederholungsbefragungen fanden während der zweiten Förderphase des Projekts im Januar 2008 statt. Insgesamt wurden von Vera Sparschuh im qualitativen Projektteil 33 intensive, zum Teil mehrere Stunden andauernde Gespräche geführt, das heißt, es wurden acht Familien und mehr als sechs Einzelpersonen interviewt. Eine Übersicht über wichtige soziodemografische Merkmale des qualitativen Samples findet sich in Tabelle 1.

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Tabelle 1: Soziodemografische Daten des qualitativen Samples im Überblick59 Familie

Wohnort (G2) Herkunft (G1)

Familienstand Kinder (G2)

Ausbildung (G2)

Beruf/ Erwerbsstatus (G2)

Leistungsbezug (G2)

Jäger (3) G1w 77 G2w 50 G2m 50 G3w 27

Dorf, Landarbeiter

Verheiratet, 1 Kind

G2f: Abitur, Studium Betriebsökonomie G2m: Abitur, Ingenieursstudium

G2f: Finanzwirtschaftlerin G2m: Ing.-Maschinenbau (arbeitslos)

Kein Leistungsanspruch

Bau (3) G1w 78 G2w 52 G2m 54

Dorf, Urgroßeltern aus Russland (männliche Linie)

Verheiratet, 2 Kinder

G2f: Abitur, Studium Ingenieurökonomie G2m: Abitur, Ingenieursstudium

G2f: Ingenieurökonomin (arbeitslos) G2m: Ehemals Baubetrieb, jetzt selbstständiger Vertreter

G2f: Alg II

Wunder (3) G1w74 G1m 76 G2w 52 G2m 55 G3m 15

Dorf, Vertriebene (männliche Linie)

Verheiratet, 4 Kinder

G2f: 8. Klasse, FA Textilreinigung G2m: 10. Klasse, LMT-Schlosser

G2f: Textilreinigerin (arbeitslos) G2m: Schlosser (arbeitslos)

Beide erhalten Alg II

Zimmer (2) G1w 77 G2w 53

Seebad, Vertriebene (beide Linien)

Geschieden, 2 Kinder

G2f: 8. Klasse, Gärtnerlehre

G2f: Reinigungskraft (Hotel)

working poor, saisonale Unterstützung

Burg (2) G2w 48 G2m 52 G3w 34

Dorf, ortsansässige Bauern

Verheiratet, 2 Kinder

G2f: 10. Klasse, Agraringenieurstudium G2m: 8. Klasse, Agrotechniker

G2f: Buchhalterin LPG G2m: Agrartechniker in der AG (saisonal beschäftigt)

G2f: Alg II (anteilig)

Groß (2) G2w 46 G3m 27

Kleinstadt (Wohnort)

Geschieden, 4 Kinder

G2f: 8. Klasse Lehre in Hotelwesen

G2f: Küchenhilfe (arbeitslos)

Alg II

Fähre (3) G1w 72 G2w 44 G3w 22

Dorf, ortsansässig

Verheiratet, 2 Kinder

G2f: 10. Klasse, Bürokauffrau, G2m: 8.Klasse, Agrotechniker

G2f: Bürokauffrau (arbeitslos) G2m: Traktorist (arbeitslos)

Beide erhalten Alg II

59 Die Namen der Befragten und ihrer Familien sowie Orte, die Rückschlüsse auf die Identität der Personen geben könnten, sind wie in der Biographie- und Familienforschung üblich maskiert. Die Zahl in Klammern gibt jeweils die Stellung des Interviewten in der Generationenfolge an, „w“ bedeutet weiblich, „m“ männlich. Einen vollständigen Überblick über die qualitativen Materialien des Projektes ermöglichen eine Interviewchronik sowie eine Dokumentation aller Arbeitspapiere. Die grau unterlegten Zeilen der Übersicht kennzeichnen die InterviewpartnerInnen und Familien, die Gegenstand der vertiefenden Fallanalysen dieses Kapitels sind.

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Familie

Wohnort (G2) Herkunft (G1)

Familienstand Kinder (G2)

Ausbildung (G2)

Beruf/ Erwerbsstatus (G2)

Leistungsbezug (G2)

Klein (1) G2w 53

Seebad, Landwirtschaft

Geschieden, 5 Kinder

G2f: 8.Klasse

G2f: Reinigungskraft (Hotel)

working poor, saisonabhängig Agl II

Bandelow (2) G2w

Seebad, Dorf

Geschieden, 3 Kinder

G2f: 10. Klasse, Lehre/ Facharbeiter als FA Kellnerin

G2f: Küchenhilfe (arbeitslos)

Alg II, krankgeschrieben

Quelle: Darstellung von Vera Sparschuh im Projektbericht, ergänzt von Simone Kreher (Kreher; Niemz; Sparschuh 2008, S. 8).

Für ihre ersten Auswertungen des qualitativen Datenmaterials, in denen sie ländliche Orientierungsmuster des Umgangs mit Armut rekonstruierte und typisierte, nutzte Vera Sparschuh (2008) die von Ralf Bohnsack ausgearbeitete Dokumentarische Methode (2001). Dabei wurde für das sogenannte bildungsferne Milieu eine charakteristische familiale Orientierung herausgearbeitet, die wegen der Abhängigkeit von undurchschaubaren äußeren Strukturen als „Schicksalsorientierung“ bezeichnet wurde. Dieser schicksalhafte Umgang mit Problemen – im Sinne eines „Ausgeliefertseins“ – konnte im Weiteren bei den bildungsfernen Familien hinsichtlich ihrer Wahrnehmung der Armutssituation, der Kenntnis von Hilfemöglichkeiten zur Überwindung der Situation, im Verhältnis zu den Institutionen und zu den eigenen Kindern empirisch abgesichert werden.

2 Facetten von Armut in drei Fallgeschichten: Methodisches Vorgehen, Logik der Fallrekonstruktionen und Aufbau des Textes Bei der vertiefenden Auswertung der biografischen und familienbiografischen Daten in diesem Kapitel gingen wir einen anderen Weg. Der erste Zugang zu den Lebensgeschichten der interviewten Männer und Frauen erfolgte unabhängig von der konkreten Forschungsfrage eines Projektes, indem die gelebte Lebensgeschichte, die erzählte Lebensgeschichte sowie das biografische Präsentationsinteresse jeder/s Gesprächspartnerin/Gesprächspartners rekon­struiert wurde. Erst danach, in einem zweiten Zugang, wurde das biografische Material und die bisher formulierten Hypothesen vor dem Hintergrund des Projektinteresses bearbeitet und auf konkrete Fragestellungen wie die Wahrnehmung und Bewältigung von Armut bezogen (Fischer-Rosenthal; Rosenthal 1997, Hildenbrand 1999b, Hildenbrand 2005,

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Rosenthal 2005c). Eine solche Strategie liegt näher an der von Ulrich Wenzel (2008, S. 58 ff.) praktizierten Vorgehensweise als an der von Monika Ludwig (1996, S. 85–105) gewählten, die befragten Personen kategorisierenden Herangehensweise. Ulrich Wenzel orientierte sich in seiner Forschungsarbeit zur Sicht von Betroffenen auf arbeitsmarktpolitische Maßnahmen als einen politisch zentralen Aspekt der Armutsbekämpfung methodisch an deren subjektiven Erleben, Deuten und Verarbeiten der wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsangebote und rekonstruiert, wie diese in die alltagsweltliche Lebensführung und Biografie eingefügt werden (2008, S. 58 ff.). Auch Andreas Hirseland und Philipp Ramos Lobato beabsichtigen „die biografische Bedeutung des SGB-II-Hilfebezuges, die Wahrnehmung und Erfahrung der Hilfegewährung“ fallbezogen zu rekonstruieren. In der Darstellung ihrer zentralen Ergebnisse fokussieren sie dann jedoch auf die „Überwindung des Hilfebezuges einerseits, [die] Verstetigung und Verfestigung andererseits“ und vernachlässigen die Komplexität biografischer Prozesse zugunsten thematischer Setzungen (Hirseland; Lobato 2010, S. 4 ff.). Zudem ist die Auswahl der Untersuchungsregionen so strukturiert, dass Städte in ihrer regionalen Vielfalt abgebildet werden, ländliche Räume bzw. die LeistungsbezieherInnen in ländlichen Räumen jedoch nicht einbezogen werden (vgl. Hirseland; Lobato 2010, S. 9). Wir beabsichtigten thematisch noch offener und breiter als Ulrich Wenzel, Andreas Hirseland und Philipp Ramos Lobato heranzugehen, indem wir zunächst versuchten, biografische Handlungsmuster und die zentralen Themen der biografischen Selbstpräsentation der Interviewten herauszuarbeiten, und danach die Frage stellten, inwiefern es in den Fällen einen Konnex zur Armutsthematik gibt. Erst nach der Rekonstruktion des Einzelfalls suchten wir nach Momenten der Armutsgefährdung und analysierten Muster der Wahrnehmung und Bewältigung von Armut und Prekarität. Auf diese Weise wollten wir die Armutsentwicklung im Kontext familien-biografischer Prozesse untersuchen und sie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen interpretieren. In der praktischen Arbeit folgte die Forschungsgruppe den Analyseschritten, die von Gabriele Rosenthal vorgeschlagen werden (vgl. 2005a, S. 168–181): 1. Memo schreiben nach der Erstlektüre des Materials 2. Sequenzielle Analyse der biografischen Daten 3. Text- und thematische Feldanalyse 4. Rekonstruktion der Fallgeschichte 5. Feinanalyse einzelner Textstellen 6. Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte 7. Formulierung von Fallstrukturhypothesen

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Die vertiefenden Auswertungsarbeiten begannen also mit einer intensiven Sichtung der empirischen Daten, die als transkribiertes Material von 22 Interviews (in einer Länge von 15 bis zu 54 Seiten) vorlagen. Aus der Lektüre heraus, jedoch unbeeinflusst von den Ergebnissen der Analysen, die Vera Sparschuh bereits realisiert hatte, wählte das Projektteam die Fälle aus, die biografisch rekonstruktiven Fallanalysen unterzogen werden sollten: Carola Bandelow (zum Zeitpunkt des Interviews 44 Jahre alt) ‚‚ 1962 geboren; 10 Klassen; Berufsausbildung als Kellnerin; geschieden, 2 Töchter, 1 Sohn ‚‚ seit 1992 arbeitslos, vielfältige Krankheiten; Hartz-IV-Empfängerin, kämpft um Rente ‚‚ kleine Wohnung, Kleinstadt auf Insel Rügen Karin Groß (zum Zeitpunkt des Interviews 44 Jahre alt) ‚‚ 1962 geboren; Lehre im Hotel, Abschluss der 10. Klasse nachgeholt; geschieden, 3 Söhne und 1 Tochter ‚‚ bis 1995 Reinigungskraft, danach arbeitslos und Maßnahmekarriere ‚‚ Hartz-IV-Empfängerin, schwere Hautkrankheit; kleine Wohnung, mittlere Stadt auf dem Festland Angelika Klein (zum Zeitpunkt des Interviews 53 Jahre alt) ‚‚ 1953 geboren; 8 Jahre Schule ohne Abschluss; Tätigkeit in Abwaschküche in Ferienheim ‚‚ getrennt lebend, 2 Töchter und 3 Söhne ‚‚ seit 1996 saisonal Reinigungskraft in Pension ‚‚ Hartz-IV-Empfängerin, kleine Wohnung, Dorf auf Insel Usedom; Auch wenn der Entschluss, mit der Analyse eines Datenmaterials zu beginnen und ein anderes zunächst zurückzustellen, immer Intuitives oder Zufälliges enthält, geht es im Gesamtprozess darum, zu den bereits analysierten Materialien kontrastierende zu finden, um so das gedankenexperimentell entworfene Feld möglicher Fälle systematisch auszuschöpfen („ansprechen“) zu können. Das genaue Lesen und Sichten eines umfangreichen Korpus an biografischen Materialien eröffnete für die beteiligten Studierenden eine ihnen bis dahin verschlossene Lebenswelt. Keine der Studierenden ist in Ostdeutschland sozialisiert, sodass sie mit einer Spur von Fremdheit und interessierter Offenheit an die Materialien herangehen konnten. Dieses Interesse an einer der Lebens- oder Familiengeschichten begründete letztlich die Fallauswahl für den weiteren Analyseprozess.60 60 Bettina Brünner, Katharina Matthäus und Ana Lúcia Mazur hielten ihre Lektüreerfahrungen und Auswahloptionen jeweils in ausführlichen Memos fest. Diese Memos enthielten auch erste Ideen für

Facetten von Prekarität und Armut bei ostdeutschen Frauen

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Unsere Möglichkeiten, ein theoretical sampling zu realisieren, waren zu diesem Zeitpunkt rückblickend durch vier Momente begrenzt: erstens dadurch, dass die Phase der Datenerhebung bereits längere Zeit zurücklag, d.h. Datenerhebung und Auswertung nicht in einem zeitlich parallel laufenden Prozess einhergehen konnten (vgl. Hildenbrand 1999a, S. 17). Zweitens war aus dem Bestand der bereits transkribierten Interviews eine ganze Reihe noch überhaupt nicht in Vera Sparschuhs Analysen einbezogen und drittens verfügten wir nicht über eine systematische Deskription des Materialkorpus, die unsere theoretisch begründete Entscheidung für die vertiefenden Analysen hätte leiten können. Viertens drängte die Zeit in den Studienprojekten, sodass an dieser Stelle eine zügige Aufnahme der Arbeit geboten war. Zusätzlich zu unserer eigenen Arbeitskapazität konnten wir im Rahmen der Lehrveranstaltungen in der qualitativen Sozialforschung weitere Studierende (Master of Public Health; Pflege- und Gesundheitsmanagement) mit in die Analysearbeiten einbeziehen. Unter der Anleitung von Simone Kreher versuchten die Studierenden, bei den Interpretationen das Vorwissen über den Fall, insbesondere auch die Materialkenntnis aus der ersten, intensiven Lektürerunde, auszublenden. Es bildete sich eine gemeinsame Arbeitsweise heraus, der zufolge in den Analysesitzungen alle Beteiligten an allen Materialien arbeiteten. Die Materialien wurden in den verschiedensten Gruppenkonstellationen interpretiert, die Analyse- und Interpretationssitzungen auf Band aufgezeichnet und unsere Analysepapiere jeweils um weitere Interpretationen ergänzt, sodass die formulierten Hypothesen in einem stetigen Diskussionsprozess verfeinert werden konnten. Eine der fortgeschrittenen Studierenden arbeitete nach den Auswertungen im Team an der schriftlichen Ergebnissicherung in Form eines ausführlichen Memos. Als Projektleiterin regte Simone Kreher immer wieder die Weiterarbeit an den Analysepapieren an, sorgte für eine kontinuierliche Ergebnissicherung und die methodische Supervision aller beteiligten Studierenden. Alle Arbeiten am empirischen Material wurden zunächst auf den jeweiligen Fall bezogen realisiert. Erst nachdem die jeweilige Fallskizze im Entwurf erarbeitet und die Fallstruktur in Ansätzen sichtbar war, wurde fallvergleichend und fallübergreifend gearbeitet, die Forschungsfragen vom Beginn der vertiefenden Analysen wieder aufgenommen und einschlägige Forschungsliteratur einbezogen. Diese Abfolge von Analysearbeiten dokumentiert sich auch in der Darstelweitergehende Auswertungsarbeiten, auf die in der Projektgruppe später immer wieder zurückgegriffen wurde. Zudem bildeten sie eine Grundlage des kollektiven Entscheidungsprozesses, in dem die Verantwortlichkeiten für bestimmte Fälle, die Arbeitsteilung und Kooperation innerhalb des Projektteams ausgehandelt wurden. Es wurde festgelegt, dass Bettina Brünner federführend am Fallmaterial Groß, Katharina Matthäus am Fallmaterial Klein, Simone Kreher und Silvia Heckenhahn am Fallmaterial Bandelow und Ana Lúcia Mazur am Material der Familie Fähre-Böhme arbeiten würden. Die Analyse des Familiengesprächs mit Erika Fähre, Kerstin und Jaqueline Böhme wird von Ana Lúcia Mazur und Simone Kreher in einem gesonderten Kapitel des vorliegenden Bandes dargestellt.

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lungsweise der qualitativen Analysen in den drei Kapiteln des Bandes: Ausgehend von den fallspezifischen Analysen werden in den nächsten beiden Kapiteln fallvergleichende und fallübergreifende Ergebnisse präsentiert (vgl. Kreher, Brünner und Matthäus sowie Mazur und Kreher in diesem Band). Um den Leserinnen und Lesern eine leichtere Orientierung zu ermöglichen, folgt der Aufbau der Fallgeschichten von Angelika Klein, Karin Groß und Carola Bandelow, die in den nächsten Abschnitten zu lesen sind, einer einheitlichen Logik.61 Nach der Eröffnung der Interaktionssituation zu Beginn der Interviews, die den weiteren Gesprächsverlauf erfahrungsgemäß stark prägt, wird die autonome biografische Selbstpräsentation der interviewten Frauen analysiert. In einem nächsten Abschnitt wird die gelebte Lebensgeschichte der drei Frauen mit ihren berufs- und familienbiografischen Mustern rekonstruiert. Danach werden Hypothesen präsentiert, die aus den Feinanalysen besonders verdichteter Textpassagen stammen und in denen die individuellen Besonderheiten des jeweiligen Falls sehr anschaulich zum Ausdruck kommen. Am Ende einer jeden Falldarstellung wird versucht, die gelebte und erzählte Lebensgeschichte aufeinander zu beziehen, die vorliegenden Arbeitsergebnisse zuzuspitzen und in einer Fallstrukturhypothese festzuhalten (Hildenbrand 1999c).

3 Facetten von Prekarität und Armut in drei Fallgeschichten 3.1 Nicht arm, nicht reich? Angelika Kleins Leben im „kleinen Mittelstand“ Interaktion zu Beginn des Interviews und Struktur der biografischen Eingangspräsentation Angelika Klein wird bei einem Termin bei der Sozialagentur von der für sie zuständigen Fallmanagerin auf das Forschungsvorhaben zur Armutsdynamik in Mecklenburg-Vorpommern aufmerksam gemacht, das mittels eines ausliegenden Informationsbriefes nach Interviewpartnerinnen sucht. Daraufhin meldet sie sich bei Vera Sparschuh und erklärt sich zu einem Gespräch bereit, das dann am 13. 2. 2006 in der Wohnung der Interviewten in einem kleinen Badeort stattfindet. Vera Sparschuh beschreibt ihre Gesprächspartnerin 61 Freilich kann innerhalb der folgenden drei biografischen Skizzen die fallrekonstruktive Arbeit nicht in vollem Umfang dargestellt werden. Es ist immer eine Gratwanderung, den Text so zu gestalten, dass die biografischen Fallrekonstruktionen noch als solche nachvollziehbar bleiben und eine ergebnisorientierte Lektüre des Textes möglich ist. Leserinnen und Leser, die alle drei Fallgeschichten lesen möchten, können unseren Interpretationen eigene hinzufügen. Leserinnen und Leser, die das nicht möchten, können die entsprechenden Abschnitte einfach überspringen.

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Angelika Klein als eine Frau, die „immer noch viel Energie“ ausstrahlt. Sie präsentiert sich ihr im telefonischen Kontakt als selbstbewusste Frau und vermittelt den Eindruck, dass „ihr Leben es wert sei“, im Rahmen unseres Projektes erzählt zu werden (Sparschuh 2006, S. 2/Z 1 ff.). In der Interviewsituation selbst scheint sie jedoch von der Bitte der Interviewerin überrascht zu sein und entgegnet fragend: „Ach so, meine ganze Lebensgeschichte?“ (AK 1/10)62, um nach einem bestätigenden „ja, ja“ der Interviewerin mit „1971“, dem Jahr ihrer Heirat, in dem sie schon eine Tochter hatte, zu beginnen. Der dann folgende erste Teil der Eingangspassage (11 Zeilen) enthält in einer Mischung von knappen Berichten und Argumentationen die Themen „Kinder bekommen“, „acht Stunden arbeiten“ und „mit wenig Geld auskommen“ (AK 1/15–25). Dabei ist der Beginn der Eingangspräsentation immer auch als Reaktion auf die anfangs formulierte Erzählaufforderung zu sehen. Bei näherer Betrachtung des Transkriptes wird deutlich, dass die Interviewerin die Grundprinzipien des offenen narrativen Interviews nicht konsequent umsetzt (vgl. Rosenthal 2005d). Statt Angelika Klein in diesem wichtigen Moment bei der Gestaltung ihrer Lebensgeschichte zu unterstützen, relativiert die Interviewerin schon mit dem „eigentlich“ ihr Interesse: „Ja, also ich wollte Sie eigentlich nach Ihrer Lebensgeschichte fragen, dass Sie die mir (.) erzählen.“ (AK 1/8–9) Der Biografin wird auf diese Weise nicht eindeutig signalisiert, dass sie mit ihrer Lebensgeschichte und mit ihren Erfahrungen im Mittelpunkt des Interviews steht. Statt Empathie und Offenheit teilt sich Distanziertheit und Vorsichtigkeit mit und die Option, dass die Interviewerin sie eigentlich auch um etwas anderes bitten wollte. Die erste Textsequenz Angelika Kleins endet mit der Feststellung, dass sie insgesamt fünf Kinder habe (vgl. AK 1/24–25) und wird von der Interviewerin mit einem leisen „Oh Gott, ja“ (AK 1/26) begleitet, welches den Fluss des Interviews glücklicherweise nicht unterbricht. Vielmehr greift Angelika Klein das für sie im Weiteren bedeutsame Thema des Vergleichs der Sozialsysteme der beiden deutschen Staaten und fährt mit ihrer biografischen Eingangspräsentation, die dann jedoch nur 36 Zeilen des Transkriptes einnimmt, also ca. 2 Minuten im Gespräch andauerte, fort. Mit einer Pause von 2 Sekunden und den Worten „(2) ja, das war=s eigentlich in groben Zügen“ (AK 2/52) beendet sie lachend ihre lebensgeschichtliche

62 Diese Quellenangabe weist Auszüge aus den Transkripten der Interviews nach. Nach den Initialen der Interviewpartnerinnen werden Seiten- und Zeilennummern angegeben. Zudem werden Materialauszüge mit den verwendeten Transkriptionszeichen zitiert. Betont gesprochene Worte werden fett gedruckt, Pausen mit Ziffern in runden Klammern angegeben (3), ein kurzes Absetzen als Komma transkribiert und Abbrüche als solche gekennzeichnet (gekenn-). Gleichheitszeichen stehen für schnelle Anschlüsse und Doppelpunkte für Dehnungen (vgl. Rosenthal 1995, S. 239).

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Eingangspräsentation, deren formale und thematische Struktur63 in der folgenden Tabelle dargestellt ist. Tabelle 2: Übersicht über die formale und inhaltliche Struktur der Eingangspräsentation von ­Angelika Klein Sprecher/in Interviewerin Angelika Klein

Funktion und Textsorte Eingangsfrage Rückfrage

Interviewerin Angelika Klein

Thema ich wollte Sie eigentlich nach Ihrer Lebensgeschichte fragen „Ach so, meine ganze Lebensgeschichte?“ ja, ja

Schneller Wechsel von Berichten und Argumentationen

Heiratsjahr, Geburten von zwei Töchtern Wir haben beide acht Stunden gearbeitet Man konnte sich früher nichts leisten Geburten von drei Söhnen Fünf Kinder habe ich insgesamt

Evaluation Interviewerin Angelika Klein Interviewerin Angelika Klein

Angelika Klein

Argumentation

Schneller Wechsel von Berichten und Argumentationen

Globalevaluation am Ende der biografischen Eingangspräsentation

Oh Gott ja immer schon Kontakt mit dem Sozialamt, da das Geld früher und heute nicht reichte Mhm, mhm Früher bessere Beratung und Information, Sozialwesen besser ausgebaut heute zu viel Eigeninitiative gefragt, es wir einem nichts mehr gesagt Betreuerin für den jüngsten Sohn, der geistig behindert ist und seinen Haushalt mit seiner Partnerin nicht selbstständig führen kann immer gearbeitet acht Stunden nach der Wende dann arbeitslos Alter erschwert Arbeitssuche seit 10 Jahren in Pension saisonal beschäftigt Unterstützung von den Chefs der Pension ja, das war’s eigentlich in groben Zügen

Quelle: eigene Darstellung

Der biografischen Eingangspräsentation wird bei der Analyse lebensgeschichtlicher Interviews eine große Bedeutung beigemessen, da die BiografInnen ganz zu Beginn der Gespräche 63 Im Arbeitsschritt der Sequenzierung eines Interviewtranskriptes werden die Textsorten (Erzählung, Beschreibung, Bericht, Argumentation, Evaluation etc.) und Themen der aufeinanderfolgenden Passagen (Sequenzen) bestimmt und anschließend sequenziell, d.h. in ihrer Abfolge analysiert.

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oftmals Formulierungen verwenden, die wichtige Lebens-Themen verdichtet zum Ausdruck bringen; eben das Wichtigste, das ihnen bei der Frage nach ihrer Lebensgeschichte vorstellig wird und das sie auf individuell sehr verschiedene Weise präsentieren „müssen“. Bei unserer Rekonstruktion der Fallgeschichten von Angelika Klein, Karin Groß und Carola Bandelow haben wir diese Eingangspassagen jeweils eingehend analysiert. Nehmen wir das empirische Material ernst, so lassen sich hier wichtige Momente des biografischen Selbstverständnisses der Frauen und ihrer biografischen Selbstpräsentation im Interview herausarbeiten. Im Fall von Angelika Klein fällt auf, dass sie zu Beginn des Interviews eine Vielzahl von Themen aufgreift. Mit äußerst verknappten Berichten und Argumentationen steigt sie ins Gespräch ein, ohne sich wirklich einem Erzählfluss überlassen zu können und ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen narrativ, d.h. erzählerisch präsentieren zu können. Sie stellt sich als Frau dar, die nach der Geburt ihrer ersten Tochter heiratet, im nächsten Jahr eine zweite Tochter und in den folgenden Jahren drei weitere Söhne bekommt. Mutterschaft hätte ein zentraler, positiver Identifikationspunkt im Leben von Angelika Klein sein können, wenn es nicht schon in den ersten Zeilen des Transkriptes in Verbindung mit dem Thema Geldknappheit thematisiert worden wäre. Es wäre auch vorstellbar, dass Angelika Klein unmittelbar zu Beginn des Interviews den Fokus auf die Familie lenken möchte, um nicht über ihren wenig erfolgreichen Bildungs- und Erwerbsverlauf sprechen zu müssen. Gegen eine solche Hypothese spricht jedoch die Einbindung des Themas Arbeit, kurz nachdem sie ihre Eingangspräsentation begonnen hat. In Zeile 17 (und im Gesprächsverlauf mehrmals wieder) findet sich die Formulierung: „[...] haben wir gearbeitet acht Stunden“ (AK 1/17), die die unhintergehbare Selbstverständlichkeit der vollzeitigen Erwerbstätigkeit, des Arbeiten-Gehens beider Partner in der DDR-Gesellschaft ausdrückt. Diese Formulierung wird auch später im Interview mehrmals in verschiedenen Variationen in die Argumentationsketten eingebaut und verweist auf die Bedeutsamkeit des Themas Arbeiten können neben den Themen eine Familie haben und wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Angelika Klein präsentiert sich so als Mutter von fünf Kindern, macht aber ebenfalls deutlich, dass sie nicht lediglich auf die Mutterrolle beschränkt geblieben ist, sondern zusätzlich einer Erwerbsarbeit nachging, was in der DDR durchaus üblich war und staatlicherseits als Lebensentwurf für moderne Frauen präferiert wurde (Huinink; Mayer 1993, S. 160–161). Dabei dokumentiert sich zugleich, dass sie sich über den damals geleisteten Arbeitsumfang – „[wir haben] immer acht Stunden gearbeitet, auch wo die Kinder klein waren, ne […]“ (AK 15/516–517) – als vollständiges Mitglied der Gesellschaft begriff. Ihre derzeitige saisonabhängige Erwerbsarbeit in der Pension – das zeigen unsere späteren Analysen – spielt zwar eine wichtige Rolle in ihrem Leben, führt aber nicht zu einer solchen Identifikation. In der nächsten Sequenz vergleicht Angelika Klein die Sozialsysteme beider deutscher Staaten und argumentiert, dass sie mit ihren finanziellen Ressourcen in keinem der beiden

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Systeme auskömmlich leben konnte. Sodann leitet sie zu einem nächsten Thema über, in dem sie zum gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen argumentiert und berichtend einfügt, dass sie ihren jüngsten Sohn und seine Lebenspartnerin, die beide geistig behindert sind, in ihrer Haushaltsführung unterstützt. Schließlich greift sie nach wenigen Zeilen erneut Arbeiten als Thema auf, koppelt im schnellen Sprechen und als quasi naturgesetzliche Verbindung Wende und Arbeitslosigkeit, ehe sie mit ihrer Lebensgeschichte in groben Zügen in der Gegenwart ankommt. „ne (2) die ganzen äh (3) ja immer gearbeitet auch Stunden, na wie die Wende kam da ging=s ja los mit arbeitslos (.) denn war man ooch in dem Alter, wo man keine Arbeit mehr recht groß kriechte (2) und wie gesagt vor zehn Jahren habe ich dann hier in der Pension angefangen wo ich jetzt noch bin.“ (AK 2/41–45)

Ihre Erwerbsarbeit als Reinigungskraft in einer Pension stellt Angelika Klein in den folgenden fünf Zeilen sehr positiv dar. Sie fühlt sich von ihren „Chef ’s“ als verlässliche Arbeitskraft geschätzt, die die Pension während des Winters, wenn weniger Gäste kommen als im Sommer, eigenständig führen darf. Sie fühlt sich von ihren „Chef ’s“ auch materiell unterstützt, da sie ihr von den Reisen, die sie machen, kleine Geschenke mitbringen. Angelika Klein bringt ihren Stolz auf das ihr von ihren Vorgesetzten entgegengebrachte Vertrauen zum Ausdruck und argumentiert offensiv, als wollte sie auch die Interviewerin dazu bringen, sie als kompetente und voll akzeptierte Beschäftigte zu sehen. Schließlich beendet Angelika Klein ihre Eingangspräsentation mit der Globalevaluation: „ja, das war=s eigentlich in groben Zügen ((lacht))“ (AK 2/52), womit sie andeutet, deutlich mehr erzählen zu können. Die Passage lässt sich also auch als Einladung lesen, über die groben Züge hinaus, auch die „feinen“ zu erfahren, wenn sich die Interviewerin dafür interessieren und entsprechende Nachfragen stellen würde. Narrative Nachfragen, die an die Themen, die die Biografin bereits eröffnet hat, anknüpfen und detaillierte Erzählungen lebensgeschichtlicher Erfahrungen generieren könnten, stellt die Interviewerin indes nicht. Vielmehr beginnt ein dialogisches Frage-Antwort-Spiel, das versucht, den Erwerbsverlauf Angelika Kleins nachvollziehbar zu machen. Berufs- und familienbiografische Entwicklungspfade Zentrale Erlebnisse und Erfahrungen, die für die biografische Entwicklung von Angelika Klein bedeutsam gewesen sein dürften, das haben wir gesehen, werden in der fragmentarischen Eingangspräsentation nicht thematisiert. Angelika Klein spricht weder über ihre Kindheit und Jugend, schulische Laufbahn und Ausbildungsweg noch über ihre Eltern und die Beziehung zu ihren Geschwistern. Einige wichtige biografische Entwicklungen können wir

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jedoch anhand von Daten aus dem Nachfragteil des Interviews nachvollziehen und versuchen, sie vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen zu interpretieren. Angelika Klein wird im Jahre 1953 als ältestes Kind einer bäuerlichen Familie geboren und erlebt so die Kollektivierung der Landwirtschaft von frühester Kindheit an mit. Zu dieser Zeit betrieben ihre Eltern neben ihrer Tätigkeit in der LPG eine ausgedehnte Nebenerwerbswirtschaft mit eigenem Ackerland und Viehhaltung von Pferden, Kühen, Schweinen und anderen Kleintieren. Dies legt die Interpretation nahe, dass die Familie der Eltern eher zu den in der Region Ortsansässigen gehört haben könnten, da Neubauern im Zuge der Bodenreform lediglich kleine Parzellen zugewiesen bekamen, kaum mit Vieh ausgestattet wurden64 und die zugeteilten Bestände zum erfolgreichen Wirtschaften insgesamt völlig unzureichend waren (Bauerkämper 1994). In den 1950er-Jahren als ältestes Kind in einer Großfamilie aufgewachsen zu sein bedeutete für Angelika Klein vermutlich die Übernahme von Verantwortung in jungen Jahren gegenüber den jüngeren Geschwistern und der zu erledigenden Tätigkeiten in der Landwirtschaft. Über die Beziehung zu ihren Eltern spricht Angelika Klein kaum, vielmehr wird in kurzen, brüchigen Textsequenzen deutlich, dass sie die wechselnden Partnerschaften ihrer Mutter bereits als Kind registrierte und sehr wohl wusste, dass sie nicht bei ihrem leiblichen Vater, zu dem sie zeitlebens keinen Kontakt hatte, aufwuchs. 1959 eingeschult, durchlief Angelika Klein eine schulische Ausbildung, die vonseiten der Eltern offenbar wenig gefördert wurde. Ihre Kindheit stellt sie uns als eine dar, die durch fortwährende Arbeit in den familieneigenen Ställen beziehungsweise auf den im Nebenerwerb bewirtschafteten Ackerflächen geprägt war: „[…] wenn wir von der Schule kamen und Eltern ham in Landwirtschaft gearbeitet und (.) ja. Schulmappe in Ecke dann ging=s mit auf den Acker […] zehn bis spät abends, meine Eltern waren halt immer nur unterwegs bei dem Landwirtschaft […]“ (AK 3/97–100)

Somit entsprach Angelika Kleins Entwicklung auf diese Weise kaum den Leitlinien der offiziellen Bildungspolitik der DDR, die seit den 1950er-Jahren die Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien besonders fördern wollte (Weidig 1997, S. 188–189). Tatsächlich beendete sie ihre schulische Laufbahn bereits nach acht Jahren im Jahre 1967. Dem vorhandenen biografischen Material ist dabei nicht zu entnehmen, ob sie die Schule regulär mit Abschluss verlassen hat. Danach begann Angelika Klein keine Berufsausbildung, sondern sie nahm eine von ihren Eltern beschaffte Tätigkeit in einer Abwaschküche eines FDGB-Ferienheims65 auf. Dies do64 Beispiel: Statistisch gesehen besaßen von den Neubauern in Brandenburg kurz nach Kriegsende 7,4 % ein Pferd, 11,2 % ein Rind und 2,7 % ein Schwein (Bauerkämper 1994). 65 FDGB ist die Abkürzung für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund als Dachverband der Einzelgewerkschaften in der DDR.

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kumentiert, dass Angelika Klein die allgemeine gesellschaftliche Erwartung, jede junge Frau, jeder junge Mann solle eine qualifizierte Berufsausbildung absolvieren, nicht erfüllen konnte oder wollte. Die vorhandenen Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, beispielsweise die vielfältigen Maßnahmen der DDR-Regierung zur Förderung der Qualifikation von Frauen (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Frauenpolitik; Bundesministerium für Frauen und Jugend 1993, S. 339), ließ sie offensichtlich verstreichen. Stattdessen wird sie mit 17 Jahren schwanger von ihrem Freund, der ebenfalls in der gleichen FDGB-Einrichtung arbeitet, und bekommt 1970 eine Tochter. Sie heiratet ihren Freund 1971 zum frühest möglichen Zeitpunkt, als sie 18 Jahre alt wird. Das erzeugt auf der einen Seite Konflikte mit ihren Eltern, die Angelikas Partnerschaft und Ehe mit diesem Mann kritisch sehen. Auf der anderen Seite symbolisiert die frühe Eheschließung einen klaren Bruch zu ihrer Herkunftsfamilie, insbesondere zur Mutter, die einen anderen Lebensentwurf verfolgte. Angelika Klein wollte die Fehler der eigenen Mutter nicht wiederholen, die offenbar wechselnde Partnerschaften pflegte („drei Väter“) und nie offiziell standesamtlich geheiratet hat. Angelika Klein bekommt noch im Jahr der Hochzeit (1971) eine zweite Tochter, in den Jahren 1976 und 1977 jeweils einen Sohn. Vier Jahre später, im Jahre 1981, bringt sie dann ihren jüngsten Sohn zur Welt. Mit diesen Geburten in kurzen Abständen scheint Angelika Klein dann doch dem von ihrer Mutter vorgelebten Muster der frühzeitigen Mutterschaft mit schnell aufeinander folgenden Geburten der Kinder zu folgen. Obwohl vermutlich auch für sie Möglichkeiten zur beruflichen Aus- und Weiterbildung im System der DDR vorhanden gewesen wären,66 sieht Angelika Klein solche Chancen, sich beruflich weiterzuentwickeln, nicht. Sie scheint sämtliche Maßnahmen, an denen sie hätte aktiv teilhaben müssen, umgangen oder abgelehnt zu haben, während sie andererseits alle anderen sozialpolitischen Unterstützungsmaßnahmen, die vom System der DDR für Mütter und Familien bereitgestellt wurden,67 insbesondere finanzielle Unterstützung oder Arbeitszeitregelungen für Frauen mit mehreren Kindern, in Anspruch nahm. Durch dieses Nicht-Wahrnehmen von vorhandenen Weiterbildungsangeboten geht die „Steigerung des Bildungsniveaus aller Klassen und Schichten“ während dieser Zeit an ihr vorüber und sie verpasst dadurch die staatlicherseits anvisierte „Angleichung von Chancen und Resultaten der grundlegenden Bildung und Qualifikation aller Gemeinschaftsmitglieder“ (Weidig 1997, S. 192).

66 Im Jahre 1973 wurden gesetzliche Regelungen erlassen, die Betriebe verpflichteten, Frauen in ihrer beruflichen Weiterbildung zu unterstützen (Wissenschaftlicher Beirat für Frauenpolitik 1993). 67 1972 wurden sozialpolitische Maßnahmen in Kraft gesetzt, die Frauen und junge Familien besonders fördern sollten, z.B. Arbeitszeitregelungen, Regelungen für Freistellungen der Mütter bei Krankheiten der Kinder etc. (Wissenschaftlicher Beirat für Frauenpolitik 1993).

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Vielmehr bleibt aus der Analyse des biografischen Materials der Eindruck zurück, dass Angelika Klein die unterstützenden Strukturen des Systems für sich strategisch genutzt hat und die Babyjahre als willkommene, finanziell abgesicherte Auszeiten von der Erwerbsarbeit in Anspruch genommen hat.68 Zudem ist die Ehe für Angelika Klein eine so bedeutsame ­Instanz, dass sie sie trotz der Alkoholsucht ihres Mannes und einer Affäre mit einer anderen Frau aufrechterhält, sich erst nach dem Tod ihrer Schwiegermutter im Jahre 2002 von ihrem Mann trennte, aber nicht scheiden lässt. Die Wende 1989 und der daraus folgende Zusammenbruch der DDR als Ereignis mit einschneidenden Änderungen für die damalige Bevölkerung des Landes thematisiert Angelika Klein als biografisch bedeutsames Ereignis nicht explizit. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie ihr Leben in eines, in dem sie einer Erwerbstätigkeit in einer Vollzeitstelle mit acht Stunden Arbeitszeit nachgeht (vor der Wende), und in ein Leben, in dem temporäre Arbeitslosigkeit, geringfügige Beschäftigung und Teilzeiterwerbstätigkeit herrschen (nach der Wende), unterteilt. Diese Einteilung gilt dabei sowohl für sie selbst und ihre Tätigkeit in der Pension seit 1996 als auch für ihren Ehemann, der nach 1990 arbeitslos wurde und nach kurzfristiger Tätigkeit bei einem Wachdienst wegen gesundheitlicher Probleme ganz aus dem Erwerbsleben ausscheiden musste. Angelika Kleins älteste Tochter lernt den Beruf einer Korbmacherin und ist zum Zeitpunkt des Interviews Mutter zweier Kinder und als Reinigungskraft tätig. Der älteste Sohn (2 Kinder, verheiratet, aber getrennt lebend) hat als gelernter Maschinenschlosser nach der Ausbildung keine Arbeit bekommen und bezieht ebenfalls Alg II. Die jüngere Tochter und der mittlere Sohn arbeiten als Kellnerin und Koch in einem kleinen Café am Ort. Der jüngste Sohn arbeitet wie seine Lebenspartnerin (beide haben 2 Kinder) in einer geschützten Werkstatt. Festhalten an der Realitätskonstruktion „nicht arm – nicht reich“ zur Aufrechterhaltung von Identität und Status Tritt für einen Außenstehenden die Tatsache, dass sich Angelika Klein in einer prekären Lebenssituation befindet, deutlich zutage, so muss dies von ihr selbst nicht ebenfalls so wahrgenommen und empfunden werden. Häufig unterscheiden sich Selbst- und Fremdwahrnehmung stark voneinander, da die „Strukturierungszusammenhänge alltäglicher Lebenspraxis nur zum Teil bewusster Reflexion zugänglich, zu einem beachtlichen Teil jedoch latent sind“ (Hildenbrand 68 Im Jahr 1972 erfolgte eine Erhöhung des gesetzlichen Kindergelds und ab 1976 konnten Frauen ab dem 2. Kind eine bezahlte Freistellung von der Arbeit für ein Jahr, das sogenannte Babyjahr, in Anspruch nehmen (Wissenschaftlicher Beirat für Frauenpolitik 1993).

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1999a, S. 266). Somit liegen Interpretationen, die von uns als Forscherinnen herausgearbeitet werden, auf einer anderen Ebene als jene, die es Angelika Klein möglich machen, „ihr Verhältnis zum Selbst und zur Welt zu“ definieren und zu begreifen (Hildenbrand 1999a, S. 266). Wie bereits gezeigt, definiert sich Angelika Klein neben ihrer Familienorientierung eben auch über Erwerbsarbeit, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden ,und hat das Bedürfnis, dieses deutlich zu kommunizieren. Im Interview bekräftigt Angelika Klein immer wieder, stets hart gearbeitet zu haben und sich vor keiner Arbeit gescheut zu haben: „[…] man hat immer acht Stunden zwischendurch gearbeitet auch, ne (.) weil zu DDR-Zeiten hatte man ja immer seine Arbeit gehabt […] man war ja nicht arbeitslos […]“ (AK 10/ 350– 352)

Begründet ist diese Haltung vermutlich auch in der Mentalität der DDR-Gesellschaft mit ihrem Arbeitsethos, demzufolge körperlich schwere Arbeit gleichbedeutend mit gesellschaftlich anerkannter Arbeit war. Angelika Klein kann nicht glauben, dass diese Vorstellung von Erwerbsarbeit heute nicht mehr gilt, da sie mit dieser Art von körperlich anstrengender Arbeit aufgewachsen ist und ihre Eltern diese Form der Erwerbstätigkeit als normal und erstrebenswert durch ihre eigene Tätigkeit in der Landwirtschaft mit LPG und Nebenerwerbswirtschaft vermittelten. Sie ist verunsichert und versucht, vermeintlich von ihr erkannte Zweifel der Interviewerin an ihrer Arbeitsbereitschaft mit persönlicher Hingabe und mit Engagement zu dokumentieren: „Ich scheue auch vor keiner Arbeit ne“ (AK 15/524) oder „ich mach die Arbeit gerne“ (AK 15/548). Sie erkennt nicht und kann es aus ihrer Situation heraus auch nicht nachvollziehen, dass in den marktwirtschaftlichen westlichen Gesellschaften „die Erwerbschancen als Zugang zu sozialen Positionen deutlich stärker von […] sozialen Referenzsystemen (zum Beispiel Bildungszertifikaten) sowie von der sozialen Relationalität von Akteur und Umwelt (soziale Einbettung) präformiert werden als von individuellen Willensanstrengungen“ (Solga 2005, S. 133). In der gesamten biografischen Selbstpräsentation von Angelika Klein wird deutlich, dass sie auch die Vorstellungen einer nivellierten Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft, in der alle „irgendwie gleich waren“ immer noch für gültig hält. In ihrer Vorstellung existierten die auch damals bereits bestehenden Statusunterschiede entlang der Dimension Qualifikation nicht, zumindest möchte sie es sich selbst gegenüber und vor allem der Interviewerin gegenüber nicht eingestehen. Somit realisiert Angelika Klein in der Folge auch nicht, dass sie bereits in der Gesellschaft der DDR am unteren Ende der Statushierarchie gelebt hatte. Sie sucht die Gründe für ihre prekäre finanzielle Situation weder in der wirtschaftlichen Lage noch in ihren geringen beruflichen Qualifikationen, sondern formuliert eine generalisierende Anklage:

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„Gegen heut= gegen früher und heute der Kleine (.) Der Mittelstand wird immer bestraft, immer“ (AK 10/361–362).

Bezeichnend ist, dass sich Angelika Klein als Angehörige der Mittelschicht/des Mittelstandes versteht, obwohl sie in ihrem bisherigen Lebensverlauf nie in einer mittelständischen Soziallage gewesen ist. Sie realisiert nicht, dass der Begriff des Mittelstandes für die westdeutsche Gesellschaft mit anderen Bedeutungen hinterlegt ist, als sie diesem unterstellt. Es scheint, als wolle sie unter allen Umständen diese Sichtweise aufrechterhalten, um nicht den Kontakt zu diesem vermeintlich großen Teil der Gesellschaft zu verlieren, dessen Existenz als allgemein gesichert gilt. Auch in Bezug auf die Realisierung und des Eingeständnisses der eigenen Armut zeigt Angelika Klein ein unsicher abwehrendes Verhalten gegenüber der Interviewerin. Ihre Aussage: „na arm nicht, es gibt ärmere, ne. Aber äh (.) man ist auch nicht reich […]“ (AK 11/371) klingt einerseits vorwurfsvoll, so als ob sie es als demütigend empfindet, so gefragt zu werden. Andererseits ist es möglich, dass die Relativierung, es gäbe Ärmere, ein Ausdruck dafür ist, dass Angelika Klein ihre Situation nicht als besonders prekär ansieht, da sie sich bereits an die gegebenen Umstände „angepasst“ hat. Sie hat sich im Laufe ihres Lebens nie wirklich in der Lage des gesicherten Wohlstandes befunden und deswegen ihre gefühlte Lebensqualität auf einem niedrigen Niveau stabilisiert (Böhnke 2009, S. 10). Indirekt gibt Angelika Klein jedoch durchaus zu verstehen, dass sie sich sehr wohl in einer prekären finanziellen Situation befindet: „man muss mit jedem Pfennig rechnen“ (AK 11/372). Das ist ihr aber offenbar zu unangenehm, um es im Interview direkt ansprechen und eingestehen zu können. In solchen kommunikativen Zugeständnissen an ihre tatsächliche Lage kann Angelika Klein im Interview nur so weit gehen, dass sie ihr Selbst als starke, hart arbeitende Mutter nicht aufgeben muss. Ähnlich agiert sie an den Stellen des Interviews, in denen es um ihr Wohlbefinden geht: „Da stellen sich auch schon Wehwehchen ein […] und früher hat man Bäume ausgerissen ne. Kann man nicht mehr. Kräfte lassen schon ein bisschen nach […] Na ja, wenn man überlegt wat man geleistet hat dann ist es eigentlich auch ganz klar ne geht ja ooch nicht spurlos am Körper vorbei ne“ (AK 14/510–15/514) was die vermeintlich offenbarte Schwäche relativieren und sie erneut als leistungsorientierte, engagierte Frau zeigen soll. Angelika Klein sieht sich im Interview gezwungen, ihre Lebenssituation und deren Entwicklung zu rechtfertigen und kämpft während des gesamten Gesprächs stetig um die Erhaltung ihres Selbst. Möglich wäre, dass diese Tendenz zur Rechtfertigung erst im Zuge dieses Interviews entstanden ist, was für Angelika Klein somit eine neue Situation darstellt, über die sie bisher kaum nachgedacht hatte und sich nun gezwungenermaßen damit auseinandersetzen muss. In der Gesellschaft der ehemaligen DDR entsprach Angelika Klein als berufstätige Frau und Mutter mehrerer Kinder zwar auf den ersten Blick partiell dem Leitbild der Frauen in

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der sozialistischen Gesellschaft, jedoch fehlten ihr für eine erfolgreiche berufliche Entwicklung bereits in der Anfangsphase grundlegende Bildungsvoraussetzungen und berufliche Qualifikationen, was ihr möglicherweise so nie bewusst war. Alle im DDR-System vorhanden Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung und die sich daraus ergebenden Aufstiegschancen ließ Angelika Klein ungenutzt verstreichen. Stattdessen reproduzierte sie faktisch die berufs- und familienbiografischen Handlungsmuster ihrer Mutter, indem sie früh selbst eine Familie gründete, ohne eine berufliche Ausbildung zu durchlaufen und innerhalb von kurzen Intervallen fünf Kinder bekam, was eine wenig erfolgreiche berufliche Karriere im Niedriglohnsektor zur Folge hatte. Bereits vor der Wende verkehrte sich die von Angelika Klein stets betonte eigene Unabhängigkeit und Stärke in eine Abhängigkeit von den sozialen Unterstützungssystemen, die sie sich so bis heute nicht eingestehen kann. Das von ihr internalisierte Bild von der sozialen Gleichheit der Bevölkerung im Arbeiter- und Bauernstaat und der althergebrachte Arbeitsethos der harten, körperlichen Arbeit als einzig möglicher und sozial anerkannter Arbeit bestimmt Angelika Kleins Gesellschaftsverständnis bis in die Gegenwart. Unsere Analysen legen Hypothesen nahe, denen zufolge die existenziellen Veränderungen des Transformationsprozesses in allen gesellschaftlichen Bereichen von Angelika Klein nicht adäquat wahrgenommen werden können. Sie kann oder will nicht differenzieren zwischen den beiden Gesellschaften, in denen sie gelebt hat beziehungsweise heute lebt und deren unterschiedlichen Schichten des Gesellschaftssystems. Dabei umschreibt sie den – von ihr nicht als solchen bezeichneten oder anerkannten – Abstiegsprozess in der Differenz der geleisteten Arbeitsstunden sowie im Vergleich der jeweils erzielten, aber nie auskömmlichen Arbeits- und Transfereinkommen vor und nach der Wende. Angelika Kleins Präsentation ihres Selbst vermittelt den Eindruck, als ob sie zu ahnen beginnt, dass ihre Situation nicht ganz dem entspricht, was sie im Interview zu transportieren versucht, und auch sie selbst nicht so unerschütterbar ist, wie sie vorgibt zu sein. Dabei ist ihre Sicht auf die Dinge jedoch mittlerweile so verfestigt und automatisiert, dass es einem Identitätsverlust gleichkäme, wäre sie gezwungen, diese Selbstwahrnehmung aufzugeben.

3.2 Karin Groß und ihre Selbstetikettierung als „schlecht zu vermittelnde Arbeitssuchende“ Interaktion zu Beginn des Interviews und Struktur der biografischen Eingangspräsentation Bei einem ihrer regelmäßigen Besuche bei der Arbeitsagentur erfährt Karin Groß von dem Forschungsprojekt Armutsdynamiken im ländlichen Raum. Als sie sich für einen 1-Euro-Job vormerken lässt, händigt ihr die Fallmanagerin das Informationsschreiben des Forschungsprojektes aus. Daraufhin meldet sich Frau Groß mit einem von ihr selbst frankierten Brief bei

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der Hochschule Neubrandenburg und erklärt sich zu einem lebensgeschichtlichen Interview bereit, das am 15. 2. 2006 in ihrer Wohnung in einem Neubauviertel in einer küstennahen Kleinstadt Ostvorpommerns stattfindet. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 44 Jahre alt und seit mehreren Jahren erwerbslos, sodass sie auf das Alg II angewiesen ist. Ehe das Interview beginnen kann, gibt es eine Aushandlungsprozedur, die durch die mehr als unglücklich formulierte Erzählaufforderung hervorgerufen wird. Es gelang der Interviewerin zu Beginn des Interviews nicht, eine erzählgenerierende Eingangsfrage zu formulieren, vielmehr dokumentiert sich im Transkript eher vage und wenig empathisch, dass sie im Rahmen des Projektes „Lebensgeschichten sammelt, von Leuten, wo das jetzt (1) mal dieses und mal jenes probieren mussten und nun wollte ich Sie fragen, ob Sie mir mal Ihre Geschichte erzählen könnten?“ (KG 1/50–53). In der Formulierung der Frage steckt bereits das seitens der Interviewerin vermutete Scheitern, denn wenn man dieses und jenes ausprobieren musste, wird das Versuchte vermutlich nicht immer von Erfolg gekrönt gewesen sein, was die Interviewpartnerin beim Interviewbeginn unterschwellig gespürt haben könnte. Von der Interviewerin und dem Aufnahmegerät wegrückend sagt Karin Groß, dass sie „das gar nicht alles auswendig könne“, und dass man „sich alles gar nicht so merken“ könne (KG 2/58–59). Das lässt zwei Hypothesen zu: Entweder sie hat so viel zu erzählen, dass es nicht aus dem Stegreif möglich ist, ihr Leben ‚im Kopf‘ zu behalten und zu erzählen, oder sie schätzt ihre Fähigkeiten zur biografischen Selbstpräsentation als unzureichend ein, sodass sie die an sie gerichtete Bitte, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, nicht erfüllen kann. In den wenigen Augenblicken, die der Erzählaufforderung vorausgehen, bringt Karin Groß zum Ausdruck, dass sie Angst hat, sich im Interview zu verheddern und herumzustottern. Nach dieser Eröffnung scheint durchaus plausibel, dass Karin Groß mit dem Thema Arbeitslosigkeit beginnt, einem biografischen Scheitern, dem Diesen und Jenen, dem aber nichts Richtiges mehr folgte. Die Frage, inwiefern diese Eingangspräsentation von den bei der Interviewerin vermuteten Interessen, denen Karin Groß als Interviewte irgendwie entsprechen will, geleitet ist oder ob sie das Projekt als eines versteht, das im Auftrag der Sozialagentur agiert, kann anhand des Materials nicht beantwortet werden. In der Eingangspräsentation, die im Wesentlichen aus dem für uns Außenstehende wenig erfolgreichen Erwerbsverlauf seit 1990 besteht, stellt sich Karin Groß als eine erwerbslose, schwer zu vermittelnde und von den Sozialsystemen abhängige Person dar. In der resignativ klingenden Formulierung „War sehr schlecht zu vermitteln, ja wat soll ig denn noch groß sagen?“ (KG 2/68–69) dokumentiert sich eine Selbstsicht, die die Perspektive und Terminologie der Arbeitsverwaltung aufnimmt (vgl. Beitrag von Birgit Storr in diesem Band). Mit den Themen Arbeitslosigkeit und Arbeit wird das Interview zwar eröffnet, im weiteren Verlauf des Interviews und in unserer Fallanalyse treten indes die Themen Krankheit und Fa­ milie stärker in den Vordergrund. Die von Karin Groß selbst strukturierte und selbst gesteuerte

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Eingangspräsentation beschränkt sich dann auch auf ganze 37 Zeilen, die aus einer Mischung von knappen berichtenden Ansätzen und schnell aufeinanderfolgenden Argumentationen besteht und ähnlich der Eingangspassage von Angelika Klein keine Erzählansätze enthält. Thematisch, das zeigt die folgende Tabelle, ist sie jedoch ganz anders aufgebaut als im ersten Fall. Tabelle 3: Übersicht über die formale und inhaltliche Struktur der Eingangspräsentation von Karin Groß Sprecher/in Interviewerin

Funktion und Textsorte Erzählaufforderung

Karin Groß Interviewerin Karin Groß Interviewerin

Rückfrage Erneute Erzählaufforderung Lachend beide lachend

Karin Groß

etwas abwehrend, argumentativ

Interviewerin Karin Groß

Leise und gleichzeitig Bericht Bericht Argumentation Argumentation und Frage Bericht und Argumentation Bericht Argumentation und Bericht Argumentation Argumentation Argumentation Argumentation Argumentation Endevaluation

Quelle: eigene Darstellung

Thema Wir machen ´ne Studie über Ostvorpommern, ich mach so den Teil, wo ich mir so Lebensgeschichten sammle, von Leuten, wo das jetzt (1) mal dieses und mal jenes probieren mussten und nun wollte ich Sie fragen, ob Sie mir mal Ihre Geschichte erzählen könnten? Ja, ach Gott, wat soll ich da erzählen? sozusagen Ihr Leben erzählen könnten? mhm Sie rutschen immer weiter weg, dat muss jetzt och nich sein Ig kann dat gar nicht alles auswendig, dat is immer dat man kann sich gar nicht so merken Ja aber 1991 arbeitslos geworden vorher Reinigungskraft bei der Wohnungswirtschaft Kündigung, arbeitslos, 5 Jahre zu Hause Zeit für die Kinder War schlecht zu vermitteln, wat soll ig noch groß sagen? ABM im Umweltschutz, war schön 2 oder 3 Jahre zu Hause, danach eine Weiterbildung bekommen, ne Orientierungsmaßnahme Schleppte sich so hin und zwischendurch beworben, als Praktikantin genommen, aber nie fest eingestellt Kann wegen gesundheitlicher Hautschädigung nicht mehr in der Küche arbeiten Nirgends genommen, sitze nur zu Hause Kinder sind aus dem Haus Ich bewerb mich, aber es ist nichts zu kriegen Nicht wegziehen, muss sich um Mutter (66 Jahre) kümmern Ja, das ist so im Großen und Ganzen meine Geschichte

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Nachdem Karin Groß ihre Arbeitsbiografie der letzten 15 Jahre kurz und knapp als Bericht zusammengefasst hat, eröffnet sie argumentierend die beiden zentralen thematischen Felder Hauterkrankung und familiale und/oder regionale Verbundenheit, in deren Rahmen sie der Interviewerin plausibel klingende Erklärungen für ihre derzeitige Situation anbietet: Zum einen – so sagt sie – könne sie auch gar nicht mehr in der Küche arbeiten, da sie an einer Hauterkrankung leide. Zum anderen könne sie auch aus der Region nicht wegziehen, da sie die Einzige sei, die noch in der Nähe der Mutter wohne und diese versorgen müsse. Ein Umzug in eine Region mit besseren Arbeitsmarktchancen sei für sie deshalb keine Option. Dabei hätte Karin Groß auf die sich verschlechternden Lebensumstände besonders in MecklenburgVorpommern auch mit Abwanderung reagieren können (Buch; Hamann; Niebuhr 2010). Frau Groß beendet ihre autonom gestaltete biografische Eingangspräsentation mit der Globalevaluation, dass dies „eigentlich so im Großen und Ganzen ihre Geschichte“ (KG 2/97) sei, die sie aber nicht weiter bewertet. Eine Vielzahl von biografisch bedeutsamen Erlebnissen und erwartbaren Themen wie Herkunftsfamilie, eigene Kindheit, Schulzeit, Hochzeit, Freundeskreis und persönliche Interessen werden dabei von ihr nicht erwähnt, sondern kommen erst im weiteren Interview und teilweise erst auf Nachfragen der Interviewerin zur Sprache. Berufs- und familienbiografische Entwicklungspfade Wir erfahren erst spät im Verlauf des Interviews, dass Karin Groß 1963 in einer Kleinstadt an der Ostseeküste geboren wurde. Ihre Eltern hatten sich kurz nach der Geburt des jüngsten Bruders scheiden lassen und der Kontakt zum Vater brach ab (sie hat ihn einmal gesehen, weiß wie er aussieht). Karin Groß’ Mutter arbeitete als angelernte Arbeitskraft in der Gaststätte eines Hotels. Die psychischen Belastungen der doppelten Anforderung durch die Kindererziehung und Berufstätigkeit überforderten die Mutter offenbar, so dass Karin Groß und ihre Geschwister einen Großteil ihrer Kindheit im Heim verbrachten. Wir erfahren, dass Karin Groß die Schule bereits nach der 8. Klasse verlassen hatte, zu ihrer Mutter zurückkehrt war und eine Lehre im selben Hotel, in dem auch die Mutter beschäftigt war, begonnen hat. Trotz denkbarer Alternativen orientierten sich ihre ersten bildungs- und berufsbiografischen Entscheidungen stark an dem beruflichen Handlungsmuster der Mutter. Indes galt es schon in den siebziger Jahren in der DDR als ungewöhnlich, die Schule nach nur acht Jahren zu verlassen, zielte die Bildungspolitik der DDR doch mit der polytechnischen Ausbildung auf einen Regelabschluss nach zehnjährigem Schulbesuch ab. 69 69 „Bis Ende 1975 sollte die Zahl der Schüler, die die 10. Klasse absolvierten – sie lag bei 1971 bei ca. 80 % eines Schülerjahrganges – die 90 %-Marke erreicht haben. Dieses Ziel wurde zwar erst Ende der

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Zugleich verschlechterten sich faktisch auch die Aufstiegschancen der Kinder aus bildungsfernen Familien – wie eben von Karin Groß –, indem die Aufstiegswege70 sich verengten und die Zulassungsquoten zu den Universitäten beschränkt wurden. Die umfangreiche soziale Mobilität der Anfangszeit der DDR wich einer Phase der sozialstrukturellen Stabilisierung. Auch in ihrer familialen Entwicklung scheint Karin Groß dem biografischen Muster ihrer Mutter zu folgen, die schon als junge Frau Mutter von insgesamt fünf Kindern wurde. Karin Groß lässt die Möglichkeiten der Familienplanung71 ungenutzt und bekommt ihren ersten Sohn unehelich mit 17 Jahren. Sobald sie volljährig wird, heiratet sie den Vater des Kindes und bekommt in einem Zeitraum von sechs Jahren zwei weitere Söhne und eine Tochter. Auch wenn Frauen in der DDR im Vergleich zu den westdeutschen Frauen im Durchschnitt mehr und früher ihre Kinder bekamen und auch früher heirateten (Merkel 1994, S. 359), verweist die Rekonstruktion der gelebten Lebensgeschichte von Frau Groß kaum auf Ansatzpunkte gesellschaftlicher und persönlicher Emanzipation. Stattdessen orientiert sie sich an traditionalen kulturellen Mustern, die in Mecklenburg-Vorpommern eine lange historische Tradition aufweisen. Ihr Ehemann, ein gelernter Trockenbauer, verpflichtet sich für zehn Jahre zum Dienst bei der Nationalen Volksarmee, weshalb die Familie einige Jahre im Süden der DDR lebt. 1985 ziehen sie nach Ostvorpommern zurück, da ihr Mann aus gesundheitlichen Gründen aus dem Dienst ausscheiden muss. Welcher Tätigkeit er nach der Rückkehr in ihre Heimatregion nachgegangen ist, erfahren wir nicht. Frau Groß spricht lediglich darüber, dass er im Dreischichtsystem gearbeitet hat und dass sie selbst trotz der vier Kinder phasenweise berufstätig war. Über die Art dieser Tätigkeiten macht sie keine genauen Angaben, aber die biografische Fallrekonstruktion lässt die Vermutung zu, dass sie gering qualifizierten Tätigkeiten nachgegangen ist, obwohl ihr zu dieser Zeit auch andere Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden haben könnten. Karin Groß wurde in die Phase des Aufbaus der sogenannten entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR hineingeboren. Im Kontext der Konzeption der „Einheit von Wirtschaft- und Sozialpolitik“ kam es nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 zu zahlreichen sozial­politischen Maßnahmen, die besonders die Situation berufstätiger Mütter verbessern sollten. Das Beschäftigungssystem der DDR mit seinem chronischen Arbeitskräftemangel sah die zunehmende Qualifizierung der Arbeitskräfte, besonders der Frauen, vor (Staritz 1996, S. 70er-Jahre erreicht, doch dies war ein erheblicher Erfolg, zumal darüber hinaus seit 1980 nahezu alle Schulabgänger mit einer Berufsausbildung begannen“ (Staritz 1996, S. 285). 70 In einer Studie von Huinink und Mayer (1993) sahen sich die jüngsten Jahrgänge (1959–61) im Vergleich zu den älteren Generationen in der DDR allerdings mit einer „drastischen Verschlechterung der Aufstiegschancen“ konfrontiert (Kohli 1994, S. 54). 71 1968 wurde die Pille eingeführt (Merkel 1994, S. 373), 1972 wurde der kostenfreie Schwangerschaftsabbruch legalisiert (Staritz 1996, S. 283).

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231; Merkel 1994, S. 371–373). Weibliche Berufstätigkeit wandelte sich seit den 1960er-Jahren zunehmend mehr von einer „angelernten Erwerbsarbeit zur qualifizierten Berufsarbeit“ (Merkel 1994, S. 369)72. Doch die gebotenen beruflichen Bildungs- und Weiterbildungschancen und Alternativen zu ihren gering qualifizierten Tätigkeiten wurden von Karin Groß nicht ergriffen. Für die Identifikation mit den progressiven Momenten des gesellschaftlichen Leitbildes der Frau in der sozialistischen Gesellschaft, die sicherlich mit einem sozialen Aufstieg verbunden gewesen wäre, lassen sich keinerlei Anzeichen in ihrer gelebten Lebensgeschichte finden. Dennoch befindet sich Frau Groß – wie der Großteil der Frauen in der DDR – in der doppelt belastenden Rolle als Mutter und erwerbstätige Frau. Im Interview erzählt sie in einer narrativen Passage von familiären Konflikten, besonders mit einem ihrer Söhne. Die Erziehungsprobleme spitzten sich zu und es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Der Sohn wird straffällig und Frau Groß schaltet das Jugendamt ein, was zur Folge hat, dass er zwischenzeitlich in einer betreuten Wohngemeinschaft untergebracht wird. Nach weiteren Konflikten entschließt sie sich, den Kontakt zu ihrem Sohn abzubrechen. In dieser, aber auch in weiteren erzählenden Textsequenzen wird deutlich, dass die Mutter-Kind-Beziehungen ein zentrales biografisches Thema im Leben von Frau Groß sind.73 Sie selbst hat eine sehr enge Beziehung zu ihrer eigenen Mutter, und auch die Bindung zu ihren eigenen Kindern und Enkelkindern ist überaus eng mit teilweise symbiotischen Zügen, gerade auch zu dem Sohn, zu dem sie den Kontakt abgebrochen hat. Am Ende der 1980er-Jahre arbeitet Karin Groß als Reinigungskraft bei einer Wohnungsbaugenossenschaft, ehe sie im Jahre 1991 arbeitslos wird und an diversen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnimmt. 1995 lässt sie sich von ihrem Mann scheiden. Zum Zeitpunkt des Interviews wohnt sie mit ihrer Tochter in einem Haushalt. Ihre Tochter absolviert zum Zeitpunkt des Interviews eine Ausbildung zur Wirtschaftsassistentin, was auf eine spätere Tätigkeit im Niedriglohnsektor hindeuten könnte. Der Sohn, zu dem sie keinen Kontakt mehr hat, sitzt inzwischen im Gefängnis. Die anderen beiden Söhne wohnen wie auch die eigene Mutter von Frau Groß im selben Ort. Beide haben bislang keine berufliche Ausbildung erfolgreich abschließen können. Der älteste Sohn ist zudem bereits Vater mehrerer Kinder. Die gesamte Familie lebt von Hartz-IV-Leistungen und nutzt alternative Versorgungswege durch 72 „Insgesamt sank der Anteil der un- und angelernten Berufstätigen in der staatlichen Wirtschaft zwischen 1955 und 1970 von 70 % auf 39 %, parallel dazu wuchs die Zahl der Facharbeiter und Meister von einem knappen Viertel auf knapp die Hälfte“ (Staritz 1996, S. 232). 73 Daten einer Studie von Huinink und Mayer zu Lebensverläufen in der DDR zeigen, dass die Befragten immer wieder die „große Bedeutung der innerfamilialen Intimität und Vertrautheit“ betonen. Zudem kommt der Familie bzw. der Ehe bei der „Bildung und Stabilisierung von Netzwerken gegenseitiger wirtschaftlicher und organisatorischer Unterstützung, denen die Befragten einen außerordentlich hohen Stellenwert beimessen, eine große Bedeutung“ zu (Huinink 1993, S. 162).

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Lebensmittel der Tafel sowie die Kleiderkammer des Roten Kreuzes auf aktive und durchaus strategisch planvolle Art und Weise. Aus der Perspektive der drei Generationen reproduzieren sich die beruflichen und familiären Wahrnehmungs- und Handlungsmuster nicht nur, sondern sie erfahren eine weitere Verschärfung und Zuspitzung durch die anhaltend prekäre, von Unterversorgung und Armut geprägte Lebenssituation der Familie. Weder Abwanderung noch Widerspruch – Karin Groß lebt ihre Variante der stationären ­Lebensführung Im Ergebnis unserer Textanalysen sehen wir, dass sich die erzählte Lebensgeschichte von Karin Groß durch die thematischen Felder Hauterkrankung und familiale und/oder regionale Ver­ bundenheit strukturiert. Immer dann, wenn sie über ihre „gesundheitliche Hautschädigung“ (KG 2/84–85) spricht, offenbart sich eine besondere Facette des Zusammenhanges von Armut und Gesundheit. Karin Groß begreift Armut als ein Persönlichkeitsmerkmal, das wie eine vererbbare Krankheit als in der Familie steckend wahrgenommen wird. ES „steckt schon in der Familie drinne“. Und nicht nur das, es „geht und kommt immer wieder und wird auch bleiben“ (KG 3/143– 146). Wie ein Fluch, wie ein unvermeidliches Schicksal, scheint die Familie dazu verdammt, in von Entbehrung und Verzicht geprägten Verhältnissen zu leben. Es ist wie eine ,ErbKrankheit‘, gegen die man nicht aufbegehren kann, sondern in die man sich fügen muss. Hierbei handelt es sich um eine verdichtete Formulierung, in der Karin Groß ihre Hauterkrankung aufgrund einer Lebensmittelallergie im Kontext ihrer Schwierigkeit, eine Arbeit als Küchenhilfe zu bekommen, thematisiert. Sie spricht davon, dass sie diese Allergie von ihrer Mutter geerbt habe und dass auch ihr Onkel daran leide und dass besonders das Gesicht, aber nur vereinzelt Stellen am Körper betroffen seien. Karin Groß kämpft nicht gegen die Erkrankung an, sondern fügt sich erneut in die unabänderlichen Umstände, da ein Aufbegehren eine Energieleistung, eine biografische Arbeit von ihr abverlangen würde, die sie in dem Maße nicht zu leisten vermag. Zudem fehlt es ihr nicht nur an Möglichkeiten, einen gesunden, ihrer Erkrankung zuträglichen Lebensstil zu führen (knappe finanzielle Mittel, fehlende Informationsmöglichkeiten und Präventionsangebote), sondern auch an einem Gesundheitsverständnis, demzufolge sie ihre Gesundheit aktiv beeinflussen könne. Als Frau in der DDR-Gesellschaft entsprach Karin Groß zwar partiell dem „Leitbild der berufstätigen Frau und Mutter“ (Merkel 1994, S. 76), entzog sich aber dem besonders auf Frauen gerichteten Qualifizierungsdruck (Staritz 1996, S. 231)74. Die einzige mögliche Auf74 Staritz spricht hier sogar von einem „Bildungs- und Qualifizierungszwang“ (1996, S. 237).

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stiegsoption erschließt sie sich dadurch, dass sie einen Mann heiratet, der in das DDR-System durch seine Tätigkeit bei der Armee integriert ist, was mit existenzieller Sicherheit und kleinen Privilegien verbunden war, aber auch mit einem Umzug in den Süden der DDR. Dass die Familie mit der Ausgestaltung intensiver familiärer Bindungen und die engen, fast symbiotischen Mutter-Kind-Beziehungen die zentralen Lebensthemen für Karin Groß waren, zeigt sich auch daran, dass sie mit ihrem Mann und den Kindern sofort wieder in die Heimatregion und damit auf das vermeintlich sichere Terrain der gering entlohnten Beschäftigungen im Dienstleistungssektor zurückgeht, als ihr Mann den Dienst bei der Armee aufgeben muss. Wie sich schon in der Eingangspräsentation andeutet, bildet ein Umzug und damit ein Verlassen der Region für Karin Groß weder im Zuge der Wende noch während der langen Zeit der Erwerbslosigkeit danach eine wirkliche Alternative (Hirschman 1974). Die biografischen Gründe dafür bedürfen einer weiteren vertieften Analyse, wenn Mobilität nicht nur als ein „dichotomes Muster von Weggehen und Bleiben“ (Beetz 2004, S. 20), sondern „als Teil eines biografischen Gesamtzusammenhanges“ verstanden werden soll (Beetz 2004, S. 254). Nachdenklich und zaghaft lässt sie jedoch Reflexivität und Handlungspotenzial am Ende des Interviews durchklingen, als sie ihre Heirat und die Anzahl ihrer Kinder infrage stellt und in einer relativierend klingenden Globalevaluation mit den Worten endet: „Aber ich weiß es nicht, heute würde ich doch einiges anders machen“ (KG 21/1100). Dabei wäre es durchaus plausibel gewesen, dass Karin Groß nach ihrer Erfahrung in der DDR als mehrfach belastete Mutter von vier Kindern und erwerbstätige Frau zufrieden auf ihre erbrachten Leistungen zurückblickt und sich in eine neue Identität als Hausfrau und Mutter einfindet. Doch dieses in Westdeutschland vorherrschende Rollenmodell ist Frau Groß aufgrund ihrer DDR-Sozialisation nicht zugänglich, derzufolge „Nur-Hausfrauen“ eher verpönt und berufstätige „Auch-Hausfrauen“ die Norm waren (Budde 2003, S. 311). Doch statt sich aus volkswirtschaftlicher Sicht produktiv betätigen zu können, ist Karin Groß im wiedervereinigten Deutschland auf finanzielle Unterstützungsleistungen von staatlicher Seite angewiesen. Daher reproduziert sie in ihrer Eingangspräsentation die ihr in der neuen, gesamtdeutschen Realität zugeschriebene Identität einer arbeitslosen Hartz-IV-Empfängerin. Durch die Eröffnung des Interviews mit dem Thema „Kündigung“ beginnt Frau Groß mit einem kritischen Wendepunkt, einem Ereignis, das bis dato etwas nahezu Unvorstellbares für sie als berufstätige Frau gewesen ist. In unseren biografischen Fallrekonstruktionen kristallisieren sich immer wieder systematisch Interpretationspunkte heraus, die zu einer Reinterpretation der Vergangenheit und Gegenwart, aber auch der Zukunft der Biografin führen (Rosenthal 2008, S. 166). In der Gegenwart präsentiert sich Karin Groß eben nicht als eine tatkräftige, autonom handelnde Arbeitssuchende, von der man in der Zukunft eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt erwarten würde, und auch im Rückblick erscheint es, dass sie seit dem Zeitpunkt der Kündigung unmittelbar nach der Wende keine reale Chance

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für sich gesehen hat. Sie beginnt sich mit ihrer neuen Identität als arbeitslose und chancenlose Frau zu identifizieren. In der Lebensgeschichte von Karin Groß dokumentieren sich Deklassierungserfahrungen gering qualifizierter ostdeutscher Frauen und Familien, die die grundlegende Voraussetzung selbstbestimmter Lebensführung verloren haben, die für sie in der DDR-Gesellschaft fraglose Gewissheit war. 3.3 Carola Bandelows Leben zwischen dem Ringen um eine ostdeutsche Normalbiografie und der Verlaufskurve des Erleidens an der westdeutschen Gesellschaft Interaktion zu Beginn des Interviews und Struktur der biografischen Eingangspräsentation Mit Carola Bandelow treffen wir auf eine 44-jährige Frau, die seit mehr als 15 Jahren in einer prekären ökonomischen Situation lebt. Auf ihrer letzten regulären Arbeitsstelle als Küchenhilfe in einer Kurklinik – das war im Jahre 2004 – erhielt sie einen Lohn von 760 EUR, von dem sie zu diesem Zeitpunkt allein 450 EUR für die Miete ihrer Wohnung aufbringen musste. 2006 – nun als Hartz-IV-Empfängerin – bleiben ihr nach Abzug der Kosten für Versicherungen und bei Übernahme der Unterkunftskosten (Miete und Heizung) durch die Sozialagentur noch insgesamt 215 EUR im Monat zum Leben. Das bedeutet, dass sie – wie sie es formuliert – bei jedem Einkauf unter 6 EUR bleiben muss und sich Kleidungsstücke höchstens einmal in Polen kaufen könne, wenn es dort ein T-Shirt für 5 EUR gäbe. Carola Bandelow meldet sich als potenzielle Interviewpartnerin auf einen Aufruf unseres Projektes, der in einer Zweigstelle der Sozialagentur ausliegt, per Briefpost und offenbart im Gespräch, das Vera Sparschuh am 10. 2. 2006 mit ihr führt, dass sie bereits des Öfteren Interviews gegeben habe. Die Interviewerin beschreibt uns Carola Bandelow als mittelgroße, etwas korpulente Frau mit aufgedunsenem, fahlem Gesicht und dunkelblonden, überraschend gut frisierten Haaren. Das unmittelbar nach dem Interview verfasste Memo kaschiert kaum, dass die Befragte ihr nicht eben sympathisch war und sich ihrer Wahrnehmung zufolge vor allem der Aufwandsentschädigung von 25 EUR wegen interviewen ließ. Der Einstieg ins Interview ist durch ein kurzes Geplänkel zwischen der Interviewerin und der Interviewten gekennzeichnet. Carola Bandelow nimmt schließlich das Heft in die Hand und beginnt bereits zu sprechen, ehe die Aufnahmetechnik installiert ist. Das irritiert die Interviewerin offenbar so stark, dass sie gezwungen ist, ihre erzählgenerierende Eingangsfrage in mehreren Tranchen zu stellen:

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„und ich hatte es ja auch in dem Brief geschrieben, dass mich so Lebensgeschichten von Menschen75 interessieren“ /mh/ „hier in Ostvorpommern und deswegen mach ich’s jetzt an weil Sie ja jetzt schon angefangen zu erzählen“ (CB 1/31–34).

Die Interviewerin sagt dann, dass sie viel Zeit mitgebracht habe, sich entspannt hinsetzen würde, die Beine übereinanderschlagen würde und einfach zuhören würde. Sie, Carola Bandelow, könne das ganz strukturieren wie sie möchte (vgl. CB 2/3–8). Nicht nur sprachlich, d.h. durch die in mehrere Teile gesplittete Eingangsfrage, sondern auch auf der körperlichen Ebene dürfte das gesamte Interaktionsgeschehen auf Carola Bandelow nicht empathisch und unterstützend, nicht offen und wirklich interessiert gewirkt haben. Mit der Formulierung, insbesondere mit dem Distinktion schaffenden Verb, die Lebensgeschichte so zu strukturieren, wie es die Biografin möchte, wird die Machtasymmetrie zwischen der Forscherin, die ihre Interviewpartnerin zurückgelehnt beobachtet, noch einmal bekräftigt.76 In diesem, für den weiteren Gesprächsverlauf so kritischen Moment wäre es durchaus vorstellbar, dass die Interviewte ihre Einwilligung einfach zurückzieht und das Gespräch abbricht. Das geschieht im Fall der Carola Bandelow jedoch nicht. Vielmehr beginnt sie ihre knapp zweiseitige Eingangspräsentation in einer Mischung von Bericht und Argumentation sehr strukturiert mit ihrem Geburtsort und Geburtsdatum (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Übersicht über die formale und inhaltliche Struktur der Eingangspräsentation von Carola Bandelow Sprecher/in Interviewerin Carola Bandelow

Interviewerin

Funktion und T­extsorte Eingangsfrage Eingangspräsentation von ca. 3 Seiten: Berichte, Argumentationen und Evaluationen

Thema „Lebensgeschichten von Menschen ...“ • Geburtsdatum und Geburtsort, 8 Familienmitglieder • als Kind ein normales Leben • Krippe, Kindergarten, Schule, erste Schwangerschaft, Tochter • Berufsausbildung zur Kellnerin • Geburt der zweiten Tochter • Geburt eines Sohnes • verschiedene unqualifizierte berufliche Tätigkeiten Mh

75 Dass es die Lebens- oder Familiengeschichten von Armen sind, wird von der Interviewerin an dieser Stelle nicht verbalisiert. 76 Als alternative Lesart steht hier jedoch auch im Raum, dass sich die Interviewerin auf unsicherem Terrain bewegt und nicht in der Lage ist, ihre Bitte um eine lebensgeschichtliche Erzählung souverän vorzutragen.

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Interviewerin und Carola Bandelow im Wechsel

Simone Kreher/Bettina Brünner/Katharina Matthäus Funktion und T­extsorte Argumentation

Thema

• musste in LPG eintreten • auf dem Feld arbeiten Mh Argumentationskette • diskontinuierlicher Erwerbsverlauf und Maßnahmekarriere mit eingestreuten Evaseit 1990 luationen • Trennung, Auszug und Scheidung • krankgeschrieben seit 16.03.03 • psychische Krankheit und Behandlung • Panikattacken und Existenzängste • „Nicht zur Ruhe kommen können“ in dieser Gesellschaft • Kampf um Rente • Kampf ums tägliche Überleben Dialog von ca. 50 Seiten • Krankheiten, Symptome und gesundheitliche Belastungen Wechsel von Bericht • Geldsorgen und Argumentation, • Unzufriedenheit mit ihrer Lebenssituation kurze Erzählansätze • Wut auf die westliche Gesellschaft

Quelle: eigene Darstellung

Nach dem Geburtsdatum benennt Carola Bandelow die Größe ihrer Familie mit 8 Personen und beteuert, dass ihr Leben als Kind mit Kinderkrippe, Kindergarten und Schule ganz normal verlaufen sei. Es folgen im Kurzbericht die Ausbildung zur Kellnerin, das erste Kind, die Tätigkeit als Lehrfacharbeiterin, das zweite Kind, der Ausstieg aus der Gastronomie, das dritte Kind, die Arbeit als Küchenhilfe in der LPG und die Wende, in deren Folge sie auf dem Feld arbeiten musste, ehe sie schließlich zum ersten Mal arbeitslos wurde. Ab diesem Zeitpunkt berichtet sie dann noch knapper, stichwortartig verdichtet und in fragmentarischen Formulierungen: ‚‚ Sie präsentiert uns einen diskontinuierlichen Erwerbsverlauf (eine sogenannte Maßnahmekarriere) mit mehreren Umschulungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Zeiten der Erwerbslosigkeit. ‚‚ Sie berichtet von ihrer Trennung, vom Auszug in eine eigene Wohnung und schließlich von ihrer Scheidung, also von Einschnitten im Familienverlauf. ‚‚ Sie argumentiert zu ihrem Krankheitsverlauf von mehr als 3 Jahren und ihrem Kampf um Rente als Versuch der Bewältigung massiver gesundheitlicher Probleme, die auch mit Existenzängsten und Panikattacken einhergehen und sie in dieser Gesellschaft nicht zur Ruhe kommen lassen. Mit der Metapher, dass „ihr täglicher Ablauf“ ein ständiger Kampf ums Überleben sei und der Formulierung: „(1) Ja, so ist das bei mir (7)“ (CB 2/18), die von zwei Sprechpausen gerahmt wird, beendet Carola Bandelow ihre autonom gestaltete Eingangspräsentation.

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Dabei fällt sofort ins Auge, dass es eine aufsteigende und eine abwärts führende Entwicklung gibt, die sich auf den ersten Blick an der Zäsur der Wende in den Jahren 1989/90 und der mit der Liquidation der LPG verbundenen Arbeitslosigkeit festmachen lassen. Den weiteren Verlauf des Gesprächs und das mehr als 50 Seiten umfassende Transkript dominieren Argumentationen und sehr kurze Belegerzählungen zum Themenfeld Krankheit, Symptome und Befindlichkeiten, die sie ganz unmittelbar mit den neuen, von ihr nicht gewollten gesellschaftlichen Verhältnissen in Verbindung bringt. Was für eine gelebte Lebensgeschichte verbirgt sich hinter diesem erzählten Leben, das in den Augen der Biografin mit einer ganz normalen Kindheit77 beginnt? Berufs- und familienbiografische Entwicklungspfade Carola Bandelow wird 1962 als fünftes von sechs Kindern in Ostvorpommern geboren. Damit wächst sie in einer sogenannten kinderreichen Familie auf, die jedoch im ländlichen Raum Nordostdeutschlands der 1950er- und 1960er-Jahre durchaus nicht als ungewöhnlich gilt. Einzig ihre Position in der Geschwisterfolge als fünftes von sechs Kindern könnte ihre Entwicklungschancen de facto einschränken, da sie nicht die elterliche Aufmerksamkeit eines erstgeborenen oder jüngsten Kindes erwarten konnte, sie sich möglicherweise stärker in das bestehende familiale System einzuordnen hatte. Ihr Vater (1933–ca. 1996; an Krebs gestorben) arbeitete als Traktorist in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft des Dorfes und ihre Mutter (1935 geboren) übt über die Jahre die unterschiedlichsten – vermutlich wie für diese Generation von Frauen üblich, allesamt un- und angelernte – Tätigkeiten (Pflegeschwester im Altenheim, Küchenhilfe, Erzieherin, Reinigungskraft und Aufsicht auf dem Schulhof ) aus. Die biografische Ausgangssituation stellt sich für Carola Bandelow damit nicht als besonders privilegiert, aber auch nicht besonders depriviert dar. Die 1960er- und 1970er-Jahre gelten in der Retrospektive als Jahrzehnte relativer Prosperität für die sich entwickelnde sozialistische Gesellschaft in der DDR. Die Lebensbedingungen und das Konsumniveau (Manz 1992) hatten sich konsolidiert; gravierende Unterschiede der Lebensbedingungen in den Städten und den ländlichen Regionen wurden sukzessive abgebaut. Auch Carola Bandelows Bildungschancen als Tochter eines Genossenschaftsbauern und einer Arbeiterin waren als nicht schlecht einzuschätzen. Sie besucht die Kinderkrippe und den Kindergarten, ehe sie im Jahre 1968 eingeschult wird. Noch vor dem Abschluss der zehnjährigen, allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule wird sie schwanger und bekommt im Alter von 16 Jahren, unmittelbar nach den Abschlussprüfungen, ihre erste Tochter. Sie arbeitet zunächst einige Monate als ungelernte Servierkraft und beginnt 77 Carola Bandelow: „JA und dann verlief mein Leben soo als Kind normal“ (CB 2/15).

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1979 eine zweijährige Lehre als Kellnerin, schließt diese mit Erfolg ab und wird Lehrfacharbeiterin. 1980 heiratet sie den Vater ihres Kindes. 1983 kommen das zweite Kind, ebenfalls ein Mädchen, und 1987 ein Junge als drittes Kind der Familie zur Welt. Offensichtlich gab es zu den individuellen Ressourcen, die Carola Bandelow der Bewältigung schwieriger biografischer Situationen ermöglichten, auch ein familiales Unterstützungsnetzwerk im Hintergrund sowie ein gesellschaftliches Klima der weitgehenden gesellschaftlichen Akzeptanz sehr junger Mütter. Die in ihren Grundzügen pronatalistische Sozialpolitik unterstützte junge Frauen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf insofern, dass Carola Bandelow zunächst auch in der Lage war, zusätzliche Qualifikationsanforderungen – eben eine Weiterbildung zum Lehrfacharbeiter – anzunehmen. Die drei in kurzen Abständen hintereinander geborenen Kinder der Bandelows wuchsen zunächst ohne erkennbare Probleme auf. Nach der Geburt des zweiten und dritten Kindes und den einjährigen Babypausen arbeitete sie nicht mehr in ihrem erlernten Beruf, sondern in un- oder angelernten Tätigkeiten, so als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen, als Küchenhilfe und – nach der Abwicklung der LPG im Jahre 1991 – schließlich als Feldarbeiterin, ehe sie 1992 zum ersten Mal arbeitslos wurde. Während sie ihre beruflichen Erwartungen nach den Geburten – auch für DDRFrauen biografisch gesehen durchaus rational – den familialen Erfordernissen anpasste, absolvierte ihr Mann eine Meisterausbildung. Nach der Reprivatisierung der LPG im Jahre 1990 hatte er gemeinsam mit zwei Freunden eine kleine Firma für Inneneinrichtungen gegründet, die jedoch nach kurzer Zeit in Liquiditätsschwierigkeiten geriet, sodass keine Löhne ausbezahlt werden konnten und die Familie kurzzeitig auf Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) angewiesen war. Es kam schließlich zu Konflikten in der Partnerschaft, in deren Verlauf auch thematisch wird, dass sich Carola Bandelow ja nicht beruflich weiterentwickelt hätte und dass ihr Mann sie als seine Frau nicht wertschätzen, akzeptieren oder gar als begehrenswerte Sexualpartnerin ansehen würde. Die Partnerschaftsprobleme spitzten sich zu, als die ältere Tochter im Jahre 1992 an ihrem 14. Geburtstag infolge eines Reitunfalls im Krankenhaus starb. Den schmerzlichen Verlust der Tochter erwähnt Carola Bandelow in ihrer biografischen Eingangspräsentation, die – wie bereits erwähnt – nur knapp zwei Seiten lang ist, nicht. Erst viel später und zwar ganz am Ende des Interviews – auf Seite 53 – vermag sie es auszusprechen: Bin ja auch seelisch total am Ende seit dem Tod der Tochter also da bin ig ja- (1) na ja da is mein Vater dann auch noch gestorben an Krebs und dat hat mich och mal wieder runter- (3) ja so kam dann eins zum anderen und man quält sich damit rum [...] (CB 53/32–34).

In der Terminologie der Soziologie ausgedrückt, hatte sich zu Beginn der 90er-Jahre neben dem sukzessive angehäuften Verlaufskurvenpotenzial des Erwerbsverlaufs auch im Familienverlauf so viel Konfliktpotenzial aufgeschichtet, dass es mit dem Tod der Tochter an deren

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14. Geburtstag zu einem „Zusammenbruch der Alltagsorganisation und der Selbstorientierung“ hätte kommen können; zu eben jener anomischen Situation, die Schütze als Verlaufskurve des Erleidens bezeichnen würde (1995, S. 130). Dies geschah zunächst jedoch nicht; jedenfalls nicht sofort. Vielmehr brach seit dem Tod ihrer ältesten Tochter, die sie so früh bekommen hatte und die ja in gewisser Weise auch ihren doppelten Lebenserfolg in Beruf und Familie symbolisierte, Carola Bandelows bisheriges Orientierungssystem Stück für Stück zusammen. Nach einer weiteren Zuspitzung der partnerschaftlichen Konflikte gelingt es ihr im Jahre 1994 (die Scheidung erfolgte erst im Jahre 2002), sich von ihrem Ehemann zu lösen und mithilfe von Arbeitskollegen in eine eigene kleine Wohnung in einem Ostseebad zu ziehen. Wie fragil ihr gesamtes Dasein inzwischen geworden ist, zeigt sich auch darin, dass sie sich nicht nur von ihrem Mann, sondern auch von ihren beiden jüngeren Kindern trennt. Diese Trennung stellt sie als einen problemlosen Vorgang dar, den sie ihren beiden Kindern scheinbar pragmatisch damit erklärt, dass sie es ihnen bei ihrem Vater und seiner neuen Partnerin besser gehen würde, als wenn sie mit ihr in einem Haushalt wohnen würden. Eine solche Trennung von den beiden Kindern muss auch vor dem Hintergrund der kulturellen Muster einer sozialistischen Gesellschaft als ungewöhnlich angesehen werden. Allein die Einschätzung ihrer eigenen Lebenssituation (und gesundheitlichen Lage) als hoffnungslos, desolat und instabil könnte Carola Bandelow dazu bewegt haben, sich von ihren beiden Kindern zu trennen. Tatsächlich kommt Carola Bandelow seit ihrer Krankschreibung am 1. 11. 2004 nicht wieder richtig auf die Beine. Bis zum Zeitpunkt des Interviews am 11. 2. 2006 erlebt sie eine mehr als ein Jahr dauernde Odyssee von Arzt zu Arzt und von Gutachter zu Gutachter, um, wie sie es formuliert, wenigstens für ein paar Jahre eine Rente zu bekommen, um einmal ein wenig zur Ruhe kommen zu können. Am Ende des Interviews spricht Carola Bandelow von ihrer Enkelin, der wenige Monate alten Tochter ihrer Tochter. Auch wenn sie aktuell keinen Kontakt zu ihr habe, so hoffe sie doch, als Großmutter noch gebraucht zu werden, was sie dazu bewege, doch „nicht mehr sterben“ zu wollen (CB 56/24). Carola Bandelows gegenwärtiges Leben als Geschichte des Leidens Gehen wir gedanklich noch einmal zurück: Die in der Biografieforschung strategisch so wichtige Analyse der dreiseitigen Eingangspräsentation der Biografin Carola Bandelow erbrachte eine Mischung aus berichtenden Textsequenzen über ihren Erwerbs- und Familienverlauf sowie aus Argumentationen und eingestreuten Evaluationen über die normale Kindheit, den Abstieg zur Feldarbeiterin und den täglichen Kampf ums Überleben. Bei der Gesamtbetrachtung des Transkriptes entsteht der Eindruck, als hätte die Interviewte in einem ersten Anlauf begonnen, eine Biografie im Normalverlauf zu konstruieren und sich gegen die Themen zu behaup-

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ten, die ihr mit zunehmender Gesprächsdauer immer wieder vorstellig werden. Es scheint, als würde sie genau die lebensgeschichtlichen Leidens-Erfahrungen zurückzuhalten versuchen, die sich ihr aufdrängen und die mit dialogischen Passagen, langen Argumentationen und sehr kurzen Belegerzählungen die Textstruktur von Seite 4 bis 57 prägen. Carola Bandelows Leiden bezieht sich thematisch auf nahezu alle Lebensbereiche: ‚‚ auf materielle Beschränkungen und Geldsorgen, ‚‚ auf massive gesundheitliche Beeinträchtigungen, ‚‚ auf familiale Konflikte und den Verlust der erstgeborenen Tochter, ‚‚ auf ihr Leiden unter den neuen, westlichen und von ihr nicht gewollten gesellschaftlichen Verhältnissen. Immer wieder variiert Carola Bandelow in ihren spontanen Darstellungen die thematischen Verknüpfungen der unterschiedlichen Lebens- und Leidensbereiche – so die Verbindung von gesellschaftlicher Entwicklung, Armut und Krankheit – in Gestalt von Globalevaluationen78, die wir dann feinanalytisch bearbeitet haben: Also so wie ig mich jetzt fühle bin ig äh-, ig mein die Zeit zu Ostzeiten ist viel besser gewesen wie jetzt, also auf dem Standpunkt stehe ig und werd ig auch immer stehen. Ich bin so traurig, dat diese Wende vollzogen wurde (1) und äh auch wütend (4), sehr wütend darüber dass das so gekommen ist. Also vor der Wende ging’s mir super. (2) Da hat ig Arbeit im Ort, (1) endlich mal nach Jahren, sonst immer Moped gefahren. (CB 28/ 1–5)

Sehen wir uns diese Textpassage genau an, so stellt uns Carola Bandelow die von ihr wahrgenommene, eigene und persönliche emotionale Situation dar. Das sind Trauer und Wut, die sie gegenwärtig (noch) fühlt und die sie auf die gesellschaftlichen Veränderungen – die Wende von 1989 – bezieht. Von dieser Wende, die vollzogen wurde, genauer: die andere vollzogen haben oder die offenbar einfach so gekommen ist, distanziert sie sich. Sie hat daran nicht mitgewirkt, hat sie nicht einmal irgendwie erlebt oder erfahren und ist deshalb auch nicht mit „verantwortlich“. Die Wende ist für sie ein nicht näher beschreibbares DAS, das so gekommen ist. Im Kontrast zur Gegenwart ging es ihr vor der Wende nicht nur gut, sondern es ging ihr super. Sie entlehnt einen typischen Begriff aus der Umgangssprache und dem medialen Diskurs des Westens und zögert nicht, uns und der Interviewerin diese Zeit als das Non-PlusUltra (eine Art paradiesischen Zustand) vorzuführen, obgleich sie weiß, dass sie damit gegen die kommunikativen Konventionen der bundesrepublikanischen Gesellschaft und gegen die 78 Globalevaluationen sind argumentative Texte, die in der Regel die biografische Gesamtsicht einer Person, oder anders formuliert, die Bilanzierung der lebensgeschichtlichen Erfahrungen (Lebensleistung) in sehr kondensierter Form enthalten.

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dominante Lesart zu Wende und Wiedervereinigung verstößt, sich damit als Außenseiterin positioniert. Super ging es ihr nicht etwa, weil die Gesellschaft so gut funktionierte, sie in einer glücklichen Familie lebte, sie reich oder gesund war, sondern weil sie Arbeit am Ort hatte. Aus mehreren Themen und Lebensbereichen wählt sie den der Arbeit aus, um ihre damalige komfortable Lebenssituation zu begründen. Nicht eine gute oder interessante Arbeit, eine gut bezahlte oder hoch qualifizierte, sondern die nah liegende, schnell erreichbare, im Ort angebotene und verfügbare Arbeit. Nach Jahren hatte sie nicht ein Qualifika­tionsziel erreicht oder sich einen Lebenstraum erfüllt, sondern ist ihr etwas gelungen, das für die DDR-Gesellschaft normal und üblich war. Sie hatte eine Arbeit am Ort gefunden.79 Das erscheint in einem Land, in dem es allen Ortes Arbeitskräftemangel gab, Arbeitsplätze gut verfügbar waren (wenngleich das nicht für ExpertInnenqualifikationen und hoch qualifizierte Tätigkeiten galt), mehr als paradox. Ein paar Augenblicke später im Interview schreibt Carola Bandelow der DDR-Gesellschaft nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern gerade die Konsummöglichkeiten zu, die die Mehrheit ihrer Bürger in ihr vermisst hatte. „[...] die [ARBEIT] war zwar stressig aber ig war ruhiger in dem Moment ig konnte mir-, ig wusste, dat kannst du sparen jeden Monat“ (CB 28/13–14). „Wenn du dann mal ein Auto dir kaufen willst oder, oder mal schöne Sachen oder ne Couch oder Anbaureihe. Und ig hatte nen sicheren Arbeitsplatz, also ig konnte jetzt krank sein ohne Ängste“ (CB 28/16–18).

Interpretieren wie diese verdichteten Textpassagen im Gesamtzusammenhang des Interviews, so ergibt sich folgende Hypothese zu dieser Paradoxie: Die Analyse der Struktur der Eingangspräsentation zeigt, dass Carola Bandelow uns ihr Leben nach scheinbarer Normalität bis zur ersten Schwangerschaft (mit 16 Jahren) als einen schnellen Wechsel von verschiedenen Tätigkeiten, Geburten und Babypausen darstellt. Offenbar ergeben sich nach Inanspruchnahme der sozialpolitischen Maßnahmen (bezahlte Freistellung zur Betreuung der Kinder von einem Jahr) immer wieder Optionen für Erwerbstätigkeiten der verschiedensten Art, die jedoch nicht als planvoll gestalteter Berufsverlauf bezeichnet werden können, sondern vielmehr als Gelegenheitstätigkeiten erscheinen: Kellnerin gelernt und Lehrfach­ arbeiterin geworden, Verkäuferin gemacht, in Küche angefangen und schließlich als Küchenhilfe

79 Die Praxis, den Arbeitsplatz trotz Einkommens- und Statusverluste, aber zugunsten familiärer Verpflichtungen möglichst nah an den Wohnort „heranzuziehen“, war bei Frauen – nicht nur auf der Ebene der Facharbeiterinnenqualifikationen – in der DDR weit verbreitet. Ein eher nivelliertes Einkommensgefüge und sinkendes Statusbewusstsein in der Gesellschaft überhaupt beförderte dies neben der leichten Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen.

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gearbeitet, am Ende in Agrar GmbH gelandet (vgl. CB 2/15–29). Die Zwischenstation in der Abwärtsspirale, als es ihr gelungen war, eine Arbeit als Küchenhilfe an ihrem Wohnort zu bekommen, stellt sie uns am Ende des Interviews als einen großen Erfolg dar, als die Zeit, in der es ihr super ging. Sukzessive­„Statusverluste“, die Abwärtsentwicklung von ihrem erlernten Beruf mit Zusatzqualifikation hin zu den jeweils verfügbaren Jederfrautätigkeiten mit (für uns Außenstehende) deutlich sichtbaren Statuseinbußen nimmt sie zunächst nicht als solche wahr, realisiert sie erst, als sie auf dem Feld arbeiten musste. In der Retrospektive muss ihr diese Zeit als glückliche erscheinen, da auf diese kurze Zeit der Konsolidierung die „Unbilden“ der Wende folgten. Wenig später im Interview rundet Carola Bandelow das Thema mit einer verdichteten, sich von der gegenwärtigen Gesellschaft deutlich distanzierenden Sequenz ab: „Ig hab nen Recht auf gesund zu werden und dat halt ig ein und dat möchte ig auch. Ich möchte gesund sein. Mal wieder richtig klar denken können ohne äh, äh wieder überlegen zu müssen ach Gott da musste ja wieder sparen, da kannst ja gar nicht und dat, dat is nicht möglich in dieser Gesellschaft, also für mich nicht.“ (CB 53/20–23).

Obgleich diese Zusammenhänge evident sind, verfügen wir in unserem Sample der Interviews mit mehr als 30 Frauen und Männern über kein anderes, in dem Gesundsein, Armut und sozialer Wandel so offensiv thematisch miteinander verknüpft werden. Carola Bandelow konfrontiert die Interviewerin während des Gesprächs immer wieder mit Darstellungen ihres Leidens an einer Fülle von Symptomatiken, von denen sie seit 1990 betroffen ist: Blutungen, Unterleibschmerzen; Ausschabung; Gebärmutteroperation; nicht zur Ruhe kommen können; depressive Erschöpfung; Stress; Ängste; Schlaflosigkeit; Angst davor, mit Menschen zusammenzukommen; Bluthochdruck; alles zu anstrengend; ermüdend; ausgelaugt; Atemnot; Asthma bronchiale; Inkontinenz; Schmerzen im Bauchraum; Angst vor Krebs; Angst vor einem Herzinfarkt; alles steif auf der einen Seite; Tinnitus; Hörsturz; chronisch krank; Gelenkschmerzen.

Konsistent dazu erscheint, dass sie keine einzige Episode von Krankheit erzählt, die lebensgeschichtlich in die Zeit der DDR-Gesellschaft einzuordnen gewesen wäre. Obwohl sie in der untergegangenen Gesellschaft also hätte krank sein dürfen und sie als junge Frau durchaus krisenhafte Lebenssituationen zu bewältigen hatte, ist sie offenbar nicht krank geworden oder spricht im Interview zumindest nicht über diese Krankheitserfahrungen. Insgesamt treffen in der Fallgeschichte von Carola Bandelow berufsbiografische Orientierungen und familiale Muster so aufeinander, dass sie sich in einer Zeit historischer Brüche strukturell nachteilig bündeln und von der Biografin als Merkmale der neuen, nicht gewollten politischen Ordnung interpretiert werden und jedenfalls nicht zu einer Verbesserung der eigenen Lebenssitu-

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ation genutzt werden können, sondern als stetige Verschlechterung, als Diskriminierung und schließlich als Exklusion erlebt werden. Die gelebte Lebensgeschichte Carola Bandelows changiert zwischen dem mühsamen Ringen um biografische Handlungsfähigkeit, dem immer wieder drohenden Abrutschen in eine verlaufskurvenförmige Entwicklung sowie dem Beharren auf den Resten von Handlungsautonomie, sofern es um die Selbstbestimmung über ihren Körper geht. Die erzählte Lebensgeschichte strukturiert sich in Form einer knapp berichtenden Eingangspassage eines erfolgreichen Normalverlaufs, der schnell kippt und als Abwärtsspirale Fahrt aufnimmt, um dann in einen, das Gespräch dominierenden, argumentativ gehaltenen Teil der Leidenserfahrung mit einer hohen strukturellen Konsistenz und biografischen Kohärenz zu münden. In der Retrospektive muss sie uns die Zeit in der DDR als glückliche darstellen, während ihr für die Jahre nach der Wende und dem Tod der Tochter, die sich uns in der Fallrekonstruktion als verlaufskurvenförmiger Zusammenbruch ihrer biografischen Orientierung und Handlungsfähigkeit darstellt, noch immer schlüssige Interpretationsmuster fehlen.

4 Facetten von Armut in fallvergleichender Perspektive F­ azit – erster Fallvergleich und Ansatzpunkte für ­w eiterführende Analysen Um die Facetten von Armut bei Frauen, die in ländlichen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns leben, rekonstruieren zu können, haben wir bei den vertiefenden Analysen verschiedene Analyseverfahren genutzt, die in der fallrekonstruktiven Biografie- und Familienforschung weit verbreitet sind, in der Armutsforschung jedoch nicht so üblich (oder allgemein akzeptiert oder anerkannt). Wir haben mit Genogrammen gearbeitet (Hildenbrand 1999b, Hildenbrand 2005), (familien-)biografische Daten interpretiert und unterschiedliche Verfahren zur Textanalyse (Rosenthal 1995) genutzt. Nehmen wir die theoretischen Grundprinzipien der rekonstruktiv verfahrenden qualitativen Sozialforschung (Hildenbrand 1991, Kelle; Kluge 2010, Rosenthal 2005c) oder der Grounded Theory (Strauss 1991) ernst, so ist es für die Theoriebildung entscheidend, die sich im empirischen Material darbietenden Unterschiede und Ähnlichkeiten, Themen und Verlaufsformen, Handlungsmuster und Strukturen aufzunehmen. Die aus dem Datenmaterial heraus entwickelten Hypothesen bilden in Verbindung mit bereits existierenden ­theoretischen Konzepten den Ausgangspunkt für die Generierung neuer, empirisch gestützter, theoretischer Aussagen. Solche aus dem Material heraus formulierte Aussagen unter-

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scheiden sich erfahrungsgemäß sehr deutlich von den theoretischen Vorannahmen, 80 die wir in der wissenschaftlichen Literatur finden und im Vorfeld der fallrekonstruktiven Analysen hätten formulieren können. Naheliegend für einen ersten Fallvergleich ist es an dieser Stelle, das biografische Präsentationsinteresse der Interviewten, die individuellen Präsentationsweisen der drei Frauen aufzunehmen und sie in ihren individuellen Besonderheiten ernst zu nehmen. Indem wir versucht haben, die Gesamtgestalt der gelebten und erzählten Lebensgeschichte von Angelika Klein, Karin Groß und Carola Bandelow zu rekonstruieren, haben wir eine wichtige Voraussetzung dafür erfüllt. Wir wissen nach diesen fallrekonstruktiven Analysen, welche biografischen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Orientierungsmuster die Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsperspektive – also die Lebensgeschichten – der drei Interviewten prägen. Das sind allesamt Muster, die nicht an der Oberfläche des Datenmaterials liegen und die es uns ausgehend von den drei Fällen ermöglichen, die individuellen lebensgeschichtlichen Erfahrungen armer Frauen und Familien im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung als Teil der Gesellschaftsgeschichte, zu sehen (Fischer-Rosenthal; Rosenthal 1997, Rosenthal 2005b). Aus einem ersten Vergleich der fallrekonstruktiven Analysen ergeben sich an dieser Stelle folgende Befunde: 1. Aus der Darstellung der Herkunftsfamilien und Sozialisationsbedingungen der drei Frauen, deren Lebensgeschichten im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen, wird deutlich, dass unsere Vorstellungen vom Armutsgeschehen im ländlichen Raum Ostvorpommerns viel zu homogen und zu vereinfacht waren, sich mannigfaltiger, diffuser und widersprüchlicher darbieten, als von uns angenommen. 2. In allen drei rekonstruierten Fallgeschichten erweisen sich die Bedrohung von Armut, die Prekarisierung der Lebensverhältnisse und die Verarmung lebensgeschichtlich verankert und entfalten sich als langfristiger sozialer Prozess, nicht als vorübergehende Lebensphase oder Statuspassage. 3. Auch wenn bei den drei Frauen jeweils Defizite in der Schulbildung und beruflichen Qualifikation und/oder individuelle Dispositionen die Entstehung von Armut beförderten, kann Armutsentwicklung nicht in erster Linie als individuelles oder familiales Geschehen begriffen werden. Prekarisierung und Verarmung müssen im Kontext gesellschaftlicher Gelegenheitsstrukturen (der Wende, des Transformationsprozesses und der neu etablierten politischen und ökonomischen Bedingungen) verstanden werden, die die 80 Implizit leiten solche nicht im empirischen Material gründenden theoretischen Vorannahmen unser Forschungshandeln immer. In der qualitativen Forschung wird nach Wegen gesucht, sich diese Vorannahmen (auch Vorurteile) reflexiv bewusst zu machen.

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Entstehung von Armutslagen erst möglichen, sich als Formen der Lebensführung stabilisieren und zu lang anhaltender Armut verfestigen. 4. In allen drei rekonstruierten Fällen wird Armut von den Frauen individuell verschieden wahrgenommen und unterschiedlich thematisiert und vor allem in ihrem Konnex zu verschiedensten Lebensbereichen. Gesundheit/Krankheit und soziale Anerkennung/ Stigmatisierung/Exklusion sowie familiale Beziehungen/Beziehungen zu anderen sozialen Gruppen und zum Gemeinwesen werden in den drei untersuchten Fallgeschichten in unterschiedliche Figurationen mit Armut verknüpft. 5. Armut von Frauen und Familien in ländlichen, strukturschwachen Regionen begegnet uns in ihren Lebensgeschichten als Bodenständigkeit, aber auch als Un-Beweglichkeit, als Fortwollen, aber nicht können, als Hierbleiben-Müssen oder Wieder-Zurückkommen und für die Generation der Eltern und Großeltern der Interviewten als Flucht und Vertreibung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 6. Insgesamt zeigt fallrekonstruktiv verfahrende Armutsforschung, dass Armutsbekämpfung im konventionellen Sinne an den Bedürfnissen armer Familien vorbeigeht und wo sie als nachhaltige, regionale Bildungs- und Sozialpolitik ansetzen müsste. Wie die drei nordostdeutschen Frauen und ihre Familien ausgehend von diesen fallspezifischen Ergebnissen – den biografischen Ausgangskonstellationen, den berufs- und familienbiografischen Entwicklungspfaden und ihrem biografischen Präsentationsinteresse – Armut wahrnehmen und im Interview thematisieren, wird das nächste Kapitel vertiefend, d.h. dann in fallübergreifender Perspektive untersuchen.

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Armut nach gesetzlicher Lesart – ländliches Prekariat – ­Unterschicht*? Zur Wahrnehmung von Armut und zur sozialen Konstruktion der/des Armen in der ostdeutschen Gesellschaft Simone Kreher und Katharina Matthäus Zusammenfassung: Nach der Rekonstruktion der drei Lebensgeschichten wird in diesem Kapitel gezeigt, inwiefern Armutsentwicklung und Prekarisierung der Lebensführung in Ostvorpommern mit der Selbstwahrnehmung und Deutung der befragten Frauen und ihrer Familien als Arme oder Nichtarme verbunden sind. Dazu werden zum einen Materialien herangezogen, in denen die Interviewpartnerinnen dezidiert und direktiv nach ihrer Armutsbetroffenheit gefragt werden und zum anderen autonome Darstellungen der Interviewten zur Armutsthematik analysiert, die nicht durch Interventionen der Interviewerin evoziert wurden. Beide Analysepfade vermitteln uns theoretische Einsichten darüber, wie es zur Konstruktion einer Klasse der Armen in der ostdeutschen Gesellschaft kommt. Sequenzielle Textanalysen über die Wahrnehmungen von Armut durch ostdeutsche Frauen und ihre Selbstpositionierung im Ungleichheitsgefüge der deutsch-deutschen Gesellschaft erlauben es auch, die hinter den manifesten Textgehalten liegenden Bedeutungen des Gesagten zu erschließen, sie fallvergleichend und fallübergreifend im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen zu interpretieren. Schlüsselwörter: Wahrnehmung und Thematisierung von Armut, Selbstbeschreibung als arm/nicht arm, sequen­ zielle Textanalysen, Fallvergleich





Mit der Überschrift soll keine Explikation oder Diskussion der genannten Begriffe eröffnet werden, sondern darauf verwiesen werden, in welchen Konturen sich das Forschungsfeld denken lässt, in das der Text einzuordnen ist. Mit „Armut nach gesetzlicher Lesart“ wird ein Terminus von Irene Becker inklusive seines kritischen Impetus aufgegriffen (2007). Zu den anderen Begriffen siehe insbesondere Bude; Willisch 2008b, Lindner; Musner 2008.

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1 Wahrnehmung und Thematisierung von Armut als Topoi der qualitativen Armutsforschung Um Armut in ihrer Komplexität, d. h. in ihren historischen, gesellschaftsgeschichtlichen Dimensionen zu verstehen, das wurde in den vorherigen Kapiteln mehrfach betont, reicht es heute längst nicht mehr aus, zentrale Indikatoren zu Einkommensentwicklung und Lebenslage im Querschnitt zu analysieren oder die Dauer von Sozialhilfeverläufen bzw. die Ursachen des Alg-II-Leistungsbezugs zu untersuchen. Auch aus der Rekonstruktion von Biografien und Familiengeschichten können wir die Bedrohung von Armut, Ursachen ihrer Entstehung und Muster ihrer Tradierung herausarbeiten, die uns mit standardisierten Verfahren der Armutsforschung verborgen bleiben würden. So hat die Rekonstruktion der drei Lebensgeschichten von Frauen im vorangegangenen Kapitel einerseits gezeigt, dass Prozesse des Verarmens ausgehend von familialen Konstellationen und biografischen Entscheidungen begriffen werden müssen. Andererseits sind sowohl biografische Entscheidungsmöglichkeiten, familiale Kons­ tellationen und gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen eingebettet in die ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen einer Gesellschaft, sodass Armut erst im Kontext der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zu verstehen ist. Zu den im letzten Kapitel verfolgten Analysepfaden kommt in diesem noch ein weiterer hinzu: der der Selbst- und Fremdbeschreibung der „Armen“ in modernen Gesellschaften, die zur Konstitution einer mehr oder weniger einheitlichen Kategorie der „Armen“ führt (vgl. Neckel in diesem Band und Neckel 2008). Subjektive Wahrnehmungen in Gestalt biografischer Selbstbeschreibungen und in Gestalt von Fremdbeschreibungen als Zuschreibungen von anderen, die in den gesellschaftlichen Diskursen auf den unterschiedlichen Ebenen (als individuelle, kollektive und mehr oder weniger global wirksame Klassifikationen) und in den verschiedenen Sphären (mediale und wissenschaftliche sowie alltagsweltliche Diskurse) figurieren, eröffnen uns eine weitere Tiefendimension zum Verständnis von Armut in unserer Gesellschaft. Das gegenseitige Kommunizieren dessen, was als arm gilt, und die Umgangsweise einer Gesellschaft, insbesondere der Experten der Armenverwaltung mit ihrer Klientel, aber auch der „Armen“ untereinander und nicht zuletzt soziologische Klassifikationen konstituieren die Sozialkategorie, die Gruppe erst, die schon Georg Simmel (1995) als Klasse der Armen bezeichnet hat. Im nun folgenden Text wird gezeigt werden, inwiefern Armut und Prekarisierung der Lebensführung in Ostvorpommern mit der Selbstwahrnehmung und Deutung der befragten Frauen und ihrer Familien verbunden sind. Über solche Selbstwahrnehmungs-, Deutungsund Interpretationsprozesse (die nicht nur als individuelle zu verstehen sind) können wir untersuchen, wie der soziale Konstruktionsprozess von Armut, des/der Armen in unserer Gesellschaft vonstattengeht.

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Deshalb rücken in diesem Kapitel über Rekonstruktion der Einzelfälle hinausgehend fall­ vergleichende und fallübergreifende Forschungsfragen ins Blickfeld, die im Grundtenor zwar bereits bei Projektbeginn im Raum standen, die jedoch erst im Verlaufe der Auswertungsarbeiten ausformuliert werden konnten:81 1. Wie thematisieren die befragten Frauen aus Ostvorpommern Armut? 2. Können wir vermittels der Thematisierungen erfahren, wie ostdeutsche Frauen im ländlichen Raum den Armen/die Arme sozial konstruieren? 3. Sind diese Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen von Armut als individuelle Deu­ tungsmuster zu begreifen oder müssen sie vielmehr in enger Wechselwirkung zu den gesellschaftlichen Diskursen über Armut und Prekarität (in Feuilletons, in der Sozialpolitik oder der breiteren Öffentlichkeit) gesehen werden? 4. Kann aus den qualitativen Materialien der Interviews, die sprachliche Darstellungen zur Praxis und den Praktiken der alltäglichen Lebensführung enthalten, mehr oder Neues über ländliche Armut herausgefunden werden? Ist ländliche Armut in Ostvorpommern – wie mitunter behauptet – mit einer besonderen Form der stationären Lebensführung verbunden? 5. Welche Bezüge werden von den befragten Frauen ausgehend von ihrer Wahrnehmung von Armut zu anderen Lebensbereichen und/oder biografisch relevanten Themen hergestellt? Inwiefern und wie verorten sie sich mit ihren Armutserfahrungen in den länd­ lichen Gemeinden, in denen sie leben, in der Region, die einen Strukturwandel ohnegleichen erfahren hat oder im Transformationsprozess der ostdeutschen Gesellschaft?

2 Vorgehen beim Fallvergleich: theoretische und methodologische Ausgangspositionen für die text­a nalytischen ­A rbeiten Die im Folgenden präsentierten fallvergleichenden und fallübergreifenden Befunde schließen an die fallspezifischen Analysearbeiten des vorangegangenen Kapitels82 an und beantworten 81 Eine solche Präzisierung, Reformulierung und weitere Ausarbeitung der Forschungsfragen gilt in der qualitativen Sozialforschung nicht als Mangel, sondern als Qualitätsausweis, da sich hierin auch der Versuch dokumentiert, das empirische Material ernst zu nehmen und Fragen oder Themen, die sich aus der Arbeit am Material ergeben, für die Theoriebildung fruchtbar zu machen. Damit unsere Interpretationsergebnisse für unsere Leserinnen und Leser deutlicher werden und nachvollziehbar bleiben, werden für die Darstellung hier bestimmte Aspekte besonders hervorgehoben, ohne sie vom Gesamtkontext des Falles loszulösen. 82 Die Auswertungsschritte, die bei biografischen Fallrekonstruktionen realisiert werden, finden sich in

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die oben formulierten Forschungsfragen auf der Grundlage von vertiefenden Analyse- und Interpretationsarbeiten am empirischen Material, an den Interviewtranskripten, familienbiografischen Daten und Genogrammen. Diese Analysen folgen den Ansätzen der Biografie- und fallrekonstruktiven Familienforschung, wie sie unter anderem von Wolfram Fischer (Fischer-Rosenthal 1990, Fischer-Rosenthal; Rosenthal 1997), Gabriele Rosenthal (Rosenthal 1995, Rosenthal 2005b) oder Bruno Hildenbrand (Hildenbrand 1999, Hildenbrand 2005) ausgearbeitet worden sind. Auch wenn die einzelnen Arbeitsschritte und Verfahrensweisen im Kapitel selbst nicht detailliert ausgeführt werden können, sollen den Leserinnen und Lesern Hinweise zum forschungsmethodischen Grundverständnis und zum forschungspraktischen Handeln gegeben werden. 1. Offenheit und Empathie, das Verbot der Gestaltzerstörung und Gebot der Rekonstruktion der Gesamtgestalt einer Biografie oder Familiengeschichte leiteten das Denken und Handeln im gesamten Interpretationsprozess. 2. Das Prinzip der Sequenzialität wurde sowohl bei der Analyse biografischer und familienbiografischer Daten als auch bei den verschiedenen Formen der Textanalyse realisiert. 3. Die biografischen Erlebnisse und ausgewählten Textpassagen wurden zunächst dekontextualisiert, dann mit sequenziellen Analysetechniken bearbeitet und wieder rekontextualiert, d.h. in den Gesamtzusammenhang des Materials rückgebettet und schließlich in Bezug auf unsere Forschungsinteressen interpretiert. 4. Dabei wurde davon ausgegangen, dass die Schemata der Sachverhaltsdarstellungen (Kallmeyer; Schütze 1976) im Interview und die Struktur der lebensgeschichtlichen Erfahrungen in einem Zusammenhang stehen, sodass die formale und inhaltliche Textstruktur zunächst für sich untersucht wurde und dann ihre Einbettung in die Familiengeschichte als gelebte Gesellschaftsgeschichte erfolgte. 5. Fallvergleichend und fallübergreifend zu denken bedeutete, gedankenexperimentell die Beziehungen oder Interaktionen zwischen den Fällen herauszuarbeiten, die Fälle in ihrer Situiertheit im Feld zu beschreiben, um so ihre gegenseitige Konstitution im gedachten Feld für die Theorieentwicklung (beispielsweise eine Theorie der Wahrnehmung und Thematisierung von Armut) fruchtbar zu machen. 6. Die biografischen Fallrekonstruktionen im vorangegangenen Kapitel bilden eine Voraussetzung für die vertiefenden, fallvergleichenden Analysen; die getrennte Darstellung in zwei verschiedenen Kapiteln ist hier eine Konzession an die Struktur eines Sammelbandes. verschiedenen Publikationen von Gabriele Rosenthal dargestellt (vgl. 2005a, S. 173–194; vgl. auch Kap. 6; S. 6).

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Unsere Arbeit an den empirischen Materialien unterscheidet sich insofern von den Ansätzen, auf die bereits mehrfach als unmittelbare Vorgängerprojekte Bezug genommen wurde (Ludwig 1996, Olk; Mädje; Mierendorff, et al. 2004), als wir versucht haben, die Grundprinzipien der interpretativen Sozialforschung auch bei den fallübergreifenden Analysen nicht zugunsten eines subsumtionslogischen Vorgehens83 aufzugeben. Sowohl die Bremer Forscherinnen als auch die Hallenser sind bei ihren qualitativen Projektteilen jeweils mit Arbeiten am Fallmaterial gestartet und haben empirisch fundierte Typologien ausgearbeitet, um schließlich bei kategorialen Aussagen zu Verbreitung und Verteilung bestimmter Typen im Sample zu enden.84 Im qualitativen Teil der Bremer Untersuchung werden Einzelfallanalysen, Mehrfallanalysen, eine deskriptive Idealtypenbildung und fallvergleichende Kontrastierung durchgeführt (vgl. Ludwig 1996, S. 99). Insgesamt wurden bei den 31 pragmatisch ausgewählten und den 14 genauer analysierten Fällen 16 Abstiegstypen ausgemacht, zu denen die Langzeitbezieher, die Pendler und die Mehrfachüberbrücker gehören. Die 15 Aufstiegstypen sind Männer oder Frauen, die die Hilfe zum Lebensunterhalt lediglich überbrückend (Überbrücker) oder kurzfristig erhalten und schnell wieder aus der Sozialhilfe herausfinden (Escaper). Die Forscher und Forscherinnen der Hallenser Studie, für die die Bremer dynamische Armutsforschung unmittelbares Referenzprojekt war, gingen von ähnlichen theoretischen Positionen aus und arbeiteten auch mit vergleichbaren Erhebungs- und Analyseverfahren. Sie ermittelten auf der Grundlage einer „idealtypischen Strukturanalyse“ drei Verlaufstypen: Ausstieg aus Sozialhilfe (N = 9), dauerhafte Armut und Pendeln (N = 23) sowie drei Typen des Bewältigungsmusters: Handeln, Erleiden, Indifferenz (vgl. Olk; Mädje; Mierendorff, et al. 2004, S. 154–159). Genau genommen werden in den Ergebniskapiteln beider qualitativer Untersuchungen die Aussagen so formuliert, dass sie eher einer inhaltsanalytisch-deskriptiven oder quantifizierenden Argumentationsweise entsprechen als fallrekonstruktiven Verfahren. 83 „Dies bedeutet, dass den Texten weder mit vorab entwickelten noch mit am Text entwickelten Kategorien begegnet wird. Diese Vorgehensweise wird von Ulrich Oevermann im Unterschied zu einem rekonstruktiven Verfahren als subsumtionslogisch bezeichnet. Bei einem subsumtionslogischen Verfahren werden einzelne Textstellen aus dem Gesamtzusammenhang des Textes herausgenommen und Kategorien zugeordnet. Die Textsegmente werden damit aus dem Sinnzusammenhang ihrer Entstehung herausgelöst und anderen von den ForscherInnen konstruierten Sinnzusammenhängen zugeordnet.“ (Rosenthal 2005b, S. 56) 84 „Das Projekt ,Sozialhilfekarrieren‘ entwickelte ein Regelwerk, dem ein formales Karriereschema zugrunde liegt: Armutskarrieren sind Wege in, durch und aus Sozialhilfe heraus. Das Regelwerk gibt dem schriftlichen Auswertungstext eine einheitliche Gliederung vor. Schriftform und Gliederung sichern Nachvollziehbarkeit (Zuverlässigkeit) und Vergleichbarkeit der Ergebnisse jeder Einzelfallanalyse. Das Regelwerk ist in sechs Kapitel gegliedert“: Falldarstellung, Lebensbereiche, Wege in die, durch die und aus der Sozialhilfe, subjektive Bedeutung, Themen und Biographie (Ludwig 1996, S. 102).

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Die hier vorgelegten vertiefenden Auswertungen der qualitativen Datenbasis zur Armutsentwicklung in Ostvorpommern sind den Prinzipien der interpretativen Sozialforschung stärker gefolgt, als die beiden Referenzprojekte aus Bremen und Halle/Saale dies konnten. Unsere konsequent rekonstruktive Auswertungsstrategie wurde durch die zeitlich und thematisch offene Anlage der Erhebungen als biografisch-narrative oder familiengeschichtliche Interviews erst ermöglicht.85 Das bedeutet, wir sind nicht mit einem bestimmten Set von Hypothesen oder Kategorien an das Material herangegangen, haben Materialteile herausgenommen und sie vom Kontext des Falles abgelöst analysiert. Vielmehr haben wir die von uns in einem gemeinsamen Arbeitsprozess ausgewählten Fälle zuerst unabhängig von unserem Forschungsinteresse rekonstruiert (vgl. vorangegangenes Kapitel in diesem Band). Gabriele Rosenthal folgend haben wir dabei auf zwei Ebenen gearbeitet: auf der Ebene der gelebten Lebensgeschichte und auf der Ebene der erzählten Lebensgeschichte (Rosenthal 1995). Die Hypothesen, die aus diesem Analyseprozess zu den berufs- und familienbiografischen Handlungsmustern (gelebte Lebensgeschichte) und zur thematischen und formalen Struktur der Interviews (erzählte Lebensgeschichte) im letzten Kapitel dargestellt wurden, bildeten den Ausgangspunkt für die fallübergreifenden Ergebnisse (Analysen der Mikrostruktur ausgewählter Textpassagen) hier und schließen gedanklich an das letzte Kapitel an. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Analyseschritte, die wir im Zuge der fallrekonstruktiven Arbeiten realisiert haben. Unsere vertiefenden, fallübergreifenden Ergebnisse zur Wahrnehmung und Thematisierung von Armut werden empirisch vor allem durch sequenzielle Feinanalysen besonders verdichteter Textsequenzen (beispielsweise Globalevaluationen oder Formulierungen, deren Bedeutungen zunächst unverständlich erscheinen) gestützt.

85 Das schließt freilich methodische Probleme weder bei der Erhebung noch bei den Analysen selbst aus. In der methodischen Reflexion unserer Arbeiten zeigte sich, dass es der Interviewerin praktisch nicht in allen Situationen gelang, Empathie und Offenheit wie gewünscht zu realisieren, dass in den Gesprächen mit armutsbetroffenen Menschen die Genderproblematik von essentieller Bedeutung war oder die methodische und inhaltliche Supervision der Feldforscherinnen sich als unabdingbar erwies, auch wenn sie vom Projektträger nicht finanziert wird. Dennoch ermöglichte die qualitative Datenbasis unseres Projektes verschiedene Auswertungsstrategien; ein Potenzial, das auch bei den vertiefenden Arbeiten nicht gänzlich ausgeschöpft werden konnte.

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Tabelle 1: Fallbezogene Auswertungsschritte im Überblick Fall

Gelebte Lebensgeschichte: Analyse der ...

Carola Bandelow

biografischen Daten

Karin Groß

biografischen Daten

Angelika Klein

biografischen Daten

Erika Fähre Kerstin Böhme Jaqueline Böhme

Analyse der biografischen Daten, des Genogramms

Erzählte Lebensgeschichte: Analyse der ... formalen und thematischen Struktur Eingangspräsentation formalen und thematischen Struktur Eingangspräsentation formalen und thematischen Struktur Eingangspräsentation Analyse der biografischen Eingangspräsentationen im Familieninterview

Mikrostruktur ausgewählter Textpassagen Mikrostruktur ausgewählter Textpassagen Mikrostruktur ausgewählter Textpassagen Mikrostruktur ausgewählter Textpassagen

Quelle: eigene Darstellung

Aus jedem einzelnen Interview wurden mehrere Textpassagen mittels sequenzieller Feinanalyse auf das Genaueste untersucht. Latente Bedeutungen, die sich hinter bestimmten sprachlichen Formulierungen verbergen, können mit diesem Verfahren gedankenexperimentell erschlossen werden. So eröffnen sich uns über die Mikrostrukturen der Textpassagen nicht nur individuelle Deutungsmuster, die die Argumentationen, Berichte und Erzählungen einzelner Interviewpartnerinnen enthalten, sondern auch wirkungsmächtige gesellschaftliche Diskurse über Armut, mit denen die sprachlichen Repräsentationen in den empirischen Materialien verknüpft sind. Zu Beginn des Analyseprozesses werden bereits erarbeitete Hypothesen und Interpretationen zurückgestellt, d.h., von ihnen wird als Vorwissen über den Fall zunächst abstrahiert. Sie werden praktisch erst in dem Moment wieder hinzugezogen, in dem es um die Rekontextualisierung der Analysen und die komprimierte Ergebnisdarstellung geht (vgl. Rosenthal 2005a, S. 193 f.). Ehe wir damit beginnen, werden für Leserinnen und Leser, die das vorherige Kapitel übersprungen haben, die vier Lebensgeschichten der Frauen, auf die sich der Text im Weiteren bezieht, noch einmal knapp wiedergegeben.

3 Vier Lebensgeschichten in Kürze Angelika Klein, 54 Jahre alt, getrennt lebend, 5 Kinder, arbeitet saisonal als Reinigungskraft und war zum Zeitpunkt des Interviews am 13. 2. 2006 erwerbslos gemeldet Angelika Klein wird im Jahre 1952 als ältestes von sechs Kindern geboren und wächst in ei-

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nem Dorf auf der Insel Usedom auf. Ihre Mutter und deren damaliger Lebenspartner sind beide in der Landwirtschaft tätig und unterhalten zusätzlich zur der Arbeit in der LPG eine ausgedehnte Nebenerwerbswirtschaft mit Ackerbau und Viehzucht. Ihren leiblichen Vater kennt Angelika Klein nicht. Bereits in ihrer Kindheit hat sie als älteste Tochter im Haushalt und in den Ställen mithelfen müssen. Nach acht Jahren Schule findet sie mit Beziehungen der Eltern eine Stelle in der Abwaschküche eines FDGB-Ferienheimes, ohne jedoch eine Berufsausbildung zu beginnen. Im Alter von 15 Jahren lernt sie dort am Arbeitsplatz ihren Freund und späteren Ehemann kennen. Mit 17 Jahren wird sie das erste Mal schwanger und bekommt eine Tochter. Ein Jahr später heiratet sie und bekommt bis zum Alter von 29 Jahren insgesamt fünf Kinder. Der jüngste Sohn kommt mit einer Behinderung zur Welt. Vor der Wende arbeitet Frau Klein vollzeitig als Zimmerfrau und Reinigungskraft, kurzfristig auch als Stationshilfe in einem Krankenhaus. Danach ist sie bis 1996 erwerbslos und findet schließlich für die Sommermonate eine Stelle als Reinigungskraft in einer kleinen Pension mit sechs Stunden Arbeitszeit täglich. Aufgrund des geringen Arbeitsanfalls während der Wintermonate meldet sie sich regelmäßig arbeitslos oder ist nur wenige Stunden erwerbstätig. Da das Einkommen selbst in den Sommermonaten nicht existenzsichernd ist, erhält sie zusätzlich vom Staat ergänzende Sozialleistungen (Hartz IV). Insgesamt erreicht sie seit der Wende kein einziges komplettes Jahr der Erwerbstätigkeit in einer Vollzeitbeschäftigung und damit auch keinen Anspruch auf Regelleistungen des Alg I. Im Jahr 2002 trennen sich Frau Klein und ihr Ehemann, der in den letzten Jahren immer exzessiver zu trinken begonnen hat. Er wohnt jedoch wie die fünf gemeinsamen Kinder und vier Enkelkinder im selben Ort. Alle Kinder pflegen einen engen Kontakt zu Angelika Klein. Karin Groß, 44 Jahre alt, geschieden, 4 Kinder, zum Zeitpunkt des Interviews am 12. 2. 2006 erwerbslos Karin Groß wird 1962 als zweites von insgesamt fünf Kindern in einer Kleinstadt an der Ostseeküste in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Ihre Eltern lassen sich nach der Geburt des jüngsten Sohnes scheiden, sodass Karin Groß zunächst bei ihrer Mutter aufwächst, später jedoch mit ihren Geschwistern in ein Heim kommt. Frau Groß besucht die Schule bis zur 8. Klasse, kehrt im Alter von 15 Jahren zu ihrer Mutter zurück und beginnt eine Lehre in dem Hotel, in dem auch ihre Mutter arbeitet. In der Berufsschule holt sie den Abschluss der 10. Klasse nach und macht „ihren Facharbeiterbrief“. Mit 17 Jahren bekommt Frau Groß ihr erstes­ Kind, einen Sohn, und heiratet kurz darauf den Vater des Kindes. Als gelernter Trockenbauer verpflichtet sich ihr Ehemann zu einem Dienst von 10 Jahren bei der Nationalen Volksarmee, und die Familie zieht aus diesem Grund nach Sachsen. Innerhalb der nächsten Jahre bekommt Karin Groß zwei weitere Söhne und eine Tochter. Sie arbeitet als Küchenhilfe und Reinigungskraft. Im Jahre 1985 zieht die Familie zurück in die Küstenregion, da ihr Ehemann

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wegen gesundheitlicher Probleme aus der NVA ausscheiden musste. Nach der Wende ist Frau Groß als Reinigungskraft bei einer Wohnungsgesellschaft beschäftigt, bis sie 1991 im Alter von 29 Jahren gekündigt wird. Sie ist zunächst fünf Jahre erwerbslos. Im Jahre 1995 wird ihre Ehe geschieden. Ein Jahr später beginnt für sie mit einer ABM-Stelle eine MaßnahmenKarriere: Sie arbeitet mit „Sense und Spaten“ im Wald. Es folgen 2–3 Jahre erneuter Erwerbslosigkeit, eine Weiterbildung, eine Orientierungsmaßnahme für 3 Monate und nochmals eine ABM in der Küche. Immer wieder bewirbt sie sich sowohl als Reinigungskraft als auch als Küchenhilfe, findet aber keine neue Arbeitsstelle. Eine durch eine Lebensmittelallergie bedingte Hauterkrankung, an der Karin Groß seit Jahren leidet, wird in dieser Zeit schlimmer. In den Phasen, in denen die Symptome stark ausgeprägt sind, kann sie nur eingeschränkt arbeiten. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt sie gemeinsam mit ihrer zwanzigjährigen Tochter, die eine Ausbildung zur Wirtschaftsassistentin absolviert, in einer Neubau-Wohnung. Auch die beiden 24 und 27 Jahre alten Söhne leben ganz in der Nähe der Mutter, in derselben Kleinstadt. Die gesamte Familie Groß scheint sich in einem Leben in den Grenzen der Hartz-IV-Regelsätze eingerichtet zu haben, nutzt intensiv alternative Versorgungswege für Lebensmittel, die sie sich regelmäßig von der örtlichen Tafel beschaffen, sowie Angebote für Secondhand-Kleidung vom Roten Kreuz. Carola Bandelow, 44 Jahre alt, geschieden, 3 Kinder, zum Zeitpunkt des Interviews am 13. 2. 2006 nicht erwerbstätig; seit November 2004 krankgeschrieben Carola Bandelow wird 1962 als fünftes von sechs Kindern in einem kleinen Dorf in Ostvorpommern geboren. Ihre Eltern sind nach 1945 aus weiter östlich liegenden Gebieten zugewandert. Der Vater, der zu Beginn der 1990er-Jahre an Krebs stirbt, arbeitete bis zu seiner Verrentung als Traktorist in der LPG, ihre Mutter war in verschiedenen ungelernten Tätigkeiten – so als Pflegeschwester, Küchenhilfe und Reinigungskraft – beschäftigt und lebt zum Zeitpunkt des Interviews in ca. 50 km Entfernung vom Wohnort der Tochter. Carola Bandelow absolviert die zehn Klassen der allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS). Als 16-Jährige wird sie schwanger und bringt kurz nach dem Schulabschluss im Jahre 1978 ihre älteste Tochter zur Welt. Zwischen 1979 bis 1981 macht sie eine Ausbildung zur Kellnerin und qualifiziert sich zur Lehrfacharbeiterin. Im Jahre 1980 heiratet Carola Bandelow den Vater ihrer drei Kinder, der zu diesem Zeitpunkt als Schlosser in örtlichen LPG tätig ist. Bis zur Geburt der zweiten Tochter im Jahre 1983 ist sie als Kellnerin im Schichtbetrieb sowohl an Wochenenden als auch Feiertagen tätig. Nach der zweiten Babypause arbeitet sie zunächst als ungelernte Verkäuferin, anschließend ein Jahr als Küchenhilfe. 1987 kommt ihr Sohn auf die Welt. Nach einem verkürzten Babyjahr nimmt sie erneut eine Tätigkeit als Küchenhilfe in der LPG am Ort auf. Nach deren Umwandlung in eine Agrar-GmbH ist Carola Bandelow dort bis 1992 als Landarbeiterin tätig. Im selben Jahr verunglückt ihre älteste Tochter an ihrem 14. Geburtstag bei einem Reitunfall tödlich. Diese Zäsur verändert nicht nur ihr

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eigenes Leben grundlegend, sondern lässt auch ihre Ehe immer stärker zerrütten. Im Jahre 1994 trennt sie sich von ihrem Ehemann und den Kindern, zieht in eine kleine Wohnung in einer Kleinstadt auf einer Ostseeinsel und lässt sich schließlich scheiden. Nach der Wende hat Carola Bandelow diverse Anpassungsqualifikationen und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen durchlaufen sowie auch kurzzeitige Phasen der Beschäftigung in der Küche einer Kurklinik. Seit November 2004 bis zum Interview im Februar 2006 ist Frau Bandelow krankgeschrieben. Sie leidet an multiplen gesundheitlichen Belastungen, kann weder neuen Lebensmut finden noch sich gesundheitlich stabilisieren und ihren Alltag autonom gestalten. Sie lebt von Alg II und kämpft im Alter von 44 Jahren einen wenig aussichtsreichen Kampf um eine vorzeitige Berentung. Carola Bandelows jüngere Tochter hat eine Facharbeiterausbildung absolviert, ist berufstätig und Mutter einer Tochter. Der Sohn absolviert zum Zeitpunkt des Interviews eine Ausbildung zum Koch auf Usedom. Zu beiden Kindern hat die Mutter seit der Scheidung nur sporadisch Kontakt. Kerstin Böhme, 44 Jahre alt, verheiratet, 2 Kinder, zum Zeitpunkt des Interviews am 15. 2. 2006 erwerbslos Kerstin Böhme wird 1962 als mittleres von drei Kindern einer Lehrerin und eines Agraringenieurs in Anklam geboren und wächst in einem kleinen Dorf ganz in der Nähe auf. Nach dem Abschluss der 10. Klasse absolviert sie eine Ausbildung als Wirtschaftskaufmann86 und arbeitet als Sekretärin in dem Saatzuchtbetrieb, den ihr Vater leitet. Kurz darauf heiratet sie einen Traktoristen (ausgebildeter Agrotechniker), der ebenfalls in diesem Betrieb tätig ist. Im Alter von 22 Jahren und 24 Jahren bekommt sie zwei Töchter (1984 und 1986). Nach der Wende 1989 werden ihr Tätigkeitsbereich und ihre Arbeitszeit stark reduziert, sodass sie schließlich nur noch als Reinigungskraft beschäftigt wird. Im Jahre 1990 wird Kerstin Böhme zum ersten Mal arbeitslos; wenige Monate nach ihr auch ihr Mann. Seither gelang es beiden nicht, eine reguläre Vollzeiterwerbstätigkeit zu finden, stattdessen absolvierten sie eine Maßnahmekarriere­mit mehreren Umschulungen, ABM-Stellen und diversen 1-Euro-Jobs. Zum Zeitpunkt des Interviews beziehen beide Eheleute Hartz-IV-Leistungen und leben gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter in einer kleinen Eigentumswohnung im Dorf, die Kerstin Böhmes Eltern gekauft und ausgebaut haben. Jaqueline Böhme, die jüngere Tochter, hat die Hauptschule und eine von der Sozialagentur geförderte Ausbildung zur Verkäuferin absolviert. Seit dem Ende der Ausbildung ist auch sie erwerbslos und nimmt an einem von der Sozialagentur geförderten Lehrgang um Erwerb eines Führerscheins teil. Mandy, die ältere Tochter der Böhmes, arbeitet zum Zeitpunkt unserer Untersuchung als Zimmerfrau in einem Berliner Hotel. 86 Die offizielle Berufsbezeichnung in der DDR war Wirtschaftskaufmann, die weibliche Form war ungebräuchlich und wird auch von der Interviewpartnerin nicht benutzt.

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Bei dem im Weiteren analysierten Material handelt es sich also um die Lebensgeschichten von vier Frauen, die zwischen 1953 und 1962 geboren wurden und zum Zeitpunkt der Interviews zu Beginn des Jahres 2006 zwischen 44 und 53 Jahre alt waren. Die Herkunftsfamilien von Angelika Klein und Carola Bandelow weisen eine bäuerliche resp. landwirtschaftliche Tradition auf. In beiden Fällen erfahren wir von einem Hof oder Anwesen mit Acker und Vieh sowie der Mitgliedschaft in den jeweiligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). Während Kerstin Böhmes Großeltern ebenfalls noch Bauern in Mecklenburg und in Pommern waren, sind ihre Eltern (Vater: Agraringenieur; Mutter: Lehrerin für Biologie und Chemie) Mitglieder der neuen, sozialistischen Intelligenz der DDR. Im Material zu Karin Groß verweist nichts auf eine bäuerliche oder landwirtschaftliche Tradition, vielmehr deutet das Wenige, was wir über die Herkunftsfamilie wissen, vage auf unsichere existenzielle Bedingungen hin. Schon ihre Mutter brachte sie und ihre vier Geschwister mit einer Tätigkeit im Hotel- und Gaststättenwesen gerade so durch. Aktuell finden wir eine ländliche Form der Lebensführung am ehesten in der Familie Böhme/Fähre87. Die Eltern von Kerstin Böhme bewohnen ein kleines reetgedecktes Backsteinhaus in einem vorpommerschen Dorf und haben für Kerstin und ihre Familie in Sichtweite eine kleine Wohnung gekauft und hergerichtet. Die anderen drei Frauen leben jeweils in kleinstädtischen Mietwohnungen in Küstennähe bzw. auf den Ostseeinseln. Bei keiner der Frauen oder Familien unseres qualitativen Samples konnten wir eine ländliche Form der Le­ bensführung ausmachen, in der sich das Ländliche, wie es Stephan Beetz beschreibt „immer mehr auf eine Wohn- und Lebensumwelt [bezieht], die einen naturnahen soliden und dennoch distinktiven Lebensstil verspricht“ (2004, S. 48). Mit ihren lebensgeschichtlichen Erfahrungen gehören alle vier Interviewpartnerinnen, die im Mittelpunkt unserer fallvergleichenden Analysen stehen, der von Vera Sparschuh als besonders bedeutsam anvisierte Fokusgeneration an. Zum Zeitpunkt der beginnenden gesellschaftlichen Veränderungen (1989/90) waren sie 27 bzw. 36 Jahre alt, d.h., sie hatten ihre berufliche Ausbildung unter den Bedingungen sich generell verengender Mobilitätspfade bereits abgeschlossen und den normativen Erwartungen der DDR-Gesellschaft entsprechend Familien gegründet und Kinder geboren (Huinink 1993, Solga 1995). Die folgende Tabelle 87 „Charakteristisch für den Wandel der ländlichen Gesellschaft ist das – teilweise sehr konfliktreiche – Auseinanderfallen von Landwirtschaft, Ländlichkeit und Dorf, also von Lebensbereichen, die früher als identisch angesehen wurden. Die Landwirtschaft als historische Form der Raumaneignung und -nutzung weicht zunehmend anderen Nutzungsarten. Das Dorf stellt die Gesamtheit der sozialen Verhältnisse dar, die in spezifischen Vergesellschaftungsformen wie der Gemeinde, der Familie oder Nachbarschaft das Zusammenleben innerhalb einer relativ geschlossenen lokalen Gruppe strukturieren. Das Ländliche bezieht sich immer mehr auf eine Wohn- und Lebensumwelt, die einen naturnahen soliden und dennoch distinktiven Lebensstil verspricht.“ (Beetz 2004, S. 48)

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zeigt nicht nur, dass alle vier Frauen sehr jung geheiratet haben und in relativ kurzen Abständen zwischen zwei und fünf Kinder geboren haben, sondern stellt wichtige biografische Ereignisse und gesellschaftliche Zäsuren nach dem Lebensalter der Frauen im Fallvergleich dar (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2: Lebensgeschichtliche Erfahrungen, gesellschaftliche Zäsuren und Lebensalter der Biografinnen Angelika Klein 1953 8

Carola Bandelow Kerstin Böhme 1962 1962 -

Karin Groß 1962 -

1959–1967

1968–1978 1979–1981 Kellnerin

Alter (Jahr) bei Geburt des ersten Kindes Alter (Jahr) bei Geburt des zweiten Kindes Alter (Jahr) bei Geburt des dritten Kindes Alter (Jahr) bei Geburt des vierten Kindes Alter (Jahr) bei Geburt des fünften Kindes Alter und Jahr der Heirat Trennung/Scheidung Alter zum Zeitpunkt Wende 1989 Tätigkeit zu Beginn der 90er-Jahre

17 (1970) Tochter

1968–1977 1977 Lehre im Hotel, Abschluss der 10. Klasse nachgeholt 17 (1979) Sohn

18 (1971) Tochter

16 (1978–1992) Tochter 21 (1983) Tochter

1968–1978 1978–1981 Wirtschaftskaufmann 22 (1984) Tochter 24 (1986) Tochter

Sohn

23 (1976) Sohn

25 (1987) Sohn

-

20 (1982) Sohn

24 (1977) Sohn

-

-

24 (1986) Tochter

28 (1981) Sohn

-

-

-

18 (1971) 2002 36

18 (1980) 1994 / 2002 27

ca. 20 (1982) 27

18 (1980) 1995 27

Zimmerfrau in FDGB-Heim

Feldarbeiterin in einer Agrar GmbH

Alter (Jahr) der ersten Erwerbslosigkeit Alter zum Zeitpunkt der Interviews

47 (1990)

30 (1992)

Reinigungskraft in einem Saatzuchtbetrieb 28 (1990)

Reinigungskraft bei einer Wohnungsbaugesellschaft 29 (1991)

53

44

44

44

Geburt Alter zum Zeitpunkt des Mauerbaus 1961 Schulzeit Berufsausbildung

Quelle: eigene Darstellung

Charakteristisch für die von Vera Sparschuh interviewten erwerbstätigen Frauen und Mütter ist, dass sie bereits in den 80er-Jahren schon nicht mehr in ihren ursprünglichen Tätigkeitsfeldern arbeiteten, sondern – zumeist nach den Geburten und Babyjahren – in die stark feminisierten und auch im Beschäftigungssystem der DDR schlecht bezahlten Dienstleistungs-

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bereichen wieder-/eingestiegen waren. Deutlicher noch: Die drei Frauen, die eine berufliche Ausbildung zur Kellnerin oder Wirtschaftskauffrau absolviert hatten, waren am Vorabend der Wende bereits im Sektor der unqualifizierten Jederfrautätigkeiten angekommen. Angelika Klein arbeitete als Zimmerfrau, Carola Bandelow als Landarbeiterin in der aus der LPG entstandenen Agrar GmbH, Katrin Böhme als Reinigungskraft in dem inzwischen reprivatisierten Saatzuchtbetrieb, in dem sie zuvor als Sekretärin tätig war, und Karin Groß als Reinigungskraft in den Heizhäusern einer Wohnungsbaugesellschaft. Die drei Frauen mit den geringsten Qualifikationen, die als sehr junge Frauen drei, vier oder fünf Kinder bekommen hatten, erfuhren in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre krisenhafte Entwicklungen in ihren jeweiligen Partnerschaften, trennten sich von ihren Ehepartnern oder ließen sich scheiden. Dies ist vermutlich mit einer entscheidenden Schwächung ihrer sozialen Netzwerke einhergegangen. Alle vier Frauen lebten zum Zeitpunkt der Erhebungen im Jahre 2006 von Arbeitslosengeld II, waren also nach gesetzlicher Lesart arm (Becker 2007). Mit den hier beschriebenen soziodemografischen Charakteristika und lebensgeschichtlichen Erfahrungen sind sie als ein in sich relativ homogenes Sample (bildungsfern, ressourcenarm, materiell und kulturell benachteiligt) zu begreifen. Das lässt für Außenstehende eher minimale Fallkontraste erwarten (Rosenthal 2005a). Ob eine solche Vermutung für die Wahrnehmung und Thematisierung von Armut durch die interviewten Frauen Bestand haben kann oder ob wir es doch mit starken Differenzierungen zu tun haben werden, sollen die folgenden Detailanalysen zeigen.

4 Zur Thematisierung von Armut im lebensgeschichtlichen Interview als absolute, relative oder gefühlte Armut In der verfügbaren qualitativen Datenbasis können wir die Wahrnehmung von Armut über zwei verschiedene Zugänge analysieren. Zum einen hat die Interviewerin in der Nachfragephase der Interviews jeweils dezidiert und direktiv gefragt, ob sich die befragten Männer und Frauen denn arm fühlen würden. Zum anderen finden sich in allen Interviews autonome Präsentationen zur Armutsthematik,88 in denen mehr oder weniger offen oder latent, ausführlich oder fragmentarisch, in jedem Fall aber seitens der Biografinnen spontan verbalisiert wird, wie sie Armut wahrnehmen, wie sie prekäre Lebenssituationen für sich deuten und diese sowohl im Kontext ihrer eigenen Lebenserfahrung als auch mit Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung interpretieren.

88 Das sind Argumentationen, mitunter auch schnell abgebrochene Erzählansätze oder Belegerzählungen, die nicht durch Interventionen der Interviewerin evoziert wurden.

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Im Folgenden wird versucht, die Zusammenhänge (oder Beziehungen) der vier Fälle im kontrastiven Vergleich zu untersuchen.89 Die Analyseergebnisse werden exemplarisch dargestellt, indem der Situiertheit der Fälle im sozialen Raum, auf dem Feld der sozialen Ungleichheit oder bei Konstitution von Armut/einer Klasse der Armen nachgegangen wird. Dabei ist im Voraus zu bedenken, dass es uns unabhängig davon, ob wir vier oder vierzig Fälle rekonstruieren, nicht gelingen kann, das Feld vollständig zu erfassen. Es geht also bei den vertiefenden Analysen in erster Linie um die Beantwortung von Forschungsfragen auf der Grundlage einer geeigneten Datenbasis, um inhaltliche Repräsentiertheit der zu untersuchenden Phänomene im Material und nicht um eine möglichst vollständige Abdeckung eines vermeintlich abgesteckten Forschungsfeldes. Ganz allgemein und vergröbernd kann gefragt werden, ob die Wahrnehmung und Thematisierung von Armut in lebensgeschichtlichen Interviews den gesellschaftlichen Zuschreibungen und Klassifikationen eher folgt oder ihnen zuwiderläuft. Nach „gesetzlicher Lesart“ (Becker 2007, Hauser 2008), also aus der Perspektive der Sozialagentur und der Öffentlichkeit, sind die vier Frauen zweifellos arme Frauen und leben in armen Familien. Paradoxerweise präsentiert sich nur eine unserer Interviewpartnerinnen explizit als arm, während die anderen sowohl das Arm-Sein und das Sich-Arm-Fühlen90 von sich weisen und eine „Außendarstellung/Fassade“ als Nicht-Arme aufrechtzuerhalten versuchen. Sehen wir uns das Textmaterial genau an, so fällt ins Auge, dass diese Verwischung des Unterschiedes zwischen dem Arm-Sein und dem Sich-Arm-Fühlen sowohl auf der Seite der Interviewerin als auch der Interviewten stattfindet. Zum einen scheint sich die Interviewerin nicht entscheiden zu können, wonach sie jetzt genau fragen möchte. Zum anderen dokumentieren die Transkripte ein Zögern der Interviewerin, was darauf verweisen könnte, dass die Frage nach dem Arm-Sein zu hart und nicht angemessen formuliert ist oder sie realisiert, dass das Thema in den Berichten und Argumentationen der Interviewten zuvor schon detailliert dargestellt worden ist. Mit ihrer Frageweise, den Pausen, Paraphrasen, Reformulierungen,

89 Damit unsere Interpretationsergebnisse für unsere LeserInnen deutlicher werden, aber auch nachvollziehbar bleiben, heben wir in der Darstellung bestimmte Aspekte analytisch hervor, d. h. bringen sie in den Vordergrund der Darstellung, ohne sie jedoch vom Gesamtkontext des Falles abzulösen. 90 Sowohl in unserer qualitativen Datenbasis als auch in den gesellschaftlichen Diskursen und in der theoretischen Diskussion vermischen sich die Phänomene des Arm-Seins und des Sich-Arm-Fühlens so, dass sie scheinbar ununterscheidbar werden. Ob es sich dabei um eine sich auflösende Differenz von Selbst- und Fremdzuschreibung handelt, dem wird an dieser Stelle noch einmal genauer nachzugehen sein. Besonders brisant sind solche Überlegungen dadurch, dass es in der medial vermittelten politischen Öffentlichkeit in den letzten Jahren eine vehemente Diskussion darüber gibt, ob es bei der Armut in unserer Gesellschaft ähnlich der Debatte um die Unterschicht (vgl. Lindner 2008, Neckel 2008) nur um gefühlte oder reale Armut geht.

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Einschüben („einfach mal“, „erstmal so ne Frage“, „wenn ich Sie fragen würde, würden Sie ...“) offenbart die Interviewerin hier klassische Symptome des In-Szene-Setzens von Scham (vgl. Schwitalla 2006, S. 128). Möglicherweise empfindet sie genau in diesen Momenten des Interviews sehr deutlich, wie fragil die Interaktion mit ihren Gesprächspartnerinnen ist. Tabelle 3: Arm-Fühlen und Arm-Sein – (Selbst-)Zuschreibungen im Interview Interviewerin:

Kerstin Böhme:

„[...] fühlen Sie sich denn arm [...]?“ (V.S. 38/1379)

„nee ik fühl mich nich arm aber vielleicht irgendwie unterfordert [Int.: hm] denk ik mal [Int.: hm] (K.B. 38/ 1381)

Interviewerin:

Karin Groß:

[…] Also erst mal stell ig mal so ne Frage, die, (2) die mir jetzt wichtig ist also müssen Sie einfach mal sehen. Fühlen Sie sich denn jetzt, wie Sie jetzt so leben würden Sie sagen, dass Sie arm sind?“ (V.S. S. 10/Z. 501-503)

„I bin nicht arm, ig war noch nie arm gewesen […] und wenn ig hier keine Möbel drinne stehen hätte, ig bin nicht arm. […] (K.G. 10/504)

Interviewerin:

Angelika Klein:

[…] und (1) wenn ich Sie fragen würde ob Sie (1) würden Sie denn heute sagen, dass Sie sich arm fühlen? Oder nicht?“ (V.S. 11/369-370)

„Na arm nicht, es gibt Ärmere, ne. Aber äh (1) man ist auch nicht reich. (A.K. 11/371)

Interviewerin:

Carola Bandelow:

[…] Mh, mh. (5) Und jetzt so würden Sie dann sagen, dass Sie eher arm sind?“ (V.S. 29/ 9).

„Ja (2), total, also ig hab zu tun dat ig denn hinkomme“ (C.B. 29/ 10).

Quelle: eigene Darstellung

Auf den ersten Blick bringen die Frauen (auch die Interviewerin) mit ihren Formulierungen die gesamte Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen Denkens und Fühlens über Armut zum Ausdruck, die den Armutsdiskursen inhärent zu sein scheint: ‚‚ Es ist sozial nicht akzeptiert, sich offen als arm zu bezeichnen (die gesellschaftliche Zuschreibung muss zurückgewiesen werden). ‚‚ Arm sind in der Regel die anderen (Distanzierungsstrategie wird benutzt). ‚‚ Es gibt immer Menschen, denen es noch schlechter geht als mir selbst (Vergleich und Verweis auf andere, ohne Bezug auf konkrete gesellschaftliche Bezugssysteme oder einen akzeptierten Standard an Lebensqualität und Teilhabechancen zu nehmen). ‚‚ Das Arm-Sein ist nicht aussprechbar (das Label, arm zu sein, kann individuell nicht angenommen werden). Auch Carola Bandelow, die Interviewte, die sich offen als Arme und eben als Outsider dieser Gesellschaft präsentiert, bestätigt mit ihrer Formulierung die sozial hoch wirksame und stigmatisierende gesellschaftliche Konstruktion der Klasse der Armen. Außer dieser Interview­ partnerin haben wir im gesamten qualitativen Material unserer Studie mit mehr als 30 In-

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terviews keine/n einzige/n Interviewte/n gefunden, die/der auf die direkte/direktive Frage der Interviewerin, ob sie arm seien/sich arm fühlen würden, mit ja geantwortet hatte. Mit unterschiedlicher Vehemenz und in individuell je verschiedenen Argumentationsmustern belegen und legitimieren die Frauen, dass und weshalb sie nicht arm seien. Da die Passagen der Ab-/Verleugnung des Arm-Seins und ausführliche Begründungen dafür, weshalb es andere gäbe, die arm seien, die befragten Personen selbst jedoch nicht zu diesen anderen, eben den Armen gehören würden, die qualitativen Materialien insgesamt durchziehen, standen sie im Zentrum der fallvergleichenden Analysen. Noch einmal: Einzig Carola Bandelow bringt explizit zum Ausdruck „total arm zu sein“ (CB 29/10). Interviewerin: „Mh, mh.(5) Und jetzt so würden Sie dann sagen, dass Sie eher arm sind?“ Carola Bandelow: „Ja (2), total, also ig hab zu tun dat ig denn hinkomme. [...] (1) Ja wat wollte ig noch weiter erzählen?“ Interviewerin: „Arm sein?“ Carola Bandelow: „Ja, total arm. Ig kann mir kein Pullover richtig leisten, (1) hier äh würd ig auch-, ig würde hier gern kaufen [Int.: Mh] aber ig kann nur in Polen kaufen wenn da mal ein Shirt oder wat im Angebot is für fünf Euro, dat is das höchste der Gefühle = mal im Monat.“ (CB 29/9–29) Fast schon formel- oder klischeehaft tauchen in dem Gespräch mit Carola Bandelow immer wieder Sujets auf, die auf uns wirken, als wären sie der Boulevardpresse entnommen: Einkäufe nur im Angebot; jeder Einkauf muss unter der magischen Grenze von 6 Euro bleiben; das häufige Essen von Tütensuppen und der Verzehr von möglichst billigen Lebensmitteln, auch wenn das Verfallsdatum bereits abgelaufen ist; die Wohnungseinrichtung geschenkt bekommen oder aus Resten des früheren ehelichen Haushaltes zusammenstückeln; Gardinen mit Zuschüssen vom Sozialamt finanzieren und mit Beziehungen der Schwester billige Stoffe besorgen; Angst, aus der Wohnung hinausgeworfen zu werden, weil sie über den zugestandenen Mietkosten pro Quadratmeter liegt; nicht mehrfach bei der Sozialagentur anrufen können, da das auch schon wieder 30 Cent kostet; die ambulante Psychotherapie abbrechen müssen, da die Fahrtkosten zu hoch sind; nicht zum Schwimmen oder zur Wassergymnastik gehen können, da der zu zahlende Eigenanteil das verfügbare Monatsbudget um das Doppelte übersteigt und letztlich alle anfallenden Kosten vom Essen, über Pflege- und Arzneimittel bis hin zum Friseur von 215 Euro bestreiten zu müssen.

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Carola Bandelow mit ihrer dezidierten Selbstbeschreibung als total Arme wählt für ihre Darstellungen im Interview paradoxerweise ähnliche thematische Bezüge wie die anderen drei, ihren verbalen Selbstbeschreibungen zufolge nicht armen Biografinnen, um ihre persönliche Situation für die Interviewerin nachvollziehbar zu begründen. Auch von ihnen werden Lebensmittel, Kleidung, Fixkosten für Wohnung, Medikamente etc. sowie Transportkosten, Mittel für die Freizeitgestaltung und kleine Extras als Positionen benannt, die das Ausgabenregime stetig bedrohen und die einfach nicht zu finanzieren seien. Zudem wird von allen interviewten Frauen thematisiert, dass ihnen das nicht hinreichende Budget ständig im Kopf herumginge, ihre Gedanken stets um das knappe Geld, um Möglichkeiten für Einsparungen, um die Ausgabenprioritäten und um Haushaltsdisziplin kreisen würden. Dabei kontrastiert Karin Groß auf der manifesten Ebene des Textes mit ihrer Evaluation, „noch nie arm gewesen“ zu sein, am stärksten zu Carola Bandelow. (KG 10/504). Interviewerin:

Karin Groß:

„Also erst mal stell ig mal so ne Frage, die (2,0) mir jetzt wichtig ist [...] fühlen Sie sich denn jetzt, wie Sie so leben – würden Sie sagen, dass Sie arm sind?“ „Li bin nicht arm, ig war noch nie arm gewesen [Int.: Mh] und wenn ig hier keine Möbel drinne stehen hätte, ig bin nicht arm [Int.: Mh] ig hab meine Kinder, ig hab die Liebe meiner Kinder, ig hab meine Familie, meine Mutter, ig weiß ig nicht und wenn ig hier nichts stehen hätte, ich wär nicht arm, Es gibt Familien, die kennen so was gar nicht, Liebe (1,0) [...] weiß ig nicht, für mich ist, sind diese anderen Werte viel wichtiger als materielle Werte [Int.: Mh] ne, dat is so, so bin ich groß geworden, ig bin ja auch arm groß geworden, wir hatten ja auch nichts [Int.: Mh] und meine Kinder, die hatten ihre Möbel, die hatten ihr Spielzeug aber ich muss doch nicht alles haben.“ (KG 10/501–522; Hervorhebung SK) „[...] Ja und so wird immer geguckt was ist ganz wichtig dat wird zuerst geregelt. Was nicht wichtig ist, wird aufgeschoben […] Aber im Großen und Ganzen (2+) es geht uns gut dass es uns sehr gut geht würde ich nicht sagen, es könnte uns besser gehen aber noch sind wir zufrieden damit, wenn es uns noch schlechter gehen würde, also wenn wir noch weniger Geld zu Verfügung hätten dann würde es uns sicherlich nicht mehr gut gehen“ (KG 11/562–565)

Im Abstand von wenigen Zeilen aufeinanderfolgend und sich selbst zurücknehmend bringt Karin Groß in einer Textsequenz die Zeiten wechselnd zum Ausdruck, nicht arm zu sein, noch nie arm gewesen zu sein und auch arm groß geworden zu sein. Zum einen würde sie die

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Liebe ihrer Kinder vor Armut schützen und zum anderen würde Armut nicht mit materiellen Dingen im Zusammenhang zu sehen sein. Selbst wenn sie keine Möbel hätte, wäre sie nicht als arm anzusehen, da andere Werte als die materiellen die wirklich wichtigen seien. Wohlgemerkt geht es im weiteren Kontext dieser Interviewpassagen nicht um besondere Konsumgüter oder eine Wohnungsausstattung nach der neuesten Mode, sondern um das Vorhandensein eines Schrankes, von Möbeln überhaupt und von Spielsachen, die für ihre Kinder im Unterschied zur eigenen Kindheit immer da gewesen seien. Sie evaluiert, dass es ihnen „im Großen und Ganzen“ gut gehen würde (KG 11/562–563), und bezieht diese Bilanz auf einfache, existenzielle, materiell-körperliche Grundbedürfnisse: Essen, Wohnen und medizinische Versorgung. Das dokumentiert sich auch darin, dass auch sie ständig über Ausgabeprioritäten nachdenkt, die Befriedigung gesellschaftlich akzeptierter Grundbedürfnisse immer wieder aufschieben muss und in der Familie das gegenseitige Leihen selbst von kleinen Geldbeträgen (sie spricht von 20 Euro) nicht über mehrere Tage hinweg möglich sei. Während Carola Bandelow ihre durch die von ihr nicht gewollte westliche Gesellschaft verursachte prekäre materielle Lage und hoffnungslose Lebenssituation zu bewältigen sucht, indem sie offen (teilweise widerständig) und immer wieder und wieder darüber spricht (was die Interviewerin als klagende Litanei empfand; vgl. Memo zum Interview; S. 1), präsentiert uns Karin Groß Armut als etwas schwer Greifbares und schwer Formulierbares, das schon in ihrer Fami­ lie drinne steckt (vgl. KG 3/143) und dem sie ähnlich einer schicksalhaften Krankheit, einem ge­ netischen Defekt nicht zu entkommen vermag. Beide Fallmaterialien kontrastieren unseren Text­ analysen zufolge in ihrer Sozialisierung resp. Individualisierung von Armut überaus deutlich. Angelika Klein und Kerstin Fähre liegen mit ihrer Wahrnehmung und Thematisierung von Armut (auf der manifesten Ebene) zwischen Carola Bandelow und Karin Groß, man könnte auch sagen, sie liegen quer zu den ersten beiden Fällen. Interviewerin: Angelika Klein:

„und (1) wenn ich Sie fragen würde ob Sie (1) würden Sie denn heute sagen, dass Sie sich arm fühlen oder nicht?“ „Na arm nicht, es gibt Ärmere, ne. Aber äh (1) man ist auch nicht reich. Man (1) muss mit jedem Pfennig rechnen wenn ich manchmal meine Kinder nicht hab, die sagen hier ach ich geb dir erstmal n=Zwanziger oder irgendwie was d- (1) oder die kaufen mal für mich ein das brauchst du mir nicht wieder geben, dann ist das schon (1) [...] ist schon ne=Hilfe ne (4) man ist nicht arm, aber auch nicht reich [...] man hat immer das Portemonnaie im Auge“ (AK 11/369–378; Hervorhebung im Transkript).

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Angelika Klein konstruiert sich eine soziale Position als nicht Arme, aber auch nicht Reiche, für die sie mehrere Bezugspunkte (Koordinaten/-systeme) heranzieht: Erstens sind da andere, die ärmer sind als sie selbst, auch wenn sie mit jedem Pfennig rechnen müsse. Zweitens begründet sie mit ihrer Position als nicht Arme und nicht Reiche ihr Beharren in der Mitte der Gesellschaft, im kleinen Mittelstand, der immer bestraft würde und dem auch sie sich zugehörig fühlte. Mit einem Hauch von Fatalismus formuliert sie: „[...] ich find auch äh (1) gegen heut=gegen früher und heute der Kleine (1) mittel- (1) der Mittelstand wird immer bestraft, immer (1) also ich habs früher nicht besser gehabt, ich habs heute nicht besser“ (AK 10/361-363).

Drittens führt sie eine Art Situationsabgleich91 durch, demzufolge sie selbst es weder früher noch heute besser gehabt hätte, dass sie immer hätte rechnen müssen, dass dem Kleinen immer genommen würde, wenn die Politiker das beschließen, und dass schließlich das Arbeitslosengeld immer weniger würde und man es irgendwie ausgleichen müsse (vgl. AK 11/365–367). Angelika Klein verbindet ihre für uns irritierende, aus ihrer Sicht jedoch konsistente Selbstpräsentation als Nichtarme mit einer Selbstpositionierung im Statusgefüge der Gesellschaft (kleiner Mittelstand), die weder durch ihre Lebenssituation in der DDR noch durch ihre gegenwärtige Lebenslage realiter begründet sein könnte.92 Während Angelika Klein Armut im Kontext eines (ihres) naiven Sozialstrukturkonzeptes thematisiert, greift Kerstin Böhme unfreiwillig oder scheinbar zufällig einen ganz anderen gesellschaftlichen Diskurs auf: Interviewerin: „Aber Ihre Mutter [hatte das Gespräch bereits verlassen, SK] sagte eben so dass die Armut- Sie haben sich schon gedacht, dass die Armut zunehmen wird, fühlen Sie sich denn arm (1) [...]“ Kerstin Böhme: „nee ik fühl mich nich arm aber vielleicht irgendwie unterfordert [Int.: hm] denk ik mal [Int.: hm] wie gesagt so mit dem 1-Euro-Job das hat mir auch Spass gemacht [Int.: hm] vor allen Dingen war man den ganzen Tag draußen an der frischen Luft [...] das war n bisschen schwer mit den Steinen [...] und da hab ik wenigstens ein bisschen zuverdient 91 Statt Situationsabgleich könnte man auch von einem Gesellschaftsvergleich sprechen, bei dem früher für die sozialistische Gesellschaft der DDR steht und heute für die Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands. 92 Drei Momente könnten zu dieser aus der Sicht von Außenstehenden irrigen, fehlgeleiteten Statusvorstellung eine Rolle spielen. Erstens die Ideologie und Politik der Nivellierung sozialer Unterschiede in der DDR-Sozialstruktur in ihrer Ambivalenz, inadäquate Vorstellungen davon, was sich in der Bundesrepublik hinter dem mehr als doppeldeutigen Begriff Mittelstand verbirgt, sowie der unbedingte Versuch, sich gegen die weitere Deklassierung zu wehren.

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[Int.: hm] also das hat mir Mut gemacht sag ich ma“ (KB 38/1379–1386) „[...] tja (.) na ja man fühlt sich nich so gut vor allen Dingen man kann sich ja nicht alles leisten ne /I: hm/ man kann sich kaum irgendwas anzuziehen kaufen und dat is das Schlimme/i: hm) man muss ja zusehen dass man gerade so alle Ausgaben bestreitet /I: hm/ und von dem Rest muss man ja auch noch leben“ (KB 38/1392–1396). Kerstin Böhme fühlt sich nicht arm, „aber vielleicht irgendwie unterfordert“ (KB 38/1381). Indem sie die Hartz-IV-Formel des Förderns und Forderns aufnimmt, bringt sie zum Ausdruck, dass die Gesellschaft (oder ein imaginärer anderer) ihre Ressourcen, Potenziale oder Capabilities nicht abruft. Auch hier haben wir ähnlich der nichtarmen Armen eine starke Ambivalenz, nämlich die unterforderte Überforderte: Im ersten Teil der Antwort bringt sie zum Ausdruck, dass sie sich nicht als arm bezeichnen würde. Als Beleg dafür erzählt sie anschließend, dass ihr die 1-Euro-Jobs trotz der körperlichen Belastungen (wie z.B. das Tragen von schweren Steinen) Spaß gemacht hätten. Sie betont dabei, dass sie den ganzen Tag draußen an der frischen Luft gewesen sei, ein bißchen dazuverdienen konnte und dass ihr diese Jobs auch Mut und Selbstvertrauen gegeben hätten. Wenige Sekunden später äußert Kerstin allerdings im Widerspruch zum vorher Gesagten, dass sie sich unter den äußerst eingeschränkten materiellen Lebensbedingungen nicht wohl fühlt. Hypothesen, die zu Beginn der Feinananalyse noch plausibel erscheinen, beispielsweise dass sie mit ihrem bescheidenen Leben zufrieden sein könnte, werden im Zuge des Fortgangs der Analyse immer weniger plausibel. Sie nimmt ihre Armutslage als solche sehr wohl wahr, bewertet ihre Situation als schwierig, hält die Zuschreibung des „Arm-Seins“ aber auch dann nicht für akzeptabel, wenn sie sich im gleichen Zuge über ihre unzulänglichen materiellen Lebensbedingungen beklagt. Im zweiten Teil ihrer Antwort „aber irgendwie unterfordert“ bringt Kerstin ihre Enttäuschung bzw. Frustration über ihre derzeitige Lebenssituation zum Ausdruck. Durch das Wort „unterfordert“ bekommen wir den Eindruck, dass ihr Potenzial nicht oder nur zu einem geringen Teil abgerufen wird. Kerstin Böhme glaubt, dass sie mehr tun könnte, mehr im Leben erreichen könnte und dass sie in der Lage wäre, ihr Leben zu verändern, wenn sie besser gefördert oder mehr gefordert würde. Durch das Wort „unterfordert“ wird allerdings auch vermittelt, dass Kerstin mehr Förderung von JEMANDEM erwartet, um sich weiterentwickeln zu können. Sie artikuliert einerseits, dass sie mehr Unterstützung möchte und fordert sie zugleich von jemand anderem ein. Das „unterfordert“ meint auch, dass ihr ihre eigene Initiative gar nicht in den Sinn kommt. Da ist (k)ein imaginäres Gegenüber, das sie fordert, das ihr ein auskömmliches Tätig-Sein, wie sie es noch in der DDR-Gesellschaft erlebt hatte, ermöglicht. Betrachten wir abschließend, in welchen thematischen Zusammenhängen die vier rekon-

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struierten Fälle zueinander stehen oder wie sie positioniert werden können, so differieren sie einerseits und überlappen sich andererseits entlang der Thematisierungslinien: a) sich als Arme oder Nichtarme darstellen; b) im Sozialisieren/Individualisieren von Armut; c) in den thematischen Bezügen zur Alltagswirklichkeit/Lebenswelt, in der sich das ArmSein und Arm-Fühlen oder das Nicht-Arm-Sein/Fühlen artikuliert; d) bei den Vorstellungen zur Strukturiertheit von Gesellschaft, zu ihrem Statusaufbau, die auch die Selbstwahrnehmung und Positionierung der/des Armen prägen.

5 Subjektive Wahrnehmungen von Prekarität und Armut – Perspektivenerweiterung in der aktuellen ­A rmutsforschung? Inzwischen liegt eine ganze Reihe von qualitativen Untersuchungen vor, die die Wahrnehmung von Prekarität und Armut auf methodisch verschiedene Art und Weise zu untersuchen beabsichtigen und dabei verschiedenste inhaltliche Akzente setzen. Sie alle konstituieren damit ein Forschungs- und Praxisfeld, das auf absehbare Zeit nicht an Brisanz verlieren wird und in besonderer Weise auf theoretisch und methodisch reflexive Forschung sowie sozialpolitisch verantwortungsvolles Handeln angewiesen ist. Dennoch zeigt sich, dass Stereotype­ und „(Zerr-)Bilder der Armut“ offensichtlich in der von medialen Diskursen geprägten Öffentlichkeit als auch in der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft Bestand haben, solange sie dem Zeitgeist oder dem kollektiven Lebensgefühl bestimmter Interessengruppen entsprechen (Butterwegge 2009, S. 216–224). So werden wissenschaftliche Beschreibungen, Konzepte, Thesen und Theorien zur Armutsentwicklung und zur Wahrnehmung von Prekarität und Ausgrenzung (z.B. das Bild der wirklich Armen und das des Sozialhilfe- oder AlgII-Missbrauchs) nicht etwa verworfen, wenn sie empirisch widerlegt oder methodologisch anfechtbar sind. Vielmehr können auch sie auf weit zurückreichende Traditionslinien verweisen, werden nach einer gewissen Zeit zu theoretischen Orthodoxien, deren Erklärungswert für moderne Gesellschaften nicht eben steigt, aber auch nicht grundlegend hinterfragt wird 93. Rolf Linder etwa greift eine Ambivalenz auf, die er in der Nähe der „heutigen Debatte über die ‚Unterschicht‘, der ‚Fürsorgeklasse‘, deren Angehörige als ‚nicht leistungswillig‘ und

93 Von sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen kommend, finden sich beispielsweise bei Mayer und Hondrich zu den „Modernisierungs-, Individualisierungs-, Institutionalisierungs- oder anderen [...]-ierungstheorien“ kritische Argumentationen gegen solche theoretischen Leerformeln, was jedoch nicht bedeutet, dass sie von der Bühne der wissenschaftlichen Diskussion verschwinden würden (vgl. dazu Hondrich 1998, Mayer 1996).

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‚bildungsabstinent‘ beschrieben werden“, zur Booth’schen Bevölkerungsklassifikation und dem entsprechenden Gesellschaftsbild aus den Jahren 1902/1903 sieht und in der gleichzeitigen Verdrängung und Metamorphose der Kategorie ‚Unterschicht‘ in die Formel „von den ‚Menschen, die es schwer haben‘ (Müntefering). Nur, warum sie es schwer haben, außer, dass sie ‚sozial schwach‘ und ‚bildungsfern‘ sind, geht aus einer solchen Rede nicht mehr hervor. So kann es geschehen, dass die soziale Situation derer, ‚die es schwer haben‘, als Resultat der Muster der Lebensführung (Alkohol, Nikotin, Fast Food, Unterschichtenfernsehen usw.), nicht diese Muster als auf komplexe Weise mit der sozialen Lage verwoben gesehen werden. Konsequenterweise sieht das aktuelle sozialpolitische Programm auch ausschließlich die Bekämpfung der Muster der Lebensführung vor, nicht aber die Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen.“ (Lindner 2008, S. 12 und 15 f.) Heinz Bude und Andreas Willisch „dokumentieren“ in dem 2008 erschienenen Band „Exklusion“ die „Debatte, die sich am Konzept der ‚Überflüssigen‘ entzündet hat, nachdem die beiden Herausgeber „eine sozialstrukturell identifizierbare Gruppe so bezeichnet haben“ (Bude; Willisch 2008a, S. 9; Hervorhebg. SK). Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die hier zu Wort kommen, gehen davon aus, dass die „deutsche Einigung der Problematik der gesellschaftlichen Überflüssigkeit eine besondere Fassung“ gegeben hätte (Bude; Willisch 2008a, S. 10), im ländlichen Raum Ostdeutschlands am sichtbarsten sei (Willisch 2008, S. 55), oder infolge der „,Umbruchsarbeitslosigkeit‘ östlich der Elbe eine spezifische neuen soziale Klasse überzähliger Arbeitskräfte [entstanden sei], die sich in Struktur und Mentalität deutlich von den westdeutschen Arbeitslosen“ unterscheiden würde (Vogel 2008, S. 155). Bei diesen „Überflüssigen“ in der Überflussgesellschaft geht es Berthold Vogel zufolge „vor allen Dingen um das bohrende, quälende und selbstzerstörerische Gefühl, in einer Welt der Erwerbsarbeit und des Wohlstandes nicht mehr mithalten zu können und im symbolischen System von Erwerbspositionen und beruflichen Statuslagen nicht repräsentiert zu sein“ (Vogel 2008, S. 157). Mehrdimensionale Ausgrenzungsprozesse, die in der Mitte der Gesellschaft beginnen würden, seien auf unterschiedliche Faktoren und Logiken zurückzuführen und seiner Auffassung nach bislang nur wenig empirisch erforscht (vgl. Vogel 2008, S. 158). Doch gilt dies generell auch für die aktuelle Studienlage auf dem Gebiet der empirischen Armutsforschung? Wie definiert sie ihre Gegenstände im Spannungsfeld von strukturellen Benachteiligungen und biografischen Mustern der Lebensführung? Wie konzeptualisieren empirische Untersuchungen subjektive Wahrnehmungen von Armut, mehr oder weniger lang andauernde Erfahrungen materieller Nöte und gesellschaftlicher Marginalisierung? Beispielsweise untersuchten Thomas Olk, Eva Mädje und Johanna Mierendorf et al. (vgl. 2004, S. 187 ff.) in der Hallenser Studie zur Sozialhilfe- und Armutsdynamik die Einstellungen und die Zufriedenheit ehemaliger Sozialhilfeempfängerinnen aus Ostdeutschland zu/ mit dem System der sozialen Sicherung, sowohl in für die DDR-Gesellschaft als auch für

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die Bundesrepublik, zu drei Erhebungszeitpunkten (1994, 1997 und 1999). Als Resultat ihrer qualitativen Analysen kategorisieren sie die untersuchten Fälle entlang der Dimensionen gefühlte Un-/Sicherheit und arbeiten heraus, „dass nicht die objektive Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt und die ökonomische Marginalisierung, die also Personen von außen zugeschrieben wird, sondern die Selbstdefinition als ausgegrenzt, also die subjektiv empfundene Ausgrenzung, eine negative Einstellung zum Sozialsystem der Bundesrepublik hervorbringt“ (Olk; Mädje; Mierendorff, et al. 2004, S. 190 ff.; 195; Hervorhebg. S.K.). Vera Sparschuh rekonstruiert, wie aktuelle Perspektiven und Orientierungen der Angehörigen sogenannter „traditionsloser Milieus“ in ländlichen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns aus ihren Erfahrungen und langlebigen kulturellen Mustern heraus erklärbar werden (2007, 2008b). „Durch die Rekonstruktion von handlungsleitenden Wissensbeständen/impliziten Strukturen, die für den Umgang mit Armut entscheidend sein können, wird der Frage nachgegangen, ob und wie sich Familienmilieus angesichts von Erfahrungen mit langer Arbeitslosigkeit bzw. staatlicher Alimentierung fortsetzen bzw. wandeln.“ (Sparschuh 2008b, S. 46) In komparativen Analysen zu einzelnen Interviewten und im Fallvergleich mehrerer Familien arbeitet sie den Typus oder Habitus einer umfassenden „Schicksalsorientierung“ heraus, demzufolge das Leben als schicksalhafte Abfolge von Erfahrungen in verschiedenen Lebensbereichen begriffen werden kann. Schicksalhaftigkeit ist ihren Analysen zufolge in unterschiedlichen Graduierungen (Schicksalsabläufe oder Schicksalsmystik) feststellbar und eng mit einem niedrigen Bildungsstatus verbunden (Sparschuh 2008a, S. 183 ff.). Entgegen oder quer zur Hauptrichtung soziologischer Interpretationen fordert uns Susanne Völker mit ihrer praxeologischen Soziologie auf, nicht nur eine Seite der Prekarisierung zu sehen, sondern deren Ambivalenzen auch als Herausforderungen zu begreifen, Ungewisshei­ ten, Instabilitäten und Unsicherheiten „sich ereignen zu lassen“ (Völker 2009, S. 223). „Die Effekte sind doppeldeutig: Prozesse der Entsicherung verschärfen soziale Ungleichheiten und gehen mit der massiven Begrenzung von Teilhabechancen und des Abbaus von Inte­ grationsangeboten einher. Sie können aber auch Lockerungen von bisher gültigen Arrangements initiieren und Freisetzungen aus bisher wenig hinterfragbaren herrschaftsförmigen Zuschreibungen ermöglichen. Es geht also nicht nur um eine Defizitperspektive, sondern zugleich und dadurch um eine Entbindung aus mit diesem Format verknüpften Hierarchien und Ausbeutungsverhältnissen. [...] Diese Situationen sozialer Unbestimmtheit stellen in ihrer Zukunftsoffenheit und mit ihren sozial nicht greifbaren Lagen hohe Ansprüche an das alltägliche Handeln, bieten aber auch praktische Gelegenheiten und Möglichkeiten für die Subjekte, modifizierte Strukturen zu generieren, die über das Gegebene hinausgehen.“ (Völker 2009, S. 222 ff.) In einem Fallbeispiel einer prekär beschäftigten jungen Filialleiterin (Mitte zwanzig) eines Outletcenters, die einen „eigenen Stil“ der „Achtsamkeit und Umtriebigkeit“ im Umgang mit allgegenwärtigen Unsicherheiten in allen Lebenssphären entwickelt hat, sieht Susanne

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Völker Chancen für das Aufbrechen hierarchisierter Geschlechterbeziehungen und Neuarrangements zwischen Arbeit, Privatheit und Öffentlichkeit (Völker 2009, S. 225 f.). Peter Bescherer, Silke Röbenack und Karen Schierhorn analysieren vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass die Reformgesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) gerade die Zielgruppen eben nicht erreichen, auf die man sie vermeintlich zugeschnitten hatte, welche Folgen der sozialpolitische Paradigmenwechsel für die „Arbeits- und Lebensorientierungen“ der Langzeitarbeitslosen hat. „Diese subjektiven Folgen sind zwar von der Reform so nicht beabsichtigt, sie sind aber ebenso wenig Teil der bisherigen Evaluations­forschung.“ (Bescherer; Röbenack; Schierhorn 2009, S. 146) Dabei arbeiten sie Befunde heraus, die sich vor allem auf die „subjektive Verarbeitung von Maßnahmen der sogenannten strengen Zumutbarkeit“ beziehen, die zum einen subtil disziplinierend auf die noch Beschäftigten wirken und zum anderen den „Eigensinn“ der von aktivierender Arbeitsmarktpolitik Betroffenen herausfordert. Die eigensinnigen Verarbeitungsformen bringen sie dann in die folgende Typologie: a) Um-jeden-Preis-Arbeiter: „Typisch sind mitunter geradezu arbeitsbesessene ‚Aufstocker‘ und Selbständige.“ b) Als-ob-Arbeiter: „Der Ein-Euro-Job ist für sie eine willkommene Gelegenheit, die Normalitätsfassade aufrechtzuerhalten.“ c) Nichtarbeiter: „Die Befragten richten sich in einem Leben ohne Hoffnung auf Integration in die offizielle Arbeitsgesellschaft ein.“ (Bescherer; Röbenack; Schierhorn 2009, S. 146–149) Diese Typologie legt eine Variation nahe, provoziert eine Lesart, deren Konsequenzen wir Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler möglicherweise nicht zu Ende zu denken wagen: Auch wir Forscherinnen akzeptieren längst eine Gesellschaft, in der immer größere Gruppen von Menschen verzweifelt und verbissen um gesellschaftliche Integration und Anerkennung kämpfen, in der die Gruppen der Als-ob-Partizipierer und diejenigen, die jegliche Hoffnung auf gesellschaftliche Teilhabe verloren haben, immer schneller wachsen. Langfristig führt dies zu einem Legitimitätsverlust der westlichen Zivilgesellschaften. Die von Elisabeth Niederer in ihrer Kärntner Untersuchung zur „Kultur der Armut und ihren sozialen Kontexten“ herausgearbeiteten kollektiven Deutungsmuster ihrer Lebenslage durch die working poor ähneln den „Haltungstypen“ der Marienthalstudie94 auf frappierende Weise: „1. Resignation hinsichtlich der Lebenslage ,So ist es halt, da kann man nichts machen.‘ (Luisa 45, Kellnerin) 94 Resignation ist die in Marienthal am häufigsten zu findende Grundhaltung, weiter werden gebrochene und ungebrochene Familien sowie verzweifelte und apathische voneinander unterschieden (vgl. Jahoda; Lazarsfeld; Zeisel 1975, S. 70 f.).

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2. Aussichtslosigkeit, diese Lebenslage zu verändern ,Damit muss ich mich abfinden, könnte auch noch schlimmer sein.‘ (Herbert 22, Taxifahrer) 3. Angst, für die eigenen Rechte einzutreten ,Sich beschweren hilft eh nichts, sondern schafft nur Probleme.‘ (Christian 50, Tischler) 4. Arbeit als einziges Mittel gegen Armut ,Wer arbeiten will, findet auch eine Stelle. Dann ist man auch nicht mehr arm, nicht so richtig.‘ (Jaqueline 19, Verkäuferin in Ausbildung) 5. Jeder Mensch ist für sein eigenes Leben selbst verantwortlich ,Helfen tut einem niemand, keine Sau! Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt man, oder? Das gilt dann ja wohl auch für sein eigenes Unglück.‘ (Gustav 61, Maurer)“ (2009, S. 203) Solche „‚Lebensgefühle‘ und ‚Grundstimmungen‘ zeigen, in welch erstaunlichem Ausmaß eine Art von sozialer Resignation in den unterschiedlichen Sozialgruppen der Gegenwart verbreitet ist – und zwar weit über jenes Milieu des ‚abgehängten Prekariats‘ hinaus, bei dem eine depressive Grundstimmung am ehesten zu erwarten gewesen wäre.“ (Neckel 2008, S. 24 f.) Ulrich Wenzel untersucht auf der empirischen Grundlage biografisch-narrativer Interviews den Prozess der Leistungserbringung und Maßnahmedeutung im Kontext der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) als kooperativen – also gegenseitigen – Konstitutionsprozess von LeistungsempfängerInnen und BeraterInnen „in sieben Regionen Deutschlands mit unterschiedlichen Strukturmerkmalen und Arbeitsmarktbedingungen“ (Wenzel 2008, S. 66). Das Material wurde mit dem Ziel, „Referenzhorizonte einer Epistemologie der Wahrnehmung von Hilfeangeboten“ zu entwerfen, inhalts- und sequenzanalytisch ausgewertet (Wenzel 2008, S. 74). Deutlich wird dabei, dass die allseits boomende Evaluationsforschung am Verständnis dessen (Ludwig-Mayerhofer; Promberger 2008), was sich in der Arbeitsmarktberatung und auf dem Feld der sozialen Dienstleistungen insgesamt als sozialer Prozess entfaltet, vorbeigeht, indem das Erleben, die subjektiven Deutungs- und Handlungsmuster als konstitutives Moment der Hilfegewährung in der Praxis der sozialen Dienstleistungen ausgeblendet werden. Zugespitzt wird nach der Kosten­effizienz und Akzeptanz der Maßnahmen gefragt, ohne die Selbstreflexivität und die (eingeschränkte, aber dennoch widerständige) Handlungsmacht der LeistungsempfängerInnen überhaupt in den Blick zu nehmen und damit ihnen Akzeptanz als handelnde und

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sinnerzeugende Individuen und nicht als MaßnahmeteilnehmerInnen zu gewähren (vgl. Wenzel 2008, S. 63 f.). Elisabeth Niederer (2009) will in ihrer Untersuchung den Stimmen der Armutsbetroffenen, der Unsichtbaren, die für das Funktionieren moderner Wissens- und Dienstleistungsgesellschaften existenzielle und sehr wohl sichtbare Leistungen erbringen und für uns Forscherinnen immer auch die anderen sind, Gehör verschaffen. Dazu formuliert sie eine narrative Lyrik (Richardson; St. Pierre 2005), die sowohl die Stimmen der armutsbetroffenen Männer und Frauen, ihrer ForschungspartnerInnen, zu Gehör als auch ihre eigene Position der Forscherin zur Anschauung bringen und sie zugleich infrage stellen. Elisabeth Niederer hat die Worte ihrer Interviewpartnerin Hazina, die sie als überangepasst in Bezug auf die unterdrückerischen Verhältnisse ihrer Arbeitswelt und zugleich hochgradig arbeitsorientiert wahrnimmt, in die folgenden Strophen gebracht:95 Anständige Leute arbeiten, arbeiten, arbeiten das ist es das machen wir jeden Tag trotzdem arm nie Geld jammern und weinen darf man nicht niemals es könnte noch schlimmer sein eigentlich nicht Milan ist tot freundlich sein niemand anschauen sich nur um die eigenen Sachen kümmern arbeiten, arbeiten, arbeiten arm werden wir immer sein 95 Ich danke Elisabeth Niederer für die Erlaubnis „Anständige Leute“ abdrucken zu dürfen.

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aber wir sind wirklich ehrliche und fleißige Leute wir tun niemandem etwas anständige Leute (Hazina, 48 Jahre, Reinigungskraft, lebt mit ihrem Mann seit mehr als 20 Jahren in Kärnten) (Niederer 2009, S. 211 f.).

Neben diesen – auch für die Theoriebildung wichtigen methodischen Innovationen – beeindruckt an der ethnografischen Studie vor allem die Erkenntnis, dass die neoliberalen Grundmuster der gesellschaftlichen Diskurse über Armut und Ausgrenzung längst so tief in unser aller Gang-und-Gäbe-Denken eingelassen sind, dass sie bei den armutsbetroffenen Menschen selbst in ähnlich stereotyper und (selbst-)stigmatisierender Weise aufscheinen, wie wir es in den dominanten gesellschaftlichen Diskursen generell finden. „Allgemein geteilte Annahmen über arme Menschen und ihre Lebenswelt“, denen zufolge „andere arme Menschen als ‚faul‘, ‚versoffen‘, ‚nichtsnutzig‘, ‚charakterlos‘ und ‚arbeitsscheu‘ [...] für ihre Situation ‚selber verantwortlich‘ und an ihrer Lage ‚selbst schuld‘“ seien, werden von den ForschungspartnerInnen Elisabeth Niederers (2009, S. 382) in Kärnten ebenso offen, unhinterfragt und desavouierend kommuniziert, wie das in Ostvorpommern, Sachsen oder Bayern der Fall ist. Nicht nur am Beispiel Hazinas, an ihrem diskursiven Wissen über ihre marginalisierte Position als Migrantin im Kärnten des Jahres 2009 (Niederer 2009, S. 213), sondern in anderen Forschungsvorhaben über die Gruppe der working poor, über Langzeitarbeitslose oder SozialleistungsempfängerInnen, zeigt sich eine unlösbare Verbindung der wahrgenommenen Nicht-/Erwerbssituation mit ihrer Selbstpositionierung im Statusgefüge der Gesellschaft, in der sie leben. Für das kleine Sample der armutsbetroffenen Frauen aus Ostvorpommern möchten wir das im letzten Abschnitt des Kapitels noch genauer darstellen.

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6 Armutserfahrungen und Selbstpositionierungen ­o stdeutscher Frauen im sich reproduzierenden Ungleichheitsgefüge der deutsch-deutschen Gesellschaft Unsere Analysen zu den Armutserfahrungen von Frauen im ländlichen Raum Ostvorpommerns zeigen, dass Armut nur umfassend untersucht werden kann, wenn es gelingt die biografische Bedeutung prekärer Lebensverhältnisse für die gesamte Lebenswirklichkeit armutsbetroffener Menschen zu erschließen. Erst im Prozess der fallrekonstruktiven Arbeit kristallisierte sich heraus, innerhalb welcher thematischen Kontexte Armut für unsere Interviewpartnerinnen biografische Bedeutung bekommen hat und wie sich diese Bedeutungen im Verlauf ihrer Lebensgeschichte veränderten. Ihre biografische Gesamtsicht auf Armut, die über mehrere historische Zäsuren hinweg jeweils zu einer fundamentalen Neubewertung gelebter Lebenserfahrung und individueller Lebensleistungen geführt hat, bringen die interviewten Frauen sehr zugespitzt in Globalevaluationen zum Ausdruck. Dabei positionieren sie sich schlussendlich auf ihre je individuelle Art und Weise im Status- und Positionsgefüge der Gegenwartsgesellschaft. Carola Bandelow eröffnet das lebensgeschichtliche Interview souverän, fast schon professionell mit der Thematik „als Kind [...] ein ganz normales Leben“, berichtet von ihrer erfolgreichen Schul- und Berufsausbildung, von den Geburten dreier Kinder, verschiedenen Erwerbstätigkeiten, ehe sie in die verknappte argumentative Darstellung eines diskontinuierlichen Erwerbsverlaufs nach 1990, einer Maßnahmekarriere, krisenhafter familiärer Ereignisse und der Krankschreibung im Jahre 2003 wechselt. Seither – das könnte die von ihr definierte Gegenwartsschwelle sein – kämpft sie ums tägliche Überleben, um etwas Ruhe und eine Rente. Auf die zweiseitige autonome Eingangspräsentation folgen 50 Seiten im thematischen Feld „mein gesamtes gegenwärtiges Leben ist eine Geschichte des Leidens“, in dem sich kurze Berichte, Argumentationen und wenige Erzählansätze abwechseln. So wie sie sich für die DDRZeit als erfolgreiche berufstätige Mutter mir drei Kindern präsentiert, so offensiv entfaltet sie ihre Darstellungen für die verschiedenen Leidensbereiche in ihrem Leben: ‚‚ defizitäre materielle Lebensbedingungen; ‚‚ massive gesundheitliche Beeinträchtigungen; ‚‚ eheliche Konflikte; ‚‚ die von ihr nicht gewollten, westlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Konsequenterweise mündet die Präsentation während des Interviews in der biografischen Selbstdarstellung als total Arme. Nach einer kurzen Aufwärtsentwicklung, in der sie auch über berufliche Ambitionen (Meisterausbildung steht als Wunsch dafür) spricht, beginnt bereits 1984, nach der Geburt der zweiten Tochter und der Ausübung unqualifizierter Tätigkeiten, eine Abwärtsentwicklung, die aus der Perspektive der Biografin 1990 endet:

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„Ja und dann nachher neunzig bin ig ja dann nachher (2) äh ja als Bäuerin musst ig dann gehen.“ (CB 12/5)

Als junge Frau hatte sie sich entschieden, eben nicht in die Landwirtschaft zu gehen, hatte eine naheliegende Alternative gewählt (Tourismus auf den Ostseeinseln), um nun doch eben dort, ihrer Meinung nach ganz unten zu landen. Dass sie den Begriff Bäuerin statt Feld-/ Landarbeiterin benutzt, verweist auf ihre Irritationen hinsichtlich dessen, was wir gemeinhin Statuszuschreibungen nennen. Die brüchig wirkende Textstruktur dokumentiert möglicherweise auch, dass sie sich nicht sicher ist, welche Begrifflichkeit – die der Westdeutschen oder Ostdeutschen – sie gegenüber der Interviewerin benutzen sollte, um die Schmach ihres sozia­ len Abstiegs zu verbalisieren. Die gelebte Lebensgeschichte Carola Bandelows changiert zwischen dem mühsamen Ringen­um biografische Handlungsfähigkeit, dem immer wieder drohenden Trudeln in eine verlaufskurvenförmige Entwicklung sowie dem Beharren auf den Resten von Handlungs­ autonomie, sofern es um die Selbstbestimmung über ihren Körper geht. In der Retrospektive muss sie uns ihre Zeit in der DDR als glückliche darstellen, während ihr für die Jahre nach der Wende und dem Tod der Tochter, die sie als verlaufskurvenförmigen Zusammenbruch ihrer biografischen Orientierung und Handlungsfähigkeit erlebt (Schütze 1995), noch immer schlüssige Interpretationsmuster fehlen. Karin Groß beginnt ihre Eingangspräsentation im lebensgeschichtlichen Interview eher zögerlich oder verzagt, indem sie sagt, dass sie „dat gar nicht alles auswendig“ könne, sie „dat alles gar nicht so merken“ könne (KG 2/58). Das legt die Vermutung nahe, dass sie die Erzählaufforderung nicht als Bitte um eine lebensgeschichtliche Erzählung interpretiert hat,96sondern vielmehr versucht, die verschiedenen Maßnahmen, die sie durchlaufen hat, in Gedanken zu rekapitulieren. Als sie realisiert, dass ihr dies nicht gelingt, beginnt sie in fragmentarischen Wortgruppen zu berichten, dass sie 1991 arbeitslos geworden sei, zuvor als Reinigungskraft gearbeitet habe, dann fünf Jahre zu Hause gewesen sei und evaluiert, dass sie schwer zu vermitteln sei. Sie spricht darüber, dass sie sich dennoch immer wieder beworben habe, dass sich das so hinziehe, sie aber nie fest eingestellt worden wäre. Nach 37 Zeilen endet sie mit der Formulierung: „Ja und das ist eigentlich so im Großen und Ganzen meine Geschichte“ (KG 2/97). Möglicherweise kann die Biografin gar nicht glauben, dass sie sich während des lebensgeschichtlichen Interviews eben nicht in der Sozialagentur befindet, dass es nicht darum geht, die eigene Maßnahmekarriere schnell abzuspulen und die Deutung als schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose gleich mitzuliefern, damit die Bearbeiterin 96 Karin Groß reagiert hier durchaus adäquat auf die Rahmung der Situation, da die Interviewerin zu wenig offen und empathisch beginnt und sagt, dass das Projektinteresse sich auf Lebensgeschichten von Leuten richtet, „die dieses und jenes probieren mussten“ (KG 2/97).

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schnell wieder im Bilde ist, ohne sich auf ihr Gegenüber einstellen zu müssen. Die Analyse des Transkriptes zeigt jedoch im Weiteren, dass das Lebensthema mit der höchsten biografischen Relevanz in der Eingangspräsentation als wenig erfolgreiche Erwerbstätige resp. schwer zu vermittelnde Erwerbslose noch nicht berührt wurde. Vielmehr erweist sich die Beziehung zu ihrer Mutter und die Gestaltung verlässlicher familiärer Bindungen als zentral für ihr Leben. Das könnte auch gerade deshalb der Fall sein, weil sie ihre frühe Kindheit und Jugend mit ihren vier Geschwistern im Heim verbringen musste, nachdem sich die Eltern scheiden ließen. Im Interview formuliert Karin Groß im Abstand von wenigen Zeilen aufeinanderfolgend und sich selbst widersprechend noch nie arm gewesen zu sein und auch arm groß geworden zu sein (KG 10/501–22). Solange sie ihre Kinder hat, die Liebe ihrer Kinder und ihrer Mutter verspürt, fühlt sie sich vor Armut geschützt. Ihre derzeitigen Lebensverhältnisse begreift sie als schicksalhaft, ererbt und gleich der Hautkrankheit als in ihrer Familie drinnen steckend, als etwas, gegen das man sich höchstens zu wehren versuchen kann. Konsistent dazu evaluiert Karin Groß ihr ganzes Leben als „gar nicht so erfreulich“ (KG 4/181). Ganz am Ende des Gespräches bilanziert Karin Groß, dass sie heute, könnte sie ihr Leben noch einmal von vorn beginnen, vieles anders machen würde: keine vier Kinder haben und nicht im Alter von 17 damit beginnen, nicht heiraten, den Abschluss der 10. Klasse absolvieren und „ganz viele Dinge anders machen“ (KG 20/1051–1060). Gesellschaft wird in ihrer erzählten Lebensgeschichte dethematisiert, wirkt einerseits, als sei sie nichtexistent, und andererseits so übermächtig, dass sie sich ihr ohnmächtig ausgesetzt fühlt. Als veränderbare oder veränderungswürdige kann sie gesellschaftliche Verhältnisse nicht denken, jedenfalls finden sich im empirischen Material keine Anzeichen dafür. Kerstin Böhmes biografische Selbstpräsentation ist gerahmt durch das gemeinschaftliche Interview mit ihrer Mutter und ihrer Tochter (vgl. Mazur und Kreher in diesem Band). Zu Beginn des Gesprächs lässt sie ihrer Mutter dann mit den Worten, dass sie so ja sehen könne, was sie später tun müsse, den Vortritt. Ihre Selbstdarstellung startet Kerstin Böhme damit, sich als mittleres von drei Kindern zu präsentieren. Nach ihrer Berufsausbildung zur Wirtschaftskauffrau beginnt sie in dem Saatzuchtbetrieb, den ihr Vater leitet, als Sekretärin zu arbeiten. Als ihr Vater im Jahre 1990 das Rentenalter erreicht, wird ihr Tätigkeitsfeld beschnitten. Sie wird noch wenige Monate als Reinigungskraft beschäftigt und dann gekündigt. Seither fühlt sie sich nicht arm, „aber vielleicht irgendwie unterfordert“ (KB 38/1381), nicht ausgelastet und gebraucht. In der Geschwisterfolge zwischen Bruder und Schwester positioniert, befindet sie sich zum Zeitpunkt unserer Erhebungen in der „Warteposition“ auf eine akzeptable Arbeit. Während es den Geschwistern gelang, den sozialen Aufstieg der Elterngeneration zu konsolidieren und nach kurzen Irritationen ihrer Berufslaufbahnen zu Beginn der 1990er-Jahre wieder auf dem 1. Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, muss Kerstin Böhme sich und ihre Familie mit Alg-II-Leistungen und 1-Euro-Jobs über Wasser halten.

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Nicht nur in der Gesprächsdynamik zeigt sich die Abhängigkeit der Tochter von der ­Elterngeneration, indem die Mutter – Erika Fähre – beispielsweise das Wort an ihrer Stelle ergreift, sondern auch in der materiellen Unterstützung, die Erika und Horst Fähre immer wieder leisten (müssen). Als Kerstin Böhme gefragt wird, ob sie das Haus gekauft haben, antwortet ihre Mutter: „nach der Wende haben wir das dann gekauft“ (KB 37/1339). Kerstin reagiert scheinbar irritiert und korrigiert, indem sie betont sagt: „ja ihr“ (KB 37/1340). Das klingt so, als ob sie es vor der Interviewerin klarstellen wollte, dass sie selbst und ihr Mann nicht in der Lage gewesen seien, ein Haus zu kaufen, und dass sie deshalb als unterstützungs­ bedürftig anzusehen seien. Diese ihr zustehende staatliche Unterstützung wird von Kerstin Böhme ganz offen sowohl bei der Übernahme der Wohnkosten97 als auch hinsichtlich des Zur-Verfügung-Stellens von Arbeit durch die Sozialagentur reklamiert. Als mittlere Tochter ihrer Eltern, die den Aufstieg in die sozialistische Intelligenz geschafft hatten, fühlt sich Kerstin Böhme nicht nur quasi zwischen einem Bruder und einer Schwester,­vielleicht auch im Familiensystem insgesamt „eingeklemmt“. Sie kann sich mit ihrer Familie den Eltern gegenüber weder räumlich, noch finanziell verselbstständigen. Ihre ausweglose Lage repräsentiert sich auch in einer brüchigen biografischen Selbstpräsentation als arbeitslose Frau, die jedwede Tätigkeit anzunehmen bereit ist, sofern sie ihr institutionell zur Verfügung gestellt wird und örtlich irgendwie erreichbar ist.98 Angelika Klein beginnt ihre biografische Eingangspräsentation mit der Geburt ihres ersten Kindes 1971 im Alter von 17 Jahren. Sie berichtet dann von der Geburt des zweiten Kindes und von ihrer Heirat sowie drei weiteren Söhnen, die zwischen 1976 und 1981 geboren werden. Eingebettet in diesen Bericht wird eine Argumentation dazu, dass sie und ihr Mann acht Stunden gearbeitet hätten, ohne dass sie sich viel leisten konnten. Seit der Wende durchlief Angelika Klein verschiedene Phasen der geringfügigen Beschäftigung und der Erwerbslosigkeit, ehe sie 1996 eine saisonale Beschäftigung in einer kleinen Pension findet. Im Sommer arbeitet sie täglich 6 Stunden dort, im Winter ist sie erwerbslos gemeldet oder nur für wenige Stunden auf Zuverdienstbasis dort tätig. Im Interview mit Angelika Klein wird deutlich, dass sie die Vorstellungen einer nivellierten Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft, in der alle irgendwie gleich waren immer noch für gültig hält. In ihrer Vorstellung existierten die auch damals bereits bestehenden Statusunterschiede entlang der Dimension Qualifikation nicht. Sie sucht die Gründe für ihre prekäre finanzielle 97 Bei den Kosten für Elektrizität und Heizung erhalten sie nach ihren Aussagen für ihre Eigentumswohnung nicht wie bei gewöhnlichen Mietwohnungen Unterstützung durch die Sozialagentur. 98 Ihre Suchstrategien reichen dabei theoretisch von Neubrandenburg bis Greifswald, d.h. auf den Umkreis von einer Stunde Fahrzeit bezogen auf ihren Wohnort. Beide Städte sind als Arbeitsorte jedoch praktisch für sie kaum relevant, da entweder hohe Fahrtkosten anfallen würden oder ein Führerschein notwendig wäre.

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Situation weder in der wirtschaftlichen Lage noch in ihren geringen beruflichen Qualifika­ tionen, sondern formuliert generalisierend: „[...] ich find auch äh (1) gegen heut=gegen früher und heute der Kleine (1) mittel- (1) der Mittelstand wird immer bestraft, immer (1) also ich habs früher nicht besser gehabt, ich habs heute nicht besser“ (AK 10/361–363). Sie versucht verzweifelt, sich uns als nicht Arme und nicht Reiche zu präsentieren und an der uns Außenstehende irritierende Positionierung im Mittelstand festzuhalten, eine soziale Position, die sich für sie irgendwie zwischen dem Oben und Unten der gesellschaftlichen Ordnung auftut. Sie fühlt sich von der neuen Gesellschaft ungerecht behandelt, mit der geringfügigen und niedrig entlohnten Beschäftigung bestraft und vom ordnungsgemäßen Lauf der Dinge zwischen früher und heute abgeschnitten. Angelika Klein macht Exklusionserfahrungen trotz oder gerade wegen umfassender institutioneller Einbindung in den saisonalen Arbeitsmarkt der working poor und die sozialen Unterstützungssysteme der ergänzenden Sozialleistungen, die typisch für moderne Gesellschaften und so schwer begreifbar für die Einzelne sind (vgl. Kronauer 2008, S. 54). „Ausgrenzung in der Gesellschaft setzt den (gewohnheitsmäßigen oder normativen) Anspruch auf Zugehörigkeit oder gar die formale Berechtigung hierfür geradezu voraus – ohne dass dieser Anspruch eingelöst würde. Ausgrenzungserfahrung ist Scheiternserfahrung. Sie erwächst aus der Diskrepanz zwischen dem, was in einer Gesellschaft allen ihren Angehörigen möglich sein soll, aber auch von allen erwartet wird und gleichwohl unerreichbar bleibt. Die Ausgeschlossenen leiden nicht nur an Mangel, sondern auch an dem inneren und äußeren Vorwurf, dass ihnen fehlt, was andere selbstverständlich haben und auch sie haben müssten. Nur weil es aus der ‚Arbeitsgesellschaft‘ kein Entrinnen gibt, haben »‚Langzeitarbeitslose‘ in ihr keinen positiv beschreibbaren gesellschaftlichen Ort.“ (Kronauer 2008, S. 55)

Ostdeutsche Armutsbetroffene erleben (erfahren) die Inklusionen/Exklusionen in ihrer doppelten Widersprüchlichkeit. Das Inklusions-Versprechen der möglichen Zugehörigkeit zu einer auf Demokratie und rechtsstaatlichen Prinzipien basierenden Gesellschaft aus der Zeit vor der Wiedervereinigung sehen sie ebenso wenig realisiert wie die in Aussicht gestellte Partizipation an der Wohlfahrtentwicklung des ihnen vormals als leistungsfähig dargestellten Wirtschaftssystems der Bundesrepublik. Dass sich dieses wohlfahrtsstaatliche Wirtschaftssystem seit der Inkorporation der DDR-Gesellschaft (Zapf 1991) vielfach als krisenhaft erweist, wird unter dem Label der vereinigungsbedingten Kosten immer noch als Ost-West-Diskurs (mit Siegern und Verlierern) mit mehr oder weniger eindeutiger Schuldzuschreibung an die „armen Brüder und Schwestern aus dem Osten“ geführt und dürfte auch langfristig für die Identitätskonstruktion der ostdeutschen Teilbevölkerung zwischen Wi­ derspruch und Anpassung nicht folgenlos bleiben. Scheitern- und Ausgrenzung werden den Ostdeutschen ganz selbstverständlich und nicht selten mit einem moralisierenden Impetus

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als individuell zu verantwortende mangelnde Vermittelbarkeit, als zu geringe Flexibilität am Arbeitsmarkt und als Resultat der weitergelebten überkommenen Muster der Lebensführung einer nicht überlebensfähigen Gesellschaft zugeschrieben. Vor diesem Hintergrund sind die von uns rekonstruierten subjektiven Wahrnehmungen von Armut und des Verarmens bei den von uns interviewten ostdeutschen Frauen als eine fundamentale Erfahrung der Nichtakzeptanz ihrer Lebensleistung – als Scheiterns- und Ausgrenzungserfahrung – auch in ihren fatalistischen Nuancen nachvollziehbar. Eine Scheiterns- und Ausgrenzungserfahrung, die sich – wie wir aus der rekonstruktiven Familienforschung wissen – über den familialen Dialog zwischen den Generationen tradieren wird (Kreher; Vierzigmann 1997, Vierzigmann; Kreher 1998). Dabei erfolgt die Tradierung nicht direkt und unmittelbar, sondern eher subtil wirksam über die transgenerationelle Bedeutungskonstruktion und beispielsweise als geheime Aufträge, den weiteren Abstieg um jeden Preis zu verhindern, das Ethos der arbeiterlichen Gesellschaft (Engler 1999) weiterzuleben, komme, was da wolle, oder den Familienstolz einer ehrlichen Arbeit aufrechtzuerhalten, auch wenn diese unterhalb der Respektabilitätsgrenze liegt. Dynamisierung von Armut findet unseren Analysen zufolge in Ostvorpommern in einem gänzlich anderen Sinne statt, als dies die Forschungstradition der dynamischen Armutsforschung mit ihren Befunden für die letzten Jahrzehnte nahezulegen schien.

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Aufstieg auf Widerruf? Soziale Mobilität und Tradierung von Armut in der Familiengeschichte der Fähre-Böhmes Ana Lúcia Mazur und Simone Kreher Zusammenfassung: Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht der Zusammenhang von sozialer Mobilität und Armut vor dem Hintergrund von Familiendynamiken und Familiendiskursen. Empirische Grundlage der interpretativen Analysen sind ein Familiengespräch mit drei Frauen aus unterschiedlichen Generationen sowie das Genogramm der Familie Fähre-Böhme. Bei der Auswertung des Materials wurde auf eine hypothesengeleitete Analyse verzichtet und zuerst das Genogramm sequenziell interpretiert. In einem zweiten Schritt wurden die erzählten Lebensgeschichten der drei Frauen in ihrer Gestalt rekonstruiert, ohne von vornherein Bezüge zu den Forschungsfragen des Projektes herzustellen. In diesen fallrekonstruktiven Analysen stellte sich soziale Mobilität als zentrales Familienthema heraus, das dann in einem dritten Schritt mit dem Projektinteresse, der Untersuchung des familialen Umgangs mit Armut und Armutsgefährdungen, in Verbindung gebracht wird. Die Familie Fähre-Böhme würde in der Fremdzuschreibung keinesfalls als arme Familie gelten, da sie im Vergleich zu anderen Familien der Armutspopulation aus Ostvorpommern durchaus über beachtliche materielle und kulturelle Ressourcen verfügt, keineswegs als bildungsfern und kulturell verarmt beschrieben werden würde. Auch die familiären Netzwerke sozialer Beziehungen scheinen intakt und tragfähig zu sein. Und dennoch erweist sich dieses Familiensystem, das über die Generationen hinweg Auf- und Abstiegstendenzen als gegenläufige in sich vereint, als verletzlich. Als zum Ende der 1970er-/Anfang der 1980er-Jahre in einem Zweig der Familie der von der Vorgängergeneration erreichte soziale Status nicht abgesichert werden kann, entwickeln sich bereits in der DDR-Gesellschaft Abstiegspotenziale, die mit ihrem Zusammenbruch zu realen Armutsgefährdungen werden und nach 1990 begleitet von den spezifischen Arbeitsmarktbedingungen in strukturschwachen, ländlichen Räumen trotz der Stützungsbemühungen der Eltern zu prekären Lebensverhältnissen führen. Auch wenn mit solchen qualitativen Analysen immer nur ein Ausschnitt eines Familiensystems ins Blickfeld genommen werden kann, sind die hier beschriebenen Prozesse des sozialen Auf- und Abstiegs, der Selbstpositionierungen und Statuszuschreibung in verschiedenen historischen Kontexten durchaus als exemplarisch für die langfristige Mobilitätsentwicklung und die Tradierung von Prekarität und Armut anzusehen.

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Schlüsselwörter: Soziale Mobilität, Tradierung von Armut, qualitative Armutsforschung, Genogrammanalyse

1 Soziale Mobilität und Tradierung von Armut in der ­f allrekonstruktiven Forschung In der öffentlichen Diskussion um die Armutsentwicklung in unserer Gesellschaft spielte nicht nur während der letzten Jahre die Frage nach der sogenannten Vererbung von Armut eine prominente Rolle. Pejorative Begriffe wie Sozialhilfedynastien, Sozialhilfeadel, Sozialhilfeklientel, Sozialhilfegenerationen, Armutsbevölkerung und Armutsregion, die in den Feuilletons und in der politischen Öffentlichkeit kursieren, dokumentieren das eindrücklich. Wie zahlreiche andere Sozialwissenschaftler kritisiert Wolfgang Engler sowohl den überaus engen Zusammenhang von beruflicher Laufbahn und Herkunft als einen „Landgewinn des Feudalismus auf dem Territorium der Moderne“ als auch die zentralen Selektions-, Verstärkungs- und Reproduktionsmechanismen in den schulischen Institutionen unseres Landes. Die Vererbung von Dispositionen und sozialen Unterschieden gedeihe seiner Auffassung nach „weit unterhalb der Schulschwelle“ im familiären Milieu, das wie eine „osmotische Wand“ wirke und das Aufbrechen sozialer Reproduktionsmechanismen verhindere (Engler 2005, S. 300). Mit der Phrase von der Vererbung von Armut wird auch auf den Konnex zweier soziologischer Begriffe verwiesen, die zentral sind für dieses Kapitel: soziale Mobilität und Armutsgefährdung. Bei all den Diskussionen um soziale Vererbung wird immer wieder die Behauptung starkgemacht, dass Armut von den Eltern auf ihre Kinder übertragen würde, ohne dass die tatsächliche Komplexität familialer Tradierungsprozesse reflektiert wird. In der Regel nehmen öffentliche Debatten über die Vererbung von Armut weder die Erkenntnisse der Familienforschung zu transgenerationellen Familiendynamiken zur Kenntnis (Hildenbrand 1999, Hildenbrand 2005, Reich; Massing; Cierpka 1996, Vierzigmann; Kreher 1998), noch argumentieren sie auf der Grundlage aktueller Studien zur Armutsforschung (Butterwegge 2009, Groh-Samberg 2009, Niederer 2009). Beide Forschungsfelder bilden – ob von den Feuilletons registriert oder nicht – den theoretischen Kontext für solche Diskussionen, in denen es auch um die Selektivität des Bildungssystems, die Segregation von Arbeitsmärkten und die Dynamik oder Konsistenz/Inkonsistenz des Statusaufbaus moderner Gesellschaften geht. Soziale Mobilität und Tradierungsprozesse von Armut können jedoch in ihrer strukturellen Tiefe und in ihrer Wirkung erst untersucht werden, wenn breit angelegte qualitative Forschungsverfahren die für diesen speziellen Zweck nicht ausreichende quantitative Längsschnittforschung ergänzen (Mayer 2006, S. 1350). Qualitative, fallrekonstruktive Biografie- und Familienforschung eignet sich besonders dazu, Prozesse der sozialen Mobilität zu

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untersuchen, da wir so feststellen können, wie Menschen Mobilität in ihre Lebensentwürfe einbinden, welche Mobilitätsvorstellungen sie entwickeln und wie/ob sie diese Vorstellungen auch realisieren können. Darüber hinaus kann eine qualitative Herangehensweise die Prozesse der familialen Tradierung (oder Aufhebung) von Armutslagen in ihrer Genesis verfolgen, indem sie sowohl die individuellen Laufbahnen einzelner Familienmitglieder als auch die Entwicklung des Familiensystems als Ganzes in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit einbezieht. Ehe wir den in diesem Kapitel besonders interessierenden Zusammenhang von sozialer Mobilität und Armutsgefährdung bzw. der Abwehr dieser Armutsgefährdungen innerhalb eines Familiensystems aus transgenerationeller Perspektive behandeln, soll an dieser Stelle exemplarisch auf die in der wissenschaftlichen Literatur vorhandenen Konzepte von Mobilität eingegangen werden. Der in den Sozialwissenschaften verwendete Mobilitätsbegriff umfasst ganz allgemein sowohl räumliche Mobilität, begriffen als Bevölkerungsbewegung (oder Migration), die nicht Gegenstand dieses Beitrags ist, als auch soziale Mobilität, verstanden als Statuswechsel von Menschen bzw. von ganzen Gruppen von Menschen innerhalb einer Gesellschaftsstruktur, die gemeinhin als System von Klassen und Schichten begriffen wird (Holmwood 2006, S. 576). Bei Mobilitätsuntersuchungen spricht man von intragenerationeller Mobilität, wenn ein beruflicher Aufstieg bzw. Abstieg innerhalb des Lebensverlaufs eines Menschen bzw. einer Kohorte registriert werden kann. Intergenerationelle Mobilität wird im Unterschied dazu anhand des Vergleichs der beruflichen Laufbahnen/Positionen zwischen Generationen, insbesondere der Kinder bezogen auf ihre Eltern, untersucht. Je mehr Mobilität zwischen Generationen bzw. innerhalb der Lebenszeit eines Menschen stattfindet, als desto offener und weniger ungleichheitsreproduzierend wird eine Gesellschaft angesehen. In stärker geschlossenen Gesellschaften wird von geringer sozialer Mobilität und eng limitierten Mobilitätschancen gesprochen (vgl. Holmwood 2006, Pollak 2008). Da die Entwicklung der Ungleichheitsstruktur einer Gesellschaft zu den eher langfristigen Veränderungen gehört, können Kontinuität und Wandel in den Mobilitätschancen nur entsprechend langfristig, d. h. über Generationen hinweg und eingebettet in sozial-historische Kontexte, untersucht werden (vgl. Mayer 2006). Bezeichnenderweise nehmen auch die Forschungen im Kontext der dynamischen Armutsforschung, die in Deutschland für die Armutsforschung paradigmatisch ist, die Terminologie von Mobilitätsuntersuchungen auf, indem sie von Auf- und Absteigern, von Ein- und Aussteigern in die Sozialhilfe sprechen und Bewegungen (Dynamiken) in der Sozialhilfepopulation erfassen wollen (Leisering 2008, Ludwig 1996, Olk; Mädje; Mierendorff, et al. 2004)100. Freilich untersuchen sie so soziale Mobilität nicht in umfassendem Sinne. Dies ist auch nicht 100 Dies gilt sowohl für die quantitativen als auch für die qualitativen Analysen in den genannten Projekten und Publikationen.

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beabsichtigt, selbst wenn Begriffe aus der Mobilitätsforschung benutzt werden. Einstiege in das (Absteiger) oder Ausstiege (Aufsteiger) aus dem System der Sozialhilfe bilden dort die Grundlage für eine Typisierung von Sozialhilfeverläufen. Indes interessieren in der dynamischen Armutsforschung nicht lang- oder mittelfristige Veränderungen, sondern kurzzeitige Armutsepisoden und Dynamiken, die dann in den Thesen der Diskontinuität von Armut oder Verzeitlichung von Armut zum Ausdruck gebracht werden und jenseits eines umfassenden Verständnisses sozialer Mobilität liegen (Holmwood 2006, Mayer 2006, Solga 1995). Im Unterschied zum Ansatz der dynamischen Armutsforschung stehen hier soziale Mobili­ tät und Momente der Armutsgefährdung innerhalb eines Familiensystems im Zentrum der Aufmerksamkeit – und zwar als langfristiger sozialer Prozess, der durch biografische Entscheidungen von Individuen oder Familien(-Mitgliedern), die in von ihnen vorgefundenen und selbst gestalteten gesellschaftlichen Strukturen handeln, initiiert wird. Die im Folgenden dargestellte Fallgeschichte der Familie Fähre-Böhme eröffnete uns die Möglichkeit, die Vererbung oder Abwehr von Armutsgefährdungen generationenübergreifend zu untersuchen. Sozialhistorische Veränderungen, sozialstrukturelle Prozesse als auch individuelle biografische (Mobilitäts-)Entscheidungen sowie sich wandelnde gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen und deren Wahrnehmung und Thematisierung durch drei Interviewpartnerinnen, die verschiedenen Generationen angehören, bilden die sich wechselseitig durchdringenden Kontexte für unsere Mobilitätsanalysen und die Interpretationen zum Umgang mit Armut in der Familie Fähre-Böhme.

2 Interaktionelle Rahmung eines Familiengesprächs der ­b esonderen Art Das in diesem Beitrag analysierte Familiengespräch gehört zu dem qualitativen Material, das im Rahmen der Studie „Armutsdynamik im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“ (Kreher, Niemz, Sparschuh, 2008) von Vera Sparschuh zwischen November 2005 und März 2006 in Ostvorpommern erhoben wurde. Familiengespräche können als Datenmaterial dienen, um sowohl einzelne Biografien als auch Strukturen eines familialen Systems als Ganzes zu rekonstruieren. Biografische Fallrekonstruktionen können wiederum nicht nur Grundlage für Überlegungen sein, die den Fall als solchen betreffen, sondern auch Forschungsfragen beantworten, die sich auf die sozialen Einheiten – Familien, Gruppen oder sozialen Organisationen – beziehen, zu denen ein analysierter Fall gehört (vgl. Rosenthal 2005a, S. 195 f.). Fragen der sozialen Mobilität einzelner Familienmitglieder und Mobilitätsprozesse zwischen den Generationen, die im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen, lassen sich auf der Grundlage eines solchen familienbiografischen Datenmaterials besonders gut erörtern, diskutieren.

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Das vorliegende Familiengespräch lässt sich als Familiengespräch der besonderen Art bezeichnen, da es sich genau genommen um eine Folge von drei gemeinschaftlich geführten lebensgeschichtlichen Interviews mit drei Frauen handelt und die beiden oben genannten Dimensionen (die des Einzelfalls und die der übergreifenden sozialen Einheit) in sich vereint. Erika Fähre (1936 geb.), Kerstin Böhme (1962 geb.) und Jaqueline Böhme (1986 geb.) präsentieren sich in dem Gespräch sowohl als Biografinnen mit ihrer individuellen Lebensgeschichte als auch als Mitglieder des familialen Systems mit entsprechenden familialen Diskursen. Unser Familiengespräch weist auf der interaktionellen und thematischen Ebene eine mehrfache Rahmung101 auf, die wir vorab erläutern möchten: 1. Vera Sparschuh verfolgte im qualitativen Teil unseres Forschungsvorhabens den Plan, ­lebensgeschichtliche Interviews mit möglichst vielen Familienmitgliedern (Männern und Frauen) verschiedener Generationen und in Familien unterschiedlicher Milieus zu führen. Die ­Familie Fähre-Böhme bot dazu, wie sich inzwischen zeigte, eine in unserem Untersuchungsfeld seltene Gelegenheit. Dem von Vera Sparschuh verfassten Interviewmemo zufolge meldete sich Kerstin Böhme102 telefonisch auf eine Annonce bei der Caritas und hinterließ ihre Mobilfunknummer. Bei dem nachfolgenden Rückruf teilte sie der Interviewerin mit, dass sich die gesamte Familie interviewen lassen wolle, und zwar gemeinsam. Als Vera Sparschuh am 15. 3. 2006 zum vereinbarten Interviewtermin bei der Familie eintrifft, sind außer den drei Frauen tatsächlich auch Helmut Fähre, Erikas Ehemann, und Andreas Böhme, Kerstins Mann, anwesend. In einem gemeinsamen Schachzug mit ihrer Tochter Kerstin gelingt es Erika Fähre, die Situation jedoch so zu gestalten, dass die Männer ihr zunächst gegebenes Einverständnis zum Interview zurückziehen können oder es zumindest nicht einlösen müssen. Erika definiert das Gespräch auf die Frage der Interviewerin nach den Männern als Sache, die unter den Anwesenden geregelt werden soll: „… wir lassen se in Ruhe ne“. Kerstin pflichtet ihr sofort mit „wir lassen die Männer in Ruhe“ bei. Auch Vera Sparschuh erklärt ihr Einverständnis, indem sie zum Ausdruck bringt, dass die vier es „als Frauengespräch machen“ wollen (F.-B. S. 1, Z. 26–30)103.

101 Diese mehrfache Rahmung war uns zu Beginn der Arbeit am Fallmaterial der Fähre-Böhmes noch nicht vollständig klar, sie erschloss sich erst mit fortschreitender Analyse und beim Versuch, die Fallstruktur theoretisch zu fassen und niederzuschreiben. 102 Wie bei den meisten InterviewpartnerInnen, vermutete Vera Sparschuh vor allem bei Kerstin, dass die Gesprächsbereitschaft durch die Aufwandsentschädigung von 25 EURO motiviert gewesen sei. Obgleich dies im Interview kurz angesprochen wird, lässt das Transkript (Themen und Struktur) keine Zweifel an der Authentizität der Materialien aufkommen. Vera Sparschuh hatte die Aufwandsentschädigungen für die Befragten, die allesamt in prekären Situationen leben, bei der Antragstellung gesondert begründet. 103 Diese Angaben beziehen sich auf das Transkript des Familiengesprächs mit den drei Frauen der Familie Fähre-Böhme mit Seitenzahlen und Zeilennummern.

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2. Die Interviewerin realisiert somit kurz nach ihrem Eintreffen in dem Haus, indem die Böhmes wohnen, dass ihr Ursprungsplan, möglichst mehrere biografisch-narrative Interviews mit Familienmitgliedern aus verschiedenen Generationen zu führen, so nicht gelingen wird. Zudem nimmt sie sofort wahr, wie unterschiedlich die drei Frauen der Familie 104 sind, mit denen sie die nächsten Stunden verbringen wird. Sie besteht an dieser Stelle nicht auf den Projektplan, sondern sie ist so offen, dass sie die Frauen in ihrem Arrangement gewähren lässt. Vermutlich handelt es sich dabei nicht um eine methodisch bewusste Entscheidung der Interviewerin,105 die Erhebungssituation konsequent an den Bedürfnissen der Befragten zu orientieren (vgl. Rosenthal 2005b, S. 54). Man könnte auch sagen, sie habe versucht, das Beste aus der entstandenen Situation zu machen. Hätte sie jedoch nicht so gehandelt und zu Beginn des Gesprächs stärker interveniert, so wäre uns der Blick auf wichtige Themen und Inter­ aktionspraktiken in der Familie verstellt gewesen. Hätten wir die Versuche der drei Frauen, das Setting ihren Wünschen entsprechend zu gestalten, im Prozess der Analyse des Materials als Störfaktoren und nicht „als Ausdruck der Besonderheit der Befragten“ (Rosenthal 2005b, S. 55) begriffen, die es systematisch in die Interpretationsarbeit einzubeziehen gilt, hätten wir die Interaktionsdynamik zwischen ihnen und die transgenerationellen Prozesse in der Familiengeschichte nicht auf eine so in die Tiefe gehende Art und Weise rekonstruieren können. 3. Eine besondere Rahmung bekommt das Gespräch auch – wie wir bei der Arbeit am Material sukzessive erkennen konnten –, indem Erikas Vorstellungen von Armut, von Armen und von Unterstützungsbedürftigen thematisch werden. Sie schafft es, genau die beiden Frauen (die Tochter und die Enkelin) aus dem Familiensystem für das Gespräch auszuwählen, die sie wirklich für arm und unterstützungswürdig hält (also nicht Kerstins ältere Tochter, die als Zimmerfrau in einem Berliner Hotel vermutlich zur Gruppe der working poor gehört und mit einem algerischen Migranten verheiratet ist). Das verbalisiert sie im Gespräch nicht nur gegenüber der Interviewerin, sondern sie vermittelt es auch ihrer Tochter und Enkelin möglicherweise mit dem Ziel, dass beide, vor allem jedoch die Enkelin, sich über die Lage stärker bewusst werden. Dahinter könnte auch der offen ausgesprochene Wunsch der Großmutter stehen, dass die Enkelin etwas Gescheites mit ihrem noch jungen Leben anfängt und sich mit ihrer beruflichen Zukunft auseinandersetzt. 104 In ihrem Memo zur Gesprächssituation vermerkt Vera Sparschuh, dass Erika Fähre im Unterschied zu ihrer Tochter Kerstin Böhme und ihrer Enkelin Jaqueline nicht nur gut (fast schick) angezogen ist, sondern sehr wach und rege ist und dass sie sich sprachlich sehr gut ausdrücken kann. Kerstin, ihr Mann und die Tochter Jaqueline wirken eher behäbig auf die Interviewerin, geistig etwas langsam und auch körperlich kompakt. 105 Das zeigt sich unter anderem daran, dass sie als Interviewerin beim Formulieren von narrativen Fragen die methodisch erwünschte Empathie und Offenheit nicht durchgängig zu realisieren vermag.

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4. Schließlich muss mitgedacht werden, dass das Szenario des Familiengesprächs ein gänzlich anderes gewesen wäre, wenn auch die beiden auf dem Grundstück anwesenden Männer der Familie teilgenommen hätten.106 Da die Einbeziehung der Männer jedoch nicht glückte, wissen wir nicht, ob Erika vorab möglicherweise eine Art Arbeitsbündnis mit ihrem Ehemann geschmiedet hatte, das bewirkte, dass beide Männer dann doch anwesend/abwesend waren. Über die Paarbeziehungen zwischen Erika und Helmut sowie Kerstin und Andreas erfahren wir weder aus dem Smalltalk vor Beginn des Gesprächs noch aus dem Gespräch selbst oder den im Nachgang zum Interview verfassten Memos etwas. Bedeutet das möglicherweise, dass die Frauen, nach ihrer Lebensgeschichte befragt, ihre Männer/Partner nicht integrieren, was anders gewesen wäre, wären sie nach der Familiengeschichte gefragt worden? 5. Das Gespräch mit den drei Frauen Erika Fähre, Kerstin Böhme und Jaqueline Böhme dauert insgesamt fast drei Stunden. Der transkribierte Text umfasst 56 Seiten und gliedert sich grob in vier Teile: a) Eröffnung der Gesprächssituation durch die Interviewerin und interaktive Gestaltung des Settings durch Erika Fähre, ihre Tochter Kerstin und die Interviewerin; b) drei aufeinanderfolgende biografische Präsentationen von unterschiedlicher Komplexität und Länge; c) ein dialogischer Teil aller vier anwesenden Frauen; d) und der letzte Teil des Gesprächs, an dem Erika Fähre nicht mehr teilgenommen hat, da sie zu ihrer Thai-Chi-Gruppe gegangen ist, und der noch einmal zu einer Öffnung des Gesprächs und zur Aufnahme bislang nicht erzählter Situationen führte.

3 Drei Lebensgeschichten in einem Familiengespräch erzählt Als die Interviewerin alle drei Frauen um die Erzählung ihrer Lebensgeschichte bittet und ihnen freistellt, wer beginnt, übernimmt Erika Fähre zuerst das Wort: „Soll ich anfangen?“ Ihre Tochter Kerstin greift lachend ein: „Ja fang mal an (1) dann weiß ich ungefähr was ich sagen-“ und bricht ab. Erika beginnt mit ihrer komplexen biografischen Eingangspräsentation, die sie mit ihrer Geburt, dem Kriegsende, ihren Eltern und deren Flucht von Pommern nach Mecklenburg sowie den Schwierigkeiten, nach 1945 ein neues Leben aufzubauen, beginnt 106 Genau genommen kulminieren in dem Frauen-Familien-Gespräch die Erfahrungen, die Vera Sparschuh im Untersuchungsfeld gemacht hat. Männer aus Ostvorpommern für intensive Gespräche über ihre Armutserfahrungen zu gewinnen gelang im Rahmen des Projektes nur selten. Zum einen könnte es daran liegen, dass im Projekt keine männlichen Interviewer zur Verfügung standen, zum anderen jedoch auch an der Sprachlosigkeit, die für Männer mit der Thematik scheinbar unauflöslich verbunden ist.

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und dabei auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen eingeht. Sie spricht ausführlich über ihre berufliche Entwicklung und über das Familienleben, die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten sowie die gegenwärtige soziale und ökonomische Lage. Im Vergleich zu Erika erscheint die Eingangspräsentation ihrer Tochter weniger detailliert und umfassend, die der Enkelin sogar fragmentarisch. Um den Leserinnen und Lesern einen Zugang zur Familiengeschichte der Fähre/Böhmes zu eröffnen, werden im Folgenden die wichtigsten familiengeschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen dargestellt. Aus dem familienbiografischen Material ist bekannt, dass die Großeltern von Erika Fähre nach Vorpommern zugewandert sind, der Vater von Erika Fähre in dem kleinen Dorf Tantow geboren wurde und ihre Mutter aus Mecklenburg stammte. Erikas Vater, Paul Schwetzkow (geboren um 1915), war Landmaschinenschlosser und als Soldat im Zweiten Weltkrieg, wo er in Gefangenschaft geriet. Erikas Mutter, Lydia Schwetzkow, hat aufgehört zu arbeiten, als sie Paul geheiratet hat. Welcher Tätigkeit sie genau nachgegangen ist, wird im Interview nicht gesagt und von der Interviewerin auch nicht nachgefragt. Erika Fähre, die erste und älteste Interviewte, ist 1936 ebenfalls in in Tantow geboren. Als sie 3 Jahre alt war, begann der Zweite Weltkrieg. Sie hat die gesamte Kriegsdauer als Kind miterlebt und auch vieles gesehen, das sie als Kind lieber nicht gesehen hätte. Bei Kriegs­ ende hat sich die Familie ohne den Vater, der noch in Gefangenschaft war, auf den Weg nach Westen­ begeben. Sie versuchten, es nach Hamburg zu schaffen, kamen jedoch nur bis Güstrow und mussten dann wieder umkehren. Am Beginn der 1950er-Jahre begann Paul Schwetzkow gemeinsam mit einem Nachbarn ein Doppelhaus zu bauen, das durch einen Privatkredit finanziert wurde. Erika Fähre konnte die Oberschule besuchen, Abitur machen und anschließend studieren. Sie wurde Lehrerin für Biologie und Chemie. Lehrerin zu sein war für sie zunächst kein „Traumberuf“, sondern eine Verbindung von gesellschaftlicher „Notwendigkeit“ und individuellem Pragmatismus107. Sie ergriff die Chance, ein Studium zu absolvieren, das ihr schon nach wenigen Jahren eine ökonomische Selbstständigkeit ermöglichte. Helmut Fähre, ihren späteren Ehemann, lernte sie in ihrem Heimatort kennen. Helmut Fähre war Abteilungsleiter für Kartoffelzucht im gleichen Saatzuchtbetrieb, in dem Erikas Vater Paul in den 1950er-Jahren eine Leitungsposition innehatte. Erika und Helmut heiraten im Jahr 1958. Ein Jahr später bekamen sie einen Sohn, Thomas (1959), drei Jahre später eine Tochter, Kerstin (1962) und wiederum drei Jahre später eine zweite Tochter, Angela (1965). Durch die Unterstützung ihrer Mutter und einer Tante, die die drei Kinder betreute, konnte Erika Fähre ihre Tätigkeit als Lehrerin ohne lange Unterbrechungen ausüben, sodass sie zur Wende auf 107 Es mangelte in der DDR bis in die 60er-Jahre an LehrerInnen, da die alten als vom Nationalsozialismus belastet galten und viele neu ausgebildeten Akademiker noch bis zum Bau der Mauer in den Westen gingen.

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eine etwa 30-jährige Berufskarriere zurückblicken konnte. Im Jahre 1991, als Erika 55 Jahre alt war, ging sie in den Vorruhestand. In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre schied auch ihr Ehemann Helmut aus dem Erwerbsleben aus.108 Erika Fähre engagiert sich seither aktiv in einer nach 1990 wieder neu gegründeten Gruppe der Volkssolidarität, die Menschen aus dem Dorf bei ihren alltäglichen und nichtalltäglichen Bedürfnissen unterstützt. Diese Tätigkeit ermöglicht es ihr, Menschen zu treffen und soziale Beziehungen zu pflegen. Insgesamt erlebte Erika Fähre die gesellschaftliche Aufwärtsentwicklung in der DDR genau in dem Alter, da sie ihr Leben gemeinsam mit ihrem Mann aktiv gestalten konnte; sowohl beruflich als auch familiär. Sie dürfte jedoch auch die stagnativen Phasen der ökonomischen und sozialen Entwicklung der DDR-Gesellschaft in den 1980er-Jahren gespürt haben. Die Wiedervereinigung im Jahre 1990 begrüßt sie, die als junge Frau ja noch ein einheitliches Deutschland erlebt hatte, anfänglich. Je mehr sich jedoch auch negative Begleiterscheinungen offenbaren, umso kritischer wird ihre Haltung. Zwei der drei Kinder von Erika und Helmut Fähre haben Abitur gemacht und in den 1970er- bzw. 1980er-Jahren studiert. Alle drei Kinder der Fähres haben inzwischen eigene Familien gegründet und jeweils zwei Kinder bekommen, die als junge Erwachsene in ihrer Ausbildungs- und Berufsausbildungsphase sind. Thomas Fähre, der älteste Sohn (1959 geb.), hat nach seiner Berufsausbildung als Landmaschinenschlosser (mit Abitur) Landwirtschaft studiert. Nach der Wende konnte er nicht in der liquidierten und reprivatisierten LPG bleiben und machte sich mit einem kleinen Geschäft für den Verkauf und Service von Rasenmähern, Gartengeräten, Rasentraktoren selbstständig. Er beschäftigt einen Angestellten und arbeitet täglich mehr als 10 Stunden in seinem kleinen Unternehmen. Thomas wohnt mit seiner Frau Ruth und zwei Töchtern in der Nähe von Stavenhagen. Ihre älteste Tochter, Eva Fähre, folgt dem Vorbild ihrer Eltern und Großmutter und ist zum Zeitpunkt des Interviews dabei, ihr Lehramtsstudium für Religion und Geografie in Greifswald abzuschließen. Die jüngere Tochter, Lena Fähre, ist in der 13. Klasse und steht vor dem Abitur. Angela Strehlow, die jüngste Tochter von Erika und Helmut Fähre (1965 geb.), hat wie auch ihr Mann, Jens Strehlow, Landwirtschaft studiert (sie in der Spezialisierungsrichtung Pflanzen- und er Tierproduktion). Beide mussten nach der Wende ihre Berufspositionen zunächst aufgeben und Umschulungen machen. Angela Strehlow arbeitet inzwischen an der 108 Das Angebot (manchmal auch der Zwang), bereits mit 55 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen gehörte am Beginn der 1990er-Jahre zu den sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die vereinigungsbedingte Probleme beim Übergang aus einer sozialistischen Beschäftigungsstruktur in den Arbeitsmarkt etwas abmildern sollten. Bei Fortbestand der DDR hätte Erika Fähre mit 60 Jahren in Rente gehen dürfen. Aufgrund der kontinuierlichen Erwerbsbiografien der zu Beginn der 30er-Jahre Geborenen, gehören die Fähres zu den ostdeutschen RentnerInnen, die mit zwei Renten insgesamt ein auskömmliches Dasein im Alter erleben.

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Universität in Greifswald (was ihre Tätigkeit dort genau umfasst, wird nicht gesagt) und ihr Mann ist bei einem Munitionsbergungsdienst beschäftigt. Neben ihrer Arbeit absolviert Angela einen Intensivkurs in Wirtschaftsenglisch im Umfang von 10 Wochenstunden. Die beiden Kinder Christopher und Sophia gehen noch zur Schule, Christopher in die 11. und Sophia in die 8. Klasse. Die Familie wohnt im Umland von Greifswald. Kerstin Böhme, die mittlere Tochter und zweite Interviewte der Familie Fähre-Böhme, ist 1962 in Anklam geboren. Sie wurde bis zum dritten Lebensjahr von einer Tante zu Hause betreut, kam im Alter von 3 Jahren in den Kindergarten und wurde mit 7 Jahren eingeschult. Nach dem Abschluss der zehnten Klasse absolvierte sie eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann109. Nach dem Abschluss dieser Ausbildung nahm sie im Betrieb ihres Vaters, der inzwischen dort Betriebsleiter geworden war, eine Tätigkeit als Sekretärin110 auf. In dem Saatzuchtbetrieb soll schon vor der Wende viel rationalisiert worden sein. Nur dadurch, dass ihr Vater dort der „Chef“ gewesen sei, hätte sie ihren Job behalten können. Nach der Reprivatisierung des Saatzuchtbetriebes arbeitete Kerstin Fähre im selben Unternehmen als Reinigungskraft und erledigte wohl nebenbei auch noch Büroarbeiten. Als dort eine neue Sekretärin eingestellt wird, reduziert sich ihre Arbeitszeit auf 4 Stunden pro Tag. Kurz nach der Verrentung ihres Vaters zu Beginn der 1990er-Jahre wird Kerstin arbeitslos und kann seither keinen festen Job mehr finden. Im Jahre 2001, also zehn Jahre später, machte Kerstin durch die Sozial­agentur eine 4-wöchige allgemeine Umschulung (Bewerbungstraining), danach eine zweite zehnmonatige Fortbildung zur Verbesserung ihrer Computerkenntnisse und eine weitere Computerschulung, die nochmals 4 Wochen dauerte. Danach wechselten Arbeitslosigkeit und 1-Euro-Jobs einander ab. Kerstin lernte ihren Mann, Andreas Böhme, bei der Arbeit in dem Saatzuchtbetrieb kennen. Er hatte eine Ausbildung zum Agrotechniker absolviert und danach als Traktorist gearbeitet. Nach der Wende ist er dort nur noch unregelmäßig beschäftigt, ehe auch er arbeitslos wird. Für ein Jahr findet er eine Arbeit auf einem Schlachthof, wird wieder arbeitslos und hat zum Zeitpunkt des Interviews erneut eine sechsmonatige ABM hinter sich, ehe er wiede­ rum arbeitslos wird. Andreas und Kerstin Böhme haben zwei gemeinsame Töchter. Mandy, die ältere, ist 1984 geboren und Jacqueline, die jüngere, 1986. Mandy hatte nach der Schule eine Ausbildung zur Bäckerin begonnen, die sie aufgrund einer Krankheit nicht beenden konnte. Im Jahre 2004 heiratete Mandy Ahmed Haddad, einen Algerier, den sie in Anklam kennengelernt hatte und mit dem sie nach Berlin gegangen ist, da er sich in Anklam diskri109 Die Berufsbezeichnung gibt sie selbst – wie in der DDR üblich – in ihrer männlichen Form an, auch wenn sie als weibliche – Wirtschaftskauffrau – im Prinzip existierte und ein typischer Frauenberuf war. 110 Genau genommen ist das bereits eine Tätigkeit unterhalb ihrer formalen Qualifikation. Sie hätte auch eine qualifizierte Sachbearbeiterinnenposition mit den entsprechenden Dispositionsbefugnissen aufnehmen können.

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miniert fühlte und keine Chance sah, eine Arbeit zu finden. Dies gelang ihm nach der Heirat und dem Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit in der Großstadt sofort. Seit 2005 arbeitet Mandy Haddad als Zimmerfrau in einem Berliner Hotel, ihre erste richtige Arbeitsstelle, die sie nach einem Praktikum dort bekommen hatte. Jacqueline Böhme (1986 geb.), die dritte und jüngste Interviewte und jüngere Tochter von Kerstin und Andreas Böhme, hat die Schule nur bis zur 9. Klasse besucht und sie ohne qualifizierten Schulabschluss verlassen (vier Jahre Hauptschule). Sie erzählt, dass sie die 10. Klasse zwar machen wollte, es aber aufgrund von Lernschwierigkeiten nicht geschafft habe. Als Angebot der Sozialagentur begann sie dann eine Ausbildung zur Verkäuferin, die sie im Januar 2005 erfolgreich beendete. Eine Tätigkeit als Verkäuferin nimmt sie im Weiteren nicht auf, obgleich sie zahlreiche, aber erfolglose Bewerbungsversuche unternommen hat, sodass auch sie zum Zeitpunkt des Interviews als 20-jährige, junge Frau erwerbslos ist und von HartzIV lebt. Im November des Jahres 2005 begann Jaqueline mit einem Kurs zum Erwerb des Führerscheins, der von der Sozialagentur finanziert wird und zum Zeitpunkt des Familiengesprächs im März 2006 noch andauert. Mit dem praktischen Teil des Kurses kommt Jacque­ line nach ihren Aussagen gut klar, mit dem theoretischen Teil dagegen hat sie Schwierigkeiten. Jacquelines Tagesablauf ist von Computerspielen, der Beschäftigung mit ihrem Hund, vom Fernsehen sowie von wenigen Besuchen bei ihrer Schwester oder einem am Ort lebenden Bekannten geprägt. Insgesamt sind alle Aktivitäten stark auf das Dorf und seine engere Umgebung bezogen. Konkrete und umsetzbare Zukunftsvorstellungen entwickelt Jaqueline nicht, obwohl sie von ihrer Mutter und Großmutter darin durchaus bestärkt wird.

4 Familiendynamik und soziale Mobilität aus transgenerationeller Sicht Bei der Erhebung der familien-/biografischen Materialien zur Familiengeschichte der FähreBöhmes wurde, wie es in der fallrekonstruktiven Forschung üblich ist, auf eine hypothesenge­ leitete Datengenerierung verzichtet (vgl. Rosenthal 2005b, S. 186). In analoger Weise wird auch bei der Auswertung des Materials vorgegangen, indem zunächst die Familiengeschichte und die erzählten Lebensgeschichten der drei Frauen in ihrer Gestalt rekonstruiert werden, ohne von vornherein Bezüge zu den Forschungsfragen des Projektes herzustellen. Dabei liegen die thematischen Relevanzen einer Biografie oder die Dynamiken einer Familiengeschichte, also die Fallstrukturen, nicht von Beginn an auf der Hand, sondern offenbaren sich erst im Verlauf der Analyse und Interpretation des Materials. Aufgrund der Spezifik des vorliegenden Datenmaterials haben wir versucht, die Verfahren der Biografieforschung und der fallrekonstruktiven Familienforschung zu adaptieren. Dabei

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wurden Verfahren der fallrekonstruktiven Familienforschung mit etablierten textanalytischen Verfahren aus der Biografieforschung so kombiniert, dass eine Fallstruktur zur Lebenspraxis der Familie Fähre-Böhme herausgearbeitet werden konnte: 1. Auf der Grundlage der familiengeschichtlichen Daten wurde ein Genogramm erstellt und sequenziell ausgewertet (McGoldrick & Gerson, 1985, 1990; Hildenbrand, 2000, 2005). 2. Danach wurden die biografischen Eingangspräsentationen der interviewten Frauen jeweils für sich sequenziell analysiert. Dabei wurde die formale und inhaltliche Gestalt der Eingangspräsentation erfasst und das jeweilige Präsentationsinteresse der Biografinnen herausgearbeitet (vgl. Rosenthal 2005a, S. 183 ff.). 3. Um die in den ersten beiden Schritten bereits erarbeiteten Hypothesen zu den erzählten Lebensgeschichten der drei Biografinnen weiter zu präzisieren, wurden ausgewählte Textpassagen einer sequenziellen Feinanalyse unterzogen (vgl. Rosenthal 2005a, S. 193). 4. Schließlich wurden die Analyseergebnisse (präzisierte Hypothesen und ausgefeilte Interpretationen) zur Beantwortung der Forschungsfragen des Projektes – zur Tradierung von Armut – in der Familiengeschichte der Fähre-Böhmes herangezogen. Der generationsübergreifende Charakter des Datenmaterials hat bei der Entscheidung für die Genogrammarbeit als ersten Auswertungsschritt eine große Rolle gespielt. Dieses aus der systemischen Familientherapie stammende Instrument ermöglicht uns als Forscherinnen, aber auch den Leserinnen und Lesern nicht nur einen Überblick über das Familiensystem, geordnet nach Generationen (vgl. Abb. 1), sondern dient auch als Ausgangsmaterial für eine sequenzielle Analyse der Entwicklung sowohl einzelner Familienmitglieder als auch des gesamten Familiensystems (McGoldrick; Gerson 1990, Reich; Massing; Cierpka 1996). Genogramme werden dabei nicht allein als grafische Darstellungen eines Familiensystems oder als Informationsträger verstanden, sondern als Werkzeuge, durch die mögliche Entscheidungskorridore und tatsächlich getroffene Entscheidungen für Schulausbildungen, berufliche Laufbahnen sowie die lokale Einbindung von Paaren und Familien in Regionen, Städte und Gemeinden in sequenzieller Abfolge interpretiert werden können. Mittels Fallstrukturhypothesen werden Muster der familialen Lebenspraxis beschrieben, ihre Etablierung und Veränderung genauer untersucht. Wird ein Muster einmal erkannt, kann die Frage nach den Bedingungen für die Aufrechterhaltung dieses Musters formuliert werden bzw. können auch die Möglichkeiten der Veränderung destruktiver/dysfunktionaler familialer Handlungspraktiken ausgelotet werden (vgl. Hildenbrand 2005, S. 8, 19). Während unserer Genogrammanalyse formulierten wir beginnend mit der ältesten und fortschreitend zu der jüngsten Generation möglichst vielschichtige plausible und durchaus alternative Hypothesen zu denkbaren familiengeschichtlichen Konstellationen und biografischen

Quelle: Ana Lùcia Mazur, erstellt mit GenoGraph 2.1, Copyright Klaus Wessepie Softwareentwicklung und Vertrieb

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Entscheidungssituationen. Im Interpretationsprozess wurde für uns deutlich, dass mit den im Genogramm erfassten biografischen Daten und genealogischen Beziehungen zwischen einzelnen Familienmitgliedern Mobilität (und zwar soziale und räumliche) als zentrales Familienthema im Hintergrund steht. Wir sehen von der Generation der Urgroßeltern (Paul und Lydia Schwetzkow) hin zu Helmut und Erika Fähre einen sozialen Aufstieg aus dem bäuerlichen Milieu hin zu einer Akademikerfamilie der neuen, sozialistischen Intelligenz, ein Aufstieg, der wiederum von einem Teil des Familiensystems bis in die Kindergeneration (d.h. in die Familien von Thomas Fähre und Angela Strehlow) fortgeführt werden kann. Zwischen den beiden erfolgreichen Kindern der Fähres verzeichnet das Genogramm Kerstin, das mittlere der drei Kinder der Fähres, und deren Familie (ihr Ehemann Andreas Böhme sowie ihre Kinder Mandy und Jacqueline), die gegenläufig zum Familiensystem eher für einen sozialen Abstieg stehen. Um unsere Darstellung lesefreundlich zu gestalten, folgen wir im Weiteren den Ausgangsfragen, die Bruno Hildenbrand als essenziell für die Arbeit mit familienbiografischem Datenmaterial, insbesondere auch für die Arbeit mit Genogrammen ansieht: 1. die Frage nach der materiellen Selbsterhaltung des Individuums/der Familie, dokumentiert in den Entscheidungen für eine Ausbildung oder einen Beruf; 2. die Frage der Partnerwahl und der Entscheidungen für bzw. gegen Kinder; 3. die Frage nach der Herstellung eines Bezugs zum Gemeinwesen, d.h. die Wahl des Wohnortes sowie der Gestaltung der Beziehungen zu den lokalen und überregionalen Institutionen (vgl. Hildenbrand 2005, S. 19). Die drei interviewten Frauen, Erika Fähre (1. Generation), Kerstin Böhme (2. Generation) und Jacqueline Böhme (3. Generation), stehen im Vordergrund der zusammenfassenden Darstellung unserer Hypothesen und Interpretationen aus der Arbeit am Genogramm. Beginnen wir noch einmal bei den Mobilitätsprozessen, bei den Auf- und Abstiegen, die wir als gegenläufige Tendenzen im Genogramm verzeichnet sehen. Erika und Helmut Fähres Kinder, Thomas und Angela, haben wie ihre Eltern auch ein Studium abgeschlossen und jeweils eine/n Partner/in ausgewählt, die ebenfalls über einen akademischen Ausbildungsabschluss verfügen. Die Kinder von Thomas und Angela studieren bereits oder besuchen ein Gymnasium, um die allgemeine Hochschulreife zu erwerben. Anders ist es bei Kerstin Böhme, die in den 1970er-Jahren die 10. Klasse der POS absolvierte und dann einen Facharbeiterberuf im kaufmännischen Bereich erlernte. Sie heiratete den Traktoristen Andreas Böhme, der im gleichen Betrieb wie sie und ihr Vater tätig war und mit dem sie zwei gemeinsame Töchter hat. Das Ehepaar Böhme kann die Aufstiegstendenz des Familiensystems selbst nicht konsolidieren. Bei ihren Töchtern verstärkt sich die Abstiegstendenz noch. Beide orientieren sich auf Tätigkeiten unterhalb der qualifizierten Facharbeit: Die ältere Tochter Mandy konnte eine Ausbildung zur Bäckerin aus gesundheitlichen Gründen nicht abschließen und arbeitet

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als Zimmerfrau. Die jüngere Tochter Jacqueline verließ, wie oben dargestellt, die Schule bereits nach 9 Schuljahren, absolvierte eine von der Sozialagentur geförderte Ausbildung zur Verkäuferin und ist seither arbeitslos. Die beiden anderen Kinder der Fähres, Angela und Thomas, hatten infolge der Wende zwar Brüche in ihren Erwerbsbiografien hinzunehmen, es gelang ihnen jedoch über die Gründung eines kleinen Unternehmens bzw. durch mehrere Zwischenschritte wieder in qualifizierte Erwerbspositionen zu kommen. Helmut und Erika konnten ihren hohen Sozialstatus als Akademiker und Mitglieder der sozialistischen Intelligenz der DDR bewahren, indem sie nach mehr als 30 Jahren kontinuierlicher Erwerbstätigkeit zu Beginn der 1990er-Jahre, dann aber schon unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen, in den Ruhestand wechselten. Im gesamten Familiensystem der Fähre-Böhmes verzeichneten wir im Vergleich zu anderen Befragten oder Familien des qualitativen Samples eher stabile Partnerschaftsbeziehungen (vgl. Kreher und Matthäus im vorherigen Kapitel). Das Genogramm weist keine Trennungen oder Scheidungen aus, vielmehr haben die Ehen der Kindergeneration auch bei ökonomischen Verwerfungen und sozialen Problemen im Zuge der Liquidation der landwirtschaftlichen Betriebe Bestand behalten. Alle drei Kinder von Erika und Helmut Fähre bekamen zwischen 1985 und 1991 jeweils zwei Kinder,111 die sich zum Zeitpunkt der Erhebungen als junge Erwachsene in der Ausbildungs- und Partnerschaftsfindungsphase befanden. Mandy, die Tochter von Kerstin und Andreas Böhme, heiratete im Jahre 2004 als Zwanzigjährige Ahmed Haddad. In der jüngsten Generation der Familie Fähre-Böhme gab es zum Zeitpunkt unserer Untersuchungen noch keine Kinder, was bedeutet, dass im Unterschied zu unserer Untersuchungspopulation insgesamt auch keine sehr frühen Elternschaften auftraten. Sehen wir uns die Bezüge an, die einzelne Mitglieder der Familie zum dörflichen Gemeinwesen112 haben, so zeigen sich wiederum zwei grundlegende Tendenzen: Zum einen scheint die Familie Fähre-Böhme außerordentlich stark mit Ostvorpommern als Region bzw. mit der dörflichen Lebenswelt verbunden zu sein, zum anderen sehen wir auch Migrationen in die nähere Umgebung bzw. im Fall von Mandy und Ahmed Haddad einen Wegzug aus der Region; beide können in Berlin bessere Erwerbschancen realisieren. Thomas und Ruth Fähre leben mit ihren beiden Töchtern in einer kleinen Stadt der Mecklenburgischen Schweiz, Angela und Jens Strehlow mit ihren beiden Kindern in der unmittelbaren Umgebung von 111 Die genauen zeitlichen Abläufe, Motive und Entscheidungsprozesse können wir aufgrund der uns vorliegenden Materialien nicht genauer rekonstruieren. 112 Diese Frage lässt sich nicht vollständig aus der Interpretation der Daten, die im Genogramm enthalten sind, beantworten. Sie stand in der Analyse jedoch als Frage und mit verschiedenen Hypothesen zum Strukturwandel der dörflichen Lebenswelt im Raum. Um den Leserinnen und Lesern eine möglichst anschauliche Vorstellung vom Fall vermitteln zu können, nehmen wir an dieser Stelle Details aus dem Gespräch vorweg.

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Greifswald. Beide Familien bewohnen Eigenheime in Siedlungen, die eher als suburban zu charakterisieren sind und die etwa 50 km oder eine knappe Autostunde vom Elternhaus entfernt liegen. Erika, ihr Mann Helmut und die Böhmes haben ihr Heimatdorf nie verlassen, auch wenn Erika die kulturellen Angebote einer größeren Stadt vermisst. Sie äußerte im Interview, dass sie als junge Frau den Wunsch gehabt habe, in die Stadt zu ziehen. Realisieren konnte sie den Wunsch nie, da ihr Mann als Landmensch es sich nicht vorstellen könne, nicht auf dem Lande zu leben. Kerstin, ihr Mann und deren Tochter Jacqueline leben sogar in Sichtweite und damit sehr enger räumlicher Nähe zu den Eltern beziehungsweise Großeltern. Zudem sind sie durch die Unterstützung beim Hauskauf und -umbau auch ökonomisch von den Eltern abhängig. Während Kerstin Böhme und ihre Tochter Jaqueline beklagen, dass sich das dörfliche Leben immer eintöniger gestalten würde, ist Erika in der Ortsgruppe der Volkssolidarität sehr aktiv und pflegt die sozialen Kontakte zu den Bekannten aus ihrer Altersgruppe sehr intensiv. Gegenüber der Sozialagentur, der kommunalen Institution, mit der die Familie regelmäßig Kontakt aufnehmen muss, nehmen die Böhmes allesamt eine mehr als reservierte Haltung ein. Die Mitarbeiterinnen der Einrichtung werden entpersonalisiert als „die da“ adressiert, die sowieso keine Arbeits- oder Ausbildungsstelle anzubieten hätten.

5 Biografische Selbstpräsentation und soziale Positionierung in der familialen Generationenfolge Neben der Genogrammanalyse wurden von uns mit der sequenziellen Analyse der biografischen Selbstpräsentationen einerseits und den Mikroanalysen ausgewählter Gesprächspassagen andererseits zwei weitere methodische Verfahren zur Bearbeitung des familien-biografischen Datenmaterials und Herausarbeitung der Fallstruktur genutzt. Für Leserinnen und Leser, die mit solchen Verfahren nicht vertraut sind, hilft möglicherweise die Vorstellung, dass wir, nachdem wir die Strukturen und Dynamiken des Familiensystems in generationsübergreifender Sicht dargestellt haben, uns in einem zweiten Schritt nun der biografischen Selbstpräsentation der drei interviewten Frauen zuwenden. Diese Analysen wurden durchgeführt, indem wir das empirische Material dekontextualisiert bearbeitet haben. Das heißt, es wird vom Vorwissen über den Fall abstrahiert und es werden Hypothesen generiert, ohne dass unmittelbar Bezug zum Forschungsinteresse des Projektes genommen wird. Letzteres geschieht erst im Prozess der Rekontextualisierung, wenn Hypothesen und Interpretationen ergebnisorientiert aufbereitet werden und für Außenstehende nachvollziehbar wieder in das Gesamtmaterial des Falles und den Kontext der Untersuchung eingebettet werden. Nach allem, was wir bisher dargestellt haben, wird es unsere Leserinnen und Leser nicht überraschen, dass sich die drei interviewten Frauen der Familie Fähre-Böhme im Gespräch

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mit Vera Sparschuh auf individuell sehr unterschiedliche Weise dargestellt haben. Um es vorweg zu nehmen: Wir rekonstruierten je eine umfassende und komplexe, eine partialisierte und eine fragmentarische biografische Selbstpräsentation. Erika – als erste und älteste Sprecherin – geht in die Familiengeschichte zurück und gestaltet eine relativ umfassende, klar strukturierte Eingangspräsentation von fast drei Seiten. Sie spricht über ihre Geburt im Jahre 1936, den Krieg, ihre Berufsausbildung und darüber, wie sie ihren Mann kennengelernt, ihre drei Kinder bekommen hat, sowie die politischen und geschichtlichen Veränderungen nach 1990. Sie thematisiert die Wiedervereinigung, ihr soziales Engagement in der Gemeinde (Gründung einer eigenen Gruppe im Rahmen der Volkssolidarität), ihre Sicht auf das gegenwärtige Sozialsystem und ihre vorzeitige Verrentung. Chronologisch in der Nachkriegszeit beginnend greift sie in ihrer biografischen Selbstpräsentation alle Themen auf, die bis zur Gegenwartsschwelle hin für sie biografisch bedeutsam sind. Dabei werden in dieser berichtend gestalteten Eingangspräsentation folgende Momente deutlich: Erika präsentiert sich von Beginn an als starke, selbstbewusste Frau, die einen beruflichen und sozialen Aufstieg erreicht hat und drei Kinder großgezogen hat, die sie noch heute, als erwachsene Kinder, schützt und unterstützt. Mit dem Leitmotiv „erfolgreich im Beruf und kompetent in der Familie“ könnte ihre erzählte Lebensgeschichte überschrieben werden. Im Unterschied zu Erika Fähre weist die biografische Selbstpräsentation von Kerstin Böhme, ihrer Tochter, keine geschlossene Gestalt, chronologische Abfolge oder thematisch reichhaltige Struktur auf. Kerstins autonom gestaltete biografische Eingangspräsentation umfasst insgesamt 12 Zeilen im Transkript von mehr als 50 Seiten. Ihre Darstellung ist ebenfalls berichtend gestaltet, wirkt jedoch zögerlich gesprochen und auf das Notwendigste verknappt. Die Interviewerin sieht sich scheinbar zu Regieanweisungen und ständigen Nachfragen gezwungen,113 um das Gespräch am Laufen zu halten. Zuerst spricht Kerstin von ihrer Geburt im Jahre 1962 als das mittlere Kind der Familie. Danach folgen das Thema Betreuung bis zum dritten Lebensjahr, ihr Schulbesuch bis zur zehnten Klasse sowie ihre Ausbildung zum „Wirtschaftskaufmann“, ehe sie schließlich das Hauptthema ihrer Präsentation aufgreift, ihre wenig erfolgreiche berufliche Laufbahn. Sie benennt stichwortartig die von ihr ausgeübten Tätigkeiten (Sekretärin, Reinigungskraft, Erwerbslosigkeit, Umschulungen und 1-Euro-Jobs) und präsentiert sich als Frau auf der Suche nach irgendeiner Arbeit ohne besondere Qualitätsund Qualifikationsansprüche, wer auch immer sie ihr geben möge: der Staat, die Sozialagentur oder ein übermächtiger Big Brother. Als Letzte spricht Jacqueline Böhme, die bislang noch gar nichts gesagt hatte. Sie beginnt ihre 113 Inwiefern die Interviewerin aus methodischer Sicht hier jeweils zu früh interveniert, zu wenig Geduld aufbringt, kann im Nachhinein nur vermutet werden, ebenso wie die Frage, ob Kerstins biografische Selbstpräsentation im Einzelinterview anders ausgesehen hätte.

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biografische Selbstpräsentation mit den Worten; „Ich weiß gar nicht, was ich erzählen soll“ (F-B. S. 6, Z. 205–206). Auch bei ihr handelt es sich um eine sehr kurze, knappe Präsentation, die oft unterbrochen und von den anderen Anwesenden zumindest mitgesteuert wird. Von sich aus bringt Jacqueline nur Splitterthemen ins Gespräch ein: ihr Geburtsjahr, ihre große Schwester, die Schule, die Hauptschule und ihre Intention, die zehnte Klasse abzuschließen. Sie räumt aber sogleich ein, dass sie nicht so gut im Unterricht war, immer Probleme mit dem Lernen hatte und es ihr deshalb nur übrig blieb, eine von der Sozialagentur geförderte Ausbildung zur Verkäuferin zu absolvieren. Seit dem Abschluss ihrer Ausbildung sagt sie, sei sie trotz zahlreicher Bewerbungen erwerbslos und nun mit Unterstützung der Sozialagentur dabei, ihren Führerschein zu machen. Ihre Schullaufbahn, das wichtigste Thema, das sie aufgreift, umfasst ganze 6 Zeilen der 20-zeiligen biografischen Selbstpräsentation. Es stellt zugleich die längste gesprochene Textsequenz Jaqueline Böhmes im Gespräch mit den drei Frauen dar. Jaqueline beendet ihre puzzleartige und sprachlich sehr brüchige Präsentation damit, dass sie über ihren Hund, der ihr sehr wichtig ist, spricht und sogleich feststellt, dass sie nichts mehr weiter von sich zu erzählen weiß. Jacqueline präsentiert sich als Familienmitglied ohne Perspektive oder als Jugendliche, die noch gar nicht entschieden hat, ob sie sich auf die Suche nach einer Perspektive zu begeben vermag. Die bei den spontanen biografischen Eingangspräsentationen rekonstruierten Differenzen zwischen den drei Biografinnen, auch das wird die Leserinnen und Leser des Textes kaum überraschen, setzen sich in der formalen und inhaltlichen Struktur des Materials systematisch fort. Besonders deutlich zeigt sich das, wenn wir uns die im Material immer wieder auftretenden bilanzierenden Textpassagen, die sogenannten Globalevaluationen ansehen. Beginnen wir erneut bei Erika Fähre, so finden wir sprachlich differenzierte Bilanzierungen, die sich auf die verschiedenen Lebensabschnitte und sozialhistorischen Kontexte beziehen: Ihr „uns ging es relativ gut … wir haben wie alle DDR-Bürger recht gut gelebt“ (F-B. S. 3, Z. 73–74) verweist in Relation zu ihren Eltern, die die Lasten und Entbehrungen zweier Kriege zu tragen hatten und als Bauern körperlich sehr schwer arbeiten mussten, auf eine Lebensführung ohne Luxus, aber auch ohne existenzielle Sorgen. Sie betont an mehreren Stellen, dass es ihr und ihrem Mann auch aktuell als Ruheständlerpaar sehr gut geht: „[…] ich muss wirklich sagen so finanziell kommen wir gut aus und wir unterstützen die Kinder und Enkelkinder“ (F-B. S. 3, Z. 93–94). Mit Bezug auf die sozialökonomischen Veränderungen, die mit der Wende von 1989 gesamtgesellschaftlich einhergegangen sind, sieht das jedoch anders aus. Erika Fähre formuliert hier metaphorisch, was sich uns im Ergebnis unserer Analysen und Interpretationen darbietet und was wir dann als Strukturhypothese zur Entwicklung des Familiensystems „Aufstieg auf Widerruf“ systematisch ausgearbeitet haben. Mit dem sprachlichen Wechsel vom wir kommen gut aus bezogen auf sie als Paar zum „[...]man hat nicht mehr so festen Boden unter den Füßen“ (F.-B. S. 29, Z. 1048) führt sie zum einen den generalisierten anderen als Handelnden ein und adressiert sie zum anderen größere gesellschaftliche Zusammenhänge. Als Referenz-

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punkte benennt sie erneut ihre Kindheit in der Nachkriegszeit, ihr sorgenfreies Leben als junge Erwachsene und die insgesamt unsichere Lage sowohl für die jungen Leute der kommenden Generationen als auch für kommende Rentnergenerationen. Kein fester Boden oder anders formuliert ein nachgebender, aufgeweichter Boden, keine feste Grundlage für ein gesichertes Leben drückt einen deutlich empfundenen Stabilitätsverlust aus. Der Boden entspricht einer Realität, einer gesellschaftlichen Ordnung, die Erika im Interview als sicher geglaubte darstellt und die inzwischen durch existenzielle Veränderungen unsicherer geworden oder komplett verloren gegangen ist. In der Metapher: „[...] man hat nicht mehr so festen Boden unter den Füßen [...]“ (F.-B. S. 29, Z. 1048) drückt sich auch Erika Fähres Gesamtsicht auf den Zerfall der sozialistischen Gesellschaft mit ihren Werten aus, eine Werteordnung, die sie nicht nur für sicher und gefestigt, sondern im Prinzip auch für richtig und gerecht hielt. Kerstin Fähres Globalevaluation „nicht arm aber vielleicht irgendwie unterfordert“ (F.-B. S. 38, Z. 1381), die wir bereits aus dem vorangegangenen Kapitel kennen, dokumentiert mit ihrer Ambivalenz die Irritation, die ganze Verunsicherung, die ihre Mutter für andere geltend gemacht hatte (man in der Differenz zum wir) als eine, die sie selbst und ihre biografische Identität ganz stark betrifft. „Man lebt mit dem was man hat und das ist nun mal so [hm] man fühlt sich nich so gut vor allen Dingen man kann sich ja nicht alles leisten ne [hm] man kann sich kaum irgendetwas anzuziehen kaufen und dat is das Schlimme [hm] man muss ja zusehen das man gerade so ((atmet aus, pustet)) erstmal die Ausgaben alle bestreitet [hm] und von dem Rest muss man ja auch noch leben [...] Man muss wirklich mit jedem Cent rechnen“ (F.-B. S. 38, Z. 1392–S. 39, Z. 1399). Referenzpunkte zur Bestimmung des Restes stellen für Kerstin dabei nicht nur der Lebensstandard ihrer beiden Geschwister und deren Familien dar, die auch schon einmal verreisen können (F.-B. S. 24, Z. 860–863) und dann auch Jacqueline mitnehmen, sondern der der Eltern. Das zeigt sich besonders eindrucksvoll in einem Wortwechsel zwischen Erika und Kerstin, in dem es um das Haus geht, in dem Kerstin, Andreas und Jacqueline Böhme wohnen. Als die Interviewerin fragt, ob sie das Haus gekauft haben, antwortet Erika: „nach der Wende haben wir das dann gekauft“ (F.-B. S. 37, Z. 1339). Kerstin reagiert sichtlich irritiert und korrigiert ihre Mutter, indem sie betont sagt: „ja ihr“ (F.-B. S. 37, Z. 1340). Sie stellt vor der Interviewerin klar, dass sie selbst und ihr Mann nicht in der Lage gewesen seien, das Haus zu kaufen. Das bestätigt sich nochmals in Erikas Formulierung: „na ja ihr konntet das nicht kaufen das [Kerstin: nee] war klar das ging nicht und wir haben den Kindern auch geholfen da auszubauen [Int.: aha] sozusagen ein bißchen als Vorgriff auf das Erbe [Int.: m hm] haben wir ihnen geholfen [Kerstin: hm] damit sie nich unter die Brücke irgendwann mal schlafen müssen [Int.: hm] irgendwie ham wir das schon geahnt das wohl ((lacht)) die Armut n bisschen zunehmen würde [Int.: hm]“ (F.-B. S. 37, Z. 1341–1345).

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Suchen wir in Jacqueline Böhmes Interviewpassagen nach Evaluationen, so finden wir ein relativ bestimmt vorgetragenes: „aber dat war nich so mein Ding“ (F.-B. S. 14, Z. 493), das am ehesten als ihre biografische Gesamtsicht aufgefasst werden kann. Hier ist keine Ambivalenz mehr, kein Pro, sondern nur eine Negativbestimmung, die bleibt. Dem voraus geht wiederum eine Intervention ihrer Großmutter Erika, die argumentiert, dass so ein Leben zu führen, wie es Jacqueline uns zuvor beschreibt114, langweilig sei: „man muss ja ne Beschäftigung suchen (1) sonst geht dat nicht“ (F.-B. S. 14, Z. 489–490). Das „dat war nich so mein Ding“ (F.-B. S. 14, Z. 493) bezieht sich auf die von der Sozial­ agentur geförderte Ausbildung zur Verkäuferin, die Jacqueline erfolgreich abgeschlossen hat, aber nicht von ihr gewollt war. Dass, was Jacqueline als junge Erwachsene erreicht hat, kann sie nicht als Erfolg für sich verbuchen, damit kann sie sich nicht identifizieren, da es nicht ihr Ding war, sondern das der anderen. Das, was sie nicht möchte, kann sie bestimmt artikulieren, das, was sie möchte, bringt sie dagegen eher flüsternd in das Gespräch ein: Es wurde von der Sozialagentur angeboten „dat wir Verkäuferin machen könn für 2 ½ Jahre [Int.: hm] hab denn mein Verkäufer gemacht [Int.: aber eigentlich wolln se das gar nicht] nee ((bestimmt)) [Int.: und was ham se so für Ideen (1) mit Computer irgendwas] ja- mein Hauptschulabschluss ((leise, kaum verständlich))“ (F.-B. S. 14, Z. 493–501).

Alternative Ideen Jacquelines, etwas mit Tieren zu machen oder Kinderkrankenschwester zu werden, das artikulieren alle drei Frauen der Familie dann abwechselnd, wären nicht so einfach zu realisieren. Sowohl die mangelhaften Schulleistungen Jacquelines, vor allem aber fehlende Beziehungen der Familie stünden dem entgegen. Zudem, wirft Kerstin, Jacquelines Mutter ein, „ham die [gemeint ist die Sozialagentur] sowat nich zu bieten“, und Erika ergänzt, dass „man auch wollen“ muss, „grad solche Pflegedienste muss man wollen [Int.: hm, hm ] sonst hat das auch keinen Sinn“ (F.-B. S. 14, Z. 502 und S. 15, Z. 532 f.). Die drei Gesprächspartnerinnen präsentieren sich mit ihren autonom gestalteten Eingangspassagen nicht nur thematisch sehr individuell mit den Themen, die sie aufgreifen und in einer bestimmten Darstellungsform (Textsorte und Sprechweise), sondern sie positionieren sich sowohl der Generationenfolge des Familiensystems als auch in Bezug auf bestimmte, von ihnen herangezogene gesellschaftliche Kontexte: 1. Erika positioniert sich als erfolgreich aufgestiegen im Vergleich zu ihren Eltern, als finan114 Jacqueline spricht von ihrem Tagesablauf, davon, dass sie schon mal ein bisschen länger schläft, dann mit dem Hund rausgeht, sich an den Computer setzt und spielt oder, wenn sie Lust hat, für die Fahrerlaubnis lernt. An den Abenden würde sie dann mit ihrem Vater das Autofahren üben und spät ins Bett gehen. Die Wochenenden verbringt sie gelegentlich bei ihrer Schwester, sofern die Großeltern auf den Hund aufpassen würden. Zudem hätte sie einen Bekannten (ein deutlich älterer Mann), den sie regelmäßig besucht.

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ziell gut situiert im Vergleich zu anderen, beispielsweise ihren Kindern und Enkeln sowie als existenziell gesichert auch im Ruhestand, selbst wenn sich die wirtschaftliche Situation verschlechtern sollte. 2. Kerstin positioniert sich in der Ambivalenz von Über- und Unterforderung. Die sozioökonomischen Veränderungen haben ihre sicher geglaubte Existenz infrage gestellt, ihre Positionierung untergraben. Sie realisiert, dass sie Boden verloren hat gegenüber ihren Geschwistern, dass sie die gesicherte Position der Elterngeneration möglicherweise nie erreichen wird, da die Gesellschaft die Potenziale, die sie zu bieten hat, nicht abruft. 3. Jacqueline positioniert sich im Gespräch über ihr Noch-nicht-orientiert-Sein, Nochnicht-situiert-Sein und ohne expliziten Bezug auf die familiale Generationenfolge. De facto begreift sie sich als nicht dazugehörend, für uns Außenstehende verstärkt sich die Abstiegsneigung im Familiensystem in ihrer Person, die wir, wenn noch nicht exkludiert oder abgehängt, so doch aber in ihrer Position als äußerst bedroht (noch nicht verortet oder platziert) wahrnehmen.

6 Soziale Mobilität und Momente der Armutsgefährdung im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse – Fazit Das von uns analysierte Material, das die drei Frauenleben mit ihren jeweiligen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und damit einen spezifischen Ausschnitt ihrer Familiengeschichte entfaltet, legt eine Interpretation der Lebensgeschichten vor dem Hintergrund sozialhistorischer Entwicklungen nahe. Mit den Jahren 1945 (Ende des Zweiten Weltkriegs und Zusammenbruch des „Dritten Reiches“) und 1989 (Transformation der sozialistischen Gesellschaften in marktwirtschaftliche Systeme, deutsche Wiedervereinigung) umgreift die Familiengeschichte der Fähre-Böhmes zwei Zäsuren, die das Leben der Menschen im Deutschland und Europa des letzten Jahrhunderts entscheidend prägen. Im Mittelpunkt unserer zusammenfassenden Interpretation stehen an dieser Stelle individuelle und familiale Mobilitätsprozesse und die Frage nach der Tradierung von Armut, die im Kontext sich wandelnder gesellschaftlicher Gelegenheitsstrukturen, langlebiger kultureller Traditionen und historischer Veränderungen gesehen werden müssen. Noch einmal zur Erinnerung: Die Thematik der sozialen Mobilität bietet sich uns als zen­ trales Familienthema aus den fallrekonstruktiven Analysen dar, die Frage nach den Momenten der Armutsgefährdung leitet sich aus unseren Projektinteressen ab. Blicken wir zurück ins Genogramm, so sehen wir im Familiensystem der Fähre-Böhmes sowohl Auf- und Abstiegstendenzen als gegenläufige Prozesse in einem Fall vereint. Mit der Familie Fähre-Böhme haben wir eine Familie untersucht, die in der Fremdzuschreibung kei-

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nesfalls als arme Familie gelten würde, da sie im Vergleich zu anderen Familien unserer Armutspopulation aus Ostvorpommern durchaus über beachtliche materielle und kulturelle Ressourcen verfügt, keineswegs als bildungsfern und kulturell verarmt beschrieben werden würde. Auch die familiären Netzwerke sozialer Beziehungen scheinen intakt, tragfähig und nicht außergewöhnlich konfliktträchtig zu sein. Und dennoch erweist sich dieses Familiensystem als verletzlich, entfalten sich in einem ihrer Zweige Abstiegstendenzen und Momente der Armutsgefährdung, die sich in der folgenden Generation (die der Enkel) bereits als prekäre Lebenslage (bei Mandy und Ahmed) bzw. als sich verfestigende Armutslage manifestiert (bei Jacqueline). Spitzen wir die Mobilitätsprozesse für die untersuchten Familiengenerationen noch einmal zu, so ergibt sich folgendes Bild: 1. Erika und Helmut Fähre absolvieren in den 1950er-Jahren eine akademische Ausbildung und realisieren gegenüber ihren Herkunftsfamilien, die aus bäuerlich-handwerklichen Traditionen115 stammen, einen Aufstieg in die sozialistische Intelligenz. Helmut Fähre erreicht als Leiter eines staatlichen Saatzuchtbetriebes eine Klassenposition in der oberen Dienstklasse und Erika als Lehrerin für Biologie und Chemie eine hoch qualifizierte Tätigkeit im Bildungssystem der DDR. Den Hintergrund dieses Aufstieges bilden offene Mobilitätschancen in der Nachkriegszeit in einem Maße, wie sie sich für die nachfolgenden Generationen nicht mehr bieten würden. Den gesellschaftspolitischen Kontext bildet die Periode des sogenannten Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus (1945 bis 1961) mit ihren Zielvorstellungen der Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs in der DDR, der gezielten Förderung der Chancen von Arbeiter- und Bauernkindern, der Schaffung einer sozialistischen Intelligenz auch auf dem Lande und nicht zuletzt der Problematik der Besetzung zahlreicher vakanter Berufspositionen infolge der beträchtlichen Abwanderung von Akademikern in den Westen des Landes. Erika und Helmut Fähre gehören zu den Jahrgängen, die stark von diesen gesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen profitieren, auch wenn ihre Berufswahlentscheidungen zugleich eine gewisse politische Loyalität und Distanz gegenüber der DDR-Gesellschaft signalisieren. Bereits für die Generation ihrer Kinder, die ihre Sozialisation in der Periode des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, die von der Konzeption der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik geprägt war, erfuhren, hatte sich die Chancenstruktur völlig verändert. 2. Trotz der Mobilitätsbarrieren, die empirische Studien für die um 1960 geborenen Jahr115 Insgesamt kann vermutet werden, dass der Aufstieg von Erika und Helmut Fähre durch die Herkunftsfamilien unterstützt wird. So war Erikas Vater nach dem Krieg zunächst Landmaschinenschlosser und in den 1960er-Jahren dann als Abteilungsleiter tätig, was wiederum eher auf Loyalität zum DDR-System hindeutet.

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gänge ausweisen (vgl. Solga 1995, S. 207 ff.), gelingt es sowohl Andreas Fähre als auch Angela Strehlow, nicht aber Kerstin Böhme, den Statusgewinn der Elterngeneration zunächst zu sichern. Beide Zweige des Familiensystems (Andreas und Ruth Fähre sowie Angela und Jens Strehlow) verstärken mit ihren akademischen Ausbildungen im landwirtschaftlichen Sektor und mit der Wahl von PartnerInnen, die ebenfalls über akademische Abschlüsse verfügen, den Aufstiegspfad der Familie, ehe ihre Berufskarrieren mit der Liquidation und Reprivatisierung der sozialistischen Landwirtschaftsbetriebe nach 1990 gravierende Einschnitte erfahren. Beiden Kindern der Fähres gelingt es jedoch, den Statusverlust in Grenzen zu halten, indem sie sich über verschiedene Wege in dem neu entstandenen Arbeitsmarkt positionieren. Zudem geben sie ihren Kindern (den Enkeln von Erika und Helmut Fähre) ihre Bildungs- und Aufstiegsmotivation weiter, sodass diese die akademischen Ausbildungstraditionen der Familie unter den gegenwärtigen Bedingungen fortzuschreiben versuchen. 3. Kerstin, die mittlere Tochter der Fähres, repräsentiert mit ihrer Familie jedoch einen gegenläufigen Pfad, den von Abstieg und Deklassierung. Kerstin Böhme und ihr Mann Andreas absolvierten jeweils eine Facharbeiterausbildung. Sie orientierte sich damit sowohl bei der Berufslaufbahn als auch bei der Partnerwahl eher unterhalb der Erwartungen ihrer Herkunftsfamilie. Zudem nimmt Kerstin bereits mit der ersten Beschäftigung nach ihrer kaufmännischen Ausbildung eine Tätigkeit auf, die nicht qualifikationsgerecht ist. Bei den subtilen Statusdifferenzen in den administrativen Dienstleistungsfeldern des DDR-Beschäftigtensystems bedeutete diese Tätigkeit als Sekretärin, dass Kerstin bereits von Beginn an unterhalb ihres Qualifikationsniveaus arbeitete (vgl. Solga 1993). Eigentlich hätte sie auch eine Position als qualifizierte Sachbearbeiterin mit einer hohen Verantwortung (später vielleicht auch mit Prokura) ausüben können. Mit dem Zusammenbruch des DDR-Beschäftigungssystems beschleunigen sich bei ihr, die außer dem Facharbeiterabschluss nicht über weitere Qualifikationen verfügt, die Statusverluste mit jedem Tätigkeitswechsel. Beide Ehepartner verlieren bereits in der ersten Phase der Restrukturierung der sozialistischen Landwirtschaft ihre Erwerbstätigkeit und auch ihr Mann durchlebt wie Kerstin selbst seit 1990 eine Maßnahmekarriere mit entsprechenden Deklassierungserfahrungen. 4. Die Töchter der Böhmes (Mandy und Jacqueline) haben große Schwierigkeiten mit dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt im wiedervereinigten Deutschland. Bei ihnen verstärkt sich der Abstiegsprozess im Vergleich zu ihren Eltern noch einmal deutlich. Mandy scheitert zunächst in ihrer Ausbildung als Bäckerin (aus gesundheitlichen Gründen) und nimmt eine Tätigkeit als Zimmerfrau in einem Berliner Hotel auf. Jacqueline erreicht keinen qualifizierten Hauptschulabschluss, durchläuft mehrere Maßnahmen der Arbeitsförderung (z.B. eine nicht gewollte Ausbildung zur Verkäuferin) und hat zum Zeitpunkt unserer Untersuchung noch keine Erwerbsperspektive gefunden oder in Aussicht.

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5. Auch in der Enkelgeneration (zwischen 1985 und 1992 geboren) des Familiensystems deutet sich die Reproduktion bestimmter Mobilitätsmuster an. Alle Enkelkinder der Fähres haben den Zusammenbruch der DDR-Gesellschaft nach 1989 bzw. die Verwerfungen im Zuge der Vereinigungskrise in ihrer frühen Kindheit sowie die Arbeitslosigkeit der Eltern als Jugendliche miterlebt, ehe sie selbst auf einen immer noch krisenhaften Ausbildungs- und Arbeitsmarkt getroffen sind. Dennoch gelingt es den Akademikerkindern besser, ihre Ausbildungsaspirationen zu wahren und ihre Klassenposition zu verteidigen, indem sie entsprechende Bildungsanstrengungen unternehmen, während die Kinder von Kerstin und Andreas Böhme der weiteren Abstiegsbedrohung kaum etwas entgegenzusetzen vermögen. Zudem trafen Mandy Haddad und Jacqueline Böhme mit ihren Ausbildungsphasen auf eine Situation, die seit dem Jahr 2000 durch einen starken Anstieg der Vererbungsraten bei den ungelernten Arbeiter- und Angestelltenpositionen, eben bei den Klassenpositionen, die sie einnehmen, gekennzeichnet ist.116 Karl Ulrich Mayer und Reinhard Pollak sind sich bei der Einschätzung der langfristigen Mobilitätsentwicklung für Ostdeutschland relativ einig, wenn sie von umfassenden Deklassierungserfahrungen nach der Wende und von wenig ermutigenden Befunden für die Zukunft ausgehen, von einem Trend hin zu mehr Abstiegen, einem sich verstärkenden Zusammenhang von sozialer Herkunft und Klassenposition, abnehmender Chancengleichheit auch zwischen Männern und Frauen und damit zunehmende Bedeutung der sozialen Herkunft für die eigenen Lebenschancen bei andauernd problematischen sozialökonomischen Rahmenbedingungen (vgl. Mayer 2006, S. 1335 ff., vgl. Pollak 2008, S. 184 ff.). Auch wenn wir mit solchen qualitativen Analysen immer nur einen Ausschnitt eines Familiensystems ins Blickfeld bekommen,117 können die von uns beschriebenen Prozesse des sozialen Auf- und Abstiegs, der Selbstpositionierung in familialen und gesellschaftlichen Kontexten sowie der sich daraus ergebenden Statuszuschreibung durchaus als exemplarisch für die langfristige Mobilitätsentwicklung und die Entstehung und von Prekarität und Armut angesehen werden. Im Fall der Familie Böhme-Fähre können Aufstieg und sozialer Status in dem Zweig der Familie, der sich räumlich am wenigsten vom Elternhaus entfernt, zum Ende der 1970er-/ 116 Reinhard Pollak formuliert dazu für Ostdeutschland (d.h. für Männer und Frauen): „Bei den ungelernten Arbeiter- und Angestelltenpositionen [...] kam es zu einem starken Anstieg der Vererbungsraten. Während in den 1990er Jahren ca. 17 % aus der Klasse der ungelernten Arbeiter- und Angestelltenpositionen mit der gleichen Position vorlieb nehmen mussten, ist dieser Anteil in diesem Jahrzehnt auf 26 % angewachsen.“ (2008, S. 182) 117 Bei dem, was wir inzwischen über die Konstellationen im Familiensystem der Fähre-Böhmes wissen, würden wir aus heutiger Perspektive unbedingt versuchen, auch die beiden anderen Kinder, Thomas Fähre und Angela Strehlow, sowie deren PartnerInnen in die Erhebungen einzubeziehen.

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Anfang der 1980er-Jahre nicht abgesichert werden. Daraus entwickeln sich noch in der DDRGesellschaft Abstiegspotenziale, die mit dem Zusammenbruch der DDR-Gesellschaft zu realen Armutsgefährdungen werden und sich nach 1990, begleitet von den spezifischen Arbeitsmarktbedingungen, in strukturschwachen, ländlichen Räumen entfalten; und dies trotz der Stützungsbemühungen der Elterngeneration.

Literatur: Berger, Peter: Sozialstrukturelle Umbruchsdynamiken. Anpassungen und dynamische Differen­ zierungen in Ostdeutschland. Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 91, 23. Jg. 1993, Nr. 2. Beetz, Stephan: „Analysen zum Entscheidungsprozess Jugendlicher zwischen ‚Gehen und Bleiben‘. Die Relevanz kollektiver Orientierungen bei Migrationsentscheidungen ostdeutscher Jugendlicher“, in: Regionale Abwanderung Jugendlicher. Theoretische Analysen, empi­ rische Befunde und Gegenstrategien, hg. v. Wilfried Schubart; Karsten Speck, Weinheim, München: Juventa 2009, S. 135–151. Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und ver­ drängt wird, Frankfurt am Main, New York: Campus 2009, 378 S. Engler, Wolfgang: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin Aufbau Verlag 2005, 416 S. Groh-Samberg, Olaf: Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur. Zur Integration multi­ dimensionaler und längsschnittlicher Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. Hildenbrand, Bruno: Fallrekonstruktive Familienforschung, Opladen: Leske+Budrich 1999. Hildenbrand, Bruno: Einführung in die Genogrammarbeit, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag 2005, 122 S. Holmwood, John: „Social Mobility“, in: The Cambridge Dictionary of Sociology, hg. v. Bryan S. Turner, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 576–578. Köttig, Michaela: „Triangulation von Fallrekonstruktionen: Biographie- und Interaktionsanalysen“, in: Biographieforschung im Diskurs, hg. v. Bettina Völter; Bettina Dausien; Helma Lutz, et al., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 65–83. Leisering, Lutz: „Dynamik von Armut“, in: Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, hg. v. Ernst-Ulrich Huster; Jürgen Boeckh; Hildegard Mogge-Grotjahn, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 118–132. Ludwig, Monika: Armutskarrieren zwischen Abstieg und Aufstieg im Sozialstaat, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.

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Mayer, Karl Ulrich: „Sinn und Wirklichkeit – Beobachtungen zur Entwicklung sozialer Ungleichheiten in (West-)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“, in: Soziale Ungleich­ heit, Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004 hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main: Campus 2006, S. 1329–1355. McGoldrick, Monica; Gerson, Randy: Genogramme in der Familienberatung, Bern. Stuttgart. Toronto: Verlag Hans Huber 1990. Niederer, Elisabeth: „Die Kultur der Armut und ihre sozialen Kontexte. Eine ethnographische Studie zur Situation in Kärnten“, Klagenfurt: Alpen-Adria-Universität 2009, S. 66. Olk, Thomas; Mädje, Eva; Mierendorff, Johanna, et al.: „Sozialhilfe- und Armutsdynamik in den neuen Bundesländern“, Halle/Saale: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2004, 244 S. Pollak, Reinhard: „Soziale Mobilität“, in: Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundes­ republik Deutschland, hg. v. Statistisches Bundesamt; GESIS-ZUMA; WZB, et al., Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2008, S. 180–187. Reich, Günter; Massing, Almuth; Cierpka, Manfred: „Die Mehrgenerationenperspektive und das Genogramm“, in: Handbuch der Familiendiagnostik, hg. v. Manfred Cierpka, Berlin/ Heidelberg/New York: Springer 1996, S. 223–258. Rosenthal, Gabriele: „Biographieforschung und Fallrekonstruktionen“, in: Interpretative So­ zialforschung. Eine Einführung, hg. v. Klaus Hurrelmann, Weinheim, München: Juventa 2005a, S. 161–198. Rosenthal, Gabriele: Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung, Weinheim, München: Juventa 2005b. Solga, Heike: „Systematik der beruflichen Tätigkeiten und Ausbildungen in der DDR“, MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung 1993. Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen den Generationen in der DDR, Berlin: Akademie Verlag 1995. Vierzigmann, Gabriele; Kreher, Simone (1998): „Zwischen den Generationen“ – Familiendynamik und Familiendiskurse in biographischen Erzählungen, Berliner Journal für Soziologie 1. S. 23–37.

Handlungsspielräume und Paradoxien bei den „Modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ – Fallmanagement im ländlichen Raum Birgit Storr Zusammenfassung: Mit Inkrafttreten des SGB II im Jahr 2005 wurde eine Sozialstaatsreform umgesetzt, die Arbeitslosigkeit als Problem der einzelnen Arbeitslosen definiert, sie auf ihre „Vermittlungshemmnisse“ zurückführt. Arbeitslose werden gesetzlich verpflichtet, mithilfe eines/einer FallmanagerIn oder ArbeitsvermittlerIn an der Beseitigung der Vermittlungshemmnisse aktiv zu arbeiten. Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Perspektive FallmanagerInnen, die in Jobcentern im ländlichen Raum Norddeutschlands tätig sind, auf ihre Arbeit mit Langzeitarbeitslosen einnehmen. Ihre handlungsleitenden Orientierungen im Fallmanagement hinsichtlich des Umgangs mit Erwerbslosen werden rekonstruiert. Erkenntnistheoretisch geht die Untersuchung von der Grundannahme der praxeologischen Wissenssoziologie aus, die besagt, dass sich das Handeln der Akteure an atheoretischen Wissensbeständen orientiert, welche für ihre Praxis konstitutiv sind. Mittels der dokumentarischen Methode wird herausgearbeitet, dass die Kategorisierung der LeistungsempfängerInnen für die Praxis der FallmanagerInnen von hoher Relevanz ist und die Unterteilung der Arbeitslosen in arbeitswillige und arbeitsunwillige Arbeitslose die Leitdifferenz in ihren Orientierungsrahmen darstellt. Weiterhin zeigt sich, dass die FallmanagerInnen den Arbeitslosen die Verantwortung für ihre Arbeitslosigkeit zuschreiben und mit dem im SGB II artikulierten Bild vom Arbeitslosen mit Aktivierungsbedarf konform gehen. Sie sehen die Erwerbslosen in der passiven Position und fordern von ihnen, aus dieser heraus aktiv zu werden und am Fallmanagement mitzuarbeiten. Paradoxerweise beschränken die FallmanagerInnen die geforderte Eigeninitiative, indem sie für die Arbeitslosen Entscheidungen treffen. Da die FallmanagerInnen auch strukturelle Bedingungen von Arbeitslosigkeit erfahren, werden sie in Widersprüche verstrickt, und sie gehen (unterschiedlich deutlich) in Distanz zum SGB II. Die Widersprüche bearbeiten sie, in dem sie strukturelle Ursachen von Arbeitslosigkeit zu Vermittlungshemmnissen aufseiten des Arbeitslosen umdeuten und Paradoxien aus ihrer Arbeit ausblenden bzw. externalisieren. Auf Basis dieser gemeinsamen Orientierungen lassen sich drei verschiedene Fallmanagementtypen, der entwicklungsorientierte, der moralorientierte und der gesetzesorientierte Typ, rekonstru-

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ieren. Als zentrales Ergebnis kann gezeigt werden, dass sich die FallmanagerInnen nicht an professionellen Standards orientieren, sondern große Spielräume bei der Umsetzung des SGB II bestehen, die auf Basis persönlicher Einstellungen und Erfahrungen der FallmanagerInnen gestaltet werden. Schlüsselwörter: Fallmanagement, Orientierungsrahmen, Umgang mit Arbeitslosen, praxeologische Wissenssoziologie, dokumentarische Methode

Einleitung Mit Beginn des Jahres 2005 hat die deutsche Sozialgesetzgebung durch die Einführung des Sozialgesetzbuches (SGB) II, der sogenannten Hartz-IV-Gesetzgebung, eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Im Zuge der Reform wurde die frühere Differenzierung zwischen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aufgehoben und alle erwerbsfähigen, langzeitarbeitslosen Personen im Alter von 15 bis 65 Jahren der Zuständigkeit des SGB II zugeordnet. Arbeitslosigkeit wird im SGB II nun als Problem des Arbeitslosen betrachtet und auf seine Vermittlungshemmnisse und nicht auf strukturelle Bedingungen zurückgeführt. Legnaro schreibt zur „Logik“ der SGB-II- Gesetztestexte: „Ihre Moral läuft in vielerlei Varianten darauf hinaus, die Einzelnen für ihr Geschick verantwortlich zu machen. Dass jeder seines Glückes Schmied sei, ist gewiss eine alte Volksweisheit; sie nunmehr in Sozialrecht umzuformen, ist eine bemerkenswerte Leistung des Gesetzgebers, welche die Wirkungsweise des Sozialstaats gravierend verändert“ (2006, S. 424).

Ziel der neuen Gesetzgebung ist es, die Eigenverantwortung der Arbeitslosen zu stärken. Die Hauptpflicht der Arbeitslosen besteht laut SGB II § 2 darin, alles zu tun, um seine Bedürftigkeit zu beenden oder zu reduzieren (vgl. SGB II § 2). So soll durch Fördern und For­ dern die Eigenverantwortung des Arbeitslosen gestärkt und seine Hilfebedürftigkeit beseitigt oder zumindest verringert werden. Umsetzen sollen dieses Prinzip des Förderns und Forderns Fallmanager und Fallmanagerinnen bzw. persönliche AnsprechpartnerInnen, die in Jobcentern oder Sozialagenturen mit der Betreuung der Erwerbslosen beauftragt sind. Sie sollen „Eingliederungsanstrengungen“ der Arbeitslosen unterstützen und die „Ablehnung zumut­ barer Beschäftigungen bzw. Eingliederungsmaßnahmen“ sanktionieren (SGB II 2005, S. 9). Im Fachkonzept „Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement“ heißt es: „Fallmanagement in der Beschäftigungsförderung ist ein auf den Kunden ausgerichteter Prozess mit dem Ziel der möglichst nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt. In diesem ko-

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operativen Prozess werden vorhandene individuelle Ressourcen und multiple Problemlagen methodisch erfasst und gemeinsam Versorgungsangebote und Dienstleistungen geplant, die anschießend vom Fallmanager implementiert, koordiniert, überwacht und evaluiert werden. So wird der individuelle Versorgungsbedarf eines Kunden in Hinblick auf das Ziel der mittel- und/oder unmittelbaren Arbeitsmarktintegration durch Beratung und Bereitstellung der verfügbaren Ressourcen abgedeckt und seine Mitwirkung eingefordert“ (2005, S. 10).

Sowohl die Beratung des Erwerbslosen und die Begleitung eines „kooperativen Prozesses“ gehören zu den Aufgaben der Fallmanager und Fallmanagerinnen als auch die Überwachung des/der LeistungsempfängerIn. Gegenstand dieses Beitrages ist es, zu beleuchten, wie FallmanagerInnen118, die in Jobcentern im ländlichen Raum tätig sind, mit diesen Aufgaben umgehen. Den Fragen, welche Perspektive sie auf ihre Arbeit mit Erwerbslosen einnehmen und welche Orientierungen ihr Handeln hinsichtlich des Umgangs mit Arbeitslosen leiten, soll nachgegangen werden. Die empirische Basis für die Studie stellen thematische Interviews dar, die mit Fallmanagern bzw. Fallmanagerinnen in norddeutschen Jobcentern geführt wurden. Vier dieser Interviews werden in diesem Beitrag analysiert. Die Jobcenter, in denen die Datenerhebung erfolgte, sind für Alg II bzw. Sozialgeld- Empfänger zuständig, welche in Kleinstädten oder in Dörfern wohnen. Sie sind in einen Leistungsbereich, in dem Anträge auf Alg II und Sozialgeld bearbeitet werden, und in einen „Integrations- und Beratungsbereich“ unterteilt. Die „Beratungstätigkeit“ gehört zu den sogenannten „modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz 2002). Die Interviewten sind im Integrations- und Beratungsbereich verschiedener Jobcenter beschäftigt. Ehe ihre Sichtweisen auf das Fallmanagement mit Langzeitarbeitslosen vorgestellt werden, soll das methodische Vorgehen erläutert und der wissenschaftstheoretische Rahmen der Untersuchung deutlich gemacht werden.

118 Die Mitarbeiter der „Integrations- und Beratungsbereiche“ der Jobcenter und Sozialagenturen werden in den Institutionen unterschiedlich bezeichnet. In vielen Jobcentern werden persönliche Ansprechpartner von Fallmanagern unterschieden, in anderen werden die Mitarbeiter in Arbeitsvermittler und Fallmanager differenziert. Fallmanager sind vielerorts für Arbeitslose zuständig, denen besonders umfassende Vermittlungshemmnisse zugeschrieben werden, während die persönlichen Ansprechpartner und Arbeitsvermittler die als leichter vermittelbar eingeschätzten Arbeitslosen betreuen. Im untersuchten Jobcenter werden alle Mitarbeiter des „Integrations- und Beratungsbereiches“ als Fallmanager bezeichnet. Eine äußere Differenzierung der Arbeitslosen nach Vermittlungshemmnissen wird nicht vorgenommen.

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Methodisches Vorgehen Die Untersuchung wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes am Arbeitsbereich Qualitative Bildungsforschung der Freien Universität Berlin zum Thema „Handlungsleitende Orientierungen im Fallmanagement – die Umsetzung des SGB II im Integrations- und Beratungsbereich“ durchgeführt. Sie geht von der Grundannahme qualitativer Forschung aus, dass soziale Wirklichkeit nicht objektiv existiert, sondern interaktiv hergestellt und vermittelt wird. Soziale Wirklichkeit beruht auf gemeinsam geteilten Sinnzuschreibungen bzw. Orientierungen, welche dem Handeln zugrunde liegen (vgl. Flick 2008, S. 20). Um den Sinnzuschreibungen und Orientierungen der Erforschten Raum zu geben, ist qualitative Forschung, so auch diese Studie, von den Prinzipien der Offenheit und der Kommunikation geprägt (vgl. Hoffmann-Riem 1980, 343 f., zit. n. Bohnsack 2003, S. 21). So soll den Erforschten durch ein offenes Vorgehen ermöglicht werden, ihr Relevanzsystem zu entfalten und ihre Orientierungen zum Ausdruck zu bringen. Die Strukturierung des Forschungsgegenstandes soll durch die Interviewten geschehen und nicht durch schon bestehende Theorien und Annahmen eingeschränkt werden. Ralf Bohnsack schreibt: „Die Befragten sollen selbst offenlegen, wie sie die Fragestellung interpretieren, damit die Art und Weise, wie sie die Fragen übersetzen, erkennbar wird; und zugleich wird ihnen die Gelegen­heit gegeben, das Thema in ihrer eigenen Sprache zu entfalten“ (2003, S. 20).

Neben dem Prinzip der Offenheit ist für qualitative Forschung das Prinzip der Kommunikation von Bedeutung. Die Datengewinnung erfolgt durch Kommunikation der Forscherin mit den Erforschten. Alltägliche Regeln der Kommunikation werden berücksichtigt. Bei Christa Hoffmann-Riem heißt es hierzu: „Das Prinzip der Kommunikation besagt, daß der Forscher den Zugang zu bedeutungsstrukturierten Daten im allgemeinen nur gewinnt, wenn er eine Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungssubjekt eingeht und dabei das kommunikative Regelsystem der Forschungssubjekte in Geltung läßt“ (Hoffmann-Riem 1980, S. 346 zit. n. Bohnsack 2003, S. 21).

Unter Beachtung dieser Prinzipien wurden ca. einstündige thematische Interviews mit den FallmanagerInnen geführt. Die Interviews fanden am Arbeitsplatz der FallmanagerInnen im Jobcenter statt. Als Erhebungsmethode wurde das thematische Interview gewählt, da darin im Unterschied zum narrativen Interview bestimmte Bereiche durch offene Leitfragen angesprochen werden können. Hierdurch werden die „Relevanzsetzungen durch den Informanten bis zu einem gewissen Grad kanalisiert“ (Marotzki 2003, S. 154 in Bohnsack et. al 2003). Die Interviews wurden aufgezeichnet und vollständig transkribiert. Auszüge aus vier Interviews werden im Beitrag vorgestellt, um es dem Leser/der Leserin zu erleichtern, der

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Argumentation zu folgen. Mit der dokumentarischen Methode wurden die Transkripte ausgewertet und in der komparativen Analyse vergleichend gegenübergestellt. Hierdurch werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Sichtweisen der FallmanagerInnen deutlich, die auch in diesem Text im Mittelpunkt stehen. Bevor ich jedoch auf die empirischen Ergebnisse der Untersuchung eingehe, erscheint es mir wichtig, den methodologischen und metatheoretischen Rahmen meiner Forschung deutlich zu machen und die Auswertungsmethode, die von Ralf Bohnsack (vgl. 2001) entwickelte dokumentarische Methode, vorzustellen.

Praxeologische Wissenssoziologie als metatheoretischer Rahmen Den metatheoretischen Rahmen der von mir angewendeten dokumentarischen Interpreta­ tion bildet die praxeologische Wissenssoziologie Mannheims und Bourdieus. Sie unterscheidet zwischen einem theoretisch reflexiven Wissen über die soziale Welt und einem atheoretischen handlungspraktischen Orientierungswissen (Habitus).119 Der praxeologischen Wissenssoziologie liegt die Annahme zugrunde, dass sich das Handeln sozialer Akteure an atheoretischen Wissensbeständen, die sie im Vollzug einer bestimmten Praxis erworben haben und die wiederum für die Praxis konstitutiv sind, orientiert. Diese atheoretischen Wissensbestände sind im Gegensatz zum theoretischen Wissen, über das sich kommunikativ verständigt werden kann, nicht reflexiv zugänglich. Mittels der dokumentarischen Interpretation wird es möglich, die habituellen Dispositionen, den Orientierungsrahmen der Befragten zu rekonstruieren. Die dokumentarische Interpretation fragt also nicht danach, wie Erforschte ihr Handeln reflexiv begründen, sie nimmt keine Motivunterstellungen im Sinne des common sense vor, sondern richtet den Blick auf den Modus operandi, den Herstellungsprozess handlungspraktischen Wissens bzw. der Praxis. Ralf Bohnsack vollzieht mit der dokumentarischen Methode einen Wechsel von der Frage, was die einzelnen Befragten erzählen, zu der Frage, wie und in welchem Orientierungsrahmen sie ein Thema verhandeln. Von Interesse ist nicht, ob wahr ist, 119 Mannheim bezeichnet reflexiv nicht zugängliches Wissen als atheoretisches Wissen. Über dieses Wissen verständigen sich soziale Akteure nicht kommunikativ theoretisierend, sondern im Modus unmittelbaren Verstehens. Es ist insofern ein konjunktives Erfahrungswissen, als es kollektiv geteilt wird und typisch für einen bestimmten Erfahrungsraum, für bestimmte kollektiv gemachte Erfahrungen ist. Bourdieu spricht von Habitus und habituellen Dispositionen. Wissenssoziologisch stimmen Bourdieu und Mannheim trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten überein, sie gehen von der Annahme aus, dass sich das Handeln sozialer Akteure an diesen atheoretischen Wissensbeständen orientiert, es ist das handlungspraktische, handlungsleitende Orientierungswissen, das der Handlungspraxis zugrunde liegt. Der Habitus bildet in Bohnsacks Terminologie den Orientierungsrahmen.

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was die Befragten erzählen, sondern was sich in den Erzählungen über die Praxis und die Orientierungen der Akteure dokumentiert (vgl. Bohnsack 2003, S. 64). Es ist nicht Ziel, eine Einzelfalldarstellung vorzunehmen, sondern vom Einzelfall zu abstrahieren und zu einer Theoriebildung zu gelangen, die in mehrdimensionalen Typologien ihren Ausdruck findet.

Die dokumentarische Methode: forschungspraktische Schritte Der Forschungsprozess der dokumentarischen Methode durchläuft verschiedene Schritte. Als erstes wird in der sogenannten formulierenden Interpretation das Datenmaterial, z.B. der transkribierte Interviewtext, thematisch gegliedert. Die Forscherin macht in diesem Schritt den Orientierungsrahmen der Erforschten (noch) nicht explizit, stattdessen „geht es darum, zunächst konsequent innerhalb des Relevanzsystems, des Rahmens […] [der Erforschten] zu bleiben“ (Bohnsack 2003, S. 34). Es wird herausgearbeitet, was die Befragten erzählen und welche Themen sie behandeln. Nachdem das empirische Material thematisch erschlossen wurde, beginnt im zweiten Schritt der reflektierenden Interpretation die Rekonstruktion der/des Orientierungs­rahmen/s. Der Blick ist jetzt darauf gerichtet, wie die Themen verhandelt werden, d.h. auf welche atheoretischen Orientierungen die Erzählungen hinweisen. Ein weiterer Arbeitsschritt, die komparative Analyse, führt zur Typenbildung. Diesen Auswertungsschritten bin ich mit meinen Forschungen, deren zentralen Ergebnisse ich in den nächsten Abschnitten darstellen werde, gefolgt. Dabei werde ich insbesondere auf Homologien und Unterschiede in den Orientierungsrahmen der FallmanagerInnen ein­ gehen und herausarbeiten, welche unterschiedlichen Fallmanagementtypen sich in Bezug auf die Sichtweise auf und den Umgang mit den Arbeitslosen zeigen. Da für diesen Beitrag nur vier Interviews als empirische Basis dienen, sich jedoch drei verschiedene Typen andeuteten, konnte nur ein Typus durch einen weiteren Fall gestützt werden. Die anderen beiden Typen wären noch durch mindestens einen Fall zu stützen. Die Ergebnisse sind somit vorläufig und müssen durch nachfolgende Arbeiten belegt werden.

Empirische Ergebnisse Im fallübergreifenden Vergleich der in der reflektierenden Interpretation rekonstruierten Orien­tierungen der einzelnen FallmanagerInnen zeigt sich, dass ihnen zentrale Orientierungen gemeinsam sind. So setzen sie sich allesamt mit der Charakterisierung und Kategorisierung der LeistungsempfängerInnen auseinander. Sie konstruieren Gruppen von Arbeitslosen, in welche sie diese einordnen, um die „Fälle“ hierdurch bearbeitbar zu machen.

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Zum Beispiel zeigt sich dies im Interview mit Frau Conrad: „[…] im Sozialamt war ja wirklich Armut pur und was Sie hier jetzt ’n bißchen in Gruppen aufteilen müssen, es gibt ’n Personenkreis der absolut keinen Bock hat auf Arbeit wo auch die Armut nicht gegeben ist, die sich durch Kredite und so weiter und so fort ihr Leben versuchen irgendwo zu versüßen aber gar nicht die Konsequenz dabei sehen wat sie da so fabrizieren und irgendwann auch sicher aus dieser Misere nicht mehr rauskommen, dann gibt es den Personenkreis der gerne arbeiten möchte aber einfach vom psychischen her und vom Intelligenzgrad wenig Möglichkeiten haben auf den ersten Arbeitsmarkt wieder zu kommen und dann haben Sie den Personenkreis der natürlich am leichtesten irgendwo auch da die Arbeit durchzuführen die ganz super drauf sind und sich allein um Arbeit bemühen wenn wir irgendwo Vermittlungsmöglichkeiten haben sofort da in Action gehen und versuchen dit durchzuziehen und da muss man auch lernen diese Personenkreise auch irgendwo selbst einzuteilen weil für jeden Kreis müssen Sie ganz andere Hilfen geben […]“ (25.5.2007, Z. 5–19)

Die Fallmanagerin grenzt von der (von ihr konstruierten) Gruppe der Arbeitslosen, die nicht arbeiten wollen und „wo auch Armut nicht gegeben ist“ die Gruppe der Arbeitswilligen ab. „Arbeitswillige“ differenziert sie in Arbeitswillige, die zwar arbeiten wollen, aber aufgrund von Defiziten und Einschränkungen kaum Aussichten auf dem Arbeitsmarkt haben, und in Arbeitswillige, die kompetent sind („ganz super drauf sind“). Es ist für das Fallmanagement aus ihrer Perspektive entscheidend, in welche Gruppe ein/eine LeistungsempfängerIn eingeordnet wird. Denn an der Zuordnung orientiere sich der weitere Umgang mit ihm/ihr. Arbeitslose in Kategorien einordnen zu können als Voraussetzung für die Arbeit als Fallmanagerin, die erst erworben werden muss. Die Differenzierung der LeistungsempfängerInnen in Arbeitswillige und Arbeitsunwillige zeigt sich in allen Interviews und ihr wird hohe Priorität zugeschrieben.120 Sie stellt eine gemeinsame Leitdifferenz in den Orientierungsrahmen der FallmanagerInnen dar. Die Arbeitslosen, die als arbeitswillig eingeschätzt werden und die sich aus Sicht der FallmanagerInnen kooperativ verhalten, bilden den positiven Gegenhorizont in den Orientierungsrahmen der FallmanagerInnen. Den negativen Gegenhorizont bilden diejenigen LeistungsempfängerInnen, denen zugeschrieben wird, nicht arbeiten zu wollen, „weil sie sich ein Leben mit Hartz IV ‚eingerichtet‘ haben“. Sie gilt es zur Orientierung an der Normalbiografie zu bekehren.

120 Hier exemplarisch noch eine weitere Passage aus dem Interview mit der Fallmanagerin Frau Radekow: „[…] man muss ganz doll unterscheiden zwischen dem Jugendlichen, der arbeiten will, und dem, der Arbeit suchen muss […]“ (Z. 72–74).

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„Ich möchte keine Sozialschmarotzer hier bezahlen“ heißt es bei Frau Heinrich (Z. 442–443), während Frau Conrad deutlich macht, dass es darum gehen müsse, Menschen „dazu zu bringen, dass die sich morgens den Wecker stellen […]“ und dass es nicht leicht sei, sie davon zu überzeugen, dass ihr „sorgenfreier“ Lebensstil „gar nicht so gut“ sei.121

Der Wille zur Arbeit wird als Ergebnis einer erzieherischen Arbeit verstanden, die, wenn sie im Herkunftsmilieu der Arbeitslosen nicht geleistet wurde, jetzt von den FallmanagerInnen nachgeholt werden muss. Neben der Differenzierung entlang des Kriteriums Arbeitsbereitschaft zeigt sich, wie bereits in der Passage aus dem Interview mit Frau Conrad deutlich wird, eine weitere: LeistungsempfängerInnen werden von den FallmanagerInnen in kompetent und inkompetent unterteilt. Während die Kompetenten als „Selbstläufer“ (Frau Radekow) gelten und nicht viel Einsatz vonseiten der Fallmanagerin erforderlich ist, beschreiben sich die FallmanagerInnen im Umgang mit den Inkompetenten als besonders aktiv. Ihre Arbeit setzt an den von ihnen selbst diagnostizierten Vermittlungshemmnissen des Arbeitslosen an, so „suchen“ sie passende Maßnahmen für Arbeitslose, „schicken“ sie zu Weiterbildungen (Frau Conrad) und „kontrollieren“ (Frau Heinrich) ihre Beteiligung am Fallmanagementprozess. Als Vermittlungshemmnis gilt zum Beispiel, wenn Arbeitslose über bestimmte berufliche Kenntnisse nicht verfügen, wenn sie aus Sicht der FallmanagerInnen nicht mehr arbeitsfähig sind oder als suchtkrank oder psychisch labil eingeschätzt werden. Entsprechend dieser Vermittlungshemmnisse müssen sie an beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen, zur Beratung gehen oder in einer Trainingsmaßnahme ihre Arbeitsfähigkeit testen lassen. An den „Vermittlungshemmnissen“ setzen die Möglichkeiten des Fallmanagers an. So erzählt zum Beispiel die Fallmanagerin Frau Heinrich, dass sie „mit verschiedenen Maßnahmen versucht“, einen „gesundheitlich abgestürzten jungen Mann“ „wieder an die Erwerbstätigkeit heranzuführen“, ihn aufgrund eines Alkoholproblems anschließend dazu bewege, zur Suchtberatung zu gehe,n und so „Schritt für Schritt“ ein Vermittlungshemmnis nach dem anderen in einem „langjährigen“ Fallmanagementprozess aufgreife. 122 Arbeitslose, 121 „[…] die erstmal dazu zu bringen, dass die sich morgens den Wecker stellen und dass sie morgens los müssen, das ist ja auch gar nicht so einfach, also da muss man auch viel Taktik rüber bringen und einfach den auch versuchen zu erklären, dass er das machen muss, denn viele haben sich ja schon so’n Alltag irgendwo angewöhnt wo die sorgenfrei trotzdem aufstehen und irgendwo ist alles trotzdem rosarot ich mein so’ne Menschen haben Sie auch dabei, die sich einfach damit zufrieden geben so wies ist so ist es schön, was aber gar nicht so gut für die Leute, und das rauszukriegen aus den Köpfen ist auch nicht so einfach […]“ (Conrad, Z. 375–382). 122 Frau Heinrich: „[…] da hab ich zum Beispiel ein jungen Mann der war soweit abgestürzt gesundheitlich ähm ja ist nicht so einfach aber wir haben mit verschiedenen Maßnahmen mit der Mehraufwandsentschädigung versucht ihn wieder ranzuführen an Erwerbstätigkeit […] da er hat es sich eingestanden dieses Alkoholproblem, dem stellt er sich geht zur Suchtberatung wie wir das besprochen haben, er geht zur Schuldnerberatung und Schritt für Schritt kann man den Einstieg für den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, ist natürlich n langjähriger Prozess […]“ (Z. 156–163)

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die in diesem Fallmanagementprozess mitarbeiten, gelten als bemüht, während diejenigen, die sich nicht beteiligen als arbeitsunwillig eingeschätzt und sanktioniert werden. Die Kategorisierungen nehmen die FallmanagerInnen entlang der beiden Kriterien Arbeitsbereitschaft und Kompetenz vor; in ihrer Arbeit orientieren sie sich an diesen Kategorien. Eine weitere Homologie in den Orientierungsrahmen der FallmanagerInnen besteht darin, dass sie sich als diejenigen, die aktiv sind, verstehen. Auf diese Orientierung deutet der Sprachgebrauch der FallmanagerInnen hin. Sie beschreiben, dass LeistungsempfängerInnen in Maßnahmen „gesteckt und heraus genommen“ werden, dass sie „mit dem Jugendlichen etwas bezwecken“, dass sie „Irrtümer und Verpflichtungen“ (Frau Heinrich) aufzeigen. Inter­ essant ist weiterhin, dass sich die FallmanagerInnen auf ihre Biografie berufen, um ihre persönliche Eignung für die Tätigkeit als Fallmanagerin zu begründen und zugleich deutlich zu machen, dass sie sich in ihrer Arbeit nicht auf professionelle Standards beziehen können. Als Befund ist weiterhin von großer Relevanz, dass die FallmanagerInnen die gemeinsamen Themen in unterschiedlichen Orientierungsrahmen verhandeln. Sie nehmen unterschiedliche Sichtweisen auf die Maßnahmen und Sanktionen ein, entwerfen verschiedene Bilder der Arbeitslosen und betrachten regionalspezifische Problemlagen aus verschiedenen Perspektiven. So zeigt sich bei einer Fallmanagerin eine entwicklungsorientierte Perspektive auf die Arbeit mit jugendlichen LeistungsempfängerInnen, bei zwei Fallmanagerinnen lässt sich eine moralorientierte und bei dem vierten Interviewten eine gesetzesorientierte Perspektive rekonstruieren. Die unterschiedlichen Orientierungsrahmen werden im Weiteren vorgestellt.

Typ 1: Entwicklungsorientierte Perspektive Frau Radekow arbeitet im U-25-Bereich als Fallmanagerin mit Jugendlichen. In der Eingangspassage begründete sie ihre Kompetenz als Fallmanagerin damit, dass sie Mutter einer ­jugendlichen Tochter sei und dadurch mit den Problemen Jugendlicher vertraut sei. Bei Frau Radekow kommt zum Ausdruck, dass sie eine entwicklungsorientierte Perspektive auf ihre Arbeit einnimmt und zwischen der regelorientierten und der den Bedürfnissen der Praxis ange­ passten Arbeitsweise unterscheidet. In ihrem Orientierungsrahmen ist es von hoher Priorität, dass sich das Fallmanagement an den Bedürfnissen der LeistungsempfängerInnen ausrichtet, mit dem Ziel, eine positive Entwicklung und eine Integration der jungen Erwachsenen zu fördern. Es geht ihr im Fallmanagement darum, die Lebenssituation der Jugendlichen zu verstehen und in der Arbeit mit ihnen an sie anzuknüpfen. Die Fallmanagerin sieht sich als Ansprechpartnerin der Jugendlichen, die ein „offenes Ohr“ für die Probleme der Jugendlichen hat und ein „Vertrauensverhältnis“ schaffen möchte:

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„[…]Aber ich sehe es auch schon wichtig, dass man wie gesagt dieses Vertrauensverhältnis schafft, so dass der Jugendliche immer weiß, man kann sich eigentlich immer an sie wenden und sie hat auch n offenes Ohr für die Probleme des Jugendlichen, und ja einfach das Gefühl, also selber sag ich mal ist es wichtig sich in die Problemlage der Jugendlichen hinein versetzen zu können […]“ (Z. 11–15).

Frau Radekow geht in deutliche Distanz zu den gesetzlichen Vorgaben des SGB II, die ihrer Ansicht nach der individuellen Lage der Jugendlichen nicht gerecht werden. Den negativen Gegenhorizont bildet in ihrem Orientierungsrahmen eine unflexible Arbeitsweise, die sich nicht an der „Dringlichkeit und Bedürftigkeit“ orientiert. Denn aus dieser erwächst aus Frau Radekows Perspektive heraus das Problem, dass es sehr schwierig ist, die „am Bedarf vorbei“ ausgebildeten Jugendlichen zu integrieren und „unterzubringen“: „[…] der Unterschied zwischen dem Team U-25 und Ü-25 ist ja eben auch dass bestimmte Mechanismen […] entwickelt werden sollen, also dass man aus der im Prinzip ne Analyse macht welche Gruppe welche Problemgruppe hat man was könnte man mit dieser Problemgruppe machen, […] was wir schade finden dass bei diesen überbetrieblichen Ausbildungen wo ja die die Zuordnung und die Aufteilung welche Sachen ausgebildet werden […] nicht nach Dringlichkeit und Bedürftigkeit ausbildet sondern danach dass sie schon immer viele Verkäufer und schon immer viele Maler und eigentlich völlig am Bedarf vorbei ausbilden […]“ (Z. 32–38).

Maßnahmen, so fordert sie, müssen an den Voraussetzungen und Bedürfnissen der LeistungsempfängerInnen ansetzen, um eine Integration der Jugendlichen bewirken zu können. Frau Radekow formuliert den Anspruch, das Fallmanagement weiterzuentwickeln. Auch bei der Verhandlung des Themas Sanktionen zeigt sich, dass sie zwischen einer regelorientierten und einer entwicklungsorientierten Perspektive unterscheidet. Es handelt sich bei den Sanktionen aus ihrer Sicht um eine vom Gesetzgeber auferlegte Pflicht, die in der Regel („eigentlich de facto“) besteht. Die Sanktionen stellen in ihrer Perspektive eine Konsequenz auf ein Fehlverhalten des jugendlichen Arbeitslosen dar, die im erzieherischen Kontext aus ihrer Sicht jedoch nicht zu einer positiven Entwicklung führen, sondern für den Jugendlichen und für die Fallmanagerin neue Probleme schaffen: „[…] also im U-25 Bereich, auch etwas anders angesiedelt, auch vom Gesetz her ganz anders vorgegeben als im Ü-Bereich. Ist ja schon so, dass ich die Jugendlichen um 100 % zu sanktionieren habe, das heißt wenn er Pflichtverletzungen gemacht hat, […] dann muss ich ihn ja eigentlich de facto sanktionieren […]. Ich mein wenn der echt nicht belehrbar ist […] was soll’s. […] selbst wenn man sagt, o.k. der Jugendliche kann ja, ist ja in der Gesetzesänderung auch so, dass er bei wiederholter Sanktionierung auch keine Wohnkosten erstattet bekommt, bringt ihn aber auch nicht weiter, weil er zahlt die ja in de facto nicht und nach den drei Monaten hat er dann Mietschulden in nicht unbeachtlicher Höhe und letztendlich muss ich ihm dafür auch

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n Darlehen oder wie auch immer geben, also ist ja nicht, dass dieses Problem an sich weg ist. […]“ (Z. 305– 325).

Durch die Sanktionierung können Mietschulden entstehen, was sich für die Fallmanagerin als neues Problem, das sie lösen muss, herausstellt. Sanktionen können zwar als Strafe eingesetzt werden, aber Probleme können sie aus ihrer Sicht nicht lösen. Die Fallmanagerin formuliert implizit einen pädagogischen Anspruch an ihre Arbeit und rahmt die Gespräche mit den LeistungsempfängerInnen als pädagogische Beratungssituation, in der mit dem Jugendlichen etwas „Sinnvolles“ gemacht werden sollte, ein.

Typ 2: Moralorientierte Perspektive Im Unterschied zu Frau Radekow zeigt sich bei den beiden Fallmanagerinnen, die im ­Ü-25-Bereich arbeiten, Frau Conrad und Frau Heinrich, eine moralorientierte Sichtweise auf ihre Arbeit. Aus ihrer Sicht grenzen sich moralisch gute Arbeitslose von denen ab, die aus ihrer Sicht unmoralisch handeln, da sie nicht arbeiten wollen würden. Bei der Bewertung der LeistungsempfängerInnen hinsichtlich der Frage, ob sie bemüht seien oder nicht, beruft sich Frau Heinrich auf ihre Menschenkenntnis und ihre Berufserfahrungen. Frau Conrad macht deutlich, dass sie erst einmal lernen musste, die „Personenkreise einzuteilen“, wobei sie beschreibt, dass ihr ihre langjährige Berufserfahrung als Mitarbeiterin im Sozialamt dabei geholfen habe. Die Fallmanagerinnen differenzieren nicht nur in arbeitswillige bemühte und arbeitsun­ willige unbemühte Arbeitslose, sondern für sie ist typisch, dass sie eine moralische Bewertung der Gruppen vornehmen. Wenn sich jemand „bemüht“ „ist es in Ordnung“, Menschen, die sich jedoch nicht bemühen, werden von ihnen sanktioniert, mit dem Ziel, ihnen deutlich zu machen, dass ihr Verhalten moralisch nicht in Ordnung ist: „[…] wenn du da schon merkst da kommt nichts da passiert nichts du ermahnst du schickst Termine das läuft nicht von alleine, […] dann muss man auch irgendwann mal in letzter Konsequenz ne Sanktion erfolgen, das ist richtig, ich muss Ihnen ehrlich sagen ich möchte keine Sozialschmarotzer hier bezahlen das seh ich nicht ein, […] ich möchte keine Sozialschmarotzer hier bezahlen das seh ich nicht ein, aber ich guck da genau drauf […] bemüht er sich, und wenn er sich bemüht ist es ja in Ordnung […]“ (Z. 438– 444). […] denn das [die Sanktionierung] ist die einzige Möglichkeit von unserer Seite zu zeigen, so geht es nicht weiter, nicht auf Kosten der arbeitenden Gesellschaft […] denn wir zahlen ja alle ein für diese Sachen, du ruhst dich aus und wir gehen arbeiten.[…]“ (Z. 449–451).

Frau Heinrich schreibt dem unmoralischen Arbeitslosen zu, die arbeitende Bevölkerung auszunutzen: LeistungsempfängerInnen, die sich nicht „bemühen“ und als arbeitsunwillig ein-

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gestuft werden, erfahren Stigmatisierung als „Sozialschmarotzer“ und werden sanktioniert. Sie geht in Distanz zu diesem Milieu und verortet sich selbst bei den moralisch Guten der Arbeitswilligen („wir gehen arbeiten“). Die als moralisch gut bewerteten Arbeitslosen befinden sich aus Sicht der Fallmanagerinnen unverschuldet in ihrer Situation. Sie werden als Opfer des gesellschaftlichen Wandels gesehen, den sie nicht bewältigen konnten. Frau Heinrich fordert in ihrer Position als Fallmanagerin für die Menschen, die arbeiten wollen, bessere Lebensbedingungen und kritisiert die schlechte Bezahlung vieler Menschen in der Region. Sie geht implizit auf Abstand zum SGB II, das nicht nach den Bedingungen der Erwerbsarbeit fragt. Ihre Aufgabe sieht sie darin, den Arbeitslosen, die arbeiten wollen, Unterstützung zu geben. Sie sieht sich als Helferin in der Not, die am „Leid“ der Menschen Anteil nimmt. Frau Conrad macht ebenfalls deutlich, dass es ihr darum geht, den Menschen zu helfen und sie psychisch aufzubauen. Ihr ist wichtig, den LeistungsempfängerInnen wieder zu einem „sinnvollen Leben“, an Erwerbsarbeit orientierten Leben zu verhelfen. Sie führt ein Beispiel hierfür an: Eine Frau, die sie zu einem Alphabetisierungskurs geschickt hat, ist dadurch „richtig aufgeblüht“, jetzt hat sie eine Stelle als Putzkraft, sie bezieht zwar weiterhin Arbeitslosengeld II, „aber sie hat eine Beschäftigung“.123 Der Fallmanagerin ist es wichtig, Menschen „auf den richtigen Weg zu bringen“. Sie sieht sich als erzieherisch Handelnde und ggf. greift sie zu erzieherischen Mitteln, um eine an der Erwerbsarbeit orientierte Lebensweise durchzusetzen. So beschreibt sie, dass ein Leistungs­ empfänger täglich morgens bei ihr erscheinen musste, um sich seinen Tagessatz Alg II persönlich von der Fallmanagerin abzuholen, um Pünktlichkeit zu erlernen. Als besonders kritisch bewertet sie es, wenn sich LeistungsempfängerInnen „in einem Leben mit Hartz IV eingerichtet haben“ und „auch noch glücklich in der Misere“ sind. Diejenigen LeistungsempfängerInnen, die die Fallmanagerinnen als inkompetent, aber arbeitswillig ansehen, entlasten sie von der Verantwortung für ihr Tun, was sich zum Beispiel darin ausdrückt, dass sie nicht sanktioniert werden. Ein Arbeitsloser, der als überfordert eingeschätzt wird und mit seiner Maßnahme „nicht zurechtkommt“, wird nicht sanktioniert, er wird „rausgenommen“ und für ihn wird „irgendwas anderes organisiert“. Das Verhalten eines Alkoholikers, der sich der 123 Frau Conrad: „Ja also ich hab eine Dame die absolut äh mit der Rechtschreibung null, die aber ganz zielstrebig ist um Arbeit zu finden […] aber wir hatten dann das Projekt praktisch diese Nachhilfe für Rechtschreibung und Mathematik über einen Verein laufen und äh da hab ich sie angemeldet, sie war begeistert hat das super gezogen und ist da so happy gewesen in dieser ganzen Zeit dass erstmal ihr Selbstvertrauen auch gesteigert wurde[…] und wir haben sie jetzt ich hab sie jetzt so weit gekriegt dass sie so’nen Teiljob auf der Insel hat als Reinigungskraft und da geht die so auf die Frau sie ist zwar nicht aus dem Arbeitslosengeld II raus aber sie hat ’ne Beschäftigung, sie weiß wenn sie morgens aufsteht dass sie irgendwo gebraucht wird, sie weiß dass es doch noch irgendwo n Sinn hat die ganze Geschichte […]“ (Z. 97–110).

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Suchtberatung entzieht, wird jedoch als unmoralisch angesehen und sanktioniert. 124 Sowohl bei Frau Conrad als auch bei Frau Heinrich deutet sich an, dass diejenigen, die dem Milieu der „schuldigen Unmoralischen“ zugeordnet werden, stigmatisiert und repressiv behandelt werden. An sie wird, wie es Frau Conrad ausdrückt, „mit härteren Bandagen herangegangen“. Die Fallmanagerinnen beschreiben einen Umgangsstil mit den LeistungsempfängerInnen, den ich als fürsorglich-autoritär benennen möchte. Sie orientieren sich an eigenen mora­ lischen Bewertungen und treffen Entscheidungen „ethnozentrisch“ und „beurteilen“, um mit Goffmans Worten zu sprechen, […]das Verhalten von Individuen vom eigenen kulturellen Standpunkt“ aus (Goffman 1973, S. 346).

Typ 3: Gesetzesorientierte Perspektive Der vierte interviewte Fallmanager, Herr Prager, arbeitet im U-25-Bereich mit jungen Erwachsenen und Jugendlichen. Herr Prager beruft sich im Interview auf Kenntnisse über Gesetze und berichtet, auf den direkten Kontakt mit den LeistungsempfängerInnen nicht vorbereitet gewesen zu sein, sondern „ins kalte Wasser geworfen“ worden zu sein. Er nimmt im Interview häufig explizit Bezug auf das Gesetz und begründet sein Handeln mit gesetzlichen Vorgaben.125 Er sieht es als seine Aufgabe, „dem Gesetz Genüge zu tun“. In Bezug auf die Leistungsempfänger ist für ihn relevant, welche Rolle das SGB II den jungen Erwachsenen zuschreibt: Dem SGB II folgend sieht er sie in der Pflicht, Arbeit zu suchen und alles zu tun, um die Hilfebedürftigkeit zu beenden. Es geht ihm um die Erfüllung von Pflichten:

124 Frau Conrad: „[…] ’n Alkoholiker, wenn ich den jetzt zur Suchtberatung schicke, das auch in ne Eingliederungsvereinbarung mit rein nehme und er macht es nicht, kann ich kürzen, würd ich auch kürzen. Wenn sie jetzt jemanden, den sie in eine Maßnahme stecken, zum Beispiel dieses Projekt Rechtschreibung Mathematik, der absolut da nicht zu Recht kommt und dit Ding schmeißt, weil er den nehm ich da raus und versuche irgendwas anderes zu organisieren […]“ (Z. 242–249). 125 Auch die Fallmanagerinnen Frau Radekow, Frau Heinrich und Frau Conrad teilen die „Orientierungen des Gesetzes“, indem sie z. B. in arbeitsunwillige und arbeitsbereite Menschen differenzieren, sich an Vermittlungshemmnissen orientieren etc. Herr Prager beruft sich jedoch im Unterschied zu diesen in der Verhandlung der Bezugsprobleme explizit auf das Gesetz. Er orientiert sich auch an moralischen Werten, da das SGB II ein „moralisches Gesetz“ ist und seiner Entstehung die (moralisierende) Debatte über den Missbrauch von Sozialleistungen vorangegangen ist. Die Differenzierung des SGB II in Arbeitswillige und Unwillige basiert auf ethischen Kategorien wie Pflichterfüllung und Eigenverantwortlichkeit. Die Fallmanagerinnen berufen sich in den Interviews jedoch nicht explizit auf das Gesetz, sondern auf moralische Werte und gehen zumindest ansatzweise in Distanz zum SGB II (indem sie sich mit den „fleißigen armen Bürgern“ solidarisieren). Herr Prager verweist stattdessen (scheinbar) rational auf das Gesetz und bringt einen technokratischen Umgangsstil zum Ausdruck.

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„[…] es hat sich aber in der Praxis bei den meisten so eingestellt die kommen regelmäßig hier her, außer die, die nicht kommen, die gibt’s natürlich auch die müssen dann aufgefordert werden zu kommen und ihre Aufgaben ihre Verpflichtungen abzurechnen, und wenn sie das nicht tun dann müssen sie mit Konsequenzen rechnen […]“ (Z. 79–83).

Die Jugendlichen sollen Pflichten erfüllen, die aus ihrem Leistungsbezug erwachsen, und FallmanagerInnen sollen Pflichten erfüllen, die ihnen das Gesetz vorgibt. Über seine Erfahrungen im „Betreuungsprozess“ berichtet er, dass die Jugendlichen „in der Regel“ „regelmäßig“ zu ihm in das Amt kommen. Von diesem Normalfall grenzt er diejenigen ab, „die nicht kommen“. Er sieht es als selbstverständliches „Muss“ bzw. als seine Pflicht an, diese Jugendlichen aufzufordern, zu erscheinen und „ihre Verpflichtungen abzurechnen“. Als Fallmanager sieht er sich in einer kontrollierenden Funktion. „Pflichtverletzungen“ führen dazu, dass die LeistungsempfängerInnen „mit Konsequenzen rechnen müssen“. Dass sich die Arbeit in Herrn Pragers Orientierungsrahmen fraglos an den Vorgaben des SGB II auszurichten hat, wird auch in seinen Ausführungen zum Thema Sanktionierung deutlich: Interviewerin: „Sanktionen?“ Herr Prager: „[…] ja, ja gut wenn’s dann so keinen wichtigen Grund, keinen anerkannten Grund für das Verhalten gibt. Das heißt also grundsätzlich erhält jeder ja die Möglichkeit dazu Stellung zu nehmen, er wird schriftlich aufgefordert bis zu einer Frist sich mündlich oder schriftlich zu äußern im Rahmen einer Anhörung, erst wenn das nicht getan wird, dann wird nach Aktenlage entschieden und ansonsten wird dann auf Grundlage der vorgebrachten Gründe – oder viele sitzen ja hier und sagen, wo keine Gründe da sind, dann folgt logischer Weise auch die Leistungseinschränkung. [..]“ (Z. 86–92).

Die Sanktion („Leistungseinschränkung“) folgt aus Herrn Pragers Perspektive als „logischer“ Schritt im Sanktionierungsverfahren, nachdem der formelle Verfahrensweg eingehalten wurde. Er inszeniert sich nicht als moralisierender Akteur, wie dies Frau Heinrich und Frau Conrad tun, sondern beruft sich scheinbar rational auf den Verfahrensweg, die „Aktenlage“ und die im SGB II „anerkannten Gründe“ für das Versäumnis von Pflichten. So sieht er die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen auch als „Anhörung“, die stattfindet, „weil es der Verfahrensweg“ so vorsieht. Er gibt den Jugendlichen also die im Gesetz festgehaltene Möglichkeit, sich zu äußern, und bewertet diese Gespräche im Gegensatz zu den anderen Interviewten nicht als pädagogische Beratungssituation. Zum Abschluss des Interviews äußert sich der Fallmanager über seine Wünsche bezüglich der Arbeit. Herr Prager kritisiert Lücken in der Gesetzgebung und formuliert seinen persönlichen Wunsch nach eindeutigen gesetzlichen Vorgaben.

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Die Perspektive auf regionalspezifische Probleme des ­l ändlichen Raumes Die FallmanagerInnen thematisieren in den Interviews gemeinsame Bezugsprobleme, die sie als typisch für den ländlichen Raum ansehen: die fehlende Mobilität der Arbeitslosen, die Vermittlung in andere Regionen und die geringe Bezahlung vieler ArbeitnehmerInnen. In der Verhandlung dieser Themen kommen die vorher skizzierten Orientierungsrahmen ebenfalls zum Ausdruck. Im Folgenden möchte ich die Sichtweisen der FallmanagerInnen auf diese Probleme beleuchten. Ein regionalspezifisches Problem ist aus ihrer Sicht, dass viele Arbeitslose nicht über die notwendige Mobilität verfügen, die es ihnen möglich macht, den Arbeitsweg in einen anderen Ort zu bewältigen. Aus der Perspektive der FallmanagerInnen ist es von großer Priorität, dass die Arbeitslosen mobil sind. Den Besitz eines Autos und eines Führer­scheins sehen sie als sehr wichtig an, denn die Vermittlungschancen eines Leistungsempfängers hängen maßgeblich davon ab, ob er über Auto und Führerschein verfügt. Darüber zu verfügen ist deshalb so wichtig, weil keine hinreichenden Verbindungen des öffentlichen Nahverkehrs existieren, um von kleineren Dörfern zu Ausbildungsstätten in den Kleinstädten zu gelangen, wie Herr Prager erzählt: „[…]. Sicherlich wissen wir inwiefern der Führerschein schon ne Rolle spielt auf m Arbeitsmarkt. Ohne den sind die Chancen wirklich gering und erst recht hier im ländlichen Raum, weil man kommt halt nicht von A nach B mit öffentlichen Verkehrsmitteln, außer man lebt damit, dass man morgens einmal mit n Bus fährt und abends irgendwann zurück kommt, ähm, aber die Arbeitszeiten sind halt anders. Es gibt relativ gute Verbindungen hier, wenn man die Urlaubsregion sieht, ähm, von der einen Stadt in die Urlaubsregion fährt alle zwei Stunden n Bus hin und her aber das ist die große Ausnahme, andere Richtungen werden gar nicht befahren. […]“ (Z. 216–223).

Auch Frau Heinrich greift das Thema Mobilität im Interview auf. Sie bringt zum Ausdruck, dass Arbeitslose, die ihr Auto aus wirtschaftlichen Gründen abmelden müssen, einerseits nicht mehr vermittelbar sind, andererseits auch einen sozialen Abstieg erleben, was sowohl die Arbeitslosen als auch die Fallmanagerin „traurig“ macht.126 Es deutet sich auch in der Behandlung dieses Themas an, dass Frau Heinrich den LeistungsempfängerInnen eine Opferrolle zuschreibt und emotional Anteil nimmt. Dass sich viele LeistungsempfängerInnen kein Auto leisten können, problematisiert auch Frau Radekow: 126 Frau Heinrich: „[…]. Das hat mich sehr traurig gemacht auch die letzten Monate als mir das so bewusst wurde drei vier fünf Bürger haben mir im Gespräch im erklärt also fast deprimiert ich bin ganz unten angekommen ich musste mein Auto abmelden, Endkonsequenz ist er ist nicht mehr vermittelbar, das ist wirklich der soziale Abstieg […]“ (Z. 478–481).

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„[…] ja und denn ist ein großes Problem ist auch na wir leben ja nun mal in einem Flächenstaat und die mangelnde Mobilität ist eben ein sehr sehr großes Vermittlungshemmnis ich mein die haben oftmals auch keinen Führerschein aber dann gibt es viele die haben zwar einen Führerschein können sich aber kein eigenes Auto leisten so kann ich sie teilweise auch nicht vermitteln ja […]“ (Z. 274–278).

Das SGB II schafft paradoxerweise Vermittlungshemmnisse durch die finanziell schlechte Stellung der Arbeitslosen, die es nicht ermöglicht, ein Auto zu unterhalten. Zuspitzung erfährt das Thema bei Frau Conrad. Sie beschreibt, dass Arbeitslose „zu Fuß“ aus „abgelegenen“ Dörfern zum Jobcenter laufen, weil sie nicht einmal über die Mindestvoraussetzungen von Mobilität verfügen, „die haben nicht einmal ein Fahrrad“ und sind nicht vermittelbar.127 Die Lebenssituation dieser Menschen, die sie als „Gestalten“ bezeichnet, ist ihr völlig fremd und sie geht ganz offen in Distanz zu diesem Milieu.

Vermittlung in andere Regionen Der Vermittlung in andere Regionen kommt aus Sicht der interviewten FallmanagerInnen im strukturschwachen ländlichen Raum große Bedeutung zu. Wer arbeiten will, so die Fallmanagerin Frau Radekow, muss bereit sein, die Region zu verlassen: „[…] letztendlich ist es tatsächlich so wenn sie dann wirklich arbeiten möchten ist es tatsächlich so, dass sie die Region verlassen müssen ich mein man hat auch gute Beispiele aus den letzten zwei Jahren dass da wirklich Jugendliche auch mit unserer Hilfe gegangen sind und bislang nicht mehr zurück gekommen sind und sich in südlichen Gefilden etabliert […]“ (Z. 86–89).

Aus ihrer entwicklungsorientierten Sicht bewertet sie es als positiv, als „gute Beispiele“, dass sich die Jugendlichen „in südlichen Gefilden“ etwas aufgebaut und sich „etabliert“ haben. Standen viele Erwerbslose nach Einschätzung der Fallmanagerin Frau Conrad einer Vermittlung ins Ausland anfänglich eher skeptisch gegenüber, nehmen derzeit immer mehr Personen ein Arbeitsangebot im Ausland an. Sowohl jüngere LeistungsempfängerInnen, aber auch ­ältere verlassen Norddeutschland, um sich im In- oder Ausland „eine richtige Existenz“ (im Unterschied zu einer falschen, die auf Hartz IV beruht) aufzubauen:

127 Frau Conrad: „[…]. Die jetzt in abgelegenen Dörfern leben, ja da kommen manchmal auch Gestalten an […] die haben kein Auto, da kommen manch einer kommt da zu Fuß vom Dorf um hier irgendwo seinen Termin wahrzunehmen, die haben nicht mal ’n Fahrrad, ja ich mein die kann man auch nicht vermitteln […]“ (Z. 330–337).

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„[…] Wir haben jetzt auch viel ins Ausland vermittelt. Beginnt jetzt auch viel mit Auslandsarbeit und die Leute sind auch interessiert daran, zu Anfang war ja erst mal ‚nein‘, aber viele steigen doch schon mit ins Boot um sich doch wieder ne richtige Existenz – wir haben viel in Dänemark, Österreich, da haben wir auch schon vieles vermittelt, hm und die Leute sind auch nicht zurück […]“ (Z. 162–172).

Die FallmanagerInnen beschreiben, dass sie die Arbeitslosen davon überzeugen wollen, sich in anderen Regionen eine Arbeit zu suchen, da die Aussichten auf eine Vermittlung in der hiesigen Region trübe sind. „[…]. Man versucht auch so’n bisschen dahin zu diskutieren, dass die doch versuchen sich woanders eine Existenz aufzubauen […]“ (Frau Conrad, Z. 161–163). Herr Prager erzählt: „[…]. Letztendlich bleibt dann übrig, dass wir versuchen die jungen Leute zu motivieren auch einfach dahin zu gehen, wo Arbeit ist“ (Z. 147–148). Auf die jeweilige Arbeitsaufnahme in anderen Regionen entfalten die FallmanagerInnen ebenfalls eine kritische Perspektive und nehmen Widersprüche wahr. Bezüglich der demografischen Entwicklung sehen sie es kritisch, wenn junge und gut Qualifizierte den ländlichen Raum verlassen.128 Für die Arbeitslosen selbst betrachten sie es jedoch als Chance, die Hilfebedürftigkeit zu beenden und sich eine Existenz aufzubauen. Herr Prager macht deutlich, dass es zwar „widersinnig“ ist, „wenn die jungen Leute alle hier weggehen“, aus seiner Perspektive ist es jedoch nicht Aufgabe der Fallmanager, die demografische Entwicklung zu berücksichtigen. Er blendet Fragen nach dem Sinn der Vermittlungsarbeit aus bzw. verortet sie nach außen. In der Verhandlung der beiden Themen fehlende Mobilität und Vermittlung in andere Regionen wird deutlich, dass strukturelle Ursachen von Arbeitslosigkeit zu Vermittlungshemmnissen umgedeutet werden, an denen gearbeitet werden kann (Es kann z.B. Überzeugungsarbeit geleistet oder auf das Absolvieren der Fahrschule gedrängt werden.).

Lohndumping Ein gemeinsames Thema der drei Fallmanagerinnen stellt die schlechte Entlohnung der Beschäftigten dar. Frau Heinrich bringt das Problem mit dem Begriff „Lohndumping“ besonders klar zum Ausdruck. Die Fallmanagerinnen berichten, dass es auf der einen Seite zwar Arbeitsstellen im Saisongewerbe gibt, dass das Einkommen aus dieser Erwerbstätigkeit auf der anderen Seite jedoch nicht die Existenz sichert. Sie bewerten es als negativ, dass den Ar128 Hierzu eine Passage von Frau Heinrich: „[…]. Hab ich gerad zu Pfingsten gehabt: ein Umzug einer ganzen Familie, beide gute Qualifikationen mit Kleinkindern, sie verlassen, wir brauchen da nicht weiter drüber reden. Die Guten ziehen weg und es werden immer weniger und weniger Kinder. Ja, das Land vergreist und hat nur noch Männer, die wenig qualifiziert sind“ (Z. 498–502).

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beitslosen bei einer Arbeitsaufnahme oft noch weniger Geld zur Verfügung steht, als sie an Sozialleistungen erhalten würden. Die Gehälter liegen, so Frau Conrad, manchmal nur bei 500 oder 600 Euro. Aus Frau Heinrichs Perspektive liegt es an der Erziehung der Menschen, trotzdem arbeiten zu gehen. Sie „wollen arbeiten“ und nehmen deshalb auch schlecht bezahlte Arbeit an: „[…] ein Stundenlohn von 3,50 Euro, das sind gängige Preise wenn ich das mal hochrechne sie arbeiten wirklich für nichts, [...]. Viele machen es, weil sie wollen arbeiten. Sie haben ihr Leben lang gearbeitet, es ist ja auch eine Erziehungsfrage, auch Frauen sind so erzogen worden auch wirklich Arbeit zu suchen [...]“ (Z. 112–113).

Frau Radekows Erfahrung nach wirken sich die geringen Löhne demotivierend auf die jugendlichen Arbeitslosen aus, denn „[…] die Bruttoeinkünfte […] sind ja meistens zwischen 900 und 1000 Euro […], wenn ich dafür jeden Tag 50 Kilometer pendeln muss […] und am Ende hab ich auch nur 100 Euro mehr dafür warum soll ich da mich auf die Socken machen früh aufstehen und abends spät ins Bett und total ausgepowert sein […]“ (Z. 91–97).

Die Fallmanagerinnen machen einerseits deutlich, dass sie den Anspruch haben, Menschen in „existenzsichernde Arbeit“ zu vermitteln und fordern höhere Stundenlöhne. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass sich die geringe Bezahlung vieler Menschen, aus Perspektive der FallmanagerInnen, auf die Arbeit der FallmanagerInnen auswirkt: Viele LeistungsempfängerInnen können es sich finanziell nicht leisten, eine schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen, da sie von ihrem Gehalt die Fahrtkosten zum Arbeitsort nicht aufbringen könnten. Dass sie dann „abwägen“, eine Arbeit anzunehmen oder nicht, ist aus Sicht der Fallmanagerin Frau Conrad nachvollziehbar: „[…] manch einer der wirklich jetzt 500, 600 Euro kriegt und der ist allein der kriegt nischt mehr bei uns der liegt weeß ick mit zwei oder drei Euro dadrüber, ja der rotiert wenn er dann so’ne Strecke fahren muss, und dass die Leute dann irgendwo sagen ich muss rechnen dass ich das wirklich schaffe finanziell ist logisch muss man natürlich auch immer irgendwo abwägen […]“ (Z. 311–317).

Der Fallmanager Herr Prager teilt diese Orientierung nicht, sondern geht dazu deutlich in Distanz. Aus seiner Sicht muss die im Gesetz formulierte Pflicht des Leistungsempfängers alles zu tun, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern, handlungsleitend sein. Er macht deutlich: „[…]. Sicherlich haben wir auch junge Leute, die sagen dafür wat denn, aber das ist nicht der Anspruch des Gesetz. Wir haben dit, diese Diskussion, die darf an sich bei uns im Haus über-

Handlungsspielräume und Paradoxien bei den „Modernen Dienstleistungen“

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haupt nicht aufkommen, weil im Gesetz steht eindeutig, dass der Hilfebedürftige alles tun muss, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern oder zu beseitigen und verringern heißt mit jedem Euro, was er über 100 Euro verdient, verringert er seine Hilfebedürftigkeit, da gibt’s die Frage an sich nicht, die gilt einfach nicht, darf nicht gelten […]“ (Z. 171–176).

Es ist aus Herrn Pragers Perspektive „nicht der Anspruch des Gesetzes“, Menschen in besser bezahlte Arbeit zu vermitteln. Jeder Euro, den ein Leistungsempfänger dazuverdienen kann, um seine Bedürftigkeit zu mindern, zählt. Die Frage, ob ein Leistungsempfänger zu einem niedrigen Lohn arbeiten gehen sollte, stellt aus seiner Sicht ein Tabu dar. Er fordert, dass die Diskussion über das „Lohndumping“ im Jobcenter unterbleibt. Auch in dem, was die Interviewten zum Thema „Lohndumping“ erzählen, zeigen sich ihre unterschiedlichen Orientierungsrahmen: Während Frau Heinrich aus moralorientierter Sicht das „Lohndumping“ deutlich als ungerecht kritisiert und Frau Conrad nachvollziehen kann, dass Menschen „abwägen“, ob sie trotz niedriger Löhne arbeiten gehen können, verweist Herr Prager auf das Gesetz und geht deutlich in Distanz zur Diskussion über das „Lohndumping“. Frau Radekow sieht die niedrigen Löhne aus entwicklungsorientierter Sicht als schwierig an, da sie sich demotivierend auf die Jugendlichen auswirken würden. Als zentrales empirisches Ergebnis dieser Untersuchung zeigt sich, dass sich Homologien in den Orientierungsrahmen ebenso wie Differenzen rekonstruieren lassen. Gemeinsam ist den Interviewten die Kategorisierung der Arbeitslosen in verschiedene Gruppen, die Leitdif­ ferenz verläuft in ihren Orientierungsrahmen zwischen den bemühten, arbeitswilligen Arbeits­ losen und den arbeitsunwilligen, die im Fallmanagement nicht kooperieren. Unterschiedliche ­Orientierungen zeigen sich auf einer differenzierteren Betrachtungsebene auch in Bezug auf das „Menschen- bzw. Arbeitslosenbild“ der FallmanagerInnen, welches sich aus den empirischen Materialien ergibt und sich hinsichtlich ihres Umgangs mit den LeistungsempfängerInnen dokumentiert. Es lässt sich bei allen thematischen Bereichen die bereits diskutierte entwicklungsorientierte, moralorientierte und gesetzesorientierte Perspektive rekonstruieren; so auch in der Verhandlung der regionalspezifischen Bezugsprobleme:

Resümee Mit Inkrafttreten des SGB II am 1. Januar 2005 wurde eine Sozialstaatsreform umgesetzt, die Arbeitslosigkeit als Problem des einzelnen Arbeitslosen subjektiviert und vom Prinzip der Be­ tonung der Eigenverantwortung geleitet ist. So stellen nach dem SGB II Vermittlungshemmnisse der Arbeitslosen die Ursache für deren Arbeitslosigkeit dar, die es im Prozess des Fallmanagements zu beseitigen gilt. Durch Fördern und Fordern sollen Arbeitslose von FallmanagerInnen angehalten werden, ihre Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen zu reduzieren bzw. zu überwinden. Dieser Beitrag ist der Frage nachgegangen, welche Perspektive FallmanagerIn-

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nen, die in Jobcentern im ländlichen Raum tätig sind, auf diese Aufgabe und ihre Arbeit mit Arbeitslosen einnehmen. Die empirische Basis bilden thematische Interviews, die mit FallmanagerInnen geführt und mittels der dokumentarischen Methode ausgewertet worden sind. Als zentrales Ergebnis der Interpretation wird herausgearbeitet, dass die Unterscheidung zwischen bemühten arbeitswilligen und unwilligen Arbeitslosen die Leitdifferenz im Orientierungsrahmen der Interviewten darstellt. Sie teilen damit eine Orientierung, die klassisch für den Umgang mit Armen ist (vgl. Maeder et. al. 2004, S. 11). Entlang des Kriteriums „Arbeitswille“ konstruieren die FallmanagerInnen Milieus, in die sie die Arbeitslosen einordnen und zu einem „Fall“ machen. Häufig geht diese Kategorisierung auch mit Stigmatisierung einher, zum Beispiel wenn ein Arbeitsloser als „milieugeschädigt“ (Herr Prager) bezeichnet wird. Durch die Kategorisierungen machen die FallmanagerInnen den Fall bearbeitbar, denn wie das Fallmanagement gestaltet wird, hängt davon ab, in welche Kategorie ein Arbeitsloser eingeordnet wird. Das konstruierte Milieu der Unwilligen, die „es sich mit Hartz IV eingerichtet“ haben, bildet den negativen Gegenhorizont in den Orientierungsrahmen der FallmanagerInnen. Sie werden als „Sozialschmarotzer“, stigmatisiert und der weitere Umgang mit ihnen orientiert sich an diesem Stigma. Jürgen Hohmeier (1975) spricht von einer ­„Orientierungsfunktion“ des Stigmas: „Ist eine Person […] umdefiniert, so orientieren sich alle Interaktionen mit ihr mehr oder weniger weitgehend an dem Stigma“, und weiter heißt es: „Stigmata strukturieren damit Situationen im Voraus […] und stellen eine Entscheidungshilfe dar“ (ebd.).

Das Stigma „Sozialschmarotzer“ setzt einen repressiven Umgang mit dem Stigmatisierten in Gang. Weiterhin lässt sich herausarbeiten, dass sich die FallmanagerInnen als aktiv Handelnde inszenieren, während sie die Arbeitslosen, die sie nicht der Gruppe derjenigen zuordnen, die kompetent sind und sich ohne Hilfe des Fallmanagers bzw. der Fallmanagerin in den Arbeitsmarkt integrieren, in einer passiven Rolle sehen. Sie fordern von ihnen, aus dieser passiven Position heraus aktiv zu werden und im Fallmanagement mitzuarbeiten. Paradoxerweise beschränken die FallmanagerInnen die geforderte Eigeninitiative, indem sie Entscheidungen für die Arbeitslosen treffen. Im Orientierungsrahmen der FallmanagerInnen bilden die LeistungsempfängerInnen, die die ihnen zugeschriebene passive Rolle als Hilfebedürftige annehmen, sich kooperativ zeigen und die von den FallmanagerInnen gewünschten Aktivitäten zeigen, den positiven Gegenhorizont. Die Untersuchung macht deutlich, dass die FallmanagerInnen eben genau mit den Orientierungen des SGB II konform gehen, die den Arbeits­ losen die Verantwortung für ihre Hilfebedürftigkeit zuschreiben und entlang der Bereitschaft der LeistungsempfängerInnen, Beschäftigungsangebote anzunehmen, in „Arbeitswillige“ und „Arbeitsunwillige“ differenziert. Die FallmanagerInnen beziehen sich implizit auf die (sich im SGB II widerspiegelnde) sozialstaatliche Missbrauchsdebatte über „Faulenzer“, „Scheinarbeitslose“ und „Sozialschmarotzer“ (vgl. Aust et al. 2007, S. 46) und orientieren sich in ihrer

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Arbeit an dieser, indem sie über ihr professionelles Handeln Arbeitslose auf ihre Arbeitsbereitschaft prüfen und ggf. sanktionieren. Sie halten an der Vision einer erwerbszentrierten Biografie für alle fest und machen sich diese zum moralischen Imperativ, obwohl sie wissen, dass es nicht genügend Arbeitsplätze in den strukturschwachen Regionen gibt. Da sie in ihrem beruflichen Alltag immer wieder auf die strukturellen Bedingungen von Arbeitslosigkeit treffen, verstricken sie sich in unauflösbare Widersprüche. Sie gehen (unterschiedlich deutlich) in Distanz zum SGB II und nähern sich ihm wieder an, indem sie strukturelle Ursachen von Arbeitslosigkeit zu Vermittlungshemmnissen ihrer Klienten umdeuten oder Paradoxien ausblenden. Diese Dilemmata kommen insbesondere in den Passagen zum Ausdruck, in denen die FallmanagerInnen über regionaltypische Probleme sprechen. In Anbetracht der Tatsache, dass es in den strukturschwachen norddeutschen Regionen und auch in den angrenzenden Bundesländern, wie die Fallmanagerin Frau Heinrich erzählt, keine Arbeitsstellen gibt, wird zum Beispiel der Unwille, aus (Nord-)Deutschland wegzuziehen zu einem individuell zuschreibbaren Vermittlungshemmnis aufseiten der Arbeitslosen. Zudem wird deutlich, dass auf Basis der homologen Deutungsmuster verschiedene Fallmanagementtypen rekonstruiert werden können und verschiedene Orientierungsrahmen sichtbar werden, die in sich eine hohe strukturelle, orientierungs- und handlungswirksame Konsistenz haben. So zeigt sich, dass eine Fallmanagerin eine entwicklungsorientierte Sichtweise auf ihre Arbeit entfaltet, während sich zwei Fallmanagerinnen an moralischen Bewertungen orientieren, und beim vierten Fallmanager zum Ausdruck kommt, dass in seinem Orientierungsrahmen die Orientierung an gesetzlichen Vorgaben von höchster Relevanz ist.129 Letztlich muss am Ende der bisherigen empirischen und theoretischen Arbeiten konstatiert werden, dass sich die FallmanagerInnen nicht an den noch nicht etablierten professionellen Standards orientieren (vgl. Reis 2007, S. 187). Vielmehr bestehen bei der Umsetzung des SGB II große Handlungsspielräume, die die FallmanagerInnen auf Basis persönlicher Einstellungen jenseits der Professionalisierungsdebatten bei den „Modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ gestalten.

Literatur: Aust, Judith; Müller-Schoell, Till: „Vom Missbrauch einer Debatte“, in: Hartz IV- Zwischen­ 129 Interessant ist an dieser Stelle, dass Maeder und Nadai in einer rekonstruktiven Untersuchung zur Sozialhilfe in der Schweiz ähnliche Typen ausdifferenzieren. Sie unterscheiden zwischen einer armutsverwaltenden Sozialhilfe, die dem hier rekonstruierten gesetzesorientierten Typus ähnlich ist, einer teilprofessionalisierten, die Gemeinsamkeiten mit dem entwicklungsorientierten Typ aufweist, und einer paternalistischen Sozialhilfe, die der Perspektive der moralorientierten fürsorglich-autoritären Fallmanagerinnen entspricht (vgl. Maeder et.al. 2004, S. 153 f.).

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bilanz und Perspektiven, hg. v. Clarissa Rudolph; Renate Niekant, Münster: Westfälisches Dampfboot 2007, S. 46–65. Bohnsack, Ralf; Nentwig-Gesemann, Iris; Nohl, Arnd-Michael (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Opladen: Verlag für Sozialwissenschaft 2001. Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen: Barbara Budrich Verlag 2003. Bourdieu, Pierre; Passeron, Jean-Claude: Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. Flick, Uwe; Kardorff, Ernst von; Steinke, Ines: „Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick“, in: Qualitative Forschung. Ein Handbuch, hg. v. Uwe Flick; Ernst von Kardorff; Ines Steinke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2008, S. 13–29. Goffman, Erving: Asyle – Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insas­ sen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. Göckler, Rainer (Hg.): Fachkonzept „Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement im SGB II“, Handlungsempfehlung 4/2005, Bundesagentur für Arbeit 2005. Hohmeier, Jürgen: „Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß“, in: Stigmatisierung. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, hg. v. Manfred Brusten; Jürgen Hohmeier, Darmstadt: Luchterhand 1975, zugänglich über BIDOK, ohne Seitenangabe. Hartz, Peter et al.: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt: Vorschläge der Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Broschüre Nr. A 306 Berlin 2002. Legnaro, Aldo (2006): „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ – Zur politischen Ratio der Hartz-Gesetze, Leviathan (34)4. S. 514–532. Marotzki, Winfried: „Thematisches Interview“, in: Hauptbegriffe Qualitativer Forschung hg. v. Ralf Bohnsack; Winfried Marotzki; Michael Meuser, Opladen: Barbara Budrich Verlag 2003, S. 153–154. Maeder, Christoph; Nadai, Eva: Organisierte Armut. Sozialhilfe aus wissenssoziologischer Sicht, Konstanz: UVK 2004. Reis, Claus: „Fallmanagement – ein Mythos? Erfahrungen im Case Management in unterschiedlichen Feldern kommunaler Sozialpolitik“; in: Hartz IV – Zwischenbilanz und Perspektiven, hg. v. Renate Niekant; Clarissa Rudolph; Clarissa, Münster: Westfälisches Dampfboot 2007, S. 178–192. Sozialgesetzbuch Zweites Buch Grundsicherung für Arbeitsuchende, www.sozialgesetzbuch. de/gesetze/02, letzter Zugriff: 10.09.2009.

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ­Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs Thomas Elkeles, Michael Popp, Enrica Hinz, Christof Röttger, unter Mitarbeit von Maik Paulitschke Zusammenfassung: Im Rahmen des an der Hochschule Neubrandenburg durchgeführten DFG-Projekts „Gesundheit und alltägliche Lebensführung in nordostdeutschen Landgemeinden“ („Landgesundheitsstudie“, LGS) wird in einer Längsschnittperspektive untersucht, wie die Bewohner mit den Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen (Veränderung bei landwirtschaftlicher Produktion, Ost-West-Transformation, Peripherisierung) in ihrer Lebensführung und in ihrem gesundheitsbezogenen Alltagshandeln umgehen. In der LGS werden Gesundheit und Gesundheitshandeln per Vollerhebung der erwachsenen Wohnbevölkerung in 14 repräsentativ ausgewählten ländlichen Untersuchungsorten Nordostdeutschlands unter anderem durch eine Fragebogenerhebung analysiert. Diese erfolgte in drei Wellen 1973 (N = 3.510), 1994 (N = 2.285) und 2008 (N = 1.246). Mittels eines einkommensklassenbasierten Schätzverfahrens zum bedarfsgewichteten Äquivalenzeinkommen wurden für die letzten beiden Wellen die Armutsrisikoquoten (nach der EU-Definition als unterhalb des 60 %-Medians) sowie soziale und gesundheitliche Korrelate berechnet. Bei z. T. deutlicher Variation zwischen den einzelnen Orten ergab sich für 1994 insgesamt eine Armutsrisikoquote von 19,4 %, für 2008 von 18,4 %. Neben den niedrigsten Schulabschlüssen und beruflichen Positionen waren jeweils auch mittlere Abschlüsse und Positionen überproportional mit Einkommensarmut verknüpft. Nach diesen Befunden ist es nicht das viel zitierte ‚abgehängte Prekariat‘, die Alten oder – allein – die Großfamilien, sondern es sind vielmehr – neben den Erwerbslosen – die gesellschaftlichen ‚Kerngruppen‘, also Berufstätige, die eine bedeutende Gruppe unter den ‚Armen‘ stellen. Uns selbst überraschte, dass sich bei Gesundheitszustand und der Gesundheitszufriedenheit weniger starke und eindeutige Differenzen zeigten, als wir erwartet hatten. Deutliche Differenzen zwischen ‚Armen‘ und ‚Nicht Armen‘ sowie zwischen unterem und oberem Einkommensquintil zeigten sich in der allgemeinen Lebenszufriedenheit und anderen Lebensbereichen, am stärksten bei der Zufriedenheit mit der Arbeitssituation und mit der finanziellen Lage. Der Beitrag reflektiert abschließend Limitierungen und weiter gehenden Forschungsbedarf, insbesondere zu Fragen der Wirkung des regionalen Kontextes auf die Art und Weise, wie Akteure

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die Strukturmerkmale ihrer Lebenswelten interpretieren und sie als Ressourcen zum Umgang mit Armut oder von Gesundheitshandeln nutzen können oder dies als Restriktionen bei der Realisierung einer „gesunden Lebensführung“ erfahren. Schlüsselwörter: Armut, gesundheitliche Ungleichheit, Lebensführung, ländlicher Raum

1 Einleitung Das Bild über den Nordosten Deutschlands war in den letzten Jahren vielfach durch Typisierungen von Politikern, Raumplanern, Arbeitsmarktexperten und Demografen oder auch von Feuilletonisten geprägt, deren Vokabeln, öffentliche Beschreibungsformeln und Metaphern diesen ländlichen Räumen einen nahezu unaufhaltsamen Rückfall in die bedeutungs- und chancenlose Peripherie zuweisen. Dabei ist die Rede von Stillstand, Stagnation, Schrumpfung, Abwanderung und Demografisierung.130 Als erste Reaktion darauf findet vor dem Hintergrund der Entwicklung in Ostdeutschland, aber auch in anderen peripheren Regionen der Bundesrepublik ein Streit um das Konzept der gleichwertigen Lebensverhältnisse statt: Die sich verstärkende Ungleichheit in der Raumentwicklung wird nicht nur – so weit besteht Konsens – konstatiert, sondern von einigen Diskutanten auch akzeptiert. In einem aktuellen Beitrag geht z.B. Klaus Brake von der Auflösung des traditionellen Zusammenhangs von ortsgebundener Wirtschaft und geringer Mobilität aus und schlussfolgert, dass das Versprechen angemessener Lebens- und Arbeitsverhältnisse für jeden, dort wo er lebt oder wo er geboren und aufgewachsen ist, aufgegeben werden sollte (Brake 2007131). Stattdessen will er raumpolitische Maßnahmen auf eine Förderung der Eigenverantwortung, der Mobilität und eine ‚Infrastruktur der Ertüchtigung‘ ausrichten. Unberücksichtigt bleiben dabei die bereits erbrachten alltäglichen Anpassungsleistungen der ‚betroffenen Akteure‘, seien es der Mobilen 130 Für demografisches Material zu Landgemeinden vgl. Fahrenkrug/Melzer (2006). Eine kritische Aufarbeitung des öffentlichen Diskurses findet sich z.B. bei Elkeles/ Popp (2005) und Beetz (2007). 131 In einem zusammenfassenden Artikel zu dieser Diskussion plädiert hingegen Eva Barlösius dafür, das bundesstaatliche Rechtsgut gleichwertiger Lebensverhältnisse zwar neu zu definieren, aber die dahinter stehenden gesellschaftspolitischen Ziele wie Bildungspartizipation oder eine optimale Gesundheitsversorgung nicht aufzugeben (Barlösius 2006). Allerdings seien unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungen als gleichberechtigt anzuerkennen, Gleichwertigkeit jenseits von Gleichheit zu denken und Infrastrukturen und Einrichtungen der Daseinsvorsorge daher neu zu konzipieren (Barlösius 2009; zur Frage der Entwicklung „angemessener“ Daseinsvorsorge angesichts eines Paradigmenwechsels von Gleichheit zu Gleichwertigkeit bei territorialer Gerechtigkeit vgl. Neu [2009]).

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oder der ‚Zurückgebliebenen‘, die mit den bestehenden Ressourcen als auch den Mangelerfahrungen von fehlenden Arbeitsplätzen, aber auch zerrissenen familialen und sozialen Netzwerken bereits seit der Wende umgehen mussten. Die Sozialwissenschaften beginnen deshalb in den letzten Jahren öffentlichkeitswirksame Be- oder Zuschreibungen theoretisch als auch empirisch zu hinterfragen. Als Zwischenstand dieser neuen ‚Aufmerksamkeit‘ der Sozialwissenschaften lässt sich empirisch ein Konsens über die sich verfestigende Auseinanderentwicklung in der Raumstruktur der Bundesrepublik und theoretisch eine neue Prominenz des Konzeptes der territorialen Ungleichheit festhalten. Noch stehen aber sozialtheoretische Diskussionen, empirische Analysen und raumpolitische Diskurse relativ unverbunden nebeneinander (vgl. dazu auch Stephan Beetz in diesem Band). Begrifflich nimmt dabei das Konzept der territorialen Ungleichheit seinen Ausgangspunkt in der einfachen Beobachtung, dass Regionen zwar je nach ihrer Verortung auf der Achse Zentrum–Peripherie wesentliche Ressourcen für das Handeln der Einwohner bereithalten oder eben restriktiv auf die Alltagsorganisation einwirken, gleichzeitig aber die Akteure eigensinnig und damit nicht per se resignativ oder ‚flüchtend‘ auf den Wandel reagieren. Kurz: „Wie sich die Menschen aber letztendlich verhalten, muss immer empirisch überprüft werden“ (Neu 2006, S. 14). Damit wiederholen sich bei dieser ‚neu entdeckten‘ Ungleichheitsdimension viele der alten Debatten um die Ablösung von Schicht- und Klassenmodellen durch sog. Milieu- oder Lebensstilkonzepte: Strukturtheoretische Aspekte werden abgelöst durch handlungstheoretische Aspekte, objektive Ungleichheitsdimensionen werden abgelöst durch subjektive Dimensionen sozialer Ungleichheit und eine theoretische Erfassung von ‚betroffenen‘ sozialen Gruppen wird – wenn auch zögerlich – abgelöst durch eine empirische Ermittlung, um der Vielfalt regionaler Entwicklungen gerecht werden zu können und vorschnelle Schlussfolgerungen zu vermeiden. Vor pauschalen Diagnosen oder Thesen, z. B. zur drohenden oder gar bereits eingetretenen Infrastruktur-Unterversorgung oder einer verordneten Mobilität sowie einer eigenverantwortlichen ‚Ertüchtigung‘ (Brake), sollten deshalb stets situationsadäquate Urteilsmaßstabswie auch Versorgungsalternativen (vgl. Elkeles 2007) und empirische Analysen zu den bereits ausdifferenzierten Handlungsstrategien der Akteure stehen. Um zu erfassen, was die Akteure selbst unter gleichwertigen oder angemessenen Lebens- und Arbeitsbedingungen verstehen, ist es notwendig, die Ebene objektiver Indikatoren wie demografische und sozialstrukturelle Daten zur Bevölkerungsdichte, den Binnenwanderungen oder zur Altersstruktur um subjektive Daten zu Erwartungen und Handlungsweisen, also zur alltäglichen Lebensführung, zu vertiefen. Hilary Tovey liefert im Zusammenhang mit ländlicher Armut dazu eine wichtige Begründung:

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„Dies erklärt den Umstand, daß, wie Studien zu ländlicher Armut in Großbritannien ergaben, einige ländliche soziale Gruppen, die nach Maßgabe objektiver Indikatoren als arm gelten, sich selbst gar nicht als arm beschreiben oder ihre Armut nicht als inakzeptables Problem betrachten.“ (Tovey 2001, S. 5)

An der Hochschule Neubrandenburg wird deshalb mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft132 ein Projekt durchgeführt, das sich unterschiedlichen Dimensionen der alltäglichen Lebensführung und dabei insbesondere dem Gesundheitshandeln von Landbewohnern in 14 Gemeinden Nordostdeutschlands zuwendet. Gesundheitshandeln in einem erweiterten Sinne erfasst neben Risikoverhaltensweisen wie Nikotin- und Alkoholkonsum, dem Umgang mit Krankheiten oder Arztbesuchen auch Ernährungsgewohnheiten, den Umgang mit Stress und subjektives Wohlbefinden im Allgemeinen. Da der Fokus ‚Gesundheitshandeln‘ ein solch breites Set an alltäglichen Verhaltensweisen umfasst, die in ein Gesamtarrangement mit anderen Lebensbereichen wie Familie, Freizeit und Beruf zu bringen sind, bietet er sich besonders an zur Erforschung von Anpassungsleistungen oder auch Deprivationserfahrungen der Menschen in peripheren Regionen und ist – so unsere These – von großer Bedeutung für deren Lebenszufriedenheit. Das Projekt ist angelegt als Follow-up-Studie zu einer Serie von ländlichen Gemeindestudien. Die erste Erhebung fand unter dem Titel Gesundheit 1973 in 14 Landgemeinden des damaligen DDR-Bezirks Neubrandenburg als Vollerhebung aller dort wohnhaften Personen ab 18 Jahren statt (N = 3.510, vgl. Koppisch 1979). Im Jahr 1994 konnte in den gleichen Gemeinden eine (so verstandene) Follow-upStudie realisiert werden (Koppisch et al. 1996). Zur Vorbereitung der geplanten 3. Welle fand 2004/2005 ein Pre-Test in einer der Auswahlgemeinden statt (Popp/Elkeles/Kreher 2005). Dabei handelte es sich um die bei Anklam in Vorpommern gelegene Gemeinde Bargischow. Die Felduntersuchung der 3. Welle fand im Jahr 2008 statt. Die für unseren Beitrag relevanten theoretischen Ausgangspunkte und die methodische Umsetzung werden im folgenden Abschnitt 2 behandelt. Daran schließen sich eigene Auswertungen an, deren methodische Basis im Abschnitt 3 dargelegt wird. Speziell für diesen Beitrag wurden erste statistische Auswertungen zu den Stichprobengemeinden133 angefertigt, beschränkt auf drei Punkte: soziale Lage (Abschnitt 4.1), Armut (Abschnitt 4.2) sowie Armut und Gesundheit, beschränkt auf Gesundheitszustand, Gesundheitszufriedenheit sowie allgemeine Lebenszufriedenheit (Abschnitt 4.3). Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der bisherigen Ergebnisse und einem Ausblick (Abschnitt 5). 132 Das Projekt „Gesundheit und alltägliche Lebensführung in nordostdeutschen Landgemeinden“ (EL 493/2-1) wurde mit einer zweijährigen Laufzeit von 2008 bis 2010 gefördert. Zu ersten Ergebnissen vgl. Niemz et al. (2009), Beetz/Elkeles (2010), Elkeles et al. (2010), Beck/Elkeles (2010). 133 Zur Einzelgemeinde Bargischow (Pre-Test 2004/2005) vgl. ferner auch eine familiensoziologische Auswertung (Elkeles/Kreher 2006).

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2 Gesundheit, soziale Lage und Region 2.1 Theoretische Grundlagen: Soziale und regionale Unterschiede von Gesundheitshandeln Ein Ausgangspunkt des Neubrandenburger Projektes und damit auch sein Zusammenhang zum vorliegenden Sammelband war die Frage nach einem tragfähigen theoretischen Konzept, das es erlaubt, die vorrangig gesundheitssoziologische Fragestellung mit einer regionalen Perspektive zu verbinden. Die Datenlage und damit die Beschreibungen zum Verhältnis von sozialer Lage und Gesundheit sind in der Forschungsliteratur mittlerweile gefestigt. Zum sozialen Gradienten zwischen der sozialen Lage und dem Gesundheitszustand (Personen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status weisen deutlich häufiger einen beeinträchtigten Gesundheitszustand sowie eine geringere Lebenserwartung auf als Personen mit höherem sozioökonomischen Status) gibt es international und auch für Deutschland eine recht konsistente Befundlage (Helmert et al. 2000, Mielck 1993, 2001, 2005, Lampert et al. 2005). So haben Männer aus dem untersten Viertel der Einkommensskala eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung als Männer aus dem obersten Viertel (72 gegenüber 82 Jahren); für Frauen beträgt der entsprechende Unterschied fünf Jahre (81 gegenüber 86 Jahren; SVR 2005, S. 17; vgl. Lampert/Kroll 2006). Im europäischen Vergleich wiederholt sich der empirische Befund, allerdings gibt es auch große regionale Unterschiede im Ausmaß der Lebenserwartung, die stark mit der jeweiligen Einkommensungleichheit und damit zuletzt auch mit den sogenannten Wohlfahrtsregimen (sozialdemokratisch, liberal, konservativ) korrespondiert (Lampert et al. 2007, S. 12 f ). Verallgemeinert wurde dies zu dem auch für unsere Fragestellung interessanten Befund, dass nicht die reichsten Staaten die gesündere Bevölkerung haben, sondern jene mit der geringsten Einkommensdifferenz.134 Einschränkend sei aber auch erwähnt, dass die Befundlage jenseits von Mortalitätsdaten erstens nicht so gut und zweitens nicht stets bei allen Indikatoren derart eindeutig ist. Zu den Wirkungsmechanismen werden, wie bei Arbeitslosigkeit und Gesundheit (vgl. Elkeles 2008a), sowohl gesundheitliche Beeinträchtigungen gerechnet, die materielle und immaterielle Unterversorgung zur Folge haben, wie auch, dass psychosoziale Beanspruchungen in belastenden Lebenssituationen das Gesundheitsrisiko erhöhen. Hinzu kommt, dass die

134 Ursprünglich stammt diese These von Wilkinson (2001). Sie wurde mittlerweile in internationalen Studien mehrfach bestätigt. Vgl. dazu als Überblick die Literaturstudie: Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit 2007a, S. 22. Die dazugehörigen Daten zu regionalen Gesundheitsunterschieden in Bayern sind publiziert in Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (2007b).

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Fähigkeiten, belastende Einflüsse zu bewältigen, von den gesundheitlichen und sozioökonomischen Ressourcen (Familie, soziales Netzwerk, Einkommen) beeinflusst werden. „Unzureichende entlastende Bedingungen begünstigen gesundheitliche Beeinträchtigungen“ (Voges et al. 2005, S. 171). Allerdings ist die gesundheitssoziologische Diskussion noch weit davon entfernt, „eine eindeutige Erklärung für den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit liefern zu können“ (Richter/Hurrelmann 2007, S. 6). Beeinflusst demnach der Gesundheitszustand den beruflichen Status und/oder das Einkommen oder gilt der umgekehrte Zusammenhang?: Macht also nicht Krankheit arm, sondern Armut krank und ist dies dann auf mangelnde materielle Ressourcen wie Wohnraum oder Einkommen oder eine kulturelle Affinität von niedrigem Sozialstatus und Risikoverhaltensweisen wie Rauchen, Fehlernährung oder Bewegungsmangel zurückzuführen (Kausations- vs. Selektionshypothese)? Neue territoriale Ungleichheiten oder sog. Ortseffekte werden in diesen Modellen meist überhaupt nicht thematisiert, sondern häufig auf Fragen nach der ökologischen Wohn­situation, der gesundheitlichen Versorgung und der Erreichbarkeit von Gesundheitsinfrastrukturen reduziert. Das soziale Umfeld einer Region wird bisher kaum thematisiert. Andreas Mielck resümiert deshalb in einer aktuellen Literaturstudie für das bayrische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zum Thema ‚Erklärungsmodelle regionaler Gesundheits­ unterschiede‘: „Bezogen auf Deutschland muss gesagt werden: Fragen wie diese sind in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion kaum zu hören, und entsprechend liegen dazu bisher auch nur wenige wissenschaftlich fundierte Antworten vor.“ (Bayerisches Landesamt 2007a, S. 8)

Im Anschluss an Elkeles und Mielck (1993 und 1997) haben Sperlich und Mielck Prämissen für ein Mehrebenenmodell zur Integration neuer und alter sozialer Ungleichheiten eingefordert, die es erlauben, das Spannungsverhältnis der makrosozialen Ebene von objektiven Lebensbedingungen (z.B. der Sozial- und Regionalstruktur) mit der mikrosozialen Ebene der subjektiven Lebensweisen bzw. Mustern der Lebensführung aufzuhellen: ‚‚ „Die ‚alten‘ Ungleichheitsdimensionen (Bildung, berufliche Stellung, Einkommen) sind nach wie vor relevant. ‚‚ Die Dimensionen der ‚neuen horizontalen‘ Ungleichheiten sollen einbezogen werden. ‚‚ Die Handlungsrelevanz und Alltagsnähe der sozialen Ungleichheit soll berücksichtigt werden. ‚‚ Das Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Lebensweisen und sozialstrukturellen Dimensionen soll erfasst werden.“ (Sperlich/Mielck 2000, S. 34) Ziel des Neubrandenburger Projekts ist es, entlang dieser Prämissen den Zusammenhang von Gesundheitshandeln, alltäglicher Lebensführung und sozialräumlichen Kontexten genauer einzugrenzen und damit die Verflechtung von Gesundheitshandeln mit anderen Ansprüchen

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275

an die Organisation der alltäglichen Lebensführung ernst zu nehmen und in einem überschaubaren sozialräumlichen Setting (Landgemeinden) zu untersuchen. Ausgangspunkt der Gemeindestudie soll deshalb zunächst, weitgehend analog zu den beiden Voruntersuchungen, die Feststellung der Muster gesundheitsbezogener Handlungsweisen (Ernährungsgewohnheiten, Rauchen, alkoholische Getränke etc.), ihrer Stabilität oder aber Veränderung im Zeitverlauf sowie deren Abhängigkeit von sozialen Parametern sein. Wie bereits ausgeführt, sollen damit Anpassungsleistungen bzw. die Stabilisierung von Mustern des Gesundheits- und Alltagshandeln der Einwohner von ländlichen Regionen unter den Bedingungen raschen sozialen Wandels (Transformation) im Zeitverlauf beobachtet und analysiert werden. In Ergänzung zum vorigen fragebogenzentrierten Studiendesign, das neben sozialstrukturellen Variablen (Einkommen, Bildung) auch subjektive Verhaltensweisen wie das Ernährungsverhalten in der Familie erfasst, finden parallel zur dritten Befragungswelle auch Bürgermeisterinterviews und qualitative Erhebungen zum Zusammenhang von Gesundheitshandeln und alltäglicher Lebensführung im sozialräumlichen Milieu der ländlichen Regionen Nordostdeutschlands statt. Hierbei wird insgesamt von der Hypothese ausgegangen, dass Gesundheitshandeln sich nicht ausschließlich auf subjektive Wahlentscheidungen stützt, sondern kollektiven Verhaltens- bzw. Handlungsmustern (Gesundheitslebensstilen) folgt, die aber auf der Wahl zwischen Optionen basieren, über welche die Akteure je nach ihren Lebenschancen verfügen, und diese sind auch – so unsere Hypothese – durch ‚Ortseffekte‘ des sozialräumlichen Milieus bestimmt. 2.2 Armut auf dem Lande: Raumkonzept und ‚regionalsensible‘ Sozialforschung Wir verstehen das sozialräumliche Milieu ‚Land‘ „als einen Ort spezifischer Entwicklungsprozesse [...], die in urbanen Regionen nicht oder nicht in derselben Weise anzutreffen sind“ (Tovey 2001, S. 3). Ländliche und urbane Regionen sind demnach zwar gemeinsam von übergreifenden ökonomischen, demografischen und sozialen Veränderungsprozessen geprägt, diese­ bringen aber ortsgebunden unterschiedliche Ergebnisse hervor. Die Ergebnisse einer Studie zur Armut in peripheren Regionen Österreichs bestätigt diese Herangehensweise und kommt unter anderem zu dem Schluss, dass sich das Ausmaß wie auch die soziale Gestalt von Armut in peripheren und zentralen Regionen gleichen bzw. angeglichen haben (Wiesinger 2005). Auch in ländlichen Regionen sind es demnach wie in der Stadt vor allem Frauen, Kinder und Alte, die von Armut betroffen sind, und zudem bestanden historisch schon immer enge Verflechtungen zwischen den beiden idealtypischen Zonen Stadt und Land. Beispiele für diese Verflechtungen sind Phänomene der Landflucht, aber auch die Abhängigkeit ländlicher Ökonomien von der Konsumtion und Verteilung in den Zentren oder die Möglichkeit, ländlicher Armut durch die ‚Bewirtung‘ von Großstädtern zu entgehen. Was sich aber unterscheidet

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Thomas Elkeles et al.

und damit das Forschungsgebiet ländliche Armut erst legitimiert, sind die für von Armut betroffene soziale Gruppen zur Verfügung stehenden Ressourcen und damit die konkreten Wirkungen, Folgen und Ausprägungen. Kurz: Nicht die Entstehung und gruppenspezifische Betroffenheit von Armut an sich, sondern die Reproduktion von sozialen und auch gesundheitlichen Ungleichheiten im Lebenslauf und zwischen den Generationen – die sogenannte Armutsspirale – verläuft auf dem Lande anders.135 Anders als in der Stadt entscheidet nach Wiesinger (2005) das Vorhandensein oder die Erreichbarkeit von Infrastruktureinrichtungen der alltäglichen Daseinsvorsorge und mit qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen über den Umgang mit Armut, vor allem weil auch die Erreichbarkeiten überbrückende Ressource Mobilität entlang des Alters, des Geschlechts oder auch des Einkommens ungleich verteilt ist. Arme werden zudem in Dörfern anders sanktioniert und stigmatisiert, aber auch anders integriert. Es wird zwischen schuldigen und unschuldigen Armen unterschieden. Bei noch bestehenden sozialen Netzwerken oder partiellen Tausch- und Subsistenzwirtschaften werden diese Kategorien von Armen dann unterschiedlich aufgefangen. Zudem ist die Versorgung mit Wohnraum in ländlichen Regionen meist auf das Eigenheim konzentriert. Das vorhandene und abbezahlte Eigenheim bietet demnach zwar häufig Schutz, kann aber auch aufgrund langer Kredite langfristig monetäre Ressourcen binden und dann schnell zum Verursacher von Armut werden. 2.3 Methoden der Regionalisierung, Repräsentativitäts- und Plausibilitätsprüfung der ­Neubrandenburger Stichprobe Um die ausdifferenzierten regionalen Entwicklungen und damit die Ortseffekte in der empirischen Forschung sichtbar zu machen und den zunehmenden regionalen Ungleichheiten in der Bundesrepublik gerecht zu werden, hat sich in den letzten Jahren eine breite Methodendiskussion um die Regionalisierung von Umfragedaten entwickelt (vgl. als Übersicht den Sammelband Arbeitsgruppe Regionale Standards 2005). Unter Regionalisierung verstehen wir mit Hoffmeyer-Zlotnik (2005, S. 3): „die Strukturierung und/oder Untergliederung eines Untersuchungsraumes über eine Klassifizierung nach den topografischen, kulturellen, wirtschaftlichen, baulichen, planerischen, demografischen und/oder sozialen Merkmalen, die (hinsichtlich der Forschungsfrage) als Kontextmerkmale­einen Raum charakterisieren.“

135 Für eine Übersicht zu den sogenannten ‚Armutsspiralen‘ im Zusammenhang mit gesundheitlicher Ungleichheit vgl.: Richter/Hurrelmann (2007), S. 9 f.

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

277

Dazu werden Räume mit ähnlichen Strukturmerkmalen zu Regionen als Analyseeinheiten zusammengefasst. Neben groben Ost-West-Unterscheidungen haben sich dazu unterschiedliche Raumtypisierungen entlang der Achse Stadt–Land bewährt und werden zunehmend verfeinert. Wir greifen für unsere Zwecke auf die Typisierung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung zurück, die Regionen nach ihrer Einwohnerdichte und der Zentralität – operationalisiert als Erreichbarkeit von Städten mit Zentralfunktion – typisiert. Dahinter steht die These, dass bei Raumanalysen viele Indikatoren zur Raumentwicklung mit dem Parameter der Bevölkerungsdichte korrelieren. Obwohl häufig zu Recht darauf verwiesen wird, dass die Bevölkerungsdichte nicht zur Abgrenzung ländlicher Räume ausreicht und ländliche Räume schon lange keine homogenen Räume mit einheitlichen Problemlagen mehr sind, gilt nach dem aktuellen Raumordnungsbericht weiterhin: „Das traditionelle Erscheinungsbild des ländlichen Raumes als agrarabhängiges Gebiet mit Tendenzen zur Unterbeschäftigung und zur Bevölkerungsabwanderung trifft die heutige Realität somit nicht mehr und ist allenfalls in sehr abgelegenen und strukturschwachen ländlichen Gebieten anzutreffen.“ (Raumordnungsbericht 2005, S. 241) Methodisch versucht das Neubrandenburger Projekt Ortseffekte über die Verknüpfung von drei Sorten von Daten sichtbar zu machen: ‚‚ Die Sammlung und Aufbereitung regionalsensibler und gemeindetiefer Kontextdaten (amtliche Statistik, Arbeitsmarktdaten) (vgl. Beetz 2009), ‚‚ die dritte Welle des standardisierten Survey und ‚‚ die qualitativen Interviews mit den Bürgermeistern sowie die Leitfadeninterviews mit den Einwohnern. Beibehalten und bezüglich der Repräsentativität geprüft wurde dabei das ursprüngliche Auswahl- bzw. Stichprobenverfahren, das zu einer Vollerhebung der erwachsenen Bevölkerung von 14 Landgemeinden mithilfe des standardisierten Fragebogens führt. Die Vorab-Prüfung ergab auch für das Jahr 2004 weiterhin eine starke Übereinstimmung der soziodemografischen Randverteilungen zwischen Grundgesamtheit und Stichprobe (Popp/Elkeles/Kreher 2005). Die so begründbare Beibehaltung der 14 Landgemeinden ermöglicht deshalb auch einen Längsschnittvergleich mit den beiden archivierten Datensätzen von 1973 und 1994, zunächst auf der Ebene der Gemeinden, tendenziell auch eine Panelisierung, d.h. die Erzeugung von Verlaufsdaten für Befragte, die an mehreren Wellen teilgenommen haben. Die Stichprobe erlaubt darüber hinaus eine Generalisierung der Ergebnisse für alle Einwohner der ländlichen Regionen Nordostdeutschlands: Die Grundgesamtheit kann räumlich auf den Siedlungsstrukturellen Regionstyp 3 ‚Ländliche Räume‘ der Bundesanstalt für Bauwesen und Raumordnung in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern eingegrenzt werden. Dieser umfasst alle Raumordnungsregionen ‚‚ mit einer Dichte unter 150 Einwohner/qkm,

278

Thomas Elkeles et al.

‚‚ ohne ein Oberzentrum mit mehr als 100 000 Einwohnern und ‚‚ mit Oberzentrum mit mehr als 100 000 Einwohnern, aber einer Dichte unter 100 Einwohner/qkm. Die Grundgesamtheit umfasst damit alle Einwohner über 18 Jahren in MecklenburgVorpommern ohne die Gemeinden der Landkreise Güstrow und Bad Doberan (Gemeindeschlüssel 13053 und 13051) und ohne Rostock (13003000) sowie in Brandenburg alle Gemeinden aus den Landkreisen Ostprignitz-Ruppin (12068), Prignitz (12070) und Uckermark (12073). Dies entspricht ca. 40 % der Gesamtbevölkerung der beiden Bundesländer. Insgesamt leben in den Neuen Ländern 19,9 % der Bevölkerung in ländlichen Räumen (Alte Länder: 11,2 %, Stand 2001 nach INKAR 2003). Die amtlichen Daten ermöglichen eine Erfassung des sozialstrukturellen Wandels in den entsprechenden Regionen, bezogen z. B. auf die soziodemografische Struktur, aber auch die Berufs- und Schichtstruktur der Regionen. Die Verwendung von identischen Fragen aus bundesweiten Surveys wie dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) und der DHP (Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie) ermöglichen z. B. im Prinzip Stadt-Land-Vergleiche. Die amtlichen Gemeindedaten werden vertieft durch Experteninterviews mit lokalen Entscheidungsträgern (Bürgermeister, Landräten, niedergelassenen Ärzten) und umfassende Milieubeschreibungen von einzelnen Gemeinden aus der Stichprobe, die es erlauben, die wirtschaftlichen und sozialen Infrastrukturen, die alltagsweltlichen Milieus und die Geschichte der Gemeinden genauer zu bestimmen und die Gemeinden so zu typisieren (vgl. Beetz 2009).

3 Daten und Methoden Für diesen Beitrag wurden die Daten der 2. Welle (1994, N = 2.285, Ausschöpfungsquote: 68 %) sowie die zwischenzeitlich neu erfassten Daten der 3. Welle (2008, N = 1.118 aus 13 Gemeinden ohne die Pre-Test-Gemeinde, Ausschöpfungsquote: 37 %) der „Landgesundheitsstudie“ (LGS) für Auswertungen zum Thema Armut und Gesundheit in Landgemeinden herangezogen. Aufgrund von uns kontrollierter Abweichungen zwischen den Verteilungen für Alter und Geschlecht zwischen Nettoerhebung und dem Soll-Brutto (nach Angaben der Einwohnermeldeämter; hier bleibt allerdings eine Restunsicherheit, inwieweit die amtlichen Informationen und Angaben den tatsächlichen Wohnverhältnissen insbesondere jüngerer erwerbstätiger Pendler entsprechen) bildeten wir für die 3. Welle einen Gewichtungsfaktor zum Ausgleich dieser Abweichungen. Die Spannweite der berücksichtigten Gewichtungsfaktoren in der LGS 2008 beträgt bei Frauen 0,77 bis 0,97 sowie bei Männern 0,86 bis 1,62136. Die hier vorliegen136 Erst während der Erstellung des Abschlussberichtes wurde bemerkt, dass infolge eines Übertragungs-

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

279

den Auswertungen wurden mithilfe des Programms ‚Statistical Package for the Social Sciences‘ (SPSS 17) berechnet, und zwar für 2008 gewichtet. Die zusätzlichen Altersstandardisierungen wurden mit dem Programm Excel berechnet. Unter reinen Praktikabilitätsgesichtspunkten war zunächst eine Indikatorenwahl zu treffen, zumal die Daten nicht für Fragen der Armutsforschung generiert worden waren und sie eher Sekundärdatencharakter für unsere hiesige Fragestellung haben. Es ist uns wohl bewusst, dass die moderne Armutsforschung ein breiteres Konzept von Armut zu entwickeln und umzusetzen versucht, als es die ausschließliche Messung über das Einkommen ist (vgl. z.B. Sell 2002, Leßmann 2007, Becker 2007). Wenngleich das Einkommen eine Schlüsselrolle bei Armutserscheinungen spielt (vgl. Butterwegge 2009), wird heute zumeist ein Lebenslagenansatz präferiert. Damit sollen Armutserscheinungen mehrdimensional als kumulative Unterversorgung und verminderte soziokulturelle Teilhabe beschrieben werden. Allerdings ist es nicht so einfach zu bestimmen, welche Lebensbereiche hierbei einbezogen werden sollen und wie diese zu gewichten sind und wie bzw. wo eine Abgrenzung der Unterversorgungsarmut erfolgen soll. Daher sind solche Ansätze empirisch noch nicht ganz so verbreitet, wenngleich die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung bereits mit dem Lebens­ lagenansatz arbeitet (vgl. Voges et al. 2005, Elkeles 2008b). Da die vorhandenen Daten jedoch keinen anderen Zugang ermöglichen, konnten wir lediglich auf das von den Befragten zu den jeweiligen Befragungszeitpunkten angegebene Haushaltsnettoeinkommen zurückgreifen. Da die Einkommensangaben zudem nicht als absolute Beträge in DM/Euro, sondern in Einkommensklassen (meist pro 500 DM/Euro eine Klasse) erfasst worden waren, waren diese Angaben ohne zusätzliche Bearbeitungsverfahren nicht verwendbar. Wir entschlossen uns für die hier vorliegenden Auswertungen für diejenige Armutsdefinition, nach der ein Armutsrisiko vorliegt, wenn das Nettoeinkommen weniger als 60 % vom Median des bedarfsgewichteten Äquivalenzeinkommens beträgt. Nach dem Konzept des Äquivalenzeinkommens ist das verfügbare monatliche Haushaltseinkommen mittels einer Gewichtung, in die die Zahl und das Alter der Haushaltsmitglieder eingehen, an den Bedarf je nach Haushaltstyp anzupassen (vgl. Priller 1994, S. 451). In Anlehnung an ein früher bereits erprobtes Verfahren (Elkeles et al. 1998) entwickelten wir ein eigenes Zuordnungsverfahren, dessen Ergebnis zumindest eine Schätzung erlaubt. Hierzu waren zunächst die Anzahl von erwachsenen Personen und die Anzahl der unter fehlers die Gewichtungsfaktoren noch leicht zu korrigieren (gewesen) wären. Insbesondere die Angaben der unter 45-Jährigen müssten etwas stärker gewichtet werden als im Projekt geschehen. Die Verwendung der ‚korrigierten‘ Gewichtungsfaktoren würde i. d. R. zu geringfügigen Abweichungen von ca. 1 % führen.

280

Thomas Elkeles et al.

18-jährigen Personen im Haushalt zu ermitteln. Da die Höhe der Bedarfsgewichte für weitere Personen im Haushalt in der Literatur umstritten ist (vgl. Moll 2006), wählten wir (neben dem Wert 1 für den ersten Erwachsenen) für weitere erwachsene Personen den Faktor 0,5 und für Personen unter 18 Jahren eher vorsichtig den Faktor 0,3.137 Unsere Eigenkonstruktion des Fragebogens 2008 ermöglichte dann für 2008 die Anwendung der OECD-Skala: Faktor 1 für die befragte erwachsene Person („Haushaltsvorstand“), Faktor 0,5 für alle Haushaltsmitglieder über 14 Jahren und Faktor 0,3 für alle Haushaltsmitglieder unter 14 Jahren. In einem zweiten Schritt war zu schätzen, ob das bedarfsgewichtete Äquivalenzeinkommen je nach Haushaltsgröße unterhalb der 60 %-Armutsrisikogrenze oder darüber liegt. Ausgegangen wurde von dem für die Untersuchungswellen errechneten DM- bzw. Euro-Betrag des Äquivalenzeinkommens.138 Die Verteilung der Einkommen, geschätzt aus den Daten der Erhebungswellen, ergibt 1994 im Mittel ein Äquivalenzeinkommen von 1332,66 DM, dies entspricht 681,38 Euro, der Median beträgt 1315,8 DM bzw. 672,76 Euro. In der dritten Erhebungswelle ergibt sich ein Äquivalenzeinkommen von 999,34 Euro und ein Median von 881,02 Euro. Der 60 %-Median beträgt demnach 799,60 DM (1994) und 528,62 Euro (2008). Wurde z.B. 1994 für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern (Bedarfsäquivalente: 1,0+0,5+0,3+0,3=2,1) ein Einkommen in der Klasse von 1500 bis unter 2000 DM angegeben, ordneten wir diesen Haushalt in die Kategorie „oberhalb der 60 %-Armutsschwelle“ ein (1999 DM/2,1 = 951,90 DM). Mittels dieses Schätzverfahrens ermittelten wir 1994 323 Personen mit Einkommensarmut. 1 343 Personen ordnete dieses Schätzverfahren als nicht arm ein. In der dritten Untersuchungswelle waren nach dem Schätzverfahren 173 (gewichtet: 180 Personen) Personen von Einkommensarmut betroffen, gegenüber 802 Personen (gewichtet: 796 Personen), die als ‚Nicht-Arm‘ gelten. Aufgrund fehlender Angaben bei der Frage nach dem Haushaltseinkommen waren 1994 489 Personen (22,7 %) und 2008 143 Personen (gewichtet 142 Personen) (12,8 %) jedoch nicht zuordenbar. Wegen dieser auch nach Durchführung des Schätzverfahrens verbleibenden Unsicherheiten werden wir im Folgenden stets von ‚Armen‘ und ‚NichtArmen‘ sprechen. 137 Die Berücksichtigung je nach Alter der Kinder unterschiedlicher Bedarfsgewichte war hier für 1994 nicht möglich, da gemäß Fragebogen 1994 lediglich Angaben für Personen unter 18 Jahren vorlagen. Damit weicht das ermittelte Äquivalenzeinkommen für die Gruppe der 15- bis 17-jährigen Jugendlichen von der modifizierten OECD-Skala ab. Danach wird die Einkommensarmut leicht unterschätzt, da die 15- bis 17-Jährigen mit einem Gewicht von 0,3 gewertet werden und nicht mit 0,5 wie in der modifizierten OECD-Skala. 138 Andere Berechnungen des Äquivalenzeinkommens passen aus Vergleichsgründen die Kaufkraft des Einkommens in Ostdeutschland an Westdeutschland an. Habich/Krause (1997, S. 517) weisen für 1994 ein Äquivalenzeinkommen von 1376 DM aus, kaufkraftbereinigt von 1547 DM.

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

281

Da in der Analyse der Datensätze mit fehlenden Nettohaushaltseinkommen hinsichtlich zentraler soziodemografischer Merkmale wie Alter, Geschlecht und beruflicher Status eine etwa gleiche Verteilung wie in der Gruppe der ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘ zu beobachten ist, gehen wir davon aus, dass mit einer Armutsquote von 19,4 % (1994) und 18,4 % (2008) aus unseren Stichproben die tatsächliche Einkommenssituation adäquat abgebildet wird.139 140 Wo möglich, wird bei der Darstellung auf publizierte oder unpublizierte Referenzdaten Bezug genommen, bei Letzteren stützen wir uns auf eigene Auswertungen des Public Use Files der Deutschen Herz-Kreislaufpräventionsstudie (DHP) Ost, die auf repräsentativer Basis in Ostdeutschland 1991/92 durchgeführt wurde (N = 2.300) (vgl. Kap. 4.3).

4 Ergebnisse 4.1 Soziale Lagen in den Stichprobengemeinden In der Erhebung 1994 (N = 2.155) sind 54,5 % der Befragten weiblich und 45,5 % männlich. Damit lag der Frauenanteil im Untersuchungsjahr um etwa 3 % höher als in der amtlichen Statistik für Mecklenburg-Vorpommern insgesamt (vgl. Koppisch et al. 1996, S. 5). Die LGS-Studie 2008 mit 1.118 Fällen setzt sich, nach Ausgleich der Abweichungen zwischen Netto-Stichprobe und der Bevölkerungsstruktur in unseren Untersuchungsgemeinden (Stand Januar 2009) hinsichtlich Alter und Geschlecht, aus 49,8 % weiblichen und 50,2 % männlichen Probanden zusammen. In beiden Untersuchungswellen waren die Frauen (1994: Ø 48,7 Jahre; 2008: Ø 53,4 Jahre) erwartungsgemäß etwas älter als die Männer (1994: Ø 46,0 Jahre; 2008: Ø 50,0 Jahre), wobei das Durchschnittsalter 2008 bei beiden Geschlechtern um jeweils etwa vier Jahre gestiegen ist. 62,8 % der befragten Einwohner lebten 1994 mit ihrem Ehepartner zusammen (Männer: 66,5 %, Frauen: 59,8 %). Weitere 8,2 % leben als Ledige mit einem festen Partner zusammen.141 Bei etwas veränderter Erhebungsweise zeigt sich auch 2008, dass über die Hälfte der Befragten (58,4 %) mit dem Ehepartner zusammenleben. Von den Ledigen (22,6 %, n = 63) leben 22,2 % mit einem festen Partner zusammen, knapp 70 % von ihnen sind alleinlebend. 139 Unter Einbeziehung der Prozentuierung der fehlenden Einkommenswerte ergäbe sich 1994 eine Armutsquote von 15,0 %, 2008 von 12,1 %. 140 Das SOEP-Monitor schätzt den 60 %-Median des regionsspezifischen Monatseinkommens (Ostdeutschland) auf 559 Euro. Vgl: http://www.diw.de/documents/dokumentenarchiev/17/61953/soepmonitor_person2006-linked.pdf. 141 Geschlechtsdifferenzen bei den berichteten Häufigkeiten werden im Folgenden nur erwähnt, wenn sie (quantitativ) bedeutsam sind. Ebenso wird auf geringe Häufigkeiten einer Ausprägung des Familienstands sowie weiterer Variablen nur dann eingegangen, wenn dies erwähnenswert ist.

282

Thomas Elkeles et al.

Männer sind häufiger ledig und alleinlebend (1994: 17,8 %) als Frauen (1994: 9,1 %), während verwitwete Frauen (1994: 18,2 %; 2008: 14,7 %) deutlich häufiger anzutreffen sind als verwitwete Männer (1994: 3,9 %; 2008: 3,2 %). Die Haushaltsstruktur wurde von uns reanalysiert, indem die in zwei verschiedenen Variablen erfragte Information zur Personenanzahl einerseits, zu Personen unter 18 Jahren andererseits zusammengefügt wurde (Tab. 1, 2).142 Danach lebten 1994 38,7 % (2008: 26 %) der befragten Erwachsenen mit mindestens einem Kind bzw. einem Jugendlichen unter 18 Jahren im Haushalt, und zwar 15,9 % in Einkindfamilien (2008 : 15,2 %). 2008 ist der Anteil der Erwachsenen mit mindestens einem Kind bzw. einem Jugendlichen unter 18 Jahren im Haushalt mit 26 % um 10 % gesunken. Alleinerziehende sind in beiden Erhebungswellen mit ca. 2 % (1994: 2,2 %, 2008: 2,0 %) relativ selten anzutreffen. Während 1994 das vorherrschende Familienmodell noch die Zweikindfamilie mit zwei Erwachsenen (12,5 %) ist, gefolgt von der Einkindfamilie mit zwei Erwachsenen (8,6 %), verhält sich dies 2008 genau entgegengesetzt. Mit 8,3 % ist die Einkindfamilie das gängigste Familienmodell und nur noch 5,4 % aller Haushalte sind Zweikindfamilien. Neben dem hohen Anteil von Alleinstehenden (1994: 15,9 %, 2008: 14,3 %) und kinderlosen Zweipersonenhaushalten (1994: 31,5 %, 2008: 41,4 %) lebt etwa ein Viertel (1994: 23,5 %, 2008: 26,0 %) der befragten Bevölkerung im Haushaltsverbund mit mehr als zwei Erwachsenen, davon etwas unter 10 % (1994: 9,6 %, 2008: 7,7 %) mit mindestens einem Kind. Tabelle 1: Haushaltstruktur in den ländlichen Stichprobengemeinden Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs 1994 (Summen-%)1 Anzahl der Personen unter 18 Jahren Erwachsene

0

1

2

3

4

>=5

Gesamt

1

15,9

1,0

0,8

0,3

0,0

0,1

18,1

2

31,5

8,6

12,5

4,2

1,3

0,4

58,4

3

9,8

5,1

2,0

0,5

0,1

0,0

17,5 4,9

4

3,3

0,9

0,4

0,3

0,0

0,0

>=5

0,8

0,3

0,0

0,0

0,0

0,0

1,2

Gesamt

61,3

15,9

15,7

5,2

1,4

0,5

100,0

1

Werte in der Tabelle sind gerundet, daher können Abweichungen in den Spalten- und Zeilensummen auftreten. Datenbasis: Landgesundheitsstudie 1994 (N = 2.155) 142 Leichte Abweichungen zu den Angaben zu 1994 von Koppisch et al. (1996) ergeben sich durch unterschiedliche missings bei der Berücksichtigung im Haushalt lebender Kinder im Haushalt.

283

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

Tabelle 2: Haushaltstruktur in den ländlichen Stichprobengemeinden Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs 2008 (Summen-%)1 Anzahl der Personen unter 18 Jahren Erwachsene

0

1

2

3

4

>=5

Gesamt

1

14,3

1,3

0,5

0,1

0,1

0,0

16,3

2

41,4

8,3

5,4

2,1

0,0

0,5

57,8 19,1

3

14,0

3,7

0,9

0,0

0,5

0,0

4

1,9

1,3

0,5

0,2

0,0

0,0

3,8

>=5

2,4

0,6

0,0

0,0

0,0

0,0

3,0

Gesamt

74,0

15,2

7,3

2,4

0,6

0,5

100,0

1

Werte in der Tabelle sind gerundet, daher können Abweichungen in den Spalten- und Zeilensummen auftreten. Datenbasis: Landgesundheitsstudie 2008 (N = 1.118)

Insgesamt zeigt sich also zwischen 1994 und 2008 eine dem demografischen Trend entsprechende Veränderung der Haushaltszusammensetzungen bei gleichzeitiger Konstanz eines Anteils von einem Viertel von Haushalten mit mehr als zwei Erwachsenen, was Mehrgenerationen-Haushalten entsprechen könnte. Bei der Schulbildung stach 1994 als deutlich größte Gruppe diejenige mit weniger als zehn Klassen hervor (60,6 %). 10 Klassen (entspricht Mittlerer Reife) wiesen über ein Drittel auf (37,2 %), Abitur und Hochschulabschluss zusammen 14 %. Insgesamt gab es 1994 bei der Schulbildung nur geringe Unterschiede zu Lasten der Frauen (vgl. Koppisch et al. 1996, S. 6). Demgegenüber zeigt sich 2008 eine dem allgemeinen Trend (vgl. Koppisch 1979, S. 50 ff.; Becker 2009) folgende Höherqualifizierung bei schulischen und beruflichen Abschlüssen. Einerseits ist der Anteil jener mit einem Abschluss unter 10 Klassen (33,2 %) um knapp 30 % gesunken, anderseits ist der Anteil jener mit einer mittleren Reife (43,0 %) um 6 % und mit Abitur und Hochschulabschluss (33,0 %) um knappe 20 % gestiegen. Beruflich-betriebliche oder beruflich-schulische Ausbildungsabschlüsse bilden in beiden Untersuchungswellen mit über 50 % mit Abstand die größte Gruppe bei den beruflichen Ausbildungsabschlüssen (1994: Männer: 66,8 %; Frauen: 54,9 %; 2008: Männer: 61,4 %, Frauen: 68,2 %). Eine Meister- oder Technikerfachschule besuchen 2008 (9,9 %) doppelt so viele Befragte wie 1994 (4,0 %), hinzu kommen etwa 15 % mit einem (Fach-)Hochschulabschluss (1994: 14,9 %, 2008: 18,8 %). Während 1994 knapp 20 % keinen beruflichen Ausbildungsabschluss hatten, wovon Frauen (26,4 %) häufiger betroffen waren als Männer (11,8 %), ist dieser Anteil 2008 über die Hälfte gesunken (6,5  %).

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Thomas Elkeles et al.

Voll oder teilweise berufstätig sind etwa 35 % der Befragten (1994: 34,5 %; 2008: 39,5 %), wobei Männer hier stärker vertreten sind als Frauen (1994: Männer: 46,7 %; Frauen: 24,3 %; 2008: Männer: 44,6 %, Frauen: 34,6 %). In einer geringfügigen Beschäftigung bzw. beschäftigt in einer ABM oder Umschulung waren 1994 weitere 9,4 % (Männer: 8,2 %; Frauen: 10,3 %), 2008 gehen nur noch äußerst wenige derartigen Beschäftigungen nach (1,2 %). Die zweitgrößte Gruppe bilden die Altersrentner (1994: 25,3 %; 2008: 22,8 %), mit einem 10 % höheren Anteil an Frauen (1994: Männer: 20,6 %; Frauen: 29,3 %; 2008: Männer: 18,3 %, Frauen: 27,3 %). Zu ihnen stoßen etwa 5 % Frührentner aus gesundheitlichen Gründen (1994: 4,7 %; 2008: 5,4 %) und 5,1 % (1994) bzw. 2,5 % (2008) Vorruheständler, bei beiden sind Männer etwas stärker vertreten. Arbeitslos waren 15,0 % (1994) bzw. 17,2 % (2008), Frauen sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als Männer (1994: Männer: 9,5 %; Frauen: 19,7 %; 2008: Männer 15,4 %, Frauen: 19,0 %). Andere Gruppen sind nur sehr gering vertreten. Insgesamt sind Frauen damit deutlich weniger im Erwerbsleben vertreten.

4.2 Armut und ihre sozialen Korrelate in den Stichprobengemeinden Nach unserem Schätzverfahren ergab sich insgesamt für 1994 eine Armutsrisikoquote von 19,4 % und 2008 von 18,4 %.143 Differenziert für die einzelnen Gemeinden (Tab. 3) ergibt sich in beiden Untersuchungswellen eine deutliche Variationsbreite der geschätzten Einkommensarmut (1994: zwischen 9,6 % in Beenz/Prenzlau und 30 % in Beestland; 2008: zwischen 10,7 % in Bagemühl und 38,3 % in Beenz/Prenzlau). Die Armutsquote schwankt also in beiden Jahren zwischen einem Zehntel und einem Drittel. Diese Schwankungen dürften größtenteils durch die teilweise geringen Fallzahlen bedingt sein.

143 Diese Quote liegt damit etwa so hoch wie die anhand der Daten des sozioökonomischen Panels geschätzte und kaufkraftbereinigte Einkommensarmut für die Periode 1991–1994 von 22 % für Ostdeutschland insgesamt, allerdings berechnet nach dem gesamtdeutschen Einkommensdurchschnitt (Datenreport 2006, S. 615). Daten für 2008, die eine Eigenberechnung der Quote nur für Ostdeutschland ermöglichen würden, lagen im SOEP-Monitor bei Redaktionsschluss dieses Beitrags noch nicht vor.

285

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

Tabelle 3: Armutsquote in den ländlichen Stichprobengemeinden Mecklenburg- Vorpommerns und Brandenburgs 1994 und 2008 (in %) Ort

Beenz (bei Prenzlau) Battin Beseritz Bandelow Badresch Boitzenburg Bartow Berkholz Beggerow Bagemühl Ballin Bargischow Beenz (bei Lychen) Beestland Gesamt

Armutsquote 1994 % n 9,6 5

‚Nicht-Arme’ 1994 % n 90,4 47

Armutsquote 2008 % n 38,3 18

‚Nicht-Arme’ 2008 % n 61,7 29

13,3 13,9 14,6 16,1 16,5 16,9 17,5 21,3 21,6 23,5 25,7 26,8

2 14 6 9 46 51 11 54 11 55 29 15

86,7 86,1 85,4 83,9 83,5 83,1 82,5 78,7 78,4 76,5 74,3 73,2

13 87 35 47 233 251 52 199 40 179 84 41

26,9 13,6 25,0 15,8 15,9 14,6 14,3 21,0 10,7 18,6 13,6

7 6 14 6 38 20 7 29 3 24 3

73,1 86,4 75,0 84,2 84,1 85,4 85,7 79,0 89,3 81,4 86,4

19 38 42 32 201 117 42 109 25 105 19

30,0 19,4

15 323

70,0 80,6

35 1343

21,4 18,4

3 178*

78,6 81,6

11 789*

* Bei Gewichtungen in SPSS können neben Veränderungen der relationalen Häufigkeiten in einigen Fällen auch geringfügige Veränderungen der Gesamtzahlen auftreten. Datenbasis: Landgesundheitsstudie 1994 (n = 1.666) und 2008 (n = 967)

Hinsichtlich der Alters- und Geschlechtsverteilung und niedriger Einkommensgruppen bestand ein deutlicher Zusammenhang: so waren ‚Arme‘ nur zu knapp 15 % (24,9 %; 2008: 13 %) über 60 Jahre (2008: 13 %). Die am stärksten von Armut betroffene Altersgruppe waren 1994 mit 26,7 % die 18- bis 29-Jährigen (2008: 23,9 %) und 2008 mit 25,6 % die 30- bis 39-Jährigen (1994: 22,6 %). Annähernd könnte man für beide Untersuchungszeitpunkte sagen, dass die Armutsquoten bei Männern wie bei Frauen bei den jüngeren/mittleren Altersgruppen höher liegen als bei den älteren (Tab. 4, 5). Die Zusammenhänge nach dem Alter weisen partiell in die Richtung, dass die ‚Armen‘ des Jahres 1994 auch im Jahr 2008 arm geblieben sind. Inwieweit dies tatsächlich zutrifft, kann ohne eine Panelisierung der Daten nicht beantwortet werden. Einkommensarmut ist in den Landgemeinden Nordostdeutschland demnach keine Altersarmut, sondern deutlich stärker durch das jüngere/mittlere Alter geprägt. Gleichzeitig liegt der Anteil ‚Armer‘ bei den Frauen hier über dem der Männer (Tab. 4, 5).

286

Thomas Elkeles et al.

Tabelle 4: Armutsquoten in den ländlichen Stichprobengemeinden MecklenburgVorpommerns und Brandenburgs 1994 nach Alter und Geschlecht (in %) Männer

Frauen

Gesamt

‚Arme’

‚NichtArme’

‚Arme’

‚NichtArme’

‚Arme’

‚NichtArme’

18–29 Jahre

24,6

75,4

28,4

71,6

26,7

73,3

30–39 Jahre

21,7

78,3

23,7

76,3

22,6

77,4

40–49 Jahre

16,0

84,0

21,4

78,6

18,6

81,4

50–59 Jahre

16,5

83,5

15,6

84,4

16,0

84,0

60 Jahre und älter

12,6

87,4

16,5

83,5

14,9

85,1

Gesamt

18,1

81,9

20,5

79,5

19,4

80,6

Datenbasis: Landgesundheitsstudie 1994 (n = 1.666) Tabelle 5: Armutsquoten in den ländlichen Stichprobengemeinden MecklenburgVorpommerns und Brandenburgs 2008 nach Alter und Geschlecht (in %) Männer

Frauen

Gesamt

‚Arme’

‚NichtArme’

‚Arme’

‚NichtArme’

‚Arme’

‚NichtArme’

18–29 Jahre

19,5

80,5

31,4

68,6

23,9

76,1

30–39 Jahre

21,5

78,5

29,7

70,3

25,6

74,4

40 –49 Jahre

20,6

79,4

21,7

78,3

20,7

79,3

50–59 Jahre

17,8

82,2

14,4

85,6

16,2

83,8

60 Jahre und älter

13,2

86,8

13,3

86,7

13,0

87,0

Gesamt

17,8

82,2

19,3

80,7

18,4

21,6

Datenbasis: Landgesundheitsstudie 2008 (n = 976)

Beim Schulabschluss, den beruflichen Abschlüssen und der derzeitigen beruflichen Situation zeigt sich 1994 und 2008 ein konsistentes Bild. Neben den niedrigsten Abschlüssen und Positionen sind tendenziell auch mittlere Abschlüsse und Positionen überproportional mit Ein-

287

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

kommensarmut verknüpft. 1994 sind 21,1 % der Männer, die die 10. Klasse nicht abgeschlossen haben (2008: 24 %), arm. Bei den Frauen lagen die Werte für niedrigsten Schulabschluss 1994 bei 20 %, 2008 bei 22 %. Hinsichtlich des Erwerbsstatus (Tab. 6, 7) gab es insofern relativ konsistente Zusammenhänge, als dass Erwerbstätige einen starken Anteil der ‚Armen‘ bilden (1994: 36,5 %, 2008: 37,7 %). Der Anteil der Erwerbslosen ist demgegenüber 1994 geringer und 2008 leicht stärker. Der Anteil der Arbeitslosen an den Armen ist bei Frauen mit 33 bzw. 43 % höher als bei den Männern (29 bzw. 33 %), doch haben arbeitslose Männer 1994 mit 47 % ein größeres Risiko arm zu sein als arbeitslose Frauen mit 33 %. Das Armutsrisiko von Arbeitslosen hat sich 2008 zwischen Männern (41 %) und Frauen (44 %) auf hohem Niveau angenähert. Der Anteil der Nichterwerbstätigen ist von einem Drittel (1994) auf ein Viertel (2008) zurückgegangen. Diese Veränderungen gehen auf die Frauen zurück. Bei Männern gibt es zwischen 1994 und 2008 kaum Veränderungen: Erwerbstätige stellen bei ihnen zu beiden Untersuchungszeitpunkten knapp die Hälfte der ‚Armen‘. Einkommensarmut betrifft in unseren Landgemeinden zu beiden Befragungszeitpunkten also keine Randgruppen, sondern neben Erwerbslosen auch zu erheblichen Teilen die gesellschaftlichen Kerngruppen, die in Erwerbstätigkeit stehen. Zwar ist die Armutsrisikoquote der Erwerbstätigen 2008 mit insgesamt 14,3 % (Männer: 14,7 %, Frauen: 13,7 %) gegenüber der allgemeinen Armutsrisikoquote „unterdurchschnittlich“, Erwerbstätige bilden aber 1994 die größte und 2008 mit 38 % eine gleich große Gruppe wie die Erwerbslosen (38,6 %) unter den ‚Armen‘. Tabelle 6: Armut in den ländlichen Stichprobengemeinden Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs 1994 nach Erwerbsstatus und Geschlecht (Erwerbsstatusanteile in %) Männer

Frauen

Gesamt

‚Arme’

’NichtArme’

Gesamt

‚Arme’

’NichtArme’

Gesamt

’Arme’

’NichtArme’

Gesamt

Erwerbstätig

47,7

56,0

54,5

28,4

35,5

34,1

36,5

45,0

43,4

Erwerbslos

28,9

7,0

10,9

33,0

17,2

20,4

31,3

12,5

16,0

Nicht erwerbstätig

23,4

37,0

34,6

38,6

47,3

45,6

32,2

42,5

40,6

 

Datenbasis: Landgesundheitsstudie 1994 (n = 1.666)

288

Thomas Elkeles et al.

Tabelle 7: Armut in den ländlichen Stichprobengemeinden Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs 2008 nach Erwerbsstatus und Geschlecht (Erwerbsstatusanteile in %) Männer  

‚Arme’

’NichtArme’

Frauen Gesamt

‚Arme’

’NichtArme’

Gesamt Gesamt

’Arme’

’NichtArme’

Gesamt

Erwerbstätig

45,2

55,5

53,6

30,6

45,2

42,4

37,7

50,5

48,1

Erwerbslos

33,3

10,3

14,3

43,2

13,0

18,8

38,8

11,6

16,5

Nicht erwerbstätig

21,4

34,3

32,0

26,1

41,8

38,8

23,5

37,9

35,3

Datenbasis: Landgesundheitsstudie 2008 (n = 943)

Nach dem Haushaltstyp gibt es ebenfalls Unterschiede zwischen ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘. 1994 gab es im Vergleich zu Gesamt (vgl. Tab. 1) und auch im Vergleich zu den ‚Nicht-Armen‘ bei den ‚Armen‘ jeweils weniger Ein- und Zweipersonenhaushalte von Erwachsenen ohne Kinder. Häufiger war Armut jedoch anzutreffen in: ‚‚ Haushalten mit einem Erwachsenen und mindestens einem Kind (‚Arme‘: 4 %, ‚Nicht-Arme‘: 1,4 %) sowie ‚‚ Haushalten mit zwei Erwachsenen und mindestens zwei Kindern (‚Arme‘: 22,3 %, ‚Nicht-Arme‘: 17,0 %) sowie generell ‚‚ Haushalten mit mindestens 3 erwachsenen Haushaltsmitgliedern, sei es ohne Kinder oder sei es mit mindestens 1 Kind; Beispielsweise 3 Erwachsene und mindestens 1 Kind: ‚Arme‘: 10,5 %, ‚Nicht-Arme‘: 7,4 %. Diese Befunde finden sich weitgehend auch 2008, wobei der Unterschied bei Alleinerziehenden noch stärker geworden ist (‚Arme‘: 5,6 %, ‚Nicht-Arme‘: 1,2 %) und in Haushalten mit zwei oder mehr Erwachsenen (jedoch) nur, aber durchgängig, dann vorhanden ist, wenn ein oder mehrere Kinder im Haushalt leben. Zusätzlich zeigt sich ein solcher Unterschied nun auch bei Ein-Personen-Haushalten (‚Arme‘: 18 %, ‚Nicht-Arme‘ 13 % aller Haushalte). Die Aussage, dass Einkommensarmut in den ländlichen Gemeinden insbesondere von in Erwerbstätigkeit stehenden Kerngruppen, also nicht allein den typischen Wende-Verlierern, angegeben wurde, akzentuiert sich damit nochmals um den Befund, dass es sich hierbei gleichzeitig in erhöhtem Ausmaß – neben Alleinerziehenden und Mehrpersonenhaushalten mit mehr als zwei Erwachsenen – um Kernfamilien handelte. Im Zusammenhang mit der starken Repräsentanz der Männer mittleren Alters unter den ‚Armen‘ steht zu vermuten, dass die Einkommenssituation auch vor dem Hintergrund eines internalisierten Rollenmusters des männlichen Familienernährers entsprechend kritisch bewertet wurde.

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

289

4.3 Armut und Gesundheit in den Stichprobengemeinden Von allen Befragten 1994 insgesamt bezeichnet der größte Teil den eigenen Gesundheitszustand als gut oder sehr gut (39,6 %) oder zufriedenstellend (43,0 %). 17,4 % nennen einen weniger guten oder schlechten Gesundheitszustand, wobei ein deutlicher Alterseffekt besteht. Vergleicht man diese Ergebnisse mit den für Ostdeutschland insgesamt repräsentativen Ergebnissen des Public Use File der Deutschen Herz-Kreislaufpräventionsstudie (DHP) Ost aus dem Jahr 1991/92, ist der Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung in den Landgemeinden etwas, jedoch nicht signifikant schlechter.144 In der dritten Untersuchungswelle zeichnet sich eine etwas positivere Einschätzung der subjektiven Gesundheit ab, so bewerten 45,8 % der Probanden ihren Gesundheitszustand als sehr gut/gut, etwa 6 % mehr als 1994, 18,7 % nennen einen weniger guten oder schlechten Gesundheitszustand. Wegen des bekannten Einflusses von Alter und Geschlecht wurde der Vergleich der Angaben der ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘ zu ihrem subjektiven Gesundheitszustand zunächst geschlechts- sowie altersspezifisch vorgenommen. Die Vergleiche waren aufgrund der dann geringen Zellbesetzungen jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Wegen der deutlich unterschiedlichen Altersstruktur von ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘145 wurden Männer und Frauen zusätzlich jeweils altersstandardisiert.146 Dies führte in der Regel dazu, dass sich gesundheitliche Unterschiede zu-Lasten der ‚Armen‘ verstärkten oder auch herstellten, die zuvor altersbedingt nicht (so stark) vorhanden waren.

144 Da die DHP auf die Altersgruppen 25–69 Jahre beschränkt war, mussten für einen solchen Vergleich die Daten der Landgesundheitsstudie auf den gleichen Altersausschnitt beschränkt werden (n = 1.742). Ist nicht ausdrücklich vom Vergleich mit den DHP-Daten die Rede, basieren die Analysen jedoch auf allen Fällen ohne Alterseinschränkung. 145 Bei Männern sind die Anteile mittlerer Altersgruppen bei den ‚Armen‘ deutlich größer als bei den ‚Nicht-Armen‘, bei Frauen sind die ‚Armen‘ gegenüber den ‚Nicht-Armen‘ stärker mit jüngeren und schwächer mit älteren Altersgruppen besetzt. 146 Hierbei wurden die Altersgruppenanteile der ‚Nicht-Armen‘ als Sollwerte definiert und die Abweichung hiervon bei den ‚Armen‘ mittels Gewichtungsfaktoren korrigiert. Die Spannweite bei den Gewichtungsfaktoren ähnelte im Wesentlichen derjenigen bei der Gewichtung des 2008er-Datensatzes.

290

Thomas Elkeles et al.

Tabelle 8: Subjektiver Gesundheitszustand nach Armut und Geschlecht (in %)1 Sehr gut/gut

zufriedenstellend

Weniger gut/ schlecht

Signifikanz

n.s.

Männer ‚Arme’ 1994

45,8

34,1

20,1

‚Nicht-Arme’ 1994

40,5

43,8

15,7

‚Arme’ 2008

34,4

46,6

19,0

‚Nicht-Arme’ 2008

46,1

34,5

19,5

‚Arme’ 1994

30,7

46,5

22,8

‚Nicht-Arme’ 1994

34,4

44,8

20,8

‚Arme’ 2008

44,8

33,1

22,1

‚Nicht-Arme’ 2008

50,8

33,7

15,5

n.s.

Frauen n.s. n.s.

1 Nach geschlechtsspezifischer Altersstandardisierung (Referenz: ‚Nicht-Arme‘) Datenbasis: Landgesundheitsstudie 1994 (N = 1651) und 2008 (n = 963)

Nach dieser Altersangleichung ergibt sich 1994, dass ‚arme‘ Frauen seltener einen (sehr) guten und zufriedenstellenden und häufiger einen weniger guten/schlechten Gesundheitszustand angeben. ‚Arme‘ Männer hingegen nannten häufiger einen (sehr) guten, aber auch häufiger einen weniger guten/schlechten Gesundheitszustand (Tab. 8, n.s.). 2008 hat sich das Bild verändert. ‚Arme‘ Frauen geben (auf nun höherem Niveau guter Gesundheit) um 6 % seltener als ‚nicht arme‘ Frauen einen (sehr) guten Gesundheitszustand und um 7 % häufiger einen weniger guten/schlechten Gesundheitszustand an. ‚Arme‘ Männer geben (auf nun niedrigerem Niveau guter Gesundheit) um 12 % seltener einer (sehr) guten Gesundheitszustand und um 12 % häufiger einen zufriedenstellenden an (n.s.). Die Gruppenmittelwerte der Gesundheitszufriedenheit sind erwartungsgemäß stärker nach Alter sowie Geschlecht different als nach Armut. In allen Altersgruppen lagen bei Männern (Ausnahme: 40–49 Jahre) und bei Frauen (Ausnahme: 40–49 und über 60 Jahre) die Mittelwerte der ‚Armen‘ unter denen der ‚Nicht-Armen‘, und zwar mit abnehmendem Alter weniger. Nach Altersstandardisierung ergab sich 1994 wie 2008 insgesamt für beide Geschlechter eine etwas geringere Gesundheitszufriedenheit der ‚Armen‘ (Abb. 1). Die Differenz im Mittelwert zwischen ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘ war 1994 bei Männern und Frauen mit knapp 0,2 Skalenpunkten etwa gleich groß (n.s.). 2008 beträgt die Differenz bei Männern 0,2 und bei Frauen 0,1 Skalenpunkte und war statistisch nicht signifikant.147 147 Gilt für die Altersstandardisierung, dass sie eine in der Realität so nicht vorhandene Altersverteilung

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

291

Die Gruppenmittelwerte der allgemeinen Lebenszufriedenheit lagen meist höher (d.h. günstiger) als die der Gesundheitszufriedenheit. Bei Männern gab es 1994 keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Alter und Differenzen in der Lebenszufriedenheit. Bei Frauen ist die Differenz in der jüngsten Altersgruppe wie bei Männern sehr gering, steigt in der Altersgruppe 30–39 Jahre auf 0,8 Skalenpunkte und nimmt danach wieder ab. Nach Altersangleichung ergab sich 1994 insgesamt für beide Geschlechter eine statistisch signifikant geringere allgemeine Lebenszufriedenheit der ‚Armen‘ (Abb. 1). Die Differenz ist 1994 bei Männern mit 0,5 Skalenpunkten etwas größer als bei den Frauen (0,38 Skalenpunkte). 2008 ist die Differenz, bei nun nur schwacher Signifikanz, bei Männern und Frauen mit 0,4 Skalenpunkten gleich (Abb. 2). Abbildung 1: Gesundheits- und Lebenszufriedenheit nach Armut und Geschlecht 1994

„simuliert“, d.h., die Ergebnisse ergäben sich theoretisch so, wenn eine derartige Altersgleichheit zwischen den betrachteten Vergleichsgruppen bestände, so gilt für gewichtete Signifikanztests, dass hierzu die Bedingung herrschen müsste, außer der Altersverteilung hätte sich durch die Datentransformation nichts geändert, was Einfluss auf die mittels eines Signifikanztests durchgeführte Fehlerprüfung ge­ habt haben könnte. Sollte das nicht der Fall sein, wären derartige Signifikanztests auf Basis gewichteter bzw. altersangeglichener Daten nicht zulässig. Aus diesem Grunde führten wir die Signifikanztests ungewichtet durch.

292

Thomas Elkeles et al.

Abbildung 2: Gesundheits- und Lebenszufriedenheit nach Armut und Geschlecht 2008

Bei der Einkommensverteilung bestehen ferner zwischen dem oberen und unteren Einkom­ mensquintil beträchtliche Unterschiede. Verfügte das untere Einkommensquintil 1994 mit 330 Personen über 8,5 % des Einkommens, stehen dem oberen Einkommensquintil mit 348 Personen 33,8 % des Einkommens zur Verfügung. In der dritten Erhebungswelle verfügen 186 Personen (gewichtet: 195 Personen) über weniger Einkommen als das unterste Quintil und 173 Personen (gewichtet: 179 Personen) über mehr Einkommen als das oberste Quintil. Das untere Einkommensquintil entspricht in seiner Zusammensetzung in etwa dem 60 %-Median (1994: 19,8 %, 2008: 19,1 %, gewichtet: 20,0 %). Das obere Einkommensquintil ist bei Männern und Frauen über 40 Jahren (1994; 2008: Männer über 50 Jahren) stärker besetzt als das untere Quintil. Beim Gesundheitszustand korrespondieren die Ergebnisse im Quintilsvergleich bei Männern und Frauen mit den Vergleichen ‚Arme‘ vs. ‚Nicht-Arme‘ hinsichtlich ihrer Richtung. Bei den Frauen werden die Unterschiede nochmals stärker. Bei den Männern verstärken sie sich ebenfalls beim weniger guten/schlechten Gesundheitszustand, derjenige andersartiger Richtung beim sehr guten/guten Gesundheitszustand nimmt ab (Tab. 9). 2008 geben Männer sowie Frauen aus dem unteren Quintil seltener einen (sehr) guten und häufiger einen weniger guten Gesundheitszustand an (n.s.) (Tab. 9).

293

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

Tabelle: 9: Subjektiver Gesundheitszustand nach Quintilen (in %)1 Sehr gut/gut

Zufriedenstellend

Weniger gut/ schlecht

Signifikanz

‚Personen mit weniger Einkommen als unteres Quintil’ 1994

49,4

31,8

18,7

n. s.

‚Personen mit mehr Einkommen als oberes Quintil 1994

48,8

40,7

10,5

n. s.

‚Personen mit weniger Einkommen als unteres Quintil’ 2008

36,6

44,3

19,2

n. s.

‚Personen mit mehr Einkommen als oberes Quintil 2008

43,0

41,9

15,1

n. s.

‚Personen mit weniger Einkommen als unteres Quintil’ 1994

30,7

46,9

22,4

n. s.

‚Personen mit mehr Einkommen als oberes Quintil 1994

37,4

47,7

14,9

n. s.

‚Personen mit weniger Einkommen als unteres Quintil’ 2008

45,1

34,2

20,8

n. s.

‚Personen mit mehr Einkommen als oberes Quintil 2008

62,7

27,7

9,6

n. s.

Männer

Frauen

1 Nach geschlechtsspezifischer Altersstandardisierung (Referenz: ‚Personen mit mehr Einkommen als oberes Quintil‘) Datenbasis: Landgesundheitsstudie 1994 (N = 671) und 2008 (n = 331)

Sowohl bei der Gesundheitszufriedenheit wie auch bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit ergaben sich 1994 (altersstandardisiert) bei Männern wie bei Frauen Unterschiede zwischen unterem und oberem Einkommensquintil (Abb. 2). Bei der Gesundheitszufriedenheit war die Differenz bei den Frauen mit 0,37 Skalenpunkten minimal größer als bei den Männern mit 0,3 Skalenpunkten. Gleich groß war hier die Differenz bei Männern (0,7) und Frauen (0,74 Skalenpunkte) in der allgemeinen Lebenszufriedenheit. Damit verstärken sich (1994) bei der Betrachtung der Unterschiede zwischen unterem und oberem Einkommensquintil (Abb. 3) die Unterschiede zwischen ‚Armen‘ und der Gruppe der – ja auch heterogeneren – ‚Nicht-Armen‘ bei Gesundheits- und Lebenszufriedenheit (Abb. 1).

294

Thomas Elkeles et al.

Abbildung 3: Gesundheits- und Lebenszufriedenheit im Vergleich des untersten und obersten Einkommensquintils nach Geschlecht 1994

Auch 2008 verstärken sich die Unterschiede bei Gesundheits- und Lebenszufriedenheit bei Betrachtung von unterem und oberem Einkommensquintil (Männer und Frauen) gegenüber dem Vergleich von ‚Armen‘ und ‚Nicht Armen‘, jedoch nur leicht und ohne Änderung bei den statistischen Signifikanzen (Abb. 4). Abbildung 4: Gesundheits- und Lebenszufriedenheit im Vergleich des untersten und obersten Einkommensquintils nach Geschlecht 2008

Armut und Gesundheit in ländlichen Gemeinden ...

295

5 Diskussion und Ausblick Die bisherigen Ausführungen sollten gezeigt haben, dass die Diskussion um Gesundheit, Armut sowie deren regionale Differenzierung fast noch in den Kinderschuhen steckt. Zwar rücken Fragen nach der regionalen Unterschiedlichkeit von sozialen Parametern wie der Einkommensverteilung oder der gesundheitlichen Ungleichheit verstärkt ins öffentliche und auch wissenschaftliche Interesse. Allerdings ist bisher weder der theoretische Zusammenhang von räumlichen und sozialen Ungleichheiten ausreichend geklärt, noch liegt belastbares empirisches Material dazu vor. Auch unsere bisherige Datenlage lässt es gegenwärtig noch (Stand: Dezember 2009) nicht zu, wesentliche Fragen zu beantworten, denen sich auch ein Erklärungsmodell regionaler Gesundheitsunterschiede zu stellen hätte: „Welche Eigenschaften einer Region können eine gesundheitsförderliche bzw. -belasten­de Wirkung ausüben? (…) Welche sozialen Ressourcen und Belastungen (z.B. Vertrauen und Kooperation, soziale Spannungen zwischen Arm und Reich) weisen einen Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand der Bewohner auf? Wie beeinflussen sich die regionalen Ressourcen und Belastungen gegenseitig? Wie können sich die regionalen Ressourcen und Belastungen auf das Gesundheitsverhalten der Bewohner auswirken?“ (Bayerisches Landesamt 2007a, S. 8)

Einige unserer empirischen Ergebnisse widersprechen aber auch bisherigen Erkenntnissen der Gesundheits- und Landsoziologie und regen deshalb aber auch zu weiterer Forschung an. Wir resümieren deshalb im Folgenden unsere Ergebnisse, diskutieren mögliche Limitierungen und verweisen auf noch offene Fragen. Zunächst war zum Zeitpunkt der Erhebung 1994 die Armutsquote in den ländlichen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs deutlich höher als der ostdeutsche Durchschnitt. Bei z.T. deutlicher Variation zwischen den einzelnen Orten ergab sich für 1994 insgesamt eine Armutsrisikoquote von 19,4 %, für 2008 von 18,4 %. Nach dieser Berechnung – anhand des Äquivalenzeinkommens innerhalb der eigenen Regionaldaten – ergeben sich also keine deutlichen Veränderungen über die Zeit. Zöge man allerdings das Äquivalenzeinkommen für Ostdeutschland insgesamt zur Berechnung heran, läge die Armutsrisikoquote höher, denn die äquivalenzgewichteten Monatseinkommen der Landgesundheitsstudie liegen z.T. deutlich unter den auf Basis des sozioökonomischen Panels für Ostdeutschland insgesamt berechneten Einkommen für 1994 und 2007. Zumal auch methodisch bedingte Abweichungen in der Berechnung der Armutsrisikoquoten zwischen SOEP- und eigenen Berechnungen auf Basis von Einkommensklassen vorliegen und es weiterhin methodisch zumindest sehr schwierig zu prüfen wäre, ob in unserer Region möglicherweise andersartige Einkommensspreizungsprozesse als in Ostdeutschland insgesamt (vgl. Goebel et al. 2008) in den vergangenen Jahren stattgefunden haben, verzichten wir hier

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Thomas Elkeles et al.

auf direkte Vergleiche der Höhe der Armutsrisikoquoten zwischen nordostdeutschen Landgemeinden und Ostdeutschland insgesamt. Festzuhalten bleibt, dass es nach unseren Berechnungen eine relative Verstetigung des Armutsrisikos zu geben scheint und diese mit den über zwei Untersuchungszeitpunkte hinweg relativ konsistenten Befunden zu den sozialen Korrelaten einherging. Nach diesen Befunden ist es nicht das viel zitierte ‚abgehängte Prekariat‘ oder die Risikogruppen der Frauen, Alten oder – allein – der Großfamilien, sondern es sind vielmehr – neben den Erwerbslosen – die gesellschaftlichen ‚Kerngruppen‘, also voll oder teilweise Berufstätige, die in der ländlichen Bevölkerung Nordostdeutschlands eine bedeutende Gruppe unter den ‚Armen‘ stellen. Dabei lässt sich anhand der Armutsrisikoquoten einerseits, der Anteilsgruppen andererseits zeigen, dass es nicht einmal die sogenannten working poors sind, die wesentlich zu diesem Befund beitragen, sondern weit mehr der hohe Anteil, den die Erwerbstätigen insgesamt an den ‚Armen‘ in unseren Untersuchungsgemeinden bilden. Unerwartet war für uns vor dem Hintergrund genereller bisheriger Ergebnisse der Gesundheitssoziologie und Sozialepidemiologie, dass ‚arme Männer‘ (nicht jedoch Frauen) 1994 einen besseren Gesundheitszustand angaben als ‚Nicht-Arme‘. Zwar ist bekannt, dass Männer, nicht jedoch Frauen von der Ehe gesundheitlich „profitieren“, u.W. war hierbei jedoch bisher nichts von einer einkommensbezogenen Spezifität bekannt. 2008 haben sich Unterschiede nur in erwarteter Richtung gezeigt. Zu fehlender statistischer Signifikanz sind die 2008 gegenüber 1994 deutlich geringeren Fallzahlen zu bedenken. Uns selbst überraschte aber auch, dass sich bei der anderen hier untersuchten Gesundheitsvariablen, der Gesundheitszufriedenheit, nicht so starke Differenzen zeigten, wie wir sie erwartet hatten. Nun ist auch andernorts gesundheitliche Ungleichheit nicht stets über alle möglichen Indikatoren hinweg gleich gut belegt und manchmal auch widersprüchlich. Bevor diese Widersprüchlichkeit inhaltlich weiter zu diskutieren ist, sollen hier zunächst einmal Limitierungen und mögliche Einschränkungen der Aussagekraft der Daten angesprochen werden. Denn nur methodisch abgesicherte Befunde lohnen inhaltliche Diskussionen und Erwägungen. Die über die Wellen gesunkene Ausschöpfungsquote sowie die nur für 2008 durchführbare Repräsentativitätsprüfung, beschränkt auf die Alters- und Geschlechtsverteilung nach amtlichem Kenntnisstand, erhöht sicherlich nicht die Gültigkeit. Inwiefern durch diese beiden Phänomene soziale bzw. gesundheitliche Selektionen bei der teilnehmenden Population eingetreten sind, lässt sich allerdings kaum mit Sicherheit überprüfen. Soziale bzw. gesundheitliche Selektionen können auch in der Grundgesamtheit eingetreten sein, wenn, wie zumindest partiell ableitbar (Röding 2010), in unseren Untersuchungsorten demografische Effekte wie die überproportionale Abwanderung Jüngerer (und: Gesünderer) und hier insbesondere Frauen in ähnlichem Maße wie auf der Ebene der Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern

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wirksam waren. Der quantifizierbare Rückgang der Anteile jüngerer und mittlerer Altersgruppen dürfte hierauf zurückführbar sein (Röding 2010). Nicht quantifizierbar sind hierbei jedoch die potenziellen gesundheitlichen Selektionseffekte. Trotz dieser Limitierungen bleibt aber festzustellen, dass uns keine Hypothese bekannt ist, die einen systematischen Einfluss auf die Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes und auf die Gesundheitszufriedenheit in unserem Vergleich von ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘ postulieren würde; jedenfalls wäre noch nicht einmal mit Sicherheit eine Hypothese aufstellbar, inwiefern der Fortzug jüngerer Frauen seit den 1990er-Jahren sich mehr aus der Gruppe der ‚Armen‘ oder aber der ‚NichtArmen‘ rekrutiert haben mag. Insofern gehen wir hier davon aus, dass nichts Wesentliches dagegen spricht, statt von Artefakten oder wesentlichen Selektionseffekten von einer Validität bei unseren Messungen auszugehen (s.u.). Die deutlichen Differenzen zwischen 1994 und 2008 in den Niveaus der Angaben nicht eines schlechten, aber eines zufriedenstellenden und eines (sehr) guten Gesundheitszustandes könnten allerdings die Frage aufwerfen, ob hierbei nicht auch veränderte Bewertungsmaßstäbe eine Rolle spielen, die dann vielleicht auch – jedenfalls bei ‚armen‘ Männern – das Antwortverhalten beim Vergleich von ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘ tangieren. Dahinter könnte – methodisch gesprochen – also eine gewisse eingeschränkte Reliabilität dieser Fragen in unserer Region stehen. Inhaltlich würde diese mögliche „Reliabilitätsunschärfe“ Fragen nach den Gesundheitskonzepten einerseits, der Bedeutung des Einkommens für Armut auf dem Lande andererseits aufwerfen, die allein anhand unserer standardisierten Befragungsdaten jedoch (noch) nicht beantwortbar sind. Nicht nur unsere Region betrifft, dass die Reliabilität von Fragen nach dem Einkommen im Allgemeinen, dem Haushaltseinkommen im Besonderen ohnehin bekannte Einschränkungen aufweist und daher unsere zusätzlich hier nur nach einem Einkommensschätzverfahren definierbare Armutserfassung ebenso möglich tangiert haben könnte. Deutliche Differenzen zwischen ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘ sowie zwischen unterem und oberem Einkommensquintil zeigten sich in der allgemeinen Lebenszufriedenheit. Hier nicht präsentierte zusätzliche Berechnungen zum Vergleich von ‚Armen‘ und ‚Nicht-Armen‘ bestätigten auch die Erwartung, dass der systematischen Differenz bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit auch Differenzen in den durchschnittlichen Zufriedenheiten in anderen Lebensbereichen korrespondierten, und zwar – auf unterschiedlichen Niveaus – in allen anderen Lebensbereichen (Beziehungen zu Freunden, familiäre Situation, Freizeit, Wohnsituation, Arbeitssituation und finanzielle Lage). Am geringsten und gleichzeitig mit der größten Differenz gegenüber den ‚Nicht-Armen‘ sind die Zufriedenheiten mit der Arbeitssituation und mit der finanziellen Lage (2008: ‚Arme‘: 2,76, ‚Nicht-Arme‘: 3,84 Skalenpunkte). Das spricht wiederum für vorliegende Validität der Messergebnisse (s.o.). Andererseits bleibt die Schlussfolgerung, dass die Zufriedenheit mit der Gesundheit bei den ‚Armen‘ und

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dem unteren Einkommensquintil unserer Studie (anders als Arbeitslose im Vergleich mit Erwerbstätigen, vgl. Elkeles et al. 2010) offenbar nicht in gleich starkem Maße in ihre negativeren Bewertungen ihrer Lebenssituation einbezogen wird – und möglicherweise im Kontext der Frage nach der allgemeinen Lebenszufriedenheit alle anderen Lebensbereiche für stärker relevant oder für selbst beeinflussbar gehalten werden. Alle anderen Unterschiede bei der Zufriedenheit sind in der Zufriedenheitsforschung als Exklusionsindikatoren zu werten. Noch weiter zu untersuchen wäre, inwieweit diese Ergebnisse eben gerade Hinweise auf einen besonderen Zusammenhang zwischen den peripheren Merkmalen der Regionen und dem entsprechenden sozialen Status der Bevölkerung sowie ihrem Gesundheitshandeln darstellen und damit regionalspezifischen Einflüssen unterliegen, die andernorts eventuell so nicht bestehen. Hierzu haben wir begonnen, unsere Analysen auch über die Projektlaufzeit hinaus auszuweiten, was zum Redaktionsschluss dieses Beitrags noch nicht abgeschlossen war. Zu beachten ist bei der Frage nach den ‚richtigen‘ Erklärungen von empirischen Ergebnissen aber auch immer die besondere methodische Herausforderung, zwischen Effekten der ‚Bevölkerungszusammensetzung‘ und dem regionalen Umfeld zu unterscheiden. Die befragten Personen sind zwar in unserem Fall den gleichen regionalen Effekten ausgesetzt, aber sie unterscheiden sich in ihrer Gruppenzugehörigkeit und ihren individuellen Merkmalen und Anpassungsleistungen voneinander. Die in der mehrfach zitierten Literaturstudie referierten Mehrebenenstudien konnten zum Teil zeigen, dass ein eigenständiger Effekt der Regionen auf den Gesundheitszustand vorliegt und zum Beispiel die Mortalität in Regionen mit hoher Armutsquote ungefähr 1,5-mal so hoch ist wie in Regionen mit niedriger Armutsquote (Bayerisches Landesamt 2007a, S. 31); gesicherte Aussagen, vor allem jenseits von Mortalitätsdaten, liegen aber in der Gesamtschau noch nicht vor. Nichtsdestotrotz erscheint es wichtig, dem Zusammenhang zwischen Armut und gesundheitlicher Ungleichheit in Zukunft nicht (allein) bezogen auf besonders betroffene Gruppen nachzugehen, sondern vielmehr räumliche Ungleichheiten und damit die Lebenswirklichkeit auch in den ländlichen Regionen der Bundesrepublik verstärkt ins Blickfeld zu nehmen. Hierzu bieten sich nicht zuletzt qualitative Befragungen an. Zu erwarten sind von den derzeit noch laufenden Auswertungen dieser Interviews systematische Einblicke in die Art und Weise, wie Akteure die Strukturmerkmale ihrer Lebenswelt interpretieren und sie als Ressourcen zum Umgang mit Armut oder zur Umsetzung in Muster des Gesundheitshandelns nutzen oder dies als Restriktionen bei der Realisierung einer „gesunden Lebensführung“ erfahren.

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Beschäftigungswandel in der ostdeutschen Landwirtschaft – zwischen radikalem Arbeitsplatzabbau und aufkommender „Leutenot“ Theodor Fock Zusammenfassung: In Ostdeutschland hat sich in sämtlichen ländlichen Regionen ein beispielloser Anpassungsprozess in der Landwirtschaft nach der Wende 1989/90 mit anhaltenden sozialen Folgen vollzogen. Zunächst wurden in fünf Jahren mehr als 80 % der Beschäftigten freigesetzt. Dagegen baut sich eine Dekade später ein Fachkräftemangel auf, der die Perspektiven dieses nach wie vor bedeutsamen Wirtschaftssektors in ländlichen Räumen hemmen wird. Diese Entwicklung ist in vergleichbarer Weise weder in Westeuropa noch in anderen mittel- und osteuropäischen Transformationsländern vorzufinden. Schlüsselwörter: Transformation des ostdeutschen Agrarsektors, Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, Fachkräftemangel

Einleitung Der Agrarsektor hat insgesamt abnehmende Bedeutung für die Beschäftigungsstruktur der Bevölkerung in ländlichen Räumen. Für die aktuelle Situation in Ostdeutschland gibt es zwei unterschiedliche Wahrnehmungen. In einer Sichtweise werden der sehr weit gehende Arbeitsplatzabbau, vor allem in den ersten Jahren nach der Wende, und die bis heute anhaltenden Folgen für die Unterbeschäftigung auf den Dörfern betont. In einer zweiten Sichtweise zeichnet sich ein Fachkräftemangel in dem dynamischen und wettbewerbsfähigen Wirtschaftssektor Landwirtschaft ab, der einer der wenigen erfolgreichen Bereiche im Aufbau Ost ist (vgl. Bundesverkehrsministerium 2009, S. 101). Beide Perspektiven beschreiben zwei Facetten des Transformationsprozesses der ostdeutschen Landwirtschaft nach 1990, die den tief greifenden Wandel kennzeichnen, den dieser Sektor, die Beschäftigung und damit auch die in ländlichen Räumen lebende Bevölkerung durchlaufen haben.

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Theodor Fock

Der vorliegende Beitrag analysiert die Beschäftigungsentwicklung in der ostdeutschen Landwirtschaft von den Wendejahren bis zur Gegenwart. Beschäftigungsabbau und Umstrukturierung, aber auch der sich abzeichnende Fachkräftemangel, der durch die demografische Entwicklung verschärft wird, spielen sich im Agrarsektor in rasanter Zeitfolge ab. Die ländlichen Gesellschaften sind mit den Folgeproblemen häufig überfordert. Im Unterschied zu anderen mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten hat die Landwirtschaft im Transformationsprozess nicht die Funktion eines sozialen Puffers übernommen (vgl. Petrick; Weingarten 2004, S. 3). In westeuropäischen Ländern vollzieht sich der agrarstrukturelle Wandel, der vor allem durch ein Ausscheiden landwirtschaftlicher Familienbetriebe im Generationswechsel gekennzeichnet ist, ohne größere direkte Verwerfung für die ländlichen Räume (vgl. Gullstrand; Tezic 2008, S. 2). Damit stellt der von den Menschen in Ostdeutschland selbst herbeigeführte Systemumbruch in gewisser Weise einen Sonderfall der zu betrachtenden Entwicklungsmuster im Modernisierungsprozess ländlicher Räume dar. In Ostdeutschland ging es nicht nur um eine sektorale Verschiebung innerhalb der Wirtschaftsstruktur, sondern um fundamentale politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen, in deren Folge sowohl eine kapitalistische Ökonomie als auch neue bürgerliche „Rechts- und Gesellschaftsformen auf allen Gebieten“ (Meier; Müller 1997, S. 189) entstanden sind.

Beschäftigungswandel in der Landwirtschaft zwischen 1970 und 2007 In allen europäischen Ländern war die Beschäftigung im Agrarsektor nach 1950 stark rückläufig. Nicht nur prozentual als Anteil an der erwerbsfähigen Bevölkerung insgesamt, sondern auch in ihren absoluten Beschäftigtenzahlen. Wesentliche Ursache hierfür war und ist arbeitssparender technischer Fortschritt, der zudem eine Entwicklung zu steigenden Betriebsgrößen induziert hat. Diese Entwicklung hat sich bis etwa 1970 in der DDR in vergleichbarer Weise vollzogen: Der Anteil der Beschäftigten im Agrarsektor ist von 31 % in 1949 bis auf 11,3 % 1975 abgesunken, danach aber nahezu stabil geblieben (1988 10,8 %) (vgl. Statistisches Amt 1989). Im Bezirk Neubrandenburg, der traditionell am stärksten agrarisch geprägten Region der DDR, waren 1955 noch 54,7 % im Bereich Land- und Forstwirtschaft erwerbstätig. Der Anteil ist bis 1975 ebenfalls kontinuierlich bis auf rund 27 % abgesunken, dann aber bis 1988 stabil geblieben, d.h. ein weiterer Strukturwandel bei den Arbeitskräften hat sich nicht vollzogen. Zugleich fand ein primär politisch gesteuerter Konzentrationsprozess hin zu immer größeren Betriebseinheiten statt. Während 1960 nach Abschluss der Kollektivierungsphase noch Betriebe (vorwiegend landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 330 Hektar existierten, sank die Zahl der Betriebe bis

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Beschäftigungswandel in der ostdeutschen Landwirtschaft

1988 um 75 %, wodurch sich die bewirtschaftete Fläche pro Betrieb entsprechend vergrößerte (Gebiet des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern) (vgl. Gabka 1997, S. 25). Damit bestanden – im Unterschied zu z.B. Westdeutschland – eigentlich günstige Voraussetzungen, weitere Rationalisierungseffekte zu erzielen. Allerdings setzte in der DDR nicht nur in der Landwirtschaft spätestens ab Mitte der 70er-Jahre ein Stagnationsprozess ein, der sich auch in der weiteren Arbeitskräfteentwicklung niederschlug. Der Trend rückläufiger Beschäftigungszahlen im Agrarsektor setzte sich im Unterschied zu Westdeutschland nicht weiter fort (siehe Tabelle 1). Während in Westdeutschland die Zahl der Arbeitskräfte zwischen 1970 und 1990 um 42,0 % sank (in Vollbeschäftigteneinheiten sogar um 50 %), ist für die DDR keine vergleichbare Entwicklung festzustellen. Tabelle 1: Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zwischen 1970 und 2007 Jahr

DDR/nBL

Westdeutschland1

MV

OVP

1950

2.005.000

5.114.000

433.600

41.200

1971

974.000

2.707.800

186.000

16.600

1981

884.000

2.006.100

186.200

14.800

1989

928.0002

1.569.700

192.800

16.200

1991

361.900

1.516.700

71.400

11.400

1995

161.400

1.248.400

26.400

1.930

1999

168.900

1.268.200

23.700

1.810

2003

166.800

1.136.500

23.500

1.5204

2007

159.400

1.092.300

21.600

1.5104

nBL = neue Bundesländer, MV = Mecklenburg-Vorpommern, OVP = Landkreis Ostvorpommern (bis einschließlich 1991: Kreise Anklam, Greifswald-Land und Wolgast) Anmerkungen: Abgrenzung der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft beinhaltet teilweise auch Beschäftigte in Forstwirtschaft und Fischerei mit (je nach verwandter Systematik und verfügbaren Daten). Quellen: Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern, Statistische Daten 1950–1990, Schwerin 1996; Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern, Arbeitskräfte in den landwirtschaftlichen Betrieben, Fachserie C IV-2j, Schwerin 2008 (und frühere Jg.); Bundeslandwirtschaftsministerium, Agrardaten, www.bmelv.de (Zugriff am 07.07.2009); Statistisches Jahrbuch der DDR, Berlin, 1989; Statistisches Jahrbuch Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin, 2008 und frühere Jg.

Ursachen für diese Entwicklung waren Mängel in der Versorgung der landwirtschaftlichen Betriebe mit Maschinen, Anlagen und modernen Gebäuden, allgemeine organisatorische Mängel, eine staatliche Gängelung der Betriebe sowie die staatliche Vollbeschäftigungsgaran-

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tie, die dazu führte, dass den landwirtschaftlichen Betrieben Arbeitskräfte auch über deren Bedarf hinaus zugewiesen wurden. Landwirtschaftliche Betriebe hatten insbesondere in kleineren Ortschaften umfassende, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch dienstleistende Funktionen im weitesten Sinne zu erfüllen. Dadurch waren im Durchschnitt rund 20 % der Beschäftigten mit anderen als landwirtschaftlichen Aufgaben befasst, was bei der Interpretation­ von Statistiken berücksichtigt werden muss (vgl. Kleinpeter 1996, S. 10). Mit der Wende 1989/90 und der raschen, nahezu übergangslosen wirtschaftlichen Integration in die marktwirtschaftlichen Strukturen der Bundesrepublik und der EU am 1. 7.1990 wurden für den Agrarsektor auch die Regulierungen der gemeinsamen EU-Agrarpolitik relevant. Ein sehr rascher Beschäftigungsabbau setzte ein (siehe Tabelle 1). Im Wesentlichen war dieser bis 1995 vollzogen und in der Folge sank die Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeitskräfte in Mecklenburg-Vorpommern auf unter 20 % des Niveaus von 1988/89. Rund 150 000 Personen haben dadurch ihren bisherigen Arbeitsplatz verloren. Dagegen hat sich die weitere Entwicklung nach 1995 deutlich verlangsamt. Der ab da eher moderate Rückgang der Arbeitskräfte entspricht weitestgehend der Rate des technischen Fortschritts und ist demnach auf klassische Rationalisierungseffekte zurückzuführen. Bei der Datenerhebung zur Arbeitskräftestruktur bestehen seit 1991 einheitliche Kriterien; allerdings sind einige methodische Änderungen eingetreten (insbesondere für die Angaben ab 1997) (vgl. Nause 2003, S. 301 ff.), die bei der Interpretation der Zeitreihen zu berücksichtigen sind. In der Abbildung 1 ist die relative Veränderung der Arbeitskräfte in den vier dargestellten Regionen Ost- und Westdeutschland, Mecklenburg-Vorpommern sowie im Landkreis Ostvorpommern (OVP) für den Zeitraum zwischen 1988/90 und 2007 dargestellt. Abbildung 1: Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, Veränderungen nach Regionen zwischen 1988/90 und 2007

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Die dramatische Entwicklung in Ostdeutschland dokumentiert sich in dem zeitlich sehr raschen Abbau von Arbeitskräften bis 1995 und weist ab dann, im Vergleich zu Westdeutschland, eher eine Konsolidierung der Beschäftigtenzahlen, freilich auf niedrigem Niveau, auf. In Westdeutschland setzten sich dagegen die sektoralen Trends früherer Jahrzehnte bis 2007 nahezu unverändert fort, während in Ostdeutschland und den betrachteten Teilgebieten seit 1995 wesentlich geringere Abnahmeraten bei den Beschäftigten festzustellen sind. Diese besondere Entwicklung schlägt sich in der entsprechenden Altersstruktur der heute in der Landwirtschaft tätigen Arbeitskräfte nieder, wodurch lang anhaltende und nicht intendierte Folgewirkungen eintreten werden.

Ursachen und Folgen des Beschäftigungsabbaus seit 1990 Der dramatische Beschäftigungsabbau in der ostdeutschen Landwirtschaft ab 1990 war eine Folge der Umstrukturierung in Verbindung mit einer nachholenden Modernisierung sowie der Abgabe nicht produktionsorientierter Funktionen im Bereich der sozialen und öffent­ lichen Versorgung. Dadurch sind mehr als 80 % der beschäftigten Menschen in einem Zeitraum von fünf Jahren zwischen 1989/90 und 1995 aus dem Agrarsektor ausgeschieden. Die ländlichen Gesellschaften waren und sind hiervon in zweierlei Hinsicht betroffen: im Umgang mit den von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen, soweit diese nicht abwanderten, und von der Übernahme öffentlicher und gesellschaftlicher Funktionen, die zuvor in den sozialistischen Agrarbetrieben angesiedelt waren. In Nebenbereichen der landwirtschaftlichen Produktion – Bau und Reparatur – sowie sozialen Funktionen waren rund 20 % der Beschäftigten zu DDR-Zeiten tätig (vgl. Kleinpeter 1996, S. 9 ff.). Die auch nach dem Umstrukturierungsprozess wesentlich größeren Betriebseinheiten in der ostdeutschen Landwirtschaft weisen besonders günstige Voraussetzungen auf, arbeitssparenden technischen Fortschritt zu nutzen. Durch vorteilhafte Förderprogramme konnten auch eigenkapitalschwache Betriebe entsprechende Investitionen tätigen. Die zu DDR-Zeiten praktizierte Vollbeschäftigungspolitik hatte zu versteckter Arbeitslosigkeit im Agrarsektor geführt, die durch die übergangslose Integration in den europäischen Agrarmarkt zu hohem Anpassungsdruck führte und dadurch die Betriebe bereits 1990 veranlasste, ihren Personalbestand in diesem Bereich entsprechend anzupassen. Beschäftigungsintensivere Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion wie Tierhaltung oder Obst- und Gemüsebau sind überproportional geschrumpft. Im Bereich der Tierhaltung gingen die Produktionskapazitäten durch Regelungen der europäischen Agrarmarktordnung (Milch) oder aufgrund des hohen Kapitalbedarfs für Modernisierungsinvestitionen (Schweineproduktion) deutlich zurück. Im Obst- und Gemüsebau fehlte den ostdeutschen Erzeugern anfangs der Zugang zu ent-

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sprechenden Absatzwegen. Im Ergebnis hat sich in Ostdeutschland ein Produktionsmodell herausgebildet, das nicht nur im deutschen, sondern auch im europäischen Vergleich einen besonders niedrigen Arbeitskräftebesatz aufweist: In Mecklenburg-Vorpommern werden im Jahre 2007 1,4 Vollbeschäftigte je 100 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche beschäftigt, in Ostdeutschland 1,7, in Deutschland 3,8 und in der EU-27 7,4 (vgl. Bundeslandwirtschaftsministerium 2009). Dagegen wird der Umstrukturierungsprozess der ostdeutschen Landwirtschaft unter wirtschaftlichen Aspekten und im Vergleich zu vielen anderen Branchen eher als erfolgreich beurteilt. Zahlreiche Indikatoren, wie Einkommen der Unternehmen, Arbeitsproduktivität und Produktionskosten sind günstiger als im westdeutschen und europäischen Vergleich, während gesamtwirtschaftlich weiterhin ein deutlicher Abstand zu verzeichnen ist (z.B. 2008 beim Bruttoinlandsprodukt mit 71 % je Einwohner und der Produktivität mit 79 % der westdeutschen Bezugsgröße) (vgl. Bundesverkehrsministerium 2009, S. 5). Infolgedessen sind zahlreiche ländliche Regionen Ostdeutschlands heute durch eine erhebliche Strukturschwäche gekennzeichnet, die sich „in eine Abwärtsspirale kumulierender negativer Entwicklungen hinein“ (Dehne 2009, S. 50) zu verstetigen droht. Die zu beobachtenden Strukturschwächen – hohe Unterbeschäftigung, überwiegend niedrige Einkommen, geringe wirtschaftliche Dynamik, negative Wanderungssalden usw. – sind zu einem nicht unwesentlichen Anteil soziale Folgen des Strukturwandels in der Landwirtschaft zwischen 1990 und 1995. Denn zu DDR-Zeiten (1988/89) lag der Beschäftigungsanteil des Agrarsektors noch ausgesprochen hoch: In ländlichen Gemeinden stellten die sozialistischen Agrarbetriebe faktisch häufig die einzigen Arbeitsstätten mit lokalen Beschäftigungsquoten von deutlich über 50 % dar (vgl. Laschewski; Neu; Fock 2008, S. 397). Ein mehr als 80-prozentiger Arbeitsplatzabbau in wenigen Jahren, in Verbindung mit deutlich zu geringem Wachstum bei alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten, führte zwangsläufig zu den zu beobachtenden überproportionalen Arbeitslosenquoten in ländlichen Regionen. In vielen anderen mittel- und osteuropäischen Reformländern übernimmt der Agrarsektor dagegen eher die Funktion eines sozialen Puffers und hat z.B. in Rumänien und Bulgarien sogar zu einer temporären Reagrarisierung geführt. Durch den besonderen Transformationspfad in Ostdeutschland, insbesondere die übergangslose Integration in den Wirtschaftsraum der Europäischen Union, konnte sich diese mögliche Funktion des Agrarsektors nicht herausbilden. In vielen ländlichen und peripheren Gemeinden ergibt sich daher heute das Bild eines produktiven und zugleich einkommensstarken Agrarsektors, der sich jedoch nur auf das Leben ­einiger weniger Personen im Dorf auswirkt und daher große soziale Unterschiede zwischen Gewinnern und Verlierern des Transformationsprozesses erzeugt. Ländlichen Gemeinden ist es in unterschiedlicher Weise gelungen, die zuvor von den sozialistischen Agrarbetrieben mit übernommenen Funktionen in der sozialen und infrastrukturellen Daseinsfürsorge neu zu etablieren. Während die technische Infrastruktur durch zahlreiche Förderprogramme ausgebaut werden

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konnte, hat sich soziales ländliches Leben, das traditionell stark auf bürgerschaftlichem Engagement fußt, nicht flächendeckend entwickeln können. In erfolgreichen Gemeinden, d.h. Gemeinden, die sich auch in einem problematischen wirtschaftlichen Umfeld positiv entwickeln konnten, haben sich i.d.R. funktionsfähige zivilgesellschaftliche Strukturen etabliert. Dagegen ist die soziale Bedeutung von Landwirtschaftsbetrieben für das dörfliche Leben stark geschrumpft. Funktionsfähige landwirtschaftliche Betriebe können zwar immer noch geschätzte Beiträge für das soziale Leben im Dorf liefern, haben aber ihre zentrale Stellung aus vorherigen und DDRZeiten vollständig eingebüßt. Sie sind letztendlich keine notwendige Voraussetzung mehr für eine erfolgreiche gemeindliche Entwicklung (vgl. Laschewski; Neu; Fock 2008, S. 400).

Aufkommende „Leutenot“ in landwirtschaftlichen Betrieben – Fachkräftemangel in einem dynamischen Wirtschaftssektor Der schnelle Arbeitskräfteabbau zu Beginn der 1990er-Jahre hat sich nicht gleichmäßig über alle Altersklassen der Beschäftigten vollzogen. Für Erwerbstätige mit einem Alter von 55 Jahren und älter wurden Vorruhestandsregelungen angeboten, sodass die entsprechenden Altersklassen damals kaum noch besetzt waren. Jüngere Beschäftigte bis etwa 30 Jahre schieden aufgrund höherer Mobilität und geringerer Abfindungsansprüche ebenfalls überproportional häufig aus. Abbildung 1 stellt die Altersstruktur der aktuell in der Landwirtschaft beschäftigten Personen dar. Abbildung 2: Altersstruktur der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in Mecklenburg-Vorpommern, 2007

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Aus der Abbildung wird deutlich, dass insbesondere die Altersklasse zwischen 45 und 54 Jahren überproportional besetzt ist. Für höhere Altersklassen ist von einem verstärkten Übertritt in die Altersrente auszugehen. Jüngere Altersklassen sind dagegen deutlich schwächer besetzt und erreichen bei den 25- bis 34-Jährigen (nach Abschluss der Ausbildungsphase) weniger als ein Drittel der mittleren und älteren Altersklassen. Insgesamt spiegelt die Altersklassenstruktur zeitversetzt die Folgen des Personalabbaus der 1990er-Jahre und den damaligen geringen Anteil von Berufseinsteigern entsprechend wider. Für die Beschäftigungssituation im ostdeutschen Agrarsektor wirken damit die Entwicklungen der Zeitspanne von 1990 bis 1995 noch länger fort und werden für die kommenden zwanzig bis dreißig Jahre immer wieder Sprünge in der Personalentwicklung (demografische Wellen) auslösen. Verschiedene Untersuchungen haben sich mit dem zukünftigen Personalbedarf in der ostdeutschen Landwirtschaft beschäftigt (Winge und Wiener, 2009; Fock und Fechner, 2002). Vor dem Hintergrund der im Vergleich zu westdeutschen Regionen weiterhin relativ großen Bedeutung des landwirtschaftlichen Sektors in ländlichen Regionen, der hohen Wettbewerbsfähigkeit und den besonderen Problemen auf dem Arbeitsmarkt wurden diese Untersuchungen zur Prognose des Arbeitskräftebedarfs vorgenommen. In Westdeutschland, wo eine Familienarbeitsverfassung vorherrscht, ist für die weitere Arbeitskräfteentwicklung die Hofnachfolgesituation ausschlaggebend, für die durch die amtliche Agrarstatistik entsprechende Daten bereitgestellt werden. In der ostdeutschen Landwirtschaft dominieren hingegen weiterhin Lohnarbeitskräfte (rd. 75 %), sodass sich Analysen zur Arbeitskräfteentwicklung und den zukünftigen Bedarf von Fachkräften vorrangig auf Befragungen stützen müssen (vgl. u.a. Wiener 2005, S. 107; Fasterding 2003, S. 350, Müller; Fock 1996, S. 410). Die Mehrzahl der Prognosen – bezogen auf unterschiedliche ostdeutsche Bundesländer und Zeiträume – kommen beim Vergleich der aktuellen Anzahl von Auszubildenden in landwirtschaftlichen Berufen und dem prognostizierten Arbeitskräftebedarf zu dem Ergebnis, dass für die Zukunft ein deutlicher Fachkräftemangel zu erwarten ist. So wird für Sachsen-Anhalt ein jährlicher Fehlbedarf von 100–200 Personen (Neuzugänge im Vergleich zu ausscheidenden Personen) und für Brandenburg in ähnlicher Größenordnung vorausgesagt. 2007 wurden für die ostdeutschen Bundesländer rund 1800 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen, für Mecklenburg-Vorpommern rund 300. In Mecklenburg-Vorpommern liegt der Anteil entsprechender Ausbildungsverträge bei 1,2–1,3 % aller Schulabgänger bzw. 1,9–2,0 % der Schulabgänger mit Hauptschul- und Realschulabschluss. Der Ausbildungsanteil in der Landwirtschaft liegt damit deutlich unter dem in den letzten Jahren relativ konstant gebliebenen Beschäftigungsanteil von rund 4 %. Auch für die Zukunft ist davon auszugehen, dass aufgrund des Geburtenrückgangs nach 1990 die Zahl der Auszubildenden stark rückläufig sein wird. Bei den Schulabgängern wird gegenüber 2005 bereits für 2010 ein Rückgang um 48 % und bis 55 % in 2020 für Haupt- und Realschüler sowie für alle Schulabgänger um immerhin 45 % bzw.

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47 % erwartet. Für die langfristige Bevölkerungsentwicklung bis 2030 wird ein weiterer Geburtenrückgang um 33 % für Mecklenburg-Vorpommern bzw. durch die verstärkte Abwanderung sogar von 41 % für den Landkreis Ostvorpommern prognostiziert (vgl. Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2009, S. 3 ff.; Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern 2008, S. 30). Sollte der Anteil der in der Landwirtschaft ausgebildeten Fachkräfte (abgeschlossene Ausbildungsverträge) an den Schulabgängern konstant bleiben, würde dies einen Rückgang auf etwa 150–160 Neuzugänge in 2010 und 130–155 in 2020 bedeuten. Das alles verweist darauf, dass es dem Agrarsektor in allen (untersuchten) ostdeutschen Regionen bisher daher offensichtlich nicht gelungen ist, ausreichend beruflichen Nachwuchs für den zukünftigen Bedarf zu qualifizieren. Durch den demografisch bedingten deutlichen Rückgang der Schulabgänger dürfte sich diese Entwicklung bereits in der näheren Zukunft massiv verstärken, zumal das altersbedingte Ausscheiden von Beschäftigten ebenfalls an Dynamik gewinnt. Eine „Leutenot“, soweit diese nicht bereits spürbar ist,148 zeichnet sich daher für die kommenden Jahre nahezu zwangsläufig ab. Fehlende Fachkräfte dürften sich dann nicht nur negativ auf die wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven des Agrarsektors auswirken, sondern auch auf die Entwicklung der ländlichen Gesellschaft überhaupt. Ob überregio­nale Migration, z.B. aus mittel- und osteuropäischen Ländern, den potenziellen Fehlbedarf ausgleichen kann, ist zweifelhaft, da bisherige Migration vor allem in die Ballungsgebiete hinein und weniger in peripheren ländlichen Räumen stattfindet. Daher wird es zunehmend schwieriger werden, die regionalwirtschaftlichen Potenziale des Agrarsektors in ländlichen Regionen mit Strukturproblemen, wie dem Landkreis Ostvorpommern, vollständig auszuschöpfen.

Fazit Die früher dominierende Rolle des landwirtschaftlichen Sektors für das wirtschaftliche und soziale Leben in ländlichen Räumen ist unwiderruflich verschwunden. Diese Entwicklung ist in Ostdeutschland durch den besonders schnellen Anpassungsprozess mit erheblichen sozialen­Folgen verbunden. Als wichtigste Konsequenz hat sich eine überproportional hohe und lang anhaltende Arbeitslosigkeit herausgebildet. Für den landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt sind die Folgen auch für die kommenden Jahrzehnte bedeutsam. Die „Leutenot“ scheint aber durch die gesunkene Bedeutung des Agrarsektors nicht die politische und soziale Aufmerksamkeit zu erlangen, die sie noch am Endes des 19. Jahrhunderts hatte. Für den ostdeutschen Agrarsektor zeichnen sich zwei verschiedene mittel- bis langfristige­ Trends ab, die zu einer sich differenzierenden Entwicklung führen könnten. Zum einen gibt 148 Z.B. Nordkurier-Beitrag vom 14.07.2009 „Mirower Agrarbetrieb mit Nachwuchssorgen“.

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es günstige Voraussetzungen für eine am Weltmarkt orientierte Landwirtschaft, die mit geringen Produktionskosten und hoher technischer Effizienz arbeiten kann. Zum anderen gibt es eine gegenläufige Entwicklung, hin zu stärker regionalisierten Kreisläufen, häufig in Verbindung mit ökologischen Produktionsweisen. Gerade für den zweiten Bereich könnte es in Zukunft auch wieder eine stärkere Zuwanderung in ländliche Regionen Ostdeutschlands (Stichwort „Raumpioniere“) geben, die scheinbar unumkehrbare demografische Trends verändern könnte.

Literatur: Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern: Zur Entwicklung eines zukünftigen Bildungssystem in Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 2008. Bundeslandwirtschaftsministerium: Statistisches Jahrbuch über Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Münster 2009 und frühere Jg. (Internetquelle gelöscht). Bundesverkehrsministerium: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2009, Berlin 2009. Dehne, Peter (2009): „Politik für periphere ländliche Regionen“, Flächenmanagement und Bodenordnung, (71)2. S. 49–55. Fasterding, Ferdinand (2003): „Fachkräftemangel in der Landwirtschaft?“, Bildung und Beratung Agrar, 12, S. 350–353. Fock, Theodor; Fechner, Jürgen (2002): Analyse des landwirtschaftlichen Fachkräfte- und Bildungsbedarfs im Land Brandenburg. In: Schriftenreihe der Fachhochschule Neubrandenburg, Reihe A, Band 19, 95 S., Neubrandenburg. Gabka, Dieter: Zu Ergebnissen der Rückrechnung in der Agrarstatistik, Teil 1–3, in: Statistische Monatshefte Mecklenburg-Vorpommern, 06/1997, S. 21–34 (Teil 1), 07/1999, S. 14–28 (Teil 2), 03/2001, Schwerin, S. 53–66 (Teil 3). Gullstrand, Joakim; Tezic, Kerem: „Who leaves after entering the primary sector?“ Evidence from Swedish microlevel data, European Review of Agricultural Economics (35)1. S. 1–28. Kleinpeter, Gabriele (1996): „Zur Arbeitskräfteentwicklung in der Landwirtschaft MecklenburgVorpommern 1989 bis 1995“, Statistische Monatshefte Mecklenburg-Vorpommern, 9. S. 9–22. Laschewski, Lutz; Neu, Claudia; Fock, Theodor (2008): „Aktive Bürgerschaft in der ländlichen Entwicklung. Fünf Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern“, Berichte über Landwirtschaft, (86)3. S. 385–409. Meier, Artur; Müller, Jörg: Die letzte Generation? Jugend und Familie auf dem Lande in Ost­ deutschland und in den USA. Ein empirischer Vergleich während der Agrarrevolution, Berlin: trafo verlag 1997, 230 S.

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Müller, Martin; Fock, Theodor: „Arbeitskräftestrukturen und Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft Mecklenburg-Vorpommern“, in: Berichte über Landwirtschaft, Bd. 74 (1996), S. 410–425. Petrick, Martin; Weingarten, Peter: „The role of agriculture in Central and Eastern European rural development: an overview“, in: The Role of Agriculture in Central and Eastern Euro­ pean Rural Development: Engine of Change or Social Buffer, hg. von Martin Petrick; Peter Weingarten, IAMO, Volume 25, Halle/Saale 2004, S. 1–21. Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern: 4. Landesprognose zur Bevölkerungsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern bis 2030. in: Statistische Hefte, 1/2009, Schwerin, S. 3–117. Staatliche Zentralverwaltung: Statistisches Jahrbuch der DDR, 1989, Berlin und früherer Jg. Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern: Arbeitskräfte in den landwirtschaftlichen Betrieben, Fachserie C IV-2j, Schwerin 2008 und frühere Jg. Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern: Statistische Daten 1950–1990, Schwerin 1996. Wiener, Bettina (2005): „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben …“, Bildung und Beratung Agrar, 2. S. 107–111. Winge, Susanne; Wiener, Bettina (2009): Fachkräftesicherung in der Landwirtschaft Sachsen-Anhalts – Eine große Herausforderung. Forschungsbericht aus dem zsh 09-02, 59 S., ­Halle.

„Auf dem Land die Tradition, in der Stadt der Trend?“ Die Suche nach einer typisch ländlichen Ernährungsweise Angela Häussler Zusammenfassung: Mit einer ländlichen Ernährung wird zunächst eine natürlichere, gesündere Ernährungsweise assoziiert. Ein erster Blick auf die konkrete Lebenssituation in ländlichen Regionen kann dieser Einschätzung jedoch nicht standhalten. Leider können weder statistische Daten noch aktuelle empirische Studien zum Ernährungsverhalten Aufschluss über spezifisch ländliche Ernährungsweisen geben. Anhand von kulturhistorischen Erkenntnissen kann gezeigt werden, dass es schon im 19. Jahrhundert keine klare Trennung von städtischer und ländlicher Ernährung gegeben hat und dass sich spätestens mit den 1930er-Jahren eine bürgerliche Ernährungsweise als Leitfigur für breite Schichten in der Stadt und auf dem Land durchgesetzt hat. Agrarsoziologische Arbeiten weisen jedoch deutlich auf eine charakteristische Struktur ländlicher Lebensstilmuster hin, die sich auch in ernährungskulturellen Elementen widerspiegelt. Es ist jedoch verfehlt, allgemein von dem Land zu sprechen – regionale Aspekte sind im Zusammenhang mit ländlichen Ernährungsweisen nicht nur aktuell von großer Bedeutung, sondern auch viel differenzierter zu erforschen, als das bislang geschieht. Schlüsselwörter: Ländliche Ernährungsweisen, Ernährungsverhalten, Lebensstilmuster

Im allgemeinen Alltagsverständnis ist die ländliche Ernährung verbunden mit der Vorstellung einer natürlichen, unverfälschten und gesünderen Kost – so wie es früher war (vgl. Lesniczak 2002a, S. 193; Matter 1990, S. 23). In der Dichotomie „Land-Stadt“ ist demnach auch die Dichotomie „früher-heute“ enthalten (vgl. Spellerberg 2004, S. 38). In der aktuellen Medienlandschaft spiegelt sich dieses romantische Bild des Lebens und der Ernährung auf dem Land in Form von sehr erfolgreichen Print-Produkten wie „LandLust“ oder „Liebes Land“ sowie in TV-Formaten wie z. B. die „Landfrauenküche“ (3. Programm des Norddeutschen und des Bayrischen Rundfunks) wider. Hinsichtlich der konkreten Alltags- und Lebensbedingungen der Menschen in ländlichen Regionen finden sich jedoch auf den ersten Blick wenige Anhaltspunkte, die diese medialen Vorstellungen stützen können. Durch den Strukturwandel von Landwirtschaft und Lebensmitteleinzelhandel in den letzten Jahrzehnten sind die Hauptversorgungsquellen auch auf

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dem Land nicht mehr der eigene Garten und Stall, sondern die gleichen Supermärkte und Discounter wie in der Stadt. In der öffentlichen Diskussion sind daher in diesem Zusammenhang vor allem die Versorgungsprobleme der peripheren ländlichen Regionen präsent: Kleinere Läden oder Filialen schließen und eine nahräumige Versorgung kann nicht mehr gewährleistet werden. Vor allem für nicht-automobile Bevölkerungsgruppen stellt diese Entwicklung ein großes Problem in der Alltagsversorgung dar. Auf den folgenden Seiten wird der Frage nachgegangen, ob es eine prototypische ländliche Ernährungsweise gibt und wie diese aussieht.

Datenlage und Vorgehensweise An dieser Stelle ist vorwegzuschicken, dass eine pauschale Betrachtung von „dem Land“ kaum möglich ist. Die OECD differenziert ländliche Räume nach drei Gebietskategorien: 1. Ländliche Gebiete: Anteil der in ländlichen Gemeinden (unter 150 Einwohner/km 2) lebenden Menschen über 50 %; 2. Übergangsregionen: Anteil der in ländlichen Gemeinden lebenden Menschen 15–50 %; 3. Städtische Regionen: Anteil der in ländlichen Gemeinden lebenden Menschen unter 15 % (Netzwerk Ländliche Räume, online, 2009). Für die spezifischen Lebensbedingungen und den Ernährungsalltag ist es nicht unerheblich, ob sich der Blick auf ein zentrales ländliches Gebiet mit geografischer Nähe zu Ballungsgebieten richtet, ob es sich um entfernter gelegene Randzonen mit günstiger Infrastruktur oder um benachteiligte periphere ländliche Regionen handelt (vgl. Watz 1990, S. 92). Für einen tieferen Einblick in das Verständnis von Ernährungsweisen wären auch regionale Abgrenzungen nötig, da gerade in der Ernährung regionale Mentalitäten von großer Bedeutung sind (vgl. Spellerberg 2004, S. 47). Aufgrund der Datenlage ist diese Differenzierung allerdings nicht möglich. Die großen repräsentativen Ernährungs- und Verbrauchserhebungen können auf die Frage nach einer ländlichen Ernährungsweise keine Antwort geben. Die alle fünf Jahre vom Statistischen Bundesamt durchgeführte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ermöglicht lediglich eine Differenzierung nach Bundesländern. Auf dieser Betrachtungsebene gibt es bei einem Vergleich von Flächenländern wie z. B. Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern und „Stadtstaaten“ wie Hamburg oder Bremen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es einen Unterschied zwischen städtischer und ländlicher Ernährungsweise geben könnte. Aufgrund der sehr groben Analyseebene sind hieraus jedoch keine gültigen Schlüsse zu ziehen (Statistisches Bundesamt 2003, S. 18 ff.). Die 2007 abgeschlossene, bundesweit repräsentative

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Nationale Verzehrsstudie II (NVS) hat zwar bei der Datenerhebung nach Gemeindegrößen differenziert, bisher liegt jedoch keine Auswertung dieser Daten vor. Allerdings lassen sich auf Basis der NVS-Daten Aussagen über regionale Aspekte der Ernährung treffen – Betrachtungsebene sind auch hier die Bundesländer. So zeigen sich zum Teil deutliche Ost/WestUnterschiede, während ausgeprägte Nord/Süd-Unterschiede nicht nachgewiesen werden können: In den neuen Bundesländern wird etwa 50 g mehr Brot pro Tag gegessen als in den alten Ländern. Der höhere Fettkonsum ist vermutlich direkt damit in Verbindung zu bringen, dass es sich überwiegend um Streichfette handelt. Dieser fällt bei den Männern im Osten mit etwa 15 g mehr pro Tag deutlich höher aus als im Westen. Auffallend ist auch, dass der Gesamt-Fleischkonsum im Osten etwas höher ausfällt als in den westlichen Bundesländern und dies deutlich auf das Konto von Wurstwaren und Fleischerzeugnissen geht. So essen Männer in Thüringen täglich etwa 30 g mehr aus dieser Produktgruppe als die Männer in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen. Beim Fleisch wird die Liste dann jedoch von den Männern aus Rheinland-Pfalz, Hamburg und Nordrhein-Westfalen angeführt. Auch Limonaden sind bei Männern im Osten deutlich beliebter als im Westen – bei Frauen lässt sich in diesem Punkt kein Ost/West-Unterschied feststellen. Der Wasserkonsum liegt allerdings bei beiden Geschlechtern in den neuen Ländern unter dem Verbrauch der Männer und Frauen aus dem Westen. Auch Kaffee und Tee haben zumindest bei den Männern im Osten keine so große Bedeutung. Dafür sind sie beim Bierkonsum – zusammen mit den Bayern – führend: Männer in Sachsen, Bayern und Brandenburg trinken im Schnitt etwa 200 g pro Tag mehr als die Geschlechtsgenossen in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Beim Wein- und Sektkonsum liegen wiederum die westlichen Bundesländer deutlich vorn. Nicht überraschend ist, dass die Spitzenplätze hier von den Männern in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg belegt werden, sie trinken pro Tag im Schnitt 50 g mehr Wein oder Sekt als die Thüringer, Brandenburger und Mecklenburger. Hamburg sticht mit einem höheren Fischkonsum heraus, dieser lässt sich aber nicht auf alle nördlichen Bundesländer übertragen. Auch in Sachsen und Brandenburg wird deutlich mehr Fisch gegessen als zum Beispiel in Rheinland-Pfalz oder in Bremen (vgl. Max-Rubner-Institut 2008, S. 69 ff.). Auch die Ernährungsstile-Studie des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) erfasst den Wohnort nicht als Kriterium für die Ermittlung von Ernährungsstilen (vgl. Stieß; Hayn 2005, S. 15ff.). Größere ernährungssoziologische Arbeiten können in diesem Punkt ebenfalls nicht weiterhelfen (Barlösius 1999; Prahl; Setzwein 1999). Die Datenlage deutet also darauf hin, dass Wohnortgröße und räumliche Struktur des Lebensumfelds bislang nicht als relevantes Kriterium für die Erforschung von Ernährungsweisen begriffen wurden. Die Frage, ob dies tatsächlich so ist und ob es keine Unterschiede zwischen ländlicher und städtischer Ernährung gibt, lässt sich auf der Basis ernährungsbezogener Daten jedoch nicht beantworten. Zweifel speisen sich aus den Erkenntnissen der agrarsoziologischen Forschung. Diese

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betont zwar auch, dass sich keine spezifisch ländlichen Lebensweisen identifizieren lassen, aber in mehreren Studien zeigt sich durchaus eine deutlich andere Verteilung von Lebensstilen zwischen Stadt und Land (vgl. Richter 2004, S. 112f; Spellerberg 2004, S. 46). Spellerberg weist auf eine Leerstelle der Forschung hin: Schon seit den Anfängen der Lebensstil- und Sozialstrukturforschung stehen die städtischen Lebensbedingungen im Vordergrund (Spellerberg 2004, S. 39).149 Da das Essen als soziales Totalphänomen (vgl. Mauss 1990 zit. n. Barlösius 1999, S. 46) eng mit dem jeweiligen Lebensstil verbunden ist, verspricht dieser Zugang zumindest erste Erkenntnisse über ländliche Ernährungsweisen und soll im weiteren Verlauf aufgegriffen werden. Weiterhin kann die ethnologisch-historische Nahrungsforschung einen Aufschluss über die Entwicklung moderner Ernährungsweisen im Zuge der Industrialisierung in Deutschland geben (vgl. Lesniczak 2002a, S. 193; Teuteberg; Wiegelmann 2005). Bei der Beschäftigung mit einer ländlichen Ernährungsweise wird immer auch das Pendant, die „städtische Ernährungsweise“ mitgedacht und als Gegensatz verstanden. Daher soll zunächst mithilfe von ernährungshistorischen Erkenntnissen die Entstehung der aktuellen gesellschaftlichen Ernährungsweise mit einem besonderen Blick auf die Beziehungen zwischen Stadt und Land dargestellt werden. Welchen Realitätsgehalt lassen sich die Dichoto­ mien „Land-Stadt“, „früher-heute“, „natürlich-künstlich“ bescheinigen?

Früher ländlich, heute städtisch?! Der historische Wandel der gesellschaftlichen Ernährungsweise in Deutschland durch die Industrialisierung Um die heute praktizierte Ernährungsweise und die strukturellen Beziehungen zwischen Stadt und Land zu verstehen, ist vor allem die Phase der Hochindustrialisierung rund um die letzte Jahrhundertwende und die Ausbreitung des modernen Massenkonsums seit den 1950erJahren interessant (vgl. Spiekermann 2008, S. 19). Der Fokus ist dabei auf die Entwicklungen in Deutschland gerichtet, diese sind jedoch immer im Kontext der Prozesse in anderen europäischen Ländern zu sehen. Vor dem Hintergrund geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse ist eine klare Entwicklungsrichtung der gesellschaftlichen Ernährungsweise zu identifizieren, auch wenn die Prozesse je nach Region und sozialer Schicht differenziert zu betrachten sind (vgl. Becher 1990, S. 85). Bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, in manchen Regionen bis in das 20. Jahrhundert hinein, bestand die Ernährung der einfachen ländlichen Bevöl149 Es lässt sich vermuten, dass es sich hier um eine mit dem in der Sozialforschung bekannten „Mittelschichts-Bias“ vergleichbare Verzerrung durch die subjektive Perspektive der Forschenden handelt.

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kerung überwiegend aus Brot oder Getreidebreien, die auf einer einflammigen Kochstelle zubereitet wurden und mit dem Löffel aus einer Schüssel gegessen wurden (vgl. Becher 1990, S. 74). Gemüse spielte in der Ernährung keine zentrale Rolle (vgl. Teuteberg 2003, S. 32). Trotz fortschreitender Urbanisierung im 19. Jahrhundert lebte der größte Teil der Bevölkerung auch um 1900 noch auf dem Land (vgl. Brockhaus online, 22. 09. 2009). Wenn auch die Kommerzialisierung der Lebensmittelversorgung schon im 19. Jahrhundert ihren Anfang nimmt, war die Selbstversorgung für die meisten Menschen vorherrschend. Nur einmal im Jahr wurde das eingekauft, was nicht selbst produziert werden konnte (vgl. Hirschfelder 2001, S. 201). Die Ernährung der Bauern und Landarbeiter um die Jahrhundertwende wird als monoton und grob beschrieben. Sie bestand überwiegend aus Kartoffeln, grobem Brot, im Süden Mehlspeisen und Gemüsebreien. Tierische Lebensmittel wie Fleisch, Milch und Eier waren Luxusprodukte und wurden eher verkauft als selbst verzehrt (Lesniczak 2002a, S. 194; Becher 1990, S. 74). Teuteberg und Wiegelmann beschreiben, dass in ländlichen Gebieten die regionale Prägung einen deutlich stärkeren Einfluss hatte als die sozialen Unterschiede. Außer in großen Gutshöfen aß das Gesinde zusammen mit den Bauersleuten an einem Tisch (vgl. 2005, S. 257). Die Ernährungsweise der bürgerlichen Schicht in den Städten veränderte sich jedoch schon im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die vielfältigen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse im Zuge der Industrialisierung. Für die Ernährung waren vor allem folgende Entwicklungen von Bedeutung: ‚‚ Produktionssteigerung durch die Agrarrevolution (Kunstdünger, Fruchtwechselwirtschaft und Mechanisierung der Landwirtschaft). Waren um 1800 noch vier Bauern nötig, um einen nicht landwirtschaftlichen Verbraucher zu ernähren, versorgte ein Bauer um 1900 bereits vier Verbraucher. ‚‚ Auflösung der Bindung zwischen Wohnort und Produktionsort der Nahrung durch die Transportrevolution (Überseeschifffahrt, Eisenbahn). ‚‚ Neuorganisation des Handels: Expansion des Kleinhandels und Entwicklung neuer Handelsstrukturen. Auch der Wegfall von Zollgrenzen und Währungssystemen unterstützte diese Entwicklung und führte zu einer Annährung der deutschen Territorien. ‚‚ Verbesserung der Konservierungsmethoden und Entstehung der industriellen Lebensmittelverarbeitung (vgl. Hirschfelder 2001, S. 186 ff; Montanari 1993, S. 189). Das führte dazu, dass nun bestimmte Waren wie Kaffee, Tee, Zucker oder Reis, die sich im 18. Jahrhundert nur sehr Wohlhabende leisten konnten, breiteren Bevölkerungsgruppen zur Verfügung standen. Bürgerliche Kreise übernahmen im 19. Jahrhundert die Esskultur der höfischen Gesellschaft. Dabei setzte sich neben den verfeinerten Tischsitten auch eine veränderte Zusammensetzung und Abfolge der Mahlzeiten durch. Der „doppelte Dreiklang“ der

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heutigen Ernährungsweise mit Frühstück-Mittagessen-Abendessen und der Zusammensetzung der Hauptmahlzeit aus Fleisch-Gemüse-Kartoffeln entwickelte sich in dieser Zeit (vgl. Becher 1990, S. 85). Um 1900 erreichte dieses Ernährungsmodell dann auch die ländlichen Haushalte und die Unterschicht. Ein Blick auf die sozialen Prozesse dieser Entwicklung kann weiteren Aufschluss über das sich verändernde Verhältnis von Land und Stadt geben. So war die mangelhafte Ernährung der Industriearbeiter ein großes Problem dieser Zeit. Sie konnten nicht auf die bäuerliche Selbstversorgung zurückgreifen. Durch die Einbindung von Männern und Frauen in die industrielle Produktion, die durch den Takt der Maschinen vorgegeben war, blieb wenig Zeit zum Kochen und Essen. Weder der Rückgriff auf die Ernährungstraditionen ihrer Herkunftsregionen noch die Entwicklung einer eigenen Mahlzeitenkultur war für die Fabrikarbeiter und städtischen Unterschichten möglich. Der karge Lohn der frühen Indus­ trialisierung ließ nur einen sehr engen Nahrungsspielraum zu (vgl. Hirschfelder 2001, S. 205; Becher 1990, S. 88). Die Sozialpolitik entdeckte den Zusammenhang zwischen Ernährung und Volksgesundheit – im „Kochtopf der Arbeiterfrau“ wurde die Lösung der sozialen Frage gesehen (vgl. Lesniczak 2002a, S. 196). Daher wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts flächendeckend Haushaltschulen gegründet. Diese orientierten sich an der bürgerlichen Ernährungsweise, unterwiesen wurden vor allem Arbeitertöchter und städtische Dienstmädchen. Lesniczak weist darauf hin, dass die Ernährung der ländlichen Bevölkerung in dieser Zeit nicht gesünder ausgesehen hat. Durch die Einführung von Geldlohn in der Landwirtschaft nahmen die Landarbeiter nun nicht mehr am bäuerlichen Familienessen teil. Dies führte aufgrund der recht knappen Entlohnung einerseits zu einer Verschlechterung der Ernährungsbedingungen für die Landarbeiter, andererseits begünstigte die Auflösung der Tischgemeinschaft die Orientierung an städtischen Ernährungsmustern (vgl. Lesniczak 2002a, S. 195; Haustein 2007, S. 80). Auch die städtischen Dienstmädchen trugen das in den Haushaltsschulen Gelernte in ihre ländlichen Heimatregionen. Da sich die Ernährung nur noch zum Teil an traditionellen Mustern orientierte, waren neue Wege der Kulturvermittlung nötig. Die bisher nur in bürgerlichen Kreisen verbreiteten Kochbücher wurden nun auch für breitere­Schichten bedeutend150 (vgl. Hirschfelder 2001, S. 199 ff; Schlegel-Matthies 1997, S. 213 f.). Die Angleichung ländlicher und städtischer Ernährungsmuster spiegelt sich deutlich in den Kochbüchern wider, diese orientieren sich seit den 1930er-Jahren an der städtischen, bürgerlichen Ernährungsweise. Die Nivellierung zwischen städtischer und ländlicher Alltagskultur ist dabei nicht nur für die Ernährung zu beobachten, sondern zeigt sich auch in ande150 Eine Voraussetzung dafür war die Verbesserung der allgemeinen Schulbildung und die Reduzierung der Buchpreise – Entwicklungen, die ebenfalls in diese Zeit fallen (vgl. Schlegel-Matthies 1997, S. 213).

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ren Bereichen wie z.B. Kleidung oder Wohnen. Es ist allerdings auch zu betonen, dass es nie eine klare Dichotomie zwischen der bäuerlichen und der städtischen Lebensweise gab. Schon vor Beginn der Industrialisierung gab es die Beeinflussung der Esskultur auf dem Land durch die Stadt. Auf der anderen Seite kam es nirgends zu einem völligen Verlust traditioneller bäuer­licher Kulturelemente (vgl. Lesniczak 2002a, S. 195 ff.).

Regionale Perspektiven 151 mit Blick auf die Entwicklung in Pommern Analysen von Kochbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen weiterhin, dass die Orientierung des Adels an der französischen Küche über das Bürgertum zu einer überregionalen Angleichung der Küche geführt hat. Auch die innerdeutsche Durchlässigkeit für regionale Spezialitäten spiegelt sich hier wider. So ist z.B. die „baierische Suppe“ in westfälischen und norddeutschen Kochbüchern zu finden (vgl. Schlegel-Matthies 1997, S. 216). Auch das „Pommersche Kochbuch“ von 1925 steht unter dem Einfluss der französischen Küche und enthält Rezepte für Ragouts, aber auch für Wiener Schnitzel oder Hamburger Rauchfleisch (vgl. Lesniczak 2002b, S. 138). Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts ist es auf dem Land in der Provinz Pommern schwierig, Arbeitskräfte zu finden. Um eine Abwanderung der Landarbeiter in die Städte zu verhindern, musste häufig neben Kost und Logis ein höherer Geldlohn gezahlt werden. Auf dem Land konnte die Ernährung der Landarbeiter daher auch im Vergleich zu benachbarten Regionen als verhältnismäßig reichhaltig, aber ausgesprochen anspruchslos und monoton bezeichnet werden. Auf den Tisch kamen überwiegend selbst erzeugte Speisen: Am Morgen gab es Brot, Grütze aus Buchweizen oder Milch- und Mehlsuppen und dazu Ersatzkaffee aus gebranntem Getreide und Zichorie. Zum zweiten Frühstück gab es Brot mit Schweine- oder Gänseschmalz. Die Hauptmahlzeit am Mittag war meist „Zusammengekochtes“ aus Hülsenfrüchten (Erbsen oder weiße Bohnen), Pökelfleisch, Kartoffeln und Gemüse (Kohl, Rüben). Der Eintopf wurde in einer gemeinsamen Schüssel aufgetragen und mit eigenen Blechlöffeln gegessen; Kartoffeln wurden direkt auf den Tisch geschüttet. Die Fleischmengen waren mit etwa 50 g pro Person knapp berechnet, Kartoffeln wurden dagegen

151 Wenn im Kontext von Ernährungsweisen der Begriff der Region verwendet wird, bezieht sich dies auf einen geografisch definierbaren Raum, der sich von den Nachbargebieten abgrenzt und hinsichtlich spezifischer Attribute homogen ist. Eine Region kann politische Grenzen sowohl über- als auch unterschreiten. Esskultur gilt dabei als ein prägendes Merkmal der Regionalität (vgl. Lesniczak 2002b, S. 30).

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in enormen Mengen verzehrt. Tagelöhner bekamen in Pommern 12,5 kg Kartoffeln pro Woche. Auch Brot spielt eine wichtige Rolle. Am Nachmittag gab es wieder Brot mit Schmalz wie am Vormittag. Das Abendessen bestand zwei bis dreimal die Woche aus Kartoffeln mit Hering, ansonsten gab es Reste vom Mittag ohne Fleisch oder Kartoffeln mit Sauermilch, gelegentlich Eierspeisen (vgl. Lesniczak 2002b, S. 199 ff.). Außer Kohl und Rüben spielte Gemüse keine wesentliche Rolle in der pommerschen Ernährung auf dem Land, ihm wurde­ kein Sättigungswert zugesprochen. Ebenso verhielt es sich mit Obst. Sauerkraut war im Gegensatz zu vielen anderen Regionen Deutschlands unbekannt. Auch Wild und Geflügel hatte in dieser Region keinen festen Platz auf den Speiseplänen. Fisch wurde aber gelegentlich frisch zubereitet. Etwa einmal die Woche kam mittags Hering, Flunder oder Barsch gebraten auf den Tisch. Um die 1930er-Jahre lassen sich deutliche Einflüsse der Hamburger Küche in Pommern nachweisen. Am Sonntag gab es Braten und als Süßspeise war Milchreis mit Sahne beliebt. Die in anderen Regionen schon verbreiteten Puddings und Cremes sind auf dem Land in Pommern noch nicht verbreitet (Lesniczak 2002b, S. 235 ff.).

Heutige Situation der Nahrungsmittelproduktion im ­l ändlichen Raum Bis in die 50er-Jahre war die Ernährung in Deutschland durch die beiden Kriege in vielen Regionen durch Mangel und Hunger geprägt. In diesen Zeiten war die Versorgung aus dem eigenen Garten in ländlichen Räumen zum Teil lebensnotwendig. Auch die Verwandtschaft in den Städten wurde mit versorgt, der Schwarzmarkt mit Lebensmitteln blühte (vgl. Wildt 1994, S. 31 ff; Hirschfelder 2001, S. 238). Der nächste Entwicklungssprung vollzog sich in Westdeutschland zu Beginn der 50er-Jahre mit dem Wirtschaftswunder. Die oben beschriebenen­Modernisierungsprozesse schritten weiter fort. Industriell produzierte Lebens­ mittel wurden zunehmend erschwinglicher und waren durch das Versprechen der Arbeits­ erleichterung sehr attraktiv. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion führte zunehmend zu einer Entkopplung der bisher zusammen gedachten Begriffe „Land“ und „Landwirtschaft“. In den 50er-Jahren konnte ein Landwirt im Schnitt etwa zehn Menschen versorgen (vgl. Deutscher Bauernverband, 22.09.09, online, 2009). In der BRD führte die Orientierung an marktwirtschaftlichen Bedingungen zu einer starken Rationalisierung der landwirtschaft­ lichen Produktion; in der DDR fand durch die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) eine Entwicklung zu industriemäßigen Agrarlandschaften statt (vgl. Becker 1997, S. 240). Heute muss ein Landwirt inzwischen deutlich über hundert Menschen ernähren (vgl. Deutscher Bauernverband, 22.09.09, online, 2009). Auch wenn 2005 nur 1 %

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der Fläche Deutschlands landwirtschaftlich genutzt wird, kann 80 % des Nahrungsbedarfs aus heimischer Produktion gedeckt werden. Die Landwirtschaft hat also durchaus noch einen wichtigen gesellschaftlichen Stellenwert. Allerdings werden drei Viertel der Fläche von wenigen, großen Haupterwerbsbetrieben bewirtschaftet (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). Die Anzahl der Höfe ist in den letzten Jahren weiter zurückgegangen. Auch in ländlichen Regionen können nur noch wenige Menschen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit in der Landwirtschaft bestreiten. 2007 arbeiteten in Deutschland etwa 1 250 000 Menschen in der Landwirtschaft, das sind etwa 1,5 % der Gesamtbevölkerung (vgl. Statistisches Bundesamt 2008a, S. 58 f.) und immer noch unter 5 % der ländlichen Bevölkerung (vgl. Richter 2004, S. 118). Diese Entwicklung hat direkte strukturelle Auswirkungen auf das Leben im ländlichen Raum. Die Auflösung der vormals selbstverständlichen Verbindung zwischen „Land“ und „Landwirtschaft“ führte zu einer steigenden außeragrarischen Erwerbstätigkeit, einer hohen Marktabhängigkeit der Landwirtschaft und Veränderung ländlicher Lebensstile (vgl. Schneider 2004, S. 3). Eine besondere Nähe zur Nahrungsmittelproduktion durch Landwirtschaft ist daher für die Menschen auf dem Land nicht (mehr) automatisch gegeben. Die damit verbundene Vorstellung von einer natürlicheren, weniger industriell geprägten ländlichen Ernährung kann auf diesem Weg nicht bestätigt werden. Ob es in ländlichen Regionen mehr Selbstversorgung mit Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten gibt, kann anhand verfügbarer Daten nicht eindeutig geklärt werden. Im Laufe der 1950er-Jahre entwickelte sich auch auf dem Land der Nutzgarten von einer ökonomischen Notwendigkeit hin zu einem Hobby (vgl. Knecht-van Eekelen 2003, S. 128). Auf der anderen Seite wurden Kleingärten auch in den Randlagen der Städte als Erholungsorte bestellt und besucht. In den letzten Jahren ist vor allem bei jungen Familien aus der Stadt ein gestiegenes Interesse am eigenen Garten zu beobachten, sodass neue Formen des Kleingärtnerwesens entstehen, z.B. die Initiativen „GemüseSelbstErnte“ der Universität Kassel-Witzenhausen, oder „Gartenglück“ in Köln; die Prinzessinnengärten in Berlin haben sich zu einem Pionierprojekt der Urban-Gardening-Bewegung entwickelt. Diese­Entwicklungen liefern also keinen deutlichen Hinweis auf einen Stadt-Land-Unterschied bei der privaten Lebensmittelproduktion. Meyer-Renschhausen hat ermittelt, dass der eigene Anbau mit der Überzeugung verbunden ist, dass jenes Gemüse einen höheren Wert hat. Dies entspricht einer Vorstellung von ländlichen Lebensstilen. Der Eigenanbau sowohl in der Stadt als auf dem Land dient durch Austauschbeziehungen auch der Pflege sozialer und familialer Netzwerke. In peripher gelegenen ländlichen Regionen, vor allem in den neuen Bundesländern, wird die Selbstversorgung zunehmend (wieder) zur ökonomischen Notwendigkeit (vgl. Meyer-Renschhausen 2004, S. 94 ff.).

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Auf dem Land die Tradition, in der Stadt der Trend? ­R egional-strukturelle Unterschiede aus Sicht der­ ­l ändlichen Lebensstilforschung Wie weiter oben schon beschrieben, sind die Größe des Wohnorts und die regionale Struktur keine relevanten Determinanten aktueller Ernährungsstil-Studien. Die agrarsoziologische Forschung zu ländlichen Lebensstilen nimmt den Handlungsbereich der Ernährung nicht ausdrücklich in den Blick. Für Rückschlüsse auf spezifisch ländliche Ernährungsweisen ist daher eine Verknüpfung der Forschungsergebnisse beider Forschungsrichtungen nötig. Als komplexes soziales Phänomen lassen sich über die Ernährung vielfältige Bezüge zu verschiedenen Determinanten von Lebensstilen herstellen. In der historischen Forschung zur Alltagskultur wird der Ernährung daher eine besondere Bedeutung beigemessen (vgl. Lesniczak 2002a, S. 193). Anknüpfungspunkte finden sich zunächst bei einer Analyse der ländlichen Bevölkerung mit Blick auf soziostrukturelle Elemente, die mit Lebensstilen in Verbindung stehen. So können in ländlichen Gebieten weniger Einwohner höhere Bildungsabschlüsse vorweisen als in der Stadt (vgl. Spellerberg 2004, S. 41). Auch bei Lebensformen lassen sich Unterschiede erkennen. So leben etwa 30 % der Familien in Gemeinden mit unter 10 000 Einwohnern und nur 20 % Familien in Städten mit über 200 000 Einwohnern, wobei der Anteil der Gesamtbevölkerung in beiden Gemeindegrößenklassen in etwa gleich ist152 (vgl. Statistisches Bundesamt 2008b, S. 62). Spellerberg identifiziert in einer Analyse repräsentativer Daten Einstellungen und Lebensstile, die in ländlichen Gebieten weiter verbreitet sind als in Städten. Die Unterscheidung wird anhand der Gemeindegröße vorgenommen. Regionale Differenzen, die vermutlich auch eine Rolle spielen, und die Art der dörflichen Struktur können nicht erfasst werden. Es zeigt sich deutlich, dass in ländlichen Gebieten Lebensstile mit traditionellen Elementen im Vergleich zur Stadt klar überrepräsentiert sind (vgl. Spellerberg 2004, S. 47). Richter findet in Dörfern eine Häufung von familiären, häuslichen Orientierungen und eher konventionelle Werthaltungen. Er betont jedoch auch, dass es sich im Vergleich zur Stadt nur um quantitative Verschiebungen handelt und dass grundsätzlich alle Lebensstile auch auf dem Land zu finden sind (vgl. 2004, S. 114 ff.). So kann auch mit der Methode der Lebensstilforschung eine Angleichung zwischen städtischer und ländlicher Alltagskultur abgebildet werden.

152 Beim Blick auf die Gesamtbevölkerung verschieben sich die Verhältnisse – etwa 24 % leben in Gemeinden unter 10 000 Einwohnern und etwa 27 % in Städten mit über 20 000 Einwohnern (vgl. Statistisches Bundesamt 2009, S. 18).

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Diese Erkenntnisse über die Struktur ländlicher Lebensstile ermöglichen eine differenzierte Betrachtung der Ergebnisse zu Ernährungsstilen im Alltag. Es ist zu erwarten, dass Ernährungsstile mit einer eher traditionellen Ausrichtung und entsprechenden soziostrukturellen Merkmalen im ländlichen Raum überdurchschnittlich häufig zu finden sind. Von den in der Studie identifizierten sieben verschiedenen Ernährungsstilen rücken mit dieser Methode vor allem die „freudlosen GewohnheitsköchInnen“ und die „konventionellen Gesundheitsorientierten“ in den Blick. Durch die starke Familienorientierung ist auch die Gruppe der „gestressten AlltagsmanagerInnen“ in ländlichen Gebieten vermutlich oft zu finden. Schon in der nicht nach Gebieten differenzierten Erhebung machen diese drei Gruppen insgesamt 53 % der Bevölkerung aus (vgl. Stieß; Hayn 2005, S. 26 ff.). Der Ernährungsalltag der „freudlosen GewohnheitsköchInnen“ ist durch fest verankerte Ernährungsgewohnheiten und -routinen geprägt, eine feste Mahlzeitenordnung strukturiert den Tag. Das Interesse an Ernährungs- und Gesundheitsfragen ist gering, der Anteil übergewichtiger Personen ist überdurchschnittlich hoch. Zu berücksichtigen ist aber auch das hohe durchschnittliche Alter. Anders sieht es bei den „konventionellen Gesundheitsorientierten“ aus, deren Altersschwerpunkt auch um die 60 liegt. Hier liegt ein großes Interesse an Ernährungsfragen vor, auch eine hohe Wertschätzung für gutes Essen. Der abwechslungsreiche und ausgewogene Speiseplan ist geprägt durch traditionelle und bürgerliche Elemente, warme Mahlzeiten werden überwiegend täglich selbst gekocht. Die „gestressten AlltagsmanagerInnen“ stehen mitten in der Familienphase. Das Interesse an Ernährungsfragen richtet sich in erster Linie auf eine möglichst optimale Ernährung für die Kinder. Es wird regelmäßig gekocht, aus Zeitgründen werden zum Teil Convenience-Produkte verwendet. Außer-HausAngebote nehmen nur einen sehr geringen Stellenwert ein. Charakteristisch ist in dieser Gruppe eine deutliche geschlechtstypische Arbeitsteilung (vgl. Stieß; Hayn 2005, S. 26ff.). Diese Verknüpfung erlaubt jedoch nur einen Blick in die tendenziell traditioneller orientierten Ernährungsstile, verbunden mit der Hypothese einer größeren Häufigkeit in ländlichen Gebieten. Eine ausdrücklich ländliche Orientierung kann auf diesem Weg nicht identifiziert werden. Auch die grobe Differenzierung der Ernährungsstile in der verwendeten Studie lässt nur einen sehr eingeschränkten Blick auf den komplexen Ernährungsalltag zu. Abschließend bleibt nach dem Blick auf ländliche Ernährungsweisen aus verschiedenen disziplinären Perspektiven auf die Forschungsdesiderate hinzuweisen. Es ist nach der Analyse vorliegender Studien zu vermuten, dass ein Blick auf die spezifisch-ländlichen Ernährungsweisen und die Bedingungen der Ernährungsversorgung auch einen Zugang zu aktuellen sozialstrukturellen Problemlagen ermöglicht. Es hat sich weiterhin gezeigt, dass dabei ein stärker regional differenzierender Zugang unerlässlich ist.

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Bildungsnöte auf dem Lande. Über die Bildungssituation in Mecklenburg-Vorpommern Beate Krais Zusammenfassung: Trotz umfangreicher soziologischer Forschungen zur Problematik ungleicher Bildungs-Chancen sind die Antworten auf die Frage, wie Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung bei verschiedenen sozia­ len Klassen, Milieus und in unterschiedlichen Regionen zustande kommt – und erst recht, wie sie zu überwinden sei – nach wie vor unzulänglich. In diesem Beitrag wird die Bildungssituation in Mecklenburg-Vorpommern insbesondere mit Blick auf die Frage, inwieweit sich hier Konstellationen der Bildungsarmut entwickelt haben, skizziert. Dabei wird über die Unterscheidung zweier gegeneinander abgeschotteter Pfade der Teilhabe an Bildung gezeigt, wie es zu einer Reproduktion ungleicher Bildungschancen kommt. Daten zur Bildung von Kindern und Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern verweisen auf Zonen von Bildungsarmut, wobei drei zentrale Aspekte des Zugangs zu Bildung ineinandergreifen, die besonders Kinder und Jugendliche aus einfachen sozialen Verhältnissen und aus armen Familien in ihren Bildungs-Chancen beeinträchtigen: 1. Einem Habitus der „Bildungsferne“ als einer großen Distanz zur legitimen Kultur, wie sie insbesondere das Gymnasium repräsentiert, steht die ausgeprägte Nähe zu einem Bildungskonzept gegenüber, das perspektivisch auf eine Berufsausbildung setzt, ohne dass konjunkturelle und arbeitsmarktstrukturelle Risiken abgeschätzt werden können. 2. Dieses Bildungsverständnis schreibt unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eine kulturelle Tradition der DDR fort, in der die qualifizierte berufliche Bildung in der Tat Einkommen, Ansehen, eine stabile Erwerbsbiografie und umfassende Kompetenzen zur Bewältigung von Arbeit und Alltag gesichert hat. 3. Mit der derzeitigen Ausgestaltung der Hauptschule wird der „Bildungsferne“ von Kindern und Jugendlichen aus einfachen sozialen Verhältnissen institutionell Vorschub geleistet, statt die ­Dis­tanz dieser Schülerinnen und Schüler gegenüber der legitimen Kultur zu verringern. Bildungsarmut und „Bildungsferne“ sind auch in Mecklenburg-Vorpommern an bestimmten Orten zu Hause, treffen in bestimmten sozialen Milieus auf die „passenden“ räumlichen Gelegenheitsstrukturen und konstituieren je eigene, sich immer wieder reproduzierende soziale Weltsichten. Es bedarf großer gesellschaftlicher und pädagogischer Anstrengungen, um die durch „Bildungsferne“

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bedingten Lernhemmnisse und Desintegrationsprozesse bei Schülerinnen und Schülern aus Landarbeitermilieus, aus der Arbeiterklasse und aus manchen Einwanderergruppen zu überwinden. Schlüsselwörter: Pfade der Teilhabe an Bildung, Bildungsarmut, „Bildungsferne“

Einleitung Wenn man danach fragt, ob sich in einer bestimmten Region Armut festgesetzt hat, so wird damit auch die Frage nach der Bildungssituation in dieser Region aufgeworfen. Armut ist, wie die neuere sozialwissenschaftliche Forschung gezeigt hat, nicht einfach eine Unterversorgung bestimmter Personen mit materiellen Ressourcen, vielmehr gehen materielle und kulturelle Armut zusammen, und auch soziale Isolation und die Reduzierung der sozialen Beziehungen auf den engen familiären Kreis gehören zur Armut. Ein besonderes Problem ist darin zu sehen, dass sich materielle Armut in der Regel in eine defizitäre Bildung der Kinder übersetzt, sodass sich Armuts-Lebenslagen über die Generationen hinweg verfestigen (vgl. Allmendinger 1999). So erscheinen heute nicht nur die städtischen Regionen der De-Industrialisierung, aus denen die wirtschaftliche Dynamik und mit ihr die Arbeit, die stabilen Arbeitseinkommen und das rege soziale Leben und Treiben verschwunden sind, von Armut bedroht, sondern auch ländliche Räume, in denen nur noch wenige Bewohner in die Wirtschaftsprozesse des Landes eingebunden sind. Auch wenn die Armut hier nicht so sichtbar sein mag wie in den städtischen Zonen der Verarmung und Verwahrlosung, da die Besucherin auf dem Lande vor allem ein Auge hat für die traumhaft schöne Landschaft, für das renovierte Herrenhaus und die reiche Vogelwelt, so existiert sie doch, und sie hat schwerwiegende Folgen für die Bildung der nachwachsenden Generation. Mecklenburg-Vorpommern ist ein dünn besiedeltes, finanziell schwaches Bundesland in Randlage: Im Norden ist die Ostsee, im Osten liegt mit Polen ein Land, mit dem der kulturelle und wirtschaftliche Austausch noch nicht die gleiche Selbstverständlichkeit erreicht hat, wie dies etwa bei den südlichen Bundesländern und ihren Anrainerstaaten der Fall ist, und im Süden grenzt das Land an das nördliche Brandenburg, eine Region, die ebenfalls mit den Problemen dünner Besiedlung und desintegrativer ökonomischer und sozialer Prozesse zu kämpfen hat. In Tabelle 1 sind einige Rahmendaten für Mecklenburg-Vorpommern zusammengestellt, die im Vergleich mit den Informationen für die gesamte Bundesrepublik und für das von der Fläche und von der Schulstruktur her vergleichbare Hessen die Besonderheiten dieses Bundeslandes verdeutlichen sollen.153 153 Die Tabelle verwendet Daten für das Jahr 2006, da die Informationen zur Bildungssituation in

333

Bildungsnöte auf dem Lande

Tabelle 1: Ausgewählte Strukturdaten für Mecklenburg-Vorpommern (2006) MecklenburgVorpommern

Hessen

23.182

21.115

357.114

1.694

6.075

82.315

73

288

231

-8

-3

-1

849

426

12.312

34,8 %

-

21,4%

19 %

9,2%

10,8%

Zahl der allgemeinbildenden Schulen

966

3.090

36.305

Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen (in 1.000)

145,2

698,7

9.355,8

Ausgaben je Schüler/in an allgemeinbildenden Schulen (in Euro)

5.300

5.000

5.200

Fläche in km² Bevölkerung (in 1.000) Bevölkerung pro km² Zu-/Abnahme der Bevölkerung am Jahresende auf 1.000 Einwohner Zahl der Gemeinden Gemeinden bis unter 500 Einwohner (in % an allen Gemeinden) Arbeitslosenquote (in %)

Deutschland

Quelle: Statistisches Jahrbuch 2007, 2008, 2009

Als Hauptprobleme fallen neben der hohen Arbeitslosenquote die dünne Besiedlung und die niedrige Schülerzahl in Mecklenburg-Vorpommern ins Auge. Dies hat zur Folge, dass höhere Ausgaben pro Schüler sich nicht unbedingt in bessere Bildungsqualität umsetzen lassen – allein den Regelschulbesuch zu gewährleisten ist für den Staat sehr aufwendig. Und es bedeutet darüber hinaus, dass bei diesen niedrigen Schülerzahlen „Bildungsferne“ im räumlichen Sinn, d.h. in den Wegen, die Schülerinnen und Schüler täglich auf sich nehmen müssen, um zu ihrer Schule zu gelangen, den ganz normalen Alltag eines großen Teils der Kinder und Jugendlichen auf dem Lande kennzeichnet. Mit diesem Beitrag will ich versuchen, die Bildungssituation in den ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns zu skizzieren, insbesondere mit Blick auf die Frage, inwieweit hier Konstellationen der Bildungsarmut festzustellen sind. Daten, die den genauen Blick auf ­ ecklenburg-Vorpommern, die im Verlauf der weiteren Erörterung herangezogen werden, im WeM sentlichen aus dem Bildungsbericht 2008 stammen. Dieser weist Daten für 2006 aus.

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kleinräumliche Bildungsverhältnisse und die damit korrespondierenden sozialen Milieus erlauben würden, stehen allerdings nicht zur Verfügung. Ich kann daher bei der Diskussion der Befunde, die deutliche Hinweise auf ländliche Bildungsnöte geben, nur auf die breite soziologische Forschung zum Zusammenhang von ungleichen Bildungschancen und sozialer Herkunft zurückgreifen, um das Zustandekommen dieser problematischen Bildungssituation zu erhellen.

Zur Bildungssituation in Mecklenburg-Vorpommern Die Bildungslandschaft Mecklenburg-Vorpommerns galt im Deutschen Reich als relativ rückständig, mit einer insgesamt vergleichsweise niedrigen Gymnasialquote und auch einer wenig entwickelten fachlich-technischen Ausbildung, die in anderen Regionen mit der Gründung von technischen Schulen und Akademien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen deutlichen Aufschwung genommen hatte. Diese Rückständigkeit in allem, was mit Bildung zu tun hatte, bezog sich insbesondere auf den ländlichen Raum, nicht auf Schwerin und nicht auf die Städte an der Küste, wo es in Greifswald sogar eine angesehene Universität gab, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der aufstrebenden Berliner Universität als ­Rekrutierungs-Pool für ihre Hochschullehrer diente. Während die Schulsituation in ­Schwerin, Rostock und Greifswald auch im 19. Jahrhundert vergleichbar war mit der Situa­ tion in anderen Städten des Deutschen Reichs, hatte die ländliche Bevölkerung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einen niedrigen Bildungsstand. Die Gutsherren, die im Preußen des 19. Jahrhunderts verpflichtet waren, auf dem Lande für eine angemessene Volksschulbildung zu sorgen, kamen dieser Verpflichtung nur sehr rudimentär nach, und auch als die Verantwortung für die allgemeine Grundbildung auf dem Lande an den Staat übergegangen war, wurde die Schulpflicht im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns nur langsam realisiert. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem in Preußen das Schulgeld für die Volksschule abgeschafft worden war, besuchten auch auf dem Lande nahezu alle schulpflichtigen Kinder die Schule, wenn auch die maximale Klassengröße von höchstens 80 Schülern pro Klasse oft überschritten wurde (vgl. Herrlitz/Hopf/Titze 1993, S. 52 ff., 108 ff.). Die „Leutenot“ in Mecklenburg-Vorpommern, von der in Max Webers Landarbeiter-Enquêten die Rede ist, also der sich immer wieder neu entwickelnde Mangel an Arbeitskräften, war, so lassen sich Max Webers Befunde resümieren, Ergebnis ökonomischer Entwicklungen in der ostelbischen Gutswirtschaft, die zu ländlicher Armut und prekären Lebenslagen der Menschen in diesem Raum führte. Die damit gegebene „Not der Leute“, die sich in ausgeprägten Abwanderungsbewegungen – und offensichtlich auch Zuwanderungen armer Leute aus den angrenzenden östlichen Ländern – niederschlug, war jedoch, wie ein Blick auf die

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Bildungssituation in dieser Region zeigt, immer auch gebunden an ein unzureichendes Bildungsangebot auf dem Lande und eine damit einhergehende Bildungsarmut der dort lebenden Bevölkerung. Zur Zeit der DDR sind große Anstrengungen unternommen worden, um den Bildungsrückstand dieser Region zu überwinden. Die erste Arbeiter- und Bauernfakultät war an der Universität Greifswald angesiedelt, und mit dem Ausbau der Versorgungs-, Dienstleistungsund Kultureinrichtungen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in den 1960er-Jahren gab es einen deutlichen Entwicklungsschub bei der Angleichung der Lebensund Bildungsverhältnisse im ganzen Land. Wenn auch das Stadt-Land-Gefälle in der Bildungsbeteiligung nicht vollkommen verschwunden war, so war es doch mit einer Größenordnung von ca. 3 Prozentpunkten im Jahr 1981 weitaus schwächer ausgeprägt als zur gleichen Zeit in Westdeutschland, wo etwa in Bayern 1987 Unterschiede von bis zu 30 Prozentpunkten zwischen Stadt- und Landkreisen festgestellt werden konnten.154 Auch die Möglichkeiten zur Ausbildung in einem qualifizierten Beruf verbesserten sich erheblich, da in Mecklenburg-Vorpommern mehr und mehr Industrie angesiedelt wurde und der Übergang zu agro-industriellen Produktionsformen das Spektrum an Berufsausbildungen auch auf dem Lande verbreiterte. Generell war gegen Ende der DDR das Bildungsniveau der Bevölkerung höher als im ­Westen. Dies gilt sowohl für die Allgemeinbildung als auch für die berufliche Bildung: 1993 hatten in den neuen Bundesländern mehr als 50 % der über 15 Jahre alten Bevölkerung mindestens den Abschluss der Polytechnischen Oberschule, d.h. mindestens zehn Jahre Schulbildung, während der entsprechende Wert für die alten Bundesländer unter 40 % lag (vgl. von Below 2002, S. 87 f.). Wenn man jedoch die Bildungsbeteiligung in den Bildungsgängen betrachtet, die über den neuen Standard bürgerlicher Grundbildung hinausgehen, der mit einer zehn Jahre währenden Schulbildung plus anerkannter Berufsausbildung umschrieben wird, dann werden auch für die DDR Disparitäten nach der sozialen Herkunft deutlich: Zwar ist es bis in die 1960er-Jahre hinein gelungen, Bildungs-Ungleichheiten nach der sozialen Herkunft in erheblichem Umfang abzubauen, doch waren am Ende der DDR die studienvorbereitenden Schulstufen155 und die universitären Studiengänge sozial noch selektiver als im Westen 154 Müller-Hartmann/Henneberger 1995 haben die Bildungsbeteiligung der 17- bis 18-jährigen Bevölkerung der DDR anhand der Daten der Volkszählung von 1981 untersucht. „Bildungsbeteiligung“ heißt in diesem Zusammenhang: Verbleib im Bildungssystem jenseits der Pflichtschulzeit. MüllerHartmann/Henneberger ermittelten eine Bildungsbeteiligung von 13,1 % dieser Altersgruppe in den Stadtkreisen Mecklenburg-Vorpommerns, während die Bildungsbeteiligung in den Landkreisen bei 9,8 % lag. Dies war zugleich der niedrigste Wert, der für die Bildungsbeteiligung dieser Altersgruppe in der DDR für das Jahr 1981 festgestellt wurde (vgl. von Below 2002, S. 96). 155 In der DDR führte neben der zweijährigen Erweiterten Oberschule im allgemeinbildenden Schul­­sys­ tem auch die dreijährige Berufsausbildung mit Abitur zur allgemeinen Hochschulreife.

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(vgl. Bathke 1990, von Below 2002, Geißler 2002, Solga 1997). Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass ökonomisch begründete Anreize für den sozialen Aufstieg durch akademische Bildung eine geringere Rolle spielten als im Westen, da die Einkommensspreizung in der DDR sehr viel niedriger war und gesellschaftliches Ansehen ebenso wie soziale Sicherheit durch das Abitur und ein Universitätsstudium nur unwesentlich gesteigert werden konnten. Wie sich an einigen Eckdaten für die Bildungssituation in Mecklenburg-Vorpommern heute zeigt, ist Bildungsrückständigkeit und Bildungsarmut – zumindest im Vergleich mit anderen Bundesländern – dort auch heute noch bzw. wieder ein Problem. Ein erster Anhaltspunkt dafür ist, dass Mecklenburg-Vorpommern mit Brandenburg und Sachsen-Anhalt zu den Bundesländern gehört, in denen die Leistungen der Schüler der 9. Jahrgangsstufe in der PISA-Studie 2000 hinter denen der Schüler der meisten alten Bundesländer lagen (Baumert u.a. 2008, S. 72). Hinweise auf eine gewisse Bildungsrückständigkeit ergeben sich auch, wenn man regionale Unterschiede für andere Bildungsindikatoren betrachtet, nämlich für den Gymnasialbesuch in der Jahrgangsstufe 7 und für die Quoten für AbgängerInnen ohne Hauptschulabschluss aus allgemeinbildenden Schulen nach Ländern (vgl. dazu die Karten 3 und 4 im Farbteil). Im Vergleich der in der Abbildung ausgewiesenen Jahre 2004 und 2006 fällt auf, dass die Gymnasialquote in Mecklenburg-Vorpommern im betrachteten Zeitraum gestiegen und inzwischen der der anderen neuen Bundesländer vergleichbar ist.156 Man kann feststellen, dass das Gymnasium inzwischen als Schulform in den neuen Bundesländern offensichtlich akzeptiert ist, auch in Mecklenburg-Vorpommern, und am deutlichsten in der Küstenregion und in Schwerin. Nur Ost-Vorpommern, eine Gegend, in der Armut und Bildungsarmut schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu Hause waren, partizipiert nicht an dieser Bildungsentwicklung, sondern fällt 2006 noch hinter den Stand von 2004 zurück. Auf besondere Problemlagen, nämlich auf absolute Bildungsarmut, verweisen die Daten zur Bildung im unteren Bildungssegment, d.h. für die Hauptschule. Der Anteil von SchulabgängerInnen ohne Hauptschulabschluss ist mit 12,1 % im Jahr 2006 sehr hoch; MecklenburgVorpommern hat, wie aus Abbildung 2 ersichtlich wird, den höchsten Anteil an SchulabgängerInnen ohne Schulabschluss in Deutschland. 156 Die Untersuchung von Susanne von Below (2002) dokumentiert für die 1990er-Jahre in Mecklenburg-Vorpommern einen ständigen Rückgang der Gymnasialquote bis auf unter 30 % eines Altersjahrgangs im Jahr 1999, während die Gymnasialquote in den übrigen neuen Bundesländern seit der Wende ständig angestiegen ist (S. 105). Offensichtlich hat sich dies jedoch inzwischen geändert. – Nur erwähnt werden soll an dieser Stelle, dass die Gymnasialquote in den süddeutschen Bundesländern ebenfalls unter dem Bundes-Durchschnitt liegt, was ein Grund dafür ist, dass Bayern und BadenWürttemberg ihren Bedarf an qualifizierten und hoch qualifizierten Fachkräften nicht aus ihren eigenen Schulen und Hochschulen decken können, sondern im innerdeutschen Vergleich gewissermaßen „Einwanderungsländer“ sind.

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Was Bildungs-Ungleichheiten nach der sozialen Herkunft angeht, so konnte von Below (2002) zeigen, dass 1997 kaum Differenzen zwischen den Bundesländern festzustellen waren, wenn es um die Bildungsbeteiligung von Jugendlichen höherer sozialer Klassen ging. Es gab jedoch große Unterschiede zwischen Bundesländern in der Bildungsbeteiligung von Jugend­ lichen aus Arbeiterfamilien, und Mecklenburg-Vorpommern wies mit einem Anteil von 36 % der Jugendlichen aus Arbeiterfamilien die niedrigste Bildungsbeteiligung dieser Bevölkerungsgruppe in allen neuen Bundesländern auf. Dagegen war in Brandenburg und Berlin die Bildungsbeteiligung von Jugendlichen aus Arbeiterfamilien mit 54 % am höchsten (S. 145).157 Diese Daten verweisen auf recht ausgeprägte Problemlagen in der Bildungssituation in diesem Bundesland, und ein Blick auf die familiären Bedingungen des Aufwachsens macht deutlich, dass die Schwierigkeiten bei der Versorgung der nachwachsenden Generation mit einer modernen Lebensverhältnissen adäquaten Bildung, die sich hier abzeichnen, auch mit einer Häufung sozialer Problemlagen einhergehen. Abbildung 3: Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nach Risikolagen der Eltern (2006)

Quelle: Eigene Berechnungen nach Bildungsbericht 2008, Tabellenanhang, S. 226. 157 Für diese Untersuchung wertete von Below (2002) Daten des Mikrozensus 1997 aus. Es wurde die Altersgruppe der Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren erfasst; „Bildungsbeteiligung“ wurde als Verbleib im Bildungssystem jenseits der Pflichtschulzeit gemessen. Die Daten für die Bundesländer Brandenburg und Berlin werden in dieser Untersuchung nicht getrennt ausgewiesen, vielmehr sind diese beiden Länder in der Kategorie „Länder mit reformiert-liberalem Bildungssystem“ zusammengefasst.

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Abbildung 3 dokumentiert, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in Familien mit materiellen Problemen aufwachsen, in Mecklenburg-Vorpommern relativ hoch ist. In dieser Abbildung sind drei Indikatoren für sogenannte Risikolagen der Eltern aufgeführt. Dazu gehören die Erwerbslosigkeit der Eltern (mindestens ein Elternteil ist erwerbslos oder keine Erwerbsperson); ein Bildungsabschluss der Eltern, der nicht höher liegt als der Abschluss der 10. Klasse; ein Einkommen auf Armutsniveau (weniger als 60 % des FamilienÄquivalenz-Einkommens). Es wird deutlich, dass in Mecklenburg-Vorpommern, verglichen mit dem Durchschnitt aller Bundesländer und auch verglichen mit Hessen, sehr viel mehr Kinder und Jugendliche in Familien in materiellen Notsituationen aufwachsen. Nur der Bildungsstand der Eltern ist in Mecklenburg-Vorpommern höher als im Bundesdurchschnitt – hier macht sich das Bildungserbe der DDR-Zeit positiv bemerkbar.

Sind die Bildungsnöte in Mecklenburg-Vorpommern Ergebnis ­e ines überkommenen Modernisierungsrückstandes dieser Region? Die hier zusammengetragenen Daten ergeben für Mecklenburg-Vorpommern ein Bild, in dem vor allem in den ländlichen Räumen Bildungsarmut und schwierige Lebens- und Schulverhältnisse für Kinder und Jugendliche ihren Ort haben: Es gibt Jugendliche aus einfachen sozialen Verhältnissen, die in deutlich höherem Ausmaß als sonst in Deutschland in ihrer Bildung zurückbleiben und damit auch in ihrer ökonomischen, politischen und kulturellen Teilhabe über die Maßen eingeschränkt sind. Wenn man diesen Befund einmal der Situation in den städtischen Zentren Mitteldeutschlands – also den seit der Reformation als „protestantische Kernlande“ firmierenden Regionen (vgl. zu den frühen Entwicklungen der allgemeinen Volksbildung in diesen Regionen von Friedeburg 1989) – gegenüberstellt, deren Bevölkerung nicht nur traditionell als „bildungsnah“ gilt, sondern die diesen Ruf auch mit den Ergebnissen der PISA-Studien bestätigt, dann kann man zu dem Schluss kommen, dass sich der sozial verfestigte unterschiedliche Zugang zur Bildung über lange Zeiträume zu tradieren scheint: Es gibt offensichtlich sehr stabile „bildungsnahe“ bzw. „bildungsferne“ Milieus, die nicht nur ihren sozialen, sondern auch ihren geografischen Ort haben, und zwar über Jahrhunderte und über höchst unterschiedliche politische Systeme hinweg. Bei näherem Hinsehen ist die sich verfestigende Bildungsarmut in Mecklenburg-Vorpommern jedoch nicht einfach durch tradierte ländliche Rückständigkeit, Fortdauer von Armutslagen in bestimmten Bevölkerungslagen oder gar stetige Abwanderung der gegenüber Bildung aufgeschlossenen Personen in der ländlichen Bevölkerung158 zu erklären. 158 Weiß 1992 dokumentiert in einer kleinräumig differenzierenden Studie ein unterschiedliches Migrati-

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Trotz seiner traditionellen Prägung durch die Landwirtschaft ist Mecklenburg-Vorpommern nicht als eine bäuerlich-ländliche Region mit stationärer Bevölkerung zu sehen, die gewissermaßen seit Generationen auf der heimischen Scholle sesshaft ist. Vielmehr handelt es sich um einen Landstrich, der schon im Kaiserreich, in besonderem Maße aber seit dem Zweiten Weltkrieg und im Grunde bis heute durch ökonomische und gesellschaftliche Umstrukturierungen und damit einhergehende Wanderungsbewegungen der Bevölkerung gekennzeichnet ist, die man nur als dramatisch bezeichnen kann (vgl. dazu Bauerkämper 2003, Land/Willisch 2002, 2006, Meier/Müller 1997). Während die erste Bodenreform und der starke Zustrom an Flüchtlingen in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer – selbst im Kontext der insgesamt in Deutschland nach dem Krieg zu konstatierenden Re-Ruralisierung – besonders massiven Dominanz der Agrarwirtschaft mit einem Anteil von 52 % an allen Beschäftigten führte (Bauerkämper 2003, S. 26), gab es mit der Kollektivierung und dem Übergang zur agro-industriellen Produktion in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht nur starke Abwanderungsbewegungen junger Arbeitskräfte in die industrialisierten Zentren der DDR, sondern auch Zuwanderungen. Die Vereinigung Deutschlands schließlich brachte erneut einen tief greifenden Wandel in den Agrar-, Besitz- und Beschäftigtenstrukturen in Mecklenburg-Vorpommern. Mit diesen Umstrukturierungen waren nicht nur hohe Arbeitslosenquoten, sondern auch ein enormer Arbeitskräfteverlust verbunden.159 Auch nach 2000 hielt die Abwanderung an. Diese Umstrukturierungen und Abwanderungen brachten erhebliche Probleme gerade auf dem Lande mit sich, die mit Begriffen wie Entleerung und Verödung von Dörfern, Transferabhängigkeit und Ghettoisierung der „überflüssig“ gewordenen Bevölkerung und Herausbildung von ressentimentgesteuerten, fremdenfeindlichen und offen rechtsradikalen Mentalitäten knapp umrissen sind (vgl. dazu Land/Willisch 2002, 2006, Willisch 1999, 2005). Es muss jedoch betont werden, dass Mecklenburg-Vorpommern, auch im ländlichen Raum, alles andere als eine ökonomisch und gesellschaftlich „zurückgebliebene“ Region ist. Vorpommern ist heute die Region mit den modernsten und wirtschaftlich erfolgreichsten onsverhalten von „Problembürgern“ bzw. von Personen mit unterschiedlichen Niveaus der Schulleis­ tung in Mecklenburg-Vorpommern. Er vertritt die These, dass es im Zuge der Bevölkerungsentwicklung in dieser Region zu DDR-Zeiten „zu erheblichen Deformationen der Bevölkerungsstruktur in den über Jahrzehnte relativ konstanten Quellregionen der Migration“ kam (S. 2). 159 Folgende Daten machen die Größenordnung dieser Arbeitskraftverluste in der Landwirtschaft deutlich: Die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft sank in Mecklenburg-Vorpommern schon von 1989 bis 1993 von 210.300 auf 43.000 und ging bis 1996 auf 32.700 zurück (Bauerkämper 2003, S. 25). In vielen Dörfern hat sich die Einwohnerzahl halbiert, und da vor allem die Bevölkerung im Alter zwischen 20 und 40 Jahren abwanderte, leben auf dem Lande viel weniger Kinder und Jugendliche als früher.

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Landwirtschaftsbetrieben in Deutschland; der Tourismus spielt nicht nur an der Küste, sondern auch im Hinterland eine immer größere Rolle, und seit 1989 hat sich eine differenzierte Hochschul- und Forschungslandschaft entwickelt. Land/Willisch (2006) weisen darauf hin, dass die Umstrukturierung der Ökonomie in Mecklenburg-Vorpommern nach der Wende zu einer kleinräumigen Fragmentierung der regionalen Wirtschaftsstrukturen und Lebensverhältnisse geführt hat: Neben hoch produktiven, in überregionale Wirtschaftszusammenhänge eingebundene Unternehmen und Forschungsinstitutionen mit einer auch vor Ort wirk­samen Entwicklungsdynamik existieren Dörfer und Wirtschaftssegmente, die in enge lokale Kreisläufe ohne Dynamik eingebunden sind; neben Dörfern, die sich über Tourismus, Kultur oder auch Forschung und angelagerte, innovative Betriebe neu definieren und mithilfe von Bürgeraktivitäten auch als Gemeinde reorganisieren, gibt es „Rest“-Orte, die ihre wesentlichen wirtschaftlichen und sozialen Funktionen verloren haben und mit den neuen sozialen Problemlagen langfristiger Transferabhängigkeit konfrontiert sind. Diese Fragmentierung der Entwicklung schlägt sich auch im Wanderungssaldo nieder: Mecklenburg-Vorpommern hat, wie alle ostdeutschen Länder, insbesondere gering qualifizierte Arbeitskräfte verloren, während – bei einem über die Jahre hinweg durchgängig negativen Wanderungssaldo – qualifizierte Arbeitskräfte (mit Fachhochschul- oder Hochschulabschluss) nicht nur deutlich seltener abwanderten, sondern auch in beachtlichem Umfang zugewandert sind.160 Granato/Niebuhr (2009) resümieren die Situation wie folgt: „Der ostdeutsche Arbeitsmarkt kann Ungelernten [...] kaum eine Perspektive bieten.“ (S. 7) Zugleich gibt es Hinweise, dass die modernen, wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmen teilweise Schwierigkeiten haben, ihren Bedarf an qualifizierten Fachkräften zu decken – die alte „Leute­not“ der Gutswirtschaft des 19. Jahrhunderts scheint, jedenfalls ansatzweise, in den sich dynamisch entwickelnden Betrieben der Landwirtschaft, des Dienstleistungssektors und auch der Industrie in neuer Form wieder zu entstehen. Insgesamt muss man also erstens festhalten, dass die wirtschaftliche und soziale Lage in Mecklenburg-Vorpommern, auch auf dem Lande, keineswegs durch ökonomische Rückständigkeit, durch bäuerlich-traditionale Mentalitäten – die Marx immer „borniert“ genannt hat – und durch vormoderne Arbeitskonzepte und Lebensweisen zu charakterisieren ist. Und völlig falsch wäre es, in den Dörfern Vorpommerns eine überdurchschnittlich sesshafte oder gar eine aus den in jeder Beziehung „Übriggebliebenen“ bestehende Bevölkerung zu vermuten. Land/Willisch (2002) sprechen von einer „tradierte(n) Dominanz der Lohnarbeitsordnung (gegenüber der Familienarbeitsordnung) und auf Erwerbsarbeit basierte(n) Lebenskonstrukti160 Für den Zeitraum von 2000 bis 2006 ergibt sich in Mecklenburg-Vorpommern für gering qualifizierte Arbeitskräfte ein Wanderungsverlust von 12,1 ‰, während sich der Verlust an hoch Qualifizierten auf 4,0 ‰ beläuft (Granato/Niebuhr 2009, S. 4).

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onen und Mentalitäten der Bevölkerung (im Unterschied zu einer auf selbständigem Bauerntum beruhenden Identität)“, um die Situation im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns zum Zeitpunkt der Vereinigung zu beschreiben (S. 99), und ähnlich argumentieren auch Bauerkämper (2003) und Meier/Müller (1997). Dies bedeutet, zweitens, dass die problematischen Befunde zur Bildungsrückständigkeit auf dem Lande, zur Bildungsarmut und zur Verschärfung der Bildungs-Ungleichheiten nach der sozialen Herkunft, die in diesem Kapitel dokumentiert wurden, nicht durch eine etwaige überkommene Rückständigkeit bäuerlicher Lebens- und Produktionsweisen und damit einhergehende „Bildungsferne“ der ländlichen Bevölkerung zu erklären sind. Wie auch der Vergleich von Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler Mecklenburg-Vorpommerns kurz nach der Wende und einige Jahre später nachdrücklich dokumentiert, sind die „Bildungsnöte“ der nachwachsenden Generation in Mecklenburg-Vorpommern erst nach der Vereinigung entstanden: Während die Gymnasiasten der 7. Jahrgangsstufe 1991 vor allem in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern deutlich höhere Leistungszuwächse aufwiesen als die Gymnasiasten in Nordrhein-Westfalen im gleichen Zeitraum und während 1991 auch schwächere Lerner in Mecklenburg-Vorpommern bestimmte Basisqualifikationen erfolgreich sichern konnten, hatten sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler vier Jahre später an das niedrigere West-Niveau angeglichen (vgl. Baumert u. a. 2008, S. 71 f.). Was aber hat zu diesen „Bildungsnöten“ der nachwachsenden Generation geführt?

„Bildungsferne“ oder die zwei Pfade der Teilhabe an Bildung Im Rückblick auf die Bildungsexpansion im Westen ebenso wie auf die in vieler Hinsicht sehr erfolgreiche Reform des Bildungswesens in der DDR fällt auf, dass es in Deutschland – und zwar in beiden Teilen des Landes – zwei institutionell vorgeprägte Pfade der Teilhabe an Bildung gegeben hat, die von den verschiedenen sozialen Milieus in sehr unterschiedlichem Maße genutzt worden sind. Der erste Pfad wird definiert über die traditionelle Vorstellung des deutschen Bürgertums von Bildung. Unter „Bildung“ versteht man, wenn hier einmal eine etwas karikierende Aufzählung erlaubt ist, alles, was mit bürgerlicher Hochkultur assoziiert werden kann: das Theater, Hausmusik mit Geige und Klavier, die Lektüre von anspruchsvollen Romanen, Latein, Museumsbesuche, durchaus auch Begeisterung für Mathematik und Naturwissenschaften, aber nur dann, wenn man in diesen Bereichen wirklich brillant ist – dieses Verständnis von Bildung wird seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durch das Gymna­ sium repräsentiert und findet seine berufliche Weiterführung im Universitätsstudium. Auch wenn diese Vorstellung von Bildung über die Jahrhunderte hinweg durchaus Veränderungen, Variationen, Erweiterungen und Modernisierungen erfahren hat, nicht zuletzt durch den

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Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums zur dominanten Fraktion des Bürgertums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. dazu Krais 2003), so bleibt doch ein auf diese bildungsbürgerliche Tradition bezogenes Verständnis von Bildung als Kern der legitimen Kultur erhalten. Und diese Bildung ist gemeint, wenn man von „Bildungsferne“ bzw. „Bildungsnähe“ bestimmter sozialer Klassen und Milieus spricht. Der zweite Pfad der Teilhabe an Bildung wird definiert durch eine Vorstellung, die sich in ihrem Kern auf berufliche Kompetenz und Tüchtigkeit im Arbeitsleben bezieht, auf darauf gegründete allgemeine Handlungsfähigkeit, Umsichtigkeit in den beruflichen ebenso wie in den lebenspraktischen Entscheidungen und im Handeln in den öffentlichen Angelegenheiten. Dieses Konzept von Bildung wird institutionell durch die Lehre in einem anerkannten Ausbildungsberuf repräsentiert, auch durch die Berufsfachschule. Was „Bildung“ hier im Einzelnen heißt und inwiefern sie sich deckt mit der durch die Schule zertifizierten legitimen Kultur, bleibt allerdings diffuser, da sich Bildung in diesem Falle weniger auf einen expliziten Kanon stützen kann. Schließlich beweist sich dieser Typus von Bildung vor allem in der Praxis – was jemand kann, der/die eine berufliche Ausbildung im dualen System z.B. mit dem Facharbeiterbrief abgeschlossen hat, „wissen“ die Beteiligten im Wesentlichen aufgrund von Erfahrung und tacit knowledge.161 Lange Zeit gab es in der Bundesrepublik – und noch stärker in der DDR – auch die Möglichkeit, über weitere, an der Berufsfachlichkeit orientierte Bildungsschritte ein Studium an einer Universität aufzunehmen. Der Weg von der Lehre über die Ingenieurschule zur Universität, der meist zugleich ein Pfad sozialen Aufstiegs war, wurde zwar im Westen seltener als in der DDR begangen, spielte aber eine große Rolle für die Wahrnehmung der Möglichkeit sozialen Aufstiegs in der alten Bundesrepublik als einer Realität (vgl. dazu Funke u.a. 1986). Mit dieser Einmündung in die traditionelle akademische Bildung wurden auch die in der Lehre erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten als gleichwertig, nämlich als wie das Abitur zu einem Studium befähigend, formell anerkannt.162 Wenn man nun danach fragt, was die im Westen recht eindrucksvolle Bildungsexpansion seit den 1960er-Jahren für die Verringerung sozialer Ungleichheit gebracht hat, so sind 161 Die großen Schwierigkeiten bei der Erarbeitung einer europäischen Nomenklatur, die Qualifikationen und Kompetenzen ausbuchstabieren und damit vergleichbar machen soll, die in der beruflichen Ausbildung, Weiterbildung und Erfahrung erworben wurden, legen hierfür ein eindrucksvolles Zeugnis ab. 162 Die Lehre hat von jeher Jugendlichen, die in der Schule ihre Fähigkeiten und kognitiven Potenziale nicht so richtig entwickeln konnten, eine neue Entwicklungschance geboten. Wie dieser Entwicklungsschub und die reale Erweiterung beispielsweise der Sprachkompetenzen, der Fähigkeiten des abstrakten Denkens usw. im Verlauf einer Lehre vor sich gehen, ist meines Wissens nicht systematisch erforscht (vgl. dazu jedoch Hoff/Lempert/Lappe 1991). Das Faktum selbst wird jedoch von ehemaligen Lehrlingen ebenso wie von ihren Ausbildern immer wieder sehr glaubwürdig berichtet.

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die Forschungsergebnisse hierzu erst einmal ernüchternd. Becker (2006), der die wichtigsten Ergebnisse und Diskussionsbeiträge zu dieser Frage zusammengetragen hat, spricht von einem „Misserfolg der Bildungsexpansion“ und resümiert seine Position wie folgt: Als „unintendierte­Folge der Bildungsexpansion ist eine gewachsene soziale Distanz zwischen den höheren, von der Bildungsexpansion profitierenden Sozial- und Bildungsschichten und den niedrigeren, von der Teilhabe an der Bildungsexpansion weitgehend ausgeschlossenen Sozial- und Bildungsschichten festzustellen.“ (S. 48) Und in der Tat sind bis in die jüngste Zeit hinein die Unterschiede zwischen den bürgerlichen Schichten und den Arbeitermilieus vor allem in der Abiturientenquote und im Hochschulbesuch sehr ausgeprägt. Das wird auch in Tabelle 2 sichtbar, die für die Jahre 1976 und 1998 die Bildungsbeteiligung von drei ausgewählten sozialen Milieus dokumentiert.163 Tabelle 2: Bildungsbeteiligung und Erwerbstätigkeit der 17- und 18-Jährigen in der Bundesrepublik nach sozialer Herkunft (ausgewählte soziale Milieus) 1976 und 1998 in Prozent Soziale Stellung des Familienvorstandes Arbeiter von Jugendlichen besuchte Schulen und Ausbildungsinstitutionen Gymnasium

Angestellte mit mittlerem Abschluss

Beamte mit Abitur

1976

1998

1976

1998

1976

1998

7,1

11,8

36,7

45,8

69,4

77,3 (3,7)

Berufsfachschule

6,5

10,9

8,6

6,4

(5,7)

sonstige Schulen

4,9

15,5

9,2

14

(9,4)

9,5

Erwerbstätigkeit

39,8

8,7

15,8

3,6

(3,2)

(1,1)

Nicht-Erwerbstätigkeit

8,7

6,9

(3,1)

(3,2)

(3,5)

(2,7)

Lehre

33

46,1

26,7

27

(8,9)

(5,7)

Insgesamt

100

99,9

100,1

100

100,1

100

( ) Prozentzahlen, die aus weniger als 50 Fällen berechnet sind. Differenzen zu 100 in den Summen ergeben sich aus Auf- bzw. Abrundungen. Quelle: Helmut Köhler: Bildungsbeteiligung und Sozialstruktur in der Bundesrepublik. Zu Stabilität und Wandel der Ungleichheit von Bildungschancen. Berlin, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 1992, S. 57. 163 Die hier verwendeten Daten stammen aus dem Mikrozensus. Da in der amtlichen Statistik die Frage nach der sozialen Herkunft nach 1998 nicht mehr gestellt wurde, können die entsprechenden Zeitreihen nicht über das Jahr 1998 hinaus fortgeführt werden.

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Die Tabelle zeigt, dass Jugendliche aus Arbeiterfamilien zwar 1989 in etwas größerem Umfang als 1976 ein Gymnasium besuchen, doch fällt der Anstieg mit 4,7 Prozentpunkten recht bescheiden aus. Mit einer Gymnasialquote von 11,8 % im Jahr 1989 ist der Besuch eines Gymnasiums auch immer noch sehr niedrig. Anders sieht es bei den Jugendlichen aus, deren Väter Angestellte mit einem mittleren Schulabschluss (ein Schulbesuch von 10 Klassen) sind; hier gibt es immerhin einen deutlichen Anstieg in der Gymnasialquote, und man kann sagen, dass fast die Hälfte der Jugendlichen aus diesem mittleren sozialen Milieu 1989 ein Gymnasium besucht. Die Kinder von Beamten mit Abitur wiederum haben ihre bereits 1976 sehr hohe Gymnasialbeteiligung im betrachteten Zeitraum noch einmal deutlich erhöht. Beckers (2006) Aussage vom „Misserfolg der Bildungsexpansion“, was die Verringerung der sozialen Selektivität im Besuch der weiterführenden Schulen angeht, wird also mit diesen Zahlen zunächst durchaus belegt. Allerdings muss diese Aussage modifiziert werden, wenn man, wie dies Müller/Haun (1994) und Müller/Pollak (2004) mit ihren differenzierten empirischen Arbeiten getan haben, die langfristige Entwicklung der Bildungs-Ungleichheiten betrachtet. Die Analysen dieser Autoren beziehen sich auf Bürger und Bürgerinnen Westdeutschlands und auf einen Zeitraum, der nahezu das ganze 20. Jahrhundert umfasst: Sie untersuchen die Abiturientenquote und den Hochschulbesuch der Geburtsjahrgänge seit 1910; die jüngste Geburtskohorte wird von den zwischen 1968 und 1978 geborenen Personen gebildet. Die differenzierten, sehr interessanten Ergebnisse können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Nur einige wenige zentrale Befunde sollen hervorgehoben werden. Auch Müller/Pollak (2004) stellen fest, dass über den ganzen betrachteten Zeitraum hinweg Arbeiterkinder erheblich seltener das Abitur gemacht haben als die Kinder der sogenannten „oberen Dienstklasse“, das sind die Unternehmer, hohen Beamten und Angestellten, Angehörigen der akademischen Professionen u.Ä. Sie können jedoch zeigen, dass die Bildungs-Ungleichheiten bezogen auf das Abitur im Zeitverlauf geringer geworden sind, und zwar verringerten sich die Ungleichheiten am deutlichsten bei den ungelernten Arbeitern, Facharbeitern und Bauern (S. 325). Dieser Trend entwickelte sich allerdings nicht stetig; der Abbau der Bildungs-Ungleichheiten zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft fand vor allem bei den Geburtsjahrgängen statt, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er-Jahre hinein den für die Bildungskarriere entscheidenden Übergang von der Grundschule in das Sekundarschulsystem zu bewältigen hatten. Bei den jüngeren Geburtsjahrgängen, die, wie die Autoren schreiben, mit diesem Übergang „unter dem Eindruck verschlechterter Beschäftigungsaussichten von Akademikern und einer entsprechenden öffentlichen Diskussion konfrontiert waren (obwohl tertiäre Bildung faktisch weiterhin die beste Investition für vorteilhafte Karriereperspektiven ist), setzte das Aufholen der Bildungsbeteiligung in den Arbeiterklassen aus“ (S. 339).

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Bemerkenswert an der langfristigen Entwicklung ist darüber hinaus, dass sich der Abbau der Bildungs-Ungleichheiten nach dem Abitur nicht fortsetzt. Vielmehr wählen Abiturienten und Abiturientinnen aus Arbeiterfamilien viel häufiger Berufsausbildungen außerhalb der Hochschule als ihre ehemaligen Mitschüler aus anderen sozialen Klassen, und wenn sie sich für ein Studium entscheiden, dann gehen die Abiturienten eher an eine Fachhochschule, die Abiturientinnen allerdings eher an die Universität (S. 330 ff.). Diese Präferenz für nicht-tertiäre Berufsausbildungen bei Abiturienten aus Arbeiterfamilien hat sich sogar im Zeitverlauf verstärkt. Müller/Pollak (2004) schreiben dazu: „Arbeiterkinder – man kann es fast so krass sagen – meiden die Universitäten.“ (S. 336) Angesichts dieses differenzierten Bildes über die Entwicklung der Bildungs-Ungleichheiten nach der sozialen Herkunft dürfte deutlich geworden sein, dass eine einfache Aussage über diese Entwicklung nicht ohne Weiteres zu formulieren ist: Je nachdem, auf welchen Bildungsabschluss, auf welche sozialen Klassen und auf welchen Zeitpunkt man sich bezieht, wird die Aussage unterschiedlich ausfallen. Festhalten lässt sich allerdings, dass bis heute der gymnasiale Bildungsweg nicht der Pfad ist, über den Kinder aus Arbeiterfamilien in größerem Umfang zur Teilhabe an Bildung und zum sozialen Aufstieg geführt worden sind. Offensichtlich ist die massive Distanz der Arbeiterfamilien zum Gymnasium, auch wenn sie über die Jahrzehnte geringer geworden ist, auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch wirksam.164 Ein zweiter Blick auf Tabelle 2 – und vor allem wegen dieses zweiten Blicks ist sie hier aufgenommen worden – gibt jedoch deutliche Hinweise auf ein verändertes Bildungsverhalten von Kindern aus Arbeiterfamilien und damit auch auf eine gewisse Teilhabe an der Bildungsexpansion der alten Bundesrepublik. Die Tabelle dokumentiert zunächst, dass die Kinder aus den eher bildungsbürgerlich geprägten Beamtenfamilien 1989 im Alter von 17 und 18 Jahren praktisch alle noch eine allgemeinbildende Schule besuchen, vorzugsweise das Gymnasium, und nur in Ausnahmefällen eine berufliche Ausbildung machen. Dagegen finden sich die Kinder aus Arbeiterfamilien fast zu 60 % in einer beruflichen Ausbildung, die große Mehrheit (46,1 %) in einer Lehre. Der Anteil derer, die bereits erwerbstätig sind, ist zwar 1989 mit 8,7 % immer noch mehr als doppelt so hoch wie bei Jugendlichen aus den mittleren Angestelltenmilieus, doch hat er sich gegenüber 1976, wo er noch ca. 40 % betrug, stark verringert. Diese sehr markante Verringerung der Erwerbsquote von Jugendlichen aus Arbeiterfami164 Auch die beruflichen Gymnasien, die es in Baden-Württemberg gibt, scheinen diese Distanz nicht zu verringern. Etwa 30 % der Abiturientinnen und Abiturienten in Baden-Württemberg haben, von Realschulen und, zum geringeren Teil, von Hauptschulen kommend, an beruflichen Gymnasien ihr Abitur gemacht. Zwar werden die beruflichen Gymnasien in größerem Umfang von Schülerinnen und Schülern besucht, deren Eltern nicht zur „typischen“ Gymnasial-Klientel gehören, doch handelt es sich auch hier vorwiegend um Angehörige mittlerer bis höherer sozialer Milieus (vgl. Maaz u.a. 2004).

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lien gegenüber 1976 kommt durch zwei Effekte zustande: Zum einen besuchen inzwischen auch Kinder aus Arbeiterfamilien länger die allgemeinbildenden Schulen (die Realschule, die Hauptschule bis zur 10. Klasse, die Fachoberschule u.Ä., und in gewissem Umfang auch das Gymnasium), und zum zweiten hat sich die Zahl der Jugendlichen verringert, die ohne Berufsausbildung unmittelbar erwerbstätig werden. In diesem Punkt hat sich vor allem bei den Mädchen viel verändert, die früher viel seltener eine Lehre oder überhaupt irgendeine Berufsausbildung absolviert haben (vgl. dazu Jansen/Stooß 1993, Schober 1992). Insgesamt belegen diese Zahlen, dass die Bildungsexpansion auch für Jugendliche aus Arbeiterfamilien zu einem Mehr an Bildung geführt hat – wenn man jenen Pfad der Bildungs-Teilhabe berücksichtigt, zu dem diese sozialen Milieus traditionell eine stärkere Affinität haben. Allerdings ist die Teilhabe an Bildung über den Weg der beruflichen Ausbildung ständig gefährdet: Zum einen ist das Angebot an Ausbildungsplätzen qualitativ wie quantitativ stark abhängig von konjunkturellen Schwankungen und von der regionalen Wirtschaftsstruktur, und es stimmt nicht mit der Berufsstruktur der Arbeitsplätze überein, sodass viele junge Erwachsene bereits beim Übergang in den Beruf und in den folgenden Berufsjahren mit massiven Problemen des Berufswechsels und der Entwertung der erworbenen Qualifikationen konfrontiert sind. Dieser Bildungspfad, der offensichtlich in den Arbeitermilieus als der weniger riskante, enger an die praktischen Notwendigkeiten einer akzeptablen Existenzsicherung gekoppelte und daher auch als der im Rahmen der eigenen Handlungsmöglichkeiten besser steuerbare Bildungsweg erscheint, ist daher in Wirklichkeit deutlich stärker mit Unwägbarkeiten und Risiken behaftet als der Weg über das Gymnasium zum Studium und in den Beruf. Und zum zweiten setzen mehr und mehr Berufsausbildungen, gerade die moderneren und perspektivenreicheren, inzwischen einen höheren allgemeinbildenden Schulabschluss – Mittlere Reife oder Abitur – voraus. Seit auch der kleinschrittiger angelegte Bildungsweg von der Haupt- oder Realschule über die Lehre und die Ingenieurschule oder Fachschule zur Universität versperrt worden ist (mit der Einführung der Fachhochschule, für die das Abitur bzw. Fachabitur vorausgesetzt wird), sind die beiden Pfade der Bildungs-Teilhabe stärker voneinander abgeschottet, als sie es noch in den frühen 1970er-Jahren in der Bundesrepublik – und in der DDR bis zu ihrem Ende – waren: Nur mit Abitur erhält man Zugang zu jenen modernen Berufsausbildungen im Dienstleistungssektor, die relativ stabile Erwerbsbiografien, Weiterbildungsmöglichkeiten und attraktive Einkommen versprechen, und in diesen Ausbildungen finden sich dann auch – neben den Arbeiterkindern – die Kinder aus den mittleren und gehobenen sozialen Milieus. Wie Müller/Pollak (2004) dokumentieren, wird das Abitur gerade von Arbeiterkindern vorwiegend als Zugang zu diesem Segment der nichttertiären Berufsausbildungen genutzt.

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Abbildung 4: Absolventenquote an der Bevölkerung im typischen Abschlussalter im dualen System und Schulberufssystem 2006 nach Ländern (in Prozent)

Quelle: Bildungsbericht 2008, S. 113, Abb. E5-2

Ländliche Armut, Bildungsnöte und das Schulsystem Betrachtet man nun die Situation in Mecklenburg-Vorpommern, so zeigt sich, dass für die große Mehrheit der Jugendlichen die Lehre im Zentrum ihrer Bildungs- und Lebenspläne steht. Meier/Müller (1997), die im Jahre 1993 Jugendliche in je einem Landkreis in NordwestMecklenburg und in Sachsen-Anhalt nach ihren Lebensplänen befragten, konnten feststellen, dass 70 % der Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Sozialstatus nach der Schule eine Lehre beginnen wollten, und selbst Jugendliche aus Familien mit hohem Sozialstatus planten zu knapp 50 % eine Lehre (S. 153).165 Dass diese Präferenzen, jedenfalls für MecklenburgVorpommern, auch gut 10 Jahre später noch gelten und weitgehend realisiert werden, zeigen – gewissermaßen als die andere Seite der oben bereits dokumentierten niedrigen Gymnasi165 In diesen Zahlen sind Schulabgänger nach der 9. Klasse, nach der 10. Klasse und nach dem Abitur zusammengefasst.

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alquote – die Daten aus dem Bildungsbericht 2008: Über 60 % der Jugendlichen in der relevanten Altersgruppe haben in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2006 eine berufliche Ausbildung abgeschlossen (vgl. Abbildung 5). Nach wie vor ist hier die Lehre für Jugendliche aus einfachen und mittleren sozialen Milieus die gewissermaßen „natürliche“ oder selbstverständliche Bildungsinstitution. Über die Lehre suchen sie, wie ihre Eltern zu DDR-Zeiten, ihre Arbeitsmarktchancen zu sichern, ihre Kompetenzen zu entfalten und ihre Lebenssituation in stabile Bahnen zu bringen. Damit wird die von der „arbeiterlichen“ Kultur der DDR (Engler 1999) geprägte Bildungstradition fortgeführt – allerdings heute mit ganz anderen Konsequenzen für den mit diesem Bildungsweg zu erreichenden Standard der Allgemeinbildung, für die soziale Sicherheit, das gesellschaftliche Ansehen und die Möglichkeiten der Weiterbildung und des sozialen Aufstiegs. Wenn man diesen Befund mit den oben referierten Daten zur niedrigen Gymnasialquote im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns (vgl. Abbildung 1) und zur bundesweit höchsten Quote an Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss (vgl. Abbildung 2) zusammenfügt, dann wird deutlich, dass die Distanz zur bürgerlichen, durch das Gymnasium geprägten Bildungstradition, d.h. aber zur legitimen Kultur, außerordentlich hoch ist. Es spricht vieles dafür, dass diese „Bildungsferne“ inzwischen gerade Jugendlichen aus einfachen und aus armen Familien auf dem Lande den Weg aus der Armut versperrt. Land/Willisch (2002) und Willisch (2005) weisen darauf hin, dass mit dem Untergang der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der einstmals enge Zusammenhang von Gemeinde und Arbeit (in der Landwirtschaft) zerbrochen ist und damit auch die an die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften angelagerten Dienstleistungen und kulturellen Aktivitäten – Kinderbetreuung, Ferienorganisation, Ausbildungsangebote, das örtliche Kulturhaus, das Landambulatorium zur medizinischen Versorgung usw. – aus den Dörfern verschwunden sind. Die Folge waren – neben der schon allein aufgrund der fehlenden Arbeitsmöglichkeiten massiven Abwanderung gerade der jüngeren Altersgruppen – Prozesse der ökonomischen, sozialen und kulturellen Verödung vieler Dörfer und eine inzwischen über zwei Jahrzehnte hinweg bestehende Transferabhängigkeit und Verarmung der Dorfbewohner, Prozesse, die vielerorts in sozial abgekoppelte, in sich abgeschlossene Dorfgemeinschaften mündeten, „verschämte Schicksalsgemeinschaften“, wie Willisch (2005) sie nennt. Diese gewissermaßen „aus der Welt gefallenen“, armen und kulturell armen Dörfer schließen auch ihre Kinder und Jugendlichen in materielle Nöte und Perspektivlosigkeit ein, die eine eigene Anstrengung, insbesondere die Bildungsanstrengung, sinnlos erscheinen lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich in diesen sozialen Welten die „Bildungsferne“ der Eltern zur Bildungsarmut der Kinder verfestigt. Dass Bildungsarmut in Mecklenburg-Vorpommern in besonderem Maße zum Risiko geworden ist, kann nun allerdings nicht allein auf die wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche

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in dieser Region und die damit verbundene Destabilisierung der Lebensverhältnisse und die entsprechende Desorientierung der Individuen nach der Wende zurückgeführt werden. Von diesen Umbrüchen, Arbeitsplatz- und Arbeitskräfteverlusten und Verarmungsprozessen waren auch andere ostdeutsche Länder betroffen, und doch kann man in dieser Schärfe von Phänomenen der Bildungsarmut nur in Mecklenburg-Vorpommern sprechen. Wenn man hierfür eine Erklärung sucht, so muss auch auf Besonderheiten des Bildungssystems in Mecklenburg-Vorpommern hingewiesen werden: Mecklenburg-Vorpommern hat als einziges ostdeutsches Land nach der Wende die aus dem Westen stammende Dreiteilung des allgemeinbildenden Schulwesens in Hauptschule, Realschule und Gymnasium übernommen. Es ist zu vermuten, dass diese Struktur des Schulsystems gerade unter den besonderen Konstellationen der ökonomischen Umstrukturierung auf dem Lande einiges zu den Bildungsnöten der nachwachsenden Generation beigetragen hat.166 Die Einführung des dreigliedrigen Schulsystems in Mecklenburg-Vorpommern hatte zunächst zur Folge, dass Eltern und Kinder mit einer ihnen völlig neuen Vielfalt an Schularten und Schulen konfrontiert wurden.167 Aus dieser Vielfalt dann die „richtige“ Schule für das Kind auszuwählen ist, wie man weiß, auch im Westen eine schwierige Entscheidung. Die „richtige“ Wahl der Schule muss noch schwerer fallen, wenn man in einem Bildungssystem aufgewachsen ist, in dem es im Grunde nur die eine Schule gab, die man mehr oder weniger lang besuchen konnte (vgl. dazu von Below 2002, S. 100 ff.) und die tatsächlich die Voraussetzungen für das Erlernen eines ordentlichen und angesehenen Berufs und einen gesicherten Platz in der Gesellschaft lieferte. Um eine Entscheidung im eigentlichen Sinn, um einen informierten, bewussten, Kosten und Nutzen differenziert abwägenden Prozess, handelt es sich allerdings auch im Westen in erster Linie bei Eltern der „bildungsnahen“ sozialen Milieus, und auch hier weniger bei der Entscheidung über den Schultyp – dass das Kind auf das Gymnasium geht, ist selbstverständlich und jeder bewussten und rationalen Entscheidung vorausgesetzt –, sondern wenn es um die Wahl des „richtigen“ Gymnasiums geht. Diese Entscheidung stützt sich in der Regel auf monate- oder gar jahrelange Prozesse der Informationsbeschaffung, des Abwägens, der Beeinflussung von Lehrerurteilen, der Beratung in der Familie, des Erfahrungsaustauschs mit 166 Bildungspolitische Veränderungen, die nach 2006 einsetzten, konnten in diesem Text nicht berücksichtigt werden, da sie sich den in bis zur Fertigstellung des Bandes verfügbaren empirischen Untersuchungen noch nicht dokumentierten. 167 Im Kreis Grevesmühlen beispielsweise gab es 1989 insgesamt 18 Schulen, davon 15 Polytechnische Oberschulen (10 Schuljahre), eine erweiterte allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (die zum Abitur führte) und zwei Sonderschulen. 1993 gab es 24 Schulen: 8 Grundschulen, eine Hauptschule, 10 Realschulen, z.T. mit Grund- bzw. Hauptschulteil, 2 Gymnasien und 3 Sonderschulen – es gab aber nicht mehr Schülerinnen und Schüler (Meier/Müller 1997, S. 55 f.).

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Freunden und Bekannten, der Teilnahme an „Tagen der offenen Tür“ an den Gymnasien in der Region usw. Eltern aus den „bildungsfernen“ sozialen Milieus folgen hingegen, wenn es um die Frage geht, welche Schule das Kind nach der Grundschule besuchen soll, in der Regel den Vorgaben der Lehrer, die eher als Verdikte aufgenommen werden denn als „Empfehlungen“; und auch die soziale und räumliche Nähe von Bildungsgelegenheiten wirkt wie eine stumme Vorgabe für den einzuschlagenden Bildungsweg. In dieser sozialen Welt „geht weg“, wer auf das Gymnasium wechselt oder auch wer es „auf die Realschule schafft“; er/sie sondert sich ab und wird abgesondert durch Lehrerurteil und Lehrerverhalten, während die anderen einfach „bleiben“. Es kommt hinzu, dass der Übergang auf die Realschule oder gar das Gymnasium hier keineswegs nur den Übergang auf eine andere Schule bedeutet. Vielmehr tritt das Kind – und um Kinder im Alter von neun oder zehn Jahren handelt es sich am Ende der Grundschulzeit – damit in eine ganz andere, den Eltern fremde Welt ein, nämlich in eine Schule mit Anforderungen, über die man wenig weiß, außer dass sie hoch sind, und mit Sitten und Gebräuchen, die fremd sind und bei denen man sich Sorgen machen muss, ob das Kind dort überhaupt zurechtkommt, ob es „mithalten“ kann in der ganzen Bandbreite der nur vage erahnten Anforderungen an Leistungen, Verhaltensweisen und Lebensstil. Zugleich sondert sich das Kind durch seinen Eintritt in diese andere Welt ab von seiner Familie und von seinen Freunden, um sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft zu machen. Die Entscheidung, die den Eltern und dem Kind damit abverlangt wird, ist in jeder Hinsicht problematischer, ungewisser in ihren Risiken und emotional belasteter als die gleiche Entscheidung in einer „bildungsnahen“ Familie, umso mehr, als die Familie sich nicht auf Hilfen vonseiten der Schule verlassen kann. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird ständig gefordert, dass die Familie die Arbeit der Schule durch stetige Mitarbeit, häusliche Kontrolle der Schulleistungen des Kindes und zusätzliche kulturelle Förderung unterstützen solle. Offensichtlich hat sich in Mecklenburg-Vorpommern, zumal auf dem Lande, sehr schnell die Hauptschule zu der Schule entwickelt, die, wie die alte Volksschule und auch die Hauptschule im Westen, in den eher „bildungsfernen“ sozialen Milieus als selbstverständlich sich an die Grundschule anschließende Fortsetzung der Schule wahrgenommen wurde. Die Hauptschule ist jedoch schon lange nicht mehr vergleichbar mit der alten Volksschule; sie ist sozial sehr viel selektiver als noch vor 25 Jahren, damit ist sie auch kulturell verarmt und in dem Anregungspotenzial, das sie für das Lernen bietet, stark reduziert (vgl. dazu Solga/Wagner 2005). Die neuere, v.a. im Gefolge der internationalen Studien zu den Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern entstandene Forschung zur Frage, wie Bildungs-Ungleichheiten entstehen, hat gezeigt, dass es an Schulen ganz unterschiedliche Lernmilieus gibt, die mit bedeutsamen Unterschieden in den Lernzuwächsen der Schülerinnen und Schüler einhergehen (vgl. dazu die zusammenfassende, sehr differenzierte und überzeugende Analyse von Maaz u.a. 2009). Das für den deutschen Kontext besonders relevante Phänomen ist, dass diese Unterschiede in den Lernmilieus nicht nur zwischen einzelnen Schulen festzustellen sind, sondern

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in besonderem Maße zwischen den einzelnen Schultypen, und dass die einzelnen Schultypen jeweils in sich sozial sehr homogen sind. Im gegliederten Schulsystem finden sich also im Gymnasium vor allem die Kinder aus den „bildungsnahen“, sozial bessergestellten Familien, und hier finden sich auch überdurchschnittliche Leistungszuwächse bei den Schülerinnen und Schülern. Der gleiche Zusammenhang gilt auch für die Hauptschule, nur mit negativem Vorzeichen: Die Schülerinnen und Schüler, die eine Hauptschule besuchen, stammen aus den „bildungsfernen“ sozialen Milieus, oft aus armen Familien, und machen nur geringe Lernfortschritte – die Autoren sprechen von einem „Schereneffekt“ in der Leistungsentwicklung der unterschiedlichen Schülergruppen. Zusammenfassend heißt es: „Die Ergebnisse verschiedener empirischer Studien sprechen dafür, dass die Schulstruktur in gegliederten Systemen einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung unterschiedlicher schulischer Lern- und Entwicklungsumwelten hat.“ (S. 31) Für die Kinder aus einfachen sozialen Verhältnissen, zumal für Kinder aus armen Familien, bedeutet der Übergang in die Hauptschule im Alter von 10 Jahren, dass sie unter ihresgleichen bleiben, dass sie mit den anderen Erfahrungen, Vorstellungen, Interessen, Kenntnissen, mit der anderen Haltung zur Welt, die Kinder aus „bildungsnahen“ Familien mitbringen, nicht in Berührung kommen. Dies hat auch Folgen für den Unterricht und für das Lehrerverhalten: Die Anregungen und die Varianten des Lehrstils, die sich aus einer sozial gemischten Zusammensetzung der Klasse ergeben würden, kommen nicht vor, und man kann vermuten, dass daraus insgesamt ein ärmerer Unterricht resultiert. So haben die für die Bildungspolitik Verantwortlichen in Mecklenburg-Vorpommern nach der Wende die Weichen gestellt für ein Schulsystem, das die mit der wirtschaftlichen Umstrukturierung einhergehenden Prozesse sozialer und kultureller Desintegration und damit auch Tendenzen der Ghettoisierung noch verstärkt. Im Jahr 2006 hat die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern diese Entscheidung revidiert, die Grundschule auf sechs Jahre ausgedehnt, die Hauptschule abgeschafft und integrierte Schulen eingeführt. Es ist zu hoffen, dass diese Veränderung der Struktur des Schulwesens auch mit einem neuen Schulkonzept verbunden ist, das die Bildungsnöte von Kindern und Jugendlichen aus „bildungsfernen“ sozialen Milieus zu überwinden vermag.

Schlussbemerkungen Die vorliegenden Daten zur Bildung der Kinder und Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern verweisen auf die Entstehung von Zonen der Bildungsarmut, die insbesondere auf dem Lande die ökonomische und soziale Destabilisierung und Verarmung großer Teile der Bevölkerung zu verfestigen drohen. Wie sich zeigte, kann die schwierige Bildungssituation

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in Mecklenburg-Vorpommern nicht auf überkommene Bildungsrückstände dieser Region zurückgeführt werden. Vielmehr greifen drei zentrale Aspekte des Zugangs zu Bildung ineinander, die besonders Kinder und Jugendliche aus einfachen sozialen Verhältnissen und aus armen Familien in ihren Bildungs-Chancen beeinträchtigen: - ein Habitus der „Bildungsferne“ als einer großen Distanz zur legitimen Kultur, wie sie insbesondere das Gymnasium repräsentiert; dieser Distanz steht die ausgeprägte Nähe zu einem Bildungskonzept gegenüber, das perspektivisch auf die qualifizierte Berufsausbildung als einer Einkommen, Ansehen und umfassende Kompetenzen für Arbeit und Alltag sichernden Bildung gerichtet ist. Diese Haltung zur legitimen Kultur und das damit verbundene Verständnis über den Sinn und Zweck von Bildung sind, wie die bis heute markanten Bildungs-Ungleichheiten nach der sozialen Herkunft zeigen, in den sozialen Milieus der Arbeiterklasse in Deutschland nach wie vor dominant. Angesichts des neuen, komplexeren Standards der Allgemeinbildung und angesichts der gestiegenen Anforderungen an die kognitiven Kompetenzen auch in der nicht-tertiären Berufsausbildung sind die traditionellen Bildungsstrategien der Arbeiterfamilien jedoch nicht mehr in der Lage, die damit angezielte Sicherheit der Lebenslage und der gesellschaftlichen Teilhabe zu gewährleisten. - eine dieses Bildungsverständnis stabilisierende kulturelle Tradition der DDR, in der die qualifizierte berufliche Bildung in der Tat Einkommen, Ansehen, eine stabile Erwerbsbiografie und umfassende Kompetenzen zur Bewältigung von Arbeit und Alltag gesichert hat. Die „arbeiterliche“ Kultur der DDR enthielt offenkundig von einem bestimmten Zeitpunkt an, zu dem der gesellschaftliche Nachholbedarf an Bildung gedeckt war (seit den 1970er-Jahren), kaum mehr Impulse für den sozialen Aufstieg durch höhere Bildung und damit für den Besuch der Erweiterten Oberschule und der Universität. Da sie andererseits auch Arbeitern, d.h. Personen ohne Abitur und Universitätsstudium, durch starke Subventionierung des Kulturangebots und durch gezielte Hinführung (etwa im Rahmen von gewerkschaftlichen Initiativen) den Zugang zum Konsum von Gütern der Hochkultur öffnete, drängte sich der Besuch einer höheren Schule als Vorbedingung für die Teilhabe am „kulturellen Erbe“, auch dem Erbe der bürgerlichen Tradition, keineswegs auf. - eine Struktur des allgemeinbildenden Schulwesens, die mit der Einführung der drei Schultypen Hauptschule, Realschule und Gymnasium der „Bildungsferne“ der Kinder und Jugend­lichen aus einfachen sozialen Verhältnissen institutionell – in Gestalt der Hauptschule – noch Vorschub leistete, statt Brücken zu bauen zur Verringerung der ­Distanz dieser Schülerinnen und Schüler gegenüber der legitimen Kultur. Das dreigliedrige Schulsystem mit seiner hohen sozialen Homogenität vor allem des Gymnasiums und der Hauptschule und den entsprechenden spezifischen Lern- und Entwicklungsmilieus hält faktisch Kinder und Jugendliche aus einfachen sozialen Verhältnissen und insbesondere aus armen, durch schwierige und perspektivlose Lebenslagen gekennzeichnete Familien

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in ihrem sozialen Milieu fest und behindert sie dadurch in ihren Bildungs- und Entwicklungschancen. Bourdieu erinnert daran, dass das griechische Wort scholé, von dem unser deutsches Wort Schule stammt, wörtlich „Muße“ bedeutet, nämlich die Muße des Denkens, des Explorierens und Übens. So ist die Schule als der Ort bestimmt, der „von praktischen Beschäftigungen und Besorgnissen“ und dem existenziellen Druck der Lebenssicherung befreit ist (Bourdieu 2001, S. 23), um dem Lernen und der Auseinandersetzung mit der Welt vorwiegend im Modus des Denkens Raum und die dazu notwendige Zeit zu geben. Die Situation der Schule ist, wie Bourdieu schreibt, „ein Ort und ein Zeitpunkt sozialer Schwerelosigkeit, an dem die gewöhnlich geltende Alternative zwischen Spiel (pazein) und Ernst (spoudazein) außer Kraft gesetzt ist und man ‚ernsthaft spielen‘ (spoudaios pazein) kann, ganz so, wie man Platon zufolge philosophieren soll: spielerische Einsätze ernst nehmend, sich ernsthaft um Fragen kümmernd, welche die ernsthaften, schlicht mit den praktischen Dingen der gewöhnlichen Existenz befaßten und um sie besorgten Leute ignorieren.“ (S. 23) Wie lässt sich die mehrere Jahre währende, sehr ernsthafte Beschäftigung unserer Grundschulkinder mit der richtigen Schreibweise und der richtigen Kombination von kleinen runden und eckigen Zeichen, Buchstaben, beschreiben, wenn nicht als „ernsthaft spielen“ in einer Situation der „sozialen Schwerelosigkeit“, d.h. jenseits des Drucks der drängenden Fragen des materiellen und familiären Alltags? Allerdings ist das Sich-Einlassen auf diese Anforderung, die mit der Aneignung der legitimen Kultur verbunden ist, wie sie in der Schule und insbesondere in den „höheren“ Schulen gelehrt und gelebt wird, offenkundig sozial sehr voraussetzungsvoll. Differenzierte sprachliche Kompetenzen, eine Haltung der Neugier zur Welt, die Fähigkeit zur genauen und distanzierten Beobachtung der Dinge und der Menschen, die Fähigkeit zur klaren und sicheren Formulierung von Unterscheidungen, das Sich-Versenken-Können in eine komplexe Aufgabe und das geduldige Weitermachen und Üben, bis man die Aufgabe bewältigt hat – schon diese wenigen Hinweise auf Fähigkeiten und Kompetenzen, die man braucht, um mit dem kulturellen Angebot der Schule produktiv umgehen zu können, machen deutlich, dass es auch bestimmter sozialer Verhältnisse bedarf, damit ein Kind diese grundlegenden Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln kann. Die sozialen Voraussetzungen, die diese Muße ermöglichen, finden sich in den ökonomisch wohlsituierten, gebildeten sozialen Milieus eher als in den ökonomisch weniger gesicherten Milieus der Arbeiter oder gar der Familien, die an der Armutsgrenze leben. Die Schule hat jedoch den Auftrag, allen Kindern und Jugendlichen die für das selbstständige Handeln und Leben in der modernen Gesellschaft erforderlichen kulturellen Wissensbestände und Fähigkeiten zu vermitteln, auch jenen Kindern und Jugendlichen, die diese sozialen Voraussetzungen für die Aneignung der legitimen Kultur zu Hause nicht oder nur in geringem Umfang vorfinden. Dies ist, wie die hartnäckig fortbestehenden Bildungs-Ungleichheiten nach der sozialen Herkunft immer wieder dokumentieren, eine schwierige Aufgabe.

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Als in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre über ungleiche Bildungs-Chancen, die Umgestaltung und den Ausbau des Bildungswesens diskutiert wurde, waren sich die Bildungsreformer – BildungspolitikerInnen, aber auch die in der Öffentlichkeit damals sehr präsenten SoziologInnen und PädagogInnen – ebenso wenig wie die breite Öffentlichkeit darüber im Klaren, wie schwierig es sein würde, der Ungleichheit der Bildungs-Chancen nach der sozialen Herkunft zu Leibe zu rücken. Sie wussten, dass die Modernisierung des Bildungswesens und eine deutliche Verringerung der Bildungs-Ungleichheiten nur zu erreichen sein würden, wenn durchgreifende Reformen der Schule, der Lernkultur und der pädagogischen Praxis in der Schule in Gang gesetzt würden, und einen kurzen historischen Moment lang sah es so aus, als könnte die Umgestaltung des Bildungswesens gelingen. Die Reformen wurden jedoch nicht realisiert, und so ist es bei einer bloßen Bildungsexpansion geblieben, die im Wesentlichen im Rahmen der alten Strukturen und Gestaltungsprinzipien der Schule stattfand. Mecklenburg-Vorpommern hat diese Strukturen und Gestaltungsprinzipien nach der Wende übernommen und damit, bezogen auf das vorher existierende Schulsystem der DDR, einen großen Schritt rückwärts gemacht auf dem Weg zu einem Bildungssystem, das alle ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen mit den grundlegenden Kompetenzen für die Erarbeitung eines modernen Weltverständnisses und selbstständiges Handeln in dieser Welt auszustatten vermag. Spätestens seit den Ergebnissen der internationalen Schulleistungs-Vergleiche, die unter Kürzeln wie PISA und TIMSS bekannt geworden sind, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es großer gesellschaftlicher und pädagogischer Anstrengungen bedarf, um die durch „Bildungsferne“ bedingten Lernhemmnisse bei Schülerinnen und Schülern aus einfachen bäuerlichen Milieus, aus der Arbeiterklasse und aus manchen Einwanderergruppen zu überwinden. Wie neuere Untersuchungen zeigen, stieß selbst das soziale Experiment einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik, das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR mit den Arbeiter-und-BauernFakultäten durchgeführt wurde, an Grenzen bei dem Versuch, die Bildungsdefizite bei den Studierenden bäuerlicher Herkunft und aus Arbeiterfamilien nachholend auszugleichen (vgl. dazu die sehr differenzierte und anregende Untersuchung von Miethe 2007). Die soziologische Forschung zur Problematik ungleicher Bildungs-Chancen ist mittlerweile sehr umfangreich, differenziert, methodisch anspruchsvoll und hat zu einigen klaren und gut fundierten Erkenntnissen über den Zusammenhang von Bildung und gesellschaftlichen Strukturen geführt. Wir wissen insbesondere, dass die Bildungs-Ungleichheiten nach der sozialen Herkunft zu den hartnäckigsten sozialen Ungleichheiten der Moderne überhaupt gehören – und in Deutschland besonders ausgeprägt sind. Diese Befunde sind in der einschlägigen Forschung vielfältig und variantenreich belegt (vgl. z.B. Becker/Lauterbach 2004, Berger/ Kahlert 2005, Blossfeld/Shavit 1993, Engler/Krais 2004, Fend 2009, Fuchs/Sixt 2007, Georg 2006, Müller/Haun 1994, Peisert 1967). Die Antworten der Bildungsforschung auf die Frage,

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wie diese hartnäckig sich haltende Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung der verschiedenen sozialen Klassen und Milieus zustande kommt – und erst recht, wie sie zu überwinden sei – sind jedoch nach wie vor unzulänglich. Unser Wissen über die Zusammenhänge von sozialen Verhältnissen, sozialem Handeln und der Ausbildung einer bestimmten Haltung zu Bildung ist ungenau und allgemein. Dabei mag eine Rolle spielen, dass die Forschung die Problematik der ungleichen Bildungs-Chancen in der Regel als eine Art virtuelles Phänomen behandelt. Es ist aus dem Blick geraten, dass ungleiche Bildungs-Chancen in Gestalt von Bildungsarmut auf der einen, Bildungsreichtum auf der anderen Seite auch einen Ort haben, dass „Bildungsferne“ ebenso wie „Bildungsnähe“ an bestimmten Orten zu Hause sind, wo soziale Milieus auf die „passenden“ räumlichen Gelegenheitsstrukturen treffen und eigene, sich immer wieder neu reproduzierende soziale Welten konstituieren. Nur wenige Untersuchungen zur Beziehung von Bildung und sozialer Ungleichheit gehen diesen Zusammenhängen im Detail nach (z.B. der Ost-West-Vergleich von Büchner u.a. 1995, die Arbeiten zur Reproduktion von Bildungsreichtum wie etwa die Studie zu Elite-Internaten von Kalthoff 1997, Büchner/Brake 2006 mit ihrem genauen Blick auf die innerfamiliäre Transmission von kulturellem Kapital und die Beiträge in Brake/Bremer 2010); insgesamt bleibt unser Kenntnisstand disparat. Der sozialökologische Kontext der Armut, von dem wir nur wissen, dass er die Bildung der in Armut heranwachsenden Kinder und Jugendlichen massiv behindert, muss sehr viel genauer, auch räumlich genauer, erfasst werden, soll es einer „rationalen Pädagogik“ besser als bisher möglich werden, diese Kinder und Jugendlichen zumindest aus ihrer Bildungsarmut herauszuholen. Wegweisend für eine sozialwissenschaftliche Bildungsforschung, die Bildungsarmut ebenso wie Bildungsreichtum nicht im virtuellen Raum der Forschungskonstrukte aufsucht, sondern an ihrem wirklichen Ort, könnten die, wie mir scheint, fast vergessenen, doch hoch innovativen Arbeiten von Muchow 1935 und Zeiher/Zeiher 1994 sein. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen stehen die Kinder und Jugendlichen selbst, ihre Alltagspraxis und die Art und Weise, mit der sie sich ihre Welt erschließen. Ihr Handeln wird sehr genau in Raum und Zeit lokalisiert und analytisch rekonstruiert; damit aber wird es möglich, das komplexe Geschehen, in dem sich ein in bestimmter Weise von den gegebenen sozialen und materialen Bedingungen geprägter Habitus herausbildet, systematisch und differenziert zu erfassen. Das analytische Potenzial dieses raumbezogenen methodischen Vorgehens ist, soweit ich sehe, bislang für die Forschung über Bildungs-Ungleichheiten noch nicht fruchtbar gemacht worden.

Literatur: Allmendinger, Jutta: Bildungsarmut. Zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. Soziale Welt 50, 1999, S. 35–50.

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Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildungsbericht 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Bielefeld 2008. Bathke, Gustav Wilhelm: Soziale Reproduktion und Sozialisation von Hochschulstudenten in der DDR, in: Burkart, Günter (Hg.), Sozialisation im Sozialismus. Lebensbedingungen in der DDR im Umbruch. Beiheft 1 der Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 1990, S. 114–128. Bauerkämper, Arnd: Traditionalität in der Moderne. Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Mecklenburg nach 1945. Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 51, 2003, 2, S. 9–33. Baumert, Jürgen; Cortina, Kai S.; Leschinsky, Achim: Grundlegende Entwicklungen und Strukturprobleme im allgemeinbildenden Schulwesen, in: Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Cortina, Kai S. u.a., Reinbek 2008, S. 53–130. Becker, Rolf: Dauerhafte Bildungs-Ungleichheiten als unerwartete Folge der Bildungsexpansion? in Die Bildungsexpansion. Erwartete und unerwartete Folgen, hg. v. Hadjar, Andreas; Becker, Rolf, Wiesbaden 2006, S. 27–61. Becker, Rolf; Wolfgang Lauterbach (Hg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungs-Ungleichheit. Wiesbaden 2008. Behnken, Imbke (Hg.): Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozess der Zivilisation. Opladen 1990. Behnken, Imbke; du Bois-Reymond, Manuela; Zinnecker, Jürgen (Hg.): Stadtgeschichte als Kindheitsgeschichte. Lebensräume von Großstadtkindern in Deutschland und Holland um 1900. Opladen 1989. Below, Susanne von: Bildungssysteme und soziale Ungleichheit. Opladen 2002. Berger, Peter A.; Kahlert, Heike (Hg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Weinheim 2005. Blossfeld, Hans-Peter; Shavit, Yossi: Dauerhafte Ungleichheiten. Zur Veränderung des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Bildungs-Chancen in dreizehn industrialisierten Ländern. Zeitschrift für Pädagogik 39, 1993: 25–52. Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a. M. 2001. Brauns, Hildegard: Bildung in Frankreich. Eine Studie zum Wandel herkunfts- und geschlechtsspezifischen Bildungsverhaltens. Opladen 1998. Brake, Anna; Bremer, Helmut (Hg.): Alltagswelt Schule. Die soziale Herstellung schulischer Wirklichkeiten. Weinheim/München 2010. Büchner, Peter; Fuhs, Burkhard; Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Vom Teddybär zum ersten Kuß. Wege aus der Kindheit in Ost- und Westdeutschland. Opladen 1995.

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Armutsräume. Konsequenzen für die Gesellschaftsanalyse und die soziologische Forschung Sighard Neckel Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag formuliert im Hinblick auf die während der „Leutenot-Tagung“ am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg vorgetragenen Befunde zur Armutsforschung in Nordostdeutschland begriffliche und analytische Perspektiven für eine Armutsforschung in ländlichen Räumen und diskutiert daraus abzuleitende Konsequenzen für die soziologische Gesellschaftsanalyse und Theoriebildung. Zunächst wird der Begriff der Armut in seinen unterschiedlichen Bedeutungen und Definitionen überdacht und die Notwendigkeit der genaueren Unterscheidung verschiedener Armutsbegriffe herausgearbeitet, um mithilfe solch begrifflicher Unterscheidungen die historischen Veränderungen im Forschungskontext besser darstellen zu können. Weiterhin wird die Kategorie des Raumes problematisiert und im Anschluss als Alternative zu den bisher eher zeitbezogenen Ansätzen der Armutsforschung ein Konzept der Verräumlichung von Armut entworfen. Für dieses Verständnis der Verräumlichung von Armut wird das soziologische Theoriemodell zu Abwanderung und Widerspruch von Albert O. Hirschman (1974) aufgegriffen. Abwanderung und Widerspruch spielten in Nordostdeutschland während der letzten Jahrzehnte eine so große Rolle, dass ihre nicht-/intendierten Folgen bis in die Gegenwart und nähere Zukunft sichtbar sein werden. Für die Kategorie der Zeit werden verschiedene Zeitstrukturen, die in unterschiedlichen Generationen gleichsam verkörpert sind, thematisiert. Schließlich wird das Konzept Kultur der Armut von Oscar Lewis (1968) genutzt, um einen Vergleich der formalen Ähnlichkeiten zwischen der Armutsentwicklung amerikanischer Schwarzer und der ländlichen Bevölkerung im östlichen Vorpommern zu wagen und jenseits vereinfachender historischer Kontinuitäten Perspektiven künftiger gesellschaftlicher Entwicklungen zu denken. Schlüsselwörter: Verräumlichung von Armut, Abwanderung und Widerspruch, Kultur der Armut

Der folgende Beitrag versucht, im Hinblick auf die Analysen dieses Bandes einige Reflexionen aus soziologischer Sicht beizutragen und begriffliche und analytische Vorschläge zu formulieren. Dies ist kein einfaches Unterfangen, weil das Projekt, das im thematischen Mittelpunkt der Darstellungen dieses Buches steht, und die weiteren Forschungsberichte von

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außerordentlicher Komplexität sind. Das Projekt „Armutsdynamik im ländlichen Raum“ gehört zu den wenigen Forschungsvorhaben in der aktuellen Soziologie, die versuchen, eine historische Dimension in die eigene Untersuchung einzubauen. Sicher gibt es vielfach Untersuchungen im soziologischen Forschungsbetrieb, die sich auf längere Zeiträume beziehen. Doch eine historische Längsschnittperspektive, die von heute aus weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht, findet sich selten, obgleich einer der Großen des Faches, Norbert Elias, stets mahnte, dass die Soziologie die langfristigen Wandlungsprozesse nicht übersehen sollte. Bei einer Wissenschaft, die notorisch eher auf die Aktualität gesellschaftlicher Vorgänge hin orient­iert ist, ist es aufschlussreich, dass uns die in diesem Buch dargestellten Projekte die Möglichkeit geben, eine historische Langsicht zu verfolgen. Als eine weitere Eigenschaft der präsentierten Analysen fällt auf, dass sie in einer engen Verbindung mit der gesellschaftlichen Praxis stehen. So wurden Armutsdaten aus der Praxis der Armutsverwaltung gewonnen, woraus dann auch die Notwendigkeit erwächst, gegenüber der Verwaltungspraxis und ihren Daten eine reflexive Distanz einzunehmen. Mein Beitrag soll dazu dienen, die vorgestellten Analysen noch einmal mit einem etwas größeren Abstand zu reflektieren. Hierzu sollen im Folgenden anhand bestimmter Begriffe einige Probleme und Perspektiven der Armutsforschung und insbesondere die Dynamiken der Armutsentwicklung im östlichen Vorpommern diskutiert werden. Dabei werden nicht einzelne Projekte getrennt voneinander verhandelt, sondern die gemeinsamen Bezugspunkte und Untersuchungsprobleme. Am Anfang soll jener Begriff Armut in seinen Bedeutungen überdacht werden, der zentral für die hier versammelten Forschungsvorhaben ist. Sodann wird die Kategorie des Raums diskutiert, die in den empirischen Untersuchungen ja häufiger angesprochen wird. Anschließend wird ein analytischer Vorschlag gemacht zum Konzept einer Verräumlichung von Armut als Alternative zu bisher eher zeitbezogenen Ansätzen in der Armutsforschung. Weiterhin wird das Problem der Abwanderung behandelt und ein soziologisches Theoriemodell eingespielt, bei dem Abwanderung eine wichtige Rolle spielt: „Abwanderung und Widerspruch“ von Albert O. Hirschman (1974) – ein Theoriemodell, das in einer fruchtbaren Weise auf die untersuchten Problembereiche angewendet werden kann. Ebenso drängt es sich angesichts der Projektanalysen auf, noch einmal etwas Näheres zur Kategorie der Zeit auszuführen, vor allem deutlich zu machen, welche verschiedenen Zeitstrukturen in unterschiedlichen Generationen gleichsam verkörpert sind. Etwas ausführlicher soll das Stichwort Kultur der Armut debattiert und ein etwas riskanter Vergleich zwischen der Armutsentwicklung amerikanischer Schwarzer und der ländlichen Bevölkerung im östlichen Vorpommern unternommen werden. In diesem Zusammenhang sind dann auch einige Aspekte der Rolle von Männern und Frauen in der Kultur der Armut zu erwähnen. Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die Fragen zurückkommen, die Dirk Kaeslers Beitrag aufgeworfen hat: Steht das, was wir heute im früheren Ostelbien erleben, in einer langen historischen Kontinuität? Welche Perspektiven

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weist die gegenwärtige Situation auf? Gibt es ein neues Leben im Nirgendwo und wie könnte es aussehen?

Der Begriff der Armut Vielfach wird in den Beiträgen erwähnt, dass es unterschiedliche Definitionen von Armut gibt, so den relativen Armutsbegriff, der besagt, dass arm derjenige ist, der über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt. Im Unterschied dazu bezeichnet ein absoluter Armutsbegriff eine Lebenslage, in der man durch Armut eine existenzielle Gefährdung erlebt (vgl. Hauser 2008). Schließlich wird ein Armutsbegriff verwendet, auf den sich sowohl die dynamische Armutsforschung als auch das Projekt zur Armutsdynamik bezieht. Dieser Armutsbegriff ist politisch-normativ gesetzt, was bedeutet, dass als Armut gilt, was der Gesetzgeber als solche definiert. Ich finde es auf der einen Seite sehr plausibel, dass mit einem solchen normativen Armutsbegriff gearbeitet wird, der reflexiv und transparent ist. Der relative Armutsbegriff beispielsweise ist ja nicht weniger normativ als der politisch gesetzte. Auch schließt man sich, wenn man sich auf einen normativen Armutsbegriff bezieht, mit guten Gründen an die Selbstdefinition der modernen Gesellschaft an, in der Armut eben auch als ein normatives Problem angesehen wird – was selbstverständlich begründungspflichtig ist und nicht hinter statistischen Zahlen versteckt werden kann. Armut in der modernen Gesellschaft trägt ein Charakteristikum, das Georg Simmel (1908/1992, S. 512 ff.) erhellend beschrieben hat: Die Klasse der Armen sei eine höchst eigenartige soziologische Synthese, so Simmel in einem berühmten Kapitel seiner „Soziologie“. Sie entstünde nämlich nicht „durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass (der Arme) Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte“ (ebd., S. 551). Simmel zufolge wird Armut erst dadurch zu einer einheitlichen Kategorie, dass die Gesellschaft in einer bestimmten Weise mit Armut verfährt. Die Reaktion der Gesellschaft ist es, welche die Klasse der Armen konstituiert. Die Gesellschaft gewährt den Armen Unterstützung aus einem eigenen Interesse an der Pazifizierung sozialer Probleme, nicht aus Menschenfreundlichkeit. Durch diese Unterstützung wird eine neue Klasse geschaffen, die – wie Simmel sagt – ihrer sozialen Stellung nach nur arm und weiter nichts anderes ist. Dies sei der Unterschied zwischen der modernen Armutsklasse gegenüber Personenkategorien wie den armen Angestellten, Kaufleuten, Künstlern oder Bauern, die arm sind, ohne dass der materielle Mangel jedoch das allein definierende Merkmal ihrer sozialen Stellung wäre. Sie bleiben durch die Qualität ihrer Tätigkeiten den sozialen Berufskategorien erhalten, während die staatliche Armenfürsorge eine Klasse der Armen schafft, die keine weitere Eigenschaft aufweist, als arm zu sein.

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Angesichts der ländlichen Armut, die im östlichen Vorpommern bis in die Gegenwart historisch verankert ist, stellt sich die Frage, welche Formen von Armut wir heute im Unterschied etwa zu den Armutsverhältnissen des 19. Jahrhunderts finden. Die dynamische Armutsforschung hat offensichtlich am Simmel’schen Armutsbegriff angesetzt und entsprechend immer dann Armut registriert, wenn ein Leistungsempfang vorhanden war. Demgegenüber hat sich das Projekt von Simone Kreher die Prekarisierung der Lebensweise von Armen näher angeschaut, die zwar auch früher schon arm gewesen sind, aber in einer anderen Weise. Angesichts dieser Forschungslage scheint es mir nützlich zu sein, verschiedene Armutsbegriffe genauer zu unterscheiden, um mithilfe solcher begrifflicher Unterscheidungen die historischen Veränderungen besser darstellen zu können.

Die Kategorie des Raumes und die Verräumlichung von Armut Die Kategorie des Raumes spielt in den hier versammelten Forschungen eine große Rolle, ohne dass Raum aber in einer systematischen Weise zur Analyse des empirischen Materials verwendet würde. Dies ist in der Armutsforschung bisher nur hinsichtlich der Kategorie der Zeit der Fall, deren Verwendung sich bekanntlich mit einer bestimmten Diagnose, eben jener der Verzeitlichung von Armut verbindet (vgl. Leibfried et al. 1995). Ich denke, dass die hier vorliegenden Untersuchungen dafür sprechen, der These von der Verzeitlichung der Armut eine These von der Verräumlichung von Armut entgegenzustellen, weil Armut in bestimmten Regionen zu einem definierenden Merkmal bestimmter Sozialräume geworden ist. Doch welchen Raumbegriff sollte man hierbei verwenden, welcher Raumbegriff eignet sich dafür? Raum hat in der Soziologie ja einen schlechten Ruf als konservativ oder geradezu reaktionär. Stets schien es so, dass die Kategorie der Zeit das Progressive repräsentiert, den Wandel, den Fortschritt und die Modernisierung, während Raum das Beharrende und das Begrenzende darstellt. Heute sind wir in der Soziologie über diese Entgegensetzung, die sich mit der alten Unterscheidung von Statik und Dynamik verband (vgl. Adorno 1975), längst hinweg. In der Soziologie wird mittlerweile von einem komplexeren Raumverständnis ausgegangen (vgl. auch Neckel 2009), das sich auch zur Anwendung in den dargestellten Projektuntersuchungen anbieten würde. Soziologisch wird heute meist von einem relativistischen Raumbegriff ausgegangen, im Unterschied zum absoluten Raumkonzept, das auf die Newton’sche Physik zurückgeht. Das absolute Raumkonzept basiert auf dem Unterschied zwischen dem Raum und den Objekten, die sich in ihm befinden. Im relativistischen Raumverständnis hingegen wird dieser Dualismus zwischen Raum und der in ihm befindlichen Materie überwunden, da Raum als Einheit betrachtet wird, in dem sich bestimmte Strukturen und Prozesse materialisieren. Mehr

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noch: Durch die Beziehung zwischen bestimmten sozialen Objekten wird dieses Verständnis des Raumes überhaupt erst hergestellt. So haben etwa auch die teilweise sehr kleinräumigen kartografischen Darstellungen sozialer Faktoren in den Projektuntersuchungen gezeigt, wie physikalische Räume und soziale Räume nicht nur ineinander verschränkt sind, sondern wie soziale Prozesse die physikalischen Raumeinteilungen selbst beeinflussen können. Der soziologische Theoretiker, der den Begriff des Raumes für die Sozialanalyse fruchtbar gemacht hat, ist Pierre Bourdieu (1991; 1997), bei dem Sozialanalyse und Raumanalyse miteinander verknüpft werden, sodass die Raumanalyse eo ipso eine Sozialanalyse ist. Bourdieu spricht in seinen Texten, die sich auf Räumlichkeit beziehen, von den „Ortseffekten“ in der Verteilung sozialer Positionen. Das heißt, Orte haben Wirkungen auf die soziale Positionierung, und soziale Positionierungen wirken wiederum auf Orte zurück. Wenn man sich die Begriffe anschaut, mit denen Bourdieu in der Analyse von Räumen arbeitet – „Situationsrenditen“, „Positionsprofite“, „Okkupationsgewinne“ – dann hat man den Eindruck, dass das östliche Vorpommern gewissermaßen immer die negative Seite dieser Begriffe bezeichnet. Bourdieu spricht über Räume mit Worten, die von der Gewinnerseite her formuliert sind (1991; 1997), während eine Region wie Vorpommern scheinbar die Verliererseite vertritt. In dem Maße, wie Armut ein definierendes Merkmal eines Sozialraumes wird, wirkt allein die Adresse als eine Form gesellschaftlicher Stigmatisierung. Mein Vorschlag wäre, ob man nicht in Anbetracht der komplexeren Kategorien, welche die heutige Soziologie für die Raumanalyse zur Verfügung stellt, die Forschungen zur Armut in Regionen wie dem östlichen Vorpommern als eine begreifen sollte, welche die Verräumlichung von Armut anschaulich macht. Mit der Verräumlichung von Armut gehen offenbar andere Merkmale einher, als dies bei einer Verzeitlichung von Armut der Fall ist. Die These von der Verzeitlichung von Armut geht davon aus, dass der Bezugspunkt des Erlebens von Armut das Individuum und die individuelle Biografie ist. Insofern korrespondiert die These von der Verzeitlichung von Armut mit der Individualisierungstheorie. Der Verräumlichung von Armut entspricht dies ganz und gar nicht, da hiermit soziale Prozesse benannt werden, die einen kollektiven Charakter haben. In der Verräumlichung von Armut wird Armut sogar in der Weise kollektiv, dass von ihr auch diejenigen in einer Region betroffen sind, die selbst nicht arm sind. Diese Kollektivität einer Erfahrung wird durch den Rekurs auf den Raum viel deutlicher zum Ausdruck gebracht als im Bezug auf die Zeitkategorie.

Abwanderung und Widerspruch Mit der Verräumlichung von Armut hängt auch das Problem der Abwanderung zusammen. Wenn Armut zum prägenden Merkmal einer ganzen Region wird, wenn Armut also nicht

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nur ein episodenhaftes Geschehen innerhalb der eigenen individuellen Biografie ist, sondern sie sich auf Dauer verräumlicht, dann ist es eine typische Reaktionsweise darauf, den Sozialraum zu verlassen, um der Armut zu entgehen: Es entsteht Leutenot. Eine solche Abwanderung gibt es nicht erst in der Gegenwart, sondern sie prägte auch schon die Vergangenheit. Das zentrale sozialwissenschaftliche Theoriemodell zur Abwanderung hat bekanntlich Albert O. Hirschman in seinem Buch „Abwanderung und Widerspruch“ (1974) formuliert. Interessanterweise wurde es von Hirschman später auch für die Analyse des Zusammenbruchs der DDR verwendet (1992), woran sich eine intensive Diskussion darüber anschloss, ob dieses Theoriemodell nicht maßgeblich für die Erklärung der Wende in der DDR insgesamt sein könnte. „Exit and voice“ – wie es bei Hirschman heißt – haben seinerzeit zusammengewirkt und die DDR zum Einsturz gebracht. Vielleicht haben Abwanderung und Widerspruch aber auch etwas mit den vergangenen Verhältnissen ländlicher Armut in Vorpommern und mit der heutigen Situation zu tun. Hirschman führt ja aus, dass Abwanderung und Widerspruch zwei typische Reaktionsweisen von Akteuren sind, die mit der Leistung von Organisationen unzufrieden sind (1974; 1992). In der Vergangenheit Vorpommerns gab es vielfache Abwanderungsbewegungen. Widerspruch existierte hingegen viel seltener und in der DDR auch nur auf eine äußerst riskante Weise. Nicht weniger gefährlich war die Abwanderung in Form der „Republikflucht“. Im Ergebnis der staatlichen Repression ergab sich so etwas wie eine politisch erzwungene stationäre Lebensform, der man nur um den Preis großer Gefährdungen hätte entgehen können. Vorpommern hat dies sicherlich noch einmal besonders geprägt, da die Zentren von voice in der DDR insgesamt eher im Süden des Landes angesiedelt waren und sich mehr in den größeren Städten konzentrierten. Abwanderung und Widerspruch gibt es, wie die betreffenden Forschungsergebnisse zeigen, aber eben auch heute. Etwa in Form einer selektiven Abwanderung bestimmter Bevölkerungsgruppen, vor allem jüngerer, besser ausgebildeter Frauen. Und auch Widerspruch ist zu finden, von dem heute am meisten die NPD profitiert. Es ist die politische Tragik dieser Region, dass das, was Widerspruch sein kann, sich hier dokumentiert im Rechtsradikalismus. Da dies eine explosive Mischung ist, stellt sich als große politische Herausforderung, voice von einem Votum für die Rechtsradikalen zu trennen.

Zeit und Generation Die Verschränkung verschiedener Zeitstrukturen gehört zum Spannendsten an den vorgestellten Projekten. Insbesondere das Projekt von Simone Kreher versucht, drei Zeitstrukturen miteinander zu verknüpfen: die aktuelle Zeit, die Zeit der Generationen und die longue durée.

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Möglicherweise könnte diese Unterscheidung noch systematischer ausgebaut werden, indem man die drei genannten Zeitstrukturen in einer etwas anderen Weise unterscheidet und dann versucht, die verschiedenen bereits im Material belegten Wechselwirkungen dieser Zeitstrukturen zu analysieren. Zum einen die historische Zeit. Diese Zeitdimension ist gegliedert durch geschichtliche Ereignisse, von der Abschaffung der Leibeigenschaft über das deutsche Kaiserreich und den Untergang der Weimarer Republik bis zur DDR und ihrem Ende. Zum zweiten die Zeit der Generationen – jene Zeitdimension, auf die Karl Mannheim in seinem berühmten Aufsatz über „Das Problem der Generationen“ (1928; 1964) abgestellt hat –, die sich durch die Unterscheidung von Jahrgangsklassen gliedert. Die Zeit der Generationen ist die Zeit der Formativität, das heißt jene Phase der eigenen Biografie, in der in einer bestimmten Jahrgangsgruppe gesellschaftliche Vorgänge und Phänomene zum ersten Mal wahrgenommen werden, was die Akteure in ihrer eigenen Empfindungsfähigkeit und in den eigenen Präferenzen entscheidend prägt. Dadurch ist die Zeit der Generation für das gesellschaftliche Selbstverständnis so wichtig, und hierin liegt auch der Grund, weshalb Menschen dazu tendieren, sich selber in Generationsgruppen einzuteilen. Und schließlich die biografische Zeit, gegliedert durch den individuellen Lebensverlauf. Besonders interessant ist es, sich auf die Wechselwirkungen zwischen diesen drei Zeitdimensionen zu beziehen. Eine Wechselwirkung betrifft etwa den Umstand, dass es ein großer Unterschied ist, in welcher Generationenlage man den Zusammenbruch der DDR erlebt hat. Die Wende wurde, das machen zahlreiche der vorgestellten Untersuchungen deutlich, von denjenigen, die 1989 zum Beispiel zwischen 35 und 40 Jahre alt gewesen sind, mitunter ziemlich anders erlebt als in Jahrgangsgruppen, die entweder sehr viel älter oder entschieden jünger gewesen sind und dadurch dem Dilemma der mittleren Generation entgehen konnten. Interessant wäre es, zu beobachten, wie sich solche Generationenlagen auch auf das Erleben heutiger Sozialverhältnisse auswirken. In den Untersuchungen war davon die Rede, dass es eine problembeladene Fokusgeneration des Umbruchs gibt und zwei andere, die Großelternund die Kindergeneration, welche die Wende vergleichsweise gut überstanden und von ihr zahlreiche Vorteile hatten. Die sozialen Probleme konzentrieren sich offenbar in der mittleren Elterngeneration, was bei deren Kindern zu einer Gewöhnung an die Prekarisierung der ­eigenen Lebensverhältnisse führen kann.

Kultur der Armut Die Übertragung solcher Sozialerfahrungen von einer Generation auf die andere ist das charakteristische Merkmal für eine kulturelle Formation, die in einem prominenten Ansatz der Armutsforschung untersucht worden ist: „Kultur der Armut“ – ein Untersuchungskonzept,

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das der amerikanische Kulturanthropologe Oscar Lewis (1967; 1968; vgl. auch Lindner 1999) am Beispiel mexikanischer Armutsgebiete in den 1950er-Jahren entwickelt hat. Dieses Konzept ist stets auch politisch sehr umstritten gewesen, weil mit ihm die Vermutung verbunden wurde, dass es zu einem blaming der Opfer von Armut führe, die Armen also selbst für ihre Armut verantwortlich mache. Dies mag dazu beigetragen haben, dass das Konzept der „Kultur der Armut“ in der heutigen Soziologie häufig einen – zu Unrecht – schlechten Ruf hat. Die These ist, dass die Subkultur der armen Einwanderer, die Lewis untersucht hat, in sich selbst bestimmte kulturelle Werte reproduziert, die sie in der Armut festhalten, und dass die Armen nicht in der Lage sind, Verhaltensmuster zu entwickeln, die es ihnen erlauben würden, aus der Armut auszubrechen. Die habituellen Hindernisse im Verhalten liegen danach vor allem in einer Kultur der Kurzfristigkeit. Langfristigere Handlungs- und Wahrnehmungshorizonte verkürzen sich zugunsten eines Verhaltensmodus, der auf je aktuelle Gelegenheitsstrukturen abgestellt ist, wofür am Ende auch die eigenen Ambitionen abgesenkt oder gar nicht mehr ausgebildet werden. Dies begründet einen großen Abstand zu jeder Form von Arbeitsethik. Die Theorie von Lewis (1968) besagt somit, dass die Armen nicht nur Opfer bestimmter ökonomischer Verhältnisse sind, sondern durch bestimmte eigene Werte und Verhaltensweisen daran gehindert sind, der Armut zu entfliehen. Umstritten wurde diese Theorie, als sie in den USA in den 1960er-Jahren von den Republikanern politisch übernommen worden ist. Der Anlass hierfür war, dass Lyndon B. Johnson in seinem „war on poverty“ ein Programm zur Förderung eines zweiten Arbeitsmarktes initiiert hatte. Die Konservativen, die dagegen opponierten, bezogen sich auf Oscar Lewis’ Forschungen und behaupteten, dass die Förderungsprogramme Geldverschwendung seien, da die Armut nicht in zu geringen ökonomischen Chancen begründet sei, sondern daran läge, dass die Armen zur Wahrnehmung ihrer Chancen kulturell gar nicht in der Lage seien. Hieran schloss sich eine intensive wissenschaftliche Diskussion in den Vereinigten Staaten an, die sich fortsetzte bis zu den Debatten um die „new underclass“. Der bekannteste Kontrahent der These der „Kultur der Armut“ war der Harvard-Soziologe William Julius Wilson, der in seinem Buch „The Truly Disadvantaged“ (1987) die ökonomischen Gründe von Armut vor allem in den schwarzen Nachbarschaften der USA aufgezeigt hat. Danach sei der Niedergang der „heavy industry“ im Nordosten der Vereinigten Staaten und somit die Schrumpfung der großen Automobil- und Stahlwerke ursächlich für die Entstehung einer „new underclass“. Die kulturellen Verhaltensmuster hätten sich dieser veränderten Lage nur adaptiert, was sich auch bei jeder anderen Bevölkerungsgruppe und nicht nur bei den amerikanischen Schwarzen eingestellt hätte. Nun will ich die ländliche Armut im östlichen Vorpommern nicht mit dem Schicksal der amerikanischen Schwarzen in Detroit, Chicago oder Pittsburgh vergleichen, aber es gibt eine formale Ähnlichkeit in der soziologischen Diskussion. Auch in der Debatte um die

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sozialen Probleme, die sich nach der Vereinigung infolge der Deindustrialisierung in Ostdeutschland einstellten, standen sich Positionen gegenüber, die hierfür entweder rein wirtschaftliche ­Ursachen sahen oder aber den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR und den historischen Prägungen, die sich dort zusammenfanden, eine Mitschuld für die sozialen Krisenerscheinungen gegeben haben. Ich glaube, dass viele Befunde der hier versammelten Untersuchungen dafür sprechen, dass sich in diesem Teil Ostdeutschlands über einen langen historischen Zeitrahmen hinweg tatsächlich so etwas wie eine Kultur der Armut herausgebildet hat. Ein charakteristisches Merkmal hierfür sind die bereits erwähnten Übertragungen entsprechender Orientierungsmuster innerhalb der Generationen, die in den Forschungen vielfach beobachtet wurden. Ein weiterer Indikator ist, dass bestimmte Phänomene einer immobilen und selbstgenügsamen Lebensform nicht erst im Zuge der sozialen Probleme nach der Wende entstanden, sondern bereits Eigenschaften ostelbischer Lebensformen in jener Epoche waren, über die uns Max Weber berichtet hat. Dass es offensichtlich eine historisch lang anhaltende Reproduktion von bestimmten kulturellen Orientierungen gibt, die als wenig tauglich für den modernen Arbeitsmarkt gelten, darin muss man (dies ist übrigens auch eine Lehre, die man aus der entsprechenden Debatte in den USA ziehen kann) nicht unbedingt einen Vorwurf sehen. Man kann die Kultur der Armut als das Ergebnis eines soziologisch recht einleuchtenden Prozesses betrachten, da es verwunderlich wäre, wenn Menschen ihre kulturellen Handlungsorientierungen nicht ihrer lang anhaltenden ökonomischen Lage anpassen würden. In der Kultur der Armut stecken ja auch wichtige Ethiken des Alltagslebens. Zwar ist sie eine Kultur der Selbstgenügsamkeit, aber auch eine Kultur der Reproduktion bestimmter Eigenschaften und Kompetenzen, die möglicherweise zwar keinen Erfolg im individualistischen Marktwettbewerb eintragen, aber durchaus geeignet sind, um sich in wirtschaftlich prekären Lebensformen zurechtzufinden. Die Befähigung zur Improvisation gehört etwa dazu. Ebenso kann man im Absenken eigener Ambitionen einen kulturellen Schutz eigener Lebensformen entdecken. Im Durchwurschteln schließlich – dem muddling through, wie es im Englischen heißt – steckt eine Absage an den Perfektionismus, was eine zutiefst realitätstüchtige Lebenskonstruktion ist, wenn man sich einschränken muss. Man braucht also eine Kultur der Armut nicht unbedingt rein defizitär verstehen. In der Kultur der Armut spielen Männer und Frauen je eine spezifische Rolle. Zunächst repräsentiert die Kultur der Armut vor allem eine traditionelle weibliche Kultur, insofern die Frauen die Prinzipien der Versorgung, der Fürsorge und der Subsistenz aufrechterhalten. Das Problem in der Kultur der Armut sind die Männer, die auf die Versorgung entweder durch Institutionen oder durch die Frauen hin ausgerichtet sind. Dies scheint mir einer der Gründe für die Abwanderung von Frauen aus der ostdeutschen Kultur der Armut zu sein. Sie entziehen sich dem Versorgungsauftrag der Männer, der für die Frauen ohnehin mit ­Risiken ver-

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bunden ist wie dem männlichen Alkoholismusproblem, der Gewalttätigkeit, frühen Schwangerschaften und der Absage an ein eigenes Leben.

Historische Kontinuitäten und künftige Perspektiven Vieles spricht dafür, dass es im Sozialraum des östlichen Vorpommern eine Prägung von Strukturen und Mentalitäten durch die longue durée der historischen Zeit gibt, die sich als eine lang anhaltende Geschichte des Paternalismus und der Abhängigkeit bemerkbar macht. Diese Region wäre somit der Prototyp einer „Gesellschaft der Unselbständigen“, wie dies ein bedeutender Sozialwissenschaftler der Weimarer Republik, Emil Lederer (1913; 1979) ausgedrückt hat. Lederer meinte dies nicht allein in dem wirtschaftlichen Sinne der An- oder Abwesenheit unternehmerischer Selbstständigkeit, sondern im Sinne einer Lebensführung, die kaum autonome Züge aufweist. In der kollektiven Sinnstruktur schlägt sich eine solche Lebensführung häufig als Fatalismus nieder, was in unserem Fall vielleicht auch mit der religiösen Prägung in dieser Region zu tun hat, die stark durch die lutherische Frömmigkeit geprägt ist. Ein zentrales Moment scheint mir indes der Paternalismus zu sein. Wie Dirk Kaesler anhand der Enquête von Max Weber zeigt, kam dieser Paternalismus in eine tiefe Krise, als durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft die Interessengemeinschaft von Arbeitgeber und Arbeitern aufgelöst wurde, was man als eine Entlassung in die Unsicherheit erlebte. Die Kollektivierungspolitik der DDR hat insofern an die paternalistische Tradition angeschlossen, als sie mit der Gründung der LPGs eine Lösung des Krisenproblems der Auflösung der Inte­ ressengemeinschaft angeboten hat. Gleichsam subkutan konnte die DDR als eine Fortsetzung des Paternalismus mit anderen Mitteln erscheinen, auf die gerade im ländlichen Raum die Tradition des fatalistischen Einverständnisses übertragen wurde. Gibt es ein Leben im Nirgendwo? Ja, aber zunächst einmal fallen einem die Sackgassen gegenwärtiger Entwicklungen auf. In einer Region wie dem östlichen Vorpommern ist die Nachbildung des westdeutschen Gesellschaftsmodells zum Scheitern verurteilt. Eine Per­ spektive gibt es nur im Experiment jenseits der Konventionen, gibt es nur als gesellschaft­ liche Herausforderung, die Kultur des Durchwurschtelns in eine experimentelle Lebenskultur im 21. Jahrhundert zu verwandeln. Eine konkrete materielle Voraussetzung hierfür ist das bedingungslose Grundeinkommen, für welches eine Region wie Vorpommern geradezu ein Paradefall ist. Das bedingungslose Grundeinkommen hätte zwei Konsequenzen: Es würde zum einen die Abhängigkeit reduzieren und könnte tatsächlich einen Bruch mit dem Paternalismus bewirken. Gleichzeitig allerdings geht der Bezug eines Grundeinkommens auch mit dem Einverständnis zu einem niedrigen Lebensstandard einher. Den niedrigen Lebensstan-

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dard aber hat man in Vorpommern unter Arbeitslosen sowieso. Gleichwohl würde sich der Umstand, dass in Vorpommern nur 76 Prozent der durchschnittlichen Kaufkraft in Deutschland vorhanden ist, auf längere Zeit nicht wesentlich ändern. Aber man gäbe einer Region und ihrer Bevölkerung eine Form von Würde zurück, die in einer größeren Selbstständigkeit liegt. Und man würde die sowieso sinnlose soziale Disziplinierung aufgeben, die sich heute in der Hartz-IV-Gesetzgebung niederschlägt. Dies wäre gewiss auch eine Absage an eine Kultur der Verbesserung: Man sollte akzeptieren, dass es Lebensmuster jenseits der Arbeitsethik gibt. Das mag insbesondere besser gebildeten Schichten nicht gefallen. Aber keine gesellschaftliche Schicht hat das Recht, ein moralisches Verbesserungsregime über bestimmte Sozialgruppen zu verhängen.

Literatur: Adorno, Theodor W: „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“, in: Gesell­ schaftstheorie und Kulturkritik, hg. v. Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 26–45. Bourdieu, Pierre: „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“, in: Stadt-Räume, hg. v. Martin Wentz, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 1991, S. 25–34. Bourdieu, Pierre: Ortseffekte, in: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, hg. v. Pierre Bourdieu, Konstanz: Universitätsverlag 1997, S. 159–167. Hirschman, Albert O. (1992): „Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik“, Leviathan (20)3. S. 330–358. Lederer, Emil: „Die Gesellschaft der Unselbständigen. Zum sozialpsychologischen Habitus der Gegenwart (1913)“, Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910 bis 1940, hg. v. Jürgen Kocka, Hans Speier, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1979, S. 14–32. Leibfried, Stephan; Leisering, Lutz; Buhr, Petra et al.: Zeit der Armut, Frankfurt a. M.: Verlag, 1995. Lewis, Oscar: Die Kinder von Sanchez. Selbstporträt einer mexikanischen Familie, Frankfurt a. M.: Fischer Bücherei 1967. Lewis, Oscar: „The Culture of Poverty“, in: On Understanding Poverty. Perspectives from the Social Sciences, hg. v. Daniel Patrick Moynihan, New York: Basic Books 1968, S. 187–200. Lindner, Rolf: „Was ist ,Kultur der Armut‘? Anmerkungen zu Oscar Lewis“, in: Soziale Aus­ grenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus, hg. v. Sebastian Herkommer, Hamburg: Verlag, 1999, S. 171–178.

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Sighard Neckel

Mannheim, Karl: „Das Problem der Generationen (1928)“, in: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und hg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied: Luchterhand 1964, S. 509–565. Neckel, Sighard: Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum, in: Kommu­ nikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“, hg. v. Moritz Csáky; Christoph Leitgeb, Bielefeld: Transcript 2009, S. 45–55. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a. M.: Verlag, 1992, S. 764–771. William Julius Wilson: The Truly Disadvantaged. The Inner City, the Underclass, and Public Policy, Chicago: The University of Chicago Press, 1987.

Die AutorInnen des Bandes Stephan Beetz, Sozialarbeiter und Soziologe, Dr. phil., langjährige Forschungen u.a. zur Entwicklung ländlicher Räume, seit 2009 Professor für Soziologie und angewandte Sozialforschung an der Fakultät Soziale Arbeit an der Hochschule Mittweida. Bettina Brünner, geb. 1972, M. Sc. PH, Masterstudiengang Public Health an der Hochschule Fulda, Ergotherapeutin (Bachelor of Health/ NL). Thomas Elkeles, geb. 1952, Prof. Dr. med., Diplom-Soziologe, Studium der Humanmedizin, Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaften in Hannover und Berlin, Promotion in Medizinsoziologie (Hannover), seit 2001 Hochschullehrer an der Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Gesundheit, Pflege, Management. Leiter des DFG-Projekts „Gesundheit und alltägliche Lebensführung in nordostdeutschen Landgemeinden“. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Präventions- und Gesundheitssystemforschung, Gesundheitsberichterstattung, Sozialepidemiologie, Arbeits- und Organisationswissenschaften, Evaluationsforschung, Regionalsoziologie. Theodor Fock, promovierter Agrarwissenschaftler und seit 1993 Professor für Agrarpolitik, Volkswirtschaftslehre und Umweltpolitik an der Hochschule Neubrandenburg. Angela Häußler, Dr. oec. troph., seit April 2007 Akademische Rätin am Lehrstuhl für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2007 Promotion zum Thema „Nachhaltige Ernährungsweisen in Familienhaushalten. Eine qualitative Studie zur Umsetzbarkeit des Ernährungsleitbilds in die Alltagspraxis“. 2005–2007 Elternzeit; freiberufliche Lehr- und Forschungstätigkeit im Bereich Nachhaltigkeit. 1997–2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 1991–1996 Studium der Haushalts- und Ernährungswissenschaft an der JLU Gießen Enrica Hinz, geboren 1983, M. Sc. (Public Health and Administration), Studium der Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Neubrandenburg, seit 04/2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Gesundheit und alltägliche Lebensführung in nordostdeutschen Landgemeinden“ an der Hochschule Neubrandenburg, Arbeitsschwerpunkte: quantitative Methoden empirischer Sozialforschung, Armutsforschung, Arbeit und Gesundheit. Dirk Kaesler, geb. 1944, Univ.-Prof. i.R., Dr. rer. pol. habil.; Dr. rer. pol.; Dipl.-Soz.; Lehr-

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Die AutorInnen

stuhl für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg (1995–2009). Beate Krais, geb. 1944, Dipl.-Soz., Dr. rer. pol., Professorin (i.R.) Studium der Soziologie an der Universität Tübingen und an der FU Berlin. 1970 bis 1975 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der FU Berlin, 1975 bis 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. 1995 bis 2009 Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Bildungssoziologie, Hochschul- und Wissenschaftsforschung, Soziologie des Geschlechterverhältnisses, soziologische Theorie. Simone Kreher, geb. 1961, Dipl.-Soz., Professorin für Soziologie der Gesundheit an der Hochschule Fulda seit 2005; Leiterin des DFG-Projektes „Armutsdynamiken im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns“ mit seinen beiden Förderphasen (KR 1888/2-1/2; 05/06–09/07 und 12/07–08/08). Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitssoziologie, qualitative Verfahren der empirischen Sozialforschung, Armutsforschung. Katharina Matthäus, geb. 1983, M. Sc. PH, Masterstudiengang Public Health an der Hochschule Fulda, Physiotherapeutin (Bachelor of Science/NL, Europafachhochschule Fresenius Idstein). Ana Lúcia Mazur, geb. 1977, M. Sc. PH, Masterstudiengang Public Health an der Hochschule Fulda, Studium der Physiotherapie an der Bundesuniversität Rio de Janeiro, Brasilien. Sighard Neckel, Univ.-Prof. Dr., geb. 1956, hat nach Lehrtätigkeit an der Freien Universität Berlin und Professuren an den Universitäten Siegen, Wuppertal und Gießen seit 2007 den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Analyse der Gegenwartsgesellschaft an der Universität Wien inne. Zugleich ist er Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die symbolischen Ordnungen sozialer Ungleichheit, die Soziologie des Ökonomischen und der kulturelle Wandel in modernen Marktgesellschaften. Michael Popp, geb. 1971, M.A. Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie. Mitarbeit an Aufbereitung des Pretests und Antragstellung der Landgesundheitsstudie. Seit 2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitssoziologie, qualitative Methoden der Sozialforschung, Regionalsoziologie. Christof Röttger, geb. 1959, Diplom-Sozialwissenschaftler, Studium der Sozialwissenschaften

Die AutorInnen

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in Duisburg, 2008–2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Gesundheit und alltägliche Lebensführung in nordostdeutschen Landgemeinden“ an der Hochschule Neubrandenburg. Arbeitsschwerpunkte: quantitative Methoden empirischer Sozialforschung, Sekundärdaten, Arbeitsepidemiologie. Birgit Storr, geb. 1978, Diplom-Pädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitskreis Neue Erziehung e.V., Doktorandin am Arbeitsbereich Qualitative Bildungsforschung des Fachbereiches Erziehungswissenschaft und Psychologie der FU Berlin.

GERHARD AMMERER, ELKE SCHLENKRICH, SABINE VEITS-FALK UND ALFRED STEFAN WEISS (HG.)

ARMUT AUF DEM L ANDE MITTELEUROPA VOM SPÄTMITTEL ALTER BIS ZUR MITTE DES 19. JAHRHUNDERTS

Bedingt durch die gute Quellenüberlieferung konzentrierte sich die Forschung bislang weitgehend auf die institutionalisierte Armenpflege der Städte, wobei der ländliche Raum mit seinen Fürsorgeeinrichtungen weitgehend aus dem Blick geriet. In diesem Sammelband werden nunmehr erste Ergebnisse bei der Aufarbeitung dieses Forschungsdesiderats präsentiert. Mit den neun Beiträgen wird ein Themenbündel präsentiert, das unter anderem Aspekte wie Armenmentalität, Umgang mit Krankheit im Dorf, bettelnde Frauen und Überlebensstrategien von Nichtsesshaften beinhaltet. Darüber hinaus werden der Alltag in ländlichen Hospitälern, Fürsorgetransfer von der Stadt auf das Land sowie ländliche Armut im regionalen Vergleich fokussiert. MIT BEITRÄGEN VON

Gerhard Ammerer

Otto Ulbricht

Helmut Bräuer

Christina Vanja

Martin Scheutz

Sabine Veits-Falk

Elke Schlenkrich

Alfred Stefan Weiß

Sebastian Schmidt 2010. 232 S. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78495-1

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar