Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs 9783205790396, 9783205783046, 9783486589429

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Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs
 9783205790396, 9783205783046, 9783486589429

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Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs

SCHRIFTENREIHE DES INSTITUTS FÜR ÖSTERREICHKUNDE Herausgegeben von Ernst Bruckmüller

2010 Böhlau Verlag Wien Oldenbourg Verlag München

Österreich Archiv

Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs Herausgegeben von Ernst Bruckmüller

2010 Böhlau Verlag Wien Oldenbourg Verlag München

Drucklegung gefördert durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien; Amt der Niederösterreichischen Landesregierung – Kultur; MA 7 – Kulturamt der Stadt Wien – Wissenschafts- und Forschungsförderung und die Alpenland. Gemeinnützige Bau-, Wohn- und Siedlungsgenossenschaft, St. Pölten.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2010 Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar. Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagabbildung: Josef Bergler, „Die wohltätige Hausfrau“ (1805). ©: Salzburger Museum, Alpen Straße 75, 5020 Salzburg Druck: Prime Rate Kft., Budapest Lektorat: Andrea Schnöller, Wien Satz: Melitta Binder, Weitra ISBN 978-3-205-78304-6 Verlag für Geschichte und Politik im Böhlau Verlag ISBN 978-3-486-58942-9 Oldenbourg Wissenschaftsverlag München

Inhalt

Ernst Bruckmüller Armut und Reichtum in der österreichischen Geschichte ... ...............

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Gerhard Jaritz ‚Armut‘ im Spätmittelalter .................................................................

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Helmut Bräuer Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich .....

32

Alfred Damm Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert – das Spital in Weitersfeld als Beispiel für herrschaftliche Armenversorgung .......................................................

58

Sabine Veits-Falk Armut an der Wende zum Industriezeitalter ......................................

89

Hannes Stekl Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie .........

113

Gerhard Melinz Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannungsfeld sozialund armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938) .............

141

Peter Melichar Alter, neuer und verlorener Reichtum. Eine Skizze zu den großen Vermögen im Österreich der Zwischenkriegszeit .....................

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Gudula Walterskirchen Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert .....

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Martin Schenk Armut in Österreich – die halbierte Freiheit ............................................

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Ernst Bruckmüller

Armut und Reichtum in der österreichischen Geschichte „Armut“ und „Reichtum“ sind umgangssprachlich häufig verwendete Begriffe. Es mangelt ihnen allerdings an wissenschaftlicher Präzision. Grundlegende Bedeutungsverschiebungen sind bei solchen durch Jahrtausende verwendeten Begriffen anzunehmen. Die Verhältnisse waren und sind eben überaus unterschiedlich, in denen „reich“ und „arm“ verwendet wurden. Aber etwas ist doch über all die langen Zeiträume gleich geblieben: „Armut“ und „Reichtum“ bezeichnen jedenfalls Extreme in den Chancen, über Güter zu verfügen. Wer arm war und ist, hatte und hat eine stark verminderte Chance, Güter zu erwerben, zu besitzen und zu benützen, die Chance der Reichen hingegen ist groß. Grundsätzlich wurde es erst möglich, über einigermaßen dauerhafte Güter zu verfügen, seit Menschen dauerhafte Güter produzieren und Vorräte anlegen konnten. Dies war erst mit dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht im „fruchtbaren Halbmond“ Vorderasiens im Neolithikum der Fall, also vor etwa 10.000 bis 12.000 Jahren. Mit der „neolithischen Revolution“ setzte eine rasch wachsende Arbeitsteilung zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern, Kriegern und Herrschaftsträgern ein, eine nach Waffengebrauch, Prestige und Aneignung dauerhafter Güter (durch Fürsten, Könige, Priester, Händler oder Beamte) differenzierte Gesellschaft entstand. Jetzt kann man auch das Entstehen und Aufblühen größerer und ganzjährig bewohnter Siedlungen beobachten. Jared Diamond spricht in seinem geistreichen Buch von „Kleptokratien“, also von räuberischen oder diebischen Herrschaftseliten, die die Kontrolle über die durch die neuen Produktionsweisen erstmals möglichen Überschüsse bei sich konzentrierten.1 Sehr früh bestand also ein enger Zusammenhang zwischen hervorragenden gesellschaftlichen Positionen und erleichtertem Zugang zu verschiedenen Gütern – und umgekehrt zwischen der Situation der großen Masse der Herrschaftsunterworfenen und ihrer Armut. Nicht zufällig kennt daher Ernst Bruckmüller, Dr., Univ.-Prof., Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. 1

Jared Diamond: Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt am Main 1998.

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Ernst Bruckmüller

auch das europäische Mittelalter nicht nur den Gegensatz zwischen „dives“ und „pauper“, sondern ganz ebenso zwischen „potens“ und „pauper“. Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, etwa in der Begrifflichkeit der Bauernkriege, waren die „armen Leute“ vielleicht auch tatsächlich materiell benachteiligt, sicher aber waren sie der Herrschaft durch Andere (Adel, Geistlichkeit, Fürst, bald auch dessen Bürokratie) unterworfen.2 Während es aber in Diamonds Buch um die welthistorische Frage geht, warum einige Gesellschaften arm geblieben sind, während andere zunehmend gesellschaftlichen Reichtum produzieren konnten, ist die Fragestellung des vorliegenden Bandes eine etwas andere. Zunächst einmal: Es geht hier um einen beschränkten Raum, (meist) den des heutigen Österreich. Inhaltlich wird überall die krass unterschiedliche Zugangsmöglichkeit zu materiellen Gütern diskutiert, darüber hinaus aber auch die gesellschaftliche Reaktion auf die jeweils recht unterschiedlichen Erscheinungsformen von Armut und Reichtum auf dem Gebiet des heutigen Österreich. * Unsere Darstellung beginnt mit dem späten Mittelalter. Der Autor, Gerhard Jaritz vom Kremser Institut für mittelalterliche Realienkunde der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, ist als Referent auf Tagungen des Instituts für Österreichkunde ein guter Bekannter. An Hand von Bildern und erzählenden Quellen setzt er sich mit der vielfältigen Realität von Armut im 13. bis 15. Jahrhundert auseinander. Dass er dabei auch auf die Königinwitwe Barbara (nach Kaiser Sigismund) und auf die Lebensrealität des kleinen Prinzen (und späteren Kaisers) Maximilian in der von den Wienern 1462 belagerten Hofburg eingeht, erscheint zunächst verblüffend, zeigt aber auch, wie schnell auch hochgeborene Personen von Mangelerscheinungen bedrückt werden konnten. Neben der erzwungenen Armut kennt das Mittelalter auch die freiwillige Armut in der Nachfolge Christi (Franz v. Assisi usw.). Die visuelle Repräsentation von Armut ist jedoch auf „explizit mittellose Angehörige der untersten Schichten der Gesellschaft“ konzentriert.3 2

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Karl Bosl: Potens und Pauper. In: Alteuropa und die moderne Gesellschaft, Fs. O. Briunner. Göttingen 1963, S. 60 ff., wieder in: ders.: Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Wien-München 1964, S. 106 ff; Ernst Bruckmüller: Herren und „gemeine Leut“. Sozialer Wandel in der Krise des Spätmittelalters, in: Rudolf Kropf (Hg.), Andreas Baumkircher und seine Zeit, Eisenstadt 1983, S. 29-61. – Ein ausführlicher Überblick über die wichtigste Sekundärliteratur zur Armut im Mittelalter im Beitrag von Gerhard Jaritz im vorliegenden Band. Gehard Jaritz: ‚Armut‘ im Spätmittelalter, in diesem Band S. 14-31.

Armut und Reichtum in der österreichischen Geschichte

Armut in der frühen Neuzeit wird von Helmut Bräuer in Form eines Vergleichs zwischen Sachsen und Österreich thematisiert. Einiges war beiden Regionen gemeinsam, etwa die große Bedeutung des Bergbaues. Andererseits hatte Sachsen viel mehr Städte und eine höhere Dichte gewerblicher Tätigkeit, während eine Residenzstadt von der Größe und Bedeutung Wiens fehlte. Neu war die beginnende Scheidung der (insgesamt wachsenden) Armutsbevölkerung in „würdige“ und „unwürdige“, damit in gute und böse, oft: in einheimische und fremde Arme, mit entsprechenden Folgen für die Betroffenen. Residenzstädte entwickelten eine zunehmende Anziehungskraft für Arme, sie erhofften sich dort eher Almosen als anderswo. Der religiösen Trennung folgten unterschiedliche Zugänge zur Armut: In lutherischen Gegenden wurde die private Almosengabe früh verboten, in katholischen blieb sie noch lange in Gebrauch. Die beginnende Armutspolitik war Ordnungspolitik: Man wollte diese unsicheren, verdächtigen Schichten kontrollieren, kasernieren und zur Arbeit zwingen. Neben den traditionellen, multifunktionalen Spitälern, die zuweilen „Sozialasyle“ waren, wurden dafür Zucht- und Arbeitshäuser gegründet.4 Daneben gab es nach wie vor den traditionellen Typus „Spital“, wie das 1673 in Betrieb gegangene, als Gebäude noch erhaltene Armenspital von Weitersfeld im Bezirk Horn (NÖ). Auf der Basis einer einzigartigen Quellenlage konnte Alfred Damm die Entwicklung der Institution von ihrer Stiftung im Jahre 1669 bis ins 20. Jahrhundert rekonstruieren. Es war zur Unterbringung von zwölf (diese „heilige Zahl“ begegnet im Zusammenhang mit Klöstern und Spitälern nicht selten) verarmten oder pflegebedürftigen Untertanen der Grafschaft Hardegg bestimmt. Über erhaltene Rechnungsbücher konnten zahlreiche Aspekte des materiellen Lebens in diesem Spital (kein „Bürgerspital“!) rekonstruiert werden.5 An Salzburger Beispielen erläutert Sabine Veits-Falk Ursachen der Verarmung an der Wende zum Industriezeitalter (spätes 18. und frühes 19. Jahrhundert). Wichtigste Verarmungsursache war Arbeitsunfähigkeit im Alter. Aber auch eine große Kinderzahl oder der Verlust des Ernährers konnte eine Familie ohne oder mit geringem Grundbesitz verarmen lassen. Frauen waren stärker von Armut betroffen als Männer. Fast sichere

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Helmut Bräuer: Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich, in diesem Band S. 32-57. Alfred Damm: Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert – das Spital in Weitersfeld als Beispiel für herrschaftliche Armenversorgung, in diesem Band S. 5888.

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Ernst Bruckmüller

Armut bedeutete eine körperliche oder geistige Behinderung. Dazu kamen Hungersnöte, Brände und Überschwemmungen als Armutsverursacher. Als neue Institution der Armutsbekämpfung sollten die von Joseph II. angeregten Pfarrarmeninstitute dienen, in denen die verschiedensten älteren Stiftungen einer Pfarre aufgehen sollten.6 * Mit der Industriellen Revolution änderten sich grundlegende Parameter. Zunächst vermehrte sich die Zahl der Armen, als Folge der Verluste voroder protoindustrieller Erwerbsmöglichkeiten. So verloren durch die neuen fabriksmäßigen Maschinspinnereien (Pottendorf 1801) allein in Niederösterreich in zehn Jahren etwa 90.000 Menschen die bisherigen Arbeitsmöglichkeiten in der – händischen und ländlichen – Baumwollspinnerei. Viele Menschen zogen in die Städte und in die neuen Industriereviere. Bei Konjunktureinbrüchen wie dem vor der Revolution von 1848 vermehrte sich die Zahl der Bettler sprunghaft. Erst mit dem Fortschreiten der Industrialisierung zeigten sich allmählich die positiven Seiten dieser Veränderungen: Ab etwa 1870 begann die Lebenserwartung zu steigen, ebenso, wenn auch sehr langsam, die Reallöhne. Mit dem Einsetzen einer Gesetzgebung zur Sozialversicherung für gewerbliche Arbeiter (1887 Unfallversicherung, 1888 Krankenversicherung) wurden einige wichtige Risiken, die bisher fast automatisch zur Verarmung geführt hatten, durch die neue Versicherungsform abgefedert. Zwar blieben Armut und Elend in den großen Städten besonders sichtbar. Sie wurden auch als besondere, städtische Sicherheitsprobleme gesehen und durch den „Schub“, also das Abschieben von Arbeits- und Einkommenslosen in deren Heimatgemeinden zu lösen versucht. Doch scheint die ländliche Armut fast noch dramatischer gewesen zu sein. Um 1890 nahmen sich einige autonome Landesverwaltungen (z. B. in Böhmen, Niederösterreich, Steiermark) der Problematik an. Hintergrund war das Problem der meist selbst armen Landgemeinden, die nach den einschlägigen Gesetzen primär für die Versorgung „ihrer“ (das heißt, der bei ihnen heimatberechtigten) Armen zuständig waren. Ein Teufelskreis tat sich auf: Junge Leute zogen vom Land weg, weil es hier zu wenig Arbeit gab, sie gingen in die Städte und Industriezentren, von wo sie im Falle von Arbeitslosigkeit, einer Erkrankung oder eines anderen Problems wieder in ihre armen Heimatgemeinden abgeschoben wurden. Erst 1896 wurde das Heimatrecht so geändert, dass man es nach zehn Jahren Aufenthalt in einer anderen Gemeinde (meist: einer großen Stadt) erwerben konnte. 6

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Sabine Veits-Falk: Armut an der Wende zum Industriezeitalter, in diesem Band S. 89-112.

Armut und Reichtum in der österreichischen Geschichte

Was ergaben die Untersuchungen der autonomen Landesverwaltungen? Zunächst war es wohl nur ein geringer Teil der verarmten Bevölkerung, der Unterstützung fand, dieser Anteil betrug etwa 1,5 bis knapp 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung; die Gesamtzahl der Menschen in Not blieb jedoch unbekannt. So sollen in Niederösterreich 1893 mehr als 16.000 Erwachsene und etwa 5.300 Kinder von den Gemeinden unterstützt gewesen sein, der nö. Landesarmenfonds unterstützte nochmals etwa 5.700 Personen, und 2.000 Personen galten als Einleger, meist alte Dienstboten, die jeweils für eine gewisse Zeit in Bauernhäuser „eingelegt“ wurden. In Böhmen wurden für das Jahr 1890 bei einer Gesamtbevölkerung von 5,8 Millionen Menschen insgesamt etwa 136.500 unterstützte Arme gezählt, also etwa 2,35 Prozent der Zivilbevölkerung. Dabei wird die Struktur der von Armut betroffenen Bevölkerung etwas klarer: Armut war, pointiert ausgedrückt, alt, weiblich und verwitwet. Die in den populären Diskussionen immer wieder genannten Ursachen für Verarmung wie „Trunksucht“, „Arbeitsscheu“ oder „leichtsinnige Eheschließung“ findet in diesen Materialien jedenfalls keine Stütze. Ähnliche Ergebnisse ergab die von Ernst Mischler initiierte Erhebung in der Steiermark. Aber, wie Mischler betonte, alle diese Erhebungen betrafen nur die unterstützten Armen. Je ärmer aber eine Region insgesamt ist, desto weniger Unterstützung ist möglich. Das konnte Mischler in der Steiermark am Unterschied zwischen dem wohlhabenderen Oberland und dem ärmeren Unterland zeigen.7 Am dramatischesten muss die Armutssituation in Galizien gewesen sein, wo große Teile der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums vegetierten. * Wechseln wir die Perspektive und wenden wir uns den Problemen am oberen Rand der Skala zu. Hannes Stekl8 versucht durch eine eingehende Analyse der Einkommensteuerstatistik aus dem frühen 20. Jahrhundert die Chancen für ein Leben in einer gewissen Wohlhabenheit zu beschreiben. 1896 wurde eine (progressive) Personaleinkommensteuer eingeführt, deren Statistik eine solche Studie erlaubt. Die höchsten Einkünfte lukrierten Unternehmer im Bergbau, gefolgt vom Geld-, Kredit- und Versicherungswesen. Dann folgten Verkehrsunternehmer und – mit Abstand –

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Ernst Mischler: Die Enquête und Statistik der Armenverhältnisse in Steiermark. In: Statistische Monatsschrift NF 1 (XXII), 1896, S. 81-112 und S. 215-242. Hannes Stekl: Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie, in diesem Band S 113-140.

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Ernst Bruckmüller

die Vertreter der freien Berufe. Es gibt nicht nur Berufe mit guten Einkommenschancen, sondern auch Regionen und Städte – neben Niederösterreich und Böhmen auch Vorarlberg, neben Wien, Prag und Triest auch Kurorte wie Karlsbad oder Baden bei Wien ebenso wie einige Industriestädte. Ein anderer methodischer Zugang ist die Auswertung von Verlassenschaften, die auch für einige Fallbeispiele von „Ringstraßenbaronen“ herangezogen wurden. In seinem Beitrag über alten, neuen und verlorenen Reichtum in der Zwischenkriegszeit hat Peter Melichar9 einen einprägsamen Gegensatz formuliert: Man habe zwar schon oft versucht, das „Existenzminimum“ zu definieren, aber noch niemals das „Existenzmaximum“. Außerdem hat sich bisher wohl noch niemand subjektiv als zu reich empfunden. Die Zahl der Wohlhabenden ging zwischen 1912 und 1925 stark zurück – eine Folge des verlorenen Krieges und der Inflation, die Lage kleinerer Selbstständiger war vielfach prekär geworden. Auch die spektakulären Vermögen, die im Krieg und danach erworben wurden, gingen meist ebenso spektakulär verloren. Nur wenige Unternehmer schafften es, in diesem neuen Umfeld zu Erfolg und dauerhaftem Reichtum zu gelangen. Melichar hat mehrfach ökonomische Probleme im Adel angesprochen. Speziell dieser gesellschaftlichen Gruppierung widmet sich Gudula Walterskirchen.10 Während die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg für zahlreiche Menschen Probleme brachte, häuften sich diese für den Adel: Seine Titel und Privilegien galten (fast) nichts mehr, und wer Besitzungen in der neuen Tschechoslowakei oder im neuen Staat der Südslawen hatte, musste mit erheblichen Einbußen als Folge der in diesen Staaten begonnenen Bodenreformen rechnen. Weitere Beschlagnahmungen (Starhemberg, Hohenberg) erfolgten durch das nationalsozialistische Regime. Ansonsten blieb adeliger Grundbesitz in der Republik Österreich im Wesentlichen unangetastet. * Zurück zur Armut. In der Ersten Republik zeigen sich durchaus widersprüchliche Tendenzen. Gerhard Melinz verweist einerseits auf sozialpolitische Neuerungen wie die Arbeitslosenversicherung, andererseits aber auf die im gegebenen Rahmen unlösbaren Probleme, die mit der wachsenden

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Peter Melichar: Alter, neuer und verlorener Reichtum. Eine Skizze zu den großen Vermögen im Österreich der Zwischenkriegszeit, in diesem Band S. 166-192. Gudula Walterskirchen: Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert, in diesem Band S. 193-214.

Armut und Reichtum in der österreichischen Geschichte

Arbeitslosigkeit seit den späten 1920er Jahren einhergingen. Die Grundsätze der Sozialfürsorgegesetzgebung verharrten in eingefahrenen Bahnen.11 Für das frühe 21. Jahrhundert hat Martin Schenk die Problemlagen beschrieben, die zu Armutsgefährdung führen.12 2007 galten etwa 420.000 Menschen in Österreich als akut arm – etwas mehr als 5 Prozent der Bevölkerung. Das ist zwar – vermutlich – ein viel geringerer Prozentsatz als je zuvor in der Geschichte. Für die Betroffenen, die sich mit dem ungeheuren Warenangebot der Konsumgesellschaft konfrontiert sehen, ohne es in nennenswertem Umfang nützen zu können, ist das ein schwacher Trost. Der materielle Mangel hat Folgen – schlechteres Wohnen, schlechtere Gesundheit, reduzierte soziale Kontakte, verminderte Bildungschancen der Kinder, Scham. Nur die Hälfte der Berechtigten beantragt Sozialhilfe, aus Angst vor der Nachrede der Nachbarn, auch aus Angst vor bürokratischen Schikanen. Armut ist nicht nur Mangel an Gütern, sondern ein Mangel an Freiheiten. „Die Vergrößerung des Handlungsspielraums Benachteiligter ist Armutsbekämpfung.“13 Die Vorträge und Diskussionen der Historikertagung 2007 des Instituts für Österreichkunde fanden vor dem Hintergrund einer günstigen Konjunktur und einer fallenden Zahl von Arbeitslosen statt. Die Formulierungen der publizierten Beiträge wurden auch dann beibehalten, wenn im erheblich veränderten Umfeld von 2009 andere Prioritäten gelten sollten. Auch die Änderung des Forschungsstandes seither nachzutragen war nicht möglich. Der Herausgeber ist überzeugt, dass die allermeisten Probleme und ihre Darstellungen nach wie vor zum größten Teil gültig sind. Dass jedoch Armut im Zeichen der Bankenkrise und der wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten ein Thema mit Zukunft sein dürfte, lässt sich unschwer prognostizieren. Auch so mancher „neue“ Reichtum sieht 2009 im Vergleich mit 2007 schon wieder alt aus. Da gab es manche Schrumpfung, nicht unähnlich wie in der Zwischenkriegszeit. Eine Vortragende der Historikertagung 2007, Sigrid Wadauer, hat für diesen Band kein Manuskript abgeliefert. Damit fehlt ein nicht unwichtiges Thema.14

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Gerhard Melinz: Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannunsgsfeld sozial- und armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938), in diesem Band S. 141-165. Martin Schenk: Armut in Österreich – die halbierte Freiheit, in diesem Band S. 215238. Schenk: Armut, S. 217. Sigrid Wadauer hielt einen Vortrag mit dem Titel „Möglichkeiten von Armut in der Zwischenkriegszeit“.

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Gerhard Jaritz

‚Armut‘ im Spätmittelalter

Spätmittelalterliche Quellen, Texte genauso wie Bilder, nehmen regelmäßig Bezug auf Armut. Eine derartige ‚Armut‘ in den Quellen kann sich dabei auf die verschiedensten sozialen Gruppen der Gesellschaft und ihre Mitglieder beziehen. Man wird konfrontiert mit „armen Bettlern“, mit „Hausarmen“, den „Armen im Spital“, „armen Priestern“, „armen Schülern und Studenten“, „armen Jungfrauen“ usw., genauso jedoch mit „armen Königinnen und Königen“, mit „armen Rittern“, mit „armen Kaufleuten“, „armen Amtsträgern“ usw. Armut war damit offensichtlich, genauso wie Reichtum, ein sehr relativer Begriff.1 Und dies trifft wohl sicher nicht nur auf die spätmittelalterliche Situation zu. Gerhard Jaritz, Dr., Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Krems, Professor für Medieval Studies an der Central European University Budapest. 1

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Die vorliegenden allgemeineren Untersuchungen zur Armut im Mittelalter beschäftigen sich recht wenig mit jener Breite der Begriffsanwendung. Als allgemeine Untersuchungen zur mittelalterlichen Armut vgl. besonders Karl Bosl: Das Problem der Armut in der hochmittelalterlichen Gesellschaft. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 294/5. Wien 1974; David Flood (Hg.): Poverty in the Middle Ages. Franziskanische Forschungen 27. Werl 1975; Lester K. Little: Religious Poverty and the Profit Economy in Medieval Europe. London 1978; Thomas Fischer: Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert. Göttinger Beiträge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte 4. Göttingen 1979; Ovidio Capitani (Hg.): La concezione della povertà nel Medioevo. Bologna 1983; Michel Mollat: Die Armen im Mittelalter. München 1984; Bronislaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München 1988; Ernst Schubert: Erscheinungsformen der Armut in der spätmittelalterlichen deutschen Stadt. In: Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich (Hg.): Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag. Leipzig 2001, S. 659-697; Otto Gerhard Oexle (Hg.): Armut im Mittelalter. Vorträge und Forschungen 58. Ostfildern 2004; Philine Helas/ Gerhard Wolf (Hg.): Armut und Armenfürsorge in der italienischen Stadtkultur zwischen 13. und 16. Jahrhundert: Bilder, Texte und soziale Praktiken, Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 2, Frankfurt am Main 2006; Gerhard Jaritz (Hg.): The Sign Languages of Poverty. Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diskussionen und Materialien 8. Wien 2007.

‚Armut‘ im Spätmittelalter

Darüber hinaus ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass Armut verschiedenartigen Beurteilungen unterliegen konnte und kann. Man wird einerseits konfrontiert mit einer vor allem religiös und spirituell fundierten Idealisierung von Armut und andererseits mit der harten und bedrohlichen Realität oft sehr verschiedenartiger materieller Armut. Der vorliegende Beitrag möchte sich für den Zeitraum des Spätmittelalters mit der Frage der Varietät von Personen und Gruppen, von Situationen und Begleitumständen sowie von Kontexten und Beurteilungen auseinandersetzen, hinsichtlich welcher sich Text- und Bildquellen, Autoren und andere Informationsproduzenten mit dem Phänomen ‚Armut‘ beschäftigen.2 Es geht um die Konstruktionen und ‚vielfältige Realität‘ von Armut in Text und Bild, vor allem für den Zeitraum des 13. bis 15. Jahrhunderts. Für das Jahr 1438 berichtet der polnische Chronist Ian Długosz über das Schicksal der Barbara von Cilli, Witwe des aus dem Geschlecht der Luxemburger stammenden Kaisers Sigismund.3 Er teilt mit, dass sie zu Lebzeiten ihres Gatten die Angehörigen des ungarischen Adels in vielfältiger Weise beleidigt habe. Nach Sigismunds Tod baten die Adeligen seinen Nachfolger König Albrecht, etwas gegen sie zu tun. Dies sei geschehen. Sie wurde, wie Długosz sagt, von ihren Burgen, Ländern und Städten in Ungarn verbannt, man entledigte sie ihrer Schätze und Juwelen, die sie über die Jahre angehäuft hatte. Barbara floh nach Polen und bat dort König Wladislaw II, sie in seinem Land als „arme Waise“ aufzunehmen.4 Wladislaw tat dies und stattete sie mit den für sie notwendigen Dingen aus, sodass sie wieder ein ihrem Stand entsprechendes Leben führen konnte. Barbara bezeichnete sich als verarmt, mehr noch, sie war eine „arme Waise“ (misera et orphana persona). Der Grund für diese Verarmung war materieller Verlust: von Ländern, Burgen, Schätzen und Schmuck. Ein solches materielles Argument repräsentiert eine der regelmäßigsten Me2

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Der erste Teil dieses Beitrages, welcher sich auf die schriftliche Quellenüberlieferung bezieht, ist eine übersetzte und leicht überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „Poverty Constructions and Material Culture“. In: Jaritz: Sign Languages of Poverty (wie Anm. 1), S. 7-17. Krzysztof Baczkowski u. a. (Hg.): Ioannis Dlugossii annales seu cronicae incliti regni Poloniae, liber undecumus et liber duodecimus. Warschau 2001, S. 190. Zu anderen ‚armen Königinnen‘ in der narrativen, literarischen und visuellen Überlieferung des Mittelalters vgl. Nancy B. Black: Medieval Narratives of Accused Queens. Gainesville 2003; dies.: Medieval Depictions of „Poor Queens“ in Art and Text. In: Jaritz: Sign Languages of Poverty (wie Anm. 1), S. 177-200.

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Gerhard Jaritz

thoden für jene ‚Konstruktion von Armen und Armut‘ in den verschiedensten überlieferten Texten; und zwar hinsichtlich unterschiedlichster einzelner Personen, sozialer Gruppen oder hinsichtlich vieler oder aller Menschen eines Landes. Letzteres findet sich etwa immer wieder im Zusammenhang mit Seuchen, Hungersnöten und Naturkatastrophen. Der genannte Jan Długosz berichtet für 1298 über eine katastrophale Tierseuche in Polen, was zur Verarmung vieler, sogar der Reichen, führte.5 Für 1255 bezieht sich die Continuatio der Melker Annalen auf eine Hungersnot und setzt dabei die Lage der Reichen jener der Armen gleich.6 Eine Reihe weiterer derartiger Beispiele ließe sich nennen.7 Sehr regelmäßig befasst sich die Auseinandersetzung mit Armut und insbesondere ‚Verarmung‘ nicht nur mit derartigen Verlusten, sondern vor allem auch mit den damit in Zusammenhang stehenden materiellen ‚Kennzeichen von Armut‘, die alle kannten und welche die Situation für jeden Rezipienten klar und verständlich machten. Diese Kennzeichen erscheinen mitunter so deutlich, dass es gar nicht mehr nötig erscheint, explizit von Armut zu sprechen. In diesem Zusammenhang kann etwa die bekannte Geschichte über den dreijährigen späteren Kaiser Maximilian I. für das Jahr 1462 erwähnt werden, welche im ‚Buch von den Wienern‘ des Michael Beheim vermittelt wird.8 Im Kontext der innerhabsburgischen Wirren kommt es zur Belagerung der Wiener Burg, in welcher Kaiser Friedrich III. und seine Familie lebten. Nach Beheim konnte während der Belagerung dem Kaiser und seiner Frau weder Wild noch Fisch serviert werden, und auch kein weißes Brot. Sie mussten sich mit trockenem Schwarzbrot und schlechtem Fleisch zufrieden geben. Und ihrem dreijährigen Sohn Maximilian konnte auch kein Fleisch mehr serviert werden, welches er so gerne hatte, sondern nur Gerste und Erbsen. Eines Tages, als ihm wieder Erbsen gebracht wurden, aß er nichts von ihnen und schickte sie zurück:

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Sofia Budkowa u. a. (Hg.): Ioannis Dlugossii annales seu cronicae incliti regni Poloniae, liber septimus, liber octavus. Warschau 1975, S. 301. Annales Mellicenses Continuatio. In: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores IX. Ndr. Stuttgart 1983, S. 509. Vgl. Fritz Curschmann: Hungersnöte im Mittelalter, Ndr. Aalen 1970, passim. Theodor von Karajan (Hg.): Michael Beheim‘s Buch von den Wienern, 1462–1465. Wien 1843, S. 128 ff. Vgl. Gerhard Jaritz: Der Einfluß der politischen Verhältnisse auf die Entwicklung der Alltagskultur im spätmittelalterlichen Österreich. In: Bericht über den sechzehnten österreichischen Historikertag. Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Geschichtsvereine 24. Wien 1985, S. 529 f.

‚Armut‘ im Spätmittelalter Ains dages braht man im arwaiss, und e daz er ir ye enpaiss, sprach er ‚er het ir ain genug‘, daz man sy wider dannen trug, dy speiss wer im nit eben, man solcz den veinden geben!

In derartigen Situationen ist in der Beschreibung vieles mit spezifischen Objekten und Zeichen verbunden, die jedem vertraut waren. Hier war es der Verlust der standesgemäßen Ernährung und die Notwendigkeit, sich mit nicht adäquater Speise zufrieden zu geben. Am Ende dieser Erzählung bemerkt Beheim etwas, was für jeden Rezipienten wohl schon offensichtlich war. Er sagt: „Wenn Maximilian nicht der Erbe des Herrschers gewesen wäre, dann hätte man ihn als das Kind armer Leute erkannt, mit welchem man Mitleid haben sollte“:9 wer er nit gewest ir erpherr und her von fremden landen verr, gewesn ain kind ains armen, ain solchs solt sy erbarmen.

Die auf bekannten Zeichen basierende ‚Konstruktion von Armut‘ hatte gut geklappt. In derartigen Berichten war das Fehlen von angemessener Ernährung und anderen Basisbedürfnissen die allgemein am häufigsten verwendete Argumentation. In der bereits erwähnten Chronik des Jan Długosz findet sich ein anderer Bericht über den Zwist von Aspiranten auf den polnischen Thron.10 Im Jahre 1300 wurde der gewählte, jedoch noch nicht gekrönte König Wladislaw Lokietek seiner Würden enthoben und statt ihm der böhmische König Václav gewählt und gekrönt. Der abgesetzte Wladislaw musste nun die Extreme von Hitze und Kälte ertragen, Regen und Hunger erleiden, auf der blanken Erde schlafen und jede Art von Mühsal ertragen sowie die Armut, die Königen unwürdig sei (egestas contra decus regium). Diese des Königs unwürdige Armut war wieder mit dem Fehlen von standesgemäßen Grundbedürfnissen verbunden.

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Karajan: Michael Beheim’s Buch (wie Anm. 8), S. 131. Sofia Budkowa (Hg.): Ioannis Dlugossii annales seu cronicae incliti regni Poloniae, liber nonus. Warschau 1978, S. 15.

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Gerhard Jaritz

In Konrad von Würzburgs ‚Partonopier und Meliur‘ aus dem 13. Jahrhundert wird das Exil des Prinzen Partonopier beschrieben und in Zusammenhang gebracht mit seiner ärmlichen Kleidung und dem unstandesgemäßen Essen, das heißt Wasser und schlechtem Gerstenbrot: 11 … er leit sô bitter ungemach, daz ich mit tûsent münden niht möhte gar ergründen sîn angestlîche herzenôt. ûz gersten jâmerlichez brôt az er unde eht anders niht. dar zuo tranc er, als man giht, eins küelen kalten brunnen.

Der Diskurs über unstandesgemäße Armut und deren Folgen findet sich immer wieder. In der aus dem 15. Jahrhundert stammenden Augsburger Stadtchronik des Hektor Mülich wird so zum Beispiel auch erwähnt, dass arm zu sein oder arm zu werden untrennbar verbunden wäre mit dem Verlust von Status oder politischer Funktion.12 Es sei noch ein anderes Augsburger Beispiel erwähnt, aus der bekannten Chronik des Burkhard Zink.13 Der Baumeister Ulrich Tendrich hatte die Stadt bestohlen. Nachdem er 1462 gefasst worden war, wurde er bestraft: – indem er von seiner Funktion als Baumeister entbunden wurde; – indem ihm verboten wurde, von nun an Messer mit sich zu führen, abgesehen von einem kleinen Brotmesser; – indem ihm untersagt wurde, fürderhin Kleidung aus Marderfell, Seide oder Samt zu tragen, oder Gold- und Silberapplikationen auf seinem Gewand zu haben.

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Karl Bartsch (Hg.): Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. Ndr. Berlin 1970, S. 142, V. 9710-9719. Chronik des Hektor Mülich 1348–1487. In: Die Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg 3. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 22. Ndr. Göttingen 1965, S. 209 (zum Jahr 1466). Chronik des Burkhard Zink 1368–1468. In: Die Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg 2. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 5. Ndr. Göttingen 1965, S. 283 f. Vgl. auch Gerhard Jaritz: Norm und Praxis in der mittelalterlichen Sachkultur. „Widerspruch“ und „Entsprechung“. In: ders. (Hg.): Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diskussionen und Materialien 2. Wien 1997, S. 18.

‚Armut‘ im Spätmittelalter

Die Chronik vermerkt: … „man verpot im alles das ze tragen, das aim erbern mann z°u gehört“. Obwohl dies nicht ausdrücklich gesagt wird, erscheint es klar, dass er durch den Verlust von Funktion, Position sowie wichtiger Objekte und Qualitäten seiner materiellen Kultur und seines Lebensstils nicht nur seine Ehre verloren hatte, sondern auch ‚arm‘ geworden war. Solche direkten und indirekten Konstruktionen von Armut findet man natürlich regelmäßig in der spätmittelalterlichen Literatur. Eines der bekanntesten und evidentesten derartigen Beispiele ist die aus dem 13. Jahrhundert stammende Dichtung ‚Der bloze keiser‘ des Herrand von Wildon.14 Wie der Titel bereits sagt, handelt es sich wieder um Kleidung, welche die entscheidende Rolle in der Geschichte über den römischen Kaiser spielt, welcher so viele Schätze besaß, „daz er des mêr het danne vil“, worauf er alle Maße vergaß.15 Eines Tages besucht der Kaiser das Bad. Die Verwechslung von Kleidungsstücken führt zur Nacktheit des Kaisers (… bar eren und kleider…16), und darauf folgend zur Notwendigkeit, dass er graue Knechtskleidung trug, was zeichenhaft bedeutete, dass er alle äußeren Zeichen von Status und Macht verloren hatte und damit auch ‚arm‘ geworden war.17 Was sich allgemein zeigt ist, dass für die ‚Konstruktion von Armut‘ in den unterschiedlichsten Textbelegen die materielle Kultur der betroffenen Personen und besonders diesbezügliche Kontraste hinsichtlich Kleidung und Ernährung eine wichtige und regelmäßige Rolle spielten. Durch deren Anwendung sollte die Situation für jeden deutlich werden und oft auch verbunden sein mit anderen Verlusten: von Ehre, Macht, Autorität, Position, Funktion, Status, sozialer Einordnung. Und man sollte auch umgekehrt formulieren können, dass der Verlust von Ehre, Macht, Autorität usw. regelmäßig mit materieller ‚Verarmung‘ verbunden war. Solche armutsbezogenen Funktionen direkter und indirekter materieller Zeichen(setzungen) lassen sich natürlich auch in anderen Quellentypen erkennen, so etwa in letztwilligen Verfügungen. Im Jahre 1398 machte Peter Reschl, Diener eines Wiener Bürgers, sein Testament.18 Er

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Der nackte Kaiser. In: Hanns Fischer (Hg.): Herrand von Wildonie. Vier Erzählungen. Tübingen 1969, S. 22-43. Ebenda: S. 22 f., V. 22-25. Ebenda: S. 42, V. 648 f. Ebenda: S. 31, V. 280: … mich armen man … . Wilhelm Brauneder/Gerhard Jaritz (Hg.): Die Wiener Stadtbücher 1395–1430, I: 1395– 1400. Fontes rerum Austriacarum III/10,1. Wien-Köln 1989, S. 190, Nr. 292.

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Gerhard Jaritz

bestimmte, dass seine Kleider zur Bezahlung der Schulden verwendet werden sollten und betonte, dass er außer diesen Kleidern nichts besäße. Dies vermittelt eine klare Verdeutlichung seiner Armut. Man findet ähnliche Methoden der Anwendung derartiger materieller Zeichen auch in allen jenen Fällen, die sich auf die idealisierte und freiwillige Armut beziehen: so etwa in den Legendenzyklen des Hl. Franziskus, der Hl. Klara, der Hl. Elisabeth von Thüringen, des Hl. Dominikus, usw. Der Unterschied zu den vorgenannten Fällen besteht allerdings darin, dass deren Armut nicht zum Verlust von Ehre, Macht und Einfluss geführt hatte, sondern zur Erlangung derselben in religiösem und spirituellem Sinn. Die erwähnte Konzentration auf wohlbekannte Objekte der materiellen Kultur spielte schließlich auch eine wichtige Rolle in den Fällen von, nennen wir es, ‚Umbesetzung von Armut‘. Zwei diesbezügliche Beispiele seien erwähnt. Im „Liber oblationum et anniversariorum“ des Wiener Schottenklosters findet man die aus dem 15. Jahrhundert stammende Eintragung über eine Geldstiftung, welche für die Spende von Brot und Fleisch an Arme bestimmt war.19 Eine spätere, dem 16. Jahrhundert entstammende Ergänzung zu diesem Eintrag betont, dass die Stiftung von nun an für die Mönche des Schottenklosters verwendet werden sollte, „quia etiam et nos monachi pauperes sumus in domino“.20 Ein vergleichbares Beispiel lässt sich aus dem Jahr 1230 finden, und zwar für das Benediktinerinnenkloster von Santa Maria in Aquileja, im Rahmen der Bestätigung einer Jahrtagsstiftung an das Kloster.21 Die Stiftung umfasst Brot, Bohnen, Öl, Käse und Wein, welche den Armen gegeben werden sollten, aber nur wenn die Nonnen selbst genügend Brot und Wein hätten. Und wenn es zu wenige oder gar keine Armen gäbe, dann sollten alle genannten Lebensmittel zu gleichen Teilen an die Nonnen verteilt werden. Hier wurden der Bedeutungsumfang, die Reichweite und die vage Grenzziehung von ‚Armut‘ eindeutig 19

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Adalbert Franz Fuchs (Hg.): Necrologium monasterii Scotorum Vindobonensis. In: Monumenta Germaniae Historica 5, dioecesis Patavensis (Austria inferior). Ndr. München 1983, S. 307, Nov. 12. Vgl. auch Gerhard Jaritz: The Good and the Bad Example, or: Making Use of Le Petit Peuple in Late Medieval Central Europe. In: Pierre Boglioni/Robert Delort/Claude Gauvard (Hg.): Le petit people dans l‘Occident medieval. Terminologie, perceptions, réalités. Paris 2002, S. 90. Reinhard Härtel (Hg.): Die älteren Urkunden des Klosters S. Maria zu Aquileja (1036– 1250). Wien 2005, S. 191 ff., Nr. 102. Vgl. auch Gerhard Jaritz: Vita materiale e spiritualità. Monachesimo e aspetti della vita quotidiana nel tardo medioevo. In: Cesare Scalon (Hg.): Il monachesimo benedittino in Friuli in età patriarcale. Udine 2002, S. 145.

‚Armut‘ im Spätmittelalter

dazu verwendet, um – wenn für notwendig erachtet – die eigene Situation zu verbessern. Die Nonnen sollten die Funktion der Mittellosen im materiellen und wirtschaftlichen Sinn übernehmen, falls die tatsächlichen Armen fehlten, was sicherlich eine Definitionsfrage darstellte. Was diese unterschiedlichen Beispiele und Muster aus der spätmittelalterlichen schriftlichen Überlieferung zeigen sollten, sind die Relativität des Begriffes ‚Armut‘ und die unterschiedlichen Verständnishorizonte, die sich diesbezüglich für die verschiedenen sozialen Gruppen der Gesellschaft und ihre Angehörigen ergaben. Darüber hinaus verdeutlichen derartige Belege, dass der Diskurs über solche verschiedenartigen Ebenen von Armut sehr breit und umfassend werden konnte. Konzentriert man sich auf die bildliche Überlieferung und fragt nach den Mustern der visuellen Repräsentation von Armut im Spätmittelalter, dann lässt sich hier oft keine solche Breite und Relativität erkennen. Arme werden viel einheitlicher als explizit mittellose Angehörige der untersten Schichten der Gesellschaft wiedergegeben und charakterisiert, dies vorrangig in religiösen Bildern und besonders im Zusammenhang mit solchen Heiligen, die sich in ihrem Leben stark auf die Armenunterstützung konzentrierten: besonders etwa der Hl. Martin (Abb. 1)22 oder die Hl. Elisabeth von Thüringen (Abb. 2)23. Armut wird deutlich charakterisiert durch zerschlissene Kleidung (Abb. 3)24, durch Nacktheit (Abb. 4)25 oder durch Krankheit bzw. Verkrüppelung (Abb. 5)26. In der Mehrzahl der Fälle werde diese Mittellosen von Männern repräsentiert. Die von jedem Christen zu leistende Unterstützung von Armen wird in der religiösen bildlichen Überlieferung regelmäßig auch direkt eingefordert. Dies geschieht vor allem durch die Wiedergabe der auf der Endzeitrede Jesu (Mt. 25, 34-46) beruhenden sechs bzw. dann klassisch sieben Werke der Barmherzigkeit.27 Hier werden die dargestellten Armen oft nur

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Mantelteilung des Hl. Martin, Tafel eines Flügelaltars, Meister des Halleiner Altars, um 1440. Salzburg, Museum Carolino Augusteum. Armenspeisung durch die Hl. Elisabeth von Thüringen, Tafel eines Flügelaltars, salzburgisch, Meister der Barmherzigkeiten, 1460/70. Trier, Städtisches Museum. Bettler. Detail aus: Almosenspende des Hl. Martin, Tafel eines Flügelaltars, Pustertal, 1496. Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum. Bettler. Detail aus: Mantelteilung des Hl. Martin, Tafel eines Flügelaltars, steirisch, um 1440. Graz, Landesmuseum Joanneum. Ebenda. Vgl. Ralf van Bühren: Die Werke der Barmherzigkeit in der Kunst des 12.-18. Jahrhunderts. Zum Wandel eines Bildmotivs von dem Hintergrund neuzeitlicher Rhetorikrezeption. Studien zur Kunstgeschichte 115. Hildesheim 1998.

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Gerhard Jaritz Abb. 1: Mantelteilung durch den Hl. Martin

Abb. 2: Armenspeisung durch die Hl. Elisabeth von Thüringen

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‚Armut‘ im Spätmittelalter Abb. 3: Zerschlissene Kleidung als Kennzeichen des vom Hl. Martin gespeisten Bettlers

Abb. 4: Der ‚nackte‘ Bettler

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Gerhard Jaritz Abb. 5: Der verkrüppelte Bettler

Abb. 6: Werke der Barmherzigkeit: Speisung der Hungrigen

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‚Armut‘ im Spätmittelalter Abb. 7: Werke der Barmherzigkeit: Labung der Durstigen

Abb. 8: Huhn und Brote zur Armenspeisung

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Gerhard Jaritz

aus dem inhaltlichen Gesamtkontext als solche erkennbar und sind häufig keine zerfetzt gekleideten oder nackten Bettler (Abb. 6)28. Mitunter werden dabei die Beschauer darauf aufmerksam gemacht, welch verschiedene Gruppen von Bedürftigen ihrer Unterstützung harren. So zeigt eine Wiedergabe der Aufforderung den Durstigen zu trinken zu geben (Abb. 7)29 gut erkennbar einen armen Bettler und Krüppel, einen armen Pilger und einen armen Studenten. In einem erhaltenen Tafelbild aus der Zeit um 1500, das sich der Armenunterstützung durch die Hl. Elisabeth von Thüringen widmet, werden wohl gleichsam die oberen Grenzen jener Beteilung von Armen mit Nahrungsmitteln aufgezeigt. Die Magd der Heiligen bringt die Speisen für die Bedürftigen (Abb. 8)30, jedoch hier nicht nur das übliche Brot, sondern auch ein Huhn. Letzteres scheint tatsächlich die seltene Obergrenze in Bezug auf Nahrung zu repräsentieren, welche an Arme gestiftet wurde. In den Wiener letztwilligen Verfügungen des Spätmittelalters tritt einmal, zu Ende des 14. Jahrhunderts, eine derart besondere und reichhaltige nahrungsbezogene Armenspende mit einem dreigängigen Mahl auf, das auch Hühner enthält.31 Heinrich Gradniczer stiftet 10 Pfund und vermerkt: „Davon sol man haben sechczig armew mensch und dieselben sullen gen zu opher yeds mit aynem phenning. Darnach sol man die armen lewt zu haws weysen und sol sew zu tysch ausrichten mit dreyn ezzen und sullen ymer vyrew siczen zu ainer schuzzel und fur das erst ezzen sol man geben zu yeder schuzzel ayn hunn, fur das ander ezzen ein gut chrawt, fur das drit ezzen ain gut gemues; dann nach tysch sol man geben yedem ainen phenning“. Das vorgenannte Bild zeigt ferner den für eine Armenspeisung ungewöhnlich aufwendig gedeckten Tisch und vermittelt darüber hinaus im Vordergrund das Bad, welches den zwei Armen, einer Frau und einem Mann, durch die Hl. Elisabeth bereitgestellt wurde, wobei die Heilige gerade mit dem Waschen

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Werke der Barmherzigkeit: „Du sollst die Hungrigen speisen“, Tafel eines Flügelaltars, Meister S. H. von 1485, Ende 15. Jh. Linz, Schlossmuseum. Werke der Barmherzigkeit: „Du sollst den Durstigen zu trinken geben“, Tafel eines Flügelaltars, Meister S. H. von 1485, Ende 15. Jh. Linz, Schlossmuseum. Die Magd der Hl. Elisabeth von Thüringen bringt Brote und ein Huhn zur Speisung der Armen. Detail aus: Armenpflege der Hl. Elisabeth von Thüringen, Tafel eines Flügelaltars, Meister des Laufener Nothelfer-Altars, um 1500. Laufen (Bayern), Pfarrkirche. 1396 September 28; vgl. Gerhard Jaritz: Die realienkundliche Aussage der so genannten „Wiener Testamentsbücher“. In: Das Leben in der Stadt des Spätmittelalters. Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 2 = Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 325. Wien 1977, S. 188.

‚Armut‘ im Spätmittelalter

des Kopfes des Mannes beschäftigt ist (Abb. 9)32. Die Unterstützung von Armen durch Bäder tritt auch in den Seelenheilstiftungen regelmäßig auf.33 Das Bild zeigt darüber hinaus deutlich, dass die Armen mit ihren roten Flecken auch als Kranke erkannt werden sollen. Schließlich findet man am Boden noch ihre abgelegten Kleidungsstücke, und diese eröffnen die Möglichkeit einer weiteren eindeutigen Zuordnung. Sie können damit klar als Pilger identifiziert werden, mit Pilgerhut, Pilgerstab und Pilgermantel (Abb. 10)34. Ihre Unterstützung entspricht so auch dem christlichen Werk der Fremdenbeherbergung. Und schließlich nimmt das auf einer Kleiderstange hängende Tuch wohl auf das neue Einkleiden der Armen durch die Heilige Bezug. Die Darstellung vermittelt hiermit eine durch die Hl. Elisabeth von Thüringen repräsentierte besondere und ideale Varietät und Quantität von Armenunterstützung, welche durch die simultane Ausübung der Werke der Barmherzigkeit „Du sollst die Hungrigen speisen“, „Du sollst den Durstigen zu trinken geben“, „Du sollst die Fremden beherbergen“, „Du sollst die Kranken pflegen“ und „Du sollst die Nackten bekleiden“ realisiert wird (Abb. 9). Im Rahmen der Motivierung zur Armenspende mit Hilfe von Werken der Barmherzigkeit konnte natürlich auch in der visuellen Darstellung stärker auf die biblische Basis zurückgegriffen werden. Im Kreuzgang von Brixen etwa wird der direkte Kontext zur Endzeit-Predigt Jesu vermittelt (Abb. 11)35. Hinter der Brotspende an die Armen steht der teilnehmende segnende Christus und sagt (Mt. 25:35): „esurivi enim et dedistis mihi manducare“ – „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben“. Dies konnte noch weiter verstärkt werden, wenn Christus selbst zum einzigen beteilten Armen wurde, wie es etwa Wandmalereien aus dem slowakischen Levoøa vom Ende des 14. Jahrhundert vermitteln: hier „Du sollst die Fremden beherbergen“ (Abb. 12)36. 32

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Armenpflege der Hl. Elisabeth von Thüringen, Tafel eines Flügelaltars, Meister des Laufener Nothelfer-Altars, um 1500. Laufen (Bayern), Pfarrkirche. Vgl. z. B. Helga Rist: Leben für den Himmel. Spätmittelalterliche bürgerliche Seelgerätstiftungen aus Wiener Neustadt. In: Markus J. Weninger (Hg.): du guoter tôt. Sterben im Mittelalter – Ideal und Realität. Schriftenreihe der Akademie Friesach 3. Klagenfurt 1998, S. 231 f. Abgelegtes Pilgergewand der durch die Hl. Elisabeth gepflegten Arrnen. Detail aus: Armenpflege der Hl. Elisabeth von Thüringen, Tafel eines Flügelaltars, Meister des Laufener Nothelfer-Altars, um 1500. Laufen (Bayern), Pfarrkirche. Werke der Barmherzigkeit: Speisung der Armen, Wandmalerei, südtirolisch, 1420/1430. Brixen, Dom, Kreuzgang, 11. Arkade, Gewölbe. Werke der Barmherzigkeit: Beherbergung der Fremden, Wandmalerei, Ende 14. Jh. Levoøa (Slowakei), Pfarrkirche St. Jakob.

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Gerhard Jaritz Abb. 9: Armenunterstützung durch die Hl. Elisabeth von Thüringen

Abb. 10: Das Pilgergewand der zu unterstützenden ‚armen Fremden‘

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‚Armut‘ im Spätmittelalter Abb. 11: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt. 25, 40)

Abb. 12: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt. 25, 35)

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Gerhard Jaritz

Derartige visuelle Botschaften und Motivationen zur christlichen Mildtätigkeit und Armenunterstützung finden sich nicht nur meist im öffentlichen Kirchenraum, das heißt auf Wandmalerei und Tafelbildern, sondern auch im privateren und gleichzeitig exklusiveren Raum spätmittelalterlicher Manuskripte. Dies gilt etwa für ein Leitbuch des Nürnberger Heiliggeist-Hospitals aus dem beginnenden 15. Jahrhundert, wo neuerlich Christus selbst als alleiniger Repräsentant der hungrigen Armen („ich waz hungerig, ir gabt mir zu eszen“; Abb. 13)37 oder der nackten Armen („Ich waz nackent, ir klaydet mich“; Abb. 14)38 fungiert. Schließlich darf natürlich nie vergessen werden, dass sowohl im Text als auch mitunter im Bild die Idealisierung des Phänomens Armut eine wichtige Rolle spielen konnte, vor allem im Kontext der Bettelorden und ihres Umfeldes. Als Beispiel mag ein böhmisches Legendarium des beginnenden 16. Jahrhunderts herangezogen werden, in welchem als Illustration zum Leben des Hl. Franziskus unter anderem seine Erprobung der Bettelarmut dargestellt wird (Abb. 15)39. *** Die vorliegenden Ausführungen seien mit der gleichen Bemerkung abgeschlossen, mit welcher sie begonnen wurden, nämlich mit der Feststellung, dass der Begriff ‚Armut‘ im Spätmittelalter als relativ anzusehen ist. Dies betrifft sowohl seine allgemeine Bewertung als auch vor allem die sozialen Gruppen und deren Mitglieder, die sich mit dem Phänomen auseinander setzten, sich davon betroffen fühlten bzw. diesbezüglich in Text und Bild dargestellt wurden. Für jede kritische historische Analyse zum Thema ist somit die Berücksichtigung der darauf bezogenen Kontextualität als unabdingbar anzusehen. Nur dadurch erscheint es möglich, Muster der Armut sowie der Diskurse über die Armut in der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu erkennen. Dieser Beitrag sollte hierzu einige Hinweise vermitteln. Ich halte es für wichtig, dass ähnliche Fragen auch für andere historische Perioden gestellt und einer kritischen Analyse unterzogen werden. 37

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Werke der Barmherzigkeit: Speisung der Hungrigen, Buchmalerei, Leitbuch des Nürnberger Heiliggeistspitals, 1410/1420. Stadtarchiv Nürnberg, Hs. 4.2. Vgl. 800 Jahre Franz von Assisi. Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters. Ausstellungskatalog Krems an der Donau. Wien 1982, S. 583 f. Werke der Barmherzigkeit: Bekleiden der Nackten. Leitbuch, wie Anm. 37. Der Hl. Franziskus tauscht Kleider mit Armen und bettelt mit ihnen: Bonaventura, º Hradec Leben des Hl. Franziskus (tschechisch), Egidius von Ratibor, vor 1521. Jind¤richuv (Tschechien), Státní Archív Oblastní, RA Øernin, fol. 8v. Vgl. 800 Jahre Franz von Assisi, wie Anm. 37, S. 557 f.

‚Armut‘ im Spätmittelalter Abb. 13: „Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben“ (Mt. 25, 35)

Abb. 14: „Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet“ (Mt. 25, 36)

Abb. 15: Erprobung der Bettelarmut durch den Hl. Franziskus

Alle Abbildungen: © Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Krems an der Donau

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Helmut Bräuer

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich Die einschlägige ‚Armutsliteratur‘ ist keineswegs reich an vergleichenden Untersuchungen, die unterschiedliche Territorien im Blick haben. Im letzten Jahrzehnt ist eigentlich nur der Sonderforschungsbereich „Fremdheit und Armut“ an der Universität Trier damit in Erscheinung getreten.1 Sachsen und Österreich bieten hier ein völlig unbearbeitetes Feld, so dass mit tastenden Versuchen die ersten Umrisse der Thematik abgesteckt werden müssen. Zweckmäßig erscheint es dabei, zunächst die Vergleichsräume in ihrer gesellschaftlichen Beschaffenheit zu skizzieren, in denen sich die armen Leute bewegt und in denen Obrigkeiten und besitzende Gesellschaft auf sie eingewirkt haben.

Die Vergleichsräume Da sich die beiden Territorien bei ihrem staatlichen Formierungsprozess zwischen 1500 und 1800 in den jeweiligen politisch-administrativen Konturen auf vielfache Weise verändert haben, erscheint es für das Anliegen des Beitrages sinnvoll, die aktuellen Grenzen der Republik Österreich und des Freistaates Sachsen zu wählen, selbst wenn dies eine Reihe Bedenken einschließt. Während der frühen Neuzeit waren beide Bestandteile des Heiligen Römischen Reiches. Sachsen stellte einen kurfürstlichen Flächenstaat dar, der sich in der Hand der Wettiner befand. Die beiden Lausitzen kamen

Helmut Bräuer, Dr., Prof., Mitglied der Historischen Kommision bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. 1

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Als Beispiel Andreas Gestrich/Lutz Raphael (Hg.): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main-Berlin-BernBruxelles-New York-Oxford-Wien 2004.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

erst mit dem Dreißigjährigen Krieg hinzu. Nach der Reformation existierten keine selbstständigen geistlichen Territorien mehr. In den Herrschaftsbereich der Wettiner waren die Gebiete der Herren von Schönburg und derer von Reuß eingelagert. Österreich dagegen bildete eine Summe von mehr oder weniger separaten weltlichen und geistlichen Fürstentümern – mit dem Haus Habsburg als politischem Zentrum des Reiches, zugleich aber im Zusammenhang mit weiteren territorialstaatlichen Gebilden. In der demographischen Entwicklung waren die Ausgangswerte unterschiedlich. Lebten – nach Karlheinz Blaschke und Uwe Schirmer – um 1550 in Sachsen 556.000 und 1750 rund 1,66 Millionen Personen,2 so berechnete Kurt Klein für die Zeit um 1530 etwa 1,5 Millionen und Mitte des 18. Jahrhunderts 2,7 Millionen österreichische Landesbewohner.3 Dabei lag der „Verstädterungsgrad“ in Sachsen generell höher, denn bereits im 16. Jahrhundert lebte ein Drittel der Bevölkerung in etwa 150 städtischen Gemeinden. Um 1700 besaß allerdings Wien mit 114.000 Einwohnern fast die doppelte Größe von Dresden (40.000) und Leipzig (20.000) zusammengenommen.4 Die Entstehung und Auffüllung von Bergbauorten bot in beiden Territorien während der frühen Neuzeit den wichtigsten Zuwachs bei städtischen Siedlungen, doch sucht man in Sachsen den Typ der Bergmärkte5 vergebens. An Residenzen, mit ihren vielfältigen Funktionen, war der Alpenraum reicher.6 In ethnischer Hinsicht er2

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Karlheinz Blaschke: Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. Weimar 1967, S. 78, 91; Uwe Schirmer: Der Bevölkerungsgang in Sachsen zwischen 1743 und 1815. In: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83, 1996, S. 25-58, hier S. 57. Kurt Klein: Die Bevölkerung Österreichs vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 18. Jh. In: Heimold Helczmanovszki (Hg.): Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs. Wien 1973, S. 48-112. Vgl. jetzt die Tab. bei Ernst Bruckmüller: Sozialgeschichte Österreichs. Wien-München 22001, S. 134. Heinz Schilling: Die Stadt der frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 4). München 1993, S. 11 f. Vgl. auch Herbert Knittler: Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit. Institutionen, Strukturen, Entwicklungen (= Querschnitte 4). WienMünchen 2000. Herwig Ebner: Österreichische Bergbaustädte und Bergmärkte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 16 (1989), S. 57-72. Ders.: Die habsburgischen Residenz- und Hauptstädte in den österreichischen Erblanden im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Ein Überblick). In: Herwig Ebner/ Horst Haselsteiner/Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Hg.): Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Graz 1990, S. 29-41.

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Helmut Bräuer

wies sich Sachsen als weitaus einförmiger7 – ein Umstand, der erhebliche Konsequenzen für den Grad der kulturellen Mannigfaltigkeit einschloss. Die wirtschaftliche Entwicklung während der frühen Neuzeit erhielt in beiden Territorien ihre entscheidenden Anschübe am Ausgang des späten Mittelalters und im 16. Jahrhundert vom Berg- und Hüttenwesen, wobei der Silberbergbau mit solchen Zentren wie Schwaz, Schneeberg, Annaberg und Marienberg Priorität besaß. Georgius Agricola wird als die herausragende bergbauorientierte Wissenschaftlerpersönlichkeit genannt werden müssen. Bergbau- und hüttentechnische sowie Bergrechtsentwicklung wären in der Gestalt, in der sie sich formten, ohne die Silbergewinne und die mit ihnen verbundenen frühen Kapitalisierungsprozesse nicht denkbar.8 Sie begünstigten auch die Entwicklung der territorialen Staatlichkeit. Salz- und Eisenförderung sowie -verarbeitung bzw. -export spielten in Österreich eine maßgebliche Rolle.9 Gleiches gilt auch für den Durchgangshandel, ganz besonders mit Vieh,10 sowie für Weinbau und Weinhandel.11 Im agrarischen Bereich lassen sich in Sachsen während der frühen Neuzeit persönliche Abhängigkeiten der Bauern vom Adel nur in den Lausitzen beobachten. In Österreich waren die feudalen Belastungen vielfältiger und intensiver, doch auch hier trat die Gutsherrschaft selten in Erscheinung.12 Die ländlichen Unterschichten wuchsen jedoch in beiden Untersuchungsräumen nach dem 18. Jahrhundert hin an.

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Die sorbische Bevölkerung behandeln Jan Solta u. a.: Geschichte der Sorben, Gesamtdarstellung. Bautzen 1974–1977. Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995; Michael Mitterauer (Hg.): Österreichisches Montanwesen, Produktion, Verteilung, Sozialformen. Wien 1974; Otfried Wagenbreth/ Eberhard Wächtler (Hg.): Bergbau im Erzgebirge. Technische Denkmale und Geschichte. Leipzig 1990. Wilhelm Rausch (Hg.): Stadt und Salz (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 10). Linz 1988; Paul W. Roth (Hg.): Erz und Eisen in der Grünen Mark. Graz 1984. Als Beispiel Othmar Pickl: Der Viehhandel von Ungarn nach Oberitalien vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. In: Ekkehard Westermann (Hg.): Internationaler Ochsenhandel (1350–1750). Stuttgart 1979, S. 39-84. Erich Landsteiner: Weinbau und bürgerliche Hantierung. Weinproduktion und Weinhandel in den landesfürstlichen Städten und Märkten Niederösterreichs in der frühen Neuzeit. In: Ferdinand Opll (Hg.): Stadt und Wein. Linz 1996, S. 51-66. Bruckmüller: Sozialgeschichte (wie Anm. 3), S. 137-146; Helfried Valentinitsch: Gutsherrschaftliche Bestrebungen in Österreich in der frühen Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der innerösterreichischen Länder. In: Jan Peters (Hg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. München 1995, S. 279-297; Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen. Stuttgart 2002, S. 178-188.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

In den Städten und Märkten beider Gebiete besaß die Gewerbepalette in der Breite durchaus europäisches Format, wobei die stark verlagsgebundene und auf Export ausgelegte sächsische Textilproduktion in Leinen und Tuch vor der österreichischen rangierte. Die Zünfte hatten sich hier wie da gegen ein aktives Störerfeld zu wehren.13 Wien und der Wiener Hof sorgten für eine besonders ausgeprägte und vielfältige kleingewerbliche Warenproduktion.14 Der Prozess der Manufakturentwicklung setzte in Sachsen früher, und zwar mit Heinrich Cramer von Claußbruchs Tuchproduktionsstätte bei Leipzig Mitte des 16. Jahrhunderts, ein, erlangte aber den eigentlichen Durchbruch erst mit dem Rétablissement.15 Der Dreißigjährige Krieg traf in seinen Auswirkungen Sachsen wohl stärker, aber die Nöte der österreichischen Bevölkerung in Stadt und Land standen durch andere Kriegsdrangsale, nicht zuletzt durch die türkischen, dem kaum nach. So lassen sich – will man das natürlich hochproblematische Wagnis einer Summenbildung eingehen – Verwandtschaften und Gegensätzlichkeiten zwischen Österreich und Sachsen konstatieren, wobei aber Letztgenannte keineswegs so gravierend gewesen wären, dass sich ein Vergleichen von vornherein als absurd erweisen würde. Im Gegenteil: Der Vergleich ist – setzt man die Akzente ein wenig anders – unter dem Aspekt der krassen Unterschiede auf dem Gebiet der Armutsforschung besonders lehrreich. Während es in Sachsen im Grunde erst nach 1990 tastende Versuche gibt, ist die österreichische Forschung für das Thema schon lange hoch sensibilisiert. Das mag mit der intensiven Arbeit des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, insbesondere mit Michael Mitterauers Wirken, zusammenhängen, und dieser Umstand drückte sich nicht zuletzt 1985 im Erscheinen der großen Sozialgeschichte Österreichs von Ernst Bruckmüller aus, die seit 2001 in zweiter Auflage und seit 2003 auch in französischer Sprache benutzt werden kann.16 Seit den 1990er Jahren hat sich an der Uni13

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Als Beispiele Odilo Haberleitner: Handwerk in Steiermark und Kärnten vom Mittelalter bis 1850. Graz 1962; Helmut Bräuer: Handwerk im alten Chemnitz. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Chemnitzer Handwerks von den Anfängen bis zum Beginn der industriellen Revolution. Chemnitz 1992. Victor Thiel: Gewerbe und Industrie. In: Anton Mayer (Hg.): Geschichte der Stadt Wien IV. Wien 1911, S. 411-523; Andreas Weigl (Hg.): Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung-Gesellschaft-Kultur-Konfession (= Kulturstudien 32). Wien-Köln-Weimar 2001. Rudolf Forberger: Die Manufaktur in Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Berlin 1958. Bruckmüller: Sozialgeschichte Österreichs (wie Anm. 3).

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versität Salzburg ein erfreulich motivierter Kreis mit internationaler Ausstrahlung etabliert. Von der sächsischen Forschung sollte dies durchaus als produktive Herausforderung verstanden werden.

Der Armutsbegriff Massimo Montanaris berühmtes Buch über den Hunger und den Überfluss17 drückt im Titel nicht nur zusammengehörige Kontraste aus. Es beschreibt auch, wie sich vom 14. zum 17. Jahrhundert hin die Träume der Hungernden in immer gewaltigeren Bergen von saftigen Braten und Klößen, feinen Suppen und kandierten Früchten ergingen, die sie meinten, sich einverleiben zu können, sobald „bessere Jahre“ gekommen sein würden. Das zeitgleiche und ebenfalls vielgelesene Buch, dessen Herausgeber Montanaris Landsmann Rosario Villari ist und das sich mit dem Menschen des Barock beschäftigt,18 weiß von den armen Leuten nahezu nichts zu erzählen. Es führte wohl Typen der „barocken Gesellschaft“, aber dennoch nur einen Ausschnitt des Gesellschaftstypischen vor. Doch die Armut war ein mehr als erheblicher Teil dieser frühneuzeitlichen Gesellschaft. Mit dem Blick auf beide Bücher möchte ich die Schwierigkeiten um den Begriff, seine Relativität, seine verwischten Randzonen, seine inhaltliche Weite und die oft zu beobachtende Nichtwahrnehmung bzw. das Bestreiten seiner Existenzberechtigung unterstreichen. Das Dasein der armen Leute während der frühen Neuzeit präsentierte das Gegenstück zum Reichtum. Es handelte sich um eine wachsende Armutsexistenz, die ihren Zustrom aus vielfältigen Quellen erfuhr, und deren Gräben zu den Reichen tiefer und schroffer wurden. Armut artikulierte sich nicht allein im fehlenden Essen, sondern schloss rechtliche, politische, kulturelle und andere Defizite ein, war oft geschlechter- und altersspezifisch, resultierte nicht selten aus großer Kinderzahl oder Krankheit, war Folge von Ausbeutung und verhinderten Zugängen zu einer beruflichen Qualifikation und besaß kollektive und individuelle Züge. Meist traten die genannten und die lange Reihe der nicht genannten ursächlichen Faktoren gebündelt auf und erzeugten erst dadurch die bitteren sozialen Folgen. Und diese wiederum begegnen uns in den Quellen

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Massimo Montanari: Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München 1999. Rosario Villari (Hg.): Der Mensch des Barock. Frankfurt am Main 1999.

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nicht in einheitlicher, sondern in auffallend hierarchisierter Form – vom verlegten Handwerker, der sein Vorstadthäuslein zum Pfand setzen musste, um die Rohstoffe bis zum nächstern Messtermin vorgeschossen zu bekommen, bis zum Bettelweib, das sich in höchster Not einer Diebsbande anschloss und sich mit der über die Landstraßen schleppte. Diese Vielfalt der Erscheinungsbilder entsprang der Vielfalt der Armutsursachen mit ihren oft nur unscharf zu übersehenden oder nicht selten verschleierten Konturen. Natürlich vermochte sich die Armut auch hinter Konstruktionen und „betrügerischen Manövern“ zu verbergen, doch selbst hier blieb sie ein gesellschaftliches Produkt. Der Begriff der Armut aber muss auch dessen Wahrnehmung einschließen – die von oben und die von unten. Dieses schillernde und schwer zu durchleuchtende Phänomen veranlasste die besitzende Gesellschaft bereits seit dem späten Mittelalter zu neuen Reaktionen. Sie bestanden in erster Linie in der partiellen Preisgabe der Auffassungen von der „Nützlichkeit“ armer Leute für die Sicherung des Seelenheils derer, die etwas zur Versorgung der Armen beizutragen hatten und dies auch taten, um sich der entsprechenden Fürbitten zu versichern. Indem die besitzende Gesellschaft am Ausgang des Mittelalters die Armut in einen unverschuldet in Misslichkeiten geratenen Flügel, die „Würdigen“, und einen schuldhaft in schlimme Soziallage gelangten Teil, die „Unwürdigen“, trennte, schuf sie das maßgebliche und dauerhaft – bis in die Gegenwart – wirkende Instrument der Beherrschung der Armen. Einheimische, Arbeitswillige, aber Arbeitsunfähige, Verschämte, in die Ordnung Integrierte etc. waren „gut“ und wurden der Unterstützung teilhaftig, Fremde, Arbeitsunwillige, aber Arbeitsfähige, Faule, sich der Ordnung Entziehende oder gegen sie Agierende erhielten das Etikett „böse“ – oft unabhängig davon, ob diese Kriterien zutreffend waren oder nicht. Die Obrigkeiten und die besitzende Öffentlichkeit, die die Almosenmarken vergaben oder die Leute von den Stadttoren bzw. Landesgrenzen vertrieben, setzten das als „Armenrecht“ ausgewiesene Normengefüge in die Welt, pflegten es mit ideologischen Instrumentarien und suchten es auch gewaltsam durchzudrücken.19 Von Besitz, Macht und Einfluss aus

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Vgl. dazu Helmut Bräuer: Art. „Armut“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1. Stuttgart-Weimar 2005, Sp. 665-671; Johann Maier/David Flood/Gerhard Krause: Art. „Armut“. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 4. Berlin-New York 1979, S. 84-108; Elmar Klinger u. a.: Art. „Armut“. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 1998, Sp. 779-784; J. Eichler u. a.: Art. „Armut/Reichtum“. In: Theologisches

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wurden die Kriterien dafür, wer als arm galt, festgelegt, „begründet“ und qualifiziert – und das hieß faktisch: immer drastischer und rigoroser gestaltet –, und wenn sich Arme in Bittschriften um ein Almosen oder einen Spitalplatz bewarben, hatten sie sich dieser Kriterien zu bedienen und mussten ihre individuellen Armutserfahrungen mit diesem Wertesystem in Übereinstimmung bringen.20 Diese generellen Umstände besaßen zumindest eine mitteleuropäische Dimension, d. h., sie galten auch für das hier in Rede stehende Vergleichsfeld Sachsen und Österreich.

Grundzüge der Armutsentwicklung und ihrer Bekämpfung im Vergleich Arme Leute in den Residenzen Aus verständlichen Gründen entwickelten Residenzen für arme Leute eine erhebliche Anziehungskraft.21 Der Hof und sein Umfeld an Konsumtion,

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Begriffslexikon zum Neuen Testament, neubearb. Ausg., Bd. 1. Wuppertal 1997, S. 7288. Vgl. auch die Forschungsüberblicke bei Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, Überleben in der Not 1450–1850 (= Europäische Geschichte). Frankfurt am Main 2000; Martin Scheutz: Ausgesperrt und gejagt, geduldet und versteckt. Bettlervisitationen im Niederösterreich des 18. Jh. (= Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 34). St. Pölten 2003; Gerhard Ammerer: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 29). Wien-München 2003; Sabine Veits-Falk: Der Wandel des Begriffs Armut um 1800. Reflexionen anhand Salzburger Quellen. In: Christoph Kühberger/ Clemens Sedmak (Hg.): Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung (= Geschichte. Forschung und Wissenschaft 19). Wien 2005, S. 15-43; Theodor Strohm/ Michael Klein (Hg.): Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, 2 Bde. (= Veröff. des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 22, 23). Heidelberg 2004; Oliver Müller: Vom Almosen zum Spendenmarkt. Sozialethische Aspekte christlicher Spendenkultur. Freiburg im Breisgau 2005. Helmut Bräuer: Persönliche Bittschriften als sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quellen. Beobachtungen aus frühneuzeitlichen Städten Obersachsens. In: Gerhard Ammerer/ Christian Rohr/Alfred Stefan Weiß (Hg.): Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz Dopsch. Wien-München 2001, S. 294-304. Gerhard Fischer/Nora Fischer-Martin: Die Blumen des Bösen. Eine Geschichte der Armut in Wien, Prag, Budapest und Triest in den Jahren 1693 bis 1873, 3 T. Wien 1993, 1994; Helmut Bräuer: „…und hat seithero gebetlet“. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich während der Zeit Kaiser Leopolds I. Wien-Köln-Weimar 1996;

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Repräsentation, Verwaltung, Kultur und Militär sowie teilweise die kirchlich-klösterliche Zentralität boten der Armut vielfältige Möglichkeiten zur Partizipation auf unterster Ebene bzw. gänzlich an der Peripherie des Geschehens. Zuziehende erhofften sich vor allem Chancen in der kleinen gewerblichen Warenproduktion, im Bauwesen sowie der minderqualifizierten Arbeit, in den unterschiedlichsten Formen von Dienstleistungen, bei Militär und Polizei sowie im Bettel. Für einen beträchtlichen Teil der Immigranten erfüllten sich freilich die Hoffnungen auf Arbeit und Existenzerhaltung nicht. Sie stiegen, in der Regel mit ihren Familien, auf der sozialen Stufenleiter ab und wurden von der Kategorie der Almosenempfänger oder der Bettelnden aufgenommen. Am 27. Jänner 1672 war beispielsweise der 41-jährige Tobias Schneider aus Zittau in Sachsen in Wien „auff der Laimgrube“ wegen Bettelns festgenommen und im Spitalkotter verhört worden. Er hatte lange Zeit in der kaiserlichen Armee gedient und war 1667 krankheitshalber ausgemustert worden. Zwei Jahre, so berichtete er, habe er bei der Stadt „roßarznei biecher“ verkauft. Dann trödelte der Mann „vnd samblet das almusen, hat vor eylff Jahrn die Catolisch religion angenohmen, dahero er zu seinen freundten nit nach hauß khen darf“.22 Die sozialen Rekrutierungsbereiche der ärmsten Leute in Wien und Dresden unterschieden sich in den Hauptgruppen kaum: Handwerker – Diener/Lakaien/Knechte – Lohnarbeiter – abgemusterte Soldaten. Sie wiesen nur intern – etwa bei den niederösterreichischen Weingartenarbeiterinnen – Abweichungen auf. Als bemerkenswert muss die nahezu europäische Herkunftsdimension der Armen in der Metropole an der Donau gelten.23 Die Anzahl der bettelnden Kinder war in Wien – in Rela-

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Thomas Just/Susanne Claudine Pils: Die Entstehung der Unbarmherzigkeit. Randgruppen und Außenseiter in Wien vom Mittelalter bis ins 20. Jh. (= Wiener Geschichtsblätter, Beih. 1). Wien 1997. Das Stadtarchiv Dresden verfügt über eine Fülle von Armutsund Bettlerakten, deren Auswertung gerade erst begonnen hat, vgl. Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich (Bearb.): Armut und Armutsbekämpfung. Schriftliche und bildliche Quellen bis um 1800 aus Chemnitz, Dresden, Freiberg, Leipzig und Zwickau. Ein sachthematisches Inventar, 2 Halbbde. und CD-ROM. Leipzig 2002, S. 610-845; Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah: Armen- und Bettelwesen im 16. Jahrhundert. In: Karlheinz Blaschke unter Mitw. v. Uwe John (Hg.): Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 1. Stuttgart 2005, S. 607-620. Zuletzt Elke Schlenkrich: Bettelwesen in Sachsens Goldenem Jahrhundert. In: Dresdner Hefte 89 (2007), H. 1, S. 34-42. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Register über die Bettelleute 1665 ff., (Männer), Bl. 36b. Bräuer: Bettler und Bettelwesen in Wien (wie Anm. 21), S. 184, S. 200. Ebenda: S. 120-126. Für das Handwerk generell vgl. Annemarie Steidl: Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Bei-

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tion zur Gesamtbevölkerung – überaus groß, vor allem aber ließen sich die Sechs- bis Vierzehnjährigen nicht selten „organisiert“ nachweisen. Dresden blieb auf beiden Vergleichsgebieten erheblich zurück.24 Während manche Zuwanderer von Anfang an in der Residenz keine Kontakte aufbauen konnten, zu keiner geregelten Arbeit fanden oder in vielfältigste und überlebensbedrohliche Konflikte gerieten, schieden andere im Alter oder wegen Krankheit aus ihren Diensten aus. In dieser sozialen Zone entstand ein im Grunde kaum auflösbares Gemisch von Beziehungsarmut, Teilarbeit, zeitweiliger Tätigkeit, interimistischer oder dauerhafter Obdachlosigkeit, Hilfsarbeit, Almosenempfang, Bettel oder partiellem Bettel – vielfach hart an der Grenze zur Kleinkriminalität, ja diese Grenze nicht selten überschreitend. Generell wuchs die Schicht derer, die in irgendeiner Weise versorgt werden mussten oder die die Obrigkeit „abtreiben“ lassen wollte bzw. dies auch tat. Das heißt: In den Residenzen – den Orten einer doppelten, also staatlichen und städtischen Obrigkeit – wurde intensiver als anderswo dieses zweifache System der Armenunterstützung und der Bettlervertreibung ausgebaut. Das setzte entsprechende Armenvisitationen voraus, mit denen obrigkeitliche Kommissionen die jeweiligen Lebensumstände resp. Bedürftigkeitsgrade festzustellen gedachten. Was in Dresden durch das städtische Regiment oder die Polizeikommission in relativ kleiner Dimension bewältigte wurde – vom Mai 1785 bis April 1786 fanden beispielsweise 532 solcher Verhöre statt –,25 war in Wien weitaus besser organisiert und perfektioniert. Nach einem detaillierten Fragenkatalog vernahm auf der Grundlage des Bettelverbots Kaiser Leopolds I. vom 26. März 1693 ein vielköpfiger Ausschuss vier Wochen lang täglich 40 bis 50 Personen, insgesamt über 2.000 Frauen, Männer und Kinder, um deren Almosenwürdigkeit bzw. Arbeitsfähigkeit zu eruieren.26

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spiel der Haupt- und Residenzstadt (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien. Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien 30). Wien-München 2003. Bräuer: Bettler und Bettelwesen in Wien (wie Anm. 21), S. 81-100, 120-136. Zu Salzburg vgl. v. a. Sabine Veits-Falk: Offene Armenfürsorge in der Stadt Salzburg. Armenkassen und das Wirken der städtischen Armenkommission. In: Helmut Bräuer (Hg.): Arme – ohne Chance? Protokoll der internationalen Tagung „Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ v. 23.-25. Oktober 2003 in Leipzig. Leipzig 2004, S. 223-249. Stadtarchiv Dresden, RA, B. XIII. 116 o, Protokoll, das Bettelwesen betr., Vol. X, 1785– 1786. Bräuer: Bettler und Bettelwesen in Wien (wie Anm. 21), S. 72-75. Zur Visitationspraxis auch Scheutz: Ausgesperrt und gejagt (wie Anm. 19), S. 43-49.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

Die offene Armenversorgung profitierte in besonderem Maße von der Stiftungstätigkeit. Dieselbe mag in den katholischen Residenzen intensiver, reicher und mannigfaltiger gewesen sein, obwohl auch hier das Bemühen zur Zentralisation der staatlichen Mittel zu erkennen ist. Im lutherischen Dresden dagegen schlug man noch im 18. Jahrhundert scharfe Mandate an, mit denen die Obrigkeit Stiftungen und Spenden nur in den Gemeinen Kasten zu geleiten gedachte, während sie die private Almosenvergabe grundsätzlich verbot und mit Strafandrohungen versah.27 Dass es in dieser Hinsicht im Alpenraum unverkrampftere Haltungen gab, beschreibt Sabine Veits-Falk am Beispiel des Salzburgers Mathias Bayrhammer.28 Generell aber wurde Stiften und Almosengeben in der besitzenden Öffentlichkeit mehr und mehr zu einer säkularisierten Veranstaltung, bei der es primär um Prestigefragen ging, ohne dass christliches Barmherzigkeitsempfinden völlig abhanden gekommen wäre. Beiläufig spielte noch ein anderer Aspekt eine Rolle: Als der reiche Simon Haffner in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in Salzburg testamentarisch etwa 20 Legate mit insgesamt fast 400.000 Gulden für karitative Zwecke zur Verfügung stellte, bezweifelte sein Erbe dessen geistige Zurechnungsfähigkeit.29 Alle Varianten der geschlossenen Armutsbekämpfung30 – von den Spitälern und Siechenhäusern über Waisen- und Findelanstalten bis zu Armen-, Arbeits- und Zuchthäusern – standen gleichfalls im Dienste der Ordnungssicherung. Die Residenzen entwickelten sich hier schon sehr frühzeitig zu Konzentrationsorten, wie Karl Weiß für Wien und Otto Richter für Dresden bereits im 19. Jahrhundert dargelegt haben.31 Der Typus der alten Spitäler – die ursprünglich von der Elendenherberge über das Altenheim bis zum Gebärhaus den Charakter eines Sozialasyls besa-

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Stadtarchiv Dresden, RA, A. V. 5b, Raths-Anschläge und Verordnungen, 1721–1785, kurfürstliches Mandat vom 11. 4. 1772. Sabine Veits-Falk: „Zeit der Noth“. Armut in Salzburg 1803–1870. Salzburg 2000, S. 153-163. Heinz Dopsch/Robert Hoffmann: Geschichte der Stadt Salzburg. Salzburg-München 1996, S. 377. Als Beispiele: Elke Schlenkrich: Von Leuten auf dem Sterbestroh. Sozialgeschichte obersächsischer Lazarette in der frühen Neuzeit (= Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft 8). Beucha 2002; Alfred Stefan Weiss: Aus Unglück arm geworden. Lebensbedingungen in Bürgerspitälern während der Frühen Neuzeit (mit einem Ausblick ins 19. Jahrhundert) – Beispiele aus Kärnten und Salzburg. In: Bräuer (Hg.): Arme – ohne Chance? (wie Anm. 24), S. 191-221. Karl Weiß: Geschichte der öffentlichen Anstalten, Fonde und Stiftungen für die Armenversorgung in Wien. Wien 1867; Otto Richter: Verwaltungsgeschichte der Stadt Dresden, 2. Abt. Dresden 1891.

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ßen – wandelte sich im Kontext der Veränderungen des armenpolitischen Denkens zu Institutionen, die sich weitgehend auf die Aufnahme Einheimischer, Alter und Kranker orientierten, wobei verschiedentlich Ansätze zur späteren Krankenhausentwicklung erkennbar sind. Dominierend aber war der Akzent, der auf dem Bürgerspital lag, auch wenn man in Sachsen nur selten diese bürgerrechtliche Betonung im Hospitalnamen anklingen ließ. Das stand mit der Ausgliederung verschiedener Insassengruppen aus den traditionellen Instituten und der Entstehung von speziellen Einrichtungen in Verbindung, wofür das Wiener Großarmenhaus am Alsergrund den wohl auch äußerlich eindrucksvollsten Beleg abgibt und das, wie Martin Scheutz ausführte, zunächst Türkenkriegsbeschädigten und Bettlern vorbehalten war und 1733 etwa 5.000 arme Personen beherbergte.32 Staatspolitisch-ordnungsorientierte, das Armen- und Bettlerproblem als Massenerscheinung lösen wollende, auch auf „correction“ zielende Erwägungen sowie kameralistische Überlegungen und „strafhumanisierende“ – vornehmlich gegen Todesurteile gerichtete – Gedanken flossen im 17. und 18. Jahrhundert zusammen, wurden mit älteren und neueren pädagogischreligiösen Ideen und Praktiken untersetzt33 und bildeten schließlich die Grundpfeiler der Institution „Zuchthaus“. Vergröbernd: Gegen die Massen der Bettelnden sollte disziplinierend und willenbrechend mit Wasser, Brot, Peitsche, Gebet und Strafarbeit erzieherisch vorgegangen werden, um die von den Normen Abgewichenen zu befähigen, wieder in die christliche Gemeinschaft zurückzukehren. Arbeitsrhythmus, Fleiß und bürgerliche „Tüchtigkeit“ zu „lehren“ bzw. zu lernen, war dabei eine wichtige Vorstellung. Sie war wohl institutionsorientiert, zugleich aber „Hoffnung“ der besitzenden Gesellschaft. Nicht selten stieß sie auf den Widerstand der „Züchtlinge“ und einer Vielzahl äußerer gesellschaftlicher Umstände. Österreich und Sachsen hatten mit Bridewell und Amsterdam durchaus gleiche Vorbilder, aber während in Dresden die Pläne an Finanzmangel und organisatorischen Schwierigkeiten scheiterten – neben dem aus alten Wurzeln kommenden Georgenhaus in Leipzig, das um 1671/1701 städtisches Zuchthaus wurde,34 entstand später ein Landeszuchthaus in Wald-

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Scheutz: Ausgesperrt und gejagt (wie Anm. 19), S. 61 f. Helmut Bräuer: Nachdenken über den Bettel um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein Beispiel aus Wien. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 5. Köln-Weimar-Wien 1999, S. 365-390. Helmut Bräuer: Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert. Leipzig 1997, v. a. S. 64-68.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

heim (1716) –,35 konnte das Vorhaben in Wien 1671 realisiert werden. Es zeugt von der Bedeutsamkeit der Untersuchung Hannes Stekls aus dem Jahre 1978,36 dass deren Ausstrahlungskraft bis in die Gegenwart reicht, wie die Sammelbände von Gerhard Ammerer, Falk Bretschneider und Alfred Stefan Weiß von 2003 und 2006 belegen, in denen zugleich deutlich wird, wie durch die intensive Einbeziehung zeitgenössischer Strafund Zuchthausdiskurse in die Forschung neue Einsichten gewonnen wurden.37 Auf dem langen Wege zum Gefängnis des 19. Jahrhunderts, der de facto im Spätmittelalter begann, war das Zuchthaus der frühen Neuzeit eine Station, die nur Teile ihrer Aufgaben erfüllen konnte. Für beide Residenzen – Dresden und Wien – gilt während der frühen Neuzeit: Ein aus dem späten Mittelalter kommendes, mit der Residenzbildung in direktem Konnex stehendes Armenwachstum schuf ein erhebliches Unterschichtenpotenzial. Diese Kategorie war in ihrer sozialen Struktur in beiden Orten heterogen, besaß aber in Wien ein europäisches Herkunftsmilieu. Obrigkeit und besitzende Öffentlichkeit gingen mit weitgehend gleichen Methoden der Armutsbekämpfung vor. Die Armenversorgung Wiens gestaltete sich – konfessionell und staatlich bedingt – vielfältiger und wirkte formal hinsichtlich der Bettler restriktiver, ohne tatsächlich entscheidend effektiver zu sein.

Arme Leute in den Bergorten38 Der Rekrutierungsprozess der armen Leute, das Profil der Armut und das Funktionieren der Armenfürsorge in den Bergbauregionen besaßen ein 35

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Falk Bretschneider: Zum Verhältnis von Individuum und Institution im gesellschaftlichen Disziplinierungsprozeß des 18. und 19. Jahrhundert. Das Beispiel Gefängnisse in Sachsen, 3 T., Diss. Paris-Dresden 2005, im Druck erschienen unter dem Titel: Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Konstanz 2008. Hannes Stekl: Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671–1920. Institutionen zwischen Fürsorge und Strafvollzug (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 12). Wien 1978. Vgl. auch Helfried Valentinitsch: Das Grazer Zucht- und Arbeitshaus 1734–1783. Zur Geschichte des Strafvollzugs in der Steiermark. In: Kurt Ebert (Hg.): Festschrift für Hermann Balts. Innsbruck 1978, S. 495-514. Gerhard Ammerer/Falk Bretschneider/Alfred Stefan Weiß (Hg.): Gefängnis und Gesellschaft. Zur (Vor-)Geschichte der strafenden Einsperrung (= Comparativ 5/6). Leipzig 2003; Gerhard Ammerer/Alfred Stefan Weiß (Hg.): Strafe, Disziplin und Besserung. Österreichische Zucht und Arbeitshäuser von 1750 bis 1850. Frankfurt am Main-BerlinBern-Bruxelles-Nerw York-Oxford-Wien 2006. Für Österreich vgl. v. allem Ebner: Bergbaustädte und Bergmärkte (wie Anm. 5), mit reicher Lit.; für Sachsen vgl. Helmut Bräuer: Armut in Bergstädten des sächsischen Erzge-

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spezielles Gesicht, das von den frühkapitalistischen Gegebenheiten des Bergbaus und den dortigen Organisationsformen der Bergarbeiterschaft sowie der landesherrlichen Bergverwaltung nachhaltig geprägt wurde. Die Zugkraft von Silberfunden in den Jahrzehnten vor und kurz nach 1500 löste das sogenannte „Bergkgeschrey“ aus; d. h. eine Welle von Zuzügen – meist fachlich qualifizierter Arbeitskräfte – aus solchen Bergbaugebieten, deren Fündigkeit erschlafft war und die nur noch wenig Arbeits- und Gewinnchancen boten. Auf diese Weise entstanden insbesondere im Erzgebirge und in Tirol rasch Bevölkerungskonzentrationen mit siedlungsbildenden Konsequenzen, die jedoch in Sachsen wesentlich kräftigere Züge aufwiesen, wie an Freiberg, Geyer, Ehrenfriedersdorf, Schneeberg, Annaberg, Buchholz, Marienberg, Wiesenthal, Scheibenberg etc. abgelesen werden kann,39 während andererseits nur Schwaz Wachstumszuspitzungen, allerdings von bis zu 20.000 Bewohnern, erfuhr.40 Im Silber-, Kupfer-, Eisen- und Salzbergbau trug das eindringende Kapital in Verbindung mit den natürlichen Umständen intensiv zur sozialen Differenzierung des Bergvolkes bei. Je finanzaufwändiger der Abbau der Bodenschätze wurde – und das geschah vor allem mit wachsender Teufe und zunehmenden Forderungen an die Wasserbewältigung – um so spürbarer griffen die Kapitalisierungsprozesse41 in das Gefüge der Bergleute ein. Bald war der selbstbauende Gewerke nicht mehr in der Lage, seinen Grubenbetrieb aufrecht zu erhalten und sank zum Lohnknappen hinab. Nicht mehr selbstbauende Gewerke und Kapitalgesellschaften sowie die Regalherren mit ihren Bergverwaltungen und andere Externe be-

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birges während der frühen Neuzeit. In: Karl Heinrich Kaufhold/Wilfried Reininghaus (Hg.): Stadt und Bergbau (= Städteforschung A 64). Köln-Weimar-Wien 2004, S. 199-238. Ulrich Thiel: Die Bergstädte des sächsischen Erzgebirges. In: Harald Marx/Cecilie Hollberg (Hg.): Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze (= 2. Sächsische Landesausstellung, Torgau, Schloß Hartenfels 2004). Dresden 2004, S. 91-102; Helmut Bräuer: Bergbau-Stadtrecht-Bergstadt. Der Schneeberger Freiheitsbrief von 1481 und sein gesellschaftlicher Kontext. In: Sächsische Heimatblätter 52 (2006) H. 4, S. 312320; Karl-Heinz Ludwig/Fritz Gruber: Gold- und Silberbergbau im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Das Salzburger Revier von Gastein und Rauris. Köln-Wien 1987. Ebner: Bergstädte und Bergmärkte (wie Anm. 38), S. 57. Vgl. auch Helmut Alexander: Schwaz. Der Weg einer Stadt. Innsbruck-Wien 1999; Erich Egg: Schwaz ist aller Bergwerke Mutter. In: Der Anschnitt 16 (1964), S. 7-37. Adolf Laube: Studien über den erzgebirgischen Silberbergbau von 1470 bis 1546. Berlin 21976; Wolfgang Ingenhaeff/Johann Bair (Hg.): Schwazer Silber – vergeudeter Reichtum? Verschwenderische Habsburger in Abhängigkeit vom oberdeutschen Kapital an der Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit. Tagungsbd. 1. Internationales Bergbausymposium Schwaz 2002. Innsbruck 2003.

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trieben eine Hierarchisierung des Bergvolkes, die vielfach den Verarmungsprozess der Unterschichten der Berg- und Hüttenleute – der Haspler, Bergknechte, Pochjungen, Holz- und Fuhrknechte etc. – beschleunigte. Andere Formen der gewinnorientierten Abbaustrategien sorgten schon bald dafür, dass Knappen und Häuer tief greifende Lohnbeschädigungen erfuhren. Dies geschah insbesondere im Zuge von weitgreifenden Arbeitseinstellungen infolge unzureichender Entwässerung der Gruben bzw. wenn keine optimalen Ausbeuten zu erwarten waren. So beschrieb der Freiberger Chronist Andreas Möller für das Jahr 1600 das „Feyren“ oder die erzwungene Arbeitslosigkeit, das „Ablegen“, von mehr als 900 Bergleuten, und es sei daher „viel winseln und wehklagen unter den armen Bergleuten entstanden“.42 Lohnmindernd wirkten freilich auch das Trucksystem oder „Pfenwert“, „schlechte Münze“, Strafgelder und offenkundige Lohnbetrügereien der Bergbeamten. Trotz der regalherrlichen Bemühungen um eine kontinuierliche Nahrungsmittelzufuhr in die Bergregionen zog jede geringfügige Missernte oder Viehseuche in Verbindung mit Grenzblockaden – etwa zu Salzburg43 oder zwischen Sachsen und Böhmen44 – beim Bergvolk umgehend soziale Konsequenzen nach sich, weil diese Vorgänge auf Transportschwierigkeiten, vor allem aber auf die Wucherpraktiken der Getreide- und Viehhändler stießen.45 Als ganz besonders gravierend erwiesen sich die gesundheitlichen Folgen, die aus der bergmännischen Arbeit resultierten. Dabei legte der Arbeitsbeginn der Bergleute im frühen Lebensalter oft einen entscheidenden Grund. Und gerade in diesem Zusammenhang irritiert es etwas, wenn Karl-Heinz Ludwig und Fritz Gruber meinen, im Gasteiner/Rauriser Revier habe die „Kinderarbeit“ „eine völlig untergeordnete Rolle gespielt“.

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Zit. bei Wolfgang Jobst/Walter Schellhas: Abraham von Schönberg. Die Wiederbelebung des erzgebirgischen Bergbaus nach dem Dreißigjährigen Krieg durch Oberberghauptmann Abraham von Schönberg (= Freiberger Forschungshefte D 198). LeipzigStuttgart 1994, S. 60. Leopold Kretzenbacher: „Rebellisch sind sie wohl…“ Aufstand der Einsenerzer Bergknappen im Türkenjahr 1683. In: Der Anschnitt 12 (1960), H. 5, S. 11-14. Elke Schlenkrich: Alltagsleben während der späten Pestzüge des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts in Sachsen, Schlesien und Böhmen. Eine vergleichende Untersuchung. Habilitationsschrift Frankfurt an der Oder 2007. Helmut Bräuer: Reflexionen über den Hunger im Erzgebirge um 1700. In: Manfred Hettling/Uwe Schirmer/Susanne Schötz unter Mitarb. v. Christoph Volkmar (Hg.): Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. München 2002, S. 225-239.

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Es sei aber „bis in die Industrialisierungszeit hinein allgemein üblich gewesen“, Zwölfjährige als mannschaftsfähig zu betrachten und anzustellen.46 Nachrichten, dass „ich als ein Kind von 8 Jahren zur berg-Arbeit von meinem seel[igen] Vater angehalten worden“ bin,47 lassen sich nicht massenhaft finden, aber die Analyse einer „Specificatio derer Auswärtigen Bergleute, welche bey der [Fundgrube] der Neuen Hoffnung Gottes zu Bräunsdorf“, im Freiberger Revier gelegen, 1743 tätig waren, ergab, dass 26 Prozent der 73 namentlich Genannten als Zehn- bis Zwölfjährige ihre Bergarbeit begonnen hatten,48 und dies, wie ebenfalls von anderen Zechen belegt, nicht allein auf der gesteinsstaubsatten Scheidebank, sondern auch unter Tage oder, wie es hieß, „von 10ten Jahre angefahren“.49 Die damit verbundene Unterminierung der körperlichen Verfassung erleichterte die Ausbreitung jener Krankheit, die mit dem Begriff „Bergsucht“ lungenkarzinomatöse Beschwerden meinte, die über ein schlimmes Siechtum zum unausweichlichen Tod des Bergmannes führten.50 Paracelsus hat sich schon sehr früh mit dieser schweren Krankheit befasst und wahrscheinlich um 1525 für seine Schrift über die Bergsucht auch Gasteiner und Rauriser Erkenntnisse nutzen können.51 Sehr nachdrücklich betonte Heinz Dopsch: Bergknappen, Schmelzer und Hüttenarbeiter „mussten froh sein, wenn sie im mittleren Lebensalter, ausgezehrt von der schweren Arbeit und gesundheitlich angeschlagen von den Umweltbedingungen im Bergbau- und Hüttenbetrieb, Aufnahme in eines der ärmlichen Knappenspitäler oder Bruderhäuser fanden, die es zumindest in den Zentren der größeren Montanreviere wie in der Bergstadt Schwaz oder in Gastein gab“.52

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Ludwig/Gruber: Gold- und Silberbergbau (wie Anm. 39), S. 111. Bergarchiv Freiberg, BA-F / A 25 / Nr. 729, Volumen Actorum, die von feyrigen Berg Arbeitern … eingereichten Bittschriften betr., 1737–1757, unpag., Vorgang Pflugbeil, 1742. Ebenda: Specificatio 1743. Bergarchiv Freiberg, BA-F / A 29 / Nr. 2627, Acta, derer Bergwercks Verwandten Gnadengeld betr., 1778, Bl. 59 f. Bräuer: Armut in Bergstädten (wie Anm. 38), v. a. S. 223-228. Heinz Dopsch: Begründer der Bergbaumedizin? Paracelsus und seine Schrift von der Bergsucht. In: Wolfgang Ingenhaeff/Johann Bair (Hg.): Bergvolk und Medizin. Tagungsband. 3. Internationales Bergbausymposium Schwaz 2004. Innsbruck 2005, S. 71-88, hier: S. 82 f. Ebenda: S. 88.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

Das hochkarätige Kulturdenkmal „Schwazer Bergbuch“ (1556) erlaubt auch einen visuellen Einblick in eine solche Einrichtung der Versorgung von Knappen und Knechten, die einen Arbeitsunfall erlitten hatten oder siech und krank waren.53 Im Berg- und Hüttenwesen erwuchs die Armut zu einem hohen Prozentsatz direkt aus dem Arbeitsleben. Als Pendant dazu kann folglich das in diesem Bereich anzutreffende Fürsorgesystem betrachtet werden. Es unterschied sich wesentlich von den traditionellen Almosenformen, die dem Prinzip ‚materielle Hilfe gegen Fürbitte‘ oder ‚Pfennig resp. Kreutzer gegen Gebet‘ entsprangen. Obgleich es natürlich auch hier Stiftungen der Regalherren, hoher Bergbeamter oder reicher Kuxeigner gab, wurden die Berg- und Hüttenbruderschaften bzw. Knappschaften54 zu einem wichtigen Träger der Fürsorge, weil durch ihre Pflichtpfennige pro Woche die Zahlungsfähigkeit der Knappenbüchse ermöglicht und erhalten wurde. Mit ihrem Beitrag sorgten also die Arbeitskräfte im Sinne einer „modernen“ Sozialversicherungskasse selbst für eine Unterstützung im Notfall. Sie war zwar dürftig, lag jedoch im Erzgebirge knapp über den städtischen Wochenalmosen und schloss auch die Ehefrau und die Töchter des Knappen oder Hüttenknechts ein. Die Bruderhäuser im Alpenraum funktionierten nach dem gleichen Grundsatz. Der Schwazer Text besagt, dass die gemeine Gesellschaft des Bergvolkes mit Erlaubnis der Obrigkeit eine Ordnung gemacht habe, „das ain yeder arbaitter, Er sey klain oder groß, jung oder alt, alle monat ein kreitzer, das ist ain Jar zwelff kreitzer geben soll…“. Davon wollten sie die anfallenden Ausgaben für Unterbringung, Speise, Getränk und Arznei sowie die Kosten für Priester, Köchin, Knechte und Mägde bestreiten. Frauen allerdings, selbst wenn sie krank oder siech waren, blieben von der Aufnahme ausgeschlossen.55 Das Schwazer Haus, gegründet um 1510, existierte bis 1809. Gemessen an der großen Zahl der Bergarbeiter waren freilich die Kapazitäten gering. Zum Jahr 1734 nannten Erich Egg und Franz Kirnbauer Bettplätze für 12 bis 15 bresthafte Bergleute.56

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Schwazer Bergbuch [Perkwerch etc. 1556]. Faks.-Ausgabe des Schwazer Bergbuches, 1556. Codex Vindobonensis 10.852 der ÖNB Wien. Essen 1988, hier Bl. 154: Bruederhauß. Hermann Löscher: Kerzenheller, Wochen- oder Büchsenpfennig der erzgebirgischen Knappschaften. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt. 73, 1956, S. 392-397. Schwazer Bergbuch (wie Anm. 53), Bl. 154 f. Erich Egg/Franz Kirnbauer: Das Bruderhaus zu Schwaz (= Leobener Grüne Hefte 68). Wien 1963, hier S. 17.

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Die erzgebirgischen und alpenländischen Knappschaften oder Gemeinen Gesellschaften waren religiöse Bruderschaften und sozialpolitische Organisationen in einem. Ihre Unterstützungsleistung funktionierte nach dem Prinzip obrigkeitlich und organisationsintern kontrollierter Selbsthilfe derer, die ihre Arbeitskraft verkauften oder die noch als selbstbauende Kleingewerken agierten. Nimmt man die lange Reihe der Lohnstreiks seit dem 15. Jahrhundert zum Maßstab,57 scheinen sie im Erzgebirge gewichtiger gewesen zu sein und eine aktivere Rolle gespielt zu haben als in Österreich. Während des Bauernkrieges aber demonstrierten die Knappen im Alpenraum ihr besonderes Kraftpotenzial. In Sachsen wurde ihre soziale Wirksamkeit durch die Reformation zunächst unterbrochen. Beim erneuten Aufschwung gerieten die Vereinigungen allerdings immer stärker unter den Einfluss der Bergbeamten und verloren an Durchsetzungsfähigkeit. Eine solche Tendenz zeichnete sich auch in Österreich ab.

Arme Leute in den Handwerken58 Indem bestimmte Teile der kleinen gewerblichen Warenproduktion im Verlaufe der frühen Neuzeit unter den Einfluss von finanzkräftigen Verlegern – Fernhändlern oder wohlhabend gewordenen Handwerksmeistern – gekommen waren, setzte bei ihnen ein sozialer Abstiegsprozess ein, der bis zur Preisgabe des Handwerks reichen konnte. In der Textilbranche ist dies am deutlichsten zu beobachten. Als 1749 der Leipziger Kammerrat Johann Christian Raabe im Auftrag des Geheimen Konsiliums eine statistische Erhebung im Textilsektor des Kurfürstentums Sachsen fertigen ließ, stellte er 66 Prozent der Meister fest, „so noch vor sich arbeiten“, 24 Prozent, „so aus großer Armuth vor Gesellen arbeiten“ und 10 Prozent, „so theils vorarmeth, theils betteln“.59 Um die gleiche Zeit ergab sich ein ähnliches Bild bei den Massenhandwerken in Wien. Das ist insbesondere auf der Basis der Steuer-

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Bräuer: Armut in Bergstädten (wie Anm. 38), S. 231. Josef Ehmer: Zünfte in Österreich in der frühen Neuzeit. In: Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 151). Göttingen 2002, S. 87-126; Katrin Keller: Kleinstadt und Handwerk. Strukturen und Entwicklungstendenzen im 18. Jahrhundert. In: Karl Heinrich Kaufhold/Wilfried Reininghaus (Hg.): Stadt und Handwerk in Mittelalter und früher Neuzeit (= Städteforschung A 54). Köln-Weimar-Wien 2000, S. 61-92; Elke Schlenkrich/Helmut Bräuer: Armut, Verarmung und ihre öffentliche Wahrnehmung. Das sächsische Handwerk des ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert. In: Kaufhold/Reininghaus (Hg.): Stadt und Handwerk in Mittelalter und früher Neuzeit (= Städteforschung A 54). Köln-Weimar-Wien 2000, S. 93-117. Schlenkrich/Bräuer: Sächsisches Handwerk (wie Anm. 58), S. 96.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

veranlagungen nach den „Unbehausten-Büchern“, zu ersehen wo aus allen Steuerklassen die Abstiegsmobilität die des Aufstiegs bei Weitem überwog. Bei den Schneidern der Donaumetropole standen von 573 Bürgerlichen (also zünftigen) Meistern 11 Prozent Reichen und 46 Prozent Wohlhabenden 43 Prozent Verarmte gegenüber. Und was sich über längere Fristen gleichfalls beobachten ließ: Bei auftretendem Kapitalmangel war Armut „erblich“.60 Generell kann diese soziale Abstiegsmobilität hier wie in Sachsen in Stufen verfolgt werden. Sie vollzog sich von der Selbstständigkeit zur partiellen Abhängigkeit von Verlegern und schließlich zur Aufgabe der Werkstatt mit dem Verlassen der Zunft und der Übernahme einer gering qualifizierten Tätigkeit resp. eines niederen städtischen Dienstes, bevor sie in den Almosenempfang bzw. den Bettel einmündete.61 Weitgehend offen muss die Frage bleiben, wie die Betroffenen dies innerlich-subjektiv verarbeitet und mit ihrer „Handwerker-Ehre“ in Übereinstimmung gebracht haben – ein Problem, das auch das Zusammenleben in der Zunft tangierte. Wie im Berg- und Hüttenwesen führten demnach Kapitalisierungsvorgänge zu sozialen Differenzierungen, wenngleich dieselben im Handwerk durch die zünftigen Bindungen zäher verliefen und etwas gemildert waren. Aber: „Der Status eines ‚bürgerlichen Meisters‘ allein schützte nicht vor sozialem Abstieg oder Verarmung,“ wie man bei Josef Ehmer nachlesen kann.62 Den vielerorts erreichten „wirtschaftlichen ‚Sättigungsgrad‘“ (Josef Ehmer) berührte beispielsweise die Dresdner Schusterzunft, als sie 1798 darauf hinwies, dass sie derzeit ca. 400 Meister in ihren Registern verzeichnet habe, doch sei nur für etwa 250 von ihnen Arbeit vorhanden, so „dass gegenwärtig mehr als 200 unserer Meister nicht wissen, wo sie Brod für sich und die ihrigen hernehmen sollen“.63 Einesteils suchten überaus viele Meister sich durch „Nebenverdienste“ – Reparaturen, Gartenarbeit, kommunale Tätigkeiten, Hökerei der Ehefrau –, aber auch durch 60

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Wiener Stadt- und Landesarchiv, Steueramt, Steuerbücher B 8/6. Zur Erblichkeit von Armut vgl. Torsten Fischer: Die Erblichkeit von Armut im Europa der Frühen Neuzeit. In: Gerhard Fouquet/Mareike Hansen/Carsten Jahnke/Jan Schlürmann (Hg.): Von Menschen, Ländern, Meeren. Festschrift für Thomas Riis zum 65. Geburtstag. Tönning 2006, S. 373-392. Helmut Bräuer: Verarmungsprozesse im mitteleuropäischen Handwerk während der frühen Neuzeit. In: Csende Katalin/Kücsán József (Hg.): „Isten áldja a tisztes ipart“. Festschrift für Domonkos Ottó. Sopron 1998, S. 7-18. Ehmer: Zünfte in Österreich (wie Anm. 58), S. 100. Stadtarchiv Dresden, Innungen, Schuhmacher 161b, Bl. 1-23. Schlenkrich/Bräuer: Sächsisches Handwerk (wie Anm. 58), S. 115.

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Lohnarbeit für reiche Meister und illegalen Bettel über Wasser zu halten, andererseits nahmen die Zünfte Zuflucht zur Erhöhung der Anforderungen an die Meisterschaft. Diese künstlichen Abschließungsbestrebungen konnten jedoch keine Lösung des Problems bringen, da die nicht zur Meisterschaft zugelassenen Gesellen meist heirateten und eine Tätigkeit als Handwerksstörer aufnahmen. Das aber schlug als Belastungsfaktor auf die Zunft zurück. Nichtzünftigkeit – und hier ist die Palette in Österreich durch Dekretisten, Störer, Hofbefreite und Militärhandwerker64 breiter als in Sachsen – stellte in mehrfacher Hinsicht ein Element der Konflikte dar. Störer, Bönhasen oder Pfuscher übten außerhalb korporativer Bindungen und Zwänge ihre Tätigkeit aus. Sie waren dabei einesteils ein wesentliches Druckmittel im Konkurrenzkampf mit den Zünftlern, bedrängten sie und trugen nicht selten zu deren Ruin bei. Andererseits erwiesen sie sich selbst als von Zunft, Stadt und Landesherrn Gejagte, deren existenzsichernde Arbeit als illegal beurteilt wurde, wie sich beispielsweise aus der Vielzahl der paramilitärischen Attacken der Städte gegen die Dorfhandwerker ergibt, bei denen man ihnen die Rohstoffe stahl, die Produktionsinstrumente zerschlug und die Fertigwaren wegführte.65 Über die Lebensverhältnisse der Störer in Sachsen und Österreich gibt es indessen kaum auskunftsfähige Vorarbeiten. So sind lediglich die relativ leichte Eingliederung in Verlagsbeziehungen bekannt und eine etwas diffuse Aussage über die bei ihnen besonders weite Verbreitung der Armut. Hier existiert ein sehr dringlicher Forschungsbedarf. Unter den außerhalb von Zünften existierenden Gewerben spielte als großdimensionale Erscheinung die vor allem im Erzgebirge heimische Spitzenklöppelei eine wichtige Rolle.66 Mit dem Nachlassen der Fündigkeit der Silberzechen wurde eine „andere“ Form von Familienversorgung zwingend. In deren Gefolge siedelte sich das verlagsgebundene Gewerbe des Klöppelns an und machte Frauen und Mädchen zu Haupternährern der Familie. Nicht selten bot Klöppeln auch eine Zuverdienstmöglichkeit für 64

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Thiel: Gewerbe und Industrie (wie Anm. 14), S. 430. Jetzt bei Ehmer: Zünfte in Österreich (wie Anm. 58), S. 97. Als Beispiel vgl. Bräuer: Handwerk im alten Chemnitz (wie Anm. 13), S. 113 f. Ders.: Chemnitz zwischen 1450 und 1650. Menschen in ihren Kontexten (= Aus dem Stadtarchiv Chemnitz 8). Chemnitz 2005, S. 102 f. Katrin Keller: Der vorzüglichste Nahrungszweig des weiblichen Geschlechts: Spitzenklöppeln im sächsischen Erzgebirge als textiles Exportgewerbe. In: Reinhold Reith (Hg.): Praxis der Arbeit. Probleme und Perspektiven der handwerksgeschichtlichen Forschung (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 23). Frankfurt am Main-New York 1998, S. 187-215.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

Handwerker und Tagelöhner. Barbara Uttmann, die Witwe eines im Bergbau reich gewordenen Großgewerken aus Geyer, verlegte am Beginn der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bereits 900 „Klöppelmägde“ im Raum Annaberg. Am Beginn des 19. Jahrhunderts waren über 30.000 Personen in diesem Erwerbszweig tätig.67 Eine Quelle aus dem 18. Jahrhundert verweist darauf, dass für Vierund Fünfjährige das Klöppeln eine „vorzügliche Gehülfin der Kinderzucht“ sei. Sie gewöhne „nemlich die Kinder zur Arbeitsamkeit“ und lehre sie, „was arbeiten sey, und was es heiße, sich seine Lebensbedürfnisse durch Arbeit zu erwerben“.68 Seit dem späten Mittelalter war das Wandern der Handwerksgesellen69 in den einzelnen Gewerben Schritt für Schritt zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Hatte die Wanderschaft zunächst sehr unterschiedliche Gründe, so schob sich im 17. und 18. Jahrhundert das Problem der Arbeitsbeschaffung in den Vordergrund. Das wuchs sich zur Wanderpflicht und damit zu einer Wartezeit der Gesellen auf eine Meisterchance aus. Sie führte einerseits zu einer zunehmenden Masse „mobiler“ Gesellen, andererseits zu einer auffälligen Verschiebung der Relation zwischen Ortsveränderung und Arbeit. Ohne Arbeit aber blieb „auf der Walz“ vielfach nur der Bettel zum Überleben, weil die Kassen der Zünfte bzw. der Gesellenorganisationen leer waren. Die Disziplinierungsmaßnahmen der Obrigkeit richteten sich folglich auch immer häufiger gegen die bettelnden Gesellen. Lebensalter70 und erschlaffende Leistungsfähigkeit, Brände und andere Formen der Vernichtung von Produktionsmitteln, Missernten, Einquartie67

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Bernd Schöne: Posamentierer – Strumpfwirker – Spitzenklöpplerinnen. Zur Kultur und Lebensweise von Textilproduzenten im Erzgebirge und im Vogtland während der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus (1750–1850). In: Rudolf Weinhold (Hg.): Volksleben zwischen Zunft und Fabrik. Berlin 1982, S. 107-164. Adolf Lobegott Peck: Historische und geographische Beschreibung des chursächsischen Erzgebürges, Bd. 1. Schneeberg 1795, S. 49. Keller: Spitzenklöppeln (wie Anm. 66), S. 196. Rainer S. Elkar: Handwerksgeschichtliche Mobilitätsforschung. Überlegungen zwischen sozialwissenschaftlicher Deskription und historischer Statistik. In: Wolfgang Griep (Hg.): Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jh. (= Eutiner Forschungen 1). Heide 1991, S. 27-43; Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 19), S. 67-75; Gerhard Jaritz/Albert Müller (Hg.): Migration in der Feudalgesellschaft. Frankfurt am Main-New York 1988; Helmlut Bräuer: Gesellen im sächsischen Zunfthandwerk des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 56-63. Wichtige Anregungen vermitteln Josef Ehmer/Peter Gutschner (Hg.): Das Alter im Spiel der Generationen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge. Wien-Köln-Weimar 2000.

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rungen, Kontributionen, staatliche und städtische Besteuerungspraktiken, staatliche Eingriffe in die Rohstoffbeschaffung sowie zunftinterne Vorgaben für Produktionsumfang, -qualität und Arbeitskräfteeinsatz sorgten für mehr als nur angespannte soziale Verhältnisse im Handwerk. Wer keinerlei ökonomische Chancen mehr sah, entschloss sich zum Neuanfang in einer Residenz bzw. größeren Stadt71 oder zur Auswanderung72 – freilich ohne damit die Schwierigkeiten aus der Welt räumen zu können. Weitgehend unsicher sind flächendeckende Vorstellungen über die nichtinstitutionalisierten korporativen Fürsorgeleistungen in beiden Territorien. Zwar geben die Rechnungen der einzelnen Handwerke an verschiedenen Orten Einblicke, wie die in den Statuten festgeschriebenen Hilfe-Bestimmungen umgesetzt wurden, welche Meister einen Kredit erhielten, wo eine Witwenunterstützung erfolgte bzw. unter welchen Bedingungen Sterbegeld gezahlt wurde, wie sich die Beziehungen zu den geistlichen Bruderschaften vor der Reformation hinsichtlich der Seelbäder gestalteten etc., aber ein landesweiter Überblick fehlt. Deutlicher treten Formen der Witwenkassen,73 vor allem aber der Krankenunterstützung hervor, doch auch hier dominieren die Informationen über einzelne Ortschaften.74 Nicht selten besaßen die größeren Zünfte eigene Spitaleinrichtungen – wie etwa die Tuchmacher oder die Bäcker in Zwickau – , in denen auch die kranken Gesellen versorgt wurden. Bei Leipziger Schneidern hatte die Zunft im kommunalen Spital Bettplätze gemietet, die von Meistern und Gesellen im Krankheitsfalle in Anspruch genommen werden konnten.75 Gesellenorganisationen76 vergaben aus ihren Büchsen, in denen sie die Auflegepfennige sammelten, bei Krankenheiten und Unfällen oder anderen Formen von Arbeitsunfähigkeit eine Unterstützung auf Rückzahlungsbasis. Chemnitzer und Zwickauer Tuchknappen sowie die in der Tuchmacherei beschäftigten Kämmerinnen hatten allerdings seit dem 16. Jahrhundert eine Kasse eingerichtet, in die – ähnlich den Büchsen der

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Steidl: Auf nach Wien! (wie Anm. 23). Forberger: Manufaktur (wie Anm. 15), S. 45-53. Für Wien vgl. Annemarie Steidl: „Trost für die Zukunft der Zurückgelassenen…“ Witwenpensionen im Wiener Handwerk im 18. und 19. Jahrhundert. In: Ehmer/ Gutschner (Hg.): Alter (wie Anm. 70), S. 321-347. Herbert Friedrich: Das Armen- und Fürsorgewesen in Zwickau bis zur Einführung der Reformation. Ein Beitrag zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Sachsens, Diss. Würzburg 1934. Stadtarchiv Leipzig, Ratsbuch 18, 1550, Bl. S. 102 f. Bräuer: Gesellen (wie Anm. 69), S. 82-91.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

Bergknappen – wöchentliche Einzahlungen erfolgten, ohne dass die dann erbrachte Hilfe zurückgefordert wurde, ja die Chemnitzer Leinenweberbüchse der Gesellen gewährte sogar „den alten, schwachen, verdorbenen meistern [!] und knappen, so ihre nahrung mitt der arbeitt nicht mehr erwerben noch arbeiten können“, eine entsprechende Unterstützung.77

Arme in Dörfern und auf Landstraßen78 Landarmut spielte in Sachsen, viel stärker aber noch in Österreich, in zwei Hauptvarianten eine Rolle – einerseits als ortsgebundene und als temporär bzw. partiell vagierende Armut und andererseits als generelle Landstraßenarmut. Scharfe Grenzen aber können nicht gezogen werden. Ortsgebundenheit stützte sich auf das an der Elbe und an der Donau gültige Heimatprinzip, die normativ festgeschriebene Versorgungspflicht der Geburtsgemeinde, im 18. Jahrhundert vielfach jener Gemeinde, in der sich der arme Mensch eine längere Zeit aufgehalten hatte. Ländliche Tagelöhner und Tagelöhnerinnen, Viehhirten, Holzknechte, Sennerinnen, aus dem Arbeitsprozess ausgeschiedenes weibliches und männliches Dienstpersonal, Gerichtsknechte, Saisoniers in den Ernteperioden, im Erzgebirge und Vogtland aber auch ein besonders hoher Anteil an Spinnerinnen und gewerblichen Kleinstproduzenten in der Herstellung von Spitzen, Borten, Spielzeug und Musikinstrumenten.79 Zu ihnen sind auch jene Familienteile zu rech-

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Ebenda: S. 84 f. Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 19); Scheutz: Ausgesperrt und gejagt (wie Anm. 19); Ders.: Alltag und Kriminalität. Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jh. (= MIÖG 38). Wien-München 2001; Norbert Schindler: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1992; Ders.: Die Ramingsteiner Bettlerhochzeit von 1688/89. Armut, Sexualität und Hexenpolitik in einem Salzburger Bergwerksort des 17. Jahrhunderts. In: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag, 2 (1994) H. 2, S. 165-192; Alfred Stefan Weiß: „Providum imperium felix.“ Glücklich ist eine voraussehende Regierung. Aspekte der Armen- und Gesundheitsfürsorge im Zeitalter der Aufklärung, dargestellt anhand Salzburger Quellen ca. 1770–1803 (= Disserationen der Universität Salzburg 45). Wien 1997; Alfred Fiedler: Vom Armen-, Bettel- und Räuberwesen in Kursachsen, vornehmlich während der 1. Hälfte des 18. Jh. In: Weinhold: Volksleben (wie Anm. 67), S. 285-317; Bernd Schöne: Armut und Versuche der Armutsbewältigung im 19. Jahrhundert im Erzgebirge. In: Bräuer (Hg.): Arme – ohne Chance? (wie Anm. 24), S. 252-268. Helmut Bräuer: O formierowanii i raswitii promyschlennich zentrow w saksonii w 1418 wekach [Zur Herausbildung und Entwicklung von gewerblichen Zentren in Sachsen zwischen 14. und 18. Jh.]. In: Rynok i eksportnie otrasli remesla w Ewrope XIV-

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nen, deren Haupternährer einem Wandergewerbe nachging. Sie bildeten durchaus keine einheitliche soziale Kategorie, sondern waren – vornehmlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Beschaffung von Subsistenzmitteln – differenziert. Arbeit und Bettel bzw. Almosenempfang in vielfachen Kombinationen standen hierbei als gemischt auftretende Formen der Lebenserhaltung nebeneinander. Da die Dörfer und Grundherrschaften nur sehr geringe Spielräume zur Fürsorge besaßen und eine Mittelzentralisierung kaum zu erreichen war, kam vornehmlich die sogenannte Einlage in Betracht, also das „Weiterschicken“ der Armen von Hof zu Hof,80 womit in erster Linie für Alte und Kranke Unterbringung und Naturalversorgung gedeckt werden konnten.81 Obgleich es auch zwischen Sachsen, Böhmen und Schlesien eine Arbeits-und-Bettel-Migration gab, bot diese sich nicht in einer solchen Dimension dar wie in Österreich, insbesondere nicht wie die der „Schwabenkinder“ – eines jährlichen Zuges von Tiroler und Vorarlberger Mädchen und Buben aus kinderreichen Familien nach Südwestdeutschland, wo sich die Sechs- bis 14-Jährigen zum Kinder- und Viehhüten und zur Hausarbeit – meist gegen Kleidung und Speisung – jeweils auf ein halbes Jahr verdingten.82 Die generelle Landstraßenarmut existierte in der Regel obdachlos, stand rechtlich und physisch kaum geschützt da und entwickelte auch lebenskulturell eigene Formen. Sie war weit vor allen anderen Varianten des Bettels seit August dem Starken resp. Karl VI. durch rigide Verbote des Almosensammelns, durch Landbereiterei und vor allem durch eine Intensivierung der Visitations- und Abschiebepraxis an den äußersten Rand

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XVIII wekow. Moskau 1991, S. 20-52; Siegfried Sieber: Studien zur Industriegeschichte des Erzgebirges (= Mitteldeutsche Forschungen 49). Köln-Graz 1967. Mit vielen Beziehungen zum Land vgl. auch Katrin Keller: Kleinstädte in Kursachsen. Wandlungen einer Städtelandschaft zwischen Dreißigjährigem Krieg und Industrialisierung (= Städteforschung A 55). Köln-Weimar-Wien 2001. Scheutz: Ausgesperrt und gejagt (wie Anm. 19), S. 61; Veits-Falk: Zeit der Noth (wie Anm. 28), S. 123. Grundlegend und mit reicher Literatur: Gerhard Ammerer: Zur Versorgung von alten, arbeitsunfähigen Personen auf dem Land – Überlegungen und Hinweise zu kommunalen Defiziten von Regionalbeamten und Betroffenen. In: Bräuer (Hg.): Arme – ohne Chance? (wie Anm. 24), S. 159-189. Auch Veits-Falk: Zeit der Noth (wie Anm. 28), S. 111-114. Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 19), S. 90 f.- Für einen späteren Zeitraum vgl. Otto Uhlig: Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg. Innsbruck 31998.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

der Gesellschaft gedrängt.83 Von Obrigkeit und besitzender Öffentlichkeit waren die Bettler zwar schon seit geraumer Zeit verbal und mit der Peitsche attackiert worden, nun aber erklärte man sie endgültig zu Landverbrechern und behandelte sie vielfach auch so. Der öffentliche Diskurs und die staatliche Disziplinierungspraxis unterschieden sich in Sachsen und Österreich in dieser Hinsicht nicht. Zucht- und Arbeitshäuser waren stets im Blick.84 Dass die Wirkungen des restriktiven Vorgehens nicht völlig mit den Normen kongruent sein konnten, traf ebenfalls auf beide Vergleichsräume zu. Auch in diesem Fall stellen mentale Probleme noch ein Forschungsfeld dar, das etwa von der Thematik bestimmt wird, wie die armen Leute solche externen Einwirkungen wahrgenommen und „bewältigt“ haben.85 Die klösterliche Almosenvergabe in Österreich brachte den Bettelnden manche Überlebenschance, doch kollidierte sie mit den staatlichen Forderungen.86 Weitgehend offen und damit ein auffälliges Forschungsdesiderat bleibt die Frage, ob es bei der privaten Barmherzigkeitspflege gegenüber den Bettelleuten konfessionelle Unterschiede gab. Sie wären in den Formen und damit hinsichtlich der Konformität bzw. Nichtkonformität mit der territorialstaatlichen Obrigkeit zumindest denkbar. Bettel rückte in der Sache, noch drastischer aber in der Konstruktion des Bettlerbildes aus externer Perspektive zum Kleindiebstahl/Diebstahl auf Nahdistanz. Äußerst krass spiegelten sich Hilflosigkeit und brutale Methoden der Besitzenden im Kampf gegen die Bettler dort, wo dieses Phänomen Anbindungen an die Verfolgung von „Hexen“ und „Zauberern“ besaß. Das trat zwar in Sachsen87 nicht vordergründig in Erscheinung, erreichte aber

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Fiedler: Armen-, Bettel- und Räuberwesen (wie Anm. 78), S. 294-307; Bräuer: Leipziger Rat (wie Anm. 34), S. 39 f.; Scheutz: Ausgesperrt und gejagt (wie Anm. 19), S. 3459; Ders.: Alltag und Kriminalität (wie Anm. 78), S. 462-486; Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 19), S. 175-220. Gerhard Ammerer: Zucht- und Arbeitshäuser, Freiheitsstrafen und Gefängnisdiskurs in Österreich 1750–1850. In: Ammerer/Weiß (Hg.): Strafe (wie Anm. 37), S. 7-61. Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 19), v. a. S. 369-372. Helmut Bräuer: Almosenausteilungsplätze – Orte der Barmherzigkeit und Selbstdarstellung, des Gesprächs und der Disziplinierung. In: Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich (Hg.): Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag. Leipzig 2001, S. 57-100, v. a. S. 77-98. Manfred Wilde: Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen. Köln-Weimar-Wien 2003.

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im Salzburgischen mit den Zauberer-Jackl-Prozessen in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts einen überaus dramatischen Punkt, bei dem 39 Bettelkinder im Alter von zehn bis 14 Jahren ihr Leben lassen mussten.88 Vergleicht man sächsische89 und niederösterreichische Bettlerverhörsprotokolle,90 lässt sich feststellen, dass es wohl generell eine Selbstreproduktion des Bettler„stands“ gab, die überwiegende Anzahl der Betroffenen aber aus einem anderen Sozialmilieu „abgestiegen“ war. Ausschließlicher Bettel fand sich nicht massenhaft. Entweder bettelte bzw. arbeitete ein Teil der Familie oder es wechselten Bettel- mit Arbeitsphasen – je nach jahreszeitlichen oder arbeitsmarktbezogenen Gegebenheiten. Mit Hausierern, Scherenschleifern resp. Kraxenträgern, Kärrnern und Spielleuten verschiedenster Couleur stellte Gerhard Ammerer im Rahmen seiner Ausführungen zur Ökonomie der Vagierenden wichtige Gruppen aus diesem Milieu vor.91 Hier hatten auch relativ viele Frauen ihren Platz.92 Tendenziell war die Situation in Sachsen nicht anders, im Grenzbereich zu Böhmen aber den österreichischen Umständen besonders nahe. Dass zur Ausprägung der Landstraßenarmut die massenhafte Wegtreibung der Bettelleute von den Stadttoren ebenso eine Rolle spielte wie die Rechtspraxis der Stadtverweisung, ist in beiden Vergleichsterritorien zu beobachten.

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Zuletzt: Gerald Mülleder: Zwischen Justiz und Teufelei. Die Salzburger Zauberer-JacklProzesse (1675-1679) und ihre Opfer. Münster 2006. SächsHStA Dresden, Geheimes Konsilium, Loc. 5577, Die Aufhebung der Bettler und Landstreicher auf denen Straßen betr., 1738; Loc. 5596, Acta, die in denen Ämtern Meißen, Oschatz, Grimma und Mutzschen veranstalteten Visitationes betr., 1743. Stadtarchiv Dresden, RA, B. XIII 116 o, Protokoll, das Bettelwesen betr., Vol. I-XIII, 1752– 1789; Fiedler: Armen-, Bettel- und Räuberwesen (wie Anm. 78), S. 294-299. Scheutz: Ausgesperrt und gejagt (wie Anm. 19), S. 133-226. Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 19), S. 84-91 und S. 379-457. Vgl. auch: Helfried Valentinitsch: Auf der Suche nach Arbeit und Brot. Eine Gruppe von Gelegenheitsarbeitern und Bettlern in der Obersteiermark um 1770. In: Blätter für Heimatkunde [Graz] 63 (1989), S. 90-99. Helfried Valentinitsch: Frauen unterwegs. Eine Fallstudie zur Mobilität der Frauen in der Steiermark um 1700. In: Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.): Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500–1800. Göttingen 1996, S. 223236; Helmut Bräuer: „…weillen Sie nit alzeit arbeit haben khan.“ Über die „Bettelweiber“ von Wien während der frühen Neuzeit. In: L´Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 7 (1996) H. 1, S. 135-143; Ders.: „Bettelweiber“ in Obersachsen während der frühen Neuzeit. In: Sächsische Heimatblätter 40 (1994) H. 5, S. 163-168.

Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich

Resümee Die ausgewählten Felder der Gegenüberstellung lassen erkennen, dass Armut während der frühen Neuzeit vorzugsweise ein Phänomen war, das aus dem Widerspruch zwischen den feudalen Gesellschaftsstrukturen und traditionellen Vorstellungen einerseits und den frühkapitalistischen Entwicklungstendenzen andererseits resultierte. Diese Gegensätzlichkeiten führten zu sozialen Differenzierungsprozessen, die sich bei wachsender Bevölkerungszahl insofern vertiefen mussten, als der Arbeitsmarkt keine ausreichenden Versorgungschancen bot, während die besitzende Gesellschaft mehr und mehr Abschließungsmechanismen entwarf. Auf diesem Boden zeigte und entfaltete sich auch eine Arme-Leute-Kultur. Zu echten Maßnahmen, Armut mit ihren gesellschaftlichen Ursachen zu beseitigen, waren Obrigkeiten und Besitz-Gesellschaft nicht willens und nicht in der Lage. Ihnen ging es in erster Linie um die Sicherung der „Ordnung“ im Sinne von Herrschaftserhaltung sowie Status- und Besitzstandswahrung. Dass dabei verschiedene Bemühungen eine Linderung der Not der Armen einschlossen, steht nicht in Abrede. Das verschiedentliche Wollen Einzelner stieß an die Grenzen der gesellschaftlichen Realitäten. Insofern weichen Entfaltung und Gestalt der Armut und der Armutsbekämpfung in Österreich nicht von der in Sachsen ab. Sie waren beide – trotz partieller Besonderheiten – strukturelle Bestandteile einer zentraleuropäischen Gesamtentwicklung.

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Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert – das Spital in Weitersfeld als Beispiel für herrschaftliche Armenversorgung Vorbemerkung Im nördlichen Niederösterreich, nahe der mährischen Grenze, liegt die ehemalige Grafschaft Hardegg. Dort gründet 1669 die damalige Besitzerfamilie St. Julian1 in ihrem Markt Weitersfeld ein herrschaftliches Armenhaus für zwölf verarmte oder hinfällige Untertanen der Grafschaft. Dieses Haus wird in den Jahren 1669–1673 errichtet, am 8. Dezember 1673 eröffnet und steht, von geringfügigen Umbauten abgesehen, noch heute. Soweit die belegbaren Fakten. Erstaunlich ist, was die lokale Überlieferung daraus gemacht hat, und was in Pfarr- und Ortschroniken unbekümmert tradiert wird: Ein Bürgerspital, 1766 gestiftet und erbaut von den Fürsten Khevenhüller, für acht Untertanen…2 Nun ist ein Armenhaus kein geschichtliches Kuriosum, sondern ein lokales Relikt einer sozialen Aufgabe, nämlich Auffangbecken zu sein für die unterste soziale Schicht. Für Menschen, die sich nicht mehr selbst zu helfen wussten, wegen Gebrechlichkeit, aus Krankheits- oder finanziellen Gründen. Wie „historisch“, wie geschichtlich-vergangen und daher obsoAlfred Damm, Wien (es liegen keine weiteren Angaben vor). 1

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Ursprünglich stammt die Familie aus Südfrankreich und der Name wird daher, vor allem ab dem 19. Jahrhundert, beharrlich „SAINT JULIEN“ geschrieben, so auch die Schreibweise bei Wissgrill und Wurzbach. Doch in den im HHStA vorliegenden, aus dem 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammenden Originaldokumenten wird die Familie – genauso wie in den zeitgenössischen Matriken – noch durchgängig St. JULIAN genannt. Zu derartiger Mythenbildung dürfte auch die Tatsache beigetragen haben, dass sämtliche historischen Dokumente des Marktes, Gemeinderechnungen, Protokollbücher, irgendwann nach 1890 vernichtet wurden. Unbekannt wann, unbekannt von wem. Diese Fragen werden im Ort nicht thematisiert. Die Aufzeichnungen der Gemeinde beginnen mit großer Selbstverständlichkeit erst nach 1945, sämtliches Wissen zur eigenen Ortsgeschichte muss den hinterlassenen Manuskripten der Pfarrherren des 19. Jahrhunderts entnommen werden.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

let derartige Armenhäuser heute tatsächlich sind, ist eine nicht unwichtige Frage. Aufgewachsen in der relativen Sicherheit der Nachkriegszeit, sind heute viele Menschen „betroffen“ vom sozialstaatlichen Rückbau. Verblüfft stelle ich fest, mit welcher Selbstverständlichkeit jetzt der Rückzug „des Staates“ – d. h. der Allgemeinheit – zur Kenntnis genommen wird. Wie die institutionelle Versorgung abgewürgt, „privatisiert“, und der „Corporate Social Responsibility“ von Aktien-Gesellschaften (nicht umsonst „Sociétés anonymes“ genannt) überantwortet wird. Im Zusammenhang mit einem Promotion-Artikel „Feinschliff für private Vorsorge“ im Wirtschaftsteil einer Tageszeitung frage ich mich, ob sich hier nach drei Jahrhunderten ein Kreis wieder schließt, ob wir auf eine Renaissance der Armenhäuser „hoffen“ dürfen. „Evaluation“ ist eine derzeit vielstrapazierte Methode zur „Qualitätssicherung“. Beobachten wir also die durchaus vorhandene CSR der Gutsbesitzersfamilie St. JulienWallsee und prüfen wir unbefangen nach, wie sich diese CSR im Laufe der Zeit unter verschiedenen Nachfolgern entwickelt.

Einleitung Ein Spital war nach der Sprachregelung früherer Jahrhunderte kein Kranken-, sondern ein Armenhaus, ein Haus zur Versorgung der jeweils bedürftigsten Alten, Armen und Behinderten. Erst im 19. Jahrhundert kommt es zu einem Bedeutungswandel, zu der uns heute geläufigen Gleichsetzung von Spital = Krankenhaus. Im Grimm ist dazu eine bemerkenswerte Worterklärung zu finden: „die eigenthümliche deutsche bedeutung des wortes kommt von einer … beziehung des lat. hospitale auf eine herberge niedriger art“.3 Eine Definition, die ziemlich genau beschreibt, was uns in einem Spital erwartet. Zum historischen Begriff „Spital“ passend, heißen die Bewohner konsequenterweise „Spitaler“. Das Wort „Pfründner“, das südlich und westlich des Waldviertels in Gebrauch war, kommt in dieser Gegend nicht vor, erst ab 1842 verwenden manche Pfarrherren diesen Begriff in den Matriken. Diese Bedeutungsverschiebung beachtend – Spital = Armenhaus – erspart man sich in der Folge einige Fragen, z. B.: Wie war die ärztlichen Versorgung, gab es im Pflegebereich nur geistliche oder auch weltliche Schwestern, etc.? Nichts davon, die „Unterhaltung“, wie der zeitgenössische Ausdruck lautet, bestand ausschließlich aus Unterkunft – Verpflegung – Bekleidung. 3

Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 16, Sp. 2556, 41/1.

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Eine Ausnahme bildeten selbstverständlich die Siechen- oder Pestspitäler, auch manche Kloster-Spitäler, in denen Pflege oder Heilung, zwar unzureichend, zumindest jedoch versucht wurde. Bürger- und Klosterspitäler sind allgemein bekannt. Über diese Spitäler gibt es ja auch hinreichend Literatur. Über herrschaftliche Spitäler, die in der Neuzeit einigermaßen die Versorgungslücken auf dem „platten Land“ geschlossen haben, existiert so gut wie keine Literatur, sie sind aus diesem Grund auch weitgehend unbekannt. Erstere haben strukturell etwas Wichtiges gemeinsam, es handelt sich um Häuser, hinter denen eine größere Institution gestanden ist, bzw. noch steht, eine Träger-Organisation mit eigenem Verwaltungsapparat. Genau dieser Apparat hat bereits vor Jahrhunderten das Vorhandensein einer umfangreichen Buchhaltung erforderlich gemacht, es gab genügend Schreiber und hinreichend Platz für die Registratur. Das wiederum bedeutet, dass sämtliches Bücher- und Aktenmaterial problemlos in den Schreibstuben und Gewölben gelagert werden konnte und deshalb in den meisten Fällen auch heute noch vorhanden ist. Daher können HistorikerInnen der Gegenwart dieses Material ohne Schwierigkeiten einsehen und Arbeiten darüber veröffentlichen. Diese Spitäler hatten auch relativ große Aufnahmekapazitäten. Ein nicht zu leugnender Nachteil: Die meisten davon waren in Städten und größeren Märkten konzentriert. Was aber war mit den Menschen auf dem Land, in den Dörfern, welche längerfristigen Überlebens-Chancen hatten hier unbemittelte Alte, krankes Dienstpersonal, Krüppel? Was geschah mit Menschen, die keine Klosteruntertanen waren und daher in keinem Klosterspital unterkommen konnten? Auch in gewöhnlichen Dörfern gab es mittellose oder „Schadhaffte Leut“, die irgendwie versorgt werden mussten. Viele Gutsherrschaften gründeten deshalb – besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg – kleine, sogenannte „herrschaftliche“ Spitäler für ihre eigenen Untertanen „welche alters oder armuth, oder anderer Gebrechlichkheit halber, Ihren Würthschaften nicht mehr vorstehen können“.4 Sie taten dies aus sozialen, vor allem aber aus religiösen Gründen, freilich auch Edikten von oben gehorchend: Bereits Ferdinand I. dekretiert 1551, dass der Adel sein ausgedientes Dienstpersonal nicht in das Hofspital abschieben dürfe, „sonndern jeder lanndmann sei schuldig, seine leute und diener selbst zu versehen und inen die brößlein von seinem tisch zu geben“.5 Diese – vorwiegend religiös motivierten – Gründungen sind deshalb als „ewige Stiftungen“ gedacht, das Stiftungskapital liegt meist 4 5

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Eine Definition aus 1657, aus dem „Denkbuch des Marktes Poystorff“/fol 107. Ernst Nowotny: Geschichte des Wiener Hofspitals. Wien 1978, S. 23.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

als Hypothek auf der Grundherrschaft, die nachfolgenden Herrschaftsbesitzer übernehmen dadurch bei Antritt der Herrschaft auch die im Stiftbrief vom Gründer stets sorgfältig festgelegten Verpflichtungen. Über all diese herrschaftlichen Spitäler ist heute sehr wenig bekannt, aus mehreren Gründen: Die Häuser waren eher klein dimensioniert, die Verwaltung wurde quasi nebenbei von der Herrschaftskanzlei besorgt, die wenigen Spitalsakten wurden nur so lange aufgehoben wie unbedingt nötig und bei auftretendem Platzmangel als erste skartiert. Nach der Grundentlastung, als sehr oft die Gemeinden die Armenspitäler übernommen haben, und dann womöglich Investitionen durchführen sollten, sind viele dieser Häuser verkommen, wurden letztendlich abgerissen und von den Gemeinden als willkommener Baugrund verkauft. Nach 1893, nach der Gründung der staatlichen Bezirksarmenhäuser war überdies – zumindest offiziell – ja kein Bedarf mehr gegeben. Damit war für die jeweiligen Gemeinden dieses Kapitel endlich abgeschlossen, die dazugehörigen Verwaltungsakten wurden verbrannt oder auf andere Weise entsorgt. Wer heute Informationen zu einem der dörflichen Spitäler sucht und sich deshalb an ein Gemeindeamt wendet, erhält erfahrungsgemäß folgende Antwort: „Ja, es gab in XY ein Armenhaus, aber leider liegt ha. nichts mehr auf.“ Zusätzlich kommt es zu einer abstrusen Situation: Obwohl die Definition von „Bürgerspital“ eindeutig ist (gegründet von Bürgern – für Bürger – verwaltet durch Bürger), wird in vielen Ortskunden ein ehemaliges herrschaftliches Armenhaus ohne Umschweife zu einem Bürgerspital erklärt. Das Wissen über diese herrschaftlichen Armenspitäler ist somit fast überall verloren gegangen. Denn ohne schriftliche Aufzeichnungen ist nach zwei, drei Generationen praktisch jedes Wissen in einer Kommune verloren. Umso mehr ist gerade das Spital von Weitersfeld ein besonderer Glücksfall: Erstens ist das Haus – mehr oder minder noch im Originalzustand – erhalten geblieben, zweitens konnten jetzt im HHStA die dazugehörigen Spitalsakten aufgefunden und bearbeitet werden – eine sensationelle, doch leider einzigartige Kombination.

Weitersfeld (NÖ., Bezirk Horn) ist ein Markt in der ehemaligen Grafschaft Hardegg, nahe der mährischen Grenze gelegen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist der Ort heute nur mit Schwierigkeiten zu erreichen. Diese – vor allem wirtschaftlich unerfreuliche – Randlage bringt jedoch dem Historiker unverhofften Nutzen: Das 1669/73 erbaute Armenspital ist hier noch existent. 61

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Kloster- und Bürgerspitäler, wenn jetzt auch meist anderweitig, z. B. als Heimatmuseen „nutzbar“ gemacht, gibt es noch viele, zumindest als geschönte, entkernte Fassaden. Zahlreiche der kleinen, hftl. Spitäler wurden jedoch bereits nach 1900 abgerissen. Nach meinem Kenntnisstand ist das Spital in Weitersfeld somit das älteste der drei – gerade noch erhalten gebliebenen – ehemaligen herrschaftlichen Armenhäuser in Niederösterreich. Das Haus ist ein wirklich eigenartiges, vor allem nicht alltägliches Bauwerk. Obwohl es im Laufe der Zeit mehrere, allerdings nicht dokumentierte Umbauten gegeben hat, macht es heute – zumindest für den Nichtfachmann – einen unberührten und originalen Eindruck. Dass in der Nachkriegszeit daraus keine Bankfiliale oder vielleicht ein Supermarkt geworden ist, erklärt sich von selbst: Die ungewöhnliche Gliederung hat es ermöglicht. Ebenerdig, nahezu quadratisch, außen mit ca. 19,5 m Seitenlänge, liegt das Spital an der Straße nach Pleissing; die Räume sind um einen dominierenden, mittenstehenden Turm angeordnet.6

Weshalb ein Armenhaus gerade in Weitersfeld? Die Grafschaft Hardegg war nie eine „reiche“ Gegend. Eine unwirtliche Grenzregion mit Befestigungen hat zwar sicherlich militärische, doch keine wirtschaftliche Bedeutung. In den Theresianischen Fassionen werden die Böden großteils als mittel bis schlecht bewertet, das Klima ist sprichwörtlich rau. Die wichtigen Landstraßen von Wien nach Brünn und Prag – und damit auch der Handel – führen weiter östlich, bzw. westlich an der Grafschaft vorbei. Ein typisches Beispiel für diese ungünstige Lage im 6

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Das Bundesdenkmalamt kennt vergleichbare Konstruktionen von Armenhäusern in Niederösterreich, bei denen die eigentlichen Räumlichkeiten kreuzförmig um einen Mittelturm bzw. Kapellenraum angeordnet sind: RÖHRENBACH (ursprünglich etwa aus 1600); dazu eine Arbeit zur Baugeschichte von Kurt Bleicher: Die Gräflich Kuefsteinsche Gruftkirche Röhrenbach. Ein frühneuzeitlicher Hospitaltypus im nördlichen Waldviertel. Eine baugeschichtliche Untersuchung. In: Bundesdenkmalamt (Hg.): Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege LX/2006 Heft 3/4. Horn-Wien 2006, S. 385-401; KIRCHBERG am Walde (1717); dazu Erich Zinsler: Das Bürgerspitalsgebäude von Kirchberg am Walde und seine Zwillingswendeltreppe. In: Das Waldviertel. Zeitschrift für Heimat- und Regionalkunde des Waldviertels und der Wachau, Jg. 53/2004/Nr. 2, S. 138-146.; sowie DÖLLERSHEIM, ein Bau aus 1592 (?), gegenwärtig nur mehr eine Ruine. Ein Photo (1906) des damals noch bestehenden Spitals wäre zu finden unter http://www.doellersheim.at/doellersheim/Der_Ort/Ubersicht/Spital/spital.html.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

Abseits ist die „Stadt“ Hardegg, die bis in die Gegenwart ein unbedeutender, kleiner Flecken geblieben ist. Die Grundherrschaft selbst hat im Laufe der Zeit – auch bedingt durch Zukäufe – einige Namensänderungen mitgemacht: Hft. Hardegg/Hft. Riegersburg/Hft. Prutzendorf/Hft. Fronsburg – dazwischen manchmal auch Hft. Weitersfeld – je nachdem, wo sich der Wohnsitz des Eigentümers bzw. die Kanzlei des Verwalters gerade befunden hat. Nur der Überbegriff „Grafschaft Hardegg“ ist gleichgeblieben. Durch den Dreißigjährigen Krieg sind die Gebiete des nördlichen Niederösterreichs völlig verarmt. Vor allem durch den Einfall der Schweden im Frühjahr 1645, aber auch durch die Emigration protestantischer Bauern, ausgelöst durch die von den Habsburgern halsstarrig durchgeführte Gegenreformation. Auch die Herrschaften sind überschuldet. So schildert Julius Graf Hardegg dem ständischen Verordnetenkollegium 1646/ 12. Aug. aus dem sicheren Wien die Lage seiner Untertanen an der mährischen Grenze: „Die grundbücher hat mann nicht besizen: Ja Kheinen Khreuzer steur oder andere Herrnforderungen diße Zwey Jahr einbringen Khönnen, ist auch nicht müglich Khünfftig waß Zu raichen, dann die wenig nach verhandene unterthannen sein lauter Betler, denen mann nach vom Khasten täglich helffen muß …“7 Der Markt Weitersfeld selbst ist bereits seit längerem keine blühende Gemeinde, der Großbrand von 1612 hat allein 34 Häuser vernichtet – ein Viertel des Marktes. Die Situation anlässlich einer Bestandsaufnahme nach Kriegsende:8 33 Häuser stehen leer, sind „abgekommen“, also nicht bewirtschaftet. Die meisten dieser „alten Öden“ sind bereits seit 1607, also schon vor dem Krieg, verlassen. 61 sind „Vntertannen so Zwar behaust doch mit raichung [der] Gaben nit auffkommen können“ – und nur 33 Hausbesitzer können ihre Abgaben an die Herrschaft bezahlen. In diesem Gabenbuch wird ebenfalls festgehalten, dass die meisten Dörfer der Grafschaft 1651 noch für 1646–1649 „die Steuer restirn“, die Steuern also auch für diese Jahre noch nicht aufbringen konnten. Das ist exakt das wirtschaftliche Spiegelbild der ganzen Grafschaft: Die Hälfte der Un7 8

NÖLA/Archiv Stetteldorf/Karton 4 a/Fasz. Militaria 1537–1651 Kriegsschäden. HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 16.

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tertanen kann keine Abgaben bezahlen, ein Viertel der Häuser sind „alte Öden“ d. h. überhaupt nur ein Viertel der Bauern kann die verlangten Steuern und anderen Abgaben leisten. Wenn es nun jahrzehntelang um die Bauern derartig schlecht steht, dann hat nach dieser Zeit auch die Herrschaft nur noch Schulden: Die Grafschaft Hardegg ist mit Ende des Krieges konkursreif und muss veräußert werden. 1655 schließlich verkauft Julius Graf Hardegg die „Graffschaft Hardegg mit allen ihren Ein- und Zuegehörungen“ an die verschwägerte Familie der Grafen von St. Julian. Über die nun folgenden Jahre, in denen die rasch wechselnden Pfleger buchhalterisch vor allem mit der Anfertigung von Schuldnerlisten beschäftigt sind, existieren auch „Traydt Auständt“ – Listen, in denen festgehalten wird, wieviele Metzen an „Waitz, Kohrn, Haber“ den Bauern von der Herrschaft vorgestreckt werden mussten. Am 7. Mai 1662 kommt es zu einem großen Kälteeinbruch in Mitteleuropa, gefolgt von einer katastrophal schlechten Wein- und Getreideernte, worüber das Ratsprotokoll der Weinbaugemeinde Falkenstein außergewöhnlich beredt klagt.9 Im ganzen Erzherzogtum unter der Enns sind die wirtschaftlichen Verhältnisse ähnlich: 1662 wird in den Büchern der Hft. Grafenegg erwähnt, dass Wolle, Käse, Schmalz und Schafvieh „in so schlechtem Werth“ sind, dass die Besitzerin der Herrschaft den Untertanen das Bestandgeld für jedes Schaf von 45 x auf 39 x reduziert, „biß die Zeiten was besser werdten“.10 Die Zeiten werden allerdings nicht besser: 1663/64 bricht der Krieg gegen die Türken aus, der nicht „nur“ Menschenleben, sondern neben den üblichen Ausgaben für derartige Feldzüge zuletzt noch ein „Geschenk“ des Kaisers in der Höhe von 200.000 Talern an die Türken kostet. Summen, die von der notleidenden Bevölkerung zunächst einmal erwirtschaftet werden müssen. In dieser bitteren, bedrängten Situation ist es daher kein Wunder, wenn die meisten Bauern und Häusler in diesen Jahren nicht einmal die einfachen Naturalabgaben an die Grundherrschaft liefern können: 1667 weist das Zehentregister der Gft. Hardegg/Hft. Rie9

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„Jst ein solche khölten Entstanden, obwollen sich ein solches Reichliches Jahr Erzaigt hatt es doch in der selben Nacht, Berg Und Thall Wein Und Traidt Erföhret, . . . Den Wein Betreffent so ist in dem gantzen Marckht nit mehr als ein halber Emer Wein Gefexnet worden, Und ist doch nit Teyerer als Umb ain gulten funffzehen kreutzer Verkhaufft worden. Diße gefreehr hat sich Erstreckht, sovill man glaub würdig Erfahren. in Nach folgenten Landen, als Ungern, Schleßigen, Böhm, Mährn, Östereich, Steymarckht. Und biß in daß Römisch Reich.“ (Markt Falkenstein, Ratsprotokolle, II/2) HHStA/Hft. Grafenegg/Buch 24.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

gersburg einen Gesamtrückstand von 412 Hähnen und 236 Hennen aus.11 Der wirtschaftliche Ertrag des Gutsbetriebes ist in diesen Jahren gleichfalls gering. Weizen, Korn, Gerste, Erbsen, Linsen, Schafe, nichts davon wird 1667/68 verkauft, nur die Schafwolle bringt in diesem Jahr 1.037 fl, das Bräuhaus immerhin noch 774 fl. 1669/70 ist die Lage kaum besser, Getreide wird überhaupt nicht verkauft, nur relativ viel Wein. Jedoch nicht an Weinhändler, sondern „auf Tavernen“, d. h über die hftl. Wirtshäuser den eigenen Untertanen. Der größte Einzelertrag der Grundherrschaft stammt wieder aus verkaufter Schafwolle, mit 1.160 fl.12 Das Bräuhaus in Weitersfeld bringt gerade 437 fl, der Holzverkauf magere 99 fl. In diesen Jahren – seit Sommer 1670 – arbeitet Georg Matthaeus Vischer mit „Mühesamen Fleiß“ an seiner Topographie von Niederösterreich. Dabei setzt er, dem Zeitgeist entsprechend, folgenden Jubelspruch über eine Landkarte des Waldviertels13 – „Holtz, teiche, weid vnd Schafferey – Macht das ich auch zu g[e]nüssen sey“ d. h. sinngemäß: Holzhackerei, Karpfenteiche und Schafweiden sind im Großen und Ganzen die ökonomische Basis der Grafschaft. Das ist soweit zwar richtig, doch ignoriert diese Formulierung die daraus resultierende, bedrückende Armut der Landbevölkerung und die massiven Schulden der Herrschaft. Unter diesen allgemein-trostlosen Umständen ist der Bau eines Armenhauses in Weitersfeld für die Untertanen zweifellos eine dringliche Notwendigkeit, für die Herrschafts-Besitzer hingegen ein mutiges Unterfangen.

Gründung und Entwicklung des Armenspitals Wie die wirtschaftliche Situation der Untertanen in dieser Zeit aussieht, ist nirgends verzeichnet, Bauern und Kleinhäusler führen keine Kassenjournale; nur in den Büchern der Herrschaftskanzlei häufen sich die „Ausstände“ – die unbezahlten Abgaben der Bauern. Die Bedürftigen, für die das Haus jetzt errichtet wird, gibt es natürlich bereits vor Baubeginn. Geholfen wird ihnen in dieser Übergangszeit mit Getreidelieferungen, bzw. 11 12 13

HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 20. Siehe dazu im HHStA/Archiv Khevenhüller die Wirtschaftsbücher dieser Jahre. „Des Ertzhertzogtumbs Vnter Osterreich Viertes Viertl ob Mannhardsberg“ In: Georg Matthaeus Vischer: Topographia Archiducatus Austriae Inf: Modernae. (1672, Reprint Wien 2004). o. S.

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der provisorischen Unterbringung im herrschaftlichen Brauhaus, vermutlich im Hof in einer Abstellkammer. 1669 Der Bau des Spitals wird begonnen. Anfänglich geht es flott voran: Am 25. Juli wird bereits ein Bote zu einem Zimmermann geschickt, der den Dachstuhl aufsetzen soll. Im Dezember jedenfalls ist der Rohbau fertig und mit Schindeln gedeckt. 1670 Mitten in die Bauarbeiten hinein platzt die Anordnung Leopold I., alle Juden hätten bis Ostern 1671 Niederösterreich zu verlassen. Die meisten jüdischen Familien aus Weitersfeld ziehen einige Kilometer weiter über die mährische Grenze nach Schaffa (Íafov). Damit stehen in Weitersfeld mit einem Schlag etwa zwei Dutzend Häuser leer.14 Das bedeutet nicht nur weitere finanzielle Einbußen für die Herrschaft, auch der Handel im Markt selbst und mit der näheren Umgebung wird dadurch beeinträchtigt. In den Folgejahren stockt das Projekt „Armenspital“ nicht wirklich, doch es geht sehr, sehr langsam voran, die Herrschaft scheint sich finanziell übernommen zu haben. 1673 Erst volle fünf Jahre nach Baubeginn kann das Haus eröffnet werden, am 8. Dezember, dem Immaculata-Fest – einem katholischen Feiertag in einer noch immer krypto-protestantischen Gegend, vermutlich ein sehr bewusst gewähltes Datum. Über die Eröffnung selbst gibt es in den Wirtschaftsbüchern keine näheren Angaben. Die Familie St. Julian hält sich zu dieser Zeit in Weitersfeld auf, es ist anzunehmen, dass das Haus mit einer Messe und einem Festessen für die Spitaler eingeweiht wird. Gedacht ist das Spital für zwölf Personen, in den ersten Dezennien werden auch stets zehn bis zwölf Personen „unterhalten“. Die Familie St. Julian besitzt insgesamt drei Grundherrschaften – Riegersburg/Hardegg, Wallsee und Hof a. d. March – der Betrieb des Armenhauses in Weitersfeld ist also keine nennenswerte Belastung. Das ändert sich abrupt mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, durch den sich die Aufmerksamkeit der Regierung jetzt völlig nach Westen und Süden richtet, hingegen wird der Osten seit dem Friedensschluss von 1699 kaum mehr beachtet. Doch genau zu diesem Zeit14

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Die Landeschronik Niederösterreich spricht – ohne Quellenangabe – von 32 Familien. Karl Gutkas (Hg.): Landeschronik Niederösterreich. 3000 Jahre in Daten, Dokumenten und Bildern. Wien 21994, S. 208. Ein Missverständnis – bis 1668 wurden in den Steuerbüchern nur 21 Familien angeführt. Erst die sich ankündigende Ausweisung aus Wien dürfte vorsichtige Wiener Juden dazu veranlasst haben, bei Bekannten in Niederösterreich Unterkunft zu nehmen, vermutlich in der Hoffnung, die Ausweisung würde sich auf Wien beschränken. Diese kurzfristigen Zuzügler werden erst ab 1669 aktenkundig (ÖStA/Hofkammerarchiv/Vizedom/Bücher S. 515-538 „Rapulatur/Anlag Buech Über der LandtJudten Tollerantz Gelter“).

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

punkt fallen nun die Kuruzzen im östlichen Weinviertel ein, quasi als letzte Nachwehen der Türkenkriege: In den Jahren 1703–09 wird dort die Hft. Hof immer wieder niedergebrannt und dabei völlig zerstört. 1710 wird in Hof auch noch die Pest eingeschleppt – damit ist dieser Gutsbetrieb wirtschaftlich am Ende. Versicherungen sind zu dieser Zeit unbekannt. Was daher jetzt in Hof für den Wiederaufbau investiert werden muss, kann nur aus den Einkünften der beiden anderen Grundherrschaften kommen. Damit sind diese beiden Gutsbetriebe finanziell zusätzlich belastet, sie werfen keine Gewinne ab, die logische Folge sind Sparmaßnahmen. Im Februar 1719 stirbt Leopold St. Julian, der damalige Besitzer. Es gibt drei gleichberechtigte Erben für die drei verschuldeten Grundherrschaften. Da eine einfache Teilung somit nicht möglich ist, kommt man überein, dass „Nach reiffer Erforschung deren Passiv= Schulden [eine] Abtheilung nicht vorgenommen werden könnte, bis nicht etwann ein anständiger Käuffer umb besagte Herrschafften und Güter sich hervortun würde“.15 Bis zu dem erhofften Verkauf muss also weiterhin gespart werden – und es wird gespart. Auch werden die Passiv=Schulden – und dazu gehört das Armenhaus – nach Möglichkeit, und leider auf sehr unfeine Art, verringert: Der ursprüngliche Stiftbrief verschwindet einfach. Diese Urkunde verpflichtet nämlich den jeweiligen Besitzer, zwölf Spitaler zu verpflegen. Wenn aber kein Stiftbrief existiert, kann sich auch niemand darauf berufen. Auf diese simple Weise kann eine – nunmehr ungeliebte – Belastung elegant reduziert werden. 1720 leben daher nur noch acht Spitaler im Haus statt deren zwölf. Dass im Vergleich zu den Gesamtkosten der Gutsverwaltung dabei nur lächerlich kleine Summen eingespart werden können, dürfte klar sein. Doch auch diese eher fragwürdigen Sparmaßnahmen sind vergeblich: Die Familie St. Julian ist finanziell am Ende, 1724 wird die Hft. Hof an den Prinzen Eugen v. Savoyen verkauft, 1730 folgt der Verkauf der Gft. Hardegg an die Familie Khevenhüller, die damit – ganz offiziell – ein Armenhaus für acht Spitaler übernimmt. Mir ist bewusst, Herrschafts-Geschichte ist nicht unser aktuelles Thema und diese komplizierte Besitzgeschichte dürfte kaum interessieren. Sie hat sicherlich auch nicht die Menschen interessiert, die damals gerade im Spital gelebt haben und davon sehr wohl betroffen waren. Mit diesem Kapitelabschnitt möchte ich deshalb ausdrücklich darauf hinweisen, dass sogar die relative Sicherheit eines armseligen Platzes in einem Armenhaus durch die „hohe“ Politik gefährdet sein kann. Aber auch Desinteresse, Eigennutz oder 15

HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 35/Konvolut 3.

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die Charakterschwäche der nachfolgenden Herrschafts-Besitzer können diese kümmerlichen Versorgungsplätze gefährden. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts setzt sich der Niedergang des Spitals mit erschreckender Geradlinigkeit weiter fort. Die jeweiligen Besitzer benötigen immer mehr Geld, ziehen beharrlich größere Summen aus dem Gutsbetrieb, überfordern dessen Ertragskraft, stellen leichtfertig Wechsel aus. Die Gutsverwalter werden zu grotesken Sparmaßnahmen gezwungen, man greift zu Hypothekar-Krediten, am Ende ist der Konkurs der Herrschaft nicht mehr zu vermeiden.16 1811 Zusätzlich nimmt die hohe Politik wieder direkten Einfluss auf das Armenhaus. Parallel zum Konkurs der Grundherrschaft, wenn auch aus anderen Gründen, geht die Habsburger-Monarchie bankrott. Fortlaufende Kriege und unkontrollierte Vermehrung des Papiergeldes führen zum Zusammenbruch der Währung. Franz II/I rettet sein Imperium auf Kosten der Bevölkerung durch eine Abwertung auf ein Fünftel. Die simple Auswirkung auf das Spital in Weitersfeld: Die Kaufkraft des Stiftungskapitals und der davon lukrierten Zinsen beträgt nur mehr 20 Prozent des ursprünglichen Wertes – und das bei weiterhin ansteigenden Preisen. Unter derartigen Umständen wird es daher unmöglich, acht Spitaler „durchzufüttern“. Ihre Anzahl sinkt, die „durch Absterben erledigten Stellen“ werden einfach nicht nachbesetzt. Das Spitalsgebäude selbst ist durch die jahrzehntelange Vernachlässigung (Schindeldach!) baufällig geworden. 1819 sieht sich daher die Gemeinde Weitersfeld gezwungen, „freiwillig“ „den an dem Spitalsgebäude angetragenen Bau auf ihre eigenen Kosten zu unternehmen“.17

Wer wird ursprünglich in dieses Armenspital aufgenommen ? Die Antwort darauf ist einfach, es sind ganz allgemein Bedürftige aus der Grafschaft, ohne erkennbare Einschränkungen; Alte, Arme, Behinderte, auch Kinder. Die Ausgangssituation vor dem Baubeginn: „auf Gnedtigen Befelch Jhro Hochgräfl: Gnaden, der Gnedigen Frauen, Frauen Gräfin dem Jacoben Schildten alhir Khorn geben 1 Mezn … dem alten und Miheseeligen Pärtl Hözl 4M der alten Thomal Grueberin auf ihren Armbseligen Knabn 3 M“ 16

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HHStA/Archiv Khevenhüller/Kartons 78-88, 114, 118, 129, 147. Transkriptionen diverser Dokumente zu diesem unbekannten Kapitel der Regionalgeschichte, bzw. Auszüge daraus. In: Alfred Damm: Das Armenspital zu Weitersfeld – hftl. Armenversorgung in Niederösterreich 1669–1887. Frankfurt am Main 2008, S. 167-195. Pfarrarchiv Weitersfeld/Memorabilienbuch II, S. 207 f.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

Wer in Not geraten ist, aus welchen Gründen auch immer, der wird von der Grundherrschaft vorerst mit kostenlosem Getreide unterstützt. 1671 werden „wegen bekhlaydung der Narrischen Bäßl“ acht Gulden bezahlt, 1710 lebt im Spital ein blinder Bub, der 1715 stirbt; etwa zur gleichen Zeit wird ein „grindiges Waisenkind“ aktenkundig, 1721 fertigt der Schuster für eine „Krumpe Spitalerin“ einen „einschichtigen Pantoffel“ an, 1723 wird „dem spittall Biebl ein Buch Schreib Pappier und Dienten“ gekauft. 1724–26 verpflegt die Herrschaft drei Buben im Spital und bezahlt auch das Schulgeld für sie. Einer davon wird in den Aufzeichnungen als „Zigeunerbub“ bezeichnet, nämlich Gottfried Schmaltzbarth, ursprünglich aus Orth a. d. Donau stammend, den es – vermutlich durch Kriegswirren – hierher verschlagen hat. Er wird 1735 bei einer Rekrutierung als Soldat für das Kontingent der Herrschaft genannt werden.18 Ende des 18. Jahrhunderts kommt es jedoch zu den bereits erwähnten tief greifenden Sparmaßnahmen und Veränderungen. Das Spital, ursprünglich von der Gründerfamilie als Auffangnetz für Hilfsbedürftige aus der Herrschaft gestiftet, wird von den nachfolgenden Herrschafts-Besitzern für deren eigene Zwecke missbraucht bzw. „privatisiert“: Kranke Dienstboten der Herrschaft werden zum Sterben ins Spital abgeschoben, – so stirbt 1805 im Spital ein Lakai, ein 24-jähriger Neger an der „Lungensucht“, 1828 ein „hftl. Wirtschaftsaufseher“, ebenfalls an Lungensucht. Die eigentlichen „Spitaler“ hingegen werden in diesen Jahrzehnten immer weniger. Trotz der bestehenden Verpflichtung des Herrschafts-Besitzers wird 1822 mit drei Spitalern ein noch nie dagewesener Tiefstand erreicht. Doch das bedeutet nicht, dass das Haus leer gestanden hätte: Die Herrschaftskanzlei bringt im 19. Jahrhundert dort ihre Saisonarbeiter und vazierenden Taglöhner unter, von denen einige dort auch sterben. Auffallend ist, dass parallel dazu „gewesene Halblehner“, erwachsene Töchter und Söhne von Bauern, die Witwe eines Schmieds, sogar eine „verwittibte Breuerin“ im Spital sterben; Menschen, die durch die „Ausnahm“ – die übliche vertragliche Absicherung bei Hausübergaben – zumindest eine bescheidene Versorgung besessen haben müssten. Ab 1842 werden manche der Verstorbenen in den Matriken als „Pfründner“ bezeichnet. Vielleicht ein Indiz dafür, dass in Weitersfeld von der Herrschaftskanzlei im 19. Jahrhundert auch ein „Sich-Einkaufen“ in die Spitalsversorgung for18

Alfred Damm: 1734 – Ständische Rekrutierungen in der Gft. Hardegg. In: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 78 (2007), S. 62-67.

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ciert wurde.19 Ab nun leben auch Ehepaare im Armenspital, ab 1871 ganze Familien, teilweise sogar mit Kleinkindern. Im Oktober 1866 sterben im Spital innerhalb von zehn Tagen sieben Menschen im Alter von acht bis 71 Jahren an der Cholera.20 Entweder sind somit praktisch alle Spitaler bzw. Pfründner ums Leben gekommen, oder das Armenspital wurde zu diesem Zeitpunkt von der Gemeinde als Seuchenspital genutzt.

Die Unterbringung Wie die Spitaler in diesem Haus untergebracht waren, wie ihr Lebensraum ausgestattet war, wie um 1670 der Standard in bäuerlichen Haushalten überhaupt ausgesehen haben muss, darüber gibt eine anlässlich der Einweihung erstellte Inventarliste anschaulich Auskunft. Das Haus ist für zwölf Personen – sechs Frauen, sechs Männer – berechnet: Drei Tische, sechs Bänke – das ist die Ausstattung für die Gemeinschaftsräume, in denen vermutlich auch gegessen wird; Wandbretter oder „Stölln“ sind hier nicht erwähnt, werden jedoch später entweder beauftragt oder von den Spitalern selbst gebastelt worden sein. Die Schlafkammern sind ebenfalls sehr spartanisch eingerichtet, einige Spitaler schlafen zu zweit in einer großen Bettstatt. „J n u e n t a r i u m,21 Der Jenig verhandtenen MOBILIEN und Sachen , so sich im Spitall Weitersfeldt befindten: und den 13.en X br: a o 673 ig Beschriben worden , als Pödtgwandt 4 4 4 2 1 3 8 19

20 21 22

70

22

Große Maderazen. Maderazenpölster, und Khozen darzue. Khlaine Maderazen auf ain Persohn. Großen: und 2 khlaine Maderazenpölster, und Döckhen darzue Podtstätt.

Im Archiv der Hft. Grafenegg liegen für das Spital in Straß im Straßertale einige Ansuchen aus 1823/26 auf, in denen Untertanen anbieten, im Falle ihrer Aufnahme Summen von 40-150 fl. „dem Spitale als Geschenk darzubringen“. – HHStA/Hft. Grafenegg/Karton 498/Konv. 3. DASP/Pfarrarchiv Weitersfeld/Sterbebuch 3/7. HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 21. Matratzen, verb. „mit haaren oder wolle ausstopfen; … das betth, welches so schlecht ware, dasz man den maderatzen, und den strosack, gar schwerlich von einander kennen kondte, zu

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Leingewandt 8 2 2 3

23

Par Leylacher. große Tischtüecher. Handtüecher. khlaine Tischtüechl. Khlaider

12 21 10 12 6 6 6 12

Khlaider, alß 6 Manns: und 6 Weiberkhlaider. Hemeter. Par Leinene Strimpf. Überschlög.24 Fürtiecher. Weiberhauben. Khopfschlairl. Par Schuech. KhuchlGschier

4 3 1 1 2 1 1 1 1 2 1 1 1 3

23 24

25

Khupferne Schüßl, als 2 Groß: und 2 khlaine, Pfannen. Faumb Löffl.25 Schöpf Löffl. Hackhmeßer. Scheuferl. Gäpperl. RübEyßen. Feurzangen. Feurhundt. Schierhaggen. Ofengabl. Abwaschschaff. Khopfschäffer.

deme war in dem maderatzen umb ein gutes weniger wollen, als es die notturft erforderte.“ Matratzenstück, n.: „sie schüttelten ihr lager aus stroh und heu zurecht und holten ihre matratzen- stücke und decken hervor.“ (Grimm: Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1754, S. 18). Leintücher. Vermutlich Umhang, „Wetterfleck“; doch ist „Überschlag“ mehrdeutig und kann auch jede aufgenähte Verbrämung bedeuten, z. B. Handüberschlag = Handkrause . – „überschlagen: durch Umbiegen etwas überdecken, falten“ „ein tuch u. ä. überschlagen, überhängen (Grimm: Wörterbuch, Bd. 23, Sp. 504, 8/II A 3). Faumlöffel, despumatorium, Schaumlöffel (Grimm: Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 1377, S. 58).

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1 1 3 3 2 2 12 1 3 6

Hackhbredt. Reutterl. Dällerbredtl. Leichter. Liechtbuzen. Schär. Meßer. Speißtruchen. Tisch. Pänkh.

Diese Liste über „Kuchlgschier“ ist insofern interessant, als hier beispielhaft sämtliche Utensilien, die um 1670 in einer größeren Küche benötigt und verwendet werden, bis zum letzten Hackmesser einzeln aufgelistet sind. Denn es werden zwar in vielen Hinterlassenschafts-Abhandlungen die wenigen vorhandenen Möbel der betroffenen bäuerlichen Haushalte angeführt, doch selten derartig umfassend eine komplette Ausstattung an Küchengeräten.

Die Kleidung der Spitaler Unter „Manns- und Weiberkleidern“, unter denen wohl die Hemden getragen wurden, kann man sich heute wenig vorstellen. Doch Abbildungen oder Zeichnungen, die Bekleidung der bäuerlichen Unterschicht des 17./ 18. Jahrhunderts betreffend, existieren für Niederösterreich nicht. Das „Landvolk“ wird kulturell erst im Zusammenhang mit dem Aufkommen von Reisen, den beginnenden Wanderungen im Gebirge und später im Rahmen der Sommerfrische „entdeckt“. Und auch da sind selbstredend vor allem die Festtagstrachten, Goldhauben etc., als Motive für Zeichnungen interessant. Nach eventuellen Abbildungen der Kleidung von Spitalern dieser Jahrhunderte zu suchen, wäre also ein sinnloses Unterfangen. Doch vielleicht kann eine zeitgenössische Beschreibung der üblichen bäuerlichen Wochentagsbekleidung des 19. Jahrhunderts eine ungefähre Vorstellung von der Kleidung der ärmeren Schichten vermitteln. Heinrich Stammgassner, damals Pfarrer von Weitersfeld, notiert 1885: „Die Wochentracht war vorwiegend folgende: Schlafhaube, tag- wie nachtsüber am Kopfe; bauerntuchenes, blaues Gewand, Stoff- und Pelzjacke; zugemachte Weste, Stiefelhose, schafwollene Socken, Holzschuhe (ganz aus Holz, ohne Lederkappe!) Fürterl – die in stufenförmige Falten gelegte, blauleinwandene Schürze“.26 26

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Heinrich Stammgassner: Beschreibung von Weitersfeld und Umgebung. Ungedr. Manuskript Weitersfeld 1887/90, S. 520.

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Dieses „Fürterl“ findet sich in der Kleiderliste von 1673 als „Fürtuch“ wieder. Dass Wollsocken manchmal nicht gestrickt, sondern aus groben Stoff geschneidert werden, ist dem Kastenamtsbuch von 1709 zu entnehmen: „Dann [sind] zu Sechs Neuen Wollsöckhen Von gröbern Rupfen27 Verschnitten worden 2 Stuckh 2 Ellen.“ Aus den Abrechnungen geht noch hervor, dass beispielsweise um 1721 die Weitersfelder Spitaler neue Bekleidung aus grauem Tuch erhalten, mit blauem Kragen und „Überschlägen“. Außer der finanziellen Ersparnis, die der Kauf und die Verarbeitung eines ganzen Ballen Tuchs mit sich bringt, unterstreicht diese Uniformierung noch zusätzlich den geschlossenen Auftritt der Spitaler bei Hochämtern, Begräbnissen und Versehgängen, der in vielen Spitalordnungen von den Stiftern gefordert wird.

Die Verpflegung Das Landgut einer Adelsfamilie ist im Grunde ein großer landwirtschaftlicher Betrieb, ausgerichtet auf Selbstversorgung und den Verkauf der erzeugten Produkte. Angebaut wird daher, was wächst, was man selbst benötigt und zusätzlich verkaufen kann. Kunden sind für den Verwalter nicht nur Wein-, Fisch- Schafwoll- oder Körnerhändler bzw. das „Kay: Proviant-Ambt“, sondern auch die Bewohner im herrschaftseigenen Armenspital. Die Lebensmittel werden dem Spital verkauft, noch dazu zum üblichen Marktpreis, die Beträge am Jahresende mit den Zinsen des Spitalkapitals gegenverrechnet. Daher ist es selbstverständlich, dass die benötigten Nahrungsmittel für die Spitaler fast gänzlich aus dem hftl. Kasten geliefert werden; zugekauft werden in Weitersfeld nur Fleisch und Salz. In den Wirtschaftsbüchern sind diese Lieferungen entweder als Mengen verzeichnet oder es werden die verrechneten Geldsummen notiert. Dementsprechend sind diese Angaben jeweils im Kastenamts- oder im Rentamtsbuch zu finden. Aus 1766 existiert auch ein Bericht an die Milde-Stiftungs-Hofkommission,28 der eine genaue Beschreibung der SpitalsVerpflegung enthält, wobei die „von der Graf: St: Julianischen Freundschafft als Stiffter angeordnete Spitall Reguln“ erwähnt werden, diese Norm daher bereits auf 1673 zurückgehen könnte: „Dahingegen erhalten diese 8 Persohnen jede wochentlich 1 1/2 Rindtfleisch, 2 Maß, und ein Seitl Waitzen mehl, und in der Fasten 3 Maß 3 Seitl; grieß in der Fasten 1 Maß 2 Seitl, 1 Seitl einpren Mehl; 4 Loth Schmalz, 27

28

Rupfen, „östreichisch rupfana pfât“ hemd aus grober leinwand… besonders oft „rupfen tuch“ für grobe leinwand. (Grimm: Wörterbuch, Bd. 14, Sp. 1532, S. 11 ). HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 37/Kleinfaszikel Stiftbriefe.

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und in der Fasten Acht Loth, ein halb Seitl Salz, nebst 11 1/2 Brodt, und alle 8 Persohnen insgesambt Jährlich 2 Metzen Arbes,29 und 18 Claffter Holz, weithers an hochen Festen jede Persohn 1 Seitl Wein, und EXTRA 1/2 Brädtl, nicht münder bekomt jede Persohn jährl: 1 Hemmeth, 1 paar Strimpf, 1 paar Schuch, und alle 3 Jahr ein Ganze Kleidung.“ Bei diesem Bericht handelt es sich allerdings um eine offizielle Mitteilung an staatliche Institutionen, um eine Absichtserklärung, ein Versprechen; in derartigen Fällen sollte man jedoch die realen Verhältnisse nicht vergessen: Die Herrschafts-Kanzlei bestimmt noch immer die Lieferungen, den Zeitpunkt, die tatsächliche Quantität und auch die Qualität. Zuverlässiger dürfte es deshalb sein, die Mengenangaben direkt den Kastenamtsbüchern zu entnehmen.

Das Wichtigste zuerst: Brot Der Roggen wird für Brot zu „Rockhes Pachmehl“ gemahlen, als mindere Qualitäten gibt es noch das „Braune Mehl“ sowie das schwarze „Fueßmehl“ – als Futter für Kälberkühe oder zum Kapaune-Schoppen. Den Spitalern wird Roggen in wöchentlichen Rationen bereits als fertiges Brot abgegeben, etwa 6,5 kg pro Person. Im Zeitabschnitt der Grafen v. St. Julian wird für den Bedarf des ganzen Personals und auch der Robotbauern der Roggen aus dem hftl. Kasten an den Müller geliefert; anschließend wird das Mehl dem Bäcker wöchentlich „vorgemessen“, der damit die ca. 560 g schweren Brotlaibl bäckt.30 Davon erhalten auch die Spitaler ihr Quantum. In der angrenzenden Herrschaft Fronsburg – die bis 1739 einem anderen Gutsbesitzer gehört – werden zusätzlich Erbsen „under das gesündtbrott gemahlen“.31 Dieses Untermischen von Erbsenmehl dürfte in der Region also keineswegs ungewöhnlich gewesen sein und könnte deshalb auch das Gesinde in der Gft. Hardegg sowie die Spitaler in Weitersfeld betroffen haben. Weizenmehl und -grieß wird den Belegen nach direkt aus der Mühle an das Spital geliefert und dort verarbeitet. Zu dieser Zeit gibt es für das Weizen- bzw. das „weisse“ Mehl folgende Qualitätsabstufungen: Mundmehl – Semmelmehl – Pohlmehl32 – Grieß. Das Mundmehl ist prinzipiell 29 30 31 32

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Erbsen. Aus jedem Metzen dieses „Pachmehls“ werden 74 Brote gebacken. HHStA/Archiv Khevenhüller/Pflegamts-Rechnung der Hft. Fronsburg 1673. Pohlmehl: Grobes, minderes Mehl (Grimm: Wörterbuch, „Polle“ Bd. 13, Sp. 1985, S. 64 ). Vermutlich mit dem Begriff „Braunes Mehl“ ident.

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der Herrschaft vorbehalten, von den anderen Ausmahlsorten werden monatlich jeweils 3-4 Metzen dem Spital zugeteilt. Für Weizen selbst werden in den Kastenamtsbüchern die eher unscharfen Qualitätsabstufungen Weizen – Hinterweizen – Bräuweizen notiert. Apropos Qualität: Ein Vermerk aus 1757, allerdings ist ungewiss, ob diese „Verwertung“ die Spitaler oder herumziehende Bettler betroffen hat: „Seynd bey damahlig grosser hitz völlig verschimmelt, und sodann denen Armen als ein Allmosen gegeben worden 7 1/2 Portionen Commiss – Brod zu 2 gerechnet“ 33

Fleisch Es handelt sich ausschließlich um Rindfleisch. Dieses kommt nicht direkt vom hftl. Meierhof, sondern wird von jeweils zwei Fleischhauern aus Weitersfeld geliefert, gegen jährliche Verrechnung mit der Herrschaftskanzlei. Die 1766 angegebene Menge von etwa 40 kg pro Person jährlich (selbstverständlich kein Fleisch in der Fastenzeit !) wird vor 1700 nicht erreicht. Die Gesamtmengen dieser Jahre schwanken zwischen 4,6 und 5,6 Centen,34 umgerechnet auf Einzelpersonen ergibt das in etwa 30 kg jährlich, für 1679 sogar nur 26 kg. Doch für die Zeit nach 1777 decken sich die dem Kreisamt mitgeteilten Mengen tatsächlich mit denen der Rentamtsbücher, pro Person 40 kg/Jahr, etwa 0,75 kg/Woche. Zum Vergleich: Im Bürgerspital in Drosendorf wird – zumindest offiziell – die doppelte Fleischmenge verbraucht. Nicht nur bei Brot, die gleiche Sorglosigkeit herrscht auch bei Fleisch: Was eigentlich ungenießbar ist, wird um 1760 den Armen gespendet. 1766 wird ein Hirsch „Von Jhro Hochgräfl: gnaden Kay: Cammer Freylen Theresia angeschossen, und anbrich35 gefunden, unter die Spittaller und armen Leuthen aus getheilet worden …“ 36

Schmalz gibt es als Rinderschmalz oder Schafschmalz. Mit Rinderschmalz ist natürlich nicht Unschlitt, sondern Butterschmalz aus Kuhmilch gemeint, Schafschmalz ist ebenfalls Butterschmalz, eben aus Schafmilch. 33 34 35

36

Pfleg- und Wirtschaft-Amts Rechnung der Gft. Hardegg und Hft. Fronsburg 1757. 1 Centen = 100 = 56 kg Anbrüchig: „ingeweide (lungen und leber) des viehes anbrüchig, faul, unrein, mangelhaft“ (Grimm: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 301, 42). HHStA/Archiv Khevenhüller/Forstamts-Rechnungen der Gft. Hardegg … 1766.

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Wobei ersteres eindeutig bevorzugt wird: In der „Besoldungs und Deputats Tabelle“ der Gft. Hardegg bekommt der Verwalter für sich und seine Familie jährlich „9 Achtl37 Rindschmalz“ zugemessen, die Pferdeund Gartenknechte hingegen müssen sich mit dem billigeren Schafschmalz begnügen. Schweineschmalz wird in den Unterlagen der Grafschaft nur sehr selten genannt – zumindest in der Zeit vor 1730. Eine der Haupteinnahmequellen für die Grundherrschaft ist in diesem Zeitabschnitt die Schafzucht. Je nach Jahr kommt es zu einem Bestand von etwa 3.0004.000 Schafen, aufgeteilt auf die drei hftl. Schäfereien in Riegersburg, Pleissing und Weitersfeld. Das bedeutet für die Spitaler, 1.200-1.500 Schafe blöken und verbreiten ihren Geruch direkt neben dem Armenhaus, werden vermutlich da auch vorbeigetrieben, d. h. der Zaun rund um den Obst- und Gemüsegarten des Hauses ist außerordentlich wichtig! An Kühen und Schweinen hingegen werden von der Herrschaft im Durchschnitt nur je etwa 18 Stück gehalten. Deshalb wird beispielsweise 1674 vom Maierhof auch nur 1 Achtel und 2 Maß Schweineschmalz abgeliefert. Für die herrschaftliche „Notturfft“, also den Eigenverbrauch der Herrschaft, wird gleichfalls Rinderschmalz nach Wien geliefert. Das Wort „Butter“ habe ich nur zwei Mal gefunden, anlässlich des Aufenthalts der Herrschaftsbesitzer in Riegersburg werden kleine Mengen Butter an die Küche geliefert. Pro Person und Jahr wird in Weitersfeld ein Achtel Schmalz ausgegeben, im Vergleich zu anderen Häusern eine extrem geringe Menge: In Straß im Straßertal werden die Spitaler mit doppelt soviel Schmalz, Salz, Erbsen, und etwa der vierfachen Menge an Linsen verköstigt.

Hülsenfrüchte Getrocknete Erbsen und Linsen werden hauptsächlich als Fastenspeise ausgegeben, etwa 20 Liter pro Person und Jahr.

Kraut und Rüben Abweichend zur Gegenwart, in der Krautsuppe höchstens als Reduktionsmittel für Übergewichtige eingesetzt wird, gehören im 17./18. Jahrhundert Kraut und Rüben, süß oder sauer, eingemacht oder eingelegt, in sämtlichen Armenspitälern zu den Grundnahrungsmitteln, wie auch sonst in den meisten Bauernhäusern. Daher ist es besonders auffällig, dass Kraut und Rüben in der Aufstellung für Weitersfeld fehlen. Auch die Bauern erhalten an Robottagen als Verpflegung z. B. „zu mittag von Schepßen 37

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Ein Achtl Schmalz = 10

, etwa 5,6 kg.

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etwas Fleisch, und krauth, und auf die Noht, wan sie den ganzen Tag zuebringen, ain mehl Speiß, Rueben, Linßen, oder arbes“ In der Deputats-Liste der Grafen v. St. Julian aus 172538 wird noch Folgendes festgehalten: „H: Pfarrer zu Weitersfelt Krauth 1 Färtl Verwalter, Kastner, und Hofschreiber die Würkhl: Notturfft … Jns Weittersfelder Spittall bis weithers ergehender ordnung des Spittalles Krauth 2 Färtl Sechzig Jahre später, 1787, in der „Besoldungs- und Deputatsliste“ der Fürsten Khevenhüller-Metsch, wird Kraut hingegen nur noch einmal angeführt, nämlich bei den Deputatsansprüchen des Pfarrers von Weitersfeld. Dieser erhält noch seine Fuhre Kraut – sonst niemand mehr. Das Spital wird in dieser Liste überhaupt nicht erwähnt, ist also nicht mehr anspruchsberechtigt. Das stimmt auch mit den Angaben von 1766 überein und erlaubt die Annahme, dass die Spitaler ihr – für den Winter überlebenswichtiges – Kraut in ihrem kleinen „Gemüßgarten“ selbst anzubauen hatten. Fraglich bleibt dabei allerdings, wie sie auf diese Weise die benötigte Menge von zwei Wagenladungen ersetzen konnten. Wieder ein Vergleich mit Drosendorf: Für zehn Spitaler werden dort pro Jahr benötigt: 25 Metzen geschnittenes Kraut zum Einmachen und 13 Metzen Rüben; das ergibt einen Konsum von 4,5 Liter pro Person wöchentlich. In Röhrenbach wird der Jahresverbrauch an – vermutlich eingelegtem – Kraut pro Person mit 6 Eimern angegeben, das wären 6,5 Liter wöchentlich.

Sonstiges zur Ernährung Dass Erdäpfel in Niederösterreich erst nach den Hungerjahren von 1771/72 von der Bevölkerung akzeptiert und ab den 1780er Jahren allgemein angebaut werden, die Spitaler der ersten 100 Jahre daher mit Sicherheit keine Erdäpfel gegessen haben, führe ich hier nur der Vollständigkeit halber an. Nicht gefunden in den Büchern der Grafschaft habe ich Milch und Eier – Nahrungsmittel, die in den Aufzeichnungen des Spitals von Drosendorf jedenfalls erwähnt werden. Müssen Milch und Eier hier im Dorf zusammengebettelt werden oder kommt es – wie beispielsweise in den Häusern von Melk oder Klagenfurt – zu Kleinvieh-Haltung im Spital? Wie aus dieser Lebensmittel-Liste nun Mahlzeiten werden, darüber gibt es widersprüchliche Angaben. Eigentlich sollte man meinen, dass für alle 38

HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 35/Konvolut 3.

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gemeinsam gekocht und dann das Essen ausgeteilt wird, wie es im letzten Punkt der Spitalordnung von 1673 verlangt wird: „Der Spitall Vatter oder Mutter solle denen Spittalern ihre Portion selber fleisig auß Theillen.“39 Doch gerade das scheint hier in Weitersfeld abzukommen. Etwa 100 Jahre später wird in einem Bericht notiert, dass ein gemeinsames Tischgebet „vor und nach den Essen nicht mehr in der Übung“ wäre, „weillen jedtwede Persohn allein Kochet, und dahero nicht zu einer zeit Essen“.40 Der positive Aspekt dieser Regelung ist natürlich einleuchtend: Jeder ist für sein Essen selbst verantwortlich, die sonst in Armenspitälern weit verbreiteten Klagen über die Köchin werden auf diese Weise vermieden. In Weitersfeld kocht und isst also jeder Spitaler allein, selbstverständlich kann sich auch eine Kleingruppe zusammenfinden. In Straß hingegen, wo das klösterliche Ambiente stärker ausgeprägt ist, existiert (etwa 1677) folgende Anordnung: „Die Köchin solle kheinen Spitaller etwoß obsonderlich weder kochen, noch anrichten, sondern [ die Spitaler sollen ] mit einander auß einer schishel briederlich geniessen.“41 Wie sehr die Lebenssituation der Spitaler auch im Detail vom Wohlwollen und dem Interesse des jeweiligen Besitzers der Grafschaft abhängen kann, zeigt sich 1776 anlässlich einer Übernahme der nunmehrigen Fideikommiss-Herrschaft.42 Joseph, der erste Fürst Khevenhüller-Metsch, ist tot, sein Sohn Sigmund – als Diplomat in Italien residierend – installiert einen „Wirtschaftsrat“, der anscheinend versucht, den Betrieb besser zu organisieren und für seinen Herrn mehr Gewinn herauszuholen. Der Verdacht liegt nahe, dass dabei Sparmaßnahmen auch für das Armenhaus angeordnet werden; denn zum Unterschied von 1776/77, als im Spital noch das gute Rinderschmalz verkocht wurde, wird nun ab 1778 nur mehr das weitaus billigere Schafschmalz verwendet. Dasselbe „Haushalten“ auch bei Getreide: Konnten sich die acht Spitaler unter der Herrschaft von Fürst Joseph noch von durchschnittlich 25 Metzen Weizen und 60 Metzen Korn ernähren, so werden diese Rationen unter Fürst Sigmund schrittweise reduziert, und finden dann 1786–1796 mit 12 Metzen Weizen und 40 Metzen Korn eine neue „Norm“. Ebenso werden ab 1777 durch die Einführung eines Zuschlags bei Brennholz – des sogenannten „Forst-Akzidens“ – die Heizkosten für die davon 39 40 41 42

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NÖLA/Allgem. Stiftbriefsammlung/Karton 218. HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 78. HHStA/Hft. Grafenegg/Karton 498/Konv. Nr. 1. Fideikommiss = unveräußerliches und unteilbares Erbgut, Stammgut.

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abhängigen Untertanen um etwa 8 Prozent erhöht. Für die Spitaler ist dies insofern bedeutsam, als jede derartige Preiserhöhung das Stiftungskapital schmälert und nur durch ein – eventuell – gnadenhalber gewährtes „Almosen“ wieder ausgeglichen werden kann. Ab 1793 wird dem Spital für die Lieferungen von Getreide zusätzlich noch ein sogenanntes „Kastengeld“ in Rechnung gestellt.

Wein Obwohl in Armeninstituten durchgängig eine eher knappe Versorgung der Bewohner mit Wein die Norm gewesen sein dürfte, schwanken in den verschiedenen Armenhäusern die für die Spitaler jeweils üblichen Mengen beträchtlich. Im Bürgerspital in Wien wird den mittellosen Spitalern wenig Wein zugestanden – sehr zum Unterschied von den Pfründnern, die sich ja meist per Kontrakt eingekauft haben: Diese erhalten täglich den ihnen vertraglich zugesicherten Trunk, etwa 0,7 Liter, und selbstverständlich auch bessere Qualität. Die Quantitäten in anderen Häusern gehen von etwa einem Seitel wöchtlich in Röhrenbach,43 über vier Seitel wöchentlich in Wiener Neustadt,44 bis zu zwei Seitel täglich(!) im Hauerdorf Straß im Straßertal.45 In diesem Ranking liegt Weitersfeld weit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Bereits die Anweisung in Punkt fünf der Spitalordnung macht klar, was die Stifter(in) hier im Markt verhindern wollte(n): „Sollen sy in khain offentliches Würths Haus gehen, sich daselbst Vollzusauffen, und mit grosser Ergerung, auf der gassen umb zustarckhlen“. Dementsprechend knapp geplant ist hier die Versorgung mit Wein. Pro Person wird zu den sogenannten „hl. Zeiten“ ein Seitel ausgegeben. Das bedeutet in dieser Pfarre zu Neujahr, zu Ostern und Pfingsten, am Kirchtag und zu Weihnachten. In manchen Perioden gehören auch noch Martini und Fasching zu den „hl. Zeiten“.46 Das ergibt durchschnittlich 5-7 „hl. Zeiten“ in Weitersfeld, und damit einen Weinkonsum der Spitaler von 1,75 l bis 2,5 l pro Person und Jahr. Es wäre jedoch falsch, auf Grund dieser „homöopathischen Dosen“ Weitersfeld nun generell zu einem „Trockengebiet“ zu erklären. Zum Vergleich: 43

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Johann Anton Friedrich Reil: Der Wanderer im Waldviertel – ein Tagebuch für Freunde österreichischer Gegenden. Brünn 1823, S. 122 f. Klaus Wurmbrand: Das Wiener Neustädter Bürgerspital im 17. und 18. Jahrhundert, Ungedr. phil. Diss. Wien 1972, S. 289. „Und alle tag auf ain Persohn ein halb Wein“. Damit dürfte eine halbe Aechtring (= 0,7 l) gemeint sein. Siehe HHStA/Hft. Grafenegg/Karton 498/Konvolut Nr. 1. Derartige „Heilige Zeiten“ können von Pfarre zu Pfarre differieren – in Drosendorf z. B. sind es neun (1785). Siehe NÖLA/Allgem. Stiftbrief-Sammlung/Karton 75.

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Der Pfarrer von Weitersfeld erhält als Deputat von der Herrschaft jährlich 33 Eimer Wein, etwa 1.867 Liter. Auch wenn man dabei an die Köchin und an einen oder zwei mögliche Kooperatoren denkt, rein rechnerisch ginge sich bei einem Drei-Personenhaushalt durchaus ein tägliches Quantum von bis zu 1,7 Liter pro Person aus. Doch um korrekt zu sein – dieses Wein-Deputat kann der Pfarrer natürlich auch verkaufen. Wie hoch jedoch der übliche Weinkonsum der Bewohner in der Grafschaft ist, kann anhand der ausgeschenkten Weinmengen für Besucher und fremde Handwerker eruiert werden. Diese Professionisten aus anderen Dörfern – Schmied, Maurer, Tischler oder Rauchfangkehrer, von der Herrschaftskanzlei zu diversen Arbeiten herangezogen – werden an ihren Arbeitstagen mit 1-2 Seitel Wein versorgt. Derartige Abgaben sind penibel mit entsprechenden Details in den Wein- oder Kastenamtsbüchern vermerkt. So erhält beispielsweise der Glasermeister aus Pulkau, der einen neuen „Fensterkhopf“ für die Pfisterei bringt, 1 Maß Wein.47 Bei Begräbnissen werden „Dennen 4. tragern, ieden ain halb Wein, und vor 1. xr: Brodt“ bezahlt.48 Auch die Richter der umliegenden Dörfer werden, als sie z. B. 1695 bei verschiedenen Robotarbeiten „nachstehen“, pro Tag mit je zwei Laibl Brot und zwei Seitel Wein versorgt.49 Erst mit diesen Vergleichs-Angaben wird die Diskrepanz deutlich zu den mehr als dürftigen Mengen, welche an die Spitaler ausgeschenkt werden.

Die Krankenversorgung Von der Grundherrschaft erhalten die untertänigen Bauern auch ein gewisses Maß an Unterstützung im Krankheitsfall. So existiert im Verfügungsbereich der Kanzlei gleichsam eine „Hausapotheke“, für die ab und zu auf Märkten Kräuter gekauft werden. Rotwein wird gleichfalls als Medikament verwendet und bei Bedarf an kranke Untertanen abgegeben; so im April 1671 „dem Veit Krimelbain alhier so Tödtlich Kranckh an Roten Wein 1 Seidl“. Weniger als Beistand, sondern eher als Teil einer Schadensgutmachung dürfte folgende Ausgabe in der Pflegamtsrechnung gelten: „Dann bezahle Jch vor ainen armen Mann den Bader, welchen der Herrschaffts Hundt Mopsl Zu Weidersfeldt gebissen 1 fl 30 x“ .50 47 48

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50

80

HHStA/Archiv Khevenhüller/Kasten-Rechnung der Gft. Hardegg/Hft. Riegersburg 1674/75. HHStA/Archiv Khevenhüller/Pflegamts-Rechnung der Gft. Hardegg/Hft. Riegersburg 1674/75/fol 27 v. HHStA/Archiv Khevenhüller/Kastenamts-Rechnung der Gft. Hardegg/Hft. Riegersburg 1694/95. HHStA/Archiv Khevenhüller/Haupt-Rechnung 1664/Mai-1665/Juli/fol 44 v.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

Im „Spital“ Weitersfeld gibt es selbstverständlich keine Pflege im heutigen Sinn, keine Ärzte oder Krankenschwestern. Im Grunde sind die Pfleglinge sich selbst überlassen, als mögliche Notlösung existiert fast ausschließlich die gegenseitige Hilfestellung. Der jeweilige Bader wird nur in Extremfällen gerufen, was sich unschwer aus den bescheidenen Abrechnungen ableiten lässt. Nur in der ältesten der erhaltenen Spitalrechnungen von 1740 werden „wegen hergegebener medicin und denen spittallern aderlassen 2 fl 54 xr“ berechnet – übrigens eine exzeptionell hohe Summe, was unter Umständen damit zusammenhängen könnte, dass der Rechnungsführer Johann Heinrich Jahn zugleich den Beruf des „Feldscherers“ ausübt. Doch in späteren Jahren, z. B. 1759 oder 1766, werden jährlich nur jeweils 30 x und 36 x veranschlagt. Andere Hinweise zu medizinischer Versorgung existieren vor 1776 in den wenigen erhaltenen Spitals-Akten von Weitersfeld nicht. In den Jahren 1776–1779 erhält der Bader in Weitersfeld für die medizinische Versorgung aller acht Spitalsinsassen pro Jahr nicht mehr als 1/2 fl, und zwar für Aderlass und Medikamente. Es gibt dazu keine Detailangaben, doch dürfte es sich dabei um einen Tarif in der Höhe von sechs Kreuzern für einen Aderlass gehandelt haben. Ein ziemliches Ungleichgewicht besteht allerdings zwischen den jährlichen Unkosten für die medizinische Betreuung der Spitals-Bewohner in der Höhe von 24 x und den Spesen, die für die doppelte Ausfertigung der Spitalsrechnung – insgesamt 1 3/4 fl – auflaufen, besonders wenn man bedenkt, dass diese Schreibarbeit ohnedies von den angestellten und von der Herrschaft bezahlten Beamten der Verwaltungskanzlei durchgeführt wird: 1779 „Baader Vor AderLaaß und MEDICAMENTA -24 x Für Anfertigung der Rechnung IN DUPLO 1 fl 20 x das nötige Stempl Pappier für die Beylaagen -24 x“ Bei dieser Sparsamkeit betreffs medizinischer Versorgung wundert es daher nicht, wenn 1779 in einer Hausliste beim „Chyrurgus“ Jakob Lichtenegger vermerkt ist: „Lebt größtenteils von seiner Landwirtschaft“. Zum Vergleich: 1785 betragen in Weissenkirchen/Wachau die Ausgaben für den Bader bei 13 Spitalern jährlich 6 fl, eine runde Summe, die sogar für eine Pauschale sprechen dürfte. Berechnet auf Personen und Jahr ergibt das einen Aufwand von 3 x in Weitersfeld, 27 x in Weissenkirchen. 1796 werden die Angaben zwar detaillierter, die Versorgung jedoch nicht grundlegend besser: Wie aus den jeweiligen Spitalrechnungen ersichtlich, sterben in den Jahren 1782 bis 1794 zwar neun Spitaler, das Spital kommt auch für deren Begräbniskosten auf, doch sind in diesen 13 Jahren keinerlei Ausgaben für einen Arzt oder Bader vermerkt. Erst 1796 kann Chyrurgus Lichtenegger Rechnung legen für die Behandlung der fünf Patienten der letzten beiden Jahre. 81

Alfred Damm

Die Begräbnisse der Spitaler werden ebenfalls aus dem Spitalfonds bezahlt. Die „Begräbnus Unkösten“ sind die gleichen, die auch sonst bei Beerdigungen der Bauern anfallen. Ein Beispiel aus 1742:51 „Vor Begräbnus N: Jobstin dem Herrn Pfarrer bezalt 1 fl -- xr dem schullmaister 26 xr denen Tragern 12 xr 1/2 Körzen 7 xr Vor Truchen und Creuz zu machen 17 xr denen Leithern 9 xr dem todtengraber 17 xr“ Standard sind außerdem 3-4 „Elln Vberthanleinbath“, Leinwand, die über den Sarg gelegt wird. Der Schulmeister ist für Musik und Chor zuständig, oft lautet die Notiz „für Cantor und Singerknaben“. Die Sargträger erhalten kein Bargeld, sondern werden vom Wirt mit Brot und Wein verköstigt. Für die Glocken-Läuter wird das vermutlich ebenfalls so gehandhabt. Die Stolgebühr des Pfarrers für den Kondukt bleibt über lange Zeit gleich, andere Vergütungen können sich ändern. Jänner 1693:52 „Herrn pfarrer in Weitersfeldt, von denen 2. verstorbenen Spittallern 2 fl -Dem Schuellmaister und todtengraber 1 fl 30 Dem Tischler vor die 2. truchen 1 fl -1778:53 /: Titl:/ Herrn Pfarrer die Stolla den Schulmeister den Cantor und Knaben den Totengraber den Tischler für die Toten Truchen vor 3 Eln Überthan Leinwath a 11 x von Jnschlicht Kertzen Denen Tragern vor Trunckh und Brod

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fl 1 ---1 ----

x -26 10 21 6 33 20 42

d ---------

4 fl

38 x --“

NÖLA/Bestand „Khevenhüllersche Herrschaften“/Karton 38. HHStA/Archiv Khevenhüller/Pflegamts-Rechnung d. Hft. Riegersburg 1692/93/fol 40. HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 61.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

Religion um 1670 Der Glaube an Gott, an ein besseres Leben nach dem Tod ist der einzige Halt, den die Menschen in dieser Gesellschaftsordnung haben. Nur, welche Religion die „richtige“ und wirklich hilfreiche ist, darüber war man in den letzten 100 Jahren geteilter Meinung. In der Grafschaft Hardegg breitet sich Luthers Lehre bereits ab den 1560er Jahren aus, auch die Pfarre Weitersfeld ist spätestens ab 1577 mit einem lutherischen Prädikanten besetzt. Als schließlich die Grundherrschaft 1628 von der Regierung gezwungen wird, für diese Pfarre einen katholischen Priester aufzunehmen, bedeutet das ja keineswegs auch dessen Unterstützung durch die Herrschaft. Im Gegenteil, es herrscht Kleinkrieg: um Kirchenvermögen, Pfründe und robotfreie Feiertage. Die ganze Pfarrgemeinde – bereits seit etwa einem halben Jahrhundert von Prädikanten betreut – weiß um die Zwistigkeiten und verhält sich bestenfalls indifferent und abwartend. Auch die Grundherren der Umgebung sind durchwegs Lutheraner, die umliegenden Pfarren gleichfalls mit Prädikanten besetzt. Für die Bevölkerung der Grafschaft gibt es also keine besonderen Gründe, um an dem fremd gewordenen, katholischen Bekenntnis festzuhalten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wird allerdings offensichtlich, dass die protestantische Sache verloren ist. Aus leicht einsehbaren Gründen wechselt daher 1651 Julius Graf Hardegg seine Konfession. Ob und wie er nun tatsächlich von seiner ausgeprägt protestantischen Haltung früherer Jahre zu einem gläubigen Katholizismus gefunden hat, ist nicht bekannt (Ironischerweise präsentiert gerade er im April 1656 dem Passauer Konsistorium für die Pfarre Weitersfeld einen katholischen Priester.54 An Stelle des neuen Besitzers der Grafschaft, seines Neffen Maximilian St. Julian, und zusammen mit dessen zukünftigem Schwiegervater Hannß Jakob Brandis.). Wie auch immer, der religiöse Einfluss der Herrschaft geht jetzt in Richtung „des Cathollischen allein seligmachenden Glaubens“. Auch wird 1652/53 die Bevölkerung Niederösterreichs durch Religionskommissionen der Regierung unter Druck gesetzt. So kommt es, dass in Weitersfeld über 240 „Akatholiken“ sich von einem Tag auf den anderen zu guten Katholiken wandeln.55 Dieser wundersame Bekehrungserfolg kann jedoch nur erstaunen, wenn man die dabei angewandten Methoden außer Acht lässt. Denn für die „Halsstärrigen“, die durch „gütliches“ Zureden nicht dazu gebracht wer54 55

D.A.W./Passauer Protokolle/PP 83/fol 281. Alle diese Personen sind namentlich genannt bei: Georg Kuhr/Gerhard Bauer: Verzeichnis der Neubekehrten im Waldviertel, 1652–1654. Codex Vindobonensis 7757 der Nationalbibliothek Wien, Nürnberg 1992, S. 337-341.

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den können, sich die katholische Religion „anzubequemen“, steht den Kommissaren eine folgenschwere Drohung zur Verfügung: Gewiss, der Bauer könne auswandern, nur müsse er seine Kinder zurücklassen, desgleichen sein Vermögen, um die Kinder zu ernähren.56 Der staatliche Druck, sich für die „richtige“ Religion zu entscheiden, wird also immer stärker. Angepasstes Mitmachen ist angesagt, vor allem müssen Äußerlichkeiten erfüllt werden, die richtige innere Haltung wird sich dann nach ein, zwei Generationen schon eingestellt haben. Die Anwesenheit bei den Sonntagsgottesdiensten wird Pflicht, vor allem die Osterbeichte, die mittels Beichtzettel kontrolliert wird. Listen der Bauern, die nicht zur Beichte erscheinen, werden von den Pfarrern an die nö. Regierung weitergeleitet. Religiöse Bruderschaften werden initiiert und auch kräftig gefördert. Die Mitglieder dieser Bruderschaften haben gemeinsame Gebetsrunden und üben damit soziale Kontrolle aus; das Mitgehen bei Wallfahrten ist für alle ratsam und schließlich sind Bitt-Prozessionen mit bunten Fahnen ja auch erfreuliche soziale Ereignisse. Als Belohnung winken zusätzlich Ablässe. In dieser glaubensbezogenen Welt ist auch ein Armenspital ausschließlich als geistliche Hausgemeinschaft denkbar.

Seelgeräte57 Als Gegenwert für die Versorgung in einem Armenhaus müssen die Spitaler daher auch etwas leisten: Beten. Gebete werden ganz allgemein als Tagesbeschäftigung erwartet, im Besonderen aber Gebete für den Stifter und seine Familie – denn Armenspitäler sind fast immer Seelgerät-Stiftungen. „Den Ausgangspunkt haben Seelgeräte von der allgemein herrschenden kirchlichen Auffassung, dass durch gute Werke der eigenen Seele, aber auch den Seelen verstorbener Verwandter geholfen werden könne.“58 Ein Seelgerät ist also ein Mittel, um über einen Umweg sich selbst etwas Gutes zu tun. Die simple Idee dahinter: Das „gute Werk“ wirkt nicht nur per se, sondern der Stifter kann zusätzlich damit noch andere Menschen motivieren, für ihn zu beten. Das eigene Seelenheil und das der Anver56

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Punkt 16 der kaiserl. Instruktion an die Kommission. Zitiert bei Kurt Piringer: Ferdinand des Dritten katholische Restauration (Ungedr. phil. Diss.). Wien 1950, S. 122. Der Autor zitiert eine Abschrift dieser Instruktionen aus der Stiftsbibliothek Melk (Codex 394/fol, S. 176 ff ). Seelgerät: „stiftung zum heile einer seele (der eigenen oder anderer) für seelenmessen u. dergl., letztwillige schenkung“ (Grimm: Wörterbuch, Bd. 16, Sp. 44, S. 43). Anneliese Lechner: Das Wiener Neustädter Bürgerspital während des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Ungedr. phil. Diss.). Wien 1964, S. 121.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

wandten wird derart gesichert, dass man die Spitaler verpflichtet, für ihre Wohltäter zu beten. Derartige Verpflichtungsklauseln gibt es in den Spitalordnungen vieler Spitäler: Wiener Neustadt, Bürgerspital (1622)59: Die Spitaler hätten „Gott den allmächtigen umballe Gnaden danckhen, dann auch für Geist: unndt weltliche Obrigkheit, alle frome wolthäter … bitten“. Straß (1666)60: Hier fordert Ferdinand Graf Verdenberg: Die Spitaler sollen „für mich und die Meinigen lebendigen und Todten alß Stüfftern alles Vleiß bitten und betten“. Röhrenbach (1706)61: „Rosenkranz und Litanei von unserer lieben Frauen müssen die Spitaler vorbeten öffentlich und laut in ihren Kapellen, mit vorhergegebenen Zeichen der Glocken, als: am Sonntag für die lebende Herrschaft, … am Freitag für die Abgestorbenen, in den Kruften im Spital ruhenden Herrschaften“. Persenbeug (1734)62: „Sechstens sind die Armenleute in Spital vor die erstere 2 Stifter und deren Frauen Gemahlinen, vor alle meine abgestorbene Vorältern, mich und meine Frau Gemahlin, auch künftige versterbende oder verlebende von meiner Familie, täglich vor dem Mittag und Nachtessen jedesmal einen h. Rosenkranz und nebst denen 7 Vaterunser, und so viel Avemaria samt den Glauben, zu Ehren der sieben Schmerzen unser lieben Frauen, wie auch jährlich zu denen höchsten Festtägen zur hochwürdigen Sacrament mit rechter Vorbereitung wenigstens 4 mahlen zu gehen … verbunden.“ Melk, Klosterspital (1770)63: „Da nun indessen die Arme in Ruhe leben, und das ihnen bestimmte Allmosen Monatlich empfangen, so wird von ihnen wenigst dieses erforderet, daß sie sich dafür dankbar erzeigen, und sich angelegen seyn lassen, Gott täglich für ihre Gutthäter zu bitten.“ In Weitersfeld wird Derartiges gleichfalls verlangt, jedoch erst ab 1731, mit dem Auftreten der Familie Khevenhüller. Zur Zeit der St. Julians war das noch kein Thema: In deren Spitalsordnung beschäftigt sich zwar ein Drittel der zwölf Punkte mit Religion, was man durchaus als hohe Wertigkeit von Glauben und Frömmigkeit in der Stifter-Familie interpretie59 60 61

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St.A.W.N./C CXIV/Nr. 2/1. HHStA/Hft. Grafenegg/Karton 498/Konv. Nr. 1. Johann Anton Friedrich Reil: Der Wanderer im Waldviertel – ein Tagebuch für Freunde österreichischer Gegenden. Brünn 1823, S. 122. Johann Anton Friedrich Reil: Das Donauländchen der kaiserl. königl. Patrimonialherrschaften im Viertel Obermannhartsberg in Niederösterreich. Wien 1835, S. 329. Stiftsarchiv Melk/Sign: 28 Stiftsherrschaft 18.

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ren kann. Trotzdem gibt es hier keine Forderung nach „sambentlich niederknien und beten“ für das Seelenheil der Stifter(in). Zwar wird in Punkt 8 der Spitalordnung besagtes Niederknien und Beten angeordnet, allerdings für andere Wohltäter: „So Jhnen Von guettherzigen Christen ein Suppen oder Malzeitt beraith , oder ein anderes allmosen zugeschückt wurde.“ Nur für diese Fälle werden Dankes- und Bittgebete eingefordert, jedoch nicht als Dankesschuld gegenüber der Gründerfamilie – um 1670 eine äußerst ungewöhnliche Haltung. Verlangt wird hingegen allgemeinfriedliches Verhalten: „Sollen die Spittaller brüder und Schwesterlich Einander lieben, und in Christlichen Fried und einigkeit leben, damit seye Gott und denen Menschen Wollgefallen , und solle dargegen alles Hadern und Zancken, Viell mehr Rauffen und Schlagen Verbotten seyn“. Erst kurz vor ihrem Tod 1693/April in Wien greift auch Susanne Gräfin St. Julian auf die fromme Hilfe der Spitaler zurück, lässt Geld unter sie verteilen und hofft auf die Kraft der Gebete: „Als ihro Hochgr: gnaden Hochseel gedechtnus kranckh wahren ,auf erhaltene anschaffung‘ denen Spittallern auf 2 mahl geben 3 fl 30 x“ .64 Nach 1770 – zwischenzeitlich wurden die Grafen Khevenhüller-Metsch zu Fürsten standeserhöht – ist die eher selbstverantwortliche Haltung der Familie St. Julian in Sachen Frömmigkeit einer etwas übersteigerten Forderungshaltung gewichen: „Die Spitaler Betten Täglich frühe und abendts nebst einer Littaney 3 RosenCräntz und nach jedtweden RosenCrantz vor Jhro Durchlaucht 3 Vatter unser, und einen Glauben in der Cappeln“ .65 Das bedeutet für die Spitaler täglich außer zwei Frauen-Litaneien noch 6 Rosenkränze, 18 Vaterunser und 6 mal das Glaubensbekenntnis! Die resignative Einsicht aus dem angelsächsischen Raum – „There is no free lunch“ – dürfte global gelten, also auch für die Armenhäuser im Erzherzogtum unter der Enns.

Resümee Schlussfolgerungen – im Sinne von möglicher Verbesserung der Altenpflege und Armenversorgung in der Gegenwart – können aus dieser Zusammenstellung von Fakten über ein privates Armen- und Altenheim der Neuzeit selbstverständlich nicht gezogen werden. 64

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HHStA/Archiv Khevenhüller/Pflegamts-Rechnung der Gft. Hardegg/Hft. Riegersburg 1692/93 - fol 41. HHStA/Archiv Khevenhüller/Karton 78.

Armut in der Grafschaft Hardegg im 17./18. Jahrhundert

Doch zum Standard bäuerlichen Lebens und auch Sterbens im 17./18. Jahrhundert vermitteln die peniblen Aufzeichnungen der hftl. Wirtschaftsbücher verlässliche und anschauliche Informationen. Aus dem übrigen Aktenmaterial ist ebenso die prekäre Lage der Armenhäusler ersichtlich, die Abhängigkeit vom guten Willen desinteressierter Eigentümer, die stete Möglichkeit, dass verbindliche Berechtigungen von unwilligen Nachfolgern der Stifter mit minimal-juristischem Aufwand abgeschafft werden konnten – kurz, die „oft sehr kurze Laufzeit ewiger Stiftungen“66 wird hier deutlich sichtbar. Und mahnt zur Vorsicht gegenüber „Corporate Social Responsibility“ in der Gegenwart. Am Beispiel Weitersfeld lässt sich gleichfalls die außerordentliche Bedeutung von Archivmaterial für den lokalen Umgang mit historischen Bauwerken aufzeigen. Ein altes Gebäude, das verloren im Dorf „herumsteht“, über das man nichts weiß, außer dass es schon immer dagestanden ist, der Gemeinde gehört und seit anderthalb Jahrhunderten „irgendwie“ genützt wird, verführt notgedrungen zu einem eher achtlosen Umgang mit diesem nicht erkannten historischen Erbe. Erst die Kombination von beidem – einem noch bestehendem Gebäude und das Wissen um die Bedeutung dieser wichtigen Einrichtung des Marktes – könnte eine neue Dimension historischen Verständnisses und entsprechend verantwortungsvolles Handeln ermöglichen. Über die Realität informiert eine Homepage: www.turm.tk67. – Keinem der Ortsansässigen in Weitersfeld dürfte bewusst sein, dass unter den anonymen und daher uninteressanten „Spitalern“ mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eigene Vorfahren am Ende ihres Lebens in diesem Haus untergebracht waren und hier gestorben sind. „Die Sozialgeschichte der ländlichen Unterschichten ist bisher ein vernachlässigtes Gebiet. Das hat verschiedene Gründe. Sicherlich ist die Quellenlage gerade für diese Bevölkerungsgruppen besonders schlecht. Eine andere Ursache wiegt aber gewiß nicht weniger schwer: Es gibt keine Gruppierung der Gegenwart, die sich der Tradition der ländlichen Unterschichten verbunden fühlt.“68

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Rezension von Herwig Weigl: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/REZENSIO/ buecher/weigl.htm. www.turm.tk/Fotos 2006/Beiträge „Turmumbau“ bzw. „Turmeröffnung“. Michael Mitterauer: Lebensformen und Lebensverhältnisse ländlicher Unterschichten. In: Familie und Arbeitsteilung – Historischvergleichende Studien, (Kulturstudien Bd. 26 ). Wien-Köln-Weimar 1992, S. 33.

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Verwendete Abkürzungen: AVA Allgemeines Verwaltungsarchiv DASP Diözesan-Archiv St. Pölten DAW Diözesan-Archiv Wien fl Gulden (zu 60 Kreuzer) Gft. Grafschaft Hft. Herrschaft hftl. herrschaftlich HHStA Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien NÖLA Niederösterreichisches Landesarchiv ÖNB Österreichische Nationalbibliothek ÖStA Österreichisches Staatsarchiv St.A.W.N. Stadtarchiv Wiener Neustadt x (auch xr oder k bzw. kr) Kreuzer (zu 4 Pfennig) Pfund = 0, 562 kg. Kann jedoch bei manchen Handelswaren auch als Zähleinheit gebraucht sein, z. B. 1 Eier = 240 Stück.

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Armut an der Wende zum Industriezeitalter Anna Trexlerin, Tochter eines Schopperknechts, sprach 1799 bei der Armenkommission im Salzburger Rathaus vor. Sie wolle in Dienst treten, habe aber ein unehelich geborenes Kind, dessen Vater ein armer Maurergeselle sei. Schneidermeister Johann Haubner aus Liefering (heute ein Stadtteil von Salzburg) hätte sich angeboten, ihren Sohn „gegen ein Verpfleggeld von 24 Kreuzer wöchentlich zu übernehmen“ und auch zugesagt, ihn nach zehn Jahren als Lehrling aufzunehmen. Nun ersuche sie die Armenkommission, das geforderte Pflegegeld zu bezahlen.1 Anna Trexlerin war wie zahlreiche Unterschicht-Frauen Mutter eines illegitimen Kindes. Aufgrund der im 18. und 19. Jahrhundert bestehenden Ehebeschränkungen war es vielen Frauen und Männer nicht erlaubt zu heiraten, wenn sie nicht eine ausreichende finanzielle Grundlage nachweisen konnten.2 Der Ehekonsens sollte die Verarmung von Unterschichtfamilien verhindern und zugleich der Reproduktion von Armut entgegenwirken. Mit diesem Verbot ließen sich jedoch sexuelle Kontakte zwischen Frauen und Männern aus den Unterschichten und deren Folgen nicht verhin-

Sabine Veits-Falk, Mag. Dr. phil., Historikerin am Stadtarchiv Salzburg, Lehrbeauftragte an der Universität Salzburg, zahlreiche Publikationen und Vorträge zur Armutsgeschichte, Stadtgeschichte sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte. 1

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Archiv der Stadt Salzburg, Buchförmige Archivalien 1421, Armenkommissionsprotokoll 1799, S. 623. Sabine Veits-Falk: „Zeit der Noth“. Armut in Salzburg 1803–1870 (Salzburg Studien 2). Salzburg 2000, S. 39-42; Elisabeth Mantl: Heirat als Privileg. Obrigkeitliche Heiratsbeschränkungen in Tirol und Vorarlberg 1820–1920 (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 23). Wien-München 1997; Alfred Rinnerthaler, Der politische Ehekonsens im Herzogtum Salzburg. In: Salzburg in Geschichte & Politik. Mitteilungen der Dr.-HansLechner-Forschungsgesellschaft 2, 1992, Nr. 3/4, S. 259-304; vgl. jüngst auch Maria Sophie Appesbacher/Maria Angerer (1803–1878). Ein typisches Leben in der städtischen Unterschicht? In: Robert Hoffmann (Hg.): Auf den Spuren von Unbekannten. Zwölf Salzburger Lebensläufe des 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 22). Salzburg 2007, S. 35-52.

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dern.3 Der Anteil an ledigen Geburten erreichte zwar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht die Spitzenwerte des ausgehenden Jahrhunderts, betrug aber im österreichischen Durchschnitt immerhin rund 15 Prozent.4 In der Stadt Salzburg, wo um 1800 beinahe jedes dritte Kind unehelich geboren wurde, waren nach einem Bericht über die Jahre 1803 bis 1810 unter den „150 Kindern, die der Armenfond erhält, [...] 147 Uneheliche“.5 Anna Trexlerin wandte sich in ihrer Not an die Armenkommission6, da sie nicht gleichzeitig einer Erwerbstätigkeit nachgehen und sich um ihr Kind kümmern konnte. Sie hatte schon eine Lösung für das Kind, für sich und den Vater des Kindes gefunden, der wohl nicht im Stande war, für seinen Sohn finanziell aufzukommen. Wie eines von vielen anderen würde auch ihr Kind bei fremden Leuten aufwachsen, jedoch sogar eine Berufsausbildung erhalten. Für Frauen und Männer der unteren und kleinbürgerlichen Schichten, die kein Vermögen besaßen und keine Familie hatten, die sie im Notfall unterstützte, bedeutete das Nachlassen der körperlichen Kräfte im Alter oder bei Krankheit den nahezu unvermeidlichen Weg in die Armut, wie auch bei den folgenden Personen aus Seekirchen, deren Namen in einer Liste des Pfarrarmeninstituts aus dem Jahr 1833 aufscheinen.7 Der 60jährige „Häusler-Sohn“ Joseph Ausweger etwa war „kränklich und arbeits-

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Zum frühneuzeitlichen Delikt „Unzucht“ vgl. Peter Klammer: „In Unehren beschlaffen“. Unzucht vor kirchlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Salzburger Lungau (Wissenschaft und Religion 7). Frankfurt am Main u. a. 2003. Michael Mitterauer: Familienformen und Illegitimität in ländlichen Gebieten Österreichs. In: Archiv für Sozialgeschichte 29, 1979, S. 122-188, hier S. 185; vgl. auch Ellinor Forster: „Unzucht“ und „Ketzerey“ in Uttendorf. Sozialgeschichte eines Dorfes am Beispiel zweier „Delikte“ des 18. Jahrhunderts. In: Salzburg Archiv 28, 2002, S. 85128, hier bes. S. 91-107; Stefan Breit: „Leichtfertigkeit“ und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit. München 1991. Salzburger Landesarchiv, Regierung 1803–1810, Rubr. 47/1, Über die Armenanstalten in der Hauptstadt. Zur Salzburger Armenkommission vgl. Sabine Veits-Falk: Offene Armenfürsorge in der Stadt Salzburg. Armenkassen und das Wirken der städtischen Armenkommission. In: Helmut Bräuer (Hg.): Arme – ohne Chance? Protokoll der internationalen Tagung „Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ vom 23. bis 25. Oktober 2003 in Leipzig. Leipzig 2004, S. 223-249, hier S. 233-241; vgl. auch Alfred Stefan Weiß: „Providum imperium felix“. Glücklich ist eine voraussehende Regierung. Aspekte der Armen- und Gesundheitsfürsorge im Zeitalter der Aufklärung, dargestellt anhand Salzburger Quellen, ca. 1770–1803 (Dissertationen der Universität Salzburg 45). Wien 1997, S. 198. Stiftsarchiv Seekirchen, Armen=Versorgungs=Liste 1833.

Armut an der Wende zum Industriezeitalter

unfähig“, daher wurde die Einlage, also die Unterbringung bei Bauern in abwechselnder Reihenfolge, als Versorgungsform auf ein Jahr für ihn vorgesehen. Victoria Doll, eine ledige 63-jährige Inwohnerin im Nachtwächterhaus und Tochter eines bürgerlichen Maurers, war zwar „ihrer Lebtag in der Arbeit gewesen“, aber immer wieder dem „Müssiggange und dem Bettel“ nachgegangen – letzterem vermutlich als Überbrückung oder Zusatzverdienst zwischendurch. Bis jetzt hatte ihr das Armeninstitut jede Hilfe verweigert. Nun sei sie alt und „hat die Unterstützung“ notwendig. Für die Einlage zu alt, zu schwach und zu krank war hingegen Mathias Daun, ein verwitweter, ehemaliger bürgerlicher Siebmacher, der im Seekirchener Spital lebte. Das Armeninstitut klagte über die hohen Kosten, die der 76-jährige, ganz entkräftete und bettlägrige Mann, für den eine eigene Wärterin sorgen musste, verursachte: „Er ist solcher Gestalt gänzlich arm, und verursacht auch bedeutende Kosten für ärztliche Hilfe und Holz“. Noch im gesamten 19. Jahrhundert wurde das Alter nicht als ein Grundproblem der Armenpflege wahrgenommen. Das Alter war vielmehr ein nur unvollkommen beschriebener Zustand, der sich nicht so sehr nach Lebensjahren maß, als am Grad der Arbeitsfähigkeit. Es herrschte allerdings offenkundiges Einverständnis über die Unterstützungsbedürftigkeit armer, alter Menschen. Alter galt allgemein als „natürliche“ und zugleich Haupt-Verarmungsursache der Unterschichten.8 Margaretha Wucherer, eine 43-jährige ledige Vagantin, wurde vom Kreisamt Salzburg in das Pfleggericht Neumarkt abgeschoben und dort am 8. Mai 1833 verhört.9 Sie wurde in Nördlingen in Bayern als Tochter von „Inwohnersleuten, die sich mit Flanellmachen nährten“, geboren. Als

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Zum Zusammenhang von Alter und Armut vgl. Josef Ehmer: Sozialgeschichte des Alters. Frankfurt am Main 1990, S. 19-38; Ders.: Das Alter im historischen Wandel. In: Thomas Weidenholzer/Erich Marx (Hg.): Hundert Jahre „Versorgungshaus“ Nonntal. Zur Geschichte der Alters- und Armenversorgung der Stadt Salzburg (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 9). Salzburg 1998, S. 11-30; Siegfried Becker: „Junger Dienstknecht – alter Bettler“. Probleme des Alterns in Gesindeverhältnissen. In: Gerd Göckenjan (Hg.): Recht auf ein gesichertes Alter? Studien zur Geschichte der Alterssicherung in der Frühzeit der Sozialpolitik (Beiträge zur Sozialpolitik-Forschung 5). Augsburg 1990, S. 158-180, hier S. 166; Reinhard Sieder: Probleme des Alterns im Strukturwandel der Familie. In: Michael Mitterauer/Reinhard Sieder (Hg.): Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. 2. neu bearb. Aufl. München 1980, S. 175-187, hier S. 175-178; Peter Borscheid: Geschichte des Alters. Vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert. Münster 1989, S. 11. Stiftsarchiv Seekirchen, KC XXXV/16, Verhörsprotokoll vom 8. Mai 1833; vgl. auch Veits-Falk: „Zeit der Noth“ (wie Anm. 2), S. 70-74.

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Kind schloss sie sich professionellen, vagierenden Bettlern an, weil sie – wie sie zu Protokoll gab – von ihrem Stiefvater schlecht behandelt worden war, und kam so von Schwaben nach Salzburg, Tirol und Oberösterreich. Sie hatte vier uneheliche Kinder, aus deren Geburtsorten sich ein Teil ihrer Wanderroute rekonstruieren lässt: 1811 gebar sie ein Mädchen in Kaprun, 1813 einen Sohn in Kufstein, 1819 eine Tochter in Filzmoos und 1826 eine Tochter in Henndorf. Dazwischen hatte sie sich höchstwahrscheinlich auch in Braunau aufgehalten, denn der Vater ihrer ersten drei Kinder war dort Baderknecht. In einem weiteren Schriftstück werden auch Aufenthaltsorte in den Pfleggerichten Mattsee, Werfen und Mattighofen genannt.10 Das erste Kind lebte vermutlich etwa sechs Jahre bei der Mutter, zwei Kinder zogen bis zu ihrem 13. bzw. 14. Lebensjahr mit ihr umher, das jüngste gab sie schon als Kleinkind in Pflege. Margaretha Wucherer wanderte demnach also mindestens 15 Jahre in einer typischen Frau mit Kind(ern)-Konstellation. Zahlreiche vagierende Mütter behielten ihre kleinen Kinder bis zum oben genannten Alter auch deswegen bei sich, weil sie mit ihnen mehr Mitleid erregten und sich deshalb die Aussicht auf Almosen erhöhte.11 Ihrer eigenen Darstellung zufolge hielt sich Margaretha Wucherer nirgendwo lange auf und stand nie in einem festen Dienstverhältnis. Sie war also eine Vertreterin der permanent vagierenden Bevölkerungsschicht und war den Bauern des Pfleggerichts nur als „Tiroler Liesl“ bekannt, die „immer nie mehr als Nacht=Herberge gesucht, und nur etwa bey einfallender schlechter Witterung noch Unterstand auf einen Tag oder was gefunden hat“. Das Pfleggericht Neumarkt forderte nun das Pfarrarmeninstitut Seekirchen auf, Margaretha Wucherer und ihre jüngste Tochter, die bei einem Bauern im Pfleggericht Weitwörth (bei Oberndorf) in Pflege war, zu übernehmen.12

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Stiftsarchiv Seekirchen, KC XXXV/16, Schreiben des Kreisamts Salzburg an das Pfleggericht Neumarkt vom 10. April 1833. Vgl. Gerhard Ammerer: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 29). Wien-München 2003, S. 276-282; Wolfgang Scheffknecht: „Arme Weiber“. Bemerkungen zur Rolle der Frau in den Unterschichten und vagierenden Randgruppen der frühneuzeitlichen Gesellschaft. In: Alois Niederstätter/ Wolfgang Scheffknecht (Hg.): Hexe oder Hausfrau. Das Bild der Frau in der Geschichte Vorarlbergs, Sigmaringendorf 1991, S. 69-96, hier S. 95; Norbert Schindler: Die Mobilität der Salzburger Bettler im 17. Jahrhundert. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 19, 1989, H. 3, S. 85-91, hier S. 89; Claudia Ulbrich: Frauenarmut in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 40, 1992, S. 108-120, hier S. 115. Stiftsarchiv Seekirchen, KC XXXV/16, Resolut des Pfleggerichts vom 8. Mai 1833.

Armut an der Wende zum Industriezeitalter

Armutsursachen Armut konnte, wie die Beispiele gezeigt haben, in bestimmten Lebensphasen besonders häufig auftreten und stand mit körperlicher Leistungsfähigkeit und der daraus resultierenden Arbeitsfähigkeit in engem Zusammenhang. Robert Jütte geht beispielsweise von drei kritischen Punkten im Leben eines Menschen aus: Die erste Phase möglicher Armut begann in der Kindheit.13 Vor allem Kinderreichtum barg ein großes Armutsrisiko in sich, denn die finanziellen Möglichkeiten, die Kinder auch zu ernähren, waren sowohl bei ledigen Müttern als auch bei kinderreichen Familien schnell erschöpft oder erst gar nicht vorhanden. Bis etwa 14 oder 15 Jahre, solange sie keinem selbstständigen Erwerb nachgehen konnten, waren Kinder in den Unterschichten extrem armutsgefährdet. Der Beginn der zweiten kritischen Lebensphase wird für das 18. und frühe 19. Jahrhundert mit etwa 35 Jahren angenommen.14 Diese konnte vor allem verheiratete Personen betreffen, die bis zu ihrem 50. Lebensjahr durch die Geburt vieler Kinder15 und den Verlust des Ehepartners schnell an den Rand des Existenzminimums abgleiten konnten. Der dritte armutsgefährdete Lebensabschnitt umfasste das Alter. Armut war und ist auch ein geschlechtsspezifisches Problem, von dem Frauen stärker betroffen waren und sind als Männer.16 Frauen stellten meistens die Mehrheit der Fürsorgeempfangenden und hatten vermut-

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Robert Jütte: Poverty and Deviance in Early Modern Europe (New Apporaches to European History 4). Cambridge 1994, S. 22. Ebenda: S. 26. Zur Kinderarmut vgl. Peter Feldbauer: Kinderelend in Wien. Von der Armenpflege zur Jugendfürsorge (17.-19. Jahrhundert). Wien 1980; Reingard Witzmann: Das arme, verlassene und elende Kind: Hoffnungslos ist aussichtslos. In: Armut. Katalog zur 298. Sonderausstellung des historischen Museums der Stadt Wien. Wien 2002, S. 93-104; Margarete Buquoy: Die Armen auf dem Lande im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Strukturanalyse am Beispiel der Buquoyschen Herrschaft Gratzen in Südböhmen. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 26, 1985, H. 1, S. 37-78, hier S. 53 f. Vgl. dazu Elisabeth Vavra: Die Armut ist weiblich. In: Armut. Katalog zur 298. Sonderausstellung des historischen Museums der Stadt Wien. Wien 2002, S. 105-11; Karin Heitzmann: Ist Armut weiblich? Ursachen und Wege aus der Frauenarmut in Österreich. In: Informationen zur politischen Bildung, hg. vom Forum Politische Bildung (Informationen zur Politischen Bildung 26). Wien 2006, S. 41-48; Karin Heitzmann/Angelika Schmidt (Hg.): Frauenarmut. Hintergründe, Facetten, Perspektiven (Frauen, Forschung und Wirtschaft 11). Frankfurt am Main u. a. 2001.

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lich gegenüber armen Männern bessere Aussichten, eine Unterstützung zu erhalten. In der Stadt Salzburg gab es beispielsweise im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ungefähr vier bis sieben Mal mehr Wochenalmosen-Empfängerinnen als -Empfänger.17 Der Vorsitzende der städtischen Armenkommission meinte 1805 sogar, dass sich „unter 10 Armen nur 1 Mann befände“.18 Die Möglichkeiten von Frauen, einer qualifizierten Arbeit nachzugehen, waren jedoch weitaus geringer als die der Männer. Immer wieder klagten Frauen über mangelnde Arbeitsmöglichkeiten. Der Zugang zur Arbeit war für sie besonders schmal und einseitig.19 Alte Frauen und Männer, besonders lebenslänglich ledige Dienstboten, hatten hingegen auf dem Land – zumindest in Salzburg – ungefähr die gleiche Chance als arm anerkannt zu werden. Der etwas höhere Frauenanteil war vielleicht auf die höhere Lebenserwartung von Frauen, die bereits das fünfzigste Lebensjahr überschritten hatten,20 und auch auf die niedrigere Entlohnung zurückzuführen.21 Bedingt durch eingeschränkte Arbeitsfähigkeit oder -unfähigkeit lebten auch kranke, vor allem aber geistig und bzw. oder körperlich behinderte Menschen häufig in Armut. Viele Behinderungen resultierten aus mangelhafter Ernährung und unzureichender Hygiene, zahlreiche Verkrüppelungen gingen auf Arbeitsunfälle zurück. Die Kombination von Verletzungen bei der Geburt, Ruhigstellung von Säuglingen durch Einflößen von Alkohol oder Verabreichung von Mohn sowie einseitige und nährstoffarme Ernährung verursachte besonders bei Kleinst- und Kleinkindern oft schwere Beeinträchtigungen mit Langzeitfolgen. Möglicherweise bestand auch ein Zusammenhang zwischen Behinderung und den häufigen Trennungserfahrungen sowie der Vernachlässigung von Ziehkindern, die besonders in Gegenden mit hohen Illegitimitätsraten zu den leidvollen Erfahrungen der Bevölkerung zählten. Im obersteirischen Bezirk Murau, der im späten 19. Jahrhundert österreichweit den höchsten Ziehkinderanteil zu verzeichnen hatte, kamen 1880 beispielsweise 27 17 18

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Vgl. dazu ausführlich Veits-Falk: „Zeit der Noth“ (wie Anm. 2), S. 58-60. Friedrich Graf Spaur: Nachrichten ueber das Erzstift Salzburg nach der Säkularisation. In vertrauten Briefen. Bd. 2. Passau 1805, S. 58. Vgl. Helmut Bräuer: „…weilen Sie nit alzeit arbeit haben khan.“ Über die „Bettelweiber“ in Wien während der frühen Neuzeit. In: L’ Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 7, 1996, H. 1, S. 135-143, hier S. 138. Arthur E. Imhof: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren oder der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zu Leben und Sterben. Ein historischer Essay. München 1981, S. 79, S. 83. Veits-Falk: „Zeit der Noth“ (wie Anm. 2), S. 61-68.

Armut an der Wende zum Industriezeitalter

Menschen mit Behinderung auf 1.000 Einwohner, während der Österreich-Durchschnitt bei 5 Behinderten pro 1.000 Einwohner lag.22 Neben diesen individuellen Armutsursachen konnten sich auch ökonomische Veränderungen auf die Existenzsicherung von Angehörigen der städtischen und ländlichen Unterschichten negativ auswirken. Die sich in einzelnen Regionen Österreichs entwickelnde Protoindustrie hatte unterschiedliche Auswirkungen auf Lebenschancen und Lebensstandard eines großen Teils der Bevölkerung, v. a. der ländlichen Unterschichten, die – wie Gerhard Ammerer anmerkt – bis dato für Österreich noch nicht systematisch erforscht sind.23 Die Verschiebungen im sozialen Gefüge, die sich in der Phase der Frühindustrialisierung herausgebildet hatten, führten offensichtlich zu labilen Konstruktionen von Lebenssicherung an der Grenze zu Dürftigkeit und Not. Die Hausindustrie bot etwa die Möglichkeit, außerhalb der patriarchalen Abhängigkeiten einen Hausstand zu gründen und früh zu heiraten. Im Raum Wien und Niederösterreich fanden zehntausende Menschen in den wenigen Großfabriken bzw. Manufakturen vor allem auf Textil-Verlagsbasis Arbeit. Andererseits wuchs damit auch der Anteil der vermögenslosen, ungelernten Fabriks- und Verlagsarbeiter und -arbeiterinnen. Als um 1800 der Einsatz der neu entwickelten Spinnmaschinen Tausende von Verdienstmöglichkeiten vernichtete, sank in Niederösterreich innerhalb von wenigen Jahren die Anzahl der Handspinnerinnen und -spinner von 100.000 auf 8.000 im Jahr 1807.24

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Georg Wiesinger: Irrsinn und Landleben. Modelle einer Behindertenintegration in der Landwirtschaft (Bundesanstalt für Bergbauerfragen. Forschungsbericht 28). Wien 1991, S. 24; Inghwio aus der Schmitten: Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung. Salzburg 1985; Franz Valentin Zillner: Ueber Idiotie mit besonderer Rücksicht auf das Stadtgebiet Salzburg. Pathologisch-anatomische und statistische Studie zur Naturgeschichte dieser Volkskrankheit. Jena 1860; Nora Watteck: Lappen, Fexen und Sonderlinge in Salzburg. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 118, 1978, S. 225-256. Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 11), S. 71. Ammerer verweist darauf, dass im Gegensatz zu Österreich für Deutschland die Auswirkungen der Frühindustrialisierung in regionaler Hinsicht besser erforscht sind und höchst differierende Ergebnisse vorliegen; vgl. Clemens Zimmermann: Dorf und Land in der Sozialgeschichte. In: Wolfgang Schieder/ Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklung und Perspektiven im internationalen Zusammenhang. Bd. 2: Handlungsräume der Menschen in der Geschichte. Göttingen 1986, S. 90-112, hier S. 101. Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 11), S. 54-57; Herbert Matis: Protoindustrialisierung und „Industrielle Revolution“ am Beispiel der Baumwollindustrie Niederösterreichs. In: Andrea Komlosy (Hg.): Spinnen – Spulen – Weben. Leben und Arbeiten im Wald-

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Besonders der gesellschaftliche Randbereich der ‚Grenzexistenzen‘ weitete sich infolge der Strukturveränderungen im gewerblich-industriellen Sektor aus.25 Dazu kam noch eine größere Abhängigkeit der Menschen von der Natur. Brände, Hochwässer und andere Umweltkatastrophen waren zusätzliche Ursachen, die über ganze Dörfer, Märkte und Landstriche Armut brachten. Für einen Großteil der Bevölkerung galt die Sicherung der Nahrung als zentrales Lebensprinzip und Hunger zählte zu den Alltagserfahrungen der meisten Menschen. In den in diesem Beitrag behandelten Zeitraum der „Wende zum Industriezeitalter“, grob gesprochen die Spanne vom späten 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert, fallen etwa die große Hungerkatastrophe von 1770–72,26 die Missernten der Jahre 1803 und 1805,27 das Katastrophenjahr 1816,28 das in der Klimageschichte als „Jahr ohne Sommer“ gilt und schließlich noch die Hungernot 1847/48, die Wilhelm Abel noch als Notjahr „alter Ordnung“ bezeichnet.29 Hunger- und Mangeljahre führten zu zahlreichen Krankheiten, einer höheren Seuchenanfälligkeit und zu einer Zunahme der Fehlgeburten, die wiederum die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigten, sowie zu einer erhöhten Sterblichkeit. Für heutige Leserinnen und Leser schonungslos schildert ein Mediziner 1817 die Symptome und Folgen des Hungers: „Die Hungersnoth ist unter allen die schrecklichste Plage der Menschen, sie übertrifft Krieg und Pest; der Hunger brachte schauderhafte Zufälle an Menschen hervor, als, stinkenden Athem, Wackeln der Zähne, unerträgliche Magenschmerzen, Faulfieber, wahre Wuth und Tod; [...] in dieser allertraurigsten Lage ha-

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viertel und anderen ländlichen Textilregionen (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 32). Krems 1991, S. 15-48, hier S. 20. Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 11), S. 61. Vgl. dazu Erika Weinzierl-Fischer: Die Bekämpfung der Hungersnot 1770–1772 in Böhmen durch Maria Theresia und Josef II. In: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 7, 1954, S. 478-514; Gerhard Ammerer: Von Franz Anton von Harrach bis Siegmund Christoph von Schrattenbach. Eine Zeit des Niedergangs. In: Heinz Dopsch/ Hans Spatzenegger (Hg.): Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II/1. Salzburg 1988, S. 245-324, hier S. 322 f. Vgl. auch Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland. 3. Aufl. Göttingen 1986, S. 54. Rüdiger Glaser: Klimageschichte – Spiegel des Klimas? In: Historicum. Frühling 1993, S. 7-14, hier S. 13: Ursache waren Vulkanausbrüche des Tambora in Indonesien, die nachweislich in Nordamerika und Europa zu Temperaturrückgängen (Mitteltemperatur des Sommers) von 1,5 Grad im Oberrheingraben, von 2,4 Grad in Berlin und bis zu 3,89 Grad in Mailand geführt hatten. Abel: Massenarmut (wie Anm. 27), S. 57.

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ben die Menschen oft zu Dingen ihre Zuflucht genommen, wodurch sie noch eher starben, zu Dingen, die nicht nährten, giftig, unverdaulich waren; auf Misthaufen gruben Kinder Knochen heraus und nagten an denselben; Gyps, Kalk, Asche, Baumrinde, Gras, Saamengehäuse verschlangen sie in der Wuth des Hungers [...]“.30 Fatal konnte sich vor allem für die Angehörigen der Unterschicht das Zusammenspiel verschiedener Armutsursachen auswirken. Besonders jener Personenkreis, der nicht in der Lage war, Rücklagen zu bilden, oder keine Verwandtschaft hinter sich hatte, die im Notfall helfend eingriff, geriet schnell in eine ausweglose Situation.31

Wahrnehmungen von Armut: Würdige und Unwürdige – Zuständigkeit 1772/73, kurz nach seinem Regierungsantritt, ließ der Salzburger Erzbischof Hieronymus Graf Colloredo zwei umfangreiche Gutachten über den Zustand des Armenwesens in Stadt und Land Salzburg erstellen,32 um den „wahrhaft Notleidenden“ mit wirksamen Mitteln zu helfen und den „schädlichen öffentlichen Bettel und Müssiggang“ abzustellen. Auch in Wien erschien Mitte des 18. Jahrhunderts eine ähnliche Schrift.33 Diese Berichte über Zustand und Ursachen von Armut im regionalen Umfeld sind nicht nur hinsichtlich ihres Inhalts von Interesse, sondern zugleich auch ein Zeugnis für eine ernst gemeinte Auseinandersetzung mit der Armuts- und Bettelproblematik von Seiten der Obrigkeit. In den Salz30

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Wolfgang Oberlechner: Wie kann man sich bey großer Theuerung und Hungersnoth ohne Getreid gesundes Brod verschaffen. Ein Gespräch. Salzburg 1816, S. 14 f. Vgl. dazu auch die Definition von Armut von Ernst Schubert: Arme Leute. Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/26). 2., ergänzte Aufl. Neustadt a. d. Aisch 1990, S. 96 f. Salzburger Landesarchiv, HS 48 und 49: Jedes der undatierten, anonymen Gutachten umfasst ca. 150 Seiten. Der Verfasser war mit großer Wahrscheinlichkeit Hofrat Josef von Edlenbach, der auch Mitglied der städtischen Armenkommission war und noch andere kleinere Berichte über das Armenwesen verfasste; vgl. Salzburger Landesarchiv, Frank-Kartei, Schlossgängl von Edlenbach, Josef; Johann Ernst Tettinek: Die Armen-, Versorgungs- und Heilanstalten im Herzogthume Salzburg. Salzburg 1850, S. 3. Vgl. Helmut Bräuer: Nachdenken über den Bettel um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein Beispiel aus Wien. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 5. Aufklärung in Europa. Köln-Weimar-Wien 1999, S. 365-390 mit einer Edition der Handschrift aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv über Empfehlungen zur Bettlerbekämpfung und Armenversorgung in Wien und im Umland der Residenz aus der Mitte des 18. Jahrhunderts.

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burger „Relationen“ nimmt die Frage nach der Herkunft und Zuständigkeit der mittellosen Personen eine zentrale Stellung ein. Hier wird deutlich, dass die in der Frühen Neuzeit grundgelegten Prinzipien der Kommunalisierung, Rationalisierung, Hierarchisierung und Pädagogisierung beibehalten, verfeinert und verschärft wurden. Die Polarisierung zwischen Armenfürsorge auf der einen und Bettelbekämpfung auf der anderen Seite war zu einem Grundprinzip erhoben worden. Dabei war die örtliche Zuständigkeit wichtigste Voraussetzung. Nur wer das so genannte „Domicilium“ besaß, hatte Anspruch auf öffentliche Unterstützung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bezog sich das Domizilsrecht – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf die Gemeinde der Geburt oder auf den zehnjährigen Aufenthalt. Die gesetzlichen Bestimmungen dieses Heimatprinzips wurden bereits 1552 in der Polizeiordnung Ferdinands II. erstmals formuliert. Kaiserin Maria Theresia führte dann die Regelung des zehnjährigen Aufenthalts (Bettlerschubund Verpflegungspatent 1754) als Voraussetzung für eine Armenunterstützung ein.34 Das Reichsheimatgesetz von 1863 verschärfte das Heimatrecht, indem der zehnjährige Aufenthalt fiel und es nun im Ermessen der Gemeinden lag, wer das Heimatrecht erhielt und wer nicht.35 Neben der Zuständigkeit wurde auch die „alte“, das heißt für die Frühe Neuzeit so typische Kategorisierung in „Würdige“ und „Unwürdige“ noch weiter ausdifferenziert: In einem 1809 im Salzburger Intelligenz34

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Zu den genaueren Bestimmungen in den Kronländern vgl. Harald Wendelin: Schub und Heimatrecht. In: Waltraud Heindl /Edith Saurer (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867. Wien-Köln-Weimar 2000, S. 173-243. Sabine Veits-Falk: Öffentliche Armenfürsorge in Österreich im 19. Jahrhundert. In: Alexander Prenninger (Hg.): „Mercy or Right“. Development of Social Security Systems. 40. Linzer Konferenz der Internationalen Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen, 16. bis 19. September 2004 (ITH-Tagungsberichte 39). Wien 2005, S. 31-44; Hannes Stekl, Soziale Sicherung und Soziale Kontrolle. Zur österreichischen Armengesetzgebung des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Bericht über den vierzehnten österreichischen Historikertag in Wien (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Geschichtsvereine 22). Wien 1979, S. 145; Peter Gutschner: Von der kommunalen Armenpflege zur staatlichen Versicherung. Altersversorgung im 19. und 20. Jahrhundert. In: Thomas Weidenholzer/Erich Marx (Hg.): Hundert Jahre „Versorgungshaus“ Nonntal. Zur Geschichte der Alters- und Armenversorgung der Stadt Salzburg (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 9). Salzburg 1998, S. 31-66, hier S. 42; Rudolph Korb: Die Nothwendigkeit einer Reform des österreichischen Heimatrechts. In: Oesterreichische Zeitschrift für Verwaltung, 27. 10. 1881, S. 177-179, hier S. 177.

Armut an der Wende zum Industriezeitalter

blatt erschienenen Artikel wurden die „wahren Armen“ folgendermaßen charakterisiert: „Der Arme“ [der Verfasser unterscheidet hier zwischen (unwürdigen) Bettlern und (würdigen) Armen] „schließt seinen Kummer in sein Herz ein; er arbeitet, und so lange er durch Arbeiten sich nähren kann, wird er Andern sicher mit Bitten nicht lästig fallen. Er begnügt sich mit Wenigem. Er fühlt seine Menschenwürde, die der Bettler bereits weggeworfen hat und wünscht durch Arbeiten Andern nützlich werden zu können. Kommt es so weit, daß er zur fremden Unterstützung seine Zuflucht nehmen muß, so geschieht dieß mit Schamhaftigkeit. Ein saueres Geschäft ist ihm das Allmosensammeln und Allmosennehmen“.36 Der wirklich Arme leidet demnach still und muss sich überwinden, um zum Bettelstab zu greifen und bettelt nur aus Not und mit Scham. Dieser Artikel appelliert an das Mitgefühl der Leserinnen und Leser. Der gleiche Autor schreibt hingegen über Bettler: „Die muthwilligen, schlechten Bettler bezeichnete man als frech, unverschämt, faul, böse, heuchlerisch, schamlos etc. Gewöhnlich leyert er [der Bettler] etwas herab, und das soll Gebeth seyn. Aber er denkt, er fühlt bey dem, was er herableyert, nicht das Mindeste. Wird ihm keine Gabe verabreicht, dann kommen aus seinem Munde Fluch=, Schelt= und Schimpfworte“.37 Jede Unterstützung sei demnach fehl am Platz. Unglaublich emotional charakterisierte 1809 der Arzt Wolfgang Oberlechner „unwürdige“ Bettler: „Ich habe Bettler gesehen, die todte Mäuse frassen, den Magen mit Speisen überfüllten, selbe in die Rocktasche erbrachen, und wieder speiseten, Bettler, welche an ihrem eigenen Koth nagten, weder Stuel noch Urin halten konnten und auf einem Karn von Hause zu Hause geführt werden mußten, und bey dem Vieh im Stalle übernachteten; Bettler, die ihre Kropfgeschwüre bey dem Eintritte in die Häuser ausdrückten, daß grüngelbes Eiter über die nackte Brust herabrann […]“.38 Die meisten Artikel über Armut waren seriöser als dieses hier bewusst ausgewählte, polemisch-abstoßende Beispiel. Sie alle führen aber mehr als deutlich vor Augen, wie ausgefeilt die schon seit der Frühen Neuzeit bestehende Dichotomie zwischen „Würdigen“ und „Unwürdigen“ um 1800 war. Schon im 16. Jahrhundert hatte die Publizistik vor falschen Bettlern gewarnt. Während der bekannte „Liber Vagatorum“ (1510) die zahlreichen Varianten des Betrugbettels aufdecken wollte und die Grup-

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Intelligenzblatt von Salzburg 1809, St. 3, Ueber weise Wohltätigkeit. Ebenda. Intelligenzblatt von Salzburg 1809, St. 1, Ueber Kultur der Bettler.

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pe der Bettler damit pauschal kriminalisierte,39 haben die hier geschilderten Bettler jede Menschenwürde verloren und sind eigentlich nur mehr Kreaturen. Sie brechen Tabus (wie z. B. am Kot nagen) und ihre Anwesenheit, ja schon allein ihr Anblick ist unerträglich. Oberlechner setzt hier ganz bewusst auf die Ekel erregende Wirkung seiner Beschreibung, die Abscheu erzeugt und auf Distanz und Ausgrenzung abzielt. Einen ganz anderen Eindruck vermitteln hingegen die meisten Bildquellen aus dieser Zeit.40 Anhand von drei exemplarisch ausgewählten Bildern soll im Folgenden ein kursorischer Blick auf die Wahrnehmung und Visualisierung von Armut durch das Medium Bild geworfen werden. Das von Christian Dietrich (gest. 1774) mit „Bettelvolk“ betitelte Ölbild41 stammt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zeigt drei Bettler, die durch ihr zerfetztes Einheitsgewand, ihre Körperhaltung und ihren Gesichtsausdruck Misstrauen und Argwohn im Betrachtenden hervorrufen. Es ist eines der wenigen Beispiele für die bildliche Umsetzung der publizistisch propagierten Negativ-Meinungen über „unwürdige“ Bettler. Eine ganz andere Botschaft vermittelt hingegen das zweite Bild, das von Franz Xaver Hornöck42 aus dem Jahr 1796 stammt: Aus einem Tor- oder Arkadenbogen treten eine Bettlerin und ein Bettler über zwei Stufen herab. Die Kleidung der beiden ist auch schäbig und zerlumpt, der bärtige Mann trägt einen Hut, auf dessen Krempe ein Löffel befestigt ist – ein seit dem

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Martin Scheutz: Ausgesperrt und gejagt, geduldet und versteckt. Bettlervisitationen im Niederösterreich des 18. Jahrhunderts (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 34). St. Pölten 2003, S. 24; vgl. auch Ernst Schubert: Randgruppen in der Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts. In: Bernhard Kirchgässner/ Fritz Reuter (Hg.): Städtische Randgruppen und Minderheiten. Sigmaringen 1986, S. 129160, hier S. 142-160; Gerhard Ammerer: „… ein handwerksmässiges Gewerbe …“. Bettel und Bettelpraktiken von Vagierenden im Ancien Régime. In: Österreich in Geschichte und Literatur 47, 2003, H. 2b-3, S. 98-118. Gerhard Ammerer/Sabine Veits-Falk: Die Visualisierung des Bettelns. Geben und Nehmen zwischen Mildtätigkeit und Sozialkritik an bildlichen Beispielen Österreichs und Süddeutschlands vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 89, 2007, H. 2, S. 301-328. Vgl. auch Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 11), S. 334. Zu Franz Xaver Hornöck (1752–1822) vgl. Edgar Krausen: Franz Xaver Hornöck. Ein Maler an der Wende vom Rokoko zum Biedermeier. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 1961 (101), S. 297-308; vgl. auch Sabine Veits-Falk: Pittoreske Armut. Ein Bettlerquartett aus der Mitte des 18. Jahrhunderts (SMCA, kunstwerk des monats), 14. Jg. August 2001, Blatt 180.

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Armut an der Wende zum Industriezeitalter Abb. 1: Christian W. E. Dietrich, Bettelvolk, Ende 18. Jahrhundert, Öl auf Holz. (© Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

Abb. 2: Franz Xaver Hornöck, Bettler und Bettlerin, 1796, Öl auf Leinwand. (© Salzburg Museum)

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Sabine Veits-Falk Abb. 3: Peter Fendi, Der Frierende Brezelbub vor der Dominikanerbastei, 1828, Öl auf Holz. (© Wien Museum)

Mittelalter geläufiges Zeichen für Hunger und Nahrungssuche.43 Der Maler legte jedoch den Horizont des Bildes auf der obersten Stufe fest. Dadurch wird dem Betrachtenden die Möglichkeit genommen, auf die beiden ungepflegten Gestalten herabzublicken – sie/er muss sogar ein wenig aufblicken, um dem Bettlerpaar ins Gesicht sehen zu können. Im Zentrum des Bogensegments befindet sich das Dreieckssymbol des Auge Gottes, ein Symbol für die allwissende Aufmerksamkeit Gottes auf die Menschen. Das belehrende Element der Aufklärung und die bewusste Anwendung der Perspektive bestimmen die Aussage des Bildes, das die Forderung beinhaltet, nicht auf andere Menschen, wenn sie auch noch so abstoßend wirken, herabzublicken – und steht damit in krassem Widerspruch zum vorigen Textbeispiel, dem Zeitungsartikel Oberlechners über „unwürdige“ Bettler. Daneben überwogen auch im frühen 19. Jahrhundert Darstellungen, die an die christliche Nächstenliebe appellierten und Mitleid erweckten, 43

Der Soziologe Roland Girtler weist darauf hin, dass auch gegenwärtig sogenannte Sandler immer einen Löffel bei sich haben. Vgl. Roland Girtler: Randkulturen. Theorien der Unanständigkeit. Wien-Köln-Weimar 1995, S. 53.

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wie z. B. die Graphiken von Joseph Bergler. Er zeichnete arme Menschen, illustrierte Bibelzitate, thematisierte die Sieben Werke der Barmherzigkeit und knüpfte somit direkt an mittelalterliche Darstellungen an.44 Nicht wenige Wiener Maler visualisierten im frühen 19. Jahrhundert die Erkenntnis, dass ein würdiger, zur Bettelei gezwungener Charakter den Betrachter emotional bewegt und rührt, besonders wenn es sich dabei um Kinder handelt, wie es beispielsweise Peter Fendi in „Frierender Brezelbub vor der Dominikanerbastei“ (1828)45 vorführt. Um den Betrachtenden nicht mit der harten Realität zu konfrontieren, sozusagen um ihn zu schonen, muss Fendis Brezelbub lieblich und wohlgenährt erscheinen. Der Junge bettelt auch nicht, sondern versucht mit anständiger Arbeit, mit dem Verkauf von Brezeln, zu Geld zu kommen. Nur ein Hund ist sein Begleiter. Derartige Szenen der Barmherzigkeit fanden in Österreich vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Gestalt eines idyllischsentimentalen Pseudo-Realismus Eingang in die Bildsprache, die vor allem auf die Erzeugung von Mitgefühl abzielte. Wie bereits Elisabeth Sudeck 1931 feststellte,46 ist gerade bei Armutsdarstellungen eine variierende Sprunghaftigkeit und eine schwer fixierbare Gesetzmäßigkeit charakteristisch. Bei einem Vergleich von schriftlichen mit bildlichen Quellen zur Armut zeigt sich, dass Bilder in ihrer affektiven Wirkung ganz andere Einblicke in die Welt der Armut geben und Sichtweisen eröffnen, die in schriftlichen Überlieferungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts kaum mehr oder selten thematisiert werden. Bilder sind daher eine wichtige Ergänzung bzw. ein Korrektiv zu unseren Vorstellungen vom Umgang mit Armut.

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Sabine Falk-Veits: Joseph Bergler d. J. (1753–1829): Fünf Bilder zur Armut (aus dem SMCA). Versuch einer historischen Bildanalyse. In: Salzburg Archiv 18 (1994), S. 135150; Sabine Veits-Falk: Der Wandel des Begriffs Armut um 1800. Reflexionen anhand Salzburger Quellen. In: Christoph Kühberger/Clemens Sedmak (Hg.): Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung. Wien 2005, S. 36-39. Vgl. Gerbert Frodl/Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Wiener Biedermeier. Malerei zwischen Wiener Kongreß und Revolution, Katalogbuch zur vom Kunstforum der Bank Austria und der Österreichischen Galerie Wien von 31. März bis 27. Juni 1993 veranstalteten Ausstellung. München 1992, Tafel 36; vgl. dazu auch Klaus Albrecht Schröder: Kunst als Erzählung. Theorie und Ästhetik der Genremalerei. In: Ebenda: S. 9-34, hier bes. S. 16-22; vgl. jüngst Klaus Albrecht Schröder/Maria Luise Sterndt (Hg.): Peter Fendi und sein Kreis. Katalog zur 450. Ausstellung der Albertina 22. Mai bis 7. Juni 2007. Wien 2007. Elisabeth Sudeck: Bettlerdarstellungen vom Ende des XV. Jahrhunderts bis zu Rembrandt (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 279). Straßburg 1931.

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Reaktionen auf Armut: Armenfürsorge und Bettelbekämpfung Welche Maßnahmen zur Eindämmung von Armut und Bettel wurden nun neben allen programmatischen Bekenntnissen bzw. via Bild vermittelten Botschaften an der Wende zum Industriezeitalter in der Realität ergriffen? Dem zeitgenössischen Dualismus zwischen Armenfürsorge auf der einen und Bettelbekämpfung auf der anderen Seite entsprechend, sollen im Folgenden die wichtigsten Einrichtungen bzw. Maßnahmen kurz vorgestellt werden. Eine wichtige, jedoch aufgrund der Aufnahmekapazität bescheidene Funktion kam den Einrichtungen der geschlossenen Armenfürsorge zu, die im Untersuchungszeitraum zu einem überwiegenden Teil noch die Tradition der Multifunktionalität der alten, zum Teil im Hoch- und Spätmittelalter gegründeten Hospitäler aufrechthielten. Spitäler, Bruderhäuser, Armenhäuser wurden in der Regel von Städten, Märkten oder Zentralorten bzw. kirchlichen oder privaten Trägern verwaltet, meist auf Grundlage von Stiftungen von Bürgerinnen und Bürgern.47 Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wandelte sich jedoch in den großen Städten bei Neugründungen der Charakter der geschlossenen Einrichtungen, indem eine funktionale Spezialisierung und Differenzierung der Spitäler erfolgte. Eine erste Ausdifferenzierung fand bereits unter Maria Theresia statt: 1742 wurde beispielsweise in Wien ein Waisenhaus und 1779 eine Taubstummenanstalt eröffnet. 1784 wurde unter Joseph II. das Wiener „Großarmenhaus“ nach umfangreichen Umbauten als neues „Allgemeines Krankenhaus“ seiner Bestimmung übergeben. 47

Vgl. Alfred Stefan Weiß: Aus Unglück arm geworden. Lebensbedingungen in Bürgerspitälern während der Frühen Neuzeit (mit einem Ausblick ins 19. Jahrhundert) – Beispiele aus Kärnten und Salzburg. In: Helmut Bräuer (Hg.): Arme – ohne Chance? Protokoll der internationalen Tagung „Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ vom 23. bis 25. Oktober 2003 in Leipzig. Leipzig 2004, S. 191-221; Alfred Stefan Weiß: „Providum imperium felix“ (wie Anm. 6), S. 98 f., S. 103-107; Brigitte Pohl-Resl: Rechnen mit der Ewigkeit. Das Wiener Bürgerspital. Wien 1996; Alfred Stefan Weiß/Peter F. Kramml: Das Bürgerspital. Lebensbedingungen in einem bürgerlichen Versorgungshaus und „Altenheim“. In: Thomas Weidenholzer/ Erich Marx (Hg.): Hundert Jahre „Versorgungshaus“ Nonntal. Zur Geschichte der Alters- und Armenversorgung der Stadt Salzburg, Salzburg 1998, S. 67-110; Georg Stadler: Das Bürgerspital St. Blasius zu Salzburg, Salzburg 1985; als Beispiel einer Privat-Stiftung siehe Sabine Veits-Falk: Die Matthias Bayrhammer’sche Armen- und Suppenstiftung in Seekirchen: Nur für „sittlich würdige Armen“, nicht aber für „alte Lumpen und unverbesserliche Säufer“. In: Elisabeth und Heinz Dopsch (Hg.): 1300 Jahre Seekirchen. Geschichte und Kultur einer Salzburger Marktgemeinde. Seekirchen 1996, S. 705-714.

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Damit war eine ursprünglich multifunktionale Armen- und Alten-Versorgungseinrichtung in eine medizinische Institution umgewandelt worden.48 Im gleichen Jahr wurde daneben ein Gebär- und Findelhaus errichtet, das der Eindämmung des von Aufklärern heftig kritisierten Kindsmords dienen sollte. Die ledigen, überwiegend armen Mütter konnten hier ihre Kinder anonym zur Welt bringen.49 Ebenfalls 1784 wurde in Wien ein „Irrenhaus“, das im sogenannten „Narrenturm“ untergebracht war, seiner Bestimmung übergeben.50 Dem Wiener Beispiel folgten auf heutigem Staatsgebiet weitere Neugründungen, wie z. B. 1788 in Linz und Graz oder 1789 in Klagenfurt.51 In Salzburg war bereits 1783 ein „Irrenhaus“52 eröffnet worden. Die Errichtung von speziellen Institutionen für Geisteskranke manifestiert zugleich auch den Beginn der Geschichte eines Ausschlusses geisteskranker Menschen aus der Gesellschaft. Der größte Teil der Armen wurde jedoch durch offene Fürsorge unterstützt. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde etwa in Wien eine eigene Kommission zur Aufsicht über die große Anzahl an Spitälern, aber auch über die Armenkassa eingerichtet. Die aus Haus- und Kirchensammlungen gespeiste Wiener „Cassa pauperum“ sollte ursprünglich die Armen und Kranken, die keine Aufnahme in Spitäler fanden, unterstützen, war aber bald für die Versorgung aller Wiener Armen zuständig. Auch das Kaiserhaus stiftete aus der Privatschatulle jährlich einen Beitrag, der aus der sogenannten „Hofalmosenkassa“ kam.53 Aus diesen Armenkassen wurden regelmäßige Unterstützungen, das „bestimmte“ oder „Wochenalmosen“ – wie etwa auch in dem eingangs 48

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Helmut Wyklicky/Manfred Skopec (Hg.): 200 Jahre Allgemeines Krankenhaus in Wien. Wien 1984; Bernhard Grois: Das Allgemeine Krankenhaus in Wien und seine Geschichte. Wien 1965. Verena Pawlowsky: Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784– 1910. Innsbruck 2001; Ingrid Matschinegg/Verena Pawlowsky/Rosa Zechner: Mütter im Dienst – Kinder in Kost. Das Wiener Findelhaus, eine Fürsorgeeinrichtung für ledige Frauen und deren Kinder. In: L’ Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 5, 1994, H. 2, S. 61-80. Sylvia Mattl-Wurm: Wien vom Barock bis zur Aufklärung (Geschichte Wiens 4). Wien 1999, S. 81 f. Carlos Watzka: Arme, Kranke, Verrückte. Hospitäler und Krankenhäuser in der Steiermark vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und ihre Bedeutung mit dem Umgang von psychisch Kranken. Graz 2007. Harald Waitzbauer: Vom Irrenhaus zur Christian-Doppler-Klinik. 100 Jahre Salzburger Landesnervenklinik 1898–1998. Salzburg 1998, S. 18-20. Scheutz: Ausgesperrt (wie Anm. 35), S. 63; Karl Weiss: Geschichte der öffentlichen Anstalten, Fonde und Stiftungen für die Armenversorgung in Wien. Wien 1867.

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vorgestellten Quellenbeispiel – gewährt. Daneben gab es Zuwendungen für vorübergehend in Not Geratene, z. B. in Form eines „unbestimmten“ oder „Handalmosens“.54 Im Bereich der offenen Armenfürsorge kam es während der Regierungszeit von Joseph II. zur wichtigsten Reform des österreichischen Armenwesens des 18. Jahrhunderts. Mit der Einführung der „Josephinischen Pfarrarmeninstitute“, die auf eine Privatinitiative des südböhmischen Adeligen Johann von Buquoy55 zurückgingen, wurden erste Versuche unternommen, das Armenwesen zu zentralisieren, wobei dafür ein offenes, nicht institutionalisiertes System herangezogen wurde. Nach einer kurzen Anlaufzeit führte Kaiser Joseph II. dieses Modell zuerst in Wien und Niederösterreich und 1783 dann in der gesamten Monarchie ein (in Salzburg erst 1827).56 Diese „Institute“ waren keine Einrichtungen im Sinne von geschlossenen Institutionen, sondern eine Organisationsform zur gezielten Sammlung und Verteilung von Almosen. Sie sollten der Versorgung der einheimischen Armen und der Bekämpfung der vagierenden Bettler dienen und die Arbeitsunfähigkeit wurde das entscheidende Kriterium der Unterstützung.57 Dabei wurde der Kirche die ihr traditionell zugedachte Rolle der tätigen Nächstenliebe übertragen und diese zugleich in personeller Hinsicht organisatorisch und religiös-emotional eingebunden. Die Pfarrarmeninstitute standen unter der Leitung des Pfarrers und wurden von ehrenamtlichen, gewählten Armenvätern betreut. Als Einteilungsmodus dienten ursprünglich die Pfarrsprengel. Um 1800 war Wien in 32 Pfarrbezirke eingeteilt, in denen 70 bis 80 „Armenväter“ tätig waren.58

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Veits-Falk: Offene Armenfürsorge (wie Anm. 6), S. 223-231. Zur Person von Johann von Buquoy (1741–1803) als einem Vertreter des aufgeklärten Reformkatholizismus vgl. Margarete Buquoy: Das Buquoysche Armeninstitut – Vorläufer der staatlichen Fürsorge. In: Zeitschrift für Ostforschung 3, 1982, S. 255-270, hier S. 255 f.; Dies.: Die Armen auf dem Lande (wie Anm. 15), S. 41. Sabine Veits-Falk: „Zeit der Noth“ (wie Anm. 2), S. 169-172; Barbara Malle: Entwicklung und Tendenzen in der Armenversorgung, der Armengesetzgebung und der Armenpolitik von Joseph II. bis zur Einführung der reichsrechtlichen Fürsorgebestimmungen im Jahre 1938. Masch. rechtswiss. Diss. Graz 1991. Sabine Veits-Falk: Öffentliche Armenfürsorge (wie Anm. 35), S. 32-33; Scheutz: Ausgesperrt (wie Anm. 35), S. 67. Scheutz: Ausgesperrt (wie Anm. 35), S. 69 f.; Elisabeth Rachholz: Zur Armenfürsorge der Stadt Wien von 1740 bis 1904. Von der privaten zur städtischen Fürsorge. Masch. phil. Diss. Wien 1970, S. 63; Ernst Mischler: Armenpflege. In: Ders./ Josef Ulbrich: Oesterreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesammten österreichischen öffentlichen Rechtes. Bd. 1. Wien 1895, S. 64-80, hier S. 65 f.

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Die finanzielle Basis der Pfarrarmeninstitute bildete zwar das Vermögen der unter Joseph II. 1783 aufgehobenen Bruderschaften, die laufenden Kosten wurden durch freiwillige Subskriptionen (Personen verpflichten sich zu regelmäßigen Zahlungen), Gelder aus Sammelbüchsen und Opferstöcken, minimale Prozentsätze (ein bis zwei Prozent) von Nachlässen oder Versteigerungen sowie durch Strafgelder und Vergnügungsabgaben finanziert.59 Eine wichtige Maßnahme in Richtung Säkularisierung des Armenwesens bedeutete 1798 die Miteinbindung der Kommunen – neben dem Pfarrer und den Armenvätern – in die Rechnungslegung. Die josephinischen Pfarrarmeninstitute stellten somit die Basis der öffentlichen, allmählich von der Kirche entkoppelten Armenversorgung im 19. Jahrhundert dar und führten nach 1848 die politischen Gemeinden als Trägerinnen der Armenversorgung ein.60 Ab der Jahrhundertmitte wurden die Pfarrarmeninstitute in den einzelnen Ländern der Habsburgermonarchie aufgehoben und neue Landes-Armengesetze erlassen, denen die nähere inhaltliche Ausführung der Armenfürsorge vorbehalten war.61 Obwohl die Innovation Joseph II. überdauerte und, wie erwähnt, auch die Basis für die kommunale Fürsorge bildete, konnte sie einem der Hauptmotive, sie überhaupt ins Leben zu rufen, nicht gerecht werden: Die kaum überblickbare Menge an parallel bestehenden privaten, kirchlichen und städtischen Fürsorge-Einrichtungen auf lokaler Ebene blieb vorerst bestehen.62 Auf dem Land war seit dem Spätmittelalter die Reichung von Naturalund Geldgaben aus Armenkassen vorherrschend. Nur Zentralorte verfügten über Spitäler, Bruderhäuser oder ähnliche Einrichtungen. In weiten Teilen Österreichs wurde das so genannte Einlagewesen praktiziert, das Quartierwechseln meist alter, arbeitsunfähiger Menschen, die auf einzelnen Höfen für unterschiedlich lange Zeit Unterkunft und Verpflegung gegen leichte Arbeiten – sofern sie dazu imstande waren – erhielten. Die zeitliche Dauer richtete sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Hofes. Das konnten nur ein einziger Tag oder auch mehrere Wochen sein.63 Die Einlage und ähnliche Systeme waren vor allem in 59

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Friedrich Kleinwächter: Oesterreich. In: Arwed Emminghaus (Hg.): Das Armenwesen und die Armengesetzgebung in europäischen Staaten, Berlin 1870. S. 420-455, hier S. 432 f. Scheutz: Ausgesperrt (wie Anm. 35), S. 70; Ders.: „in daz brod bettlen ausgegangen“. Armut, Bettel und Armenversorgung in Niederösterreich während des 18. Jahrhunderts. In: Österreich in Geschichte und Literatur 47, 2003, H. 2b-3, S. 119-135, hier S. 131 f. Stekl: Soziale Sicherung (wie Anm. 35), S. 145. Scheutz: Ausgesperrt (wie Anm. 35), S. 70. Vgl. Veits-Falk: „Zeit der Noth“ (wie Anm. 2), S. 164-169; Gerhard Ammerer: Zur Versorgung von alten, arbeitsunfähigen Personen auf dem Lande – Überlegungen und Hinweise

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den Alpenländern weit verbreitet. Ein vergleichbares Modell existierte schon im Hochmittelalter in Skandinavien.64 Vermutlich verbreitete sich diese Form von Fürsorge ursprünglich überall dort, wo es aufgrund von dünner Besiedlung, unwegsamem Gelände und wenigen Zentralorten die einzige Möglichkeit darstellte, die „eigenen“ Armen zu versorgen. Leider fehlen bis dato noch vergleichende Untersuchungen, wo und wann dieses System gehandhabt wurde. Von vielen zeitgenössischen Autoren als quasi „natürliche Versorgungsform“ gepriesen, nach dem Motto „jeder ist für seine eigenen Armen zuständig und kommt an die Reihe“, förderte auch der Staat dieses System, da es als kommunale Angelegenheit die Sphäre der Gemeinde betraf und damit den Staat entlastete.65 In der Realität konnte die Einlage aber bei Weitem nicht den tatsächlichen Bedarf decken; vor allem kleine Bauern waren nicht im Stande, den Verpflegungspflichten nachzukommen. Sie galt auch in vielen Gegenden als unmenschliche Versorgungsvariante.66 Daher wurde zum Teil das Betteln als vorübergehende Existenzsicherung noch bis ins ausgehende 19. Jahrhundert geduldet. Das Einlagewesen hielt sich in Österreich bis ins 20. Jahrhundert. Trotz häufiger Aufforderungen (z. B. des Salzburger Landtags ab den 1860er Jahren, auf diese demütigende Versorgungsform zu verzichten),67 hielten die Gemeinden weiterhin daran fest, da sie keine besseren finanzier- und durchführbaren Alternativen wussten. Mit 1. April 1939 wurde die Einlage gesetzlich aufgehoben. Während offiziell als arm anerkannte Menschen im Idealfall eine Unterstützung erhielten, zielten die obrigkeitlichen Handlungsweisen gegenüber fremden und „unwürdigen“ Bettlern in Richtung aussperren bzw. einsperren und disziplinieren. Seit den Polizeiordnungen des 16. Jahr-

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zu kommunalen Defiziten von Regionalbeamten und Betroffenen. In: Helmut Bräuer (Hg.): Arme – ohne Chance? Protokoll der internationalen Tagung „Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ vom 23. bis 25. Oktober 2003 in Leipzig. Leipzig 2004, S. 159-190; Veits-Falk: Öffentliche Armenfürsorge (wie Anm. 35), S. 33-35. Vgl. mit weiteren Literaturhinweisen: H. Ehrhardt: Artikel „Armut und Armenfürsorge“: Sonderformen in Skandinavien. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. Stuttgart 1999, Sp. 990-992. Ammerer: Versorgung alter Personen auf dem Land (wie Anm. 63), S. 174; zur Praxis der Einlage vgl. auch Peter Klammer: Auf fremden Höfen: Anstiftkinder, Dienstboten und Einleger im Gebirge (Damit es nicht verlorengeht … 26). Wien-Köln-Weimar 1992, S. 191 f. Vgl. Sabine Veits-Falk: Öffentliche Armenfürsorge in Bischofshofen. Von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Fritz Hörmann (Hg.): Chronik Bischofshofen. Bd. 1. Bischofshofen 2001, S. 323-338, hier S. 331-334. Elisabeth Mayer: Sozialhilfe in Salzburg. Gesetzgebung und Praxis in der Zeit der ausgehenden Monarchie. In: Jahrbuch der Universität Salzburg 1979–1981, S. 52-72, hier S. 59.

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hunderts stellte primär die Bettelbekämpfung – dann erst die Sorge um die Armen – den Hauptgrund für den Erlass von Vorschriften über das Armenwesen dar.68 Um die 1720er Jahre begann sich in Österreich ein neues verschärftes Bettelvisitations- und Schubsystem herauszubilden.69 Die Regierungsjahre Karls VI. waren durch eine Intensivierung der Bettlergesetzgebung gekennzeichnet: Bettelverbote, Arbeitszwang, verstärkte Kontrolle, Aufenthaltsverbote, Bettelfuhren waren Gegenstand der Patente. Die früher nur fallweise vorgenommenen Bettlerstreifen sollten intensiviert und regelmäßig abgehalten werden, um die Mobilität der Vagierenden und umherziehenden Bettler einzudämmen. Gemäß der 1724 erlassenen Generalvisitations- und Schubordnung, die 1749 erneuert wurde, musste jeder männliche hausbesitzende Untertan von jeder Grundherrschaft im Land unter der Enns einmal pro Jahr unter Assistenz der Gerichtsdiener in einem bestimmten Gebiet systematisch nach Armen und Bettlern fahnden. 1754 wurde durch das Bettlerschub- und Verpflegungspatent die Zehnjahresfrist des Aufenthalts an einem Ort als Voraussetzung zur Erlangung des Heimatrechts – wie schon erwähnt – festgelegt, was ebenfalls zu einer „Verbesserung in der Bettelbekämpfung“ führen sollte. Streifen und anschließende Schübe schienen die einzige Antwort auf das Bettlerproblem gewesen zu sein. Sie wurden – wie Martin Scheutz betont – nach gegenwärtigem Forschungsstand in den österreichischen Erblanden sowie in Deutschland und der Schweiz durchgeführt. Diese Hetzjagden auf Bettler und Vaganten waren aber nicht mehr als eine oberflächliche Bekämpfung von Armut. Die Bettlerschübe scheinen das Armutsproblem sogar noch verschärft zu haben, denn sie verhinderten die Sesshaftwerdung der mobilen Unterschichten systematisch und trugen auch wesentlich zu deren Kriminalisierung bei, allein schon dadurch, dass allen hausbesitzenden Untertanen durch ihre jährliche Teilnahme an den Streifen das Feindbild „Bettler“ nachhaltig eingeprägt wurde. 68

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Helmut Bräuer: „… und hat seithero gebetlet“. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich während der Zeit Kaiser Leopolds I. Wien-Köln-Weimar 1996, S. 45-79. Scheutz: Ausgesperrt (wie Anm. 35), S. 43-59; Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 11), S. 201-220; Gerhard Ammerer: „… keine andere Wirkung gehabt, als grosse und unnüze Kosten …“. Strukturelle und mentale Problemlagen bei der Umsetzung legisitischer Maßnahmen gegen Bettler und Vaganten im Österreich des Ancien Régime. In: Das achtzehnte Jahrhundert in Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 16 (2001), S. 9-21; vgl. auch Martin Scheutz: Geschichte der Armut und des Bettels in der Neuzeit (Vorlesung an der Universität Wien Sommersemster 2003), www.univie.ac.at/igl.geschichte/scheutz/ss2003.

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Zur Bekämpfung des „Müßiggangs“ wurden Zwangsarbeitsmaßnahmen, Rekrutierungen sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als zentrale, negativ ausgerichtete Ziele der Armenpolitik formuliert. Auch der sozialdisziplinierende Zugriff auf die Untertanen wurde im Untersuchungszeitraum verschärft, indem im 18. Jahrhundert kombinierte Besserungsund Bestrafungsanstalten zur Vermittlung einer neuen Arbeitspädagogik eingerichtet wurden, die nicht selten zugleich Arme, Waisen und so genannte „Irre“ „verwahrten“.70 Die ältesten Anstaltsgründungen gehen in das 16. Jahrhundert zurück (Bridewell bei London 1555 und Amsterdam 1595/97). In diesen Zucht- und Arbeitshäusern sollten rigorose Lebensund Verhaltensnormen, Isolation, harte Arbeit, Essensentzug, Kontrolle, Strafe und Gottesdienst Faulheit, sündhaften Müßiggang und Ungehorsam der Insassen in Fleiß und Anspruchslosigkeit wandeln. Im heutigen Österreich wurde eine Reihe von Zucht- und Arbeitshäusern im 18. Jahrhunderts errichtet, z. B. 1725 in Innsbruck, 1735 in Graz, 1753 in Salzburg, 1754 in Klagenfurt und 1775 in Linz; die Wiener Anstalt war schon eine Gründung aus dem Jahr 1671. 71 Gemäß der Programmatik des erwähnten Salzburger Gutachtens, der Staat müsse für Arbeit sorgen, „damit sowohl der jenige, der gerne arbeiten will, mit solcher versehen, als auch der Müssiggänger hiezu gezwungen werde“, entstanden parall auch erste freiwillige Beschäftigungsanstalten, häufig von Privatpersonen initiiert, die aber meistens nicht sehr erfolgreich waren.72

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Scheutz: Armut, Bettel und Armenversorgung (wie Anm. 60), S. 129-131. Gerhard Ammerer/Alfred Stefan Weiß (Hg.): Strafe, Disziplin und Besserung. Österreichische Zucht- und Arbeitshäuser von 1750 bis 1850. Frankfurt 2006; Hannes Stekl: Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671–1920. Institutionen zwischen Fürsorge und Strafvollzug. Wien 1978, S. 82 f.; Gerhard Ammerer: Heimat Straße (wie Anm. 11), S. 186-220; Gerhard Ammerer/Alfred Stefan Weiß: Zucht- und Arbeitshäuser in Österreich um 1800 – Recht, Konzepte und Alltag. In: Gerhard Ammerer/Falk Bretschneider/Alfred Stefan Weiß (Hg.): Gefängnis und Gesellschaft. Zu (Vor-)Geschichte der strafenden Einsperrung (Comparativ Jg. 13, H. 5/6). Leipzig 2003, S. 149-176; Gerhard Ammerer /Alfred Stefan Weiß: „Damit sie im Arrest nicht schlimmer werden“. Zucht- und Arbeitshäuser, Freiheitsstrafe und Gefängnisdiskurs in Österreich um 1800. In: Andrea Griesebner/Martin Scheutz/Herwig Weigl (Hg.): Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16.-19. Jahrhundert). Innsbruck 2002, S. 349-371. Josef Pollak: Zur Errichtung einer Beschäftigungs-Anstalt und einer Arbeitsvermittlungsstelle in Deutschland. Salzburg 1894.

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Armut an der Wende zum Industriezeitalter

Resümee: Der Umgang mit Armut um 1800 Für den Umgang mit Armut in Österreich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert lässt sich prinzipiell ein Nebeneinander von alten und neuen Anschauungen und Praktiken beobachten. Zum einen wurde noch immer – z. B. in Bildern oder auch im Bettelalltag – an die christliche Nächstenliebe appelliert und Almosen nach mittelalterlicher Wertvorstellung gereicht. Die im 16. Jahrhundert festgesetzten Grundprinzipien im Umgang mit Armut73 wurden modifiziert und durch die Betonung der Vernunft durch die Aufklärung erweitert und ausdifferenziert. Unterstützung für Arme und Repression für Bettler blieb, vereinfacht gesprochen, weiterhin das Motto des obrigkeitlichen Umgangs mit Armut. Aufklärungstheoretiker setzten sich intensiv mit Armut – manifestiert in zahlreichen Schriften und Gutachten – auseinander, erkannten Armut auch als ein ökonomisches Problem und lieferten entsprechende Handlungsvorschläge: Armut wurde nun nicht mehr als ein dem göttlichen Willen entsprungenes, immerwährendes Übel angesehen, sondern sie schien bewältigbar zu werden: von der objektiven Seite her durch die Schaffung neuer Produktions- und Arbeitsmöglichkeiten und von der subjektiven Seite durch die Erziehung der Armen zur Arbeit. Neu war nun die Überzeugung, dass auch Bettler durch ihre Arbeitskraft imstande seien, „nützliche“ und „wertvolle“ Menschen zu werden – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie arbeiteten.74 Diese neue Auffassung bezeichnet Volker Hunecke als dritte Wende in der Armutsgeschichte (den ersten Wendepunkte nahm er mit 1348 als Trennlinie zwischen traditioneller und frühneuzeitlicher Armenfürsorge75 an, die zweite Wende datiert er in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, als sich die neuen Ansätze der städtischen und staatlichen Armenpolitik durchzusetzen begannen)76. 73

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Vgl. Christoph Sachße/Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1980, S. 30-35. Vgl. Sabine Veits-Falk: Der Wandel des Begriffs Armut um 1800 (wie Anm. 44), S. 15-43. Zur mittelalterlichen Auffassung von Armut vgl. Otto Gerhard Oexle: Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter. In: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt 1986, S. 73-100; Wolfram Fischer: Armut in der Geschichte, Erscheinungsformen und Lösungsversuche der „Sozialen Frage“ in Europa seit dem Mittelalter. Göttingen 1982, S. 10-32; Friedrich Arnold Lassotta: Formen der Armut im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Untersuchungen vornehmlich an Kölner Quellen des 14. und 17. Jahrhunderts. Köln 1993, S. 21-26. Volker Hunecke: Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa. In: Geschichte und Gesellschaft, 1983, 9, S. 491-512, hier S. 492: Der Autor verweist

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In der Praxis bedeutete dies eine neue Betonung der Arbeitsfähigkeit bzw. der Arbeitsunfähigkeit77 als Kriterium für eine Unterstützung. Die für den Josephinismus typische Verknüpfung von Staat und Kirche fand auch in der Armenfürsorge ihren Niederschlag, konkret in den Pfarrarmeninstituten, die aber zugleich in der Langzeitperspektive die Gemeinden als Trägerinnen der öffentlichen Fürsorge vorbereiteten. Während in neuen geschlossenen Fürsorgeeinrichtungen der Prozess der Spezialisierung und Ausdifferenzierung sich zu entwickeln begann, gelang es in der offenen Armenfürsorge nicht, die zahlreichen Stiftungen und Armengelder zentralistisch zu verwalten. Auch das Heimatprinzip erfuhr eine normative Regelung, die dann Ausgangspunkt für eine Verschärfung Mitte des 19. Jahrhunderts wurde. Der Versuch, mit Schub die Mobilität der Unterschicht einzudämmen, war zum Scheitern verurteilt, weil gerade Mobilität eine Überlebensstrategie von bettelnden Unterschichten war. Ansatzweise wurde im 18. Jahrhundert allerdings auch schon in Richtung „echte Sozialpolitik“, wie sie dann ab den 1880er Jahren mit der staatlichen Sozialgesetzgebung beginnt, argumentiert: Das mehrfach erwähnte Salzburger Gutachten betont die Wichtigkeit „die Armen selbst zu betrachten“, damit nicht nur auf die „Verpflegung der Armen“, sondern auch „auf ihre Verminderung Rücksicht genommen werden“ könne.78

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auf eine noch ergänzungsbedürftige Übersicht, nach der zwischen 1522 und 1545 über sechzig Städte West- und Mitteleuropas ihr Armenwesen neu organisierten. Die Salzburger Polizeiordnung von 1524 befasst sich ebenfalls mit der Bettelbekämpfung (darin enthalten: Ordnung der petler halben): Vgl. Franz Viktor Spechtler/Rudolf Uminsky (Hg.): Salzburger Stadt- und Polizeiordnung von 1524. Frühneuhochdeutsche Rechtstexte I. Mit Einleitung, Register und Sacherklärung. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 222). Göppingen 1987, fol. 77r-79r. Zur Armenfürsorge im Absolutismus vgl. u. a. Sachße/Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge (wie Anm. 73), S. 130 f. Josef Ehmer: Die Geschichte der Arbeit im Spannungsfeld von Begriff, Norm und Praxis. In: Bericht über den 23. Österreichischen Historikertag in Salzburg (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 32). Salzburg 2003, S. 25-44. Salzburger Landesarchiv, HS 49, fol. 103v-105v.

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Hannes Stekl

Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie Da nur wenige exemplarische Studien und zusammenfassende Analysen zu diesem Thema vorliegen, sollen in diesem Beitrag einige Zugangsweisen für eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Problemkreis vorgestellt werden. Dies geschieht in Form von drei Annäherungen, die auf unterschiedlichen Quellen beruhen, auf der regionalen Ebene sowohl Makro- als auch Mikrostrukturen erschließen und in der Zeitperspektive die Ergebnisse für Stichjahre sowie für verschieden lange Untersuchungszeiträume im ausgehenden 19. bzw. beginnenden 20. Jahrhundert präsentieren; einige „Impressionen“ schließen den Beitrag ab. Da dieser Artikel auf einem Vortrag für ein historisch interessiertes Publikum, nicht aber für hoch spezialisierte FachwissenschafterInnen beruht, erhielt die exemplarische Vermittlung von Informationen und Anregungen (auch für den Einsatz im Unterricht) den Vorrang vor theoretischen Reflexionen und komplexen methodischen Erörterungen.

Annäherung 1 Die Einführung der Personaleinkommensteuer 1896 und ihre statistische Erfassung – Steueraufkommen und Steuerpflichtige in der westlichen Reichshälfte 1898–1907 – Reichtum und seine regionale Verteilung: eine Übersicht

Die gesetzlichen Grundlagen Mit dem Gesetz vom 25. Oktober 1896 wurde mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 1898 in der westlichen Reichshälfte die Erwerbssteuer neu geregelt und an Stelle der bisherigen Einkommensteuer die Rentensteuer sowie die Personaleinkommensteuer (und Besoldungssteuer von höheren

Hannes Stekl, Dr., Univ.-Prof. i.R., Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien.

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Dienstbezügen) eingeführt.1 Der Besteuerung unterlagen mit Ausnahme bestimmter Personen- und Berufsgruppen (darunter befanden sich z. B. der Kaiser und die Mitglieder des kaiserlichen Hauses sowie Offiziere) alle physischen Personen, wobei die Haushaltseinkommen die Grundlage bildeten, Einkünfte unter 600 Gulden (1.200 Kronen) als Existenzminimum aber steuerfrei blieben. Zur Berechnung der Besteuerungsgrundlage wurden nicht nur Geldeinkünfte (aus Grund- oder Gebäudebesitz, selbstständigen Erwerbsunternehmungen, Kapitaleinkommen, Dienstbezügen, Sonstigem), sondern auch Naturaleinnahmen (u. a. kostenfreie Wohnungen) herangezogen. Dabei konnten bestimmte Abzüge (Schuldzinsen, Versicherungen, dauernde Lasten, andere Steuern) geltend gemacht werden. Kernstück des Gesetzes war ein progressiver Steuertarif. Bei einem Jahreseinkommen von 600 Gulden (1.200 Kronen) betrug der Steuersatz 3 Gulden 60 Kreuzer (7 Kronen 20 Heller), d. s. 0,6 %; bei 48.000 Gulden (96.000 Kronen) waren es 1.860 Gulden (3.720 Kronen), d. s. 3,8 %; der Grenzsteuersatz für höhere Einkommen lag bei 5 %. Empfänger von Dienstbezügen über 3.200 Gulden (6.400 Kronen) hatten zusätzlich eine progressive Besoldungssteuer zu entrichten, die maximal 6 % erreichte. Für eine Auswertung der Steuerstatistik ist es wichtig festzuhalten, dass sich die Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen in den dünner besiedelten ländlichen Regionen schwieriger gestaltete als in Gebieten mit einem höherem Verstädterungsgrad und in industriellen Ballungszentren. Zudem gelangten aufgrund der Erhebungen nach dem Wohnsitzprinzip in den Hauptstädten und regionalen Zentren viele Einkommen zur Versteuerung, die in anderen Gebieten erzielt worden waren. Die Anonymisierung der Angaben ließ keine Personalisierung zu.

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Detaillierte Angaben finden sich in: Friedrich Leiter: Die Verteilung des Einkommens in Österreich. Nach den Ergebnissen der Personaleinkommensteuer in den Jahren 1898 bis 1904, Wien-Leipzig 1907; Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums 4 (1898) ff.; Beiträge zur Statistik der Personaleinkommensteuer in den Jahren 1898 bis 1902 bzw. 1903–1907 (3 Teile), Wien 1903 bzw. 1908. Eine erste exemplarische Auswertung bietet Hannes Stekl, „Zentren“ und „Peripherien“ der westlichen Reichshälfte in der Einkommensverteilung um 1900. In: Andrea Corbea-Hoisie/Jacques Le Rider (Hg.): Metropole und Provinzen in Altösterreich (1880–1918). Wien-Köln-Weimar 1996, S. 3778.

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Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie

Ausgewählte Globaldaten zu Steueraufkommen und Steuerpflichtigen Die Zahl der Steuerpflichtigen („Zensiten“) stieg zwischen 1898 und 1907 von 711.512 auf 1,048.689 Personen, d. i. von 2,79 % auf 3,78 % der Gesamtbevölkerung; inklusive der Haushaltsangehörigen waren es 7,29 % bzw. 11,47 %. Rund 90 % der Bevölkerung der westlichen Reichshälfte (hier der Einfachheit halber Österreich genannt) verdienten somit weniger als 1.200 Kronen im Jahr und fielen daher nicht unter die Bestimmungen des Gesetzes – noch standen die Massen der Vielen, die am Rande des Existenzminimums leben mussten, einem verhältnismäßig kleinen Kreis von Menschen gegenüber, deren Einkünfte eine breite Palette von bescheidenem Wohlstand bis sorgenfreien Luxus garantierten. Ungefähr neun Zehntel der Steuerpflichtigen waren Männer, knapp ein Zehntel Frauen. Die veranlagten Bruttoeinkommen wiesen eine kontinuierliche, seit 1903 leicht rückläufige Zunahme von 2,673 Mrd. Kronen im Jahr 1898 auf 3,927 Mrd. Kronen im Jahr 1907 auf. Dieses Wachstum war weniger eine Folge der günstigen Einkommensentwicklung, sondern der verbesserten Erhebungstechnik. Im Erhebungszeitraum blieben die Prozentsätze mancher Einkommensquellen weitgehend konstant: Grundbesitz um 8 %, Gebäudebesitz ca. 10 %, Unternehmen 28 %; die Einkommen aus Dienstbezügen wuchsen durch die Zunahme der Angestelltenzahlen, aufgrund von nominellen Gehaltserhöhungen und der präzisen Erfassungsmöglichkeiten von 34,3 % auf 38,9 %, die aus Kapitalvermögen sanken von 16,2 % auf 14,1 %, aus sonstigen Einkommen von 2,2 % auf 1,4 %. In der Berufsstruktur der „Zensiten“ dominierten im Jahr 1900 Gewerbe und Industrie mit knapp mehr als einem Drittel (35,2 %), es folgten Handel und Verkehr mit etwas weniger als einem Viertel (22,7 %), der öffentliche Dienst mit etwas mehr als einem Sechstel (17,3 %), Land- und Forstwirtschaft inklusive Bergbau sowie Rentiers mit etwa einem Zehntel (10,3 % bzw. 8,7 %), die Freien Berufe machten ein Zwanzigstel (5 %) aus. Diese Anteile entsprachen – abgesehen von Abweichungen bei den Rentiers nach oben (12,7 %), bei den Handel- und Gewerbetreibenden sowie beim öffentlichen Dienst nach unten (31,1 % bzw. 15,8 %) – im Wesentlichen dem prozentuellen Anteil der einzelnen Berufsgruppen am Steueraufkommen. Die Verteilung der Steuerleistung zwischen 1898 und 1907 zeigt eine ausgeprägte Asymmetrie zwischen der Zahl der Steuerpflichtigen in den einzelnen Steuergruppen und ihrem Anteil am Steueraufkommen. Jeweils ungefähr die Hälfte des Steueraufkommens stammte aus den Einkommensstufen über bzw. unter 12.000 Kronen; dagegen lag der Prozentanteil der Steuerpflichtigen in diesen beiden Gruppen bei 2,4 % bzw. 97,6 %. 115

Hannes Stekl

Tabelle 1: Verteilung der Steuerleistung 1898–1907 Jahreseinkommen in Kronen bis 1.800 1.800–3.600 3.600–7.200 7.200–12.000 über 12.000

Anteile an der Zahl der Steuerpflichtigen in %

Anteil am Steueraufkommen in %

48,8 33,5 12,2 3,1 2,4

8,2 14,8 17,1 10,7 49,2

Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums 14 (1908), S. 1082 ff.

Höchsteinkommen und ihre Quellen In die höchsten Steuergruppen über 12.000 Kronen fielen durchschnittlich rund 20.000 Personen. Ein Sechstel davon (3.341 Steuerpflichtige) fatierte mehr als 40.000 Kronen. Die „Superreichen“ mit Jahreseinkommen von mehr als 200.000 Kronen waren allerdings dünn gesät; ihre Zahl stieg von 255 im Jahr 1898 auf 307 im Jahr 1904. An der Spitze standen Industrielle (99), gefolgt von Grundbesitzern (62), Hausbesitzern (26) und Handelsunternehmern (21); der Rest (jeweils zwischen ein und acht Personen) verteilte sich auf zwölf andere Berufsgruppen (vom pensionierten Bahnbeamten über Geistliche bis zu höheren Angestellten und Unternehmern im Geld- und Kreditwesen). Die Zahl der Millionäre stieg im gleichen Zeitraum von 17 auf 25.2 Um etwas genauere Hinweise auf die Quellen des Wohlstandes sämtlicher Steuerpflichtigen zu erhalten, soll hier – obwohl Durchschnittswerte keine Aussagen über die Verteilung innerhalb eines Samples und über individuelle Daten zulassen – eine grobe Typologie der Einkommensbezieher nach ihrem Beruf vorgenommen werden (vgl. Tabelle 2).3 Die Bestverdiener waren selbstständig und kamen aus den Leitsektoren der Wirtschaft, allen voran dem Bergbau, wo Einkommen über 100.000 Kronen am stärksten vertreten waren und nur Kleinunternehmer aus dem Bereich der Petroleumindustrie die Durchschnittswerte auf 31.700 Kronen senkten. An zweiter Stelle rangierte die Sparte Geld-, Kredit- und Versicherungswesen (19.800 Kronen), innerhalb derer die noch nicht von Aktiengesellschaften verdrängten Privatbankiers die einkommensstärkste Gruppe bildeten. Den dritten Rang nahmen die noch wenigen verbliebe-

2 3

Leiter: Verteilung des Einkommens (wie Anm. 1), S. 159-168. Ausführlich ebenda, S. 408-440.

116

Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie

Tabelle 2: Durchschnittseinkommen in Österreich 1898–1904 (in Kronen) Hauptberuf

Selbstständige Unternehmer

Produktive Berufe Land- und Forstwirtschaft Bergbau Gewerbe und Industrie Handel Eisenbahnen etc. Sonstiges Verkehrswesen im engeren Sinne Geld-, Kredit-u.Versicherungswesen Erwerbsunternehmungen für Unterricht Liberale Berufe Hofdienst Militärdienst Zivilstaats- und Fondsdienst Hof- u. Staatsdienst zusammen Autonomer Dienst Kirchlicher Dienst, Geistliche, Ordenspersonen Privatunterrichtswesen Ärzte Tierärzte SanitätsPersonen des wesen niederen Sanitätswesens Rechtswesen, Advokaten und Notare Kunst und Wissenschaft Persönlicher Privatdienst

Angestellte höherer Art

Hilfskräfte

3.300 31.700 3.700 3.700 15.700

2.600 3.900 3.500 2.700 3.100

1.500 1.500 1.700 1.800 1.600

2.800 19.800

2.700 4.300

1.600 1.800

4.100

2.900

1.700

– – – – –

5.300 3.600 3.700 3.700 2.500

2.100 1.300 1.500 1.600 1.600

2.600 2.000 5.100 3.900 –

2.500 2.500 3.500 2.200 –

2.000 – – – 1.600

1.700 7.900 3.700 –

– 2.600 3.500 3.000

– 1.800 – 1.700

Rentner a) Besitzer von Pensionsbezügen Hauptberuf

Angestellt gewesene Personen

Angehörige von angestellt gewesenen Personen

Hofdienst Militärdienst Zivilstaats- und Fondsdienst Autonomer Dienst Kirchlicher Dienst Eisenbahndienst etc. Privatdienst

4.500 4.700 4.400 2.600 2.200 3.800 3.500

3.300 3.700 3.000 2.200 2.100 2.600 2.900

b) Besitzer von Vermögensrenten Hausbesitzer Besitzer von Renten aus anderem Vermögen c) Personen mit Unterstützungsbezügen Personen mit Unterstützungsbezügen

6.400 4.800 2.100

Quelle: Leiter: Die Verteilung des Einkommens (wie Anm. 1), S. 415.

117

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nen Unternehmer im Eisenbahn- und Schifffahrtswesen ein (15.700 Kronen). Um die Hälfte niedriger, nämlich bei 7.900 Kronen, lagen die Durchschnittseinkommen der „reichsten“ Freiberufler, der Rechtsanwälte und Notare, gefolgt von den Ärzten (5.100 Kronen). Einige Großverdiener im Bereich des Gesundheitswesens verstellen jedoch den Blick darauf, dass die Mehrzahl der Ärzte in die untersten Einkommensgruppen bis 2.400 Kronen fiel und ein auffällig hoher Anteil überhaupt nicht steuerpflichtig war (wobei sich allerdings die Frage erhebt, wie exakt die damals nicht seltenen Geldgeschenke und die nicht unbedeutenden Naturaleinnahmen in den Steuererklärungen angegeben wurden).4 Unselbstständige erzielten die höchsten Durchschnittseinkommen im Hofdienst (5.300 Kronen), gefolgt vom Banken- und Versicherungssektor (4.300 Kronen) und dem Bergbau (3.900 Kronen); auch der Staatsdienst erwies sich als recht lukrativ (3.700 Kronen). Dass in Gewerbe und Industrie die Einkommen von Selbstständigen und Angestellten nicht weit auseinander lagen, ist auf die ungünstige Situation vieler Kleingewerbetreibender zurückzuführen. Ein solides und sicheres Einkommen garantierten weiters Hausbesitz (6.400 Kronen) und Erträge von Kapitalvermögen (4.800 Gulden). Und die Einkünfte der vergleichsweise geringen Zahl von „Pensionisten“ im Hof-, Militär- und Staatsdienst (durchschnittlich 4.700-4.400 Kronen) zeigen, dass die lange gültige Gleichsetzung von „Alter“ und „Armut“ auf einen äußerst kleinen Teil der Bevölkerung nicht (mehr) zutraf.

Wohlhabende Regionen in der Habsburgermonarchie Mit einem Anteil von mehr als einem Drittel bzw. einem Viertel aller Steuerpflichtigen nahmen Niederösterreich (inklusive Wien) und Böhmen die Spitzenpositionen ein – gefolgt von Mähren und Galizien mit jeweils rund 8 %. Dabei entsprach aber die territoriale Verteilung der Steuerträger keineswegs dem prozentuellen Anteil der Kronländer an der Gesamtbevölkerung: Das bevölkerungsreichste Land Galizien lag bei der Reihung nach dem Prozentanteil der Steuerpflichtigen auf Rang vier, das nach Vorarlberg kleinste Territorium Triest jedoch auf Rang acht (bei 17 statistisch erfassten Gebieten).

4

Über den Lebensstil eines Landarztes um die Jahrhundertwende vgl. in: Andrea Schnöller/ Hannes Stekl (Hg.): „Es war eine Welt der Geborgenheit …“ Bürgerliche Kindheit in Monarchie und Republik (= Damit es nicht verloren geht … Bd. 12). Wien-Köln-Weimar 2 1999, S. 141-169.

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Dies verweist bereits auf den Umstand, dass die Städte als Mittelpunkte von Handel, Gewerbe und Dienstleistungseinrichtungen sowie Sitz öffentlicher und kultureller Institutionen die adäquaten Lebensräume der Wohlhabenden bildeten. In allen Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern lebten 1903 nur 18,4 % der österreichischen Bevölkerung, aber 57,9 % aller Steuerpflichtigen, die 65,9 % aller Einkommen veranlagten. Die hier versteuerten Einkommen lagen deutlich über denen des betreffenden Politischen Bezirks (meist zwischen 20 und 40 %); auch der Anteil der Steuerpflichtigen war hier wesentlich höher als in anderen Gemeinden des jeweiligen Politischen Bezirks (und zwar um das Drei- bis Fünffache). Die herausragende Spitzenstellung innerhalb Österreichs nahm Wien ein: Die Hauptstadt hatte 6,5 % der Bevölkerung der westlichen Reichshälfte, aber mehr als ein Viertel (27,4 %) der Steuerzahler und ein Drittel (33,6 %) aller Einkommen. Von den insgesamt 310 Personen, die 1903 ein Einkommen von mehr als 200.000 Kronen einbekannten, lebten 171 in Wien. Doch Wien besaß auch die eindeutige Mehrheit der „kleinen Steuerträger“ in den unteren Einkommensklassen. In den einzelnen Kronländern wieder dominierten die Landeshauptstädte – allerdings mit deutlichem Abstand zur Reichshaupt- und Residenzstadt. Prag etwa erzielte als Agglomeration (also mit Einrechnung der damals noch selbstständigen Umlandgemeinden) weit niedrigere Werte: 1,6 % der Gesamtbevölkerung, 5,3 % der Steuerzahler, 3,7 % aller Einkommen (hier drücken die ärmeren Vorstädte Œiœkov, Nusle und Smichov den Wert). „Das“ Zentrum schlechthin war die Stadt Salzburg, wo 13,2 % der Einwohner des Landes steuerpflichtig waren und über etwas mehr als die Hälfte der dort fatierten Einkommen verfügten. Aber auch eine Reihe von Mittelstädten hatte Verhältniswerte von „metropolitanem“ Zuschnitt aufzuweisen, d. h. einen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl auffallend hohen Anteil von Steuerpflichtigen und einen noch höheren an den Einkommen. Dies gilt etwa für Karlsbad, das als Kurort und Treffpunkt der „großen Welt“ internationalen Ruf genoss. Die Einwohner profitierten hier vor allem als Unternehmer (Mineralwasserabfüllung, Sprudelsalz), als Besitzer von Kuranlagen und Hotels, als Ärzte und Anwälte. In Reichenberg, dem Zentrum der nordböhmischen Textilindustrie, lag der Anteil der Großverdiener (mit Einkommen von mehr als 7.200 Kronen) etwa ein Drittel über dem Landesdurchschnitt. Fast die Hälfte der einbekannten Einkommen stammte hier aus selbstständiger Tätigkeit. Außergewöhnlicher Wohlstand herrschte auch in den Kurorten Baden bei Wien, Meran, Teplitz-Schönau, weiters in der Bischofsstadt Olmütz, in den Handelsstädten Bozen und Saatz (einem Zen119

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trum des Hopfenanbaus), in Industriestädten wie Neutitischein und Prossnitz in Mähren, Steyr und Wels in Oberösterreich, Bielitz in Schlesien, Aussig, Brüx, Gablonz, Warnsdorf, Asch und Kuttenberg in Böhmen. In Niederösterreich (ohne Wien) fanden sich die meisten Steuerpflichtigen im Nahbereich der Reichshauptstadt (Politischer Bezirk Hietzing und Umgebung sowie Floridsdorf mit seinen besser bezahlten Arbeitern) sowie in den Industrieregionen um Wiener Neustadt und Neunkirchen. Aus all diesen Daten lässt sich in den meisten Kronländern eine unverkennbare Multizentralität mit wichtigen Subzentren ablesen.

Annäherung 2 Verlassenschaftsabhandlungen – Große Vermögen: eine tour d´horizon durch Österreich und die Wiener „Ringstraßenbarone“ – Zum Wohlstand von Wiener Unternehmern: das Stichjahr 1906 Der Quellenbestand „Verlassenschaftsabhandlungen“ und seine Aussagekraft Als Michael Pammer die Entwicklung und Verteilung des Wohlstands in Österreich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage einer groß angelegten geschichteten Stichprobe von Verlassenschaftsakten untersuchte, nahm er auch eine eingehende kritische Einschätzung dieses Quellentyps vor.5 Verlassenschaftsabhandlungen wurden nach dem Tod eines Menschen seit 1850 von den zuständigen Bezirks- und Handelsgerichten vorgenommen. Lagen die Besitztümer unter einer Geringfügigkeitsgrenze, die in etwa den Krankheits- und Begräbniskosten entsprach, so wurde die Verlassenschaft „armutshalber abgetan“. War ein Vermögen vorhanden, so wurden gemäß der Form der Erbserklärung (unbedingte oder bedingte Annahme) ein eidesstattliches Vermögensbekenntnis durch die Erben oder ein Nachlassinventar aufgrund der Schätzung eines Gerichtsbeauftragten erstellt, das im Verlauf der Abhandlung häufig präzisiert und korrigiert wurde. Dabei wurde das Vermögen nach den Kategorien Bargeld, Mobilien (wie Pretiosen, Kleidung, Wagen etc.), Immobilien, Wertpapiere, Unternehmensanteile, offene Forderungen, Schulden aufgeschlüsselt. Die Zuverlässigkeit der Informationen hängt einmal von der korrekten Erfassung der Hinterlassenschaft ab. Im Hinblick auf die zu leistende Erbschaftssteuer wurden bestimmte Vermögensteile, besonders Bargeld,

5

Michael Pammer: Entwicklung und Ungleichheit. Österreich im 19. Jahrhundert (=Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Nr. 161). Wiesbaden 2002, S. 289-299.

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Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie

Pretiosen, nicht bei einer Bank deponierte Wertpapiere und nicht hypothekarisch abgesicherte Forderungen der Behörde nicht in ihrem vollen Umfang bekannt gegeben oder überhaupt verschwiegen. Die Wohnungseinrichtung oder andere Mobilien wieder wurden oft als das Eigentum des überlebenden Ehegatten bezeichnet. Ein weiteres Problem stellt die richtige Bewertung der erfassten Besitztümer in den Quellen dar. Bei Immobilienbesitz etwa variierten die Schätzungsgrundlagen (Steuerkataster, Hauszinssteuer, Wert der letzten Erwerbung), bei Fahrnissen wurde der Schätzwert meist niedrig (oft bei der Hälfte des Verkehrswertes) angesetzt. Und schließlich wurden Sammlungen, Gemälde und Antiquitäten im heutigen Sinn oft krass unterbewertet. Zudem ist noch der Umstand zu berücksichtigen, dass Verlassenschaftsakten Momentaufnahmen des Vermögens von Menschen in meist fortgeschrittenem Alter sind; beträchtliche Vermögensteile konnten früher verschenkt oder veräußert, Teile der Rücklagen zur Haushaltsführung verwendet oder durch Krankheit aufgezehrt worden sein.

Vermögensverteilung in Österreich – ein Überblick Die oben erwähnte Untersuchung Michael Pammers ging von zwei zentralen Fragestellungen aus. Erstens: Wie verteilte sich das steigende Volkseinkommen in der Habsburgermonarchie auf die unteren und oberen Schichten der Bevölkerung? Und zweitens: Führte die Industrialisierung zu einer ungleicheren Verteilung oder nicht? Die umfassenden theoretischen Ansätze und das anspruchsvolle methodische Instrumentarium dieser Studie ermöglichen hier nur eine äußerst verkürzte Zusammenfassung der im Hinblick auf das Tagungsthema wichtigsten Ergebnisse.6 Die verhältnismäßig egalitär strukturierte, unterentwickelte Gesellschaft Österreichs, wie sie sich im Vormärz herausgebildet hatte, zeigte nach dem Einsetzen des modernen Wirtschaftswachstums während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Tendenz zu stärker ausgeprägter Ungleichheit in der Verteilung der Vermögen. Dieser Trend verkehrte sich jedoch ab einem bestimmten Punkt des Wachstums, etwa um die Wende zum 20. Jahrhundert, in das Gegenteil (was in kleinem Maßstab auch die bereits beschriebene Zunahme der Einkommensteuerpflichtigen zeigte). Insgesamt nahm das absolute Niveau von Ungleichheit jedoch vom Vormärz bis zur Jahrhundertwende um etwa ein Zehntel zu. 6

Zu Fragestellung und Methodik ebenda, S. 15-43, die Zusammenfassung S. 273-280. Vgl. auch die Rezension von Andreas Resch http://www.sehepunkte.de/2006/12/ 2829.html (Zugriff 2007 08 27).

121

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Die Teilentwicklungen innerhalb der einzelnen Länder unterschieden sich deutlich voneinander (wie dies auch die Differenzierung zwischen „reichen“ und „armen“ Gebieten bei den Einkommensteuererhebungen erkennen ließ). Die oben skizzierte Veränderung in der Verteilung von Reichtum galt nicht für alle Länder in gleicher Form. Zudem wiesen hoch entwickelte Regionen wie Niederösterreich ein höheres Maß an Ungleichheit auf als rückständigere (ausgenommen Kärnten, wo der hohe Anteil illegitimer Geburten in Zusammenhang mit erbrechtlichen Regelungen zur starken Benachteiligung der Betroffenen führte). Die Veränderungen der Vermögensverteilung waren zurückzuführen auf demographische Entwicklungen, das Ausmaß des Wirtschaftswachstums, auf Wandlungen in der sektoralen Wirtschaftsstruktur (höhere Vermögen und größere Ungleichheit in Regionen mit bedeutenderem gewerblich-industriellen und Dienstleistungssektor, niedrigere Vermögen und geringere Ungleichheit in agrarisch geprägten Regionen) sowie auf veränderte Vermögensdifferenziale zwischen den Sektoren. Geringere Vermögen als Selbstständige in Handel und Gewerbe fanden sich, wie nicht anders zu erwarten, bei Auszüglern, Arbeitern, Kleinhandwerkern, niedrigen Angestellten und Beamten. Keine bemerkenswerten Unterschiede zur Referenzgruppe zeigten höhere Beamte, Klerus, Freiberufler und Private, höhere Vermögen dagegen Unternehmer und Bauern. In der Struktur der Vermögen, die individuell geprägte Mischformen aufwiesen, zeigt sich eine Verschiebung von Immobilien zu Finanzmitteln sowie von privaten, zwischen Haushalten abgeschlossenen Geldgeschäften zu kommerziellen Krediten oder Geldanlagen (beides stand in Zusammenhang mit der Expansion von Sparkassen, Banken und Kreditgenossenschaften und deren Inanspruchnahme auch durch weniger Vermögende). Vermögenszuwächse kamen traditionell Gruppen mit mittleren und großen Vermögen zugute und wurden dort in gruppenspezifischer Weise veranlagt, und zwar in überproportionalem Maß in Anleihen und Aktien.

Die Vermögen von Wiener „Ringstraßenbaronen“ Die Bedeutung von Wien als dem Zentrum der Monarchie braucht nicht näher erläutert werden; hier waren die wichtigsten ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen konzentriert, hier konnten sich relativ unabhängige Subsysteme und Milieus leichter herausbilden. Ernst Hanisch hat daher nicht zu Unrecht von einer „mono122

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cephalistischen“ Struktur Österreichs gesprochen,7 wie sie auch in der Verteilung großer Vermögen zum Ausdruck kam. Entscheidende Impulse für die Ausgestaltung zur Metropole setzte die Stadterweiterung von 1857 – ein Signum der Neugestaltung der Residenz, ein Kennzeichen modernen großstädtischen Lebens. Die Wiener Ringstraßenzone entwickelte sich rasch zur Wohnsphäre des Großbürgertums der Habsburgermonarchie.8 Der Reichtum der viel zitierten „Ringstraßenbarone“, die ein wichtiges Segment der unter der Hocharistokratie rangierenden „zweiten Gesellschaft“ bildeten, war sprichwörtlich. Die bisher noch nicht systematisch und durchgehend ausgewerteten Verlassenschaftsakten des Handelsgerichts Wien ermöglichten es, im Zuge der groß angelegten Forschungen zur Geschichte der Wiener Ringstraße einen zumindest schlaglichtartigen Blick auf das Vermögen von Großhändlern und Privatbankiers zu werfen. Dabei zeigten sich völlig unterschiedliche Formen der Kapitalanlage (vgl. Tabelle 3).9 Man begegnet Personen, die den Großteil ihres Vermögens (etwa drei Viertel) in Wertpapieren, den Rest in relativ mobilem und risikolosem Realitätenbesitz anlegten. Dazu zählte Ignaz Ritter von Ephrussi, der im russischen Bankgeschäft sein Vermögen machte, 1856 nach Wien übersiedelte, hier ein Bankhaus mit Filialen in London und Paris gründete und sich Ecke Dr. Karl Lueger Ring 14-Schottengasse 11 nach den Entwürfen von Theophil Hansen sein Palais bauen ließ. Eine ähnliche Strategie verfolgte Michael Dumba, Mitglied der bekannten griechischen Großhändler-Familie und Bruder des bekannten Mäzens Nikolaus Dumba. Eine differenziertere Anlagepolitik, zudem in finanziell größerem Maßstab, verfolgte Moriz Ritter von Königswarter, dessen Nachlassvermögen 21 Millionen Gulden betrug. Rund zwei Drittel davon bildete – inklusive der beachtlichen offenen Forderungen – offenbar das Firmenkapital. Dazu kam Realitätenbesitz: Güter in Ungarn, Häuser in Wien. Schon sein Va-

7

8

9

Anregende Überlegungen zur Zentrumsfunktion Wiens bei Ernst Hanisch: Zentrum – Peripherie. Modellüberlegungen am Beispiel des Kronlandes Salzburg. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 131 (1991), S. 187-199 sowie bei Ernst Bruckmüller: Wien und die österreichische Identität. In: Erhard Busek (Hg.): Von den Hauptstädtern und ihren Hintersassen. Wien 1987, S. 19-36. Vgl. dazu aus der von Renate Wagner-Rieger herausgegebenen Buchreihe Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche besonders Franz Baltzarek/Alfred Hoffmann/Hannes Stekl: Wirtschaft und Gesellschaft der Wiener Stadterweiterung. Wiesbaden 1975; Elisabeth Springer: Geschichte und Kulturleben der Wiener Ringstraße. Wiesbaden 1979. Baltzarek/Hoffmann/Stekl: Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 8), S. 292-311.

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Tabelle 3: Vermögenstruktur von Bankiers und Großhändlern 1885–1899 Anteil am Gesamtvermögen in % Bargeld Pretiosen, Gemälde, Einrichtung, Kleidung usw. Wertpapiere Realitäten Offene Forderungen Industriebetriebe Gesamtvermögen in Gulden

Ignaz Ephrussi

Michael Dumba

Moriz Königswarter

Viktor Ofenheim

Max Springer

Gustav Leon

0,01 2,4

0,02 1,1

0,4 2,5

0,02 0,6

1,3 0,4

0,01 0,01

74,6 22,9 –

70,3 28,5 –

55,7 12,4 22,9/11,2*) 70,3 7,2 3,0

11,6 46,2 5,9

– 50,3 –







34,4

49,6

13,6

3,308.319 1,219.806 20,990.228 1,818.643 1,377.474 2,269.850

*) Grundbesitz in Ungarn Quellen: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handelsgericht Wien, Verlassenschaften: 31-6 ex 1885 (Springer), 322 ex 1886 (Ofenheim), 86-27 ex 1893 (Königswarter), 2-12 ex 1895 (Dumba), 42 ex 1898 (Leon), 62 ex 1899 (Ephrussi), – Außerhalb der Monarchie angelegte Vermögen sind in den Gesamtzahlen nicht berücksichtigt. Alfred Hoffmann/Franz Baltzarek/Hannes Stekl: Wirtschaft und Gesellschaft der Wiener Stadterweiterung. Wiesbaden 1975, S. 301.

ter Jonas hatte als einer der ersten Privatbankiers mit einer großzügigen Erwerbung von Stadterweiterungsparzellen begonnen. Moriz, der als 23-Jähriger 1860 in die Firma eingetreten war, verfolgte diesen Kurs weiter, sodass sich schließlich 24 Zinshäuser im Wert von rund 4,8 Millionen Gulden in seinem Besitz befanden. Der prozentuell niedrige Anteil von Einrichtung, Pretiosen etc. sollte nicht über deren nominellen Wert hinwegtäuschen; es handelte sich im vorliegenden Fall immerhin um einen Schätzwert von mehr als einer halben Million Gulden. Eine andere Strategie der Vermögenssicherung setzte in besonderem Ausmaß auf Realitätenbesitz. Sie verfolgte vor allem Viktor Ofenheim Ritter von Ponteuxin, wohnhaft Ecke Schwarzenbergplatz 15-Lothringerstraße 5, der bei Bankgründungsgeschäften riesige Gewinne erzielt hatte (möglicherweise stammten daher noch seine Wertpapierdepots), mehrere Häuser im Ringstraßenbereich besaß, wegen mangelhafter Arbeiten bei 124

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einem Eisenbahnbauprojekt aber vor Gericht gekommen und nach einem Aufsehen erregenden Prozess freigesprochen worden war. Sein industrielles Standbein bildete die Beteiligung an einer Wachsfabrik in Elbeteinitz. Gustav Ritter von Leon besaß mehrere Häuser im Ringstraßenrayon, als spektakulärstes das Doppelhaus Schottenring 17-Maria Theresienstraße 18. Er war nur etwa zehn Jahre als Großhändler tätig, verlegte dann den Schwerpunkt seines Wirkens in Interessenvertretungen und Reichsrat und trat erst mit dem Erwerb der Eisengießerei und Eisenkonstruktionsfirma R. Ph. Waagner 1886 wieder ins Geschäftsleben ein, wobei er durch die Durchführung von Brückenbauten den Grundstock für die spätere Bedeutung des Unternehmens legte (seit 1905 Waagner-Biró). Diversifikation war offenbar das Motto von Max Springer. Geboren in Bayern, 1840 von Paris nach Wien gekommen, erzielte er bei Finanzspekulationen hohe Gewinne und dokumentierte seinen gesellschaftlichen Aufstieg durch die Heirat mit Amalia Todesco, die aus einer der reichsten Familien Wiens stammte. In der Folge wählte er eine weniger risikofreudige Anlage in Form von Staatspapieren. Dafür investierte er als einer der wenigen Männer der Börse Kapital in die Gründung bzw. den Ausbau von Industriebetrieben: Seine Spiritus- und Presshefe-Fabrik im Wiener Vorort Rudolfsheim (zu der sich später gleiche Betriebe in Frankreich gesellten) warf hohe Gewinne ab; auch die Beteiligung an den Kohlenwerken in Jaworzno und an der Porzellanfabrik in Elnbogen erwies sich als lukrativ.

Die Vermögen von Wiener Unternehmern 1906 Die günstige Quellenlage für die beim Wiener Handelsgericht abgewickelten Verlassenschaften von Unternehmern (mit der großen Bandbreite vom einfachen Gemischtwarenhändler bis zum Bankier) versuchte die Diplomarbeit von Vera Maria Streller zu nutzen. Die methodisch leider nicht immer befriedigende Studie war bestrebt, die Vermögensstruktur und gewisse Züge des Alltagslebens von Firmenbesitzern zu rekonstruieren. Als Stichjahr bot sich 1906 an – das erste Jahr, in dem auch Testamente den Abhandlungen beigelegt wurden und aus dem mit 154 Akten knapp über 90 % der insgesamt 169 Verlassenschaftsabhandlungen erhalten geblieben sind, neun Zehntel davon (139) enthielten detaillierte Nachlassaufstellungen.10

10

Vera Maria Streller: „Verschwender und Geizkrägen“. Eine strukturelle Untersuchung des Wirtschaftsbürgertums in Wien auf Grund von Verlassenschaftsakten. Diplomarbeit Univ. Wien, Wien 1988.

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Die 139 Nachlässe aus dem Jahr 1906 zeigen eine breite Vermögensstreuung: 26 Personen/18,7 % hatten kein Vermögen bzw. nur Passiven, bei 11/7,9 % lag das Vermögen zwischen 1 und 1.000 Kronen, bei 51/ 36,7 % zwischen 1.001 und 100.000 Kronen, bei 36/25,9 % zwischen 100.001 Kronen und 1 Million, bei 15/10,8 % über 1 Million Kronen. Zu den Millionären zählten zwei Privatbankiers, zehn Industrielle („Fabrikanten“) aus verschiedenen Branchen (Textil, Zucker, Seide, Glas, Maschinen) sowie drei Handeltreibende. Ihre Nachlassvermögen zeigten abermals eine große Bandbreite zwischen 1 Million und 33,6 Millionen Kronen. Die Untersuchung hat es leider verabsäumt, eine Vergleichsanalyse der Vermögensstruktur sämtlicher Verstorbener durchzuführen und den prozentuellen Anteil der einzelnen Vermögensbestandteile (Bargeld, Realitäten, Wertpapiere öffentlich/privat, Versicherungen, Einrichtung, Gemälde/Kunstgegenstände/Schmuck etc.) zu berechnen. Die Angaben unterscheiden nicht einmal zwischen der Höhe von Geschäfts- und Privatvermögen, die in den Nachlassinventaren getrennt ausgewiesen wurden. Bei der Zusammensetzung der Privatvermögen11 wurde eine Spezifizierung der Anlageformen gegenüber Kombinationsmöglichkeiten der Vorzug gegeben. Von 89 nachweisbaren außerbetrieblichen Geldanlagen entfielen 28/31,5 % auf Wertpapiere, 24/27 % auf Realitäten, 7/7,8 % auf Lebensversicherungen, 21/23,6 % auf Wertpapiere und Realitäten, 9/10 % auf andere Kombinationen. Mehr als die Hälfte der insgesamt 57 Investoren auf dem Wertpapiersektor hatte dort weniger als ein Drittel ihres Vermögens angelegt; bei den Millionären (hier waren nur in elf der 15 Verlassenschaften Wertpapiere angegeben) hingegen waren es nur etwa jeder Dritte (36,4 %). Bei dem Reichsten unter den 1906 Verstorbenen, dem Privatbankier Sigmund Reitzes, entfielen mit 24 Millionen Kronen knapp drei Viertel (72,7 %) seines Gesamtvermögens von etwa 33 Millionen Kronen auf Wertpapiere. Darunter befanden sich Staatspapiere (etwa Staatsschuldverschreibungen in der Höhe von 5,1 Mill. Kronen), Aktien von den verschiedensten österreichischen Gesellschaften (an erster Stelle Eisenbahnenaktien im Wert von 6,9 Millionen Kronen, aber auch Anteile an Banken und Industriebetrieben) sowie von Unternehmen im Ausland, selbst aus den USA. Geschäftskenntnisse über günstige Investitionsmöglichkeiten sowie das Bestreben nach Absicherung bewogen offensichtlich zu einer Diversi11

Über Vermögensveranlagung ausführlich Pammer: Entwicklung und Ungleichheit (wie Anm. 5), S. 223-272.

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fizierung zwischen öffentlichen Anleihen, Schuldverschreibungen und börsennotierten Aktien. Weniger vermögende Unternehmer dagegen gaben Staatspapieren den Vorzug. 48 der Verstorbenen besaßen Grundstücke oder Realitäten. Es handelte sich dabei nicht um Investitionen in Zinshäuser oder um Grundspekulationen, sondern um Objekte für den Eigenbedarf. So mancher Wohlhabende war Hausbesitzer (mit eigener Wohnung und Geschäftslokal) in Wien und Villenbesitzer in einer der Vorstädte der Hauptstadt oder im Salzkammergut, der beliebten Sommerfrische. Repräsentatives Wohnen gehörte zweifellos zum Lebensstil des wohlhabenden Großbürgertums:12 Die Wohnsphäre war charakterisiert durch hochgradig differenzierte Raumfunktionen mit (mindestens) einem eigenen Zimmer für jedes Familienmitglied (wie das Boudoir der Dame des Hauses oder das Herrenzimmer des Hausherrn), Salon(s), Speisezimmer, einem eigenen Billardzimmer, Wintergarten, durch eine gediegene Einrichtung meist im Stil des Historismus mit massiven Kästen, Kredenzen mit Marmorplatten, Ledergarnituren, aufwändig tapezierten Diwans und Fauteuils, venezianischen Spiegeln, Wanduhren, reichem Bilderschmuck, Dekorationsgegenständen aus Silber und Bronze (ob ein Schätzmeister 1906 diese oder vielleicht ältere Biedermeiermöbel als „altmodisch“ bezeichnete, mag offen bleiben), man hatte elektrisches Licht, eine große Küche mit einem Eiskasten, ein Badezimmer und (mitunter über eine gesonderte Treppe erreichbare) kleine Dienstbotenkammern. Ebenso wichtiges Statussymbol bildete ein repräsentatives gesellschaftliches Auftreten: große Gesellschaften, bei denen man mit wertvollen Services, Silberbesteck und reichen Tischdekorationen prunkte, Kleidung à la mode, kostbarer Schmuck, Pferdebesitz, ein kleiner Wagenpark, eventuell eine Jagdpachtung, eine Loge in einem der Kulturtempel, zahlreiches Personal sowie Urlaubsreisen oder Kuren. Dagegen begegnete man einem aufwändigen Mäzenatentum vergleichsweise selten. Und ähnlich verhielt es sich mit großzügigen Spenden: Nur in etwas mehr als einem Zehntel der Verlassenschaften von Unternehmern aus dem Jahr 1906 trifft man auf Legate – die meisten im Falle des Reichsten, des bereits erwähnten Bankiers Sigmund Reizes, der 59 Vereine mit Legaten zwischen 500 und 40.000 Kronen bedachte; die Gesamthöhe all seiner Spenden betrug 400.000 Kronen. 12

Vgl. dazu in zahlreichen, unter verschiedenen Herausgebern bzw. Autorinnen erschienenen Bänden der Reihe „Bürgertum in der Habsburgermonarchie“ (Wien-Köln-Weimar 1990 ff.).

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Angesichts dieser Befunde darf allerdings auch nicht außer Acht gelassen werden, dass manche wohlhabenden Familien einen demonstrativen Konsum vermieden, wie dies etwa Stefan Zweig in seinen Lebenserinnerungen von seinem Elternhaus (der Vater war Textilindustrieller) berichtet:13 „Aber nur sehr zögernd folgte die Lebenshaltung unserer Familie dem immer rascheren Anstieg des Vermögens nach. Man legte sich allmählich kleine Bequemlichkeiten zu, wir übersiedelten aus einer kleineren Wohnung in eine größere, man hielt sich im Frühjahr für die Nachmittage einen Mietwagen, reiste zweiter Klasse mit dem Schlafwagen, aber erst in seinem fünfzigsten Lebensjahr gönnte sich mein Vater zum erstenmal den Luxus, mit meiner Mutter für einen Monat im Winter nach Nizza zu fahren. Im ganzen blieb die Grundhaltung, Reichtum zu genießen indem man ihn hatte, und nicht indem man ihn zeigte, völlig unverändert. […] Unbeugsam hielt er an seiner Zurückhaltung, seinem behaglichen, aber diskreten Leben fest.“

Annäherung 3 Die Ebene der Kleinstadt: Die Beispiele Retz und Horn – Wählerverzeichnisse (und nochmals Verlassenschaftsakten) als Quellen – Eine Momentaufnahme in den Stichjahren 1905 und 1906 sowie eine Kurzzeitanalyse für den Zeitraum 1901–1919 bzw. 1907–1919 Eingehende Forschungen über die finanzielle Lage der Bevölkerung von Kleinstädten erweisen sich aus mehreren Gründen als wichtig: Erstens bildeten Klein- und Mittelstädte die am meisten verbreiteten Stadttypen in der Habsburgermonarchie: 1910 gab es in der westlichen Reichshälfte nur sieben Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Hier lebte rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung, in den Mittelstädten (20.000-100.000 Einwohner) 7,3 %, in Kleinstädten (2.000-20.000 Einwohner) 32,3 % und in ländlichen Gemeinden (unter 2.000 Einwohner) fast die Hälfte der Bevölkerung. In den „Alpenländern“ hatten vier Fünftel der Städte weniger als 10.000 Einwohner.14

13

14

Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Berlin-Weimar 21985, S. 22. Hans Heiss/Hannes Stekl: Bürgertum und gesellschaftliche Modernisierung in Österreichs Kleinstädten 1850–1914. In: Clemens Zimmermann (Hg.): Kleinstadt in der Moderne (= Stadt in der Geschichte, Bd. 31), Ostfildern 2003, S. 87-118.

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Zweitens hat die Analyse der Personaleinkommensteuer-Statistik gezeigt, dass auch die Mittel- und Kleinstädte einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Steuerpflichtigen aufwiesen. Doch die detaillierten statistischen Erhebungen erfassten nur Orte mit mehr als 10.000 Einwohnern, wodurch die Vermögenssituation in kleineren Gemeinden mit ihrem oft beachtlichen Ausmaß von zentralörtlichen Funktionen und mit ihrer spezifischen „Mikrourbanität“ unbeachtet blieb. Und drittens darf die Dichte des sozialen Milieus dieser kleinen Zentren nicht vernachlässigt werden, in dem materielle Kriterien und ein spezifischer Lebensstil für die Wertschätzung einer Familie hohen Stellenwert hatten und die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit verschwammen, wie die Oberstentochter Hertha Sprung nach ihrer Übersiedlung nach Klagenfurt in den 1880er Jahren registrierte: „Es war ja eine ganz andere Welt als die gewohnte – die der Kleinstadt mit allen ihren Vor-, aber auch Nachteilen. Während man in der Großstadt jahrelang neben Fremden selbst immer fremd und unbekümmert lebte, kannte hier jeder jeden und, was mich besonders betroffen machte, interessierte sich auch einer für den anderen bis in die kleinsten Begebenheiten des täglichen Lebens hinein. Die Leute wurden stark nach Rang, vor allem aber nach ihrem Vermögen gewertet, ein Gesichtspunkt, der mir ganz neu war; denn wir hatten daheim niemals eine Bemerkung darüber gehört, ob unsere Bekannten arm oder reich seien, ‚nobel’ oder einfach – das gab es eben nicht.“15 Eine erste Modellstudie, die sich mit Fragen der bürgerlichen Lebenswelten in Kleinstädten beschäftigte, konzentrierte sich auf den Mikrokosmos der niederösterreichischen Stadtgemeinden Horn (1900: 2.727 Einwohner), Retz (1.234) und vergleichend auch Eggenburg (3.194). Diese Auswahl war vor allem auf die günstige Quellenlage zurückzuführen, und zwar auf die parallele Verfügbarkeit von relevanten amtlichen Daten (besonders Volkszählungen, Wählerlisten, Verlassenschaften, Vereinsakten), Regionalzeitungen und lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen. Ihr sind auch die hier kurz zusammengefassten Informationen entnommen.16 Auf Fragestellungen und Methodik konnte eine größere Untersuchung aufbauen, die einen Vergleich von unterschiedlichen Stadttypen der westlichen Reichshälfte der Habsburgermonarchie vornahm.17

15 16

17

Schnöller/Stekl (Hg.): „Es war eine Welt der Geborgenheit …“ (wie Anm. 4), S. 249. Hannes Stekl (Hg.): Kleinstadtbürgertum in Niederösterreich. Horn, Eggenburg und Retz um 1900 (= Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich, Bd. 27). Wien 1994. Peter Urbanitsch/Hannes Stekl (Hg.): Kleinstadtbürgertum in der Habsburgermonarchie 1862– 1914 (= Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Bd. 9). Wien-Köln-Weimar 2000.

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Wählerverzeichnisse als Quellen Da einige quellenkritische Hinweise für die Auswertung von Verlassenschaftsabhandlungen bereits gegeben wurden, soll hier etwas ausführlicher auf den Quellentypus der Wählerlisten eingegangen werden. Bis zum Ende der Monarchie beruhte das Wahlrecht für die Gemeindevertretungen auf einem „Besitz- und Bildungszensus“ und auf der Bildung von Wahlkörpern. Nach der niederösterreichischen Gemeindewahlordnung von 1904 wurden in die Wählerlisten alle wahlberechtigten Personen (und Korporationen, Stiftungen, Vereine sowie Aktiengesellschaften) aufgenommen, die seit wenigstens einem Jahr in der Gemeinde eine „Realsteuer“ (Grund- und Gebäudesteuer) oder „Personalsteuer“ (Erwerbs-, Renten- und Personaleinkommensteuer) oder mehrere dieser direkten Steuern zahlten. Dazu kamen jene Personen, die seit mindestens zwei Jahren ihren ordentlichen Wohnsitz in der betreffenden Gemeinde hatten und für ein Jahr eine Vorschreibung aus anderen direkten Steuern erhalten hatten. Die Wahlberechtigten wurden in den Wählerlisten nach der Höhe ihrer Steuerleistung in absteigender Ordnung gereiht. Die Gesamtsteuersumme wurde in größeren Gemeinden in zwölf, in kleineren in drei Teile geteilt; auf dieser Grundlage erfolgte die Bildung der drei Wahlkörper, wobei zusätzlich eine bestimmte Mindeststeuerleistung die Aufnahme in den ersten und zweiten Wahlkörper beschränkte. Unabhängig von ihrer Steuerleistung wahlberechtigt waren Ehrenbürger, Inhaber des Bürgerrechts sowie die „Intelligenzwähler“ (Hof-, Staats-, Landes- und öffentliche Fondsbeamte, Seelsorger aller christlichen Konfessionen und Rabbiner, pensionierte Offiziere, Ärzte, Advokaten, Doktoren einer österreichischen Universität, Direktoren, Professoren und höheres Lehrpersonal der meisten Schultypen sowie andere Träger eines Bildungspatents), die sich im ersten und zweiten Wahlkörper finden. Auf die komplizierten Bestimmungen für das Wahlrecht im vierten Wahlkörper sowie auf das spezifische Wahlrecht in Statutarstädten mit einem absoluten Zensus kann hier nicht eingegangen werden. Die Wählerbasis war dementsprechend schmal; der Anteil der Wahlberechtigten lag in den österreichischen Städten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen etwa 8 % und 22 % der Stadtbevölkerung. Und das Wahlrecht war „ungleich“, da jeder Wahlkörper ohne Rücksicht auf die Anzahl der Wahlberechtigten die gleiche Anzahl von Gemeindeausschüssen und Ersatzleuten wählte.

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Asymmetrische Verteilung des Wohlstandes Angaben in den Wählerlisten Bei den Gemeindewahlen von 1905 besaß die „Schulstadt“ Horn 584 Wahlberechtigte, davon sind 520 nach ihrer Steuerleistung fassbar; in der „Weinstadt“ Retz waren es 257 bzw. 207. In beiden Fällen handelte es sich etwa um ein Fünftel der Stadtbevölkerung. Teilt man die Steuerleistung dieser Personen durch den Median (d. i. jener Zentralwert, der ebenso viele kleine Werte unter sich wie größere Werte über sich hat) und Quartile (Viertelwerte) in vier gleich große Teile, so ergibt sich eine ausgeprägt asymmetrische Steuerleistung, was den Schluss auf eine ebenso ausgeprägt asymmetrische Verteilung des Wohlstandes zulässt (vgl. Tabelle 4). In beiden Städten zahlte die Hälfte der Wahlberechtigten weniger als 20 Kronen an direkten Steuern. Im nächsten Viertel veränderte sich die Spannbreite. Sie lag in Horn zwischen 18,60 Kronen und 51,06 Kronen (wo eine breitere Schicht mäßig wohlhabender Haus- und Grundbesitzer dominierte) und zwischen 20 Kronen und 75,60 Kronen in Retz (wo gut bestellte Gewerbetreibende mit städtischem Hausbesitz überwogen). Das Viertel der größten Steuerzahler erlegte in Horn zwischen 51,68 Kronen und 3.259,07 Kronen (dieser Spitzenwert geht allerdings auf die dominierende Rolle von Gräfin Hoyos-Sprinzenstein zurück; der reichste Bürgerliche, ein mehrfacher Hausbesitzer, erbrachte eine jährliche Steuerleistung von 579 Gulden). In Retz lag die Spannbreite zwischen 87 und 1.508 Kronen (die höchsten Abgaben leistete einer der Weingroßhändler). Ebenso deutlich wird die enorme materielle Spannbreite innerhalb der Kleinstadtbevölkerung, wenn man vergleicht, wie viele Prozent der steuerlich erfassten Wahlberechtigten welchen Anteil am Gesamtsteueraufkommen hatten (exklusive Juridische Personen). In Horn und Retz brachten drei Viertel der Wähler nur knapp ein Fünftel (19,8 % bzw. 19,4 %) der direkten Steuern auf. Filtert man die „Crème“ der 10 % Höchstveranlagten heraus, so trugen diese (52 Personen) in Horn 55 %, in Retz (21 Personen) 58 % der direkten Steuern.

Angaben in den Verlassenschaftsakten Noch weit größere Ungleichgewichtigkeiten bei der Vermögensverteilung zeigt eine Durchsicht der Verlassenschaftsakten (Horn 1907–1919, Retz 1901–1919; vgl. Tabelle 5). In Retz verfügten rund drei Viertel (73,1 %) der Verstorbenen über nur 4,7 % des im Untersuchungszeitraum hinterlassenen Gesamtvermö131

Hannes Stekl

Tabelle 4: Vermögensverteilung nach direkten Steuern in Horn (1905) und Retz (1906) Horn 1905 n = 520 1 2 1. Quartil 2. Quartil 3. Quartil 4. Quartil

0,205,64 5,64 18,60 18,80- 51,06 51,68-3.258,07

452 1.347 4.128 23.973

Retz 1906 n =207 %

1

2

1,5 4,5 13,8 80,2

1,608,45 9,80- 19,88 20,00- 75,60 78,00-1.508,00

253 725 2.224 12.435

% 1,6 4,6 14,2 79,6

Summe Juridische Personen

29.900 100,0 5.519

15.637 100,0 5.436

Gesamtsteuerleistung

35.419

21.073

n = Anzahl der Fälle 1 = Steuerleistung (in Kronen) 2 = Gesamtsteueraufkommen (in Kronen) Zit. nach: Stekl (Hg.): Kleinstadtbürgertum (wie Anm. 16), S. 120.

Tabelle 5: Vermögensverteilung nach Verlassenschaften in Horn (1907–1919) und Retz (1901–1919) Vermögen in Kronen

Horn 1907–1919 Fälle % Vermögen

0 1-1.000 1.001-5.000 5.001-10.000 10.001-20.000 20.001-50.000 über 50.000

263 50 63 21 26 13 16

Summe

452*) 100,0 2,453.128 100,0

58,2 0 11,1 18.884 13,9 167.610 4,6 150.564 5,8 405.929 2,9 327.305 3,5 1,382.836

% – 0,8 6,8 6,1 16,6 13,3 56,4

Retz 1901–1919 Fälle % Vermögen 108 25 41 19 14 20 11

45,4 0 10,5 12.096 17,2 118.072 8,0 127.854 5,9 204.719 8,4 666.278 4,6 1,583.931

– 0,4 4,3 4,7 7,5 24,6 58,4

238 100,0 2,712.590 100,0

Quellen: NÖLA, BG Horn, BG Retz, Verlassenschaftsakten. *) Ausgenommen Gräfin Hoyos-Sprinzenstein Zit. nach: Stekl (Hg.): Kleinstadtbürgertum (wie Anm. 16), S. 122.

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%

Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie

gens; in Horn umfassten knapp über vier Fünftel (83,2 %) der Verlassenschaften nur 7,6 % aller Vermögenswerte. Die Zahl der „Armen“ ohne jede Hinterlassenschaft lag in Horn bei 58,2 %, in Retz bei 45,4 % – die „Weinstadt“ war also wohlhabender als die „Schulstadt“. Beide Landstädte (ähnliche Ergebnisse zeigen auch Stichproben aus Eggenburg) besaßen eine äußerst schmale finanzkräftige Oberschicht. In Horn waren es 16, in Retz 11 Personen (3,5 % bzw. 4,6 %) der Verstorbenen, die mehr als die Hälfte (56,4 % bzw. 58,4 %) aller Vermögenswerte hinterlassen hatten. Es handelte sich dabei in Retz um die Angehörigen alter Weinhändler- und Kaufmannsfamilien, um Privatiers, Rentiers sowie höhere Beamte; in Horn dominierten die Inhaber kleiner regionaler Gewerbe- und Handelsimperien. Aus der Zusammensetzung der Verlassenschaftsvermögen lassen sich jene drei Typen von Kapitalanlageformen ermitteln, wie sie auch bei den „Ringstraßenbaronen“ anzutreffen waren: Haus- und Betriebsbesitz (hier freilich in einer stärker gewerblich orientierten Spielart), Sparguthaben und Wertpapiere, Vermögensstreuung. Da jede dieser Gruppen eine Reihe von Varianten und Übergangsformen aufwies, scheint eine Quantifizierung wenig sinnvoll.

Zeichen des Wohlstands von Kleinstadtbürgern Wohlstand kam in Landstädten Horn und Retz, die von der staatlich-administrativen Verdichtung, dem einsetzenden Fremdenverkehr, den regionalen Gewerbe- und Handelsbetrieben sowie vom Entwicklungsstand der Landwirtschaft in der Umgebung profitierten, in der Verfügung über materielle Güter sowie über symbolisches und kulturelles Kapital zum Ausdruck. Zu den ersteren zählte Hausbesitz in der Tradition des alten Bürgerrechts, als räumliche Voraussetzung für die Ausübung eines Gewerbes, als ökonomischer Rückhalt oder als Einnahmequelle. Bevorzugte Bereiche in der Sozialtopographie der Stadt waren für Honoratioren wie Aufsteiger der Hauptplatz,18 die Ausfallstraßen, die Bahnhofstraße, später auch die neuen Villenviertel vor der Stadt (und obwohl das 1907 „Am Stadtwall“ in Retz erbaute Haus des Arztes Dr. Schleifer sich von den ebenerdigen Nachbargebäuden abhob und in Richtung Kirche und Schule blickte, bedauerte es seine älteste Tochter, nicht „in der Stadt“ zu wohnen19 ).

18

19

Über die Etablierung der jüdischen Schlosser- und Eisenwarenhändlerfamilie König auf dem Hauptplatz von Retz vgl. Michael Mitterauer (Hg.): „Gelobt sei, der dem Schwachen Kraft verleiht“. Zehn Generationen einer jüdischen Familie im alten und neuen Österreich (= Damit es nicht verlorengeht … Bd. 14), Wien-Graz-Köln 1987, S. 179 f. Schnöller/Stekl (Hg.): „Es war eine Welt der Geborgenheit …“ (wie Anm. 4), S. 150.

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Die bauliche Erscheinung sowie die Ausgestaltung der Gebäude zeigten nicht nur die Kluft zwischen mehr oder weniger Wohlhabenden, sondern auch die feinen Differenzierungen zwischen den einflussreichen Personen der Stadt. Es machte einen Unterschied, ob ein Objekt mit Ziegeln oder Holzschindeln gedeckt war, ob man ein mehrstöckiges Haus besaß oder mit einem ebenerdigen vorlieb nehmen musste, ob man (obwohl eine Einladungskultur noch in den Kinderschuhen steckte) über eine Zimmerflucht oder über kleine, einfenstrige Räume verfügte, ob man auf Stuckdecken, Vertäfelungen oder Steinfußböden oder auf einfach verputzte Wände oder Bretterböden blickte, ob man sich nach dem Bau von Wasserleitungen ein Badezimmer leisten konnte oder mit einem einfachen Bottich in der Küche bescheiden musste, ob man einen gepflegten Garten mit Salettl, Kegelbahn und Stallungen für Reitpferde oder bloß einen Hof mit Ställen für Kleinvieh, Holz- oder Werkzeugschuppen sein Eigen nannte, ob man einen einfachen Laden besaß oder attraktiv gestaltete Auslagen, Portale mit Rollbalken, eine Pflasterung vor dem Geschäft. Von „gehobenem Wohnen“ zeugten repräsentative „polierte“ Möbel großstädtischen Zuschnitts, Fauteuils, ein eigener Schreibtisch, gerahmte Spiegel, die Pendeluhr, Teppiche, Gardinen auf Messingkarniesen, Musikinstrumente (vor allem das Klavier), Bücher, Kerzenleuchter, Obstaufsätze, Vasen, Nippesfiguren und Spitzendeckchen; wer sich der „Moderne“ öffnete, erwarb die in Mode kommenden Jugendstil-Möbel oder eine Kücheneinrichtung nach den Vorbildern der neuen Hygiene-Ausstellungen. In jenen Kreisen der Kleinstadtbevölkerung, die sich durch größeres Vermögen, akademische Bildung oder Beamtenstatus abhoben, gab es auch häusliches Dienstpersonal (meist ein Dienstmädchen), das in keiner Beziehung zur Produktionssphäre der Haushalte stand. Einen stärker differenzierten Personalstand mit Gesellschafterin, Stubenmädchen, Köchin und Küchenmädchen oder Kutscher und Hausknecht konnten sich nur die Reichsten leisten.20 Ein Zeichen von Wohlstand war auch die wachsende Unabhängigkeit von der langlebigen Vorratswirtschaft mit Kleinviehhaltung, Vorräten an geräuchertem Fleisch, Obst oder eingelegtem Gemüse – an ihre Stelle trat der Einkauf bei Nahversorgern oder Bauern der Umgebung. Als wichtigstes Distinktionsmerkmal innerhalb der Kleinstadt, aber auch gegenüber der „Tracht“ der bäuerlichen Bevölkerung erwies sich die Kleidung, wobei Sauberkeit und situationsadäquates Modebewusstsein schon im Kindesalter einsetzten: Was für Mädchen weiße Kleider und 20

Quantitative Angaben bei Stekl (Hg.): Kleinstadtbürgertum (wie Anm. 16), S. 168-172.

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Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie

Lackschuhe, war für Knaben der Matrosenanzug, für die Herren Frack oder zumindest Gehrock, Zylinder oder steifer Hut, Stehkragen und Halsbinde, für die Frauen Spitzenkleider, Fächer, Handschuhe und ausladende Hüte – wenngleich die Gelegenheiten für repräsentativen Kleidungsaufwand in der Kleinstadt beschränkt waren. Dazu kamen Schmuckstücke: die goldene oder wenigstens silberne Taschenuhr mit Kette, die goldenen Manschettenknöpfe, Krawattennadeln und (ganz selten) die Zigarettendose bei Männern, Ringe mit Brillanten, Edel- oder Halbedelsteinen, Armbänder, Halsketten, Anhänger, Medaillons, Spangen, Kameen und Broschen bei den Frauen. Die wenigen reichen Bonvivants prunkten mit einem eigenen Automobil, die Schöngeister reisten nach Wien und befriedigten mit Theater-, Konzert-, Museums- und Ausstellungsbesuchen ihre kulturellen Interessen. Und schließlich demonstrierte postum die „schöne Leich“ auch Sozialprestige: Die Zahl der Priester, Drapierung, Dekor, Begleitpersonal, Musik, Anzahl und Renommee von Trauergästen, Abordnungen von politischen Körperschaften und Vereinen, Ansprachen, Beileidstelegramme, Leichenschmaus, die Lage der Grabstätte auf dem Friedhof und deren spätere Gestaltung, die Stiftung von Gedenkmessen wie Legaten für wohltätige Zwecke – all das waren Indikatoren für den sozialen Status einer Person und für den der Hinterbliebenen.

Statt der Annäherung 4 – Impressionen über die finanzielle Lage des Hochadels Die herausragende Bedeutung adeligen Reichtums zeigte sich bereits bei der Problematik der Verwendung von Durchschnittswerten in der Statistik der Personaleinkommensteuer: Als reichster Politischer Landbezirk der gesamten westlichen Reichshälfte erwies sich Wittingau in Südböhmen, wo auf jeden Steuerpflichtigen ein jährliches Durchschnittseinkommen von 8.553 Kronen entfiel. Der größte Steuerträger (wahrscheinlich ein Fürst Schwarzenberg) fatierte nämlich allein 84.300 Kronen – dagegen lagen vier Fünftel aller Zensiten in den Einkommensklassen unter 2.400 Kronen, ein weiteres knappes Fünftel zwischen 2.400 und 7.200 Kronen. Auch bei den Erhebungen über den Wohlstand in Kleinstädten empfahl es sich, ortsansässige Adelige gesondert zu betrachten, um die Statistiken nicht unzulässig zu verzerren. Dafür nur ein Beispiel: Das reichste Horner Ehepaar verfügte über einen Nachlass im Wert von rund 327.000 Kronen. Als die verwitwete Gräfin Eleonorea Hoyos-Sprinzenstein, ein Mitglied dieses alten, im Waldviertel ansässigen Adelsgeschlechts, 1913 135

Hannes Stekl

starb, hinterließ sie 623.555 Kronen: Zu drei Vierteln handelte es sich um Wertpapiere, 17 % waren Erbteilsforderungen an ihren Sohn, 4,1 % Wertsachen (darunter alter Familienschmuck, Gemälde, Bücher, exquisite Einrichtungsgegenstände und eine kostbare Spitzensammlung), 2,8 % ein ihr gehöriges Landhäuschen, 2,1 % Sparguthaben bzw. Bargeld.21 Da systematische Untersuchungen über das Vermögen adeliger Familien noch ausstehen, müssen hier einige skizzenhafte Bemerkungen genügen.22 Die Höhe des Familienvermögens, des Einkommens aus Grundbesitz, Kapital- und/oder Arbeitseinkommen sowie das Ausmaß der Kreditbelastungen wiesen sowohl innerhalb der österreichischen Aristokratie als gesellschaftliche Formation als auch innerhalb der einzelnen Adelshäuser eine große Bandbreite auf. Beträchtlich waren die Unterschiede zwischen den Dispositionsmöglichkeiten eines Familienchefs sowie denen der Agnaten und seiner Kinder. Ihre Alimentation beruhte auf Apanagen, eigenem Vermögen etwa in Form von Erbteilen von Verwandten und Berufstätigkeit; nicht selten sicherte erst eine reiche Heirat Stabilität und Unabhängigkeit. Unbewegliches Vermögen in Form von Grundbesitz garantierte keineswegs spektakuläre, doch relativ stabile Erträge (langfristige Durchschnittsberechnungen ergaben etwas mehr als 4 % des Kapitalwerts der Besitzungen) und bot zudem eine Sicherstellung für Kapitalaufnahmen zu Investitions- wie zu Konsumzwecken. Geht man vom Grundbesitz als wichtigste Einkommensquelle und Kapitalanlage aus, so zeigt es sich, dass Größe und Struktur der adeligen Besitzungen eine große Spannbreite aufwiesen. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden bedeutende Unterschiede zwischen Böhmen und Mähren (vielfach geschlossene Besitzungen von beachtlicher Ausdehnung und großen landwirtschaftlichen Industrien und Bergbaubetrieben) sowie den Alpen- und Küstenländern (starke Aufsplitterung der Güter, geringer Industrialisierungsgrad). Diese strukturellen und ökonomischen Divergenzen sowie eine ausgeprägte Konzentration des Grundbesitzes in den Händen einiger weniger Familien blieben weitgehend bestehen.

21 22

Stekl (Hg.): Kleinstadtbürgertum (wie Anm. 16), S. 123. Als Informationsgrundlagen siehe Hannes Stekl: Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung. Österreichs Hocharistokratie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. In: HansUlrich Wehler (Hg.): Europäischer Adel 1750–1950. Göttingen 1990, S. 144-155; ders./ Marija Wakounig, Windisch-Graetz. Ein Fürstenhaus im 19. und 20. Jahrhundert. WienKöln-Weimar 1992; ders.: Der österreichische Adel. In: Sozialgeschichte der Habsburgermonarchie (in Vorbereitung).

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Ende des 19. Jahrhunderts besaß der Hochadel (Erzherzöge, Herzöge, Prinzen, Fürsten, Grafen) in Böhmen 1,168.927 Hektar (22,5 % der Gesamtfläche des Landes/160 Besitzfälle), in Mähren 409.071 Hektar (18,4 %/88), in Niederösterreich 189.577 Hektar (9,6 %/87). Selbst innerhalb dieser Latifundien lässt sich noch eine weitere Besitzkonzentration feststellen: In Böhmen waren 11,4 % der Gesamtfläche des Landes in der Hand von 14 Familien; an der Spitze standen die Fürsten Schwarzenberg mit 176.400 Hektar (3,4 % der Gesamtfläche des Landes). Ähnlich lagen die Verhältnisse in Mähren (11 Besitzer mit 10,8 % der Fläche des Landes, allen voran die Fürsten Liechtenstein mit 107.438 Hektar/4,9 %) und in Niederösterreich (13 Besitzer/178.400 Hektar/9 %, führend die Grafen Hoyos-Sprinzenstein mit 33.000 Hektar) sowie der Steiermark (14 Besitzer/159.603 Hektar/7,1 %). Auch in den Alpenländern befanden sich größere geschlossene Besitzkomplexe häufig in den Händen von Adelsfamilien. Die Nutzungsformen variierten entsprechend den Ökotypen der verschiedenen Regionen. Die Verwaltungsstrukturen orientierten sich an den Wirtschaftsschwerpunkten und an der Komplexität der Domänen. Vor allem zahlreiche adelige Großgrundbesitzer verstanden es bereits früh, sich im ökonomischen Bereich neue kapitalistische Ideen selektiv anzueignen, ohne dass dadurch ihr Status irgendwelche Brüche erlitt oder ihre Mentalität eine entscheidende Umprägung erfuhr. Der Übergang zum agrarischen und/oder industriellen Unternehmer, der eine durchgreifende kapitalistische Modernisierung, Mechanisierung und Technisierung der Betriebe vornahm, gestaltete sich nach Größe, räumlicher Struktur, Ertragschancen und persönlichem Einsatz sowie nach dem Industrialisierungsgrad der betreffenden Region in den einzelnen Kronländern sowie bei den einzelnen Familien höchst unterschiedlich. Allerdings besaßen die einzelnen Adeligen für die Tätigkeit eines „Ökonoms“ eine unterschiedliche Vorbildung und erfüllten ihre Aufgaben mit unterschiedlichem Engagement – und nicht wenige ließen eine laxe Betriebsführung einreißen und klagten dann über den Rückgang der „Revenuen“. Manche lehnten spektakuläre Investitionen oder gar Spekulationen rundweg ab, andere wieder engagierten sich im Eisenbahnbau oder im Bankensektor. Außerdem hielten sich so manches Geldinstitut und manche Aktiengesellschaft ihren „Renommiergrafen“, dessen guter Name für die Solidität des Unternehmens bürgen sollte. War der Güterbesitz über mehrere Kronländer verstreut, griffen administrative Reformen nur langsam, fehlte verlässliches Personal, vernachlässigte man einschneidende Reformschritte zur Rentabilitätssteigerung, war die Eigenkapitalbasis schmal oder wurden laufend Gelder für auf137

Hannes Stekl

wändige Statusdemonstration und Familienzwecke entnommen, so musste man aufgrund von mehrfachen Kreditaufnahmen über Generationen hinweg um eine finanzielle Konsolidierung ringen. Als Beispiel sei hier die ältere Linie des Fürstenhauses Windisch-Graetz angeführt.23 Ihr Grundbesitz umfasste rund 30.000 Hektar und befand sich in Böhmen, der Südsteiermark, Ungarn und (in Form der mediatisierten Standesherrschaft) in Württemberg. Ein Teil der Erwerbungen war vor 1848 durch eine sogenannte Lotterieanleihe finanziert worden, die für die Dauer der Laufzeit von 47 Jahren eine hohe kontinuierliche Belastung der Finanzen darstellte. Zwischen 1900 und 1912 verfügte die Familie über jährliche Durchschnittseinnahmen von 15,111.940 Kronen; davon stammten fast zwei Drittel (61,9 %) von den Gütern, 19,9 % aus (nicht differenzierbaren) Investitions- und Konsumkrediten, knapp ein Sechstel (15,7 %) aus anderen Erträgen (darunter befanden sich auch hohe verklausulierte und daher nicht eruierbare Posten) und 2,5 % aus Verkäufen. Die Budgets waren mit Ausgaben von 15,543.425 Kronen leicht im Defizit. Es entfielen auf Darlehensrückzahlungen und Zinsen 31 %, auf die „Hofhaltung“ 26,2 %, auf „Verschiedenes“ (darunter verschlüsselte Durchlaufposten) 17,4 %, Pensionen und Gnadengaben 8,7 %, Palais und Wohngebäude 4,3 %, die Zentralverwaltung 3,6 %, Apanagen 2,8 %; Investitionen, Grundankäufe und Kapitalanlagen machten zusammen nur 6 % aus. (Es sei hier nur kurz angemerkt, dass für das beginnende 20. Jahrhundert weit weniger komplexe, aber detaillierter aufgeschlüsselte Haushaltsbudgets von Beamten- und Arbeiterfamilien vorliegen.24) Dieses gegenüber früheren Jahrzehnten einigermaßen befriedigende Ergebnis war weniger das Resultat einer durchgreifenden ökonomischen Modernisierung als einer gewissen Konsolidierung der Ausgaben (der Schuldendienst hatte einmal schon fast 60 % der Gesamtausgaben erreicht). Dennoch blieben die Bedeckung von Auslagen für Familienangelegenheiten (Hochzeit der Töchter von Fürst Alfred III., Silberhochzeit des Fürstenpaares, Schuldenaffairen) und neue Anforderungen (Personalein-

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Stekl/Wakounig, Windisch-Graetz (wie Anm. 22), S. 103-151 sowie die Tabellen S. 302312. Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829–1979 (= Beiträge zur österreichischen Statistik, Heft 550). Wien 1979, S. 129 (nach: Maximilian Steiner: Beamten-Wohnungen. Wien 1901); Vera Mühlpeck/Roman Sandgruber/ Hannelore Woitek: Index der Verbraucherpreise 1880–1914. In: ebenda, S. 654 (nach: Wirtschaftsrechnungen und Lebensverhältnisse von Wiener Arbeiterfamilien in den Jahren 1912–1914 [Soziale Rundschau, Sonderheft]. Wien 1916).

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Reichtum und Wohlstand in der späten Habsburgermonarchie

kommensteuer, Gehalts- und Pensionsreform für die Angestellten) weiterhin ungelöste Problemfelder. Aufgrund der langjährigen Hypotheken war den Windisch-Graetz die erhoffte Gründung eines Fideikommiss unmöglich geblieben. Doch das Fideikommiss- und das Majoratsprinzip sowie die Aufspaltung von Familien in mehrere Linien trugen dazu bei, dass innerhalb des Adels auch eine beachtliche Zahl von Besitzern kleiner Güter bzw. von Landlosen entstand, die ihren Lebensunterhalt mit einem Mix von Einkünften bestritten, dabei aber auf ein standesgemäßes Auftreten nicht verzichten wollten oder konnten. Gerade in solchen Familien entstanden aus verschiedenen Gründen nicht selten kurz- oder mittelfristige Liquiditätsprobleme: Sogar Franziska Fürstin Montenuovo, eine geborene Kinsky, Gattin des Obersthofmeisters, konnte sich einmal nicht an einem Familiengeschenk für ihre Mutter beteiligen, da ihre Finanzen gerade „besonders schwindsüchtig“ waren und selbst ihr Gatte kein Weihnachtsgeschenk zu erwarten hatte.25 Viel schlimmer dagegen war es Ernst Graf Wurmbrand ergangen, der mangels Heiratskaution 1869 wegen Invalidität den Militärdienst quittiert, 1873 sein Vermögen verloren und erst 1878 eine kärglich bezahlte Stelle als Rechnungsassistent im Ackerbauministerium gefunden hatte: „Wahrlich, in dieser Zeit habe ich gelernt und gespürt, was Armut ist […] wie schwer es ist, ehrlich und korrekt zu bleiben. […] Wir hatten oft Tage hindurch nur Brot und Knackwurst …“.26 Nach einer der seltenen kritischen Selbsteinschätzungen besaß der Adel eine „angeborene und anerzogene Nonchalance in Geldsachen und die Scheu, als Mensch zu erscheinen, der Jagd auf jeden Kreutzer macht“.27 Noble Passionen brachten manchen Aristokraten in arge Schwierigkeiten. Fürst Carlos Clary-Aldringen z. B. schlitterte durch seine zahlreichen Kirchenbauten und Restaurierungsarbeiten in ein derartiges Finanzdebakel, dass er auf dringende Bitte des Familienrates die Besitzführung abgeben musste und die Liquidität des Hauses nur durch radikale Sanierungsmaßnahmen gesichert werden konnte.28 Andere Adelige, vor allem junge Of-

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Margit Silber: Obersthofmeister Alfred Fürst Montenuovo. Höfische Geschichte in den beiden letzten Jahrzehnten der österreichisch-ungarischen Monarchie (1896–1916). Phil. Diss. Wien 1991, S. 24 f. über eine Korrespondenz aus den frühen 1890er Jahren. Ernst Wurmbrand: Ein Leben für Alt-Österreich, hg. von Lorenz Mikoletzky. Wien 1988, S. 356 ff., das Zitat 363 f. Jaromír Boøek: Z deníkuº Moravského politica v érˇe Bachoveˇ (Egbert Belcredi 1850– 1859). Brno 1976, S. 89, Eintragung vom 22. Mai 1857. Alfons Clary-Aldringen: Geschichten eines alten Österreichers. Frankfurt am Main-Berlin 1989, S. 41-44.

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Hannes Stekl

fiziere, lebten nicht selten über ihre Verhältnisse, verschuldeten sich bei Wucherern oder brachten das Vermögen ihrer Gattinnen durch. So manchem blieb nur mehr der Weg in die Emigration. Zudem verfügten nicht wenige Adelige, vor allem nachgeborene Söhne, nur über bescheidene Rücklagen, sodass unvorhergesehene Ausgaben Sorgen bedeuteten: Selbst der ehemalige Staatsminister Richard Graf Belcredi war erleichtert, dass die Taxen für die Verleihung des Ordes vom Goldenen Vließ 1878 vom Kaiser übernommen wurden – ansonsten hätte er die 4.000 Gulden von einem Freund vorstrecken lassen müssen.29 Das traditionelle Statusverbrauchsethos, das sowohl innerhalb des Adels praktiziert als auch von der Öffentlichkeit erwartet wurde, sorgte immer wieder für finanzielle Schwierigkeiten. Selbst höhere adelige Beamte hatten häufig mit Geldschwierigkeiten zu kämpfen. Adolf Fürst Auersperg fand in den 1860er Jahren mit seinen Bezügen als Bezirkshauptmann von Teplitz sowie mit einer Apanage von jährlich 6.000 Gulden für sich und 2.000 Gulden für seine Frau kein Auslangen und musste sogar mehrfach Schmuckstücke aus Familienbesitz veräußern. Seine „eiserne Sparsamkeit“ reichte bis zu Eingriffen in den Speisezettel. Als Ministerpräsident (ab 1871) konnte er schließlich aufatmen: „Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, endlich nach Jahren ganz schuldenfrei zu sein und genug bares Geld in der Kasse haben.“ Doch erst als knapp 60-Jähriger erreichte er 1880 sein ersehntes Lebensziel: Einen eigenen Grundbesitz, das Sekundogenitur-Fideikommiss Schloss Goldegg in Niederösterreich: „[…] wenn man als ewiger Jude durch mehr als ein halbes Jahrhundert in fremden Räumen ruhelos herumgewandert ist, dann empfindet man den Zauber, der in den Worten liegt: Bei m i r, bei u n s!“30 Diese Bemerkungen sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass im Wertekanon wohl nicht weniger Aristokraten nicht (nur) demonstrativer Reichtum, sondern eine symbolische Form von Herrschaft und Unabhängigkeit hohen Stellenwert besaß.

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Walter Mertal: Graf Richard Belcredi (1823–1902). Ein Staatsmann aus dem Österreich Kaiser Franz Josephs. Phil. Diss. Wien 1962, S. 155. Irmgard Klebl: Fürst Adolph Auersperg (1821–1885). Seine politische Karriere und seine Persönlichkeit. Phil. Diss. Wien 1971, S. 35, 92, 249, 259. Vgl. auch Miha Preinfalk: Auersperg. Geschichte einer europäischen Familie. Graz-Stuttgart 2006, S. 287 f., 295299.

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Gerhard Melinz

Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannungsfeld sozial- und armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938) Auf dem Weg zur industriegesellschaftlichen Moderne zählt in Österreich die Zwischenkriegszeit in wirtschaftshistorischer und sozial- bzw. armutspolitischer Perspektive zu einer äußerst interessanten Entwicklungsphase. Im Allgemeinen gilt wohl die Weltwirtschaftskrise (1929–33) als prägnanter Höhepunkt einer Ära der Massenarbeitslosigkeit, die zuletzt auch im politischen System zu gravierenden Erschütterungen führte. Der folgende Beitrag versucht anhand einzelner Aspekte die soziale Misere in den Existenzbedingungen der Bevölkerungsmehrheit (unter Bezugnahme auf ausgewählte empirische sozialräumliche Kontexte) in den Blick zu nehmen und sie mit den gängigen sozial- und armutspolitischen Strategien zu kontrastieren, kann aber – schon aus Platzgründen – keinen systematischen Überblick zur Gesellschaftsgeschichte der Zwischenkriegszeit1 bieten. Hier sollen andeutungsweise die Spannungsfelder zwischen systemischen Strukturen und policies einerseits und das Schicksal der davon betroffenen Bevölkerungsgruppen andererseits aufgezeigt werden. Die Darstellungsweise orientiert sich grob an einer Zweiteilung nach Dekaden.

Gerhard Melinz, Dr., Universitätsdozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, hauptberuflich als Lehrender an der FH Campus Wien, Department Soziale Arbeit. 1

Einen alternativen Deutungsversuch bietet Gerhard Melinz: Christlichsoziale Politik und semiperiphere Entwicklung in Österreich. In: Rudolf G. Ardelt/Christian Gerbel (Hg.): 50 Jahre Zweite Republik. Österreichischer Zeitgeschichtetag vom 22. bis 24. Mai 1995 in Linz. Innsbruck-Wien 1997, S. 242-245.

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Gerhard Melinz

Die 1920er Jahre Zwischen Kriegsfolgen und „sozialpolitischem Boom“ Der Erste Weltkrieg schuf ohne Zweifel neue Möglichkeiten gesellschaftspolitischer Steuerung. Dem alten liberalen Paradigma der Dualität öffentlich-rechtlicher und privater Sphäre wurde durch die zentralstaatlich orchestrierte Vergesellschaftung von Produktion und Reproduktion in den Kriegsjahren endgültig der Garaus gemacht. Mit dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs ging auf Seiten der herrschenden Eliten eine Revolutionsfurcht einher, die erst den „sozialpolitischen Boom“ zwischen 1918 und 1920 möglich machte. Unter den Rahmenbedingungen eines demokratisch legitimierten föderalen Bundesstaates kam es zu moderaten sozialpolitischen Verbesserungen.2 Eine für viele LohnarbeiterInnen besonders wichtige Neuerung war die Schaffung einer Arbeitslosenversicherung im Jahre 1920. Beträchtliche Schwierigkeiten im Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft waren zu überwinden. Insbesondere Frauen und Jugendliche, die man während der Kriegsjahre umfassend in den Arbeitsmarkt der Kriegsökonomie integriert hatte, wurden nunmehr von ihren Arbeitsplätzen verdrängt. Die männlichen Kriegsheimkehrer nahmen als Familienernährer deren Arbeitsplätze wieder ein. In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es nicht nur Sorge um Arbeit und Einkommen, sondern auch weit verbreitet Hunger, Not und Krankheit. Das Überleben wurde durch ausländische Hilfsaktionen erleichtert. Darüber hinaus wurden überlebensnotwendige Ressourcen auch jenseits juristischer Eigentumsnormen (z. B. Holz- und Kohlediebstahl) beschafft. Der Erste Weltkrieg machte Menschen auf vielfältige Weise zu Opfern. Zunächst sind hier Kriegerwitwen und Kriegswaisen sowie Kriegsinvalide zu nennen. Für diese Gruppen übernahm der Zentralstaat soziale Verantwortung in Form sozialer Versorgung.3 Den einschlägigen sozialen Transferzahlungen haftete nicht das Odium einer armenfürsorgerischen Maßnahme an. Die Unterstützungszahlungen waren jedoch für die Betroffenen nicht hoch. Eine weitere Gruppe, die sich als Kriegsverlierer

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Als Überblick Emmerich Tálos: Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse. (=Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 5). Wien 1981, S. 143 ff. Vgl. dazu Verena Pawlowsky/Harald Wendelin: Die Verwaltung des Leides. Kriegsbeschädigtenversorgung in Niederösterreich. In: Peter Melichar/Ernst Langthaler/Stefan Eminger (Hg.): Wirtschaft. Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 2. Wien-KölnWeimar 2008, S. 507-536.

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Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannungsfeld …

erlebte, waren die sogenannten Kleinrentner. Es handelte sich dabei um den „alten Mittelstand“ des Kaiserreichs, der sein Vermögen im Zuge der Inflationsjahre weitestgehend verloren hatte.4 Die Zahl der österreichischen Kleinrentner bewegte sich seit der Ermöglichung einer „Kleinrentnerfürsorge“5 im Jahre 1929 zu Beginn der 1930er Jahre um 35.000 Personen jährlich.6

Angespannter Arbeitsmarkt und staatliche Reaktionsmuster Bestimmend für die soziale Existenz der Bevölkerungsmehrheit war und blieb die Integration in die Lohnarbeit. Doch Gelderwerb allein ermöglicht(e) noch nicht das Überleben. Hierzu braucht(e) es die zumeist von Frauen unentgeltlich erbrachte Reproduktionsarbeit im eigenen Haushalt. Die Situation des (Lohn-)Arbeitsmarktes in Österreich war während der 1920er Jahre höchst angespannt. Eine erste Welle von Arbeitslosenprotesten war unmittelbar nach dem Kriegsende zu verzeichnen. Die Häufigkeit der Proteste nahm gewiss in den darauf folgenden Jahren eher ab, ein Ende von Arbeitslosenprotesten gab es aber nie.7 Die Steuerung des Arbeitsmarktgeschehens in Österreich lief über Industrielle Bezirkskommissionen, die, mit Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber besetzt, für das Arbeitsmarkt(vermittlungs)geschehen und die Arbeitslosenunterstützung zuständig waren.8 Niederösterreich, seit 1922 ein eigenes Bundesland ohne Wien, war als einziges Bundesland mit vier Industriellen Bezirkskommissionen (IBK) ausgestattet. Darüber hinaus handelte es sich bei Niederösterreich um das flächen- und bevölkerungsmäßig größte Bundesland (abgesehen von Wien), das auch über eine maximale Variation hinsichtlich der Wirtschaftsstruktur (Industriegebiete und unterschiedliche ländlich-agrarische Zonen) verfügte. Die Werte für die vier Ge-

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Untersuchungen über diese Gruppe stellen bislang ein Forschungsdesiderat dar. Eine einschlägige Diplomarbeit zu diesem Thema erstellt gerade Georg Braunschweig, die 2009 zugänglich sein wird. Kleinrentnergesetz vom 18. Juli 1928, BGBl. Nr. 251. Statistisches Handbuch für den Bundesstaat Österreich, XVII. Jg. Wien 1937, S. 208 (Zahlen für 1933–1936). Zur Kleinrentnerhilfe des Bundes hatten die Kommunen einen Finanzierungsbeitrag zu leisten. Die Rechnungsabschlüsse des „Kleinrentnerfonds“ finden sich zum Beispiel in: Amtliche Nachrichten des Bundesministeriums für soziale Verwaltung 1933, Nr. 11/12, S. 399 ff. Anschauliche Belege dafür finden sich in den Akten des Archivs der Republik (AdR) des Österreichischen Staatsarchivs (ÖSTA). Die übergeordnete Instanz war das Bundesministerium für soziale Verwaltung.

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Wien-Umgebung Wiener Neustadt St. Pölten Gmünd Österreich ohne Wien

Quellen: Bundesministerium für soziale Verwaltung: Statistiken zur Arbeitslosenversicherung, Heft I, 1930. S. 14 (Tabelle 3); Heft III, 1932. S. 5 (Tabelle 4). Die AltersfürsorgerentnerInnen (seit Oktober 1927) scheinen in dieser Statistik nicht auf.

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Graphik 1: Unterstützte Arbeitslose nach Industriellen Bezirkskommissionen in Niederösterreich und Österreich (ohne Wien) im Jahresdurchschnitt 1923–1931 (Index 1923 = 100)

Gerhard Melinz

… sozial- und armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938)

biete der IBK und ein Vergleichswert für „Österreich ohne Wien“ machen deutlich, dass bereits ab 1923 die Zahl der unterstützten Arbeitslosen insgesamt stieg (Graphik 1). Bei der Stagnation nach 1926 ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass seit Oktober 1927 langzeitarbeitslose ältere ArbeitnehmerInnen aus der vorliegenden Statistik herausgenommen wurden. Massive Beschäftigungsprobleme und das lokal oft unterschiedliche, aber beträchtliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit bildeten die Grundlage für die Schaffung einer neuen Statusgruppe von Arbeitslosen: Die „Altersfürsorgerentner“ konnten seit Oktober 1927 ab dem vollendeten 60. Lebensjahr bei Vorliegen von Arbeitslosigkeit aus der Arbeitslosigkeit ausscheiden. (Für ArbeiterInnen gab es noch keine Altersversicherung.) Ihre Zahl stieg innerhalb weniger Jahre beträchtlich an.9 Die Altersfürsorge allein sicherte die Existenz von AltersfürsorgerenternInnen bei weitem nicht: Die Wienerin Berta Sailer erhielt als ehemalige Arbeiterin der Metallbranche 1929 eine solche Rente in Höhe von 50 Schilling. Davon konnte sie nicht leben, sie nahm zwei Untermieter auf und kochte für sie; das ermöglichte ihr erst eine bescheidene Existenz.10 In den ausgewiesenen Unterstütztenzahlen von Arbeitslosen sind diese AltersfürsorgerentnerInnen weiterhin nicht enthalten. Die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen ist also höher anzusetzen.11 Ungeachtet dieses beschönigenden Statistikeffekts stieg die Zahl der unterstützten Arbeitslosen unübersehbar an. Die IBK-Gebiete Wiener Neustadt und Wien-Umgebung lagen unter dem Niveau „Österreich ohne Wien“, St. Pölten und Gmünd darüber. In absoluten Zahlen hatten jedoch die industriell-gewerblich geprägten Standorte St. Pölten und vor allem Wiener Neustadt ein hohes Niveau an Arbeitslosen in ihrem Gebiet.12 Die IBK Wien-Stadt verzeichnete während der 1920er Jahre im österreichweiten Vergleich einen nur

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Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 1929/30, hg. von der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien, S. 546; 1932/33, S. 426 f.; 1937, S. 530 f. Vgl. das Interview in der Gewerkschaftszeitung Der Metallarbeiter 1929, zit. nach Gerhard Melinz: Coping with social and economic crisis: The Viennese experience, 1929– 1939. In: Malcolm McGee/Tim Kirk/Jill Steward (Hg.): The City in Central Europe. Culture and Society from 1800 to the Present. Aldershot u. a. 1999, S. 207. Die bürokratische Erfassung der Altersfürsorgerentner basierte auf eigenen Stichtagen. Eine schlichte Addition der Zahl der Altersfürsorgerentner zu den anderen unterstützten Arbeitslosen wäre nicht korrekt. Die Darstellungsform mittels Indexwerten mit Basis 100 (gilt für alle Tabellen dieses Beitrags) macht es zwar möglich, Entwicklungstrends ab einem bestimmten Startjahr gut abzubilden. Für eine Gesamtinterpretation sind jedoch die absoluten Zahlenwerte zu berücksichtigen.

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moderaten Anstieg der Arbeitslosigkeit.13 Dies dürfte wohl dem spezifischen policy mix einer sozialen Steuerpolitik und beschäftigungsfördernden expansiven Wohnbaustrategie der sozialdemokratisch geführten Wiener Stadtregierung zu verdanken sein.14 Neben den Industriellen Bezirkskommissionen existierten noch Arbeitslosenämter, deren geographische Verteilung grob gesprochen den Bezirkshauptmannschaften entsprach. Die Aufgabe dieser Arbeitslosenämter war in Anbetracht der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit die Auszahlung der Arbeitslosenunterstützungen.15 Die Auszahlungsstellen wurden vor allem von kommunistischen Aktivisten als Plätze der politischen Agitation unter den Arbeitslosen genutzt. Als erste zaghafte Form einer aktiven Arbeitsmarktpolitik in den 1920er Jahren kann die „Produktive Arbeitslosenfürsorge“ (PAF) gelten. Dabei handelte es sich vorerst um finanzielle Zuschüsse zu gemeinnützigen Projekten mit erwünschten Beschäftigungseffekten, zumindest für die Dauer weniger Monate. Das Procedere sah vor, dass bei der jeweiligen IBK eine Gebietskörperschaft (zum Beispiel Gemeinden oder bestimmte Abteilungen der Landesverwaltungen) einen Antrag stellten, der dann von der IBK befürwortet oder abgelehnt wurde. Letztinstanzlich war das Bundesministerium für soziale Verwaltung zuständig. Die Umsetzung von PAFProjekten hatte gelegentlich mit Behinderungen zu kämpfen. So bat etwa der niederösterreichische Landeshauptmann Dr. Karl Buresch seinen Parteifreund und Sozialminister in einem Brief um Unterstützung dabei, dass jeweils nur lokale Arbeitslose zum Zuge kommen sollten.16 Es gab aber noch weitere Probleme: „Es ist mir bekannt, dass die Ingenieure gegen die Verwendung von Arbeitslosen bei ihren Bauten Bedenken hegen und dass sie es vorziehen, Arbeitskräfte aus der ländlichen Bevölkerung für solche

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Bundesministerium für soziale Verwaltung: Statistiken zur Arbeitslosenversicherung 1920–1929. Wien 1930, S. 14. Vgl. Gerhard Melinz/Gerhard Ungar: Wohlfahrt und Krise. Wiener Kommunalpolitik 1929–1938 (=Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Bd. 29). Wien 1996, S. 23. Mit Ende 1926 verpflichtete die Bundesregierung per Gesetzesbeschluss die Bundesländer zu einem Drittel-Beitrag zu den Kosten der Notstandsaushilfe („Außerordentliche Maßnahmen der Arbeitslosenfürsorge“). Tálos: Sozialpolitik (wie Anm. 2), S. 215 f. In den Bewilligungsunterlagen findet sich immer wieder das Argument vom Vorteil des Einsatzes lokaler Arbeitsloser, weil dadurch „die Unterkunftsfrage hinfällig“ sei. Österreichisches Staatsarchiv (folgend als ÖSTA), Archiv der Republik (folgend als) AdR, Bundesministerium für soziale Verwaltung (folgend als BMfsV), Sozialpolitik Produktive Arbeitslosenfürsorge, Niederösterreich 1925, GZ 153/1924 (Schreiben der Stadt Tulln an IBK Wien v. 30.4.1923).

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Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannungsfeld …

Arbeiten heranzuziehen.“ In seiner weiteren Argumentation legt Buresch auch sein Bild einer zu konservierenden sozialen Hierarchie dar: „Allenthalben wird darüber Klage geführt, dass der Landwirtschaft nicht die erforderlichen Hilfskräfte zur Verfügung stehen. Das Vorhaben der Ingenieure fördert das Abströmen der ländlichen Bevölkerung zu versicherungspflichtigen Beschäftigungen und vermehrt auf diese Art die Zahl der unterstützten Arbeitslosen. Nicht nur landwirtschaftliches Hilfspersonal, sondern auch Kleinhäusler, wenn sie einmal durch die Beschäftigung bei einer solchen Arbeit Gelegenheit gehabt haben, den Nachweis einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Dauer von 20 Wochen zu erbringen, erheben diese den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung und weigern sich zur ursprünglichen Beschäftigung in der Landwirtschaft zurückzukehren.“17 Dieser Aspekt blieb dauerhaft von Relevanz, galt es doch aus der Sicht der Christlichsozialen und hier vor allem der Vertreter der Agrarier, der „Landflucht“ Einhalt zu gebieten. Die Realisierung von PAF-Projekten ging häufig mit beträchtlichen Reibungsverlusten über die Bühne. Aus der Sicht der jeweiligen IBK ging es um die Berücksichtigung von langzeitarbeitslosen Personen. Pikanterweise zählten bei der IBK als arbeitssuchend gemeldete Arbeitslose ohne Bezug einer Arbeitslosenunterstützung18 nicht zur Zielgruppe: In einem Streitfall mit der Stadtgemeinde Hainburg wurde seitens der IBK Wien gegenüber dem Sozialministerium betont, dass es „gegen die Interessen“ der PAF wäre, „wenn in erhöhtem Maße solche Arbeitskräfte [ohne Arbeitslosenunterstützungsanspruch, G.M.] herangezogen werden sollten, welche erst durch die Verwendung bei dieser Arbeit den neuerlichen Anspruch auf die Arbeitslosenunterstützung erwerben würden“.19 Kurzum: Die sozial Bedürftigsten unter den Arbeitslosen wurden in dieser Logik des sozialen Sparkurses nicht im Netz des Arbeitslosenunterstützungssystems aufgefangen. Auf diese Weise landeten die Betroffenen schlussendlich bei der chronisch überforderten kommunalen Fürsorge.

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ÖSTA, AdR, BMfsV, Sozialpolitik Produktive Arbeitslosenfürsorge, Niederösterreich 1925, GZ 22806-16/1925. Hier sind von der Unterstützung ausgesteuerte Personen gemeint sowie solche, die erst gar keine Arbeitslosenunterstützungsansprüche erworben hatten. Die Letzteren erwirtschafteten sich entweder ihren Lebensunterhalt, ohne von den Segnungen einer Sozialversicherung erfasst zu sein, oder erhielten auf Grund von Langzeitarbeitslosigkeit oder etwa des Wohnorts in einer rein ländlichen Gegend keine Arbeitslosenunterstützung. ÖSTA, AdR, BMfsV, Sozialpolitik Produktive Arbeitslosenfürsorge, Niederösterreich 1928, GZ 59589/1928 (Schreiben IBK Wien v. 12. 6. 1928 an BMfsV).

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Das Konzept der PAF war auf öffentliche Gebietskörperschaften ausgerichtet, die zusätzliche Arbeiten als Grundlage der Förderung nachzuweisen hatten. Realiter versuchten aber auch private Unternehmen dieses arbeitsmarktpolitische Steuerungselement für sich auszunutzen, indem sie Mitarbeiter kündigten und dann versuchten, sie sogleich wieder als PAFFörderfälle einzustellen. In den 1920er Jahren finden sich vereinzelt Ansuchen von Privatunternehmungen, denen es finanziell schlecht ging und die um Finanzmittel aus dem PAF-Topf ansuchten mit dem Hinweis, dass Kündigungen beabsichtigt seien. Solche Ansuchen um „Betriebskredite“ wurden mit Verweis auf die fehlenden gesetzlichen Voraussetzungen abgelehnt.20

Kontinuität traditioneller Armutspolitik Zu Beginn der Ersten Republik gestanden Experten und Politiker in seltener Offenheit, dass das Armenwesen in einzelnen Bundesländern „zurückgeblieben“ sei.21 Dazu war in Niederösterreich, wo eine schon in der Monarchie aufgebaute und funktionierende Organisationsstruktur bestand, kein Anlass. Hier basierte das Armenwesen auf Bezirksfürsorgeverbänden. Das bedeutete, dass die Armenausgabenlast nicht auf den Schultern einer einzelnen Gemeinde lag, sondern dass mehrere Gemeinden diese Last(en) gemeinsam trugen. Dafür konnten die Gemeinden jeweils Zuschläge zu den Realsteuern einheben. Ansonsten diente als generelle Finanzierungsquelle für das Fürsorgewesen in Niederösterreich die „Fürsorgeabgabe“, die in Wirklichkeit eine Lohnsummensteuer war, die für unterschiedlichste Unternehmen und UnternehmerInnen zum bevorzugten Hassobjekt wurde.22 Als Verbindungsglied zwischen Fürsorgebürokratie und AntragstellerInnen fungierten die Bezirksfürsorgeräte (Verwaltungsbedienstete) bzw. (ehrenamtlich tätige) Ortsfürsorgeräte, welche die einzelnen Unterstützungsansuchen entgegennahmen bzw. sich vor Ort von der Unterstützungsbedürftigkeit ein Bild machten. Der unumstrittene Modernisierungspol jeglicher Fürsorgepolitik in Österreich war allerdings das „Aufbauwerk“ des 20

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Stellvertretend für solche Ansuchen ÖSTA, AdR, BMfsV, Sozialpolitik Produktive Arbeitslosenfürsorge, Niederösterreich 1925, GZ 37478-16-1925. In den 1930er Jahren wurde von den restriktiven Fördervoraussetzungen abgegangen. Belege bei Gerhard Melinz: Von der Armenfürsorge zur Sozialhilfe: Zur Interaktionsgeschichte von „erstem“ und „zweitem“ sozialem Netz in Österreich am Beispiel der Erwachsenenfürsorge im 19. und 20. Jahrhundert. Habilitationsschrift Univ. Wien, 2003, S. 189. Ein Blick in die Landtagsprotokolle macht deutlich, wie lang dieses Thema auf der Tagesordnung blieb.

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… sozial- und armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938)

„roten Wien“, das sich zum einen als großstädtisches Gebilde von den anderen Bundesländern unterschied, verbunden mit dem Vorteil sowohl als Stadt und Bundesland sogenannte Ertragsanteile aus dem Finanzausgleich zu erhalten, was ein entsprechendes Budgetvolumen bedeutete. Zum anderen wurden beträchtliche Finanzmittel zugunsten einer nachhaltigen Sozialpolitik (im Sinne einer „Menschenökonomie“) sozialinvestiv verausgabt.23 Zum Leidwesen der modern denkenden Fürsorgeexperten blieb als Grundlage für die (kommunale) Armenunterstützung weiterhin das Regime des Heimatrechts in Kraft. Gemeinsam mit den Problemen rund um die Frage des Erwerbs bzw. des Verlusts der Staatsangehörigkeit, Bundes- und Landesbürgerschaft24 bildete die Klärung der Zuständigkeit nach dem Heimatrecht ein existenziell wichtiges Moment im Leben vieler Menschen, da die Verleihung bzw. die positive Klärung der Heimatzuständigkeit entscheidenden Einfluss auf den Zugang zu Fürsorgeunterstützungen hatte. Die Konfliktlinien verliefen durchaus vielschichtig. Zum einen gab es immer wieder verwaltungsjuristische Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gemeinden bezüglich der Frage, wo eine bestimmte Person nun wirklich das Heimatrecht besaß. Zum anderen drehte sich die Auseinandersetzung um die österreichische Bundes- oder niederösterreichische Landesbürgerschaft. Letzten Endes kumulierte alles in der Frage nach der Zuständigkeit nach dem Heimatrecht. Bei positiver Erledigung des Antrags auf Verleihung des Heimatrechts hatten die Begünstigten eine Verwaltungsabgabe in Höhe von 100 Schilling zu entrichten. Selten wurde eine Ermäßigung auf 50 oder sogar 30 Schilling zugestanden.25 Der Blick auf die Ablehnungsgründe von Einbürgerungs- und Heimatrechtsfällen legt zweierlei offen: Einerseits existierte die altliberale und gelegentlich mit sozialdarwinistischen Zügen versehene Position, die der lokalen (Steuer-)BürgerInnengesellschaft keine Sozialfälle aufhalsen wollte, andererseits wurden – vor allem bei Einbürgerungsangelegenheiten – ethnozentristische oder auf eine andere Religionszugehörigkeit abzielende Begründungen gewählt. Im Namen des niederösterreichischen Landeshaupt23 24

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Vgl. dazu die Fallstudie zur Wiener Kommunalpolitik, Melinz/Ungar: Wohlfahrt (wie Anm. 14). Durch den Friedensvertrag von St. Germain und den Brünner Staatsvertrag sowie durch die Bundesverfassung wurde das Staatsbürgerrecht Österreichs auf neue Grundlagen gestellt. Parallel zum Staatsbürgerschaftsgesetz wurde das als „Heimatrechtsnovelle 1925“ bezeichnete Gesetz vom 30. Juni 1925, BGBl. Nr. 286 beschlossen. Verwaltungsgerichtshof und Bundeskanzleramt waren viel beschäftigte Instanzen hinsichtlich der Erarbeitung von Erkenntnissen und Erläuterungen. Dazu exemplarisch Niederösterreichisches Landesarchiv (folgend als NÖLA), Akten der Landesregierung (folgend als Landesregierung), Gruppe II 9a, Zl. 3852/1927.

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manns wurde etwa abschlägig beschieden: „[…] da der Genannte nicht der Mehrheit der Bevölkerung Österreichs angehört. (Einschreiter ist Hebräer)“.26 In anderen Fällen lautet der Ablehnungsgrund „Ostjude“.27 Neben antisemitisch inspirierten Ablehnungen dominierten antitschechische Begründungen. Manchmal verbanden sich Argumente der Kostenabwehr mit antitschechischen Ressentiments: „Das Ansuchen des Franz D. um die Verleihung der n.ö. Landesbürgerschaft wird abgewiesen, da die Gefahr besteht, dass der Einbürgerungswerber der öffentl. Armenversorgung zur Last fallen könnte. Überdies ist seine Muttersprache die øechische.“28 Heimatrechtsfälle drehten sich zumeist um die Frage, ob jemand bereits der Armenversorgung anheim gefallen war und so den Anspruch auf die Zuerkennung des Heimatrechts verwirkt habe. Hier waren allerdings sehr oft Verwaltungsgerichtshof-Erkenntnisse zu Gunsten der AntragstellerInnen entscheidend. Viele Erkenntnisse folgten keineswegs einer eindimensional-populistischen Interpretation des Heimatgesetzes bzw. sahen nicht in jeglicher kurzfristigen Armenunterstützung bereits einen Hinderungsgrund für die Verleihung des Heimatrechts. Im Prinzip blieb auch in Wien das Thema Heimatrecht ein brisantes Politikum, obgleich man hier seine Verleihung als liberaler einschätzen könnte.29 Eine Konsequenz der niederösterreichischen BezirksarmenfürsorgeStruktur war die Existenz zahlreicher Bezirksarmenhäuser, die eine bessere Unterbringung älterer Armer als anderswo in Österreich – die Stadt bzw. das Bundesland Wien ausgenommen – darstellte. In ländlichen Gebieten war es üblich, arbeitsunfähigen Armen ausschließlich Naturalunterstützungen zu verabreichen oder ihnen „das Sammeln milder Gaben“ zu erlauben. Ein besonderes Problem der ländlichen Fürsorge blieb die Unterbringung und Versorgung alter Menschen, die in der Regel ehemalige Beschäftigte der Land- und Forstwirtschaft waren. Das System der „Einlege“, d. h. die Versorgung der Armen durch Reihum-Unterbringung in den Haushalten der bäuerlich-ländlichen Gemeinden, zählte zu den brennendsten Problemen und hatte nur wenig von seinem inhumanen Beigeschmack verloren. Seine kategorische Abschaffung war damals noch nicht österreichweit politisch durchzusetzen. In Niederösterreich war die

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NÖLA, Landesregierung, Gruppe II 8a-I/Stammzahl 257/1926. NÖLA, Landesregierung, Gruppe II 8a-I/Stammzahl 766/1926. NÖLA, Landesregierung, Gruppe II 8a-I/Stammzahl 324/1926. Gegen die Politik der scheinbar liberaleren Heimatrechtsverleihung der Gemeindeverwaltung des „roten Wien“ wetterte mit Nachdruck die christlich-soziale Opposition. Vgl. Melinz/Ungar: Wohlfahrt (wie Anm. 14), S. 7 f.

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Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannungsfeld …

Einlege jedoch „ohne Ausnahme unzulässig“, in Oberösterreich und Vorarlberg war sie nur für bestimmte Gruppen nicht erlaubt. In der Steiermark dagegen bestand für die „Einlege“ sogar eine detaillierte Regelung, im Burgenland war sie zulässig.30 Aus der Begründung eines Dringlichkeitsantrags bezüglich der Mängel des niederösterreichischen Fürsorgegesetzes erfahren wir in plastischen Worten über die vorherrschenden Strategien im ländlichen Bereich: „Wir in Kirchschlag, Steinfeld usw. können nicht vollwertig bezahlte Arbeiter halten, wie es die Industrie tun kann, denn das Erträgnis der Landwirtschaft lässt das nicht zu. Daher nehmen unsere Bauern Armenhauskandidaten auf, die ja froh sind, zu einem Bauern zu kommen und sich satt essen zu können. Diese Leute werden auch für abgabepflichtig angesehen, weil sie als Arbeiter verwendet werden. Das Armenhaus ist froh, diese Leute loszubekommen und der Bauer ist wieder froh, dass er eine Aufsicht für sein Vieh hat. Es geht aber nicht an, für solche Leute die Fürsorgeabgabe einzuheben.“31 Die Frage der Fürsorgeabgabe interessiert hier nicht. Vielmehr darf angenommen werden, dass sich die hier angesprochene Nutzung der Arbeitskraft älterer Menschen nach der Dauer von deren körperlicher Einsatzfähigkeit richtete und sie letztlich doch im Armenhaus landeten. Dies argumentierte der sozialdemokratische Kontra-Redner im Landtag mit folgenden Worten: „In den Armenhäusern sind der Mehrzahl nach Leute, die sich, solange sie arbeiten konnten, in der Landwirtschaft geplagt haben und denen es nicht möglich war, sich durch ihre Arbeit in der Landwirtschaft auf ihre alten Tage etwas zu ersparen, die letzten Endes im Armenhause landen, um dort ihre letzten Tage zu beschließen.“32 Das größte Problem, mit dem sich Niederösterreichs Fürsorge (und wohl auch die der anderen Bundesländern) – noch vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise – konfrontiert sah, war die heraufziehende Massenarbeitslosigkeit. Der Berichterstatter zum Budgetkapitel „Fürsorge“ brachte die Entwicklungstrends und die Ausmaße im Februar 1929 pointiert zur Sprache: „Sie wissen also, dass die großen Schichten der Bevölkerung heute ohne jeden Verdienst, ohne jede Arbeit sind und dass diese ungeheure Wirtschaftskrise immer weitere Kreise ergreift, die da in die Armut versinken oder

30

31

32

Julius Axmann/Eduard Chaloupka: Die Vorschriften über Armenfürsorge nach dem derzeitigen Stande der österreichischen Gesetzgebung des Bundes und der Länder. Wien 1934, S. 149 (§ 35). Stenographisches Protokoll des niederösterreichischen (n.ö.) Landtages, 1. Wahlperiode, III. Session, 4. Sitzung, 15.9.1922, S. 74. Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 1. Wahlperiode, III. Session, 4. Sitzung, 15.9.1922, S. 75.

151

Gerhard Melinz

verelenden.“33 Armut ließ in ihrem Gefolge auch wieder Tuberkulose „in erschreckendem Maß um sich greifen“, sodass die Mittel des Landes „kaum mehr hinreichen, hier helfend einzugreifen“. Des Weiteren: „Durch diese Verhältnisse sehen wir oft Familienerhalter frühzeitig sterben, und ihre zahlreichen Kinder müssen von der Fürsorge übernommen werden.“ Der Berichterstatter bezeichnete als Konsequenz eine zunehmende „Verwahrlosung der Jugend“, und all die angesprochenen Probleme werden im Regelfall durch (teure) Anstaltsunterbringung zu lösen versucht. Eine weitere Beobachtung betrifft den Anstieg der „Irrsinnsfälle als eine Kriegsfolge und als eine Folge unserer wirtschaftlichen Lage“. „Wir sehen, dass 40- bis 50jährige Männer keine Arbeit mehr finden können, dass sie sich bei der Ortsfürsorge melden, und der traurigste Zustand ist es wohl, dass unsere Jugend keine Beschäftigung hat.“34 Abhilfe wurde gewünscht angesichts der Einsicht, dass man „natürlich ganz außerordentliche Mittel“ benötigen würde, um „auch Hilfe für die ausgesteuerten Arbeitslosen zu bringen“.35 Das nötige Geld fehlte jedoch. Die vorangegangenen Jahre hatten bereits viel Geld verschlungen: Der Bezirk Scheibbs verzeichnete beispielsweise im Bereich der „offenen Armenpflege“ zwischen 1923 und 1927 eine Steigerung um das 8,85fache.36 In anderen Bezirken Niederösterreichs und wohl auch österreichweit war die Situation gewiss um nichts besser.

Die 1930er Jahre Zugespitzte Arbeitsmarktkrise Bisher wurde der Blick in erster Linie auf die Zahlen unterstützter Arbeitsloser gelenkt, die stets eine Spur niedriger waren als die der „zur Vermittlung vorgemerkte(n) Arbeitslose(n)“.37 Dieser Sachverhalt trifft

33

34

35 36

37

Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 2. Wahlperiode, III. Session, 6. Sitzung, 28.2.1929, S. 101. Stenographisches Protokoll des n.ö.Landtages, 2. Wahlperiode, III. Session, 6. Sitzung, 28.2.1929, S. 102. Ebenda. Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 2. Wahlperiode, III. Session, 6. Sitzung, 28.2.1929, S. 106. Selbst bei hypothetisch angenommener „Vollbeschäftigung“ kann dieses Phänomen auftreten, weil es für bestimmte freie Stellen beispielsweise keine passend qualifizierten Arbeitskräfte gibt. Unzureichend qualifizierte Arbeitslose würden weiterhin im Bestand der Vorgemerkten verbleiben.

152

1929

1930 1931

1932

1933

NÖ Stmk OÖ Österreich ohne Wien

Quelle: Bundesministerium für soziale Verwaltung (Hg.) – Statistiken zur Arbeitslosenversicherung, Heft IV. Wien 1934.

0,0

20,0

40,0

60,0

80,0

100,0

120,0

Graphik 2: Für den Fall der Arbeitslosigkeit versicherte Arbeiter/innen nach Bundesländern im Jahresdurchschnitt 1929–1933 (Index 1929 = 100)

… sozial- und armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938)

153

Gerhard Melinz

auch für die Jahre 1929 bis 1937 zu. Für soziale Ausgrenzung und schleichende Verarmung ist in ganz besonderer Weise das Phänomen des Rückgangs sozialversicherungsförmiger Beschäftigungsverhältnisse mitverantwortlich. Dieser Rückgang lässt uns erst die Tragweite der Arbeitsmarktkrise erkennen. Man kann dies erstens an den rückläufigen Zahlen von krankenversicherten ArbeiterInnen ablesen,38 zweitens an der Verminderung von Beschäftigungsverhältnissen mit Arbeitslosenversicherung und zwar insbesondere in den Jahren der Weltwirtschaftskrise. Insgesamt haben zwar alle Beschäftigtengruppen verloren, die ArbeiterInnen vergleichsweise aber am meisten. Für die zahlenmäßig dominierende industriell-gewerbliche Arbeiterschicht standen immer weniger Stellen zur Verfügung, die im Falle der Arbeitslosigkeit auch Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung geboten hätten.39 Neben Kurzarbeit und grassierender Arbeitslosigkeit führte das zu sozial sehr angespannten Lebenssituationen. Dass die Situation auf dem österreichischen Arbeitsmarkt zwischen 1929 und 1937 anhaltend prekär blieb, geht aus Tabelle 1 und Tabelle 2 hervor. Hinsichtlich der zur Vermittlung vorgemerkten Arbeitslosen wird klar, dass vor allem die Indexwerte in Richtung Höhepunkt 1933 rapide anstiegen, nach dem Höhepunkt aber nur in sehr bescheidenem Ausmaß zurückgingen. Vorarlberg weist hier mit 146,3 Indexprozentpunkten den stärksten Rückgang bis 1937 auf, Wien mit nur 24,9 den geringsten. Wenn man den Österreich-Durchschnitt mit den Werten einzelner Bundesländer vergleicht, wird bei der Interpretation der Indexwerte von bevölkerungsstarken Ländern mit ausgeprägter wirtschaftlicher Mischstruktur wie etwa Niederösterreich wohl zu berücksichtigen sein, dass hier überwiegend ländlich-agrarische Regionen eine Verzerrung, d. h. zu niedrige Werte bewirken. Die Erklärung liegt auf der Hand: In Anbetracht der gesetzlichen Regelung, dass Arbeitslosenunterstützungen in rein ländlichen Regionen nicht bezahlt 38

39

Die Zahlen für 1928–1937, Monatsberichte 1938, H. 3, S. 85. Auch in den Debatten des niederösterreichischen Landtages war vom Rückgang von versicherten Beschäftigungsverhältnissen die Rede; z. B. Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 2. Wahlperiode, V. Session, 3. Sitzung, 18.12.1930, S. 45. Zahlenbelege für Wien bei Melinz, Coping (wie Anm. 10). Für den Rückgang während der Weltwirtschaftskrisenjahre 1929–1933: Bundesministerium für soziale Verwaltung: Statistiken zur Arbeitslosenversicherung, Heft IV. Wien 1934, S. 23 (Tab. 15). Interessanterweise ist es immer wieder so, und die Zahlen für Niederösterreich belegen dies auch, dass die Arbeitslosigkeit im Krisenfalle in Industriegebieten stärker steigt (und auch langsamer wieder zurückgeht) als in agrarisch dominierten Gebieten.

154

125,1 129,5 127,5 128,9 127,1 162,3 136,6 124,3 99,6 126,3

1930

1929

100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0

102.424 54.689 27.194 6.833 6.926 3.383 6.274 29.242 5.647 242.610

81.889 42.227 21.328 5.301 5.451 2.084 4.593 23.520 5.672 192.064

1930

198,4 171,7 174,8 238,1 254,2 334,5 176,9 208,9 265,1 196,8

1932

162.498 72.494 37.286 12.621 13.856 6.970 8.125 49.131 15.039 378.018

1932

225,6 172,4 181,4 267,9 283,3 340,0 173,4 214,3 254,0 211,3

1933

184.742 72.809 38.680 14.203 15.445 7.086 7.965 50.404 14.406 405.740

1933

225,5 146,0 158,5 225,2 246,1 236,4 131,4 180,0 201,2 192,8

1934

184.687 61.656 33.801 11.939 13.413 4.927 6.034 42.342 11.411 370.210

1934

214,5 138,1 142,3 224,6 230,1 227,5 117,6 164,4 195,9 181,5

1935

175.612 58.323 30.358 11.904 12.545 4.741 5.403 38.676 11.114 348.675

1935

211,4 138,3 137,7 228,4 235,4 241,2 144,7 168,8 219,5 182,1

1936

173.146 58.380 29.379 12.106 12.834 5.027 6.644 39.696 12.451 349.663

1936

200,7 126,9 123,1 171,1 228,9 193,7 128,0 146,4 191,7 167,1

1937

164.333 53.590 26.265 9.069 12.476 4.037 5.878 34.438 10.875 320.961

1937

Quelle: Monatsberichte des Österreichischen Institutes für Wirtschafts- und Konjunkturforschung, Jg. 1938, Heft 2, S. 42 und eigene Berechnungen.

Wien-Stadt Niederösterreich Linz Salzburg Innsbruck Bregenz Eisenstadt Graz Klagenfurt Österreich

Wien-Stadt Niederösterreich Linz Salzburg Innsbruck Bregenz Eisenstadt Graz Klagenfurt Österreich

1929

Tabelle 1: Zur Vermittlung vorgemerkte Arbeitslose nach Landesarbeitsämtern in Österreich im Jahresdurchschnitt 1929–1937 (Index 1929=100)

Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannungsfeld …

155

156 123,7 129,9 129,9 126,9 134,2 171,2 139,4 126,9 99,6 126,7

1930

1929

100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0

83.274 51.140 24.928 5.163 5.805 3.100 4.916 24.673 5.389 208.389

67.310 39.383 19.196 4.069 4.325 1.811 3.526 19.446 5.410 164.477

1930

172,5 170,8 181,7 233,3 291,1 361,0 196,2 213,7 270,1 188,5

1932

116.137 67.252 34.877 9.493 12.592 6.537 6.919 41.548 14.612 309.968

1932

194,3 171,3 188,2 258,8 323,4 366,4 204,2 217,0 257,2 199,9

1933

130.773 67.477 36.122 10.531 13.989 6.635 7.201 42.205 13.912 328.844

1933

182,7 143,2 162,4 230,1 274,5 255,0 149,7 178,9 204,3 174,8

1934

122.971 56.405 31.179 9.362 11.872 4.618 5.278 34.792 11.050 287.527

1934

165,2 134,1 142,4 211,5 251,5 246,7 133,0 159,7 197,9 159,2

1935

111.222 52.801 27.341 8.607 10.879 4.468 4.691 31.051 10.707 261.768

1935

1937

159,4 134,4 138,0 204,1 251,8 259,9 163,1 158,4 221,8 157,6

1936

150,6 117,7 122,6 169,7 215,0 201,3 142,7 127,3 192,4 140,6

1937

107.288101.375 52.941 46.355 26.496 23.541 8.306 6.907 10.891 9.297 4.706 3.645 5.751 5.030 30.806 24.764 12.002 10.407 259.187231.320

1936

Quelle: Monatsberichte des Österreichischen Institutes für Wirtschafts- und Konjunkturforschung, Jg. 1938, H. 2, S. 42 und eigene Berechnungen.

Wien-Stadt Niederösterreich Linz Salzburg Innsbruck Bregenz Eisenstadt Graz Klagenfurt Österreich

Wien-Stadt Niederösterreich Linz Salzburg Innsbruck Bregenz Eisenstadt Graz Klagenfurt Österreich

1929

Tabelle 2: Unterstütze Arbeitslose nach Landesarbeitsämtern in Österreich im Jahresdurchschnitt 1929–1937 (Index 1929=100)

Gerhard Melinz

… sozial- und armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938)

wurden, gab es für Arbeitslose auch keinen Grund, sich bei den Arbeitsämtern als arbeitssuchend registrieren zu lassen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass in traditionellen Industriegemeinden (z. B. Wiener Neustadt, Steyr, Donawitz) die absolute Zahl der Erwerbsarbeitslosen bzw. der Arbeitssuchenden stets hoch war.40 Der Blick auf die Entwicklung der Zahlen unterstützter Arbeitsloser zeigt einerseits einen ausgeprägten Anstieg unterstützter Arbeitsloser bis 1933, andererseits war der Anteil der Unterstützten an der Gesamtzahl der Arbeitslosen gegenüber 1930 massiv zurückgegangen, sodass während der „Ständestaats“jahre nur mehr jede/r zweite Erwerbsarbeitslose auch eine Unterstützung erhielt.41 Auch wenn es ab ca. 1934/35 zu einer leichten Entspannung auf den Arbeitsmärkten in Österreich gekommen sein mag, darf nicht unterschlagen werden, dass in der Zwischenzeit die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie suspendiert wurden und staatlicherseits die Arbeitslosenversicherungspolitik einen restriktiven Kurs eingeschlagen und zielstrebig weiter verfolgt hatte. Einige Stichworte sollen hier genügen: Die Restriktion des Zugangs zur Arbeitslosenunterstützung und die ausgabenschonenden Leistungseinsparungen (z. B. Zoneneinteilung und „Aussteuerung“)42 können als zunehmende Privatisierung oder Familialisierung des sozialen Risikos Erwerbsarbeitslosigkeit interpretiert werden.

Unterschiedliche Logiken und Kalküle: Arbeitslosenversicherung gegen Arbeitslose Die berühmte zeitgenössische Studie über die Arbeitslosen von Marienthal (im heutigen Gramatneusiedl) hatte zwar unterschiedliche Typen von Reaktionen auf Arbeitslosigkeit herausgearbeitet, in der Rezeption der Ergebnisse seit den 1930er Jahren ist jedoch – zumeist im Zuge der Popularisierung – das Bild von apathischen Arbeitslosen hängen geblieben. Dieses Bild mag zwar auf den ersten Blick zutreffend erscheinen, 40

41

42

Hier ist wieder auf den bereits erwähnten Umstand hinzuweisen, dass Indexprozentangaben zwar einen Trend angeben können, zugleich aber ein Blick auf die absoluten Zahlen unverzichtbar bleibt. Vgl. Dieter Stiefel: Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen am Beispiel Österreich. Berlin 1979, S. 29. Vgl. Werner Suppanz: Arbeitslosigkeit als Thema der Sozialpolitik im „Ständestaat“. Diss. Univ. Graz 1993, S. 122 ff.; Für einen knappen Überblick Verena Pawlowsky: Arbeitslosenpolitik im Österreich der dreißiger Jahre. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 2000, Heft 1, S. 24-32.

157

Gerhard Melinz

insbesondere wenn der Arbeitsmarkt einzelner Ortschaften exklusiv an ein einziges größeres Unternehmen gebunden war. Doch gab es immer wieder Arbeitslosenproteste, eher angestoßen durch eine politisierte Minderheit, die zeitweise durchaus mit breiterer Unterstützung aus den Reihen der Arbeitslosen rechnen konnten. Dies war auch in weiten Teilen Österreichs in den Jahren der Weltwirtschaftskrise der Fall.43 Dass Erwerbsarbeitslosigkeit nicht gleichsam naturwüchsig in Apathie münden musste, zeigen auch Forschungen zu Wien. Insbesondere unter den politisierten jüngeren Personen waren nachweislich alternative Coping-Strategien zu finden.44 In vielen Einzelfällen wurde gegen die Entscheidungen der jeweils zuständigen IBK beim Bundesministerium für soziale Verwaltung als der übergeordneten Instanz Einspruch erhoben. Anna K. aus Mödling tat dies mit folgender Begründung: „Mir wurde die Unterstützung deshalb entzogen, weil mein Mann derzeit in Verdienst steht. Es ist richtig, dass mein Mann bei 48stündiger Arbeitszeit 34,65 S verdient, aber von diesem Betrage eine Familie von 5 Personen leben soll. Indem wir noch einen Mietzins von 12 S monatlich zu zahlen haben, so bleibt ein Restbetrag, von dem man selbstverständlich das Auslangen zum Leben nicht finden kann. Dazu kommt der Umstand noch in Betracht, dass mein Mann 2 Jahre ausgesteuert war und wir infolgedessen sehr in Schulden

43

44

Beispiele für Arbeitslosenproteste finden sich in ÖSTA, AdR, Bundeskanzleramt/Inneres, 22/NÖ, Fasz. Zl. 42/1931, GZ 113493/1931 (Beispiele aus dem Gebiet IBK Wiener Neustadt); GZ 139334/GD 1/1931 (Vorkommnisse vor dem Arbeitslosenamt Neunkirchen); GZ 164371/1931 (Wiener Neustadt); GZ. 170395/1932 (Waidhofen an der Ybbs); GZ 178742/1932 (Hungermarsch von Arbeitslosen in Lilienfeld); GZ 244378/ 1932 (Atzgersdorf/Bezirk Wien-Umgebung). Des Weiteren Andrea Komlosy: An den Rand gedrängt: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des oberen Waldviertels (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik Bd. 34). Wien 1988, S. 189 f.; Leopold Kammerhofer: Niederösterreich zwischen den Kriegen. Wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Entwicklung von 1918 bis 1938. Baden 1987, S. 190. Zur Arbeitslosenpolitik und Arbeitslosenbewegung in Österreich mit einem regionalen Schwerpunkt Steiermark vgl. Peter Wilding: „…Für Arbeit und Brot“. Arbeitslose in Bewegung. (= Materialien zur Arbeiterbewegung Nr. 55). Wien-Zürich 1990. Exemplarisch hierfür ist die Oral-History-Studie von Hans Safrian: „Wir ham die Zeit der Orbeitslosigkeit schon richtig genossen auch“. In: Gerhard Botz/Josef Weidenholzer (Hg.): Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtsloser“ Sozialgruppen. Wien u. a. 1984, S. 293-331; vgl. auch Wolfgang Russ: Zwischen Protest und Resignation. Arbeitslose und Arbeitslosenbewegung in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1990, Heft 2, S. 23-52.

158

Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannungsfeld …

geraten sind.“ Anna K.s Einspruch endete mit einem ministeriellen Erlass vom 19. November 1933, in dem ihr der Weiterbezug der Notstandsaushilfe gewährt wurde.45 Die Aufsichtsbeschwerde von Margarete F. fand auch ein glückliches Ende, obwohl sie ursprünglich der Verzweiflung nahe war. Man hatte ihr mangels Notlage keine Notstandsaushilfe zugesprochen. In ihrem persönlich an den Sozialminister gerichteten Schreiben vom 30. Oktober 1932 skizziert sie zugleich ihre biographischen Lebensumstände als Waisenkind, dessen Mutter inzwischen in der (psychiatrischen) Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling weilt und dessen Stiefvater von ihr nichts wissen will. Seit dem fünfzehnten Lebensjahr hat sich Frau Margarete F. ihr „Brot“ in der Wiener Neustädter Spitzenfabrik Faber & Co. „selbst verdient“. Im Mai 1932 folgt die Entlassung „wegen Arbeitsmangel“. Daraufhin ist es ihr „trotz meiner eifrigsten Bemühungen […] bis heute unmöglich, irgend welche Arbeit zu finden“. Gleichzeitig mit der Aussteuerung wird sie auf die Sorgeverpflichtung des Stiefvaters verwiesen, von dem sie „nicht das Mindeste haben kann“. Als Ausgesteuerte auf sich selbst gestellt und ohne Einkommen hat sie für Mietzins 15 S zu bezahlen, eine unabdingbare Notwendigkeit, denn „sonst würde ich noch obdachlos, was das Schrecklichste wäre“.46 In zahlreichen anderen Fällen hatten die BeschwerdeführerInnen auch im Rekursverfahren Probleme, sich durchzusetzen. Johann M. wurde mittels erneutem Bescheid vorgerechnet, dass er den Haushalt seiner Schwiegermutter in Unterbergen (Kärnten) verlassen habe. Dort hätte er doch „eine Existenzmöglichkeit besessen und [diese] außer Acht gelassen“. Er wurde zudem darüber belehrt, dass eigentlich seine Heimatgemeinde verpflichtet sei, „im Falle der Bedürftigkeit Unterstand zu gewähren […] Schließlich haben Sie im Sprengel des Arbeitslosenamtes Baden weder nahe Angehörige, noch liegen sonstige Umstände vor, welche Ihnen finanziellen Rückhalt geben und Ihren Aufenthalt dortselbst wünschenswert erscheinen lassen.“47 Die Argumentation folgte der Logik der Arbeitslosenversicherung: In der ersten Phase gibt es die

45 46 47

ÖSTA, AdR, BMfsV, Sozialpolitik 1932, GZ 85039/1932. ÖSTA, AdR, BMfsV, Sozialpolitik 1932, GZ 86635-5/1932. ÖSTA, AdR, BMfsV, Sozialpolitik 1932, GZ 6484/1932. Im Briefwechsel zwischen der IBK Wiener Neustadt und dem Sozialministerium findet sich auch das Argument, dass es eigentlich bei der ablehnenden Begründung genügt hätte, die in unmittelbarer Zeit aussichtslose Vermittlungschance anzusprechen, statt nach „sozialen Erwägungen“ zu suchen.

159

Gerhard Melinz

Versicherungsleistung (heute Arbeitslosengeld), in der zweiten Phase der Notstandsaushilfe (heute Notstandshilfe) wird jedoch „Bedürftigkeit“ bzw. „Notlage“ im Sinne des Fürsorgeprinzips vorausgesetzt. Die Etablierung einer Pflichtversicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit wurde von den NutznießerInnen in den frühen 1920er Jahren positiv aufgenommen. Die zahlreichen Gesetzesnovellierungen des Arbeitslosenversicherungsrechts machten jedoch überdeutlich, was Max Lederer, einer der profiliertesten Sozialrechtler der Ersten Republik, formulierte: „ [W]ir [haben] es bei der Notstandsaushilfe […] mit einer durch den hartnäckigen Charakter der gegenwärtigen Wirtschaftskrise erzwungenen Fürsorgemaßnahme zu tun. Die bewegliche Gestaltung ihrer Durchführung setzt die lokalen Faktoren in die Lage, hier individualisierend vorzugehen und Personen, bei denen eine Zurückführung in die Arbeit kaum mehr erhofft werden kann, aus dem Kreise der Notstandsaushilfeempfänger auszuscheiden und in andere Formen der öffentlichen Versorgung, namentlich in die provisorische Altersfürsorge oder in die Armenpflege überzuleiten.“48 Die dauerhafte Massenarbeitslosigkeit zu Beginn der 1930er Jahre ließ den Ruf nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht verstummen. Das Volumen der PAF-Projekte verharrte letztlich auf bescheidenem Niveau.49 Dort, wo man entsprechende Projekte (Straßenbau, Meliorationen, Wohnbau etc.) in Angriff nahm, wurde immer wieder festgestellt, dass von den neu geschaffenen Beschäftigungsmöglichkeiten eigentlich gar nicht die lokal ansässigen Langzeitarbeitslosen profitierten.50 Noch zu Zeiten der demokratischen Republik gesellte sich 1932 ein neues arbeitsmarktpolitisches Instrument zur PAF hinzu, der Freiwillige Arbeitsdienst (FAD). Der FAD wies starke Ähnlichkeiten mit den ursprünglichen Kriterien der PAF auf (z. B. Gemeinnützigkeit und Zusätzlichkeit der Arbeitsvorhaben, Freiwilligkeit der Teilnahme), und in der praktischen Umsetzung stell48 49

50

Max Lederer: Grundriß des österreichischen Sozialrechts. Wien 1932, S. 615. Es wurde kritisiert, dass es nicht um die Zahlung von Arbeitslosenunterstützung gehen sollte, sondern um die Förderung von Beschäftigung. Allerdings stand etwa verstärkten PAF-Aktivitäten die unzulängliche Finanzausstattung der Gemeinden entgegen: „Es ist nicht die Hauptsache, eine Geldunterstützung zu geben. Diese Geldunterstützung, welche die Leute beziehen, stempelt sie, wenn sie jahrelang arbeitslos sind, förmlich zu Bettlern. Weit wichtiger wie die Geldunterstützung ist die produktive Arbeitslosenunterstützung.“ Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 2. Wahlperiode, IV. Session, 10. Sitzung, 26.2.1930, S. 295. Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 2. Wahlperiode, V. Session, 6. Sitzung, 19.3.1931, S. 57.

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… sozial- und armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938)

ten sich alsbald ähnliche Probleme ein, wie etwa die Frage, wer überhaupt an diesem Programm teilnahmeberechtigt sein sollte.51 Die politische Akzeptanz des FAD war durchaus umstritten: Sozialdemokratische Gewerkschafter lehnten ihn als Lohndumping und als Militarisierungsmoment genauso ab wie Kleingewerbetreibende mit dem Hinweis auf unlauteren Wettbewerb. Der sozialdemokratische Parteiführer Otto Bauer konnte dem FAD – zumindest noch zu Zeiten einer existierenden parlamentarischen Demokratie – potenzielle sozialintegrative Funktionen abgewinnen; die Vertreter des Heimatschutzes (allen voran Odo Neustädter-Stürmer) taten sich als aktive Förderer hervor.52 Prinzipiell konnte der FAD in Form eines „offenen Arbeitsdienstes“ oder als „geschlossenes Lager“ durchgeführt werden. Letzteres Modell kam teurer und entsprach eher den Vorstellungen jener Apologeten, denen es stark um sozialdisziplinierende Zielsetzungen ging. Realiter kam es immer wieder zu Konflikten in den „geschlossen“ geführten FAD-Lagern, denn zum Teil befanden sich dort politisch engagierte (sozialdemokratisch, kommunistisch und nationalsozialistisch gesinnte) Jugendliche, die politische Agitation betrieben und auch Arbeitsniederlegungen organisierten. Insgesamt betrachtet konnte der FAD, der selbst zu seinen besten Zeiten 1934/35 österreichweit nicht mehr als 20.000 Arbeitsdienstwillige beschäftigte, keinesfalls die Dimension gleichartiger deutscher Organisationen erreichen.53 Die „Arbeitsdienstwilligen“ in offenen FAD-Projekten stellten allemal eine vierfach billigere Variante dar, öffentliche Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren; des Weiteren wurde der FAD angesichts der virulenten Massenarbeitslosigkeit und zunehmenden Tendenz zur „Aussteuerung“ aus der Arbeitslosenunterstützung zu einem beliebten Instrument der sozialen Minimalversorgung. Obwohl die Arbeitsentschädigung kärglich war, herrschte – so die Quellenüberlieferung einer Burgenland-Fallstudie – ein beträchtliches Gerangel um FAD-finanzierte Arbeitsstellen.54 Während der Jahre des „christlichen Ständestaats“ (Februar 1934 bis März 1938) wurden seitens der Regierung weitere Maßnahmen im Rahmen der lautstark orchestrierten Arbeitsbeschaffungspolitik – martialisch auch „Arbeitsschlacht“ genannt – geschaffen. Ihre Erfolge blieben allerdings bescheiden.55 51 52 53 54 55

Vgl. Melinz: Armenfürsorge (wie Anm. 21), S. 237 f. Vgl. Melinz/Ungar: Wohlfahrt (wie Anm. 14), S. 126 ff. Ebenda: S. 230. Vgl. Melinz: Armenfürsorge (wie Anm. 21), S. 237. Ebenda: S. 163 ff.; vgl. auch Suppanz: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 42); Pawlowsky: Arbeitslosenpolitik (wie Anm. 42).

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Gerhard Melinz

Schlichte Armutsverwaltung Als gegen Ende der 1920er Jahre und zu Beginn der 1930er Jahre das Problem der „Aussteuerung“ immer virulenter wurde, stellte das Bundesministerium für soziale Verwaltung fest, dass es für die Fürsorge von ausgesteuerten Arbeitslosen nicht zuständig sei: Dafür sei „in erster Linie das Bundeskanzleramt“ im Rahmen der Armenfürsorge verantwortlich.56 Damit wurde klar zum Ausdruck gebracht, dass eben das Sozialministerium keine gesetzliche Verantwortung für die Armutsbevölkerung innehatte,57 sondern hier die – finanziell ohnehin schon überforderten – Gemeinden zuständig seien. Das sozialversicherungsförmige (erste) soziale Netz wurde seitens des Bundes so umgestaltet, dass die Krisenlasten ins zweite soziale Netz, in die Sozialpolitik der Länder und Kommunen, verschoben wurden.58 Die fortgesetzte Eskalation der Arbeitslosigkeit und die Zunahme von Aussteuerungsfällen59 wurde dadurch verstärkt, dass bestimmte Beschäftigte gar keine Arbeitslosenversicherung hatten bzw. ihnen diese versagt blieb oder dass sie in einer Region Österreichs wohnten, die als rein agrarisch qualifiziert wurde, und ihnen somit keine monetäre Arbeitslosenunterstützung gezahlt wurde. Diesem Personenkreis blieb nur die Hoffnung auf außerordentliche Unterstützungsmaßnahmen seitens der Gemeinden,60 die allerdings nur in größeren Industriestädten (z. B. in St. Pölten und Wiener Neustadt) bzw. in Landeshauptstädten realistisch war.61 Ansonsten waren die Ausgesteuerten und ihre Familien auf die 56 57

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ÖSTA, AdR, BMfsV, Sozialpolitik, SA 13/4, Zl. 64.997/5/32. Der Bund hatte vom Kompetenztatbestand „Armenwesen“ gemäß Bundesverfassung in den 1920er Jahren keinen Gebrauch gemacht und kein Bundesgrundsatzgesetz zur Armenfürsorge verabschiedet. Damit blieb diese Rechtsmaterie sodann der autonomen Gestaltung durch die einzelnen Bundesländer überantwortet. Im Rahmen der thematischen Arbeitsteilung war das „Armenwesen“ auf Bundesebene dem Bundeskanzleramt zugeordnet. Melinz: Armenfürsorge (wie Anm. 21). Schon in den 1920er Jahren wurden vor allem die Kommunen zur Mitfinanzierung der Arbeitslosigkeit durch neue Beitragszahlungen herangezogen. In den 1930er Jahren setzte sich der Belastungskurs fort. Ein Indikator für das Ausmaß der „Aussteuerung“ ist der sinkende Anteil derjenigen, die überhaupt noch in der Arbeitslosenunterstützung verblieben. Vgl. Stiefel: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 41), S. 29. Nicht immer wurde nur abgewartet: Es kamen zum Beispiel „plötzlich“ 10 bis 20, ja in mancher Gemeinde 80 bis 100 Arbeitslose „in die Gemeindekanzlei“ und „verlang[t]en eine Unterstützung.“ Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 2. Wahlperiode, V. Session, 8. Sitzung, 31.3.1931, S. 73. Petra Riedinger: Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise in der Zwischenkriegszeit am Beispiel St. Pöltens. Dipl.-Arb. Univ. Wien, 1994; Karin Fürtinger: Arbeitslosigkeit im

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Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut im Spannungsfeld …

Aktion Winterhilfe des Bundes62 angewiesen, von der sie mit Naturalien unterstützt wurden. Für die Ausgesteuerten blieb aber der „Geldmangel“ das zentrale Problem, denn ohne Bargeld konnten sie die Mieten nicht bezahlen. Die „Zahl der Delogierungen in den verschiedenen Orten nimmt deswegen so zu, und die Bürgermeisterämter stehen vollkommen ratlos der Entwicklung der Dinge gegenüber“.63 Die Weltwirtschaftskrisenjahre hatten einschneidende Veränderungen im Ausmaß der Fürsorgebudgets der Bundesländer zur Folge. Die Dimensionierung der Fürsorgebudgets orientierte sich nicht am wirklichen sozialen Unterstützungsbedarf, sondern wurde politisch festgelegt und entsprechend in die Praxis umgesetzt. Im „roten Wien“ verschärfte sich im Jahre 1931 die budgetäre Situation auf Grund der von der bürgerlichen Bundesregierung – aus politisch motivierten Gründen – betriebenen Umverteilung von Ertragsanteilen im Rahmen des Finanzausgleichs zu Ungunsten Wiens. 1933 wurde der Stadt Wien eine Pönalezahlung (euphemistisch als „Lastenausgleich“ bezeichnet) an den Bund auferlegt, was die sozialdemokratische Stadtregierung notgedrungen zu einem restriktiven Kurs in der kommunalen Sozial- und Fürsorgepolitik zwang.64 In den Bundesländern – so auch in Niederösterreich – mussten die verzweifelten Bezirksfürsorgeräte mit den abgesteckten Budgets auskommen.65 Im Rahmen diverser Weihnachtsaktionen wurden zusätzliche Mittel des niederösterreichischen Landesbudgets (Landesarmenfonds) mobilisiert, nachdem die Gelder der Bezirksarmenfonds bereits aufgebraucht worden waren. „Um Doppelunterstützungen“ zu vermeiden, strebten die Verantwortlichen nach einer koordinierten Vorgangsweise. Zu den Teilnahmevoraussetzungen an der Weihnachtsaktion zählten „hohes Alter“, „vollkommene Subsistenzlosigkeit“, und „eine […] kinderreiche […] Familie“. Der Bezug „von Notstandsunterstützung“ war dabei kein Ausschließungsgrund.66 Trotz all dieser punktuellen Maßnahmen blieben die

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Raum Wiener Neustadt in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Vergleich. Dipl.-Arb. Univ. Wien, 1987. Melinz: Armenfürsorge (wie Anm. 21), S. 203 f.; für Wien Melinz/Ungar, Wohlfahrt (wie Anm. 14). Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 2. Wahlperiode, V. Session, 16. Sitzung, 30. 9. 1931, S. 16 f. Vgl. Melinz/Ungar: Wohlfahrt (wie Anm. 14), S. 18 f. Stenographisches Protokoll des n.ö. Landtages, 2. Wahlperiode, V. Session, 8. Sitzung, 31. 3. 1931, S. 72. NÖLA, Landesregierung, L.A. VII/I, RegZ XIII, GZ 619/1930 (Amt der niederösterreichischen Landesregierung an die Bezirksfürsorgeräte v. 12. 12.1 930). Kt. 717. Im

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Gerhard Melinz

Verantwortlichen vor Ort vor „geradezu unlösbare Probleme“ gestellt zurück. Amtsleiter baten „um Direktiven“ und letztlich Rückendeckung, denn „der direkte Verkehr mit der durch die Not aufgeregten Bevölkerung [oblag] zunächst dem Amtsleiter und den übrigen Beamten, und hängt viel, wenn nicht alles davon ab, dass es gelingt, die bedauernswerten Menschen durch vernünftiges Vorgehen zu beruhigen, was gewiss nicht leicht ist, nachdem die Mittel, die zur Linderung der Not erforderlich wären, nicht vorhanden sind“.67 Für zur Anstaltsunterbringung vorgesehene alte (bzw. kranke) Menschen hatte sich in Niederösterreich offensichtlich folgendes Modell etabliert: Sofern Vermögen, insbesondere Liegenschaftseigentum, vorhanden war, wurde mit den betreffenden Personen ein Leibrentenvertrag zu Gunsten des zuständigen Bezirksfürsorgerates abgeschlossen68 – soweit zu den sogenannten würdigen Armen. Die virulente Massenarbeitslosigkeit und die damit einhergehende Zwangsmobilisierung vieler Arbeitsloser der frühen 1930er Jahre – wie zu Zeiten der Habsburgermonarchie – führte zu einer erneuten Debatte der „Bettlerplage auf dem Lande“. Österreichweit wurde über eine Bekämpfung des „Bettler- und Landstreicherunwesens“ diskutiert.69 Armenpolizeiliche Strategien unterschiedlichen repressiven Zuschnitts wurden als Lösung vorgeschlagen. Realpolitisch reichte es aber nur für eine Heimatgesetznovelle (1935),70 die für die Betroffenen eine stärkere Kontrolle („Unterstützungsausweis“) und für die Gemeinden eine klarere Regelung der gegenseitigen Verrechnung von Unterstützungskosten bedeutete.71

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Aktenfaszikel finden sich auch die zur Auszahlung gelangten Beträge, gegliedert nach Bezirks-Armenfürsorgesprengel. NÖLA, Landesregierung, L.A. VII/1, Zl. 3416/1931 (Schreiben des Bezirksfürsorgerats an das Amt der niederösterreichischen Landesregierung vom 19. Mai 1931). Kt. 717. Exemplarisch NÖLA, Landesregierung, L.A. VII/1, Gruppe XIII, Stammzahl 4078/ 1931; Stammzahl 4980/1931. Kt. 717. In Niederösterreich versuchte zum Beispiel die Sozialbürokratie vor den sogenannten unwürdigen Armen zu warnen. Dies geschah durch eine Rubrik Warnung vor gewohnheitsmäßigen Unterstützungswerbern. In: Amtliche Nachrichten der niederösterreichischen Landesregierung, Nr. 10 vom 31. 5. 1930, S. 95 f. BGBl. 199/1935. Melinz, Armenfürsorge (wie Anm. 21), S. 145 ff.; zur juristisch-polizeilichen Handhabung der alten „Vagabundengesetze“ vgl. Sigrid Wadauer: Ökonomie und Notbehelfe in den 1920er und 1930er Jahren. In: Peter Melichar/Ernst Langthaler/Stefan Eminger (Hg.): Wirtschaft. Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Wien-Köln-Weimar 2008, S. 566 ff.

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… sozial- und armutspolitischer Strategien in Österreich (1920–1938)

Semiperiphere Transformationsblockade und soziale Marginalisierung Die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Österreich latent vorhandene gesellschaftliche Transformationskrise spitzte sich in den Jahren der Ersten Republik vor dem Hintergrund der restriktiven Rahmenbedingungen der europäischen Nachkriegsordnung in äußerst prekärer Weise zu.72 Hinsichtlich der Politikfelder Arbeitsmarkt und Sozialpolitik lässt sich zusammenfassend sagen, dass „im Bereich der Lohnpolitik, der Arbeiterschutzgesetzgebung und der Sozialversicherung eine Politik forciert wurde, die die krisenhaften Bedingungen ökonomischer Realitäten auf Kosten der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit – zum Beispiel durch Massenarbeitslosigkeit, Aussteuerung, Anhebung und Vermehrung indirekter Steuern – zu lösen versuchte. Im Bereich der Politikmuster des sogenannten zweiten sozialen Netzes (zum Beispiel Armenfürsorge) wurden alte armenpolizeiliche Strategien gegen die Armen wieder verstärkt auf die Tagesordnung gesetzt, kurzum: Nicht der Kampf gegen die Armut, sondern der gegen die Armen stand im Vordergrund. […] Die anhaltende Erwerbsarbeitslosigkeit beziehungsweise soziale Marginalisierung breiter Bevölkerungsgruppen beförderte zunehmend soziale Desintegration und parallel dazu eine Delegitimierung des herrschenden Regimes.“73 Der Wunsch nach einem „Systemwechsel“ war insbesondere unter den Betroffenen der sozialen Misere groß, für nicht wenige war mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fürs Erste ganz persönlich ein Ende ihrer Langzeitarbeitslosigkeit und der dadurch erlittenen sozialen Entbehrungen verbunden.

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Zu den theoretischen und konzeptionellen Überlegungen Österreichs als Beispiel einer Semiperipherie im Kontext einer Transformationsblockade vgl. Melinz, Christlichsoziale Politik (wie Anm. 1). Gerhard Melinz: „Christlicher Ständestaat“ und „autoritäre Sozialpolitik“. In: Historicum, Frühling 1999, S. 19.

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Peter Melichar

Alter, neuer und verlorener Reichtum Eine Skizze zu den großen Vermögen im Österreich der Zwischenkriegszeit Reichtum hat unterschiedliche Bedeutungen. Die Ausdrücke „reich“, „die Reichen“, „Reichtum“ werden – selbst wenn man von den nicht-ökonomischen Konnotationen absieht – selten präzise oder eindeutig eingesetzt.1 In ökonomischer Hinsicht können Volkswirtschaften, Städte, Klöster, Vereine, Familien oder Einzelpersonen reich im Sinne von materiellem Überfluss sein. Hier geht es nun um eine Problemskizze anhand der Situation vermögender Individuen, also den individuellen Reichtum einzelner (nicht juristischer) Personen, wenn auch der Reichtum einzelner von dem ihrer Familien oftmals nicht scharf getrennt werden kann.2 Im Zentrum der Überlegungen steht die Frage nach dem Erhalten, Erwerben und Verlieren materiellen Reichtums. Dabei zeigt sich, dass die Frage nach der Rolle des Reichtums bzw. der großen Vermögen sowohl von der zeitgenössischen Forschung3 der ZwiPeter Melichar, Mag. Dr., Lektor an der Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Mitarbeiter der Edition der Ministerratsprotokolle. 1

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3

Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Artikels auf die Begriffsgeschichte einzugehen. Doch schon der entsprechende Artikel im Zedler’schen „Universal-Lexikon“ aus dem 18. Jahrhundert legt ein Schwergewicht auf die wirtschaftliche Bedeutung: „Reichthum (…) ist ein solcher Vorrath von zeitlichen Gütern, daß man mehr hat, als man brauchet. Man braucht Vermögen zu seiner Nothdurft, Bequemlichkeit und zum Wohlstande, so wohl auf die gegenwärtige, als künftige Zeit. Wer nun mehr hat, als er wahrscheinlich braucht, der ist reich, folglich bestehet der Reichthum in einem Überflusse.“ Reichthum. In: Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste (…), 31. Bd. LeipzigHalle 1742, S. 198-215. Den Begriff kennzeichnet eine große semantische Spannweite und ein entsprechendes metaphorisches Potenzial in alle Richtungen. Darauf hat Ludwig Mises 1922 hingewiesen: „Man bezeichnet alle Angehörigen einer in Gemeinschaft lebenden Familie als reich, mag auch rechtlich der Reichtum nur des Vaters sein.“ Ludwig Mises: Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus. Jena 1922, S. 16; auch Schumpeter spricht von „Familienindividuen“, die Vermögen gewinnen und wieder verlieren und dementsprechend sozial auf- und wieder absteigen. Joseph A. Schumpeter: Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu [1927]. In: ders., Aufsätze zur Soziologie. Tübingen 1953, S. 174. Eine ältere Arbeit von Friedrich Leiter untersuchte die Einkommen anhand der Ergebnisse der neuen Personaleinkommensteuer in Cisleithanien zwischen 1898 und 1904.

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Alter, neuer und verlorener Reichtum

schenkriegszeit als auch von nachfolgenden Historikern kaum untersucht wurde.4 Jene, die in der Zwischenkriegszeit arm, arbeitslos oder beides waren, betteln mussten, auf der Straße oder in Elendsquartieren lebten, haben viel eher das Interesse der Forschung geweckt als jene, die reich waren. Polizei, Verwaltung, die zeitgenössische Sozialforschung und ebenso die späteren Generationen von Historikerinnen und Historikern, Soziologinnen und Soziologen erforschten und analysierten – aus welchen Gründen auch immer – in ungleich höherem Maße Arme, Arbeitslose, Unterschichten als Oberschichten, Reiche und Millionäre. Selbst jene Arbeiten, die sich dem Bürgertum oder dem Adel widmeten, untersuchten meist

4

Friedrich Leiter: Die Verteilung des Einkommens in Österreich. Im Gesamtstaate und in den einzelnen Ländern nach Einkommensquellen und Einkommensstufen unter Berücksichtigung von Beruf und Geschlecht und der Stellung im Berufe. Wien 1907. Der in Ungarn geborene Ökonom Max Reinitz analysierte wenige Jahre später in einem Aufsatz anhand der Steuerstatistiken den „neuen Reichtum“ Österreichs und forderte eine wesentlich stärkere steuerliche Belastung der Millionäre: Max Reinitz: Das Anwachsen des Reichtums in Österreich. In: Deutsche Rundschau, hg. v. Julius Rodenberg, Bd. CLI (1912), S. 93-115. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde vor allem die inflationsbedingte „Umschichtung“ der Vermögen zum Thema, meist jedoch nur journalistisch, etwa von Richard Lewinsohn: Die Umschichtung der europäischen Vermögen. Berlin 1926; das Buch war sehr erfolgreich und erreichte 1926 schon die siebte Auflage. Systematisch-analytischer ist eine – Österreich allerdings kaum berührende – soziologische Analyse von Robert Michels: Umschichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege. Stuttgart-Berlin 1934. Der Frage der Umschichtung bzw. der Einkommensverminderungen und dem inflationsbedingten Kapitalmangel im Vergleich zur Vorkriegszeit widmet sich Friedrich Hertz: Kapitalbedarf, Kapitalbildung und Volkseinkommen in Österreich. In: Walther Lotz (Hg.): Kapitalbildung und Besteuerung. Finanzwissenschaftliche Untersuchungen. München-Leipzig 1929, S. 38-96. Den Wandel während des Ersten Weltkriegs untersucht Wilhelm Winkler: Die Einkommensverschiebungen in Österreich während des Weltkrieges (= Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges, Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden, Abt. f. Volkswirtschaft und Geschichte). Wien 1930; die Einkommensproblematik nach dem Ersten Weltkrieg thematisiert Josef Dobretsberger: Probleme der Einkommensbildung. In: Jahrbuch der österreichischen Leo-Gesellschaft 1930, S. 3-38. Die Einkommenssituation und soziale Lage der Kleingewerbetreibenden und Kleinkaufleute analysierte für das theoretische Organ der Sozialdemokraten Artur Redlich: Die Bewegung der sozialdemokratischen Gewerbetreibenden und Kaufleute. In: Der Kampf 7 (1928), S. 314-318. Die gigantischen Kurs- und damit Vermögensverluste der österreichischen Kapitalgesellschaften untersuchte in einer kurzen, allerdings fundierten Studie Oskar Morgenstern: Kapitalund Kurswertänderungen der an der Wiener Börse notierten österreichischen Aktiengesellschaften 1913 bis 1930. In: Zeitschrift für Nationalökonomie 2 (1932), S. 251-255. Einige Ausnahmen sind zu nennen: Michael Pammer widmet sich vor allem Fragen der Vermögensverteilung, etwa der Verteilung von Unternehmervermögen in Wien, aber

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familien- oder firmenhistorische, politische oder kulturelle Aspekte, weniger den materiellen Wohlstand oder die diversen Praktiken des Erwerbs oder des Verlustes von Reichtümern.5 Wenn auch der Reichtum und vor allem der neue Reichtum – während des Ersten Weltkriegs durch Kriegslieferungen und in der nachfolgenden Inflationszeit durch Spekulationsgeschäfte entstanden – in der Zwischenkriegszeit ein Faszinosum darstellte, gerade weil während und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg Hunger und Elend herrschten, viele Familien des sogenannten Mittelstandes, aber auch des Patriziertums und selbst des Adels verarmten oder zumindest schwere und schwerste Vermögensverluste hinzunehmen hatten, muss doch festgestellt werden, dass es zu den in wenigen Jahren entstandenen und dann in kurzer Frist zusammengebrochenen Imperien von Sigmund Bosel, Camillo Castiglioni, Richard Kola, Josef Kranz, Viktor Wutte, den Brüdern Jaques, Heinrich und Samuel Bronner nur wenige Forschungsarbeiten gibt.6

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auch der Vermögensverteilung in ganz Österreich im gesamten 19. Jahrhundert und zwar anhand der Auswertung von Verlassenschaftsakten. Michael Pammer: Umfang und Verteilung von Unternehmervermögen in Wien 1852–1913. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 41 (1996), S. 40-64; ders.: Entwicklung und Ungleichheit. Österreich im 19. Jahrhundert (=VSWG, Beihefte Nr. 161). Stuttgart 2002. Ebenfalls anhand von Verlassenschaftsakten wurde in einer Diplomarbeit der Zeitraum um 1900 untersucht: Vera Maria Streller: Verschwender und Geizkrägen. Eine strukturelle Untersuchung des Wirtschaftsbürgertums in Wien um 1900 auf Grund von Verlassenschaftsakten. Diplomarbeit Universität Wien 1988; in einem informativen Überblicksartikel berührt auch Roman Sandgruber das Thema Reichtum: Roman Sandgruber: Geld und Geldwert. Vom Wiener Pfennig zum Euro. In: Wladimir Aichelburg/Adelbert Schusser (Hg.): Vom Pfennig zum Euro. Geld aus Wien (= Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien 281). Wien 2002, S. 62-79. Im Rahmen der Österreichischen Historikerkommission wurde in zwei konkurrierenden Studien das Vermögen der als Juden verfolgten Personen untersucht: Helen B. Junz u. a.: Das Vermögen der jüdischen Bevölkerung. NS-Raub und Restitution nach 1945 (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 9). Wien-München 2004; Michael Pammer: Jüdische Vermögen in Wien (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 8). Wien-München 2004. Eine Ausnahme stellt eine Studie zur Familie Miller-Aichholz dar. Vgl. Oliver Kühschelm: Vom Glanzvollen Aufstieg bis zur „Tragödie des alten Reichtums“. Familien- und Firmenstrukturen im Haus Miller-Aichholz. In: Hannes Stekl (Hg.): Bürgerliche Familien. Lebenswege im 19. und 20. Jahrhundert (= Bürgertum in der Habsburgermonarchie 8). Wien-Köln-Weimar 2000, S. 109-167. Als Überblick zu den größten Finanzskandalen der Ersten Republik nach wie vor unverzichtbar ist Karl Ausch: Als die Banken fielen… Zur Soziologie der politischen Korruption. Wien-Frankfurt-Zürich 1968; zu Josef Kranz existieren keinerlei Forschungs-

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Alter, neuer und verlorener Reichtum

Wer ist reich? Nirgendwo ist festgelegt, wer als wohlhabend, wer als vermögend und wer als reich gilt. Während der Begriff des Existenzminimums ebenso gebräuchlich wie – in seinen Festlegungen – umstritten ist, existiert ein Begriff des Existenzmaximums nicht. Die Begriffe Wohlstand, Reichtum und Vermögen kamen und kommen in Geschichts- und Sozialwissenschaften überhaupt meist höchst unreflektiert zum Einsatz, von der Alltagssprache ganz abgesehen. Warum? Weil gerade das Unscharfe, die ebenso unbekannte wie ungeheure Größe großer Vermögen eine wunderbar funktionierende und faszinierende Projektionsfläche für alle bietet, die über derartige Vermögen nicht verfügen. Und das sind die allermeisten. Die Beantwortung der Fragen, wer denn nun reich sei, wie viele Personen über persönlichen, materiellen Reichtum verfügten, erfordert die Definition von Reichtum, die Festlegung gewisser Grenz- und Schwellenwerte. Doch damit hat es seine Schwierigkeit, wie schon Robert Michels 1934 bemerkte: „Die objektiven Maßstäbe zur Bestimmung der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Eigentumsklassen, bzw. zur Fixierung von deren Grenzen und sozialen Qualifizierung (‚reich’ und ‚arm’) sind den größten Schwankungen unterworfen. An allgemeingültigen Kriterien gebricht es völlig. Dafür sorgt schon die Individualpsychologie. Fragt man einen Mann im Besitz von 1 Million Mark, wo seinem Dafürhalten nach der Reichtum beginne. Er wird antworten, er beginne bei den Besitzern von 1,100.000 Mark. So gewaltig ist nicht nur die Furcht, Neid zu erwecken, sondern auch die natürlich menschliche Unzufriedenheit mit der eigenen Lage“.7

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arbeiten; zum Bankier Richard Kola – allerdings nur über sein kurzlebiges Verlagsimperium, den Rikola-Konzern – vgl. Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938, Bd. 2. Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien-Köln-Graz 1985, S. 310-346; zu Bosel vgl. Thomas M. Hoffmann: Der Fall Sigmund Bosel – Sigmund Bosels Fall. Über das Leben des österreichischen Kriegs- und Inflationsgewinnlers (1893– 1942). Diplomarbeit Universität Wien 1990; zu Castiglioni vgl. Franz Mathis: Camillo Castiglioni und sein Einfluß auf die österreichische Industrie. In: Historische Blickpunkte. Festschrift für Johann Rainer zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 25). Innsbruck 1988, S. 423-432; ders., „…weil Herr Castiglioni in Österreich eben nicht verfolgt werden darf.“ Ein Justizskandal und seine mediale Rezeption. In: Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.): Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. Thaur-Wien-München 1995, S. 185-193; zu den Brüdern Bronner vgl. Lewinsohn: Umschichtung (wie Anm. 3), S. 258-262; zu den Brüdern Bronner, zu Wutte und auch zu den Fällen Bosel und Castiglioni: Ausch: Als die Banken fielen (wie Anm. 6). Michels: Umschichtungen (wie Anm. 3), S. 11.

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Eine beliebte Vorgangsweise ist es nun dennoch, eine Definition zu geben, d. h. willkürlich zu bestimmen, ab welcher Größenordnung jemand im Verhältnis zu anderen reich sei, etwa anhand der Steuerleistung. Dabei wird durch die Grenzziehung immer eine durch die Maßstäbe der Forschung bestimmte Anzahl an Personen festgelegt, d. h. ein kleinerer oder größerer Anteil der Steuerzahler. Dieser Prozentsatz gilt dann als reich. Roman Sandgruber etwa thematisiert den „Reichtum des Fin de Siècle“ anhand eines Verzeichnisses „der Einkommen über 100.000 Kronen in Niederösterreich in den Jahren 1909 und 1910“, das 902 einkommensteuerpflichtige Personen umfasst.8 Heißt das nun, dass alle Steuerzahler mit Einkommen über 100.000 Kronen reich waren? Und waren alle anderen nicht reich? Gewiss existierten Personen, die von den Steuerbehörden nicht (oder nicht mit ihrem vollen Vermögen) erfasst wurden und dennoch reich oder sogar sehr reich waren – zumindest in den Augen ihrer Zeitgenossen. Selbst wenn man ein komplizierteres Verfahren entwickeln und durchführen könnte, das weitere Merkmale bestimmte (denkbar wären etwa neben der Steuerleistung – über die immerhin, sofern alle Steuern erfasst werden könnten, der Immobilienbesitz, Eigentum an Firmen, das Einkommen aus Dienstbezügen etc. abgedeckt werden könnten – die Beschäftigung von Hauspersonal, der Besitz von Autos oder ihre Verfügbarkeit, teure Hobbies, exklusive Klubmitgliedschaften, kostspielige Reisen, die Nutzung von Wohnungen, das Bewohnen von Luxushotels) und die Kombination mehrerer Merkmale berücksichtigte, wäre man nicht einer willkürlichen Grenzsetzung enthoben. Durch diese Grenzziehung(en) definiert man jedoch nur das als Reichtum, was man selbst für Reichtum hält. Es bleibt somit die Beschränkung auf zeitgenössische Definitionsversuche und Grenzziehungen als Referenz. Richard Coudenhove-Kalergi, selbst nicht unvermögend, bemerkte 1930: „Reichtum ist ein relativer Begriff. Fast niemand hält sich für reich. Für die meisten Menschen beginnt der Begriff des Reichtums bei einem Einkommen, das ihr eigenes zehnmal übersteigt.“ 9 Dementsprechend unterschiedlich waren (und sind) die Wahrnehmungen, Einschätzungen und Definitionen von Reichtum.

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Sandgruber: Geld (wie Anm. 4), 72 f. Roman Sandgruber gibt die Herkunft der Quelle, die wohl aus den Beständen des k. k. Finanzministeriums stammen dürfte, nicht an, wird jedoch – nach einer Mitteilung vom 22.9.2008 an den Verfasser – das Verzeichnis bald in einem Aufsatz thematisieren. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi: Los vom Materialismus! Wien-Leipzig 1930, S. 138.

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Alter, neuer und verlorener Reichtum

Selbst ein Vergleich von Durchschnittseinkommen von Arbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten zeigt beträchtliche Schwankungen: Die Lohnstatistik für Arbeiterinnen und Arbeiter belegt, dass die Differenz zwischen den niedrigsten und den höchsten Durchschnittslöhnen je nach Branche und Art der Entlohnung (Stundenlohn, Akkordlohn) mehr als 1 : 3 betragen konnte. Die am besten verdienenden Arbeiter (z. B. Schlosser in der Schwachstromindustrie) bekamen 1932 etwa 390 Schilling im Monat, die am schlechtesten entlohnten unqualifizierten Arbeiterinnen weniger als ein Drittel dieser Summe.10 Eine Untersuchung der Tiroler Arbeiterkammer errechnete als Durchschnittseinkommen für männliche Angestellte in Tirol 1930 Monatseinkommen von 296, für Frauen von 193 Schilling (im Durchschnitt 256).11 Immerhin 22 Prozent aller männlichen Angestellten verdienten mehr als 400 Schilling. In einer Nationalratsdebatte wurden 1931 etwas niedrigere Zahlen genannt: Die durchschnittliche Höhe der Privatangestelltengehälter lag demnach in Wien im Jahre 1931 bei ca. 290 Schilling im Monat, in den Bundesländern bei ca. 270 Schilling.12 Tab. 1: Einkommensgruppen 1925–27 und 193113 Einkommen S pro Jahr Unter 1.400 1.400-2.000 2.000-3.000 3.000-4.800 4.800-10.200 10.200-22.000 Über 22.000 Gesamt 10

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12

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1925 abs. % 3.210 142.466 131.424 112.638 90.572 24.567 9.226 514.103

0,5 28,0 25,5 21,0 18,0 5,0 2,0 100,0

Steuerpflichtige 1926 1927 abs. % abs. % 3.436 135.352 126.440 109.240 88.199 24.267 8.540 495.474

1 27 25 22 18 5 2 100

5.809 125.362 129.650 115.621 92.983 26.484 9.359 505.268

1 25 26 23 18 5 2 100

1931 abs. % 10.797 129.057 124.549 113.781 88.882 24.561 8.377 500.004

2 26 25 22 18 5 2 100

Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.): Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 1932/33, 9. Jg., Wien 1934, S. 431-457 (Lohnstatistik für November 1932). Kammer für Arbeiter und Angestellte in Innsbruck (Hg.): Tiroler Angestellten-Statistik. Innsbruck 1931, S. 17. Stenographische Protokolle des Nationalrates der Republik Österreich. 17. Sitzung, IV. GP, 17.2.1931, S. 470, Rede des großdeutschen Nationalrates Hans Prodinger. Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.): Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 1929/30, VII. Jg., Wien 1931, S. 481; Bundesamt für Statistik (Hg.): Statistisches Handbuch der Republik Österreich, 15. Jg., Wien 1935, S. 235.

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Peter Melichar

Von diesen Beobachtungen zu durchschnittlichen Löhnen und Gehältern in der Arbeiter- und Angestelltenschaft ausgehend, kann man sich eine Angestellte bzw. Arbeiterin oder einen Angestellten bzw. Arbeiter mit einem monatlichen Einkommen von 183 Schilling (mit einem Jahresverdienst also von etwa 2.200 Schillingen) vorstellen und fragen: Wieviele Personen verdienten in Österreich mehr als das Zehnfache? Die Einkommensteuerstatistik weist zwischen 1925 und 1931 nur zwischen 8.300 und 9.200 Personen mit einem Gehalt von mehr als 22.000 Schilling jährlich aus, das waren 2 Prozent der insgesamt ca. 500.000 erfassten einkommensteuerpflichtigen Personen. Nur etwa 24.500 Personen (also 5 Prozent der Steuerpflichtigen) verfügten über ein Einkommen, das zwischen 10.200 und 22.000 Schillingen lag. Jene, die nur ein Zehntel verdienten, bildeten dagegen die zweitgrößte Gruppe: Zwischen 124.500 und 131.000 Personen (25-26 Prozent) verdienten zwischen 2.000 und 3.000 Schilling jährlich.14 Tab. 2: Einkommensteuerpflichtige in den Bundesländern nach Höhe 192715 Bundesland

unter 2.000 S abs. %

2.000-4.800 S 4.800-22.000 S über 22.000 S Gesamt abs. % abs. % abs. % abs.

Wien Niederöst. Oberöst. Salzburg Steiermark Kärnten Tirol Vorarlberg Burgenland Österreich

32.699 28.493 19.372 5.103 16.288 6.874 4.915 5.009 12.418 131.171

78.537 57.086 32.357 9.158 17.149 10.466 10.306 7.179 13.033 235.271

14

15

19,3 25,8 29,1 28,0 36,0 30,5 25,2 33,6 44,3 26,5

46,3 52.310 51,7 23.928 48,6 14.172 50,2 3.724 37,9 11.247 46,4 4.962 52,8 4.073 48,2 2.537 46,5 2.514 47,5 119.467

30,8 21,7 21,3 20,4 24,9 22,0 20,9 17,0 9,0 24,1

6.200 944 663 251 569 246 219 172 45 9.309

3,7 0,9 1,0 1,4 1,3 1,1 1,1 1,2 0,2 1,9

169.746 110.451 66.564 18.236 45.253 22.548 19.513 14.897 28.010 495.218

Wobei anzumerken ist, dass die Zahl der ca. 500.000 Steuerpflichtigen nicht alle Einkommen erfasst: Alle kleineren Einkommen, darunter auch alle Zusatzeinkünfte, die unter dem steuerfreien Minimum lagen, waren nicht enthalten. Allein bei den nichtselbstständigen Einkommensbeziehern (Arbeitern und Angestellten) lagen ca. 140.000, bei den öffentlich Bediensteten etwa 22.000 Personen unter dieser Schwelle. Dobretsberger: Probleme der Einkommensbildung (wie Anm. 3), S. 29.

172

Alter, neuer und verlorener Reichtum

Es handelt sich bei der Gesamtheit der Bezieher von über 22.000 Schilling Jahreseinkommen um eine willkürlich gebildete statistische Klasse, innerhalb der wiederum die Differenzen sehr groß sind. Das zeigt sich anhand einer etwas genaueren Aufstellung: Nur 1.270 Steuerpflichtige deklarierten ein jährliches Einkommen über 60.000 Schilling und überhaupt nur drei Personen deklarierten ein Einkommen von über einer Million (ca. 2,6 Millionen Euro nach heutigem Wert). Ca. 93 Prozent aller steuerpflichtigen Einkommen – absolut genommen handelte es sich um 469.425 veranlagte Personen – waren kleiner als 10.200 Schilling im Jahr. Tab. 3: Verteilung des steuerpflichtigen Einkommens nach Steuerstufen 1927 (vereinfacht)16 Einkommen in S jährlich

Veranlagte abs.

Unter 1.400 1.400-2.000 2.000-3.000 3.000-4.800 4.800-10.200 10.200-22.000 22.000-30.000 30.000-36.000 36.000-48.000 48.000-60.000 60.000-120.000 120.000-180.000 180.000-240.000 240.000-360.000 360.000-500.000 500.000-1,000.000 Über 1,000.000 Gesamt

5.809 125.362 129.650 115.621 92.983 26.484 4.231 1.525 1.587 746 930 188 69 50 22 8 3 505.268

16

Grenzsteuersatz % 0 1,1 1,1 1,1-2,2 2,2-4 4,4-8 8-11 14 18 22 27 32 38 45 45 45 45 –

Veranlagte % 1,15 24,81 25,66 22,87 18,41 5,24 0,84 0,31 0,32 0,15 0,18 0,04 0,01 0,01 0,00 0,00 0,00 100,00

Summe % 1,15 25,96 51,62 74,49 92,91 98,15 98,99 99,29 99,75 99,75 99,93 99,97 99,98 99,99 99,99 99,99 100 –

Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.): Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 1929/30, VII. Jg. Wien 1931, S. 482-483.

173

Peter Melichar

Wer waren nun die Bezieher der hohen Einkommen über 22.000 S? Diese Einkommensklasse wurde von Friedrich Hertz als jene der Mittel- und Kleinindustrie (1,8 % der Erwerbsteuerpflichtigen) sowie vieler Fabrikdirektoren und Spezialisten bezeichnet. Einkommen von über 60.000 S hatten demnach meist Mittel- und Großindustrielle und Großkaufleute.17 Ein von Friedrich Hertz unternommener Vergleich der Einkommen von 1925 mit jenen von 1912 zeigt eine extreme Verringerung der höheren Einkommen. Die Zahl der Steuerpflichtigen mit einem Einkommen zwischen 24.000 und 60.000 Schilling hatte sich um mehr als ein Drittel verringert (von ca. 10.000 auf ca. 6.500), die Zahl jener mit einem Einkommen zwischen 60.000 und 150.000 um zwei Drittel. Tab. 4: Einkommensteuer 1912 und 192518 1912

1925

Einkommen in S

Steuerträger

Prozent

Steuerträger

Prozent

Unter 3.400 3.400-7.200 7.200-14.400 14.400-24.000 24.000-60.000 60.000-150.000 Über 150.000 Gesamt

462.739 166.367 58.827 16.401 10.306 3.335 1.306 719.281

64,34 23,13 8,18 2,28 1,43 0,46 0,18 100,00

306.992 145.833 41.343 12.084 6.545 1.097 209 514.103

59,71 28,37 8,05 2,35 1,27 0,21 0,04 100,00

Die Gruppe der höchsten Einkommen schrumpfte am stärksten, also jene, die ein Einkommen von über 150.000 Schilling deklarierten. Also: Die großen Einkommen waren in unverhältnismäßig größerem Maße seltener geworden. Gerade noch 209 Personen bezogen ein Einkommen von über 150.000 Schilling pro Jahr, 1912 waren es noch sechsmal so viele Personen gewesen. Hertz bemerkte zu den durch den Ersten Weltkrieg und die Inflation bedingten sozialen und ökonomischen Umschichtungen: „Das Rentnereinkommen aus Hausbesitz, Staatspapieren, Renten und dgl. ist ja in der Nachkriegszeit durch die Inflation, der in Österreich keine allgemeine Aufwertung folgte, fast ganz vernichtet worden. Die klei-

17 18

Hertz: Kapitalbedarf (wie Anm. 3), S. 84. Hertz: Kapitalbedarf (wie Anm. 3), S. 86.

174

Alter, neuer und verlorener Reichtum

nen Selbstständigen konnten sich gegen diese Vermögensvernichtung viel weniger schützen als Großindustrielle oder Großkaufleute, die vielfach Sachwerte, Wertpapiere oder fremde Valuten und Devisen kauften.“19 Die prekäre Lage vieler Klein- und Mittelbetriebe belegt dies: 1923 gab es in Österreich nach der Volkszählung dieses Jahres 555.784 Selbstständige, von denen jedoch nur zwei Prozent über 20.000 Schilling jährliches Einkommen hatten, nur sieben Prozent lagen über 10.000. Etwa ein Fünftel dieser Unternehmer arbeiteten ohne jedes Personal. Es war vielleicht etwas übertrieben, aber doch nachvollziehbar, wenn angesichts dieser Zahlen 1928 behauptet wurde: 426.368 Selbstständige (77 Prozent aller Selbstständigen in Österreich) seien ausgesprochene Proletarier mit monatlichen Einkommen von 90 bis 375, bzw. einem Jahreseinkommen unter 4.500 Schilling.20 Tab. 5: Selbstständiges Einkommen 192321 Selbstständige

Prozent

Jahreseinkommen

2.723 149.419 156.203 118.023 91.342 17.147 10.927 555.784

1 27 28 21 16 5 2 100

Unter 1.120 1.120-1.792 1.792-2.800 2.800-4.480 4.480-9.520 9.520-20.160 Über 20.160

Neben der Einkommensteuer existierte in Österreich in der Zwischenkriegszeit die durch die „Personalsteuernovelle“ von 1924 eingeführte

19

20

21

Hertz: Kapitalbedarf (wie Anm. 3), S. 84. Allerdings könnte man an vielen Beispielen zeigen, dass auch Bankiers und Industrielle zwischen 1914 und 1922 ihr Vermögen verloren hatten oder zumindest stark geschmälert sahen, wenn sie es im Inland, d. h. in der Monarchie bzw. in Österreich investiert hatten; jene, die ihr Vermögen rechtzeitig in ausländischen Wertpapieren bzw. am internationalen Finanzmarkt angelegt hatten, konnten dagegen große Gewinne erzielen. Redlich: Die Bewegung (wie Anm. 3), S. 314 f. In dem Artikel wird festgestellt, dass der Verband sozialdemokratischer Gewerbetreibender lediglich 22.000 Mitglieder umfasste. Ebenda.

175

Peter Melichar

Vermögenssteuer (nicht zu verwechseln mit der einmaligen Vermögensabgabe von 1920/21), die im Gegensatz zur Einkommensteuer das gesamte ertragbringende Reinvermögen einer Person bewertete. Sie war auf all jene beschränkt, deren steuerpflichtiges Reinvermögen über 36.000 Schilling lag. Darunter waren alle befreit.22 Die Besteuerung der Vermögen war gestaffelt, unter 120.000 betrug sie ein halbes Prozent (bei einem Vermögen von 120.000 also 600 Schilling), bis 360.000 Schilling zwei, darüber drei Prozent (bei einer Million also 30.000 Schilling). 23 Tab. 6: Vermögenssteuerpflichtige 1930/3124 Vermögen in 1000 S 36-52 52-100 100-300 300-600 600-1.000 > 1.000 Gesamt

1928

74.069

1929

1930

1931

72.783

24.416 23.316 20.533 2.789 687 467 72.208

22.413 21.365 18.061 2.337 550 375 65.101

Die Zahl der Vermögenssteuerpflichtigen verringerte sich in der Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1931 von ca. 74.000 auf 65.000. Die Zahl jener, die ein Vermögen von über einer Million Schilling zu veranlagen hatten, schrumpfte allein von 1930 und 1931 von 467 auf 375. Die regionale Verteilung zeigt, dass das Verhältnis zwischen allen Vermögenssteuerpflichtigen und jenen, die über eine Million Vermögen besaßen, in Österreich um 1930 recht ungleich verteilt war. Im Mittel betrugen bundesweit 0,65 Prozent aller vermögenssteuerpflichtigen Vermögen über eine Million. Mit Ausnahme von Wien mit 1,36 und Vorarlberg mit 0,94 lagen alle Bundesländer unter diesem Mittelwert. Das heißt, die Verteilungskurve der Vermögen war in Wien viel steiler als anderswo (hier gab es also verhältnismäßig die meisten Reinvermögensmillionäre), am flachsten war sie im Burgenland mit 0,08 Prozent.

22

23 24

Otto Gottlieb-Billroth/Rudolf Egger: Personalsteuergesetz samt Durchführungsbestimmungen (…). Wien 21930, 1. Bd., S. 759 (§ 238 a.). Ebenda: S. 764 (§ 238 c.). Bundesamt f. Statistik (Hg.): Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, Jg. 1215. Wien 1931 ff.

176

25

Wien 3.830 7.488 9.770 1.646 498 322 23.554 23.812 1,36

Nö. 7.601 5.311 3.489 301 47 41 16.790 17.073 0,24 Oö. 4.732 3.760 2.085 218 45 53 10.893 11.921 0,48 Sbg. 890 737 741 97 17 8 2.490 2.488 0,32 Stm. 3.199 2.555 2.062 214 29 16 8.075 8.312 0,2 Kt. 1.517 1.338 959 106 23 4 3.947 4.628 0,1 Tirol 1.088 788 721 107 17 10 2.731 2.581 0,37 Vbg. 247 351 474 77 9 11 1.169 1.297 0,94

Bundesamt f. Statistik (Hg.): Statistisches Handbuch für die Republik Österreich. 14. Jg. Wien 1933, S. 219.

Verm. in 1000 S < 52 52-100 100-300 300-600 600-1.000 > 1.000 1930 1928 > 1.000 in %

Tab. 7: Vermögenssteuerpflichtige nach der Höhe des Reinvermögens 1928/193025 Bgld. 1.312 988 232 23 2 2 2.559 1.957 0,08



24.416 23.316 20.533 2.789 687 467 72.208 74.069 0,65

% 34 32 28 4 1 1 100

Alter, neuer und verlorener Reichtum

177

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Die Frage, wie Reichtum zu definieren sei, wer vermögend war und in welchem Maße, wird durch die Nachweise der Steuerleistungen allerdings nicht geklärt. Denn die Einteilung in Steuerklassen war willkürlich und zog keine Grenzlinie zwischen Arm und Reich. Akzeptierte man die Definition von Coudenhove-Kalergi, reich sei jemand, der das Zehnfache von einem verdiene oder besitze, so hätte man aus der Perspektive eines kleineren Gehalts- oder Lohnempfängers 1925 ca. 9.200 und 1931 etwa 8.300 Reiche zählen können, aus der Perspektive jener, die über ein Reinvermögen von über 100.000 Schilling verfügten, hätte man 1930 gerade 467 Personen als reich bezeichnen können, also jene mit einem Reinvermögen von über einer Million. Doch die Wahrnehmung von dem, was Reichtum war und wer reich war, basierte nicht auf derartigen Zahlenspielereien. Nur wenige Zeitgenossen lasen die statistischen Publikationen, kaum jemand interessierte sich für die bloße Zahl der großen Vermögen. Die Frage der quantitativen Verhältnisse des Reichtums und der Vermögensverteilung interessierte außer einigen Soziologen und Nationalökonomen nur die Steueradministration. Die staunenden Mitbürger, die diese Zahlen nicht kannten, sahen nur die Automobile und die Villen und Palais, in denen die Reichen wohnten, nicht zu vergessen die Luxusgeschäfte, in denen sie einkauften und die Restaurants, in denen sie dinierten.

Alter Reichtum, neuer Reichtum Karl Kraus schrieb 1921 über die mangelnde Freigiebigkeit der Reichen: „Man spricht jetzt viel von den ‚neuen Reichen’, im Gegensatz zu den ‚alten Reichen’. Gemeinsam dürften beide das haben, was sie nicht geben. Der Unterschied zwischen beiden dürfte darin bestehen, daß die neuen Reichen ein Gesindel sind, während die alten Reichen eine Bagage waren.“26 Die Rede über den Reichtum in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war ambivalent: Einerseits wurde sowohl von vielen der Verlust von Vermögen in konkreten Fällen beklagt, als auch von zahlreichen Autoren ganz generell der Vermögensverlust bürgerlicher Schichten behauptet. Andererseits finden sich auch immer wieder Hinweise auf Kriegsgewinner, die „Könige der Inflation“27, auf Neureiche, denen man nachsagte, die

26 27

Karl Kraus: Die Gesellschaft der Feinde. In: Die Fackel 557 (1921), S. 2. Es sei noch verfrüht, eine „Naturgeschichte der Neureichen“ zu schreiben, bemerkte Ufermann. Paul Ufermann: Könige der Inflation. Berlin 1924, S. 11.

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Alter, neuer und verlorener Reichtum

Zeit der Krise für den Erwerb gigantischer Vermögen genutzt zu haben. Es wurde daher die schon im 18. Jahrhundert geläufige Rede vom alten und vom neuen Reichtum28 aktuell, die sogar in der Gesetzgebung Niederschlag fand: Die einmalige große Vermögensabgabe von 1920 begünstigte „älteres Vermögen“, das schon vor dem 30. Juni 1914 existiert hatte.29 Das entsprechende Gesetz implizierte also eine Benachteiligung der Neureichen und inkludierte unausgesprochen eine moralische Verurteilung, nämlich die Kriegszeit für den Vermögenserwerb genützt zu haben; grundsätzlich tritt in der Verwendung des Ausdrucks „neureich“ respektive „Neureiche“ eine typologisierende und pejorative Betrachtungsweise zutage, deren Problematik in generalisierenden Zuschreibungen besteht. Ganz offensichtlich wurde es nach dem Ersten Weltkrieg als besonders unstatthaft angesehen, in einer Zeit Vermögen erworben zu haben, in der die meisten anderen Vermögen stark geschmälert und einige gar fast völlig vernichtet worden waren. Jene kleine Gruppe Neureicher, die dem älteren Vermögen der grundbesitzenden und teilweise auch schon im Industrie- und Finanzsektor engagierten Aristokratie und des Wirtschaftsbürgertums gegenüberstand, war somit besonders Projektionsfläche für Kritik, Verachtung, Hass, nicht selten mit offen antisemitischer Argumentation.30 Zugleich bildeten die neuen Vermögen der Kriegs- und Inflationsperiode für die Zeitgenossen ein ungeheures Faszinosum.31 Zwar war auch in der Vergangenheit permanent neuer Reichtum entstanden, vor allem in der Gründerzeit. Doch während diese Vermögen nach der Spekulationskrise von 1873 in einer 28

29

30

31

Vgl. das Kapitel „Die Reichen“ im Werk von Johann Pezzl: Skizze von Wien, 2. Heft. Wien 1805, S. 226. Paul Grünwald (Hg.): Die einmalige große Vermögensabgabe. Gesetz vom 21. Juli 1920. Wien 1921, S. 20. Die auch von Coudenhove-Kalergi behauptete „relativ große Zahl der jüdischen Neureichen“ war in aller Munde. Richard Coudenhove-Kalergi: Judenhass von heute – Wesen des Antisemitismus. Wien-Zürich 1935, S. 22. Die „Spekulanten und Neureichen, die meist Juden waren“ finden sich auch bei Fritz Weber: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Ersten und Zweiten Republik. In: Erich Zöllner u. a. (Hg.): Österreichs Erste und Zweite Republik. Kontinuität und Wandel ihrer Strukturen und Probleme. Wien 1985, S. 121-152, hier S. 136. Der neue Reichtum hat selbstverständlich zu allen Zeiten großes Interesse gefunden, vgl. Hermann Blenhard (Hg.): Die „Gerissenen“ oder: „Woher haben Sie Ihren Reichtum?“ Zehn Antworten von Millionären, die mit nichts angefangen haben. Berlin 1907. In besonderem Maße kulminierte jedoch das Interesse am neuen Reichtum nach dem Ersten Weltkrieg, vgl. dazu: Ernst Neckarsulmer: Der alte und der neue Reichtum. Berlin 1925; vgl. auch die Werke von Lewinsohn und Michels (Anm. 3).

179

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Zeit allgemeiner Prosperität erworben wurden, hatten die Neureichen der Ersten Republik ihre Vermögen in einer Zeit erworben, die von Kriegselend, Hunger, Kohleknappheit, Grippeepidemien und weitgehender Verarmung der Mittelschichten und sogar der Vernichtung großer Vermögen geprägt war. Der Aufstieg von Männern wie Sigmund Bosel, Camillo Castiglioni, Richard Kola, den Brüdern Heinrich und Samuel Bronner, Josef Kranz oder Viktor Wutte war jedoch in mehrfacher Weise spektakulär: Einige von ihnen gründeten nicht nur eigene Privatbanken (wie etwa Bosel, Kola und Castiglioni), sondern brachten es innerhalb weniger Jahre zu einem Reichtum, der ihnen den Erwerb oder zumindest die Kontrolle alter und angesehener Großbanken ermöglichte. Bosel erwarb die Unionbank, Castiglioni die Depositenbank, die Brüder Bronner die Lombardbank, Wutte kontrollierte mit seinem Konzern die Centralbank der deutschen Sparkassen. Allen war auch gemeinsam, dass ihre Imperien innerhalb weniger Jahre wieder zusammenbrachen und verschwanden, zumindest in Österreich.32 Zu den Besonderheiten der Ersten Republik gehörte es, dass diese folgenreichen Zusammenbrüche kaum je gerichtliche Folgen nach sich zogen.33 Selbstverständlich wurden während des Ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit auch Vermögen gebildet, die über das Ende der Spekulationsperiode hinaus Bestand hatten. Zu den erfolgreichen jüngeren Unternehmern, denen es gelang, in dieser schwierigen Zeit großes Vermögen zu erwerben bzw. ihr angestammtes Vermögen stark zu vergrößern, gehörten etwa die Holzindustriellen Franz Hasslacher und Karl Funder, die Munitionsfabrikanten Alexander und Fritz Mandl, die Techniker, Erfinder und Firmengründer Eduard Schrack und Paul Schwarzkopf. Gab es außerhalb der Börse und abseits von Banken und Industrie überhaupt Möglichkeiten der Vermögensbildung? Ein Vergleich der Einkommen von 1912 mit jenen von 1925 zeigt, dass bestimmte Anlageformen stark an Bedeutung verloren hatten. Die Einkünfte aus dem Eigentum von Immobilien hatten sich extrem reduziert, was vor allem eine Folge der Mieterschutzgesetze war. Dies führte wiederum dazu, dass pri32

33

Castiglioni konnte wohl Teile seines Imperiums in Deutschland – er war Großaktionär der Bayrischen Motorenwerke – bis 1929 erhalten; zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass er auch die Firma BMW, deren Aktionäre und Banken schwer geschädigt hatte. Vgl. Florian Triebel/Manfred Grunert: Krisenerfahrung bei der BMW AG. Zur Typologie des Phänomens Unternehmenskrise. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2006), S. 19-30, hier 22-24. Vgl. Ausch: Als die Banken fielen (wie Anm. 6) und Mathis, „…weil Herr Castiglioni in Österreich eben nicht verfolgt werden darf.“ (wie Anm. 6).

180

Alter, neuer und verlorener Reichtum

vate Investoren kaum noch Häuser bauten. Der kommunale Wohnungsbau und andere öffentliche Wohnbauprogramme mussten das vor allem in Wien kompensieren. Auch die Einkünfte aus Kapitalvermögen hatten sich stark verringert, was auf die großen Restrukturierungen nach dem Weltkrieg zurückzuführen war, bedingt durch die Umstellungen der Kriegsproduktion auf die neuen Bedingungen. Doch waren durchaus, wie etwa das Beispiel der Rüstungsfabrikanten Alexander und Fritz Mandl zeigt, Neubildungen von Vermögen möglich: Alexander Mandl, Hauptaktionär der Hirtenberger Patronenfabrik, war vor dem Ersten Weltkrieg höchst vermögend; er verlor allerdings einen großen Teil seiner Mittel während des Ersten Weltkriegs, die stark vergrößerte Munitionsfabrik stand nach Kriegsende vor großen Problemen. Durch eine äußert geschickte Geschäftspolitik verstanden es Alexander Mandl und vor allem sein Sohn Fritz Mandl jedoch, das Geschäft international auszudehnen, einen weltweit agierenden Konzern aufzubauen, dessen österreichische Werke 1938 auf ca. 26 Millionen Schilling geschätzt wurden.34 Die Einkünfte aus selbstständigen Unternehmungen und sonstigen Einkommen hatten sich nur leicht erhöht, mehr als verdoppelt hatten sich die Einkünfte aus Grundeigentum (darunter ist vor allem landwirtschaftlicher Boden zu verstehen) und jene aus Dienstbezügen. Tab. 8: Bruttoeinkommen in Millionen Schilling 1912 und 1925 (ohne Burgenland)35 1912 abs. Grundbesitz Gebäude Unternehmen Dienstbezüge Kapitalvermögen Sonstiges Einkommen Gesamt

34

35

1925 %

206,6 4,8 374,1 8,8 1.268,9 29,7 1.688,8 39,5 615,2 14,4 122,3 2,9 4.275,9 100

abs.

%

468,2 8,3 8,2 0,1 1.363,7 24,1 3.575,6 63,2 98,2 1,7 139,9 2,5 5.653,8 100,0

Einkommen 1925 im Verhältnis zu 1912 % 226,6 2,2 107,5 211,7 16,0 114,4 132,2

Vgl. Marie-There`se Arnbom: Friedmann, Gutmann, Lieben, Mandl und Strakosch. WienKöln-Weimar 2002, S. 33-62, hier 55. Hertz: Kapitalbedarf (wie Anm. 3), S. 78.

181

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Vor allem Großgrundbesitzer galten als vermögend. Die Einkommenssteigerungen waren hier vor allem auf den Anstieg der Lebensmittelpreise während und nach dem Weltkrieg zurückzuführen. Die Inflation hatte zudem die Schulden der Grundbesitzer getilgt. Aber es kam bald zu einer Trendumkehr: Die Rentabilität der Land- und Forstwirtschaft sank ab 1925, auch der Agrarkurs der Kabinette Karl Buresch und Engelbert Dollfuß konnte daran nichts ändern. Wer mit Grundbesitz während des Weltkrieges und in der Inflationszeit ein Vermögen verdienen wollte, musste entweder schon den Grund besitzen oder das nötige Kapital zum Erwerb der Güter aufbringen. Eigentumswechsel sagen somit eher etwas über den Vermögensverlust der Verkäufer aus, weniger über das Vermögen, das die neuen Eigentümer damit erwirtschaften konnten. Am erfolgreichsten waren Großgrundbesitzer oder Großpächter, die ihre landwirtschaftliche Produktion industriell ausgerichtet hatten. Da dafür spezielle Kenntnisse und langjährige Erfahrungen nötig waren, finden sich unter den Erwerbern in der Zwischenkriegszeit nur verhältnismäßig wenige Repräsentanten des neuen Reichtums, dagegen einige schon vor 1914 vermögende Großpächter wie der Zuckerfabrikant Siegfried Strakosch (er erwarb für seine Zuckerfabrik in Hohenau das Gut Blaustauden aus dem Besitz des Malteser Ritterordens), der Spiritusproduzent Oskar Willheim (er kaufte 1921 die Güter der ehemals fürstlichen Familie Solms-Braunfels, 1925 Güter der Familie Lamberg) und die Brüder Arthur, Wilhelm und Gustav Löw (sie erwarben in mehreren Etappen Güter der Familie Kinsky), die ihre agrarindustriellen Unternehmen schon vor dem Ersten Weltkrieg aufgebaut hatten, allerdings auch Industrielle aus anderen Wirtschaftssektoren, die offenbar ihr erworbenes Vermögen sicher anlegen und gleichzeitig durch die erworbenen Landgüter ihren Reichtum demonstrieren wollten.36 Reichtum konnte zwar in Grund angelegt wer-

36

Artur Stern (übernahm 1918 Güter des Grafen Strachwitz), David Hartenstein (kaufte 1917 den Besitz von Vinzenz Richter) und Arnold Segal (erwarb 1926 Güter der Familie Riedl von Riedenau) waren Ölindustrielle, Alfred Porada-Rapaport (erwarb 1919 Besitzungen der ehemaligen Baronin Gabriele Widmann) war u. a. an ungarischen Kohlenbergwerken beteiligt, Marcel Herczeg (übernahm 1927 Besitzungen von Hans Pym) war Generaldirektor der Semperit-Werke, Ludwig Urban (kaufte Besitz der Familie Doblhoff ) Großaktionär und Generaldirektor der Schrauben- und Schmiedewarenfabrik AG Brevillier & Comp. und A. Urban & Söhne. Maximilian Mautner (erwarb Grundbesitz der ehemals fürstlichen Familie Sulkowski) war ein Bankier, Mitinhaber des väterlichen Privatbankhauses. Diese Angaben basieren auf folgenden Werken und land- und forstwirtschaftlichen Jahrbüchern: Günther Michael Doujak: Die Entwicklung des landtäflichen Grossgrundbesitzes in Niederösterreich seit 1908. Diss.

182

Alter, neuer und verlorener Reichtum

den, eine Quelle großen Reichtums war er gewiss nicht mehr, bzw. nur für einige wenige spezialisierte Agrarindustrielle. Der Vergleich der Einkommen von 1912 mit jenen von 1925 zeigte einen starken Bedeutungsanstieg der Dienstbezüge: Schon 1912 hatten diese mit 39 Prozent den absolut größten Anteil am gesamten Bruttoeinkommen gehabt, doch bis 1925 hatte sich dieser Anteil auf über 63 Prozent gesteigert, auch die absolute Summe hatte sich mehr als verdoppelt von ca. 1,7 auf 3,5 Milliarden Schilling (vgl. Tab. 837). Dieser Strukturwandel im Gefüge der Einkommen sagte selbstverständlich nichts aus über die Gehälter und Bezüge der einzelnen Beamten und Angestellten, allerdings stellt sich die Frage, wie groß unter den gewandelten Bedingungen der Anteil der nichtselbstständigen Einkommen an den höchsten Einkommen war, also unter den Beamten und Privatangestellten. Für die Beamten bzw. den öffentlichen Dienst lässt sich die Frage beantworten: Unter jenen 8.377 Personen, die 1931 mehr als 22.000 Schilling Einkommen deklarierten (vgl. Tab. 1), befanden sich nur 66 Beamte (weniger als 0,8 Prozent). Der Anteil der öffentlich Bediensteten an den Spitzenverdienern war somit einerseits sehr klein, andererseits lagen die höchsten Bezüge auch nicht weit über 22.000 S: Die 66 höchstverdienenden Beamten hatten einen durchschnittlichen Jahresbezug von ca. 24.700 Schilling. Nur 384 Beamte verdienten im selben Jahr (1931) über 20.000 Schilling jährlich, darunter waren ca. 75 Prozent Universitätsprofessoren, der Rest verteilte sich auf Sektionschefs, sonstige Spitzenbeamte, Leiter nachgeordneter Dienststellen und Direktoren der staatlichen Betriebe. Bezüge, die jemand als Professor hatte, stellten jedoch oft nicht die einzigen Einkünfte dar. Obwohl die Einkommensteuer das Gesamteinkommen zu erfassen trachtete, gab es Unschärfen, denn nicht alles wurde durch die Finanzämter und die statistischen Erhebungen erfasst: Universitätsprofessoren der Medizin hatten meist noch eine Privatpraxis oder waren in Privatsanatorien tätig und verfügten damit über Zusatzeinkünfte, die zumeist nur teilweise versteuert wurden und schwer oder überhaupt nicht einzuschätzen sind – durchaus noch heute übliche Praktiken.

37

Wien 1981; Jahrbuch und Adressbuch der Land- und Forstwirtschaft, Ergänzungsband 1930/31. Wien 1930; Compass. Finanzielles Jahrbuch 1925. Personenverzeichnis (Verwaltungsräte u. Direktoren). Wien 1925; vgl. dazu: Peter Melichar: >200 Hektar. Großgrundbesitz in Niederösterreich in der ersten Jahrhunderthälfte. In: Peter Melichar u. a. (Hg.): Wirtschaft. Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Band 2. Wien-Köln-Weimar 2008, S. 575-632. Hertz: Kapitalbedarf, (wie Anm. 3), S. 78.

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Peter Melichar

Tab. 9: Die Bezüge der Beamten und pensionierten Staatsbeamten 193138 Jahresbezug in S unter 2040 2040-2400 2400-3000 3000-4000 4000-5000 5000-6000 6000-7000 7000-8000 8000-9000 9000-10000 10000-11000 11000-12000 12000-13000 13000-14000 14000-15000 15000-16000 16000-17000 17000-18000 18000-20000 20000-22000 über 22000 Zusammen

Zahl d. Personen Personen in % 76.002 28.309 22.978 37.831 24.572 13.477 7.342 2.872 2.291 1.049 886 717 433 231 113 60 36 48 27 318 66 219.660

34,6 12,9 10,46 17,2 11,2 6,1 3,34 1,3 1,04 0,47 0,4 0,32 0,19 0,10 0,05 0,027 0,0016 0,0021 0,0012 0,14 0,003 100,000

Kosten in Mill. Prozentanteil a. Schilling d. Kosten 110,32 62,99 62,93 137,40 110,66 74,70 48,00 21,30 19,83 9,62 9,40 7,99 5,25 3,06 1,63 0,92 0,58 0,84 0,50 6,68 1,63 696,27

15,80 9,00 9,00 19,70 15,80 10,70 6,90 3,06 2,85 1,38 1,35 1,14 0,75 0,44 0,23 0,13 0,08 0,12 0,07 0,96 0,23 100,00

Die Gruppe der Angestellten in der Privatwirtschaft, die mehr verdienten, war größer und die Einkommen in den Spitzenpositionen waren wesentlich höher; das zeigt ein Vergleich der Privatangestellten mit den öffentlich Bediensteten des Jahres 1928. In diesem Jahr hatten 1.900 Privatangestellte, dagegen jedoch nur 105 öffentlich Bedienstete ein Einkommen von mehr als 22.000 Schilling (vgl. Tab. 10); warum sich die Zahl der Beamten mit den höchsten Bezügen bis 1931 auf 66 reduzierte, ist unklar (Pensionierungen und Todesfälle in diesem Ausmaß scheinen nicht plausibel). Während die Bezüge in den höchsten Diensträngen der Beam38

Vgl. Maria L. Klausberger: Bureaukratie und Demokratie. In: Der österreichische Volkswirt, Bd. 24 (1931/32), S. 168.

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Alter, neuer und verlorener Reichtum

Tab. 10: Dienstbezüge der Privatangestellten und Beamten 1928 in Schilling39 Einkommen

Privatangestellte Anzahl Bezüge in S

unter 1.400 1.400-1.500 1.500-1.600 1.600-1.800 1.800-2.000 2.000-2.200 2.200-2.400 2.400-2.700 2.700-3.000 3.000-3.400 3.400-3.900 3.900-4.800 4.800-5.300 5.300-6.000 6.000-7.200 7.200-8.400 8.400-10.200 10.200-14.400 14.400-18.000 18.000-22.000 22.000-24.000 24.000-27.000 27.000-30.000 30.000-33.000 33.000-36.000 36.000-42.000 42.000-48.000 48.000-54.000 54.000-60.000 60.000-90.000 90.000-120.000 120.000-150.000 150.000-180.000 180.000-210.000 210.000-240.000 240.000-360.000 360.000-500.000 500.000-1,000.000 1.400-1,000.000 Gesamt

139.223 38.614 37.428 74.784 69.951 66.562 59.714 75.839 66.042 70.251 47.930 39.865 12.915 11.479 11.673 6.846 5.472 4.405 2.245 1.312 386 438 372 233 157 216 136 79 65 116 42 13 15 7 3 6 1 1 705.613 844.836

39

k.A. 55,990.300 58,013.400 127,132.800 132,906.900 139,780.200 137,342.200 193,389.450 188,219.700 224,803.200 174,944.500 173,412.750 65,220.750 64,856.350 77,041.800 53,398.800 50,889.600 51,323.100 36,369.000 26.047.200 8,878.000 11,169.000 10,602.000 7,339.500 5,416.500 8,424.000 6,120.000 4,029.000 3,705.000 8,700.000 4,410.000 1,755.000 2,475.000 1,365.000 675.000 1,800.000 430.000 750.000 2,119.125.000 k.A.

Öffentliche Angestellte Anzahl Bezüge in S 21.816 7.344 7.736 27.125 35.807 28.232 23.888 30.770 29.824 32.698 35.176 35.726 12.544 10.531 8.438 3.896 1.926 1.283 373 194 29 23 13 12 7 5 1 3 3 7 1 1 0 0 0 0 0 0 333.616 355.432

k.A. 10,648.800 11,990.800 46,112.500 68,033.300 59,287.200 54,942.400 78,463.500 84,998.400 104,633.600 128,392.400 155,408.100 63,347.200 59,500.150 55,690.800 30,388.800 17,911.800 14,697.300 6,042.600 3,716.400 667.000 586.500 370.500 378.000 241.500 195.000 45.000 153.000 171.000 525.000 105.000 135.000 0 0 0 0 0 0 1,057.778.550 k.A.

Bundesministerium für Finanzen, Ministerialbibliothek: Konvolut Steuerstatistik 1918– 1938, Sign. 790, Mappe Steuerbelastung.

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Peter Melichar

tenschaft oder der staatlichen Betriebe 135.000 Schilling Jahreseinkommen nicht überschritten, hatten 33 Privatangestellte ein Jahreseinkommen von mehr als 150.000 Schilling. Es waren dies durchwegs die leitenden Direktoren der Großbanken oder Generaldirektoren großer Industrieaktiengesellschaften, die sich ihre Einkommensbezüge gegenseitig genehmigen konnten. Das Durchschnittseinkommen aller Jahreseinkommensbezieher über 1.400 Schilling war allerdings in der Privatwirtschaft – ungeachtet der größeren Zahl an Großverdienern – mit ca. 3.003 Schilling etwas niedriger als im öffentlichen Dienst mit 3.171 Schilling. (Tab. 10) Zum Vergleich: Ein amtsführender Stadtrat der Gemeinde Wien verdiente 1928 monatlich 2.280, hatte also einen Jahresbezug von 27.360 Schilling. Bürgermeister Karl Seitz hatte einen Monatsbezug von 2.900, jährlich somit 34.800 Schilling.40 Über das Geschlechterverhältnis gibt die Einkommensteuerstatistik des Finanzministeriums leider keine Auskunft. Die von der ArbeiterTab. 11: Gehalts- und Geschlechterverhältnisse der Angestellten 193341 Gehaltsklassen Per Monat Per Jahr unter 80 80-200 200-300 300-400 Über 400 Gesamt

40

41

unter 960 960-2.400 2.400-3.600 3.600-4.800 über 4.800

Zahl der Gehaltsbezieher/-innen Männer Frauen Gesamt abs. % abs. % abs. % 2.183 13.242 14.258 11.080 21.777 62.540

3 21 23 18 35 100

1.353 12.875 9.578 3.226 2.058 29.090

5 44 33 11 7 100

3.536 26.117 23.836 14.306 23.835 91.630

4 29 26 16 26 100

Robert Danneberg: Die Bezüge der Angestellten und Mandatare der Stadt Wien. Die Lügen und Verleumdungen der christlichen Gewerkschaft am Pranger. Wien 1928, S. 17 f. und 20. Nach den Ausführungen Dannebergs waren die Bezüge eines amtsführenden Stadtrates denen eines Staatssekretärs gleichgestellt und etwas geringer als Ministerbezüge. Zudem wurden Nebenbezüge, etwa jene des Stadtrates Julius Tandler, der als Universitätsprofessor 1.550 Schilling monatlich (18.600 jährlich) bezog, eingerechnet. Tandler erhielt also von der Gemeinde Wien lediglich die Differenz von monatlich 730 Schilling (8.760 jährlich). Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien (Hg.): Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 1933/35. Wien 1935, S. 434-435, Tab. 332 a. Die Angaben entstammen den sechs

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Alter, neuer und verlorener Reichtum

kammer publizierten Gehaltsstatistiken der Angestellten fassen zwar alle Jahreseinkommen über 4.800 Schilling zusammen und beschränken sich außerdem auf die Angaben von sechs Versicherungskassen, doch sie differenziert nach Geschlechtern: Etwa ein Drittel der erfassten Angestelltengehälter entfiel auf Frauen. Von allen Gehältern zusammen lagen 26 Prozent über 4.800 Schilling im Jahr, doch während 35 Prozent der männlichen Angestellten diese Grenze überschritten, verdienten nur sieben Prozent der weiblichen Angestellten mehr. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass 1928 von den etwa 9.000 Personen mit einem Jahreseinkommen von über 22.000 Schilling nur ca. 1,1 Prozent auf Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes entfielen, ca. 21 Prozent auf Privatangestellte, die restlichen 77,9 Prozent auf selbstständige Einkommen, also auf Unternehmer und Angehörige der Freien Berufe (Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Architekten).

Verlorener Reichtum Mannigfach waren (und sind) die Wege, erworbenen oder ererbten Reichtum zu verlieren. Meist genügt es, schlecht zu wirtschaften, in erfolglose Geschäfte zu investieren, Gewinnmöglichkeiten falsch zu kalkulieren. Zwischen 1914 und 1938 gab es noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten: Sehr häufig legten vermögende Personen, aber auch Besitzer kleinerer Sparguthaben ihr Geld falsch an, im Ersten Weltkrieg vor allem in Kriegsanleihen, die aufgrund des Kriegsausganges völlig entwertet wurden. Die Inflation führte zusätzlich zu einer Verkehrung der Verhältnisse: Wer Schulden hatte, wurde entschuldet, wer sein Vermögen in der österreichischen Kronenwährung angelegt hatte, konnte zusehen, wie es zerschmolz. Dazu kam die große Schmälerung der Renteneinkommen aus Hausbesitz, diverse steuerliche Belastungen. Vor all dem konnten sich die kleineren und mittleren Unternehmer, darauf hat Friedrich Hertz hingewiesen, schlechter schützen als Bankiers, Großindustrielle und Großkaufleute. Die statistischen Erhebungen zeigen zwar eine Verminderung der Einkommen und eine Abnahme der Zahlen jener Vermögen, die von der Vermögenssteuerstatistik erfasst wurden. Sie sagen jedoch nichts aus über das Maß der Schmälerung, geben keine Auskunft über die Folgen der

Versicherungskassen (1. Industrieangestellte, 2. Gehilfenausschuss des Gremiums der Wiener Kaufmannschaft, 3. Angestellte Niederösterreichs und Burgenlands, 4. Bankund Sparkassenangestellte in Wien, 5. Presse, 6. Angestellte in der Land- und Forstwirtschaft).

187

188

42

109 55 19 44 36 84 46 49 9 451

1.113 740 237 237 75 533 134 126 21 3.216

A

141 101 42 46 43 72 39 47 16 547

1926 K 1.099 484 294 245 83 243 89 139 60 2.736

A 22 116 53 66 58 71 75 70 10 541

1927 K 337 352 315 235 68 388 153 149 28 2.025

A A

138 778 126 258 74 294 72 233 45 72 82 359 90 128 78 110 32 36 737 2.268

1928 K 108 170 61 78 29 57 63 67 23 656

1929 K 1930 K A

626 116 783 277 140 396 223 66 300 182 57 152 113 60 112 297 71 401 104 54 142 138 76 161 37 21 63 1.997 1.626 2.510

A 98 107 60 73 66 111 96 109 23 743

1931 K 1.037 479 372 237 142 570 207 245 41 3.330

A

111 144 77 96 85 106 162 145 23 949

1932 K

1.497 543 537 420 209 778 329 350 85 4.748

A

Bundesamt f. Statistik (Hg.): Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, Jg. VII-XIV. Wien 1926–1933. LG = Landesgericht; HG = Handelsgericht.

Wien, LG Wien, HG Nö. Oö. Sbg. Stm. Kärnten Tirol Vbg. Gesamt

1925 K

Tab. 12: Konkurse (K) und Ausgleiche (A) 1925–193242

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Alter, neuer und verlorener Reichtum

Vermögensvernichtung. Die Statistik der Konkurse und Ausgleiche sagt nichts aus über einstige Größe und regionale Bedeutsamkeit der Unternehmungen. Bemerkenswerterweise gibt es auch nur sehr wenige Forschungsarbeiten zum Thema Bankrott, Pleite und Konkurs.43 Es existieren keine Untersuchungen über die Vernichtung oder Verminderung großer Vermögen, mit Ausnahme einer kurzen, aber sehr prägnanten Studie Oskar Morgensterns, die belegt, dass viele der an der Wiener Börse gehandelten Aktiengesellschaften kaum oder nur sehr geringe Dividenden abwarfen und das hier investierte Vermögen zwischen 1913 und 1930 zu über 80 Prozent verloren gegangen war.44 Dabei mangelt es an einzelnen Beispielen nicht: Wie schon erwähnt, verloren beinahe alle der legendären Neureichen, die ihr Vermögen während des Weltkrieges und in der Inflationsperiode erworben hatten, ihr Vermögen binnen weniger Jahre: Doch einige der Spekulanten konnten sich entweder weiterhin im Ausland ihres Vermögens erfreuen wie Camillo Castiglioni, der sich zunächst nach Deutschland zurückzog und erst 1929 sein Aktienpaket der Bayrischen Motorenwerke (BMW) im Wert von ca. 5 Millionen Reichsmark veräußerte45 und dann nach Italien ging, oder aufgrund allzu großer behördlicher Nachsichtigkeit in Österreich seinen restlichen Reichtum genießen wie Sigmund Bosel, der weiterhin zwei Automobile besaß und in seiner Villa im 13. Bezirk residierte.46 Doch auch einigen Familien, deren Reichtum älter war, erging es so: Das Imperium der Textilindustriellen Isidor und Stephan Mautner – das etwa 15 Jahre zuvor noch 42 Fabriken mit 23.000 Beschäftigten umfasst hatte – brach 1930 zusammen, die Bankfirma der Familie Miller-Aichholz ging 1927 schwer überschuldet in Konkurs47, ihre Eigentümer mussten sich aus dem Industrie- und Bankgeschäft weitgehend zurückziehen, die Bankfirma der angesehenen Familien Lieben und Auspitz erlitten 1931 einen

43

44 45 46

47

Eine neuere Ausnahme: Peter Eigner/Erich Landsteiner/Peter Melichar (Hg.): Bankrott. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften – ÖZG 3 (2008) mit einem Beitrag über den Zusammenbruch der Boden-Credit-Anstalt 1929. Morgenstern: Kapital- und Kurswertänderungen (wie Anm. 3), 253. Frankfurter Zeitung, 30. Oktober 1929, Zweites Morgenblatt, S. 3. Sigmund Bosel besaß 1927 einen Daimler 7/60 und einen Fiat T 30. Vgl. Die Wiener Auto-Nummern. Ein Verzeichnis sämtlicher Wiener Automobile und Motorräder mit den Erkennungszeichen, Namen und Wohnung der Besitzer sowie der Wagenmarke. Wien 1927, S. 67 und 114. Zum Fall Mautner gibt es keine Forschungen, vgl. jedoch zur Pottendorfer Textilfabrik Karin Bachner: Geschichte der Pottendorfer Kammgarnspinnerei, Dipl.-Arbeit Wien 1988; zu Miller-Aichholz vgl. Kühschelm: Miller-Aichholz (wie Anm. 5), S. 129.

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Bankrott48 und selbst die unbestreitbar reichste Familie Österreichs, die Rothschilds, erlitten im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Credit-Anstalt im Jahr 1931 gigantische Verluste. Der ehemalige Finanzminister Josef Kollmann bemerkte 1932, „Rothschild, der Esel“, habe mit der Credit-Anstalt dem Bundeskanzler Schober zuliebe die Boden-CreditAnstalt übernommen, „dadurch sein Vermögen in schwere Havarie gebracht“ und „sein ganzes Aktienkapital verloren…“49 Allerdings blieben die Brüder Alfons, Eugen und Louis Rothschild noch immer die vermögendsten Personen Österreichs, obwohl sie zudem auch noch die 13.700 Hektar umfassenden Güter Groß-Hollenstein und Gaming dem Staat „als freiwillige Beitragsleistung“ zu jenen Kosten, die durch die Sanierung der CreditAnstalt aus öffentlichen Mitteln entstanden waren, übertragen hatten.50 Der Erwerb von Grundeigentum hatte stets als Absicherung gegolten, vor allem in Zeiten der Inflation. Doch gerade der Großgrundbesitz war mit seinem Investitionsbedarf enorm von der Ertragslage abhängig; sinkende Holz- und Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt ließen auch den Großgrundbesitz zum Problem werden. Der Textilindustrielle Hermann Broch stellte 1930 fest: „Es gibt überhaupt keine sichere Vermögensanlage mehr. Bis vor kurzem glaubte man, dass Grund und Boden unan-

48

49

50

Peter Melichar: Bankiers in der Krise. Der österreichische Privatbankensektor 1918– 1938. In: Geld und Kapital. Jahrbuch der Gesellschaft für mitteleuropäische Bankenund Sparkassengeschichte 2003, Bd. 7. Stuttgart 2005, S. 135-191, hier S. 175 f. Walter Goldinger (Hg.): Protokolle des Klubvorstandes der Christlich-sozialen Partei 1932–1934. Wien 1980, S. 40 (29.11.1932). Roman Sandgrubers Behauptung, das Rothschild’sche Vermögen sei vor dem Anschluss 1938 nur noch „ein Abglanz seiner selbst“ gewesen, mag zwar im Vergleich zur Situation von 1913 stimmen, basiert jedoch auf den mangelhaften Angaben einer provisorischen Liste der NS-Vermögensverkehrsstelle mit den „reichsten Juden“ (eine Behörde, die zwecks Erfassung jüdischen Vermögens und zur Organisation der Arisierungen gegründet worden war), die nur einen – geringen – Teil des Vermögens von Alfons Rothschild berücksichtigt, das von Louis und Eugen Rothschild jedoch überhaupt nicht. Mit einem nur auf 2,2 Millionen Reichsmark geschätzten Vermögen liegen die Rothschilds hier an der 25. Stelle. Doch allein das Vermögen von Louis Rothschild – dem Chef des Wiener Bankhauses Rothschild – wurde für den März 1938 auf über 15 Millionen geschätzt und war damit gewiss noch weit unterbewertet. Bei einer korrekten Bewertung wäre den Rothschilds – zumindest aber Louis Rothschild, dem Bankier des Hauses, jedenfalls der erste Rang sicher gewesen. Vgl. Sandgruber: Geld (wie Anm. 4), S. 73. Zu Rothschild vgl. Peter Melichar: Neuordnung im Bankwesen. Die NS-Maßnahmen und die Problematik der Restitution (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 11). Wien-München 2004, S. 391-408, hier 396; Melichar: >200 Hektar. Großgrundbesitz in Niederösterreich (wie Anm. 36), S. 622; Melichar: Bankiers in der Krise (wie Anm. 48), S. 178-182.

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greifbar wären: innerhalb dreier Monate sind die Bodenpreise in Mitteleuropa auf ein Drittel gefallen. Die Hälfte des aristokratischen Großgrundbesitzes ist in der letzten Zeit verarmt, eigentlich an den Bettelstab gebracht. Dabei wissen sie es zum großen Teil selber nicht, denn sie haben ja noch Verpachtungsverträge etc. und werden erst in ein paar Jahren erkennen, dass sie längst Bettler geworden sind.“51 Schon 1922 hatte der Ökonom Ludwig Mises darauf hingewiesen, dass sich auch der Grundbesitz den Mechanismen der Finanz- und Kapitalmärkte auf Dauer nicht entziehen kann: „Dem Grundherren der Vergangenheit konnte niemand etwas anhaben. Wenn er schlechter produzierte, dann hatte er weniger zu verzehren; doch solange er sich nicht verschuldete, blieb er in seinem Besitz. Der Kapitalist, der sein Kapital ausleiht, und der Unternehmer, der selbst produziert, müssen auf dem Markte die Probe bestehen. Wer seine Kapitalien ungünstig plaziert, wer zu teuer produziert, geht zugrunde. Beschauliche Ruheposten gibt es hier nicht. Auch im Grundbesitz angelegte Vermögen können heute, abgesehen von jenen Ländern, in denen dem Grundbesitz eine bevorzugte Stellung eingeräumt ist, nicht mehr den Einwirkungen des Marktes entzogen werden; auch die Landwirtschaft produziert heute kapitalistisch. Heute heißt es erwerben oder arm werden.“52 Mehrere Großgrundbesitzer mussten unter Zwang ihren gesamten Besitz oder zumindest größere Teile davon verkaufen: Georg Wimpffens Besitzungen reduzierten sich aufgrund von Überschuldung und nachfolgendem Konkursverfahren von 3.600 auf 430 Hektar. Friedrich SchönburgWaldenburg musste das Gut Dobra (mit Wetzlas und Tiefenbach), Melanie Redl Baumgarten das Gut Baumgarten durch die Pressburger Erste Sparkasse versteigern lassen. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.53

Resümee und offene Fragen Die bisher publizierten Forschungsarbeiten und statistischen Erhebungen lassen erkennen, dass sich die großen Vermögen insgesamt sowohl nach Anzahl als auch in ihrem Ausmaß durch Krieg und Inflation verringert hatten und geschrumpft waren. Zwar hatten es einige wenige Unternehmer geschafft, den Weltkrieg und die nachfolgende Inflationsperiode zum Aufbau großer Geschäftsimperien zu nützen, doch kaum eines die-

51

52 53

Hermann Broch an H. F. Broch de Rothermann, 13. Dezember 1930. In: Hermann Broch: Briefe, 1. Bd. [= Kommentierte Werkausgabe Bd. 13/1]. Frankfurt am Main 1981, S. 117. Mises: Gemeinwirtschaft (wie Anm. 2), S. 430. Melichar: >200 Hektar. Großgrundbesitz in Niederösterreich (wie Anm. 36), S. 626 f.

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ser Imperien überstand die Wende um 1924/1925. Auch danach folgten in der Weltwirtschaftskrise noch spektakuläre Zusammenbrüche alteingesessener Familienunternehmungen. Allerdings fehlen einerseits zu den sogenannten Neureichen, andererseits aber auch zum alten Reichtum größere empirische Erhebungen und entsprechende Auswertungen, um hier ein klareres Bild und Erklärungen zu den Ursachen zu gewinnen. Selbst die schwierige Zwischenkriegszeit wurde von gar nicht wenigen Unternehmern für Gründungen neuer oder zur Konsolidierung älterer Industrie- oder Handelsunternehmungen genützt. Abschließend stellt sich die Frage nach wichtigen Problemstellungen, die im Zusammenhang entwickelt und forschungspraktisch umgesetzt werden sollten. Vier – miteinander zu verknüpfende – Schwerpunkte scheinen hier besonders interessant: Erstens die Frage nach der Vermögensverteilung unter Berücksichtigung der verschiedenen Formen materieller Güter; zweitens die nach der Beziehung zwischen Reichtum und wirtschaftlicher und politischer Macht; drittens die nach dem Verhältnis von Reichtum und Geschlecht; und viertens die Frage nach den diversen Praktiken der Reichen, etwa bezüglich der Konflikte, die sie auf verschiedenen Ebenen auszutragen hatten (in der Familie, in ihren Unternehmungen, in der Politik etc.), aber auch hinsichtlich der sozialen Repräsentation, ihrer Lebensstile und nicht zuletzt der Art und Weise, wie sie soziale Verantwortung, karitatives Engagement oder Mäzenatentum wahrnahmen oder auch nicht.

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Gudula Walterskirchen

Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert Einleitung „Besitz“ hat für den Adel eine besondere Bedeutung, ja er ist für ihn Identität stiftend. Adelsfamilien leitetenÜR ihren Namen von ihrem Stammsitz ab, dies vor allem im Hochmittelalter. Damit ist bereits angedeutet, dass „Besitz“ im adeligen Sinn nicht äquivalent mit „Reichtum“ im heutigen Sinne ist. Vielmehr wirkt hier immer noch das vorindustrielle Denken nach, als sich Reichtum vor allem in Landbesitz ausdrückte. Ludwig Aladár Windisch-Graetz drückt aus, was wohl für den Adel in jedem Land gilt: „Der ungarische Aristokrat hing sehr an seinem Besitz, dessen jeder einzelne Acker für ihn Heimat war. Er hing aber nicht am Geld und gab dasselbe leicht aus.“1 Wenn ich hier, entgegen der ursprünglichen Vorgabe, von Reichtum und Armut im österreichischen Adel spreche, so gilt diese Bandbreite für das 20. Jahrhundert in besonderer Weise. Es existierten zwar immer schon sehr reiche und verarmte bzw. arme Adelsfamilien nebeneinander. Keine Zeitspanne zuvor brachte für den Adel ein stärkeres Auf und vor allem Ab. Für das 18. Jahrhundert galt noch: „Der Adel war die tonangebende Schicht mit den höchsten Einkommen.“2 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlor er zwar viele politische und wirtschaftliche Privilegien, etwa durch die Grundentlastung, finanzielle Verluste gingen damit aber nicht einher. Eher im Gegenteil. Umso dramatischer war dann der soziale und finanzielle Absturz vieler Familien im Lauf des 20. Jahrhunderts. Der Adel zeichnete im Ersten Weltkrieg Kriegsanleihen im großen Stil und verlor dadurch Unsummen. Durch Bodenreformen etwa in der Tschechoslowakei gingen die riesigen adeligen Besit-

Gudula Walterskirchen, Dr., Historikerin, Buchautorin und freie Publizistin. Ihre Fachgebiete sind vor allem die Geschichte des Adels und die österreichische Zeitgeschichte. 1

2

Aladár Windisch-Graetz: Österreich-Ungarn. Das Reich von Gestern – Das Reich von Morgen. Wien 1965, S. 23. Ebenda: S. 36.

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zungen in Böhmen und Mähren verloren, aber auch in Ungarn. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch noch die kleineren Besitzungen enteignet. Viele ehemals sehr reiche Adelsfamilien wurden so mit einem Schlag mittellos und flohen nach Österreich, wo sie vorerst bei Verwandten unterkamen. Während des Nationalsozialismus wurden auch viele adelige Regimegegner enteignet, wie etwa die Familie Hohenberg oder Fürst Ernst Rüdiger Starhemberg, der nach Kriegsende jahrelang um die Rückgabe seiner ausgedehnten Güter und zahlreichen Schlösser prozessierte. Auch wenn etliche Familien ihre Besitzungen nach 1989 wieder zurückerhielten, so sind diese heute oft eher ein Sanierungsfall. Der Verlust dieser Güter schmerzte doppelt: Einerseits durch den finanziellen Absturz, andererseits weil damit ein wichtiges Stück Familienidentität verloren ging. Für andere bedeutet die Rückgabe ihrer Güter ein Anknüpfen an jene privilegierte Stellung, die man über Jahrhunderte gewohnt war einzunehmen, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht. Durch diese Wechselfälle der Geschichte des 20. Jahrhunderts tat sich im Adel eine enorme Schere auf zwischen jenen, die ihren Besitz erhalten und sogar mehren konnten, und jenen, die alles verloren hatten.

Situation bis 1918 Der Grundbesitz, das Gut, bildete über Jahrhunderte die finanzielle Grundlage adeligen Lebensstils: Man besaß ein Palais in der Stadt, ein Landschloss für den Sommer, huldigte neuen Modeströmungen und der Jagd, gab Bälle und Gesellschaften, reiste, hielt sich eine Schar Diener – kurz, man lebte „standesgemäß“. Der Großteil des österreichischen Adels, besonders der Hochadel, konnte sich einen großzügigen Lebensstil leisten. Doch schon in dieser für den Adel wirtschaftlich und sozial günstigen Phase muss man im Hinblick auf die Vermögensverhältnisse stark differenzieren. Dies ist nicht nur in Bezug auf wohlhabendere und weniger wohlhabende Familien notwendig, sondern auch innerhalb der Familien bestanden gewaltige Unterschiede. So etwa war entscheidend, welchem Zweig einer Adelsfamilie man angehörte. Und weiters war entscheidend, welche Position man in der Geschwisterfolge einnahm. Das gesamte Vermögen – beweglichen und unbeweglichen Besitz – erbte nämlich immer der Erstgeborene, wenn kein männlicher Erbe vorhanden war, dann die erstgeborene Tochter. Die übrigen Geschwister ergriffen einen geistlichen oder militärischen Beruf, heirateten womöglich vermögend oder blieben ledig. Die meisten konnten ohne die finanzielle Unterstützung des Familienoberhauptes kaum überleben. Arm und reich existierten innerhalb einer Familie also nebeneinander. 194

Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Adel zwar schon der meisten seiner politischen und wirtschaftlichen Vorrechte beraubt. Dennoch besaß er noch viele Privilegien, wenn auch meist de facto und nicht mehr de jure, und stand unbestritten an der Spitze der sozialen Hierarchie. In vielen Fällen war er noch sehr vermögend, etwa durch die teilweise sagenhaften Ablösen durch die Grundentlastung. So wurden allein in der österreichischen Reichshälfte insgesamt 290 Millionen Gulden ausgezahlt, von denen 226 den Dominien zufielen.3 Manche hochadelige Familien, vor allem mit ausgedehntem Grundbesitz in Böhmen, erhielten riesige Summen: Schwarzenberg 1,870.000 Gulden Liechtenstein, Franz 1,110.000 Gulden Attems 860.000 Gulden Liechtenstein, Alois 409.000 Gulden Dieses Geld investierten sie in Landkäufe und in den Ausbau der Infrastruktur, also die Eisenbahn. Der Besitz, den der Adel verwaltete, diente nie einzig der Vermehrung des Privatvermögens, sondern es war damit immer eine Reihe von Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung und dem Souverän verbunden. So schreibt Ludwig Aladár Windisch-Graetz, dessen Familie eine Reihe von Feldherren und Offizieren hervorgebracht hat, in den 1960er Jahren rückblickend: „Es wird heute oft vergessen, dass das so beträchtliche Vermögen des hohen Adels durch Jahrhunderte im Dienste des Staates ausgegeben wurde.“4 Diese Tatsache ist immer zu berücksichtigen, wenn man vom Reichtum des Adels während der Monarchie spricht. Als nach 1848 aus den adeligen Grundherren „Grundbesitzer“ wurden, fielen mit den Herrschaftsrechten auch viele finanzielle Verpflichtungen weg. Es war an sich logisch und keinesfalls zufällig, wenn sich der Adel bereits im 19. Jahrhundert am Banken- und Versicherungswesen beteiligte, zählte er doch zur Seite der Vermögensbesitzer, deren Interessen er immer schon vertrat. Allerdings blieb der Grundbesitz die Basis des adeligen Unternehmers. Eine Analyse des „Compass“ von 1915 zeigt, dass sich der Adel zu diesem Stichjahr sehr intensiv der Landwirtschaft widmet. In diesem Zusammenhang dominierten die industriell organisierte landwirtschaftliche Produktion und die Fertigung von Endprodukten wie Fleischwaren, Flachs, Papier und Bier. Da ebenfalls von eigenem Grund und Boden abhängig, ist auch der Bereich der Rohstoffe mit integriert, so etwa der Kohleabbau, Holz, Kali und Soda. 3 4

Vgl. Ferdinand Tremel: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs. Wien 1969. Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Wien 1995, S. 215.

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Wenn man die Art der Betriebe betrachtet, in denen Aristokraten in diesem Zeitraum führend tätig waren, so blieben sie doch im Großen und Ganzen auf die Verwertung ihres (ererbten) Eigentums beschränkt, sei dies im Betreiben von Hotels und Kuranstalten, in der Holzverarbeitung, der Errichtung von Eisenbahnen in ihrem Einzugsgebiet oder der Investition von eigenem Kapital im Bank- und Kreditwesen. Aufgrund der Fideikommisse, die auf die geschlossene Erhaltung von Grundbesitz ausgerichtet waren, und der Skepsis, die große Teile des Adels Finanzspekulationen entgegenbrachten, konzentrierte man sich also auf die Verarbeitung dessen, was man auf den Gütern erntete oder an Bodenschätzen abbaute. Im Stichjahr 1915 war die allgemeine wirtschaftliche Lage auf dem Gebiet des heutigen Österreich günstig für den Bereich der Grundstoffindustrie, besonders für Kohle, Eisenerz, Kali und Soda, deren Weiterverarbeitung große Gewinne brachte. In Österreich baute man Maschinen, Automobile und Eisenbahnen für die gesamte Monarchie – der Verkehr wurde zu einem der wichtigsten und schnell wachsendsten Sektoren in dieser Zeit.5 Stark vertreten war der Hochadel auch in den Vorständen der Puch Fahrradfabrik und der FIAT AG (Austro-Fiat) in Wien, die spätere Österreichische Automobilfabriks AG. Der Adel hatte großes Interesse, seine landwirtschaftlichen Produkte, wie Weizen und Zuckerrüben, sowie Holz schnell zu transportieren, und man wollte generell von einer neuen und schnell wachsenden und damit Gewinn versprechenden Industrie profitieren. Im Stichjahr dieser Analyse, dem Jahr 1915, war der Erste Weltkrieg in vollem Gang und der Bedarf an Eisen, Kohle und Transportmitteln dementsprechend hoch. Über 50 Prozent des unternehmerisch tätigen Adels betätigten sich zu dieser Zeit in direkt oder indirekt kriegswichtigen Branchen und Unternehmen: Neben den Eisenbahn- und Motorfahrzeugfabriken waren sie auch an der Hirtenberger Munitionsfabrik, der Munitions- und Metallwerke AG Enzesfeld und der Armeewagenfabrik AG beteiligt. Anton Auersperg war Verwaltungsrat der Waffen erzeugenden Skodawerke in Pilsen: Der Adel reagierte rasch auf die durch den Ausbruch des Krieges neue wirtschaftliche Lage und beteiligte sich an für die Kriegswirtschaft wichtigen Unternehmen. Viele Mitglieder alter Adelsfamilien sahen keinen Widerspruch zu ihrer „Standesehre“ darin, vom Krieg finanziell profitieren zu wollen.

5

Vgl. Peter Eigner: Die Konzentration der Entscheidungsmacht. Die personellen Verflechtungen zwischen den Wiener Großbanken und Industriegesellschaften 1895–1940, Habil. Schrift Universität Wien. Wien 1997, S. 308 ff.; Werner Bachinger: Die österreichische Industrie. Wien 1987; Sandgruber: Ökonomie und Politik (wie Anm. 4), S. 281 und S. 320.

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Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

Situation ab 1919: Zusammenbruch und Inflation Die Niederlage im Ersten Weltkrieg veränderte Österreich nicht nur politisch, sondern es brach auch der in Jahrhunderten gewachsene Wirtschaftsraum der Donaumonarchie zusammen. Als verhängnisvoll erwies sich die Spezialisierung der ehemaligen Kronländer auf bestimmte Produktionszweige, und das kleine „Restösterreich“ war plötzlich von wichtigen Gütern abgeschnitten. Durch die neuen Grenzen musste der Adel seine Güter neu strukturieren und die Bewirtschaftung wurde komplizierter. Es gab zu wenig Nahrungsmittel, denn die großen Anbaugebiete lagen außerhalb der neuen Grenzen, in Ungarn. So etwa wurden nur 4 Prozent des Zuckers in Österreich produziert, dafür aber 80 Prozent aller in der gesamten Monarchie abgesetzten Automobile und Lokomotiven. Der Vertrag von St. Germain gebot Österreich die Vernichtung der Munitionsund Flugzeugindustrie. Die während des Krieges besonders im Wiener Neustädter Raum ausgebaute und modernisierte Industrie erwies sich somit als problematisches Erbe.6 Das Geld, das auch der Adel in diesen Sektor investiert hatte, war großteils verloren. Diese vordem kriegswichtigen Industriezweige blieben nicht der einzige Bereich, in dem viele Vermögen verloren wurden. Die Inflation der 1920er Jahre raffte unzählige Vermögen dahin. Besonders betroffen war das im 19. Jahrhundert erfolgreiche Großbürgertum, weniger der Adel, dessen Kernvermögen immer noch in Landbesitz und Immobilien bestand. Die Hyperinflation und der Zusammenbruch der symbolträchtigen Creditanstalt im Jahr 1931, die unter intensiver Beteiligung des Adels gegründet worden war, schreckte viele Adelige von Investitionen in diesem Sektor nachhaltig ab. Ebenso erging es dem Adel bei den Versicherungsgesellschaften, wo man sich spätestens nach dem Zusammenbruch der größten Lebensversicherung „Phönix“ schlagartig aus dieser Branche zurückzog. Gerade der im Jahr 1936 an die Öffentlichkeit gelangende Phönix-Skandal, bei dem große Geldflüsse an diverse politische Parteien und Interessenverbände nachgewiesen wurden, schädigte auch das Ansehen des Adels. Hohe Funktionäre des Ständestaates waren darin verwickelt, wie Starhemberg, Karl Vaugoin, Botho Coreth, Ludwig Reininghaus und Alois Schönburg-Hartenstein.7

6 7

Sandgruber: Ökonomie und Politik (wie Anm. 4), S. 337. Vgl. Charles A. Gulick: Von Habsburg zu Hitler. Wien 1948; Eduard März: Die Krise des Bankensystems und ihr Einfluß auf die Versicherungswirtschaft. In: Wolfgang Rohrbach (Hg.): Das Zeitalter des modernen Versicherungswesens. Wien 1988, S. 33-50.

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So erlitt der Adel durch diese Pleiten neben dem finanziellen Schaden auch einen schweren Imageverlust und die Reputation und Vertrauenswürdigkeit in der Öffentlichkeit waren für lange Zeit beschädigt. Als sehr hilfreich, trotz der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und des Zusammenbruchs der Monarchie den Besitz zu retten, erwies sich das Fideikommiss. Diese Institution konnte sich in die Republik retten und trug dazu bei, dass adeliger Besitz ungeteilt und damit wirtschaftlich lukrativ blieb. Wie hoch der Anteil des fideikommissarisch gebundenen Barvermögens war, lässt sich nicht beziffern. Den Grundbesitz betreffend gibt es aber genaue Zahlen: Auf dem Gebiet des heutigen Österreich gab es Ende des 19. Jahrhunderts 137 Fideikommiss-Besitzungen. Die meisten Fideikommisse sind dem Großgrundbesitz zuzuschreiben, wenn sie auch der Fläche nach fallweise relativ klein waren, aber von der Betriebsstruktur her fallen sie unter diese Kategorie. Übersicht über Größe und Anzahl der Grundbesitzungen in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg (Stichjahr 1900): 8 Land

bis 1 ha

1-5 ha

5-115 ha

115-575 ha

575-2.877 ha

über 2.877 ha

NÖ OÖ Stmk. Ktn. Tirol u. Südtirol

13 – 2 –

2 – 1 –

3 6 4 –

10 8 16 5

26 5 5 3

17 1 2 7





1







Summe

15

3

14

39

39

27

Nicht berücksichtigt wurden bei dieser Aufstellung das Burgenland und Fideikommisse unter 5 ha Fläche, ebenso Salzburg, wo das FideikommissInstitut bereits 1808 abgeschafft wurde. Die Fideikommisse hatten allerdings auch etliche Nachteile. Die Unbeweglichkeit dieser Institution zeigte sich, wenn wirtschaftliche oder finanzielle Veränderungen eine flexible Organisation notwendig gemacht hätten: Sollten etwa aufgrund einer Neuorientierung in der landwirtschaftlichen Produktion Felder getauscht oder verkauft werden, so war dies dem Fideikommiss-Verwalter nur nach gerichtlicher Genehmigung erlaubt. Eine rasche und flexible Reaktion war dadurch unmöglich. Fideikommiss-Besitz durfte nur bis zu einem Drittel durch Kredite belastet werden. Der Aufbau 8

Ernst Metz: Großgrundbesitz und Bodenreform in Österreich. Phil. Diss. Wien 1984, S. 59.

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Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

einer industriellen Produktion, der viel Bargeld erforderte, war somit beinahe unmöglich. Viele fideikommissarisch verwalteten Betriebe verloren den Anschluss an moderne Entwicklungen, weil sie zuwenig flexibel waren. Zusätzlich machten Grundsteuern, Versicherungsbeiträge für die Landarbeiter, Preisschwankungen der erzeugten Produkte und politische Veränderungen den Gütern zu schaffen. Bei den politischen Veränderungen waren es vor allem die Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, durch die große Teile der adeligen Besitzungen abgetrennt oder enteignet wurden. Wie wenig das Ende der Monarchie, die Abschaffung des Adels und die Gründung der Ersten Republik an den Besitzverhältnissen der in Österreich begüterten adeligen Großgrundbesitzer änderten, zeigt die Aufstellung der größten Grundbesitzer in den 1920er Jahren: An erster Stelle lagen Paul und Nikolaus Esterházy, Friedrich Habsburg-Lothringen, Graf Batthyány, Paul Draskovich und Graf Erdödy. Noch 1930 war der Anteil der Fideikommiss-Güter an der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche beachtlich. Der höchste Anteil an Fideikommiss-Besitz bestand im Burgenland mit 9,2 Prozent, in Niederösterreich betrug er 2,9 Prozent und in Oberösterreich, der Steiermark und Kärnten zwischen 0,5 Prozent und 1,1 Prozent.9 Insgesamt waren 281.085 ha Land, das waren immerhin 3,35 Prozent des heutigen österreichischen Staatsgebietes, in Fideikommissen gebunden. Die Institution des Fideikommiss überlebte nicht nur das Ende der Monarchie, sondern auch die Turbulenzen der Zwischenkriegszeit, und erst die Nationalsozialisten hoben im Jahr 1938 alle Fideikommisse in Österreich auf.

Enteignung nach 1919 Auf österreichischem Staatsgebiet blieb der Adel von Enteignungen verschont, obwohl eine Bodenreform diskutiert wurde. Nur Teile der Familie Habsburg wurden enteignet, sofern sie nicht auf Herrschaftsansprüche verzichteten. Anders gestaltete sich die Situation in den Nachbarländern. Am radikalsten führte man die Bodenreform in der Tschechoslowakei durch: Im sogenannten „Beschlagnahme-Gesetz“ von 1919 wurde der gesamte Großgrundbesitz über 150 ha gegen eine geringe Entschädigung enteignet und an Kleinbauern verteilt. Zu diesem Zeitpunkt besaßen etwa 2.000 Großgrundbesitzer, die vornehmlich dem österreichischen – in diesem Sinne 9

Quelle: Allgemeines Verwaltungsarchiv, LWG 1035, o. Zl., Spezifikation I.

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deutschen – und dem ungarischen Adel angehörten, fast ein Drittel des gesamten Territoriums der Tschechoslowakei! Die bedeutendsten dieser Großgrundbesitzer waren die Familien Liechtenstein, Schwarzenberg und Andrássy. Von den Besitzungen der Schwarzenberg vor 1912, insgesamt 134.514 ha, befanden sich 110.417 ha in der Tschechoslowakei. Die Aufteilung des beschlagnahmten Besitzes erfolgte jedoch nicht ausschließlich an arme Kleinbauern. Vielmehr gelangte er durch Korruption und Protektion wiederum in den Besitz relativ weniger Familien, die keineswegs alle Landwirte waren. Viele der früheren, sehr reichen Großgrundbesitzer mussten sich als Flüchtlinge in Westeuropa und als Emigranten in aller Welt verstreut eine neue Existenz aufbauen. Meist hatten sie nichts gelernt außer den eigenen Besitz zu verwalten. Sie lebten bei Verwandten und mussten jede Arbeit annehmen, die sich ihnen bot, auch in „untergeordneten Stellungen“, wie Fanny Starhemberg 1928 so treffend forderte.10

1920er und 1930er Jahre Die wirtschaftlich und politisch unsicheren Zeiten bewogen den Adel zum Rückzug aus dem Geldgeschäft und aus großen Teilen der Industrie. Man besann sich auf den Grundbesitz, der die Wirren des Krieges relativ unbeschadet überstanden hatte. Die Landwirtschaft war in den 1920 Jahren der einzige Wirtschaftszweig in Österreich, der einen echten Aufschwung erlebte.11 Die Bauern gründeten landwirtschaftliche Genossenschaften und konnten den Ertrag durch eine Intensivierung und Modernisierung der Landwirtschaft erheblich steigern. Besonders Besitzer von großen Flächen konnten die Rationalisierung durch moderne Maschinen voll nutzen. Um ihren Besitz für die Familie zu erhalten, nahmen manche Adelige nach dem Ersten Weltkrieg auch fremde Staatsbürgerschaften an, wie zum Beispiel die Familie Lobkowitz, die Tschechen wurden. Landwirtschaftliche Produkte wurden in Österreich außerdem dringend gebraucht, es herrschte Mangel und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg echter Hunger. So produzierte man zum Beispiel in Österreich im Jahr 1918 nur noch 41 Prozent der Getreidemenge des Jahres 1914! Ungarn war nicht bereit, mehr Getreide nach Österreich zu liefern. Die Getreidepreise waren dort niedrig und so zog man es in Ungarn vor, das Getreide an Schweine zu verfüttern. 10 11

Jahrbuch der Vereinigung katholischer Edelleute 1928. Wien 1928, S. 73. Vgl. Sandgruber: Ökonomie und Politik (wie Anm. 4), S. 369 f.

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Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

Wie verzweifelt die Lage den damals Verantwortlichen erschien und wie groß der Groll gegen Ungarn in dieser Frage war, zeigen etwa die Aufzeichnungen des damaligen Staatssekretärs für Volksernährung, Hans LoewenfeldRuss: „Der Österreicher Höfer (Anm. Ernährungsminister), ein zarter, schmächtiger, fast filigran gebauter Mann, der Ungar Graf Hadik, der böse Geist der ungarischen Ernährungspolitik, ein Koloß, mit einem überdimensionalen, fast unförmigen Körper und Armen und Beinen, die einem Elefanten alle Ehre gemacht hätten. Wahrlich, der österreichische Hunger und der ungarische satte Überfluß konnten nicht augenfälliger demonstriert werden.“12 Es war wieder die Landwirtschaft, die die Weltwirtschaftskrise 1929 in Österreich am besten überstand. „Die Regierungen Dollfuß und Schuschnigg stützten sich auf den Adel und die Bauern und mußten daher deren Wünsche erfüllen. […] Die Intensivierung der Landwirtschaft betraf also besonders jene Zweige, die von den hohen Schutzzöllen profitierten, die Zuckerwirtschaft und die Viehzucht. Freilich lagen die Verhältnisse nicht überall gleich; ein Fortschritt war nur dort zu erblicken, wo entweder der Großgrundbesitz herrschte oder wo die Bauern genossenschaftlich fest zusammengeschlossen waren.“13 Ein weiteres Motiv für die Rückbesinnung auf die Landwirtschaft war die Debatte nach dem Ersten Weltkrieg um die Enteignung adeligen Großgrundbesitzes, der nur „Luxuszwecken“, wie der Jagd, diente. Aus Angst, dass diese Flächen an die Bauern gänzlich aufgeteilt würden, kümmerte man sich mehr um die Bestellung der Felder. Viele adelige Gutsbesitzer begnügten sich nicht mit der Erzeugung von Rohprodukten, wie Getreide und Fleisch, sondern verarbeiteten ihre Produkte weiter: Die Familie Aichelburg-Zassenegg betrieb zum Beispiel eine Tuch- und Schafwollfabrik, und Maximilian Attems-Gilleis war Präsident der Vereins-Molkerei-AG. Der Einfluss des Letzteren auf die Geschäftsführung dürfte aber gering gewesen sein, da der „Finanzkompass“ von 1935 eine Nähe der Vereins-Molkerei A.G. zur Österreichischen Zuckerindustrie A.G. und der A.G. für landwirtschaftliche Betriebe erklärt. Insgesamt bedeutete die Zwischenkriegszeit vor allem für den grundbesitzenden Adel in Österreich einen sowohl wirtschaftlichen als auch politischen Aufschwung. Im Ständestaat bekleideten auffallend viele Aristokraten führende politische Ämter, der Versuch der Etablierung eines mittelalterlichen Ständewesens kam ihren Interessen sehr entgegen.

12

13

Hans Loewenfeld-Russ: Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung 1918–1920. Wien 1986, S. 83. Tremel: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 3), S. 386-387.

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Einzelne verloren durch ihr politisches Engagement allerdings auch beinahe Haus und Hof. Das prominenteste Beispiel ist wohl Fürst Ernst Rüdiger Starhemberg, der durch den Aufbau der Heimwehren beinahe das gesamte Familienvermögen aufzehrte.

Situation nach 1938: Verfolgung und Enteignung Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich erfolgte allerdings eine weitere schmerzliche Zäsur in der politischen und wirtschaftlichen Situation des österreichischen Adels. Die Fideikommisse wurden aufgehoben, viele Adelige wurden verhaftet, da sie im Ständestaat führende Positionen eingenommen hatten. So etwa wurden unmittelbar nach der Okkupation Österreichs Rudolf Hoyos, Vorsitzender des Staatsrates, Rudolf Colloredo-Mannsfeld, Bezirkshauptmann von Korneuburg, Peter Revertera, Sicherheitsdirektor von Oberösterreich und viele andere mehr verhaftet. Sie und ihre Familien fielen auch der am 18. November 1938 erlassenen Verordnung betreffend „Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens im Lande Österreich“ zum Opfer. Davon betroffen war etwa die Familie Kaiserin Zitas. Unter dem Titel „Einziehung des Vermögens staatsfeindlicher Legitimisten“ wurde ihr und ihren Kindern 1941 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und das Vermögen beschlagnahmt. Davon betroffen war auch der Familienfonds mit den Schlössern Laxenburg, Wartholz, Feistritz und Mürzsteg. Die Güter umfassen 26.400 Hektar, dazu kamen fünf Häuser in Wien, wertvolles Mobiliar und Kunstgegenstände. Die Begründung: „Von den Söhnen haben sich in erster Linie Otto und Felix von Habsburg-Lothringen in deutschfeindlicher Weise im Ausland betätigt. […] Anlässlich der Wiedervereinigung der Ostmark mit dem Altreich und der Besetzung Böhmen-Mährens veröffentlichte er Aufrufe in den ausländischen Zeitungen, die zum Teil hochverräterischen Charakter tragen.“14 Enteignet wurde auch die Familie Starhemberg. Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg war Vizekanzler und Heimwehrführer gewesen. Nach dem Krieg prozessierte er jahrelang um die Rückgabe seiner Güter und insgesamt 13 Schlösser.15 Die Enteignungen trafen auch jene Adeligen, die als Widerstandskämpfer und Legitimisten entlarvt wurden. Enteignet wurde etwa die Familie Hohenberg; Herzog Max und Fürst Ernst Hohenberg standen in engem 14

15

Geheimakte des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin vom 25. August 1941, Ordnungszahl II A 5b-390/4g. Zitiert in: Gudula Walterskirchen: Blaues Blut für Österreich. Adelige im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Wien 2000, S. 130. Vgl. Gudula Walterskirchen: Starhemberg oder die Spuren der Dreißiger Jahre. Wien 2002, S. 73.

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Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

Kontakt mit Erzherzog Otto. Nach dem Attentat vom Juli 1944 kam es zu einer neuerlichen umfassenden Verhaftungswelle und Enteignung im österreichischen Adel. Wesentlich nachhaltiger und stärker als die politischen Entwicklungen in den 1930er und 1940er Jahren rüttelte den Adel der finanzielle Zusammenbruch wach. Zuerst wurden im Jahr 1939 die Fideikommisse aufgehoben, dann wurden durch die Kämpfe vor allem in Ostösterreich viele Schlösser zerstört oder später durch die russische Besatzung verwüstet.

Situation nach 1945 Enteignungen in Ost- und Südosteuropa Das Kapitel Enteignung von Großgrundbesitz war nach dem Zweiten Weltkrieg noch längst nicht abgeschlossen: Die kommunistischen Regierungen in den osteuropäischen Ländern ab 1945 enteigneten und vertrieben die adeligen Grundbesitzer als Klassenfeinde und Hitlerfreunde. Verblieben nach der ersten Bodenreform in der Tschechoslowakei noch Flächen bis 150 ha landwirtschaftlich genutzten Bodens und 250 ha Wald den ursprünglichen Besitzern, so ging man nach dem Zweiten Weltkrieg weiter und konfiszierte entschädigungslos den gesamten Besitz mit Hilfe des Dekretes vom 12. Juni 1947 über die „Beschlagnahme und Aufteilung des Grundbesitzes der Deutschen, der Ungarn und der Verräter“. Das waren diejenigen, die nach Ansicht der Tschechen alle mit Hitler und den Okkupanten sympathisiert hatten und die Tschechen vertreiben und ausrotten wollten. Dem widerspricht die Tatsache, dass viele von ihnen von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, denn auch zu diesem Zeitpunkt war die Begehrlichkeit, sich die verlockend reichen Besitzungen anzueignen, groß: Die Familie Schwarzenberg und ihr riesiger Besitz geriet bei der Besetzung des Sudetenlandes 1938 zwischen die Fronten. Etwa zwei Drittel des Bodens lagen im 1939 geschaffenen Reichsgau, ein Drittel in anderen Teilen der bisherigen Tschechoslowakischen Republik. Der Erbe, Fürst Adolph Schwarzenberg, wurde von den Tschechen als „Staatsfeind“ eingestuft und emigrierte in die USA. Seinem Nachfolger Heinrich Schwarzenberg erging es noch schlimmer: Als er von einer Auslandsreise zurückkehren wollte, verwehrte man ihm dies, die Gestapo verhaftete ihn und deportierte ihn ins KZ Buchenwald. Als „Feind“ beider Systeme erklärt, stritt man sich sogleich um die fette Beute. Die Schwarzenbergschen Besitzungen wurden schließlich der Verwaltung des Gaues Oberdonau unterstellt. Im Jahr 1945 fiel der Besitz wiederum an die wiederhergestellte Tschechoslowakische Republik und wur203

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de 1947 dem angeblich mit Hitler sympathisierenden Heinrich Schwarzenberg, der von den Nazis ins KZ geschickt worden war, endgültig entschädigungslos entzogen. Das Dekret von 1947 betraf vor allem die Sudetendeutschen, die allesamt „ausgesiedelt“ wurden, die Ungarn und auch die meist adeligen deutsch- und ungarischstämmigen Großgrundbesitzer. Die auf den konfiszierten Besitzungen befindlichen Schlösser wurden verstaatlicht und für öffentliche Einrichtungen genutzt. Einige wenige kulturell besonders erhaltenswürdige Objekte bewahrte man als Kulturdenkmäler. Man rechtfertigte diese Konfiskationen damit, dass diese Objekte zwar im Mittelalter und in der Neuzeit vom deutschen Adel erbaut wurden, „aber mit dem Blut und den Schwielen des versklavten Bauernvolkes in der Zeit der Unfreiheit, des Frondienstes und der Leibeigenschaft“ .16 Im Zuge der Verhandlungen Österreichs um den Staatsvertrag kam es zu heftigen Debatten um den enteigneten Auslandsbesitz von Österreichern in den damaligen Volksdemokratien. Ein Nationalratsabgeordneter, der aus dem oberschlesischen Uradel stammende Hans Kottulinsky, engagierte sich besonders in dieser Frage, wobei seiner Ansicht nach „die höchsten materiellen Werte, die Österreich zu verteidigen hat“ in der Tschechoslowakei gelegen wären.17 Die Aufteilung des beschlagnahmten Besitzes erfolgte jedoch nicht ausschließlich an arme Kleinbauern. Vielmehr gelangte durch Korruption und Protektion ein großer Teil wiederum in den Besitz relativ weniger Familien, von denen nur wenige den Boden landwirtschaftlich nutzten. Der riesige beschlagnahmte Waldbesitz wurde verstaatlicht.

Bodenreform in Österreich Auch in Österreich rief man nach dem Ersten Weltkrieg nach einer Bodenreform, wenn auch nicht zu einer so radikalen wie in der Tschechoslowakei. Hier gab es kaum einen vergleichbar ausgedehnten Großgrundbesitz. Die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln war außerdem so schlecht, dass man auf die Lieferungen aus diesen Besitzungen nicht verzichten konnte. Man beschränkte sich daher darauf, „gelegte“ Bauerngüter, die in die Hände von Nichtlandwirten gelangt waren, wieder an Bauern zu vergeben. Das Gesetz über die Wiederbesiedlung gelegter Bauerngüter von 1919 bestimmte, dass diese Bauerngüter und Häusleranwesen wieder selbst16 17

Jiˇri Kotáko: Die Bodenreform in der Tschechoslowakei. Prag 1948, S. 25. Stenographische Protokolle des Nationalrates, 85.Sitzung, VII. GP, 13.12.55, 3922.

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Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

ständig werden sollten, wenn sie nur Jagd- oder Luxuszwecken oder der Spekulation dienten oder Teil eines forstwirtschaftlichen Gutes waren. Die Besitzungen auf österreichischem Boden bewirtschafteten die Fideikommiss-Verwalter nur zu einem Teil selbst (im Jahr 1930 nur 38 Prozent der Güter), den Rest verpachteten sie an Bauern. Manche adelige Großgrundbesitzer gaben aus Furcht, in größerem Ausmaß enteignet zu werden, freiwillig Grundstücke an Bauern ab. Insgesamt führte man auf dem Gebiet der Republik Österreich die Bodenreform nur sehr inkonsequent und in Ansätzen durch. Die Regierung Renner erließ 1919 ein Gesetz zur Enteignung der Schlösser und Paläste zur Unterbringung von Pflegestätten für Kranke und Kinder, das die „Arbeiter-Zeitung“ wie folgt kommentierte: „Die herrschende Feudalität und die Kapitalistenklasse, die den alten Staat geführt und ausgebeutet, die ihn unter der angeeiferten oder geduldeten Leitung des früheren Herrscherhauses in den Krieg gestürzt haben, bringen hiemit das erste, aber lange nicht das letzte Opfer, das zur Sühne dienen soll für das, was an den Volksmassen und insbesondere an unserer Jugend gesündigt worden ist.“18 Von einer Bodenreform wären nicht nur die adeligen und bürgerlichen Großgrundbesitzer, sondern auch die katholische Kirche in hohem Ausmaß betroffen gewesen. Trotz der klassenkämpferischen Töne blieb die Einrichtung des Fideikommiss unangetastet. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Großgrundbesitzern und der restlichen Landbevölkerung standen neben der wenig erfolgreichen Bodenreform in Hinkunft die Höhe der Grundsteuer und die Entlohnung der Landarbeiter. In der Zeit des Ständestaates beklagte der „Freie Bauer“, das Organ der werktätigen Bauern Österreichs, die steigenden Preise bei den Produkten des Großgrundbesitzes, wie etwa beim Weizen, und die progressive Grundsteuer, die kleine Bauern benachteilige.19 Der Verfassungsrechtler und Adelige Hans Karl Zeßner-Spitzenberg stellte fest, dass die österreichische Bodenreform auf „die Neuschaffung und Stärkung bäuerlich selbstständigen Besitzes auf Kosten des Großgrundbesitzes ziele“.20

18 19 20

Arbeiter-Zeitung, Leitartikel vom 20. April 1919. Der Freie Bauer, Nr. 6/1936. Linz 1936. Hans Karl Zeßner-Spitzenberg: Bodenreform im Sinne der Bundesverfassung. Wien 1931, S. 9.

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Gudula Walterskirchen

Neuanfang und „bürgerliche“ Berufe Den vertriebenen und um ihr Vermögen gekommenen Adeligen wurde zum Verhängnis, dass sie keine brauchbare abgeschlossene Berufsvorbereitung besaßen und für einen bürgerlichen Beruf kaum einsetzbare Kenntnisse erworben hatten. Sie waren dadurch ihren Mitbewerbern hoffnungslos unterlegen. In dieser schwierigen Situation erwiesen sich die alten Verbindungen, das alte Zusammengehörigkeitsgefühl des Adels als äußerst nützlich. Verwandte und „Standesgenossen“ boten den Flüchtlingen nicht nur Quartier, sie ließen auch ihre noch immer tragfähigen Verbindungen spielen und verhalfen einander oft zu guten Stellungen. Dabei war es nicht wichtig, ob man den Betreffenden persönlich kannte und seine Fähigkeiten einschätzen konnte; wichtig war, dass er gleicher Herkunft war. Die Erkenntnis, über keinen größeren materiellen Besitz mehr zu verfügen, keine abgeschlossene formale Berufsausbildung zu besitzen und damit ihren Mitbürgern unterlegen zu sein, prägte das Bewusstsein dieser Generation sehr tief. Sie schickten daher, auch wenn die finanziellen Mittel oft sehr bescheiden waren, ihre Kinder in gute Schulen und hielten sie zu einem Hochschulstudium an. Sie hatten erkannt, dass in diesem System nur eine gute und umfassende Ausbildung den Zugang zu einem qualifizierten Beruf ermöglichte. War vor dem Zweiten Weltkrieg ein akademischer Grad neben dem Adelstitel noch die Ausnahme, stieg die Akademikerrate bei der Nachkriegsgeneration sprunghaft an. Der Verlust des Vermögens und in vielen Fällen auch der Heimat erzeugte den notwendigen Anpassungsdruck, der vor dem Zweiten Weltkrieg noch kaum vorhanden war. Jenem Teil des österreichischen Adels, der seine Besitzungen in Österreich – nicht unbeschadet, aber doch – retten konnte, war nun ebenfalls klar, dass man sich mit den gegebenen Verhältnissen abfinden musste. Die leise Hoffnung auf die Rückkehr der Habsburger wollten manche noch nicht völlig aufgeben. Endgültig Abschied nehmen mussten sie aber von dem Gedanken, der Adel könnte als Stand wieder eine Funktion in traditioneller Weise haben. Zwangsläufig freundete man sich mit dem Leistungsgedanken an und ergriff sogenannte „bürgerliche“ Berufe. Eine Analyse zeigt das rasche Anwachsen der Anzahl Adeliger in prestigeträchtigen Berufen. Die ausgewählten Berufe repräsentieren die heutige Bildungs- bzw. Machtelite. Es wurden knapp 180 ehemals fürstliche und gräfliche Familien mit etwa 5.000 erwachsenen Mitgliedern für diese Analyse herangezogen, also eine relativ kleine Gruppe. Frauen aus diesen Familien, die einen

206

Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

bürgerlichen Namen tragen, wurden nicht berücksichtigt.21 Die angegebenen Zahlen sind absolute Zahlen. Es war auf Grund des Umfanges der untersuchten Personengruppen nicht möglich, Vergleichsgrößen heranzuziehen. Die Zahlen sind daher im Verhältnis zueinander und im Hinblick auf ihre Entwicklung in den jeweiligen Stichjahren aussagekräftig. Berufsgruppe

1929

1955

1975

1995

Richter/Rechtsanwalt Beamter /davon Außenamt Universitätslehrer Arzt (niedergelassen) Unternehmer Zivilingenieur, Architekt (* 1985)

8/3 11/1 7 24 80 1

11/8 19/7 7 18 73 3

4/2 27/14 15 12 55* 4

16/14 27/12 19 16 90 11

Auffallend ist bei der Wahl des Berufes eines Beamten, dass man eindeutig die Diplomatie bevorzugt: Fast die Hälfte der in den Ministerien tätigen Adeligen dient heute im Außenamt, von 1955 bis 1975 hat sich ihre Zahl dort verdoppelt, 1975 waren von insgesamt 105 Beamten gleich 14 aus dem Hochadel, wobei die nicht aus diesem Kreis stammenden Adeligen noch nicht mitgezählt sind. Im Vergleich zu den Selbstständigen ist die Beamtenschaft unter dem Adel dennoch gering vertreten. Die erfolgreichen Unternehmer sind in der marktorientierten Wirtschaft flexibel, offen, kreativ und risikofreudig. Die traditionellen Erfolgskriterien des Adels bestanden in Kontinuität, Exklusivität und einer starren Gesellschaftsordnung, also dem genauen Gegenteil. Banker, Architekt, Manager, Filmproduzent, Steuerberater, Rechtsanwalt – das sind die Berufe von Adeligen heute. In diesen Berufen kommen ihnen die tragfähigen Netzwerke innerhalb der Standesgenossen sehr zugute, indem gegenseitig Aufträge erteilt und Informationen ausgetauscht werden. Allgemein ist erkennbar, dass Adelige sowohl als Unternehmer als auch als Angestellte Standesgenossen als Geschäftspartner oder Mitarbeiter bevorzugten. Weitreichende Auswirkungen zogen die Verstaatlichtengesetze von 1946/47 nach sich, durch die wichtige große Banken und Industriebetriebe zusammengefasst und in das Eigentum und die Verwaltung des

21

Quelle: Amtskalender, Compass. Vgl. dazu: Gudula Walterskirchen: Adel in Österreich im 20. Jahrhundert. Privates und öffentliches Leben, Berufswahl, wirtschaftliche Aktivitäten und politische Rolle. Phil. Diss. Wien 1999.

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Gudula Walterskirchen

Staates übernommen wurden. Die neu entstandenen verstaatlichten Großbanken, wie etwa die Creditanstalt, das Österreichische Creditinstitut und die Länderbank, brachten immer mehr Betriebe in ihren Einfluss und machten sie durch Großinvestitionen von sich abhängig. Eine Randerscheinung dieser Entwicklung war, dass keine Mitglieder des ehemaligen Hochadels in den Reihen der Aufsichtsräte mehr zu finden waren. Anders stellte sich die Situation bei den Brauerei-Besitzern bzw. Aufsichtsräten in Braukonzernen dar; hier war der Adel im Stichjahr 1955 noch präsent, wie Dorothea Herberstein bei der Kärntner Brauereien AG oder Dr. Alexander Thurn-Valsassina bei der Gösser Brau AG. Die Nachkriegsgeneration dieser Familien hatte unter dem Eindruck von Enteignungen und Vertreibungen ihre Lehren gezogen. Man verließ sich nicht mehr einzig auf die Sicherheit des ererbten Besitzes, sondern strebte eine fundierte Ausbildung, möglichst mit Hochschulabschluss, an und verfolgte ein klares Berufsziel. Diese Generation hatte sich vom Schock, den ihre Väter- und Großvätergeneration durch den Zusammenbruch des alten, den Adel privilegierenden Systems erlitten hatte, längst erholt. Man hatte sich an die Konkurrenzsituation gewöhnt und bereitete sich auf den Wettbewerb möglichst gut vor. Es wurde zur Selbstverständlichkeit, dass der präsumtive Erbe eines Gutsbetriebes an der Universität für Bodenkultur studierte, um den Betrieb dann nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen führen zu können. Je mehr die Bedeutung der Landwirtschaft zurückging, desto stärker wurde die Anziehungskraft des Tertiärsektors für junge, ehrgeizige Adelige, die ihre Bildung als zentrales Instrument für eine Karriere nutzen wollten. Diese strebten weniger das freie Unternehmertum, sondern eine Laufbahn als Angestellter an, wobei sich die Banken und Finanzunternehmen zur mit Abstand attraktivsten Branche entwickelten. In der verstaatlichten Creditanstalt betätigte sich im Jahr 1955 kein einziges Mitglied des vormaligen Hochadels, 30 Jahre später fanden sich dort gleich fünf in führender Position: So Dr. Christian Coreth als Oberprokurist, Dr. Dkfm. Georg Festetics als Abteilungsdirektor, Dipl. Ing. Carl Anton Goëss-Saurau als Aufsichtsrat, Karl Kornis als Beirat und Dr. Hieronymus Spannocchi als Filialdirektor. Zusätzlich besaß die CA zu diesem Zeitpunkt aufgrund zahlreicher Verflechtungen mit bedeutenden österreichischen Unternehmen eine Art „Informationsmonopol“,22 wovon Adelige bis auf einzelne Ausnahmen kaum profitierten oder ihren Einfluss nutzen konnten. 22

Inge Morawetz: Die verborgene Macht.Wien 1986, S. 69.

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Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

Weniger Interesse wurde hingegen der Landwirtschaft und den Rohstoffen entgegengebracht, was dem allgemeinen Trend folgte, und dem Handel. Hier ist als Detail interessant, dass das frühere Engagement Adeliger in der Kohleerzeugung und dem -handel abgelöst wurde vom Erdöl. Allgemein ist der Schluss zulässig, dass Aristokraten sich weniger mit der Verwertung ihres Besitzes beschäftigen, sondern vermehrt Angestellte von großen Firmen oder Banken werden. Die Funktion eines Aufsichtsrates weicht mehr und mehr der Professionalisierung, es gibt zunehmend Geschäftsführer, Direktoren, Generaldirektoren und Prokuristen unter den Aristokraten in der Wirtschaft. Zunehmend drängen Adelige an die Spitze von Unternehmen der österreichischen Wirtschaft, wo sie große Entscheidungsgewalt besitzen: Von den 90 Führungskräften im Stichjahr sind 28 – also beinahe ein Drittel – in der zentralen Funktion eines Vorstandsmitgliedes, Generaldirektors oder Aufsichtsratsvorsitzenden. Auffallend ist auch bei genauerer Analyse, dass viele Aristokraten in mehreren Banken und Firmen als Aufsichtsräte und/oder Geschäftsführer aktiv sind, also eine zunehmende Verflechtung stattfindet. Als Angestellte großer Firmen genügen weder ein Adels- noch ein Doktortitel, um an die Spitze zu kommen, sondern vor allem die persönliche Leistung. Es ist nur mehr schwer möglich, einem „Standesgenossen“ einen Aufsichtsratsposten zukommen zu lassen, wie dies noch nach dem Ersten Weltkrieg vorkam, sondern man muss sich seine Position mit Bildung und Leistung erarbeiten. Die Statistik zeigt, dass der Adel dabei sehr erfolgreich ist: Im Verhältnis zu seinem Anteil an der Gesamtbevölkerung ist er bei den Entscheidungsträgern in der Wirtschaft deutlich überrepräsentiert, wo sein Anteil vierzehn Mal höher liegt!23 Es ist nur schwer überprüfbar, inwieweit persönliche Beziehungen und der Glanz eines alten Namens noch heute sich vorteilhaft für eine Karriere in der Wirtschaft auswirken. Persönliche Beziehungen und individuelle Vorteile nützen aber auch andere. Gerade die jüngsten Entwicklungen in der Frage der führenden Positionen Adeliger in wichtigen heimischen Betrieben und die zunehmende Professionalisierung lassen deren bloße Funktion als „Renommiergrafen“, als die man sie noch in jüngster Zeit bezeichnet, unglaubwürdig erscheinen.24 23

24

Der Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 1,4 Promille, der Anteil an den Entscheidungsträgern in der Wirtschaft (Aufsichtsräte, Geschäftsführer, Prokuristen, Direktoren etc.) beträgt 0,2 Prozent. Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Wien 1994, S. 92: „Die eine oder andere Bank hält sich einen Renommiergrafen. Doch das Kapitel Adel ist in der österreichischen Geschichte abgeschlossen.“

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Gudula Walterskirchen

Die Übernationalität des Hochadels ist von großem Wert für die internationale Finanzwelt. Der Hochkapitalismus widerspricht offenbar nicht mehr den Werten und Normen des Adels.25

Adelige Vermögen auf dem Gebiet des heutigen Österreich Grundbesitz In Österreich gibt es gegenwärtig noch immer ausgedehnten adeligen Grundbesitz: Gutsbetriebe mit mehr als 200 ha Fläche und Forste über 700 ha gehören zu 90 Prozent ehemaligen Adeligen! Die durchschnittliche Fläche eines Land- und forstwirtschaftlichen Betriebes in Österreich beträgt 30 ha. Nur 3.215 Betriebe von insgesamt 252.110 Betrieben verfügen über eine Fläche von mehr als 200 ha.26 Zu den größten privaten Grundbesitzern Österreichs zählen folgende Familien:27 Esterházy 44.000 ha Land und Forst Mayr-Melnhof 34.562 ha Forst Schwarzenberg 24.975 ha Forst Liechtenstein 24.216 ha Wald, 3.300 ha Landwirtschaft, 40 ha Weinberge Habsburg-Lothringen 16.827 ha Forst, 2.000 ha Landwirtschaft Hoyos 15.211 ha Forst, 600 ha Landwirtschaft Hohenberg 11.400 ha Grundbesitz Coburg-Gotha 8.600 ha Landwirtschaft Foscari 8.400 ha Grundbesitz Thurn-Valsassina 7.000 ha Grundbesitz Starhemberg 6.600 ha Land- und Forstwirtschaft, 100.000 ha Grundbesitz im Ausland Ein Großteil des Grundbesitzes ist gekoppelt mit weiterverarbeitenden Industriebetrieben, wie die Mayr-Melnhof Papier, die das eigene Holz verarbeitet. Doch auch ohne diese Industriebetriebe stellen die Besitzungen einen beträchtlichen Wert dar.

25 26

27

Ingelore Winter: Der Adel. Ein deutsches Gruppenporträt. Wien 1981, S. 312-313. Quelle: ÖSTAT, Land- und forstwirtschaftliche Betriebszählung, Strukturerhebung 1997. Wien 1998. Quelle: Forst-Jahrbuch 1999. Wien 2000.

210

Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

Immobilien Weniger vorteilhaft ist die heutige Situation für den österreichischen Adel im Hinblick auf die früher fast ausschließlich in seinem Besitz befindlichen Schlösser. Von über 1700 in Österreich noch erhaltenen Schlössern und Burgen befinden sich nur mehr 411 im Besitz adeliger Familien, das sind 24 Prozent, 384 gehören der Republik Österreich oder Gemeinden, 112 der katholischen Kirche und 797 wurden von „Bürgerlichen“ erworben oder ererbt. Wenn man bedenkt, wie sehr viele Adelige am alten Stammsitz ihrer Familie hängen und was sie zu opfern bereit sind, um diesen zu erhalten, erahnt man die Dramatik der Situation. Ein ausschließlich privat genutztes Objekt muss auch aus gänzlich aus privaten Mitteln erhalten werden. Sehr viele dieser Bauwerke stehen unter Denkmalschutz, was für den Besitzer erhebliche Kosten durch die Auflagen bei Renovierung und Erhaltung bedeutet. Trotz dieser Bemühungen gestaltet sich die Erhaltung der Burgen und Schlösser immer schwieriger, wird immer teurer und belastet den Gutsbetrieb immer mehr. Wer nicht umfangreichen Grundbesitz hat, investiert alle finanziellen Mittel in die Erhaltung des Bauwerkes, vielen Familien bleibt kaum noch etwas für den Lebensunterhalt. Das Image, in einem Schloss zu wohnen, täuscht Außenstehende oft über die für die Inhaber damit verbundenen Opfer hinweg. Meist stellen sich diese Familien aus altem Adel die Frage nach der Vernunft dieser Lebensweise und Investitionen nicht.

Sozialverhalten Selbst im Heiratsverhalten schlägt sich die unterschiedliche Lebensweise des Grundbesitzenden und des Adels ohne Grundbesitz nieder. Untersucht man die Eheschließungen des Adels der letzten drei Generationen hinsichtlich der Herkunft der Ehefrauen, ergibt sich ein eindeutiges und interessantes Bild. Ausgewählt wurden Familien mit und ohne Grundbesitz, die in Österreich ansässig sind und deren Daten in einem der neueren Genealogischen Handbücher des Adels publiziert wurden. Die nachfolgende Statistik, basierend auf der Methode Michael Mitterauers, der das Heiratsverhalten von zehn bedeutenden Adelsfamilien im 16. bis 19. Jahrhundert untersucht hat28, zeigt die Herkunft der Partner einiger aus28

Michael Mitterauer: Zur Frage des Heiratsverhaltens im österreichischen Adel. In: Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs. Wien 1974, S. 176-194.

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Gudula Walterskirchen

gewählter Familien, wobei auch Zweit- oder Drittehen berücksichtigt wurden. Familie Schallenberg Salburg Czernin Coudenhove-Kalergi Coronini-Kronberg Coreth Kielmannsegg Bulgarini Familie Schallenberg Salburg Czernin Coudenhove-Kalergi Coronini-Kronberg Coreth Kielmannsegg Bulgarini

Mann Gutsbesitz – 4 11 4 4 5 3 3

Ehefrau Hochadel – 3 10 1 3 2 2 2

Ehefrau niederer Adel

Ehefrau bürgerlich

– 1 2 1 – – – –

1 2 – – – 3 1 1

Mann ohne Gutsbesitz

Ehefrau Hochadel

Ehefrau niederer Adel

Ehefrau bürgerlich

3 3 19 11 2 12 – –

– – 5 2 – 3 – –

2 – 3 3 1 2 – –

4 3 17 8 1 6 – –

Diese Statistik zeigt, dass der gutsbesitzende Adel wesentlich traditioneller und abgeschlossener lebt als der Adel, der seinen Besitz und seinen Familiensitz – aus welchen Gründen immer – verloren hat. Für ihn spielen die adelige Abstammung und der Grundbesitz sowohl aus ökonomischen als auch aus gesellschaftlichen Gründen noch immer eine große Rolle. Adelige Gutsbesitzer und Erben eines solchen Besitzes heiraten in weit mehr als der Hälfte der Fälle wiederum Frauen adeliger Abstammung. Viele dieser Frauen kommen aus dem ehemaligen Hochadel, ihre Familien nennen ebenfalls Grundbesitz ihr Eigen. Ähnlich den Verhältnissen in bäuerlichen Familien, spielen auch hier das Erbe und die Mitgift eine Rolle, nachbarliche Güter können vereinigt oder passend erweitert werden. Üben Adelige hingegen einen Beruf außerhalb der Landwirtschaft aus, wählen sie ihre Frauen häufig aus dem Bürgertum und dem ehemals niederen Adel.29 29

Vgl. dazu: Genealogisches Handbuch des Adels. Limburg an der Lahn 1951 ff.

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Armut und Reichtum im österreichischen Adel im 20. Jahrhundert

Ausgehend von der These, dass der materielle Besitz das wichtigste Attribut und der Gradmesser für den Aufstieg und die Bedeutung einer Adelsfamilie ist, müsste mit dem Verlust dieses Attributes auch der „Adel“ verloren gehen. Aus dem Selbstverständnis des Adels ist dies jedoch nicht der Fall, wenngleich traditionelle Lebensformen nach Verlust des Familienbesitzes nur mehr eingeschränkt gelebt werden können. Es besteht eine deutliche Ambivalenz in der Beziehung zu Reichtum und finanzieller Unabhängigkeit: Einerseits weigert man sich, Geld an sich als Wert anzuerkennen, andererseits sieht man aber in dem Verlust des Vermögens und dem Zwang, den Lebensunterhalt verdienen zu müssen, auch einen Teilverlust adeliger Identität.

Zusammenfassung Der Großteil des Adels kann, was seine finanziellen Verhältnisse anlangt, sicher nicht mehr als „reich“ bezeichnet werden. Eine bloße Unterscheidung in grundbesitzenden, reichen Adel und nicht-grundbesitzenden, armen Adel ist jedoch nicht möglich. Viele in Berufen außerhalb der Landund Forstwirtschaft und in der Industrie tätige Adelige sind finanziell wesentlich besser gestellt als so mancher Gutsbesitzer. Und mancher Adeliger, der mit seiner Familie noch im Stammschloss wohnt und die Güter verwaltet, lebt rein rechnerisch dennoch unter der Armutsgrenze. Das Kapital des Grund besitzenden, auf seinem Familiensitz noch beheimateten Adels, ist für diesen weniger das Geld, sondern die lebendige Tradition und Geschichte, die starke räumliche und emotionale Nähe der Familie, die großzügigen Wohnverhältnisse, das damit verbundene Prestige und die feste Verankerung in der Region. Die Eigenständigkeit, das Pflegen der Individualität und die Unabhängigkeit von Arbeit- oder Auftraggebern ist für sie ein Wert an sich. Bei der Frage, ob der Adel nun arm oder reich sei, darf auch nicht außer Acht gelassen werden, welch entscheidende Rolle die Geschwisterfolge traditionell spielt. Der Erstgeborene erbte traditionell den gesamten Besitz, waren keine männlichen Erben vorhanden, so traf dies die älteste Tochter. Die Nachgeborenen jedoch mussten anderweitig versorgt werden. Sie wurden entweder Geistliche oder Offiziere, die Mädchen wurden verheiratet oder gingen ins Kloster. Als weitere Möglichkeit blieb nur noch, dass unverheiratete Geschwister am Familiensitz blieben und mit „durchgefüttert“ wurden. Besitz hatten sie jedoch keinen, waren also so gesehen arm. Rein rechtlich ist heute nach Abschaffung der Fideikommisse derlei nicht mehr möglich. In der Praxis wird diese Institution vor allem bei 213

Gudula Walterskirchen

großen Vermögen jedoch in anderer Form weitergeführt. Es ist üblich geworden, dass Adelsfamilien ihr Vermögen in Familienstiftungen einbringen. Das Familienoberhaupt verwaltet dieses Vermögen, es ist der Steuer entzogen und es kann genau festgelegt werden, welches Familienmitglied wie viel für den Lebensunterhalt daraus beziehen darf. Noch heute lassen sich am Verhalten und an der Lebensweise des Grund besitzenden im Vergleich zum übrigen Adel deutliche Unterschiede feststellen: Die unterschiedliche Ausbildung und Berufswahl ist evident, da der Erbe eines Gutsbetriebes von Kindheit an auf eine bestimmte Rolle festgelegt und vorbereitet wird. Adelige ohne Grundbesitz hingegen müssen in einem „bürgerlichen“ Beruf Fuß fassen und sich eine Existenz und ein Domizil neu schaffen. Dies betrifft wie in der Zeit der Monarchie auch alle Nachgeborenen aus Grund besitzenden Adelsfamilien. Das nach wie vor starke Standesbewusstsein hilft ihnen, gut dotierte Positionen zu erringen oder als Freiberufler Kunden zu akquirieren.

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Martin Schenk

Armut in Österreich – die halbierte Freiheit* Das Essensgeld ist noch immer nicht bezahlt. Sie kommen in der Früh hungrig in den Kindergarten. Im Winter stapfen sie mit Turnschuhen durch den Schnee. Das sind Kinder, die in knappen finanziellen Verhältnissen aufwachsen. Der Schulanfang macht große Probleme, wenn Zirkel, Hefte, Stifte, Einbände und Werksachen gekauft werden müssen. Die Eltern versuchen zuerst einmal sich selbst einzuschränken, um den Kindern weiter ein normales Leben zu ermöglichen. Das geht auch einige Zeit gut, aber nicht auf Dauer. In Haushalten, die unter der Armutsgrenze leben, muss das vorhandene Einkommen für das Notwendigste ausgegeben werden: Wohnen, Heizen und Ernährung. Für Sozialkontakte, Bildung, gar Nachhilfestunden bleibt da nichts mehr übrig. Dann schlägt die angespannte finanzielle Situation in Armutshaushalten auch auf den Alltag der Kinder durch. Und auf ihre Zukunft. Die Chance, aus der Armut herauszukommen, steht in enger Wechselbeziehung zu gesellschaftlicher Ungleichheit insgesamt. Je stärker sozial gespalten eine Gesellschaft ist, desto mehr Dauerarmut existiert. Je mehr Dauerarmut existiert, desto stärker beeinträchtigt sind die Zukunftschancen sozial benachteiligter Jugendlicher. Aus armen Kindern werden arme Eltern, aus reichen Kindern reiche Eltern. 98.000 Kinder und Jugendliche sind in Österreich akut arm. Ihre Eltern sind erwerbslos, alleinerziehend, krank, zugewandert oder haben Jobs, von denen sie nicht leben können. Insgesamt gelten 420.000 Menschen in Österreich als akut arm. Der Vater eines Mädchens in der dritten Klasse Volksschule ist seit zwei Jahren arbeitslos. Die Mutter ist Hausfrau. Aufgrund der Arbeitslosigkeit haben sich die Schulden der Familie dramatisch angehäuft. Die persönlichen Kontakte der Familie ändern sich, die Kontakte nach außen Martin Schenk, der Autor arbeitet als Sozialexperte der Diakonie Österreich, Schwerpunkte sind welfare policy, Gesundheit und Menschenrechte. Mitbegründer des österreichischen Anti-Armut Netzwerks („Die Armutskonferenz“), seit 1989 in der Arbeit mit Jugendlichen tätig – speziell mit straffällig gewordenen; zwei Jahre in der Begleitung von Menschen mit Behinderung, später Arbeit mit Wohnungslosen, dann in der Flüchtlingsbetreuung. Mehr zu Armut unter www.armut.at * Der Beitrag wurde für die 54. Historikertagung des IÖK in St. Pölten 2007 verfasst.

215

Martin Schenk

werden reduziert. Das Kind nimmt an keinen teuren Schulveranstaltungen mehr teil. Die Probleme werden jedoch nicht offen ausgesprochen, die Tochter wird oft krank gemeldet. Auch mit den Familien der SchulkollegInnen werden kaum noch Kontakte gepflegt. Es herrscht offensichtlich Angst vor dem Einblick in die soziale Situation. Armutsgefährdung weist auf knappe Ressourcen hin, ist aber nicht mit Armut zu verwechseln. Neben dem Einkommen geht es bei Armut immer um schwierige und eingeschränkte Lebensbedingungen. Erst wenn beides zusammenkommt, spricht man von Armut. Armut ist Stress, Armut macht krank, Armut macht einsam, Armut nimmt Zukunft. Die Betroffenen haben geringes Einkommen, weit unter dem Schwellenwert, und können ihre abgetragene Kleidung nicht ersetzen, die Wohnung nicht angemessen warm halten, keine unerwarteten Ausgaben tätigen, sie weisen einen schlechten Gesundheitszustand auf, sind chronisch krank, leben in feuchten, schimmligen Wohnungen. Mehrere dieser Lebensbedingungen müssen zutreffen, um von akuter Armut sprechen zu können. Armut heißt, nicht nur ein zu geringes Einkommen zu haben, sondern bedeutet einen Mangel an Möglichkeiten, um an den zentralen gesellschaftlichen Bereichen zumindest in einem Mindestausmaß teilhaben zu können: Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Sozialkontakte, Bildung. Armut heißt: doppelt so oft krank zu sein wie Nichtarme; weniger Freunde und soziale Netze zur Verfügung zu haben; in feuchten Substandardwohnungen zu leben; nicht in der Lage zu sein, einmal im Monat Gäste zu sich nach Hause einzuladen; den Kindern nur stark eingeschränkte Zukunftschancen bieten zu können. Besonders bei länger andauernden Einkommenseinbußen werden in Armutshaushalten anteilige Ausgaben für Bildung und Kultur zugunsten der Ausgaben für Ernährung und Wohnung verringert. Bei Armutsbekämpfung und Armutsvermeidung geht es um die Erhöhung der Verwirklichungschancen des Menschen, um die „substanziellen Freiheiten, die es ihm erlauben, ein mit Gründen erstrebtes Leben zu führen“. Eine Zeit lang wurde Armut als Mangel an Gütern definiert. Der Ökonom Amartya Sen argumentierte hingegen, dass es auch um die Fähigkeit gehe, diese Güter in Freiheiten umzuwandeln. Und zwar in Freiheiten von Menschen, ihre Vorstellungen von einem guten Leben zu verwirklichen. Denn Güter sind begehrt um der Freiheiten willen, die sie einem verschaffen. Zwar benötigt man dazu Güter, aber es ist nicht allein der Umfang der Güter, der bestimmt, ob diese Freiheit vorhanden ist. Die Möglichkeit, seine Vorstellungen von einem guten Leben zu verwirk216

Armut in Österreich – die halbierte Freiheit

lichen, hängen auch von gesellschaftlichen Strukturen, Lebensgewohnheiten, sozialen Techniken und dem allgemeinen Reichtum ab. Sen unterscheidet functionings, auf Deutsch etwa Grundfunktionen oder tatsächliche Möglichkeiten, und capabilities, Fähigkeiten. Ein functioning, eine tatsächliche Möglichkeit, ist etwas, was wirklich erreicht wurde, wohingegen eine Fähigkeit das Vermögen ist, etwas zu erreichen. Tatsächliche Möglichkeiten sind direkter mit den Lebensbedingungen verbunden, denn sie stellen verschiedene Aspekte der Lebensbedingungen und insbesondere die dafür nötigen „tatsächlichen Entscheidungsfreiheiten“ dar. Fähigkeiten sind dagegen im positiven Sinn mit Freiheiten verbunden: Welche realen Chancen hat ein Mensch, das Leben zu führen, das er führen möchte? „Fähigkeit“ ist somit mit Freiheit verwandt, aber auch mit Ermächtigung und dem Zustandekommen von Zuständen, wofür das Vorhandensein von Optionen als Voraussetzung gilt: wie etwa die Fähigkeit, sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen. Für die Armutsbekämpfung hatten diese scheinbar schlichten Gedanken enorme Wirkung. Zum einen: Arme sind Subjekte, keine Objekte ökonomischen Handelns. Und außerdem: Von Freiheit können wir erst dann sprechen, wenn auch die Freiheit der Benachteiligten eingeschlossen wird. Eine Liberalisierung, die die Wahlmöglichkeiten und Freiheitschancen der Einkommensschwächsten einschränkt, ist eine halbierte Freiheit. Bei der Analyse sozialer Gerechtigkeit geht es immer auch darum, den individuellen Nutzen nach den „Verwirklichungschancen“ der Ärmsten zu beurteilen. Die Vergrößerung des Handlungsspielraums Benachteiligter ist Armutsbekämpfung.

Armut ist Scham Frau Ludwig geht es nicht gut – in vielerlei Hinsicht. Sie hat seit Monaten große Schmerzen in der Hüfte und kann kaum gehen. Nach 28 Jahren Ehe ist ihr Mann einfach fortgegangen. Frau L. hat die Kinder großgezogen und den Haushalt gemanagt. Mit dem geringen Einkommen aus ihrem Teilzeitjob kann sie sich selbst und ihre vier Kinder mehr schlecht als recht durchs Leben bringen. Freundinnen haben ihr geraten, das Sozialamt aufzusuchen. Wer sonst hätte Anspruch auf Hilfe, wenn nicht sie, haben sie wohlwollend gemeint. Auf dem Sozialamt erfährt Frau Ludwig, sie müsse ihre Lebensversicherung kündigen, sonst sei sie nicht „bedürftig“. Auch Autobesitz ist tabu beim Empfang von sozialer Hilfe. Dieser „Luxus“, der von den Sozialämtern als „nicht überlebensnotwendig“ eingestuft wird, steht Bedürftigen von Sozialhilfegeldern einfach nicht mehr zu. Weil nur „gar nichts mehr haben“ auch wirklich „allem bedürfen“ heißt. 217

Martin Schenk

Den Leistungsbezieher zum rechtlosen, passiven Almosenempfänger zu stigmatisieren, ist jedoch ein Vorgang mit eingebauter Sogwirkung nach unten – eine institutionalisierte Armutsspirale. Auf dem Land ohne Auto, aber mit Kindern Job suchen? Soll man erst warten, bis Familien verelendet sind, damit man endlich helfen darf? Die Sozialforschung nennt diesen Wirkmechanismus „Armutsverfestigung“. Das Maß für die Auszahlung von Sozialhilfegeldern ist beweisbare Bedürftigkeit. So versuchte in Deutschland der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer, „Unterwäschewechselhäufigkeit“ als das Maß der Dinge heranzuziehen. Seehofer wollte damit regeln, wie viele Unterhosen Sozialhilfeempfänger besitzen dürfen, um einen Wäschezuschuss zum Kauf von neuer Unterwäsche bewilligt zu bekommen – ob sie also wirklich als unterwäschebedürftig einzustufen sind. „Jedes Verteilungssystem, welches Personen voraussetzt, die als arm definiert sind, tendiert dazu, Einfluss auf die Selbstachtung und Fremdeinschätzung der abhängigen Person zu nehmen“, argumentiert Amartya Sen, Armutsforscher und Nobelpreisträger für Ökonomie. Wenn das Maß der Bedürftigkeit beherrschend ist, verwandelt es Bürger mit sozialen Rechten in bittstellende Untertanen. Soziale Maßnahmen, die nur auf die Armen zielen, neigen dazu, armselige Maßnahmen zu werden: Poor services for poor people. In der Bedürftigkeitsfalle verlieren Sozialprogramme schnell Qualität und Respekt. Bedürftigkeit bildet den Bogen und gibt ihm die Spannkraft, ihr Pfeil aber ist die „Treffsicherheit“. „Targeting“: Das ist der operative Arm der Bedürftigkeit. „Der Vergleich mit einer Zielscheibe sieht den Leistungsbezieher in keiner Weise als aktive Person, die für sich selbst sorgt, handelt und tätig ist“, so Amartya Sen weiter. „Das Bild verweist eher auf einen Almosenempfänger.“ Mindestens doppelt so viele Personen haben Anspruch auf Sozialhilfe, wie tatsächlich Sozialhilfe beantragen. Anders gesagt: Nur die Hälfte der Berechtigten beantragt Sozialhilfe. Zu diesem Ergebnis kommen in Österreich alle Studien zum unteren sozialen Netz. Die Nichtinanspruchnahme ist enorm. Mehr als 100 Prozent Nichtinanspruchnahme, bezogen auf die aktuellen Sozialhilfebezieher, errechnet die Armutsstudie in Salzburg und Tirol. Stark ist diese Unterversorgung zum Beispiel im Lungau, wo nur 0,2 Prozent der Bevölkerung Hilfe beantragt. Diese gravierenden Unterschiede zwischen Notlage und Inanspruchnahme von Hilfe lassen sich nicht mit Ermessensspielräumen der Behörde oder mit nicht gut ausgebildeten Sozialreferenten erklären. Die Gründe sind vielmehr Scham, Schikanen auf dem Sozialamt, mangelnde Rechtssicherheit und die Angst vor der Armutsverfestigung. 218

Armut in Österreich – die halbierte Freiheit

Die Betroffenen sind in keiner Arbeitslosenstatistik mehr zu finden, aufs Sozialamt trauen sie sich nicht aus Scham. – In der Armutsmessung gibt es den Indikator „sich nicht einmal im Monat Freunde zu sich nach Hause zum Essen einladen zu können“. Dass man es sich nicht leisten kann, Freunde ordentlich zu bewirten, ist damit auch gemeint – aber irgendetwas hat man immer im Kühlschrank. Nein, dieser Indikator ist vielmehr ein Seismograf für Scham: sein Privatestes, sein persönliches Unglück zeigen zu müssen. Adam Smith, 1776, hat das bereits in seinem „Wealth of Nation“ erkannt: Armut als „being unable to appear in public without shame“. Niemand will Verlierer sein in einer Welt der Gewinner. Sich in den Augen der anderen als „Loser“ präsentieren zu müssen, darauf haben besonders diejenigen, die von sozialem Absturz bedroht sind, keine Lust. Wenn das eigene Ansehen bedroht ist, fühlen wir Scham. Menschen, die bereits mit dem Rücken zur Wand leben, versuchen, solange es ihnen möglich ist, die Normalität nach außen aufrechtzuerhalten. Die Kinder sollen mit den anderen mit können, die Nachbarn brauchen sich nicht den Mund zu zerreißen. Es ist eine Form der Selbstachtung, ein Selbstschutz, das Gesicht vor den anderen nicht zu verlieren. Wenn die Scham weg ist, bricht der Mensch. Bei Wohnungslosen ist es ein großer Schritt, wenn sie sich wieder pflegen, duschen, auf ihr Äußeres schauen können.

Prekäre Arbeit: Freiheit auf Widerruf gewährt Werbezettel austragen für einen Hungerlohn? Selbstständig sein zum Schein, dafür einen Chef haben in echt? „Was ist da neu?“, fragt Beran, der seit 20 Jahren in Österreich von Billigjob zu Billigjob wechseln muss. Unsichere Jobs, keine Sozialversicherung, miese Bezahlung – das ist nichts Neues. Schon seit Jahren schlagen sich damit tausende herum: Frauen im Niedriglohnsektor, MigrantInnen in halboffiziellen Hilfsarbeiten am Bau und im Haushalt. Jetzt dringt Prekarität in die Mitte vor. Solange sie am Rand blieb, war sie eine Frage für Minderheiten, treffen Abstieg und verwehrter Einstieg auch die Mittelschichten, wird sichtbar, was bisher im Dunkeln war. Frau Amann hat bei einer Personalleasingfirma einen Job als Hilfsarbeiterin gefunden. Sie arbeitet im Schichtbetrieb in einer Lebensmittelfirma und verdient 600 o netto. Um 4 Uhr holt sie ein Firmenbus ab. Frau L. ist gezwungen, zum Treffpunkt in der Nacht bei jedem Wetter und jeder Jahreszeit mit dem Moped durch die halbe Stadt zu fahren, da um diese Zeit noch keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren. Ihre Kinder müssen dann allein aufstehen und in die Schule gehen. Aufgrund dieser 219

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Rahmenbedingungen hatte sie große Bedenken, den Job anzunehmen, andererseits würde ihr so eine Sperre der Notstandshilfe für 6 Wochen drohen, sollte sie den Job nicht annehmen. Arbeit schützt vor Armut nicht. Jetzt schon leben 253.000 Menschen in Österreich in Haushalten, in denen der Verdienst trotz Erwerbsarbeit nicht reicht, um die eigene Existenz – und die der Kinder – zu sichern. Davon sind 91.000 manifest arm, d. h. die Betroffenen weisen einen schlechten Gesundheitszustand auf, leben in feuchten, schimmligen Wohnungen, etc. Von den prekär Beschäftigten mit „befristetem Vertrag“ sind 11 Prozent armutsgefährdet, von den „unregelmäßig Beschäftigten“ 17 Prozent, von den Personen mit „Teilzeit weniger als 12 Stunden“ 20 Prozent und von Menschen mit „35h Wochenarbeitsstunden für weniger als 1.000 Euro Brutto“ sind 23 Prozent armutsgefährdet. Die Richtsatzergänzungen in der Sozialhilfe, das sind jene Leistungen, die auch bei zu geringem Erwerbseinkommen ausbezahlt werden, haben in den letzten Jahren rasant zugenommen. Frauen sind davon stärker betroffen. Um Kinder gut zu betreuen ist Vollzeitarbeit oft gar nicht möglich. Oder ein buntes Netz an Kinderbetreuungseinrichtungen nicht verfügbar. Für die einen bedeuten prekäre Jobs eine Vergrößerung ihres persönlichen Handlungsspielraums, für andere eine unfreiwillige Beschränkung. Studien besagen, dass 43 Prozent der geringfügig Beschäftigten in Österreich nach Alternativen in Form einer regulären Vollzeitbeschäftigung, Teilzeitbeschäftigung oder einer echten selbstständigen Tätigkeit suchen. Für 50 bis 70 Prozent sind Teilzeit, Projektarbeit, freie Dienstverträge kein Problem, für das restliche Drittel dafür ein umso größeres. Von der Werbefirma wurde Konrad Hofer nach einer kurzen Einschulung am Vortag um halb sieben Uhr in die Firma gebeten. Dort musste er bereits in der Früh beim Verladen von Werbematerialien mithelfen. Weiters war er gezwungen, um eine Kaution von 4 o ein Wagerl auszuleihen. Als „Selbstständiger“ hätte er dieses wichtige Betriebsmittel eigentlich selbst in die Arbeit mitnehmen müssen. Konrad Hofer, Sozialwissenschafter, arbeitete undercover als LKW-Fahrer, als Leiharbeiter und als Werbemittelverteiler. Seine Erfahrungen liegen in Buchform vor. Als „Ich-AG“ in der Werbefirma durfte er schließlich gegen 9 Uhr Vormittag das Lager in Richtung Verteilereinsatzgebiet selbstständig verlassen und wartete an einem vereinbarten Treffpunkt auf das Eintreffen der Werbematerialien. Als der Kleintransporter endlich kam, durfte Hofer mit dem Verteilen noch immer nicht beginnen, weil ein Werbezettel einer Möbelfirma fehlte. Erst um 11 Uhr konnte er starten. Er arbeitete schnell und ohne Pause, gegen 17 Uhr war er hungrig, durstig, fix und fertig. Hofer hatte keine Lust mehr, seine „selbstständige“ Arbeit weiter auszuführen und beschloss, 220

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sie am nächsten Tag fortzusetzen, aber das ließ sein Chef nicht zu. Die Zettel müssen noch heute an den Türen hängen, sagte er ihm, denn sonst gibt es kein Geld. Als es am nächsten Freitag zur Abrechnung kam, staunte Hofer nicht schlecht, als auf seinem Gehaltszettel bloß 15,21 o brutto aufschienen und sein Nettogewinn heiße 13,70 o betrug, weil Fahrgeld, Versicherungsspesen und Weggeld abgezogen worden waren. So werde ich Auftraggeber für mich selbst – als neuer Elendsunternehmer und Scheinselbstständiger darf ich das angebliche Abenteuer der Freiheit als wirklichen Zwang in die Unfreiheit erfahren. Die unfreiwilligen ICH-AGs haben alle Nachteile eines Unternehmers, ohne seine Vorteile genießen zu dürfen. Papperlapp, sagen dann die Berater auf den Wirtschafts- und Lebensseiten der Magazine: Sei besonders! (sonst wirst du ausgesondert). Wer am eigenen Leibe sozialen Absturz erfährt, soll nämlich das Desaster zur wertvollen Erfahrung und zur Basis künftiger Triumphe umphantasieren – oder sich eben ganz verstecken. Sozialer Absturz ist unterlassene Hilfeleistung gegenüber dir selbst! Mit unsicheren Jobs geht ein Mangel an Anerkennung und Belohnung einher. Leben am Limit kränkt. Hohe Beanspruchung bei gleichzeitig niedriger Anerkennung des Geleisteten macht verletzlich. Der belastende Alltag am finanziellen Limit bringt keine „Belohnungen“ wie besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder sozialen Aufstieg. Eher im Gegenteil, der aktuelle Status droht stets verlustig zu gehen. „Gratifikationskrise“ wird das in der Gesundheitsforschung genannt. Sie wirkt besonders bei Menschen, die in Randbelegschaften und in prekären Billigjobs arbeiten. Die Folge: besonders hohe Herz-Kreislauf Erkrankungen. Leben am Limit geht unter die Haut. Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armutsbetroffenen dreimal so häufig auf wie bei den Managern selbst. Aber nicht weil die Manager weniger Stress haben – sondern weil sie die Freiheit haben, den Stress zu unterbrechen: mit einem guten Abendessen oder einer Runde Golf. Sie können sich Erholung wählen, was die anderen nicht können. Den Unterschied macht die Freiheit. Die Freiheitsfrage liegt im Begriff „prekär“. Unsicherheit ist eine zu schwache Übersetzung. Eigentlich heißt „precarius“: durch Bitten erlangt, aus Gnade bekommen, auf Widerruf gewährt. Das beschreibt ein abhängiges und freiheitsbeschränkendes Verhältnis. Vier sozioökonomische Mythen sollen die Prekarisierung des Arbeitsmarktes unterstützen: 1. „Prekäre Jobs führen zu mehr Beschäftigung.“ Richtig aber ist: Das Beschäftigungsplus führt nicht automatisch zu einem Plus des Volu221

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mens bezahlter Arbeit, im Gegenteil, letzteres ist sogar gesunken: „In Vollzeitäquivalenten ging die Zahl der Arbeitsplätze Anfang 2000 zurück, jetzt stagniert sie“, so Ewald Walterskirchen vom WIFO. Ob die anspringende Konjunktur einen Umschwung bringt, werden wir sehen. Der Anstieg der geringfügig Beschäftigten und Teilzeitarbeit sind vor allem auch deshalb problematisch, weil sie immer mehr zu einem Dauerzustand wird, so das WIFO. Nur ein Viertel der geringfügig Beschäftigten könne nach zwei Jahren in ein Beschäftigungsverhältnis mit Sozialversicherung wechseln. Der Anteil der „Menschen ohne Ausweg aus der geringfügigen Beschäftigung“ habe sich auf 41 Prozent erhöht. Frauen haben laut Studie eine geringere Chance, aus der Geringfügigkeit herauszukommen. 2. „Wer keine Bildung hat, braucht Billigjobs.“ Der Niedriglohnsektor ist mehrheitlich nicht mit gering qualifizierten Personen besetzt: 71,6 Prozent der NiedriglohnbezieherInnen haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Oder umgekehrt: Nur ein knappes Drittel hat weder eine Berufsausbildung noch eine Matura. 3. „Die Jugend bekommt nur prekäre Jobs, weil die Alten nichts hergeben.“ Dass es sich dabei um einen Konflikt zwischen Jung und Alt handle, ist zu simpel. Die über 55-jährigen haben Riesenprobleme am Arbeitsmarkt, die Armutsstatistik weist bei den über 55-jährigen steigende Risken auf. Gleichzeitig läuft ein massiver Geldtransfer von Alt zu Jung: die Großeltern bzw. Eltern unterstützen die Jungen in der Wohnungsfinanzierung oder den Kosten bei Familiengründung. Und über Erbschaften wandert Vermögen von Alt zu Jung. Wer davon wieder nicht profitiert, sind Leute am unteren Ende der sozialen Leiter. 4. Der Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“, entspricht nur der halben Wahrheit. Sozial ist Arbeit, von der man leben kann. Gerne wird weiter an der falschen Annahme festgehalten, dass Erwerbsarbeit automatisch Armut reduziert. Es gibt Länder mit geringer Arbeitslosigkeit und hoher Armut: USA, Großbritannien. Und es gibt Länder mit geringer Arbeitslosigkeit und geringer Armut: Dänemark, Schweden. Erwerbsarbeit allein schützt vor Armut nicht. Erst die Kombination aus geringer Arbeitslosigkeit und hohem Niveau sozialer Sicherungssysteme reduziert Armut. Je höher die Investition in solidarische Sozialsysteme, desto geringer die Armut. Das erklärt, warum die USA oder Großbritannien trotz geringer Arbeitslosigkeit hohe Armut aufweisen. Ein niedriges Erwerbseinkommen schlägt sich in nichtexistenzsichernden Sozialleistungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und in der Pension nieder. Wer sein Leben lang in prekären Jobs arbeitet, wird keine existenzsichernde Pension zusammenbekommen, das Arbeitslosengeld und die 222

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Notstandshilfe sind so gering, dass man im Falle von Jobverlust davon keinen Tag überleben kann. In Österreich sind über 100.000 Menschen nicht krankenversichert, das sind fast 2 Prozent der Wohnbevölkerung, die aufgrund ihrer prekären sozialen Lage nicht wissen, was sie mit ihren geringen Mitteln zuerst zahlen sollen: Miete, Lebensmittel oder Krankenversicherung? Im Sozialstaat „rheinisch-korporatistischer“ Prägung wie in Österreich setzen sich prekäre Arbeitsverhältnisse und nicht durchgängige Erwerbsbiographien ungebrochen in den Systemen sozialer Sicherung fort. Dem stark am Versicherungsprinzip und am männlichen Ernährerhaushalt ausgerichteten Sozialstaatsmodell fehlen Mindestsicherungselemente sowie universelle Leistungen und es mangelt an Bildungschancen unabhängig von sozialer Herkunft wie auch an eigenständiger Existenzsicherung für Frauen. „Working Poor“ haben weder Freiheitsgewinn noch soziale Absicherung. Alle politischen Versprechungen messen sich an den zwei Parametern: Werden soziale Risiken im Alter, bei Krankheit oder Jobverlust abgesichert und werden Selbstbestimmungsspielräume für die Beschäftigten erweitert? „Nichts Neues“, findet mein Freund Beran. Was am Rand ausprobiert wird, kann über kurz oder lang auch in der Mitte ankommen. Minderheiten und Rechtlose bilden seit jeher das Versuchslabor für Bestimmungen, die später auch in die Mitte einbrechen. Frau Amann fährt einstweilen durch die dunkle Stadt. Die Kinder schlafen noch. Mit dem Einkommen gibt es kein Auskommen.

Mythos Abstandsgebot Musik aus. Alle rennen. Alle laufen um die Sessel in der Mitte herum, und wenn die Musik nicht mehr ertönt, versucht man, einen Sitzplatz zu ergattern. Manche können nicht mehr schnell genug laufen. Blöd ist auch, dass wieder ein Sessel weggeräumt wurde. Ausgeschieden. Die Kürzungen beim Arbeitslosengeld samt Entwendung von Versicherung, Ersparnissen und Einkünften der Kinder sei zwar schon hart, aber im gesamten sei die Reform halt notwendig. Man müsste die Streichungen nur besser verkaufen, hört man von Politik, liest man in Medien. Die soziale Ausgewogenheit solle besser „dargestellt“ anstatt hergestellt werden. Niedrigere Arbeitslosenleistungen seien eine richtige Politik bei einer falschen Wahrnehmung durch die Betroffenen. Was aber, wenn es sich bei den Einwänden um die richtige Wahrnehmung einer falschen Politik handelt? Diese Strategien beruhen ideologisch auf dem sogenannten „Abstandsgebot“ mit angeschlossenem „Armutsfallen-Theorem“. Es sagt: „Der Un223

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terschied zwischen Erwerbsarbeit und Sozialleistungen ist zu gering, deshalb nehmen die Betroffen keine Arbeit an. Und weil sie dann so lange in Sozialhilfe sind, werden sie träge und verelenden.“ Diese Theorie müsste dann stimmen, wenn ein großer Teil der Betroffenen dauerhaft in Sozialhilfe lebte. Die Forschung hat diese Annahme seit Jahren widerlegt, was ihrer mythischen Wiederholung aber keinen Abbruch tut. Eine Mischung aus „gesundem Vorurteil“ und neoklassischer Modelltheorie hat sich zu einer stabilen Seinsgewissheit verbunden, die sozialempirische Daten als Modellstörung empfindet. Lasst uns mit der Realität in Ruhe! Das „Abstandsgebot“ ist wie das Ungeheuer von Loch Ness. Fast alle haben es schon gesehen, obwohl … Die Verweilzeit in der Sozialhilfe ist kurz. In Österreich betragen die langfristigen Unterstützungsleistungen nur 2,2 Prozent an allen Sozialhilfeleistungen. Der überwiegende Anteil, 60 Prozent, bezieht kurzfristige Aushilfen. Der Abstand zwischen dem aus Erwerbsarbeit erzielbaren Einkommen und dem Sozialhilfeanspruch ist bei Alleinverdienern ohne Kinder am größten (Verhältnis zwei zu eins), bei Familien mit einem Alleinverdiener und mehreren Kindern geht er gegen null. In der Logik des Abstandsgebots muss angenommen werden, dass der Sozialhilfebezug bei Alleinstehenden am kürzesten, bei Alleinverdienern mit mehreren Kindern am längsten in Anspruch genommen wird, denn Erstere verbessern ihre Einkommenssituation durch Arbeitsaufnahme stark, Letztere dagegen kaum oder gar nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Verweildauer in der Sozialhilfe ist bei Alleinverdienern mit mehreren Kindern am kürzesten. Die Betroffenen sehen sich nicht als Opfer, sondern versuchen ihr Leben zu gestalten. Sie sind klüger als die Abstandstheoretiker und handeln komplex, wie es sich Letztere offensichtlich nicht vorstellen können. Menschen sind eben keine Ratten, die in Boxen zwischen Belohnungsund Bestrafungsreizen herumwetzen. Die Vorstellung eines Arbeitsmarktes als Reiz-Reaktions-Schachtel, in der Individuen am Kosten-NutzenKalkül ihre vernunftbegabten Entscheidungen zum Wohl aller treffen, ist zwar ideologisch mächtig, empirisch aber beschränkt. Das Arbeitslosenversicherungssystem erklärt eben nur einen Bruchteil der Arbeitslosigkeit, während andere Faktoren wie Bildungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik eine wichtigere Rolle spielen. Seit Sigmund Freud wissen wir, dass die Lösung eines Problems nicht dort zu finden sein muss, wo das Problem sichtbar wird. Die Höhe des Arbeitslosengeldes steht in keinem direkten Zusammenhang mit der Höhe der Arbeitslosigkeit. Wäre das so, müsste in den 224

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Ländern mit dem niedrigsten Arbeitslosengeld auch die niedrigste Arbeitslosigkeit sein. Das trifft nicht zu. In Polen, mit dem niedrigsten Arbeitslosengeld, herrscht hohe Arbeitslosigkeit. In Dänemark oder Schweden, mit dem höchsten Arbeitslosengeld, gibt es niedrige Arbeitslosigkeit. Dänemark zeigt auch, dass eine ausreichende Existenzsicherung nicht den Anreiz für Erwerbsarbeit mindert: Bei einer hohen Nettoersatzrate von 90 Prozent ist die Verweildauer in Arbeitslosigkeit geringer als in Österreich mit einer niedrigen Nettoersatzrate von 55 Prozent. Wenn beim Sesseltanz die Musik aufhört und die Hälfte der Leute keinen Platz findet, hilft es nichts, wenn man die Musik schneller spielt.

Lieber reich und g’sund als arm und krank Zahlen über die Sterblichkeit in Österreich zeigen uns auf die Spitze getrieben die Ungleichheit vor dem Tod: Wer geringes Einkommen und geringe Bildung hat, stirbt durchschnittlich früher als diejenigen mit höherem Einkommen und höherer Bildung. Soziale Ungleichheit verkürzt das Leben. Menschen mit geringerem sozialen Status haben aber nicht nur eine geringere Lebenserwartung, sie haben im Alter auch weniger von Behinderung freie Jahre in Gesundheit zu erwarten. Männer und Frauen „unten“ sind im Durchschnitt 2,2 bzw. 2,8 Jahre gesundheitlich so sehr eingeschränkt, dass sie in ihren lebensnotwendigen Tätigkeiten auf fremde Hilfe angewiesen sind, wohingegen Männer und Frauen „oben“ im Durchschnitt nur 0,8 bzw. 1,3 Jahre pflegebedürftig sind.1 Eine Studie, die am Institut für Sozialpolitik der Universität Linz2 verfasst wurde, untersuchte die Lebens- und Gesundheitsumstände von PensionistInnen. Die Ergebnisse: 1. Je geringer das Einkommen, desto häufiger die Krankheiten. Während im untersten Einkommensbereich (unter 730 o) die Gesunden nur einen geringen Anteil von 58 Prozent ausmachen, steigt die Rate der Gesunden mit dem Ausmaß der Pensionshöhe an und beträgt in der obersten Einkommensschicht (über 1.451 o) bereits 74 Prozent. Der höchste Anteil der Kranken befindet sich bei den „Ärmeren“ (6 Prozent), der geringste bei den „Reicheren“ (1 Prozent).

1

2

Gabriele Doblhammer/Josef Kytir: Social inequalities in disability-free and healthy life expectancy in Austria. In: Wiener Klinische Wochenzeitschrift 110/11 (1998). Monika Wukounig: PensionsbezieherInnen und Umgang mit Krankheit. Linz 2003.

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2. Obwohl die PensionistInnen mit dem untersten Einkommen am meisten krank sind, nehmen sie am geringsten Gesundheitsdienste in Anspruch. Die Inanspruchnahme von Ambulanz, Vertragsärzten, Heilbehelfen, Zahnbehandlung ist bei den „Ärmeren“ im Vergleich zu höheren Einkommen am geringsten. 3. Ärmere sind am wenigsten selbstbewusst, um Unterstützung zu bitten, obwohl sie am stärksten von Krankheit betroffenen sind. Die untersten EinkommensbezieherInnen zeigen das geringste Selbstbewusstsein bei der Frage nach „Anspruch auf Hilfe“. Die empirischen Daten scheinen die Volksweisheit zu bestätigen: „Lieber reich und g’sund als arm und krank“. Reichtum macht nicht glücklich, ist der automatische Einwand an dieser Stelle. Ja, sicher, aber das ist nicht die Kategorie, die hier gemessen wird. Die krankheitsvermeidende und lebensverlängernde Wirkung ist empirisch klar nachgewiesen. Besonders ausgeprägt sind die gesundheitlichen Ungleichheiten bei Erkrankungen der Atemwege, des Verdauungssystems und des HerzKreislaufsystems. In Österreich erkranken 5,1 Prozent der Männer in den untersten 15 Prozent der Haushaltseinkommen (weniger als 726 o) an Asthma, aber nur 0,8 im obersten (mehr als 1.890 o). Bei den Frauen 3,5 Prozent zu 1,8 Prozent. Magengeschwür bzw. Gastritis tritt bei 10,2 Prozent der Männer „unten“, aber nur bei 5,2 Prozent „oben“ auf; bei den Frauen beträgt das Erkrankungsrisiko 9,5 Prozent zu 0,9 Prozent.3 So konnte in allen Industrieländern festgestellt werden, dass mit fallendem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung die Krankheiten ansteigen, dass in nahezu allen Gesellschaften die untersten Sozialschichten die häufigsten und die schwersten Erkrankungen haben und dass mit dem Abfall der Einkommen die Lebenserwartung deutlich sinkt. Es lässt sich eine soziale Stufenleiter nachweisen, ein sozialer Gradient, der mit jeder vorrückenden Einkommensstufe die Gesundheit und das Sterbedatum anhebt. Gesellschaften mit größeren Ungleichheiten in Einkommen, Arbeit und Wohnen weisen einen schlechteren gesundheitlichen Gesamtzustand auf als solche mit ausgewogener Verteilung von Einkommen und Lebenschancen. Sobald ein bestimmter Grad an Wohlstand erreicht ist, dürfte die relative Höhe des Einkommens ausschlaggebend für die gesundheitliche Situation sein. In den ärmeren Teilen der Erde ist mit höherer Wirtschaftsleistung pro Kopf eine höhere Lebenserwartung verbunden. In den reichen Ländern ist ein derartiger Zusammenhang nicht mehr nachweisbar. Es konnte aber 3

Wolfgang Freidl/Willibald-Julius Stronegger/Christine Neuhold: Gesundheit in Wien. Wiener Gesundheits- und Sozialsurvey. Wien 2001.

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eine erstaunlich gute positive Korrelation (r= 0,83) zwischen Lebenserwartung und dem Anteil am Volkseinkommen, welchen die ärmeren Haushalte beziehen, nachgewiesen werden.4 Die Ausgewogenheit der Einkommensverhältnisse wurde als jener Faktor identifiziert, der am stärksten die höhere Erkrankung Ärmerer erklärt. Der Anstieg der Lebenserwartung in einem Zeitraum fiel umso größer aus, je größer der relative Zuwachs an Einkommen der ärmeren Haushalte war. „Unter den modernen Industriegesellschaften sind nicht die reichsten Gesellschaften die gesündesten, sondern diejenigen mit den geringsten Einkommensunterschieden zwischen Arm und Reich.“5 Die Verschärfung sozialer Unterschiede hat konkrete lebensweltliche Auswirkungen. So wird durch die Abkehr von der solidarischen Pensionsvorsorge die Anzahl von MindestpensionistInnen steigen. Sie werden kein Geld haben, ihre Pflege zu finanzieren, da das Pflegegeld die notwendigen Leistungen in den meisten Fällen nicht abdeckt. Die Erhöhung der sozialen Ungleichheit in den Pensionen lässt das Krankheitsrisiko im Alter anwachsen. Die steigende Zahl der MindestpensionistInnen wird öfter krank und länger pflegebedürftig sein als Ältere mit hohen Pensionen, aber gleichzeitig weniger Geld zur Bezahlung sozialer Dienstleistungen zur Verfügung haben.

Arme Kinder von heute sind die chronisch Kranken von morgen Bei Neunjährigen aus armen Familien sind durchschnittlich fünf Zähne gefault.6 Je stärker die soziale Spaltung in einer Gesellschaft wird, desto stärker kann man den sozialen Status einer Person am Zustand der Zähne ablesen. Bei Kindern von Erwerbslosen und SozialhilfeempfängerInnen treten überproportional asthmatische Erscheinungen und Kopfschmerzen auf. Die Atemwegserkrankungen rühren oft von feuchten Wohnungen her. Teilt man die Gesellschaft in drei soziale Schichten, treten bei Kindern in der unteren Schicht mehr Kopfschmerzen, Nervosität, Schlafstörungen und Einsamkeit auf.7 4

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6

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Richard Wilkinson: Income distribution and life expectancy. In: British Medical Journal, 304 (1992), S. 165-168. Richard Wilkinson: Kranke Gesellschaften. Soziales Gleichgewicht und Gesundheit. Wien 2001, S. 19. Johann Siegrist: Soziale Ungleichheit von Gesundheitschancen, Folgerungen für die Praxis aus der Public Health Forschung. In: Gesundheitswesen 60 (1998), S. 614-617. Andreas Klocke/Klaus Hurrelmann: Armut und Gesundheit. Inwieweit sind Kinder und Jugendliche betroffen? In: Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften, 2. Beiheft, 1995, S. 138-151.

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Weiters gibt es einen sozialen Gradienten der Körpergröße. Je höher die soziale Position einer Gruppe ist, desto größer ist ihre durchschnittliche Körpergröße. Bei einer Stichprobe in der Steiermark konnte der Gesundheitswissenschafter Willibald-Julius Stronegger dieses Größengefälle mit abnehmender Bildung bestätigen.8 Die Unterschiede sind in den sozialen Benachteilungen der Kindheit begründet. Diese Kinder tragen die soziale Benachteiligung als gesundheitliche Benachteiligung ein Leben lang mit sich. Sie sind auch als Erwachsene deutlich kränker als der Rest der Bevölkerung. Arme Kinder von heute sind die chronisch Kranken von morgen. Ein Beispiel aus den Sozialberatungsstellen: Kinder werden in die Schule geschickt, auch wenn sie krank sind. Viele Alleinerzieherinnen fürchten Arbeitsplatzverlust bei häufigem Fehlen bzw. Pflegeurlaub. Die „soziale Vererbung“ von Benachteiligungen ist in Österreich relativ hoch. Kinder von Eltern am Rand müssen auch als Erwachsene eher am Rand leben. Das weist auf mangelnde Aufstiegschancen und Aufstiegsleitern hin.

Sozialer Ausgleich ist eine gute Medizin In der Gesundheitspolitik und Prävention muss mehr Augenmerk auf die sozialen Lebensbedingungen gelegt werden. Wer in Kauf nimmt, dass immer mehr Menschen in die Sozialhilfe abrutschen, gefährdet die Gesundheit. Jetzt leben bereits 30.000 Kinder und Jugendliche unter Sozialhilfebedingungen. Tendenz steigend. Eine Politik, die die Bedingungen im unteren sozialen Netz verschlechtert, die Polarisierung der Einkommen fördert, die Arbeitslosigkeit hinnimmt, schlechte Wohnverhältnisse für Einkommensschwache zulässt, vorschulische Bildung für Benachteiligte erschwert, die steigende Zahl von „working poor“ in Kauf nimmt, produziert Krankheit. Wie ist das zu erklären? Es sind vier Faktoren, die zu den gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen Einkommensschichten führen: 1. die Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen, 2. die Unterschiede in den Bewältigungsressourcen und Erholungsmöglichkeiten, 3. die Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung und 4. die Unterschiede im Gesundheits- und Krankheitshandeln.

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Willibald-Julius Stronegger u. a.: Soziale Lage und Gesundheit. Von den Beziehungen zwischen Armut und Krankheit. In: Psychologie in der Medizin, 7 (1996), Nr. 2, 1996, S. 28-34.

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Soziale und gesundheitliche Ungleichheit: Erklärungsmodell Soziale Ungleichheit (Unterschiede in Wissen, Macht, Geld und Prestige) Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen

Unterschiede in den Bewältungungsressourcen, Erholungsmöglichkeiten

Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung

Unterschiede im Gesundheits- und Krankheitsverhalten

Gesundheitliche Ungleichheit (Unterschiede in Mortalität und Morbidität) (Mielck 2000, S. 173)

Das eine bedingt das andere. Stress durch finanziellen Druck und schlechte Wohnverhältnissen gehen Hand in Hand mit einem geschwächten Krisenmanagement, verbinden sich mit mangelnder Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und einem ungesunden Lebensstil. Das hohe Erkrankungsrisiko unterer Einkommen ist vermeidbar. Wenn an den vier Faktoren angesetzt wird: 1. Die Gesundheitsdienste müssen den Zugang, die Inanspruchnahme und die Qualität unabhängig von Einkommen und Herkunft gewährleisten. 2. Die Ärmeren müssen in ihren Selbsthilfepotenzialen und Ressourcen gestärkt werden, was 3. auch Auswirkungen auf einen gesünderen Lebensstil hat. 4. Und sozialer Polarisierung können wir entgegentreten. Die Daten sprechen für sich: Sozialer Ausgleich ist eine gute Medizin. Gleicher Zugang zur Krankenversorgung hat aber keinen Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten zur Folge, wenn gleichzeitig die Kluft zwischen arm und reich steigt. „Erreichbarkeit und Qualität der medizinischen Versorgung erklären lediglich ca. 10 Prozent bis 30 Prozent der in den Bevölkerungen reicher Länder kontinuierlich festzustellenden Verbesserungen des Gesundheitszustands und der Lebenserwartung“, analysiert der Gesundheitsforscher Rolf Rosenbrock.9 9

Rolf Rosenbrock: Sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen – eine gesundheitliche Herausforderung, Manuskript. Berlin 2001, S. 1.

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Die Weltgesundheitsorganisation WHO stellt lapidar fest: „Auch wenn die medizinische Versorgung bei einigen schweren Erkrankungen zu verlängerter Lebenserwartung und besserem Krankheitsverlauf führen kann, so sind die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, die die Menschen krank und hilfsbedürftig machen, für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung weitaus wichtiger.“ Und Nachsatz: „Allgemeiner Zugang zu medizinischer Versorgung ist allerdings selbst eine der sozialen Determinanten von Gesundheit.“10

Möglichkeitsraum: Soziale Unterstützung, Situationskontrolle, Anerkennung Je ungleicher Gesellschaften sind, desto defizitärer sind die psychosozialen Gesundheitsressourcen. „Es gibt weniger Inklusion, das heißt häufiger das Gefühl ausgeschlossen zu sein. Es gibt weniger Partizipation, also häufiger das Gefühl, nicht eingreifen zu können. Es gibt weniger Reziprozität, also häufiger das Gefühl, sich nicht auf Gegenseitigkeit verlassen zu können.“11 Leben am Limit macht Stress. An sich ist Stress nichts Schlechtes, er gehört sogar zum täglichen Leben. Stress ist nichts weiter als der Versuch des Körpers, sich in anstrengenden Zeiten an die Situation anzupassen. Wenn aber Entspannung über einen längeren Zeitraum hinweg ausbleibt, wird es gesundheitlich belastend. Dauerhafter Stress kann zu hohem Blutdruck, Gefäßerkrankungen, Infarktrisiko und generell zu eine Schwächung des Immunsystems führen. Dazu kommt die Scham, die eigene Armutssituation zu zeigen. Deshalb wird Hilfe auch erst so spät in Anspruch genommen. „Ich schaffe das allein, auch wenn es nicht mehr geht.“ Die Dauerüberanspruchung der eigenen Ressourcen macht Menschen verletzlicher, schwächt die Widerstandsfähigkeit, macht anfälliger für Krankheiten. So schwinden sowohl die persönlichen Ressourcen als auch die sozialen. Die Vulnerabilität, die Verletzbarkeit ist höher. Dazu kommt, dass auch das Nichteintreten erwarteter Ereignisse, wie erhoffte Entlastung, zugesagter Job oder finanzieller Zuspruch, massiv belastend wirkt und Stress chronifiziert. Chronische Distresserfahrungen gehen unter die Haut. Sie entfalten ihre Wirkung stets über „Prozesse der Blockierung von Handlungschancen (damit der Möglichkeit von Selbstwirksamkeitserfahrungen), des Vorenthaltens

10

11

Weltgesundheitsorganisation Europa (Hg.): Soziale Determinanten von Gesundheit. Die Fakten. Kopenhagen 22004, S. 7. Rosenbrock: Ungleichheit (wie Anm. 9), S. 39.

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angemessener Belohnungen (damit der Möglichkeit von Selbstbewertungserfahrungen), des Entzugs sozialer Positionen und des Ausschlusses von signifikanten gesellschaftlichen Gruppen (damit der Möglichkeit von Selbsteinbindungserfahrungen).“12 – Mit zunehmendem sozialen Abstieg schwinden die sozialen Netze, Freunde verabschieden sich, soziale Unterstützung wird geringer. Alle Studien weisen darauf hin, dass Menschen am Rand der Gesellschaft sich tendenziell aus allen öffentlichen und politischen Zusammenhängen zurückziehen. Armut isoliert. 48 Prozent der Armen in Österreich verzichten auf Einladungen zu sich nach Hause, aber nur 7 Prozent der nichtarmen Bevölkerung. Nur 27 Prozent von Armut Betroffener sind Mitglieder in irgendwelchen Vereinen, aber 44 Prozent der Restbevölkerung, sagt uns der Sozialbericht des Sozialministeriums. In den unteren Einkommensschichten, dort wo jeder Schilling, der verdient wird, für das Überleben ausgegeben werden muss, dort ist man mit dem Alltag beschäftigt. Da bleibt keine Zeit für politisches Engagement, fürs Zeitungslesen, für Vereine. Kinder müssen gut versorgt werden – auch mit wenig Geld. In verarmten Wohnmilieus ist ein völliger Ausfall der Nachbarschaftshilfe festzustellen bei gleichzeitiger Distanzierung und Abgrenzung von den übrigen HausbewohnerInnen. Wenn es Anknüpfungspunkte für Kontakte gibt, dann sind das Kinder oder gemeinsame ökonomische Entwicklungen wie Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfestatus. Gleichzeitig erfahren die von Armut Betroffenen eine Distanzierung früherer Freunde und distanzieren sich wiederum selbst von Milieus, denen sie nicht angehören wollen, aber es in Wirklichkeit schon längst tun. – Ebenfalls schwächend auf die Widerstandsfähigkeit wirkt sich die Unkontrollierbarkeit der eigenen Lebenssituation aus. Kann man selber noch irgendetwas ausrichten, hat Handeln einen Sinn? Die Erfahrung schwindender Selbstwirksamkeit des eigenen Tuns macht krank. Ein intaktes „Kohärenz-Gefühl“13 ist eine wichtige Gesundheits-Ressource: Eine „globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein … Gefühl des Vertrauens hat, dass … die Anforderungen … im Lauf des Lebens … vorhersagbar und erklärbar sind, … und dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investition und Engagement verdienen“.14

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Johann Siegrist: Soziale Krisen und Gesundheit. Göttingen 1996, S. 94. Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen 1997. Ebenda: S. 36.

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– Mit niedrigem sozialem Status geht ein Mangel an Anerkennung und Belohnung einher. Das gemeinsame Auftreten von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung macht krank. Der belastende Alltag am finanziellen Limit bringt keine „Belohnungen“ wie besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder sozialen Aufstieg. Eher im Gegenteil, der aktuelle Status droht stets verlustig zu gehen. Wie bereits erwähnt, wirkt diese Distresserfahrung, die in einer solchen „Gratifkationskrise“15 entsteht, besonders bei Menschen, die trotz Erwerbsarbeit arm (working poor) sind, die in den Randbelegschaften und in prekären Billigjobs arbeiten. Die Folge: besonders hohe HerzKreislauf-Erkrankungen.

Grundrechte für alle statt Almosen für wenige Die Zahl der Hilfesuchenden in der Sozialhilfe ist um 11 Prozent angestiegen: von 102.920 auf 114.216. Der Anstieg ist in allen Bundesländern zu verzeichnen: plus 10,8 Prozent in Kärnten, plus 26,3 Prozent in Niederösterreich, plus 21,6 Prozent in Oberösterreich, plus 7 Prozent in Salzburg, plus 19,8 Prozent in der Steiermark, plus 32,6 Prozent in Tirol, plus 7,7 Prozent in Wien. 31.176 davon sind Kinder und Jugendliche. Mehr Frauen als Männer sind betroffen. Diese Zahlen wurden von der Statistik Austria veröffentlicht und beziehen sich auf Ende 2004. So lange dauert das jedes Mal, weil die Sozialämter der Bundesländer schlampige Daten schicken, besonders was die sozioökonomischen, demographischen und familiären Aspekte betrifft. Daraus kann man aber nicht den bequemen Schluss ziehen, überhaupt nichts über die Entwicklung der Sozialhilfe sagen zu können. Die „Trends“ sind klar: es werden mehr Hilfesuchende, in allen Bundesländern, ein Drittel betrifft Kinder, mehr Frauen als Männer. Meinen Recherchen nach hat sich die Anzahl Hilfesuchender mit Sozialhilfe in fast jedem Bundesland bis Sommer 2006 weiter erhöht. Die Gründe des Anstiegs sind vielschichtig: – Es nehmen prekäre Jobs zu, mit daraus folgendem nicht-existenzsichernden Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe. Die neuen „working poor“ erhalten von der Sozialhilfe sogenannte Richtsatzergänzungen um zu überleben. – Weiters treffen die steigenden Lebenserhaltungskosten bei Wohnen und Energie Menschen mit geringem Einkommen überproportional stark. 15

Siegrist (wie Anm. 12).

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Armut in Österreich – die halbierte Freiheit

Wohnen und Energie sind neben Ernährung die zentralen Ausgabenposten in Armutshaushalten. – Personen mit physischen oder psychischem Beeinträchtigungen haben am Arbeitsmarkt schlechte Chancen und werden an den Rand gedrängt. Besonders depressive Erschöpfungszustände nehmen zu. – Sowohl junge Leute, die es am Lehrstellenmarkt nicht schaffen, wie auch „über 50-Jährige“ haben größerer Probleme als früher. – In den Sozialhilfestellen großer Städte gibt es eine höhere Inanspruchnahme. Viele Hilfesuchende im ländlichen Raum nehmen aus Scham die Leistung nicht in Anspruch. Da sind Millionenstädte wie Wien anonymer. Dafür gibt es in Wien oft monatelange Wartezeiten, was für Hilfe bei akuten Problemen nicht gerade sinnvoll ist.

Keine halben Lösungen für ganze Probleme Rechnet man die SozialhilfebezieherInnen in Alten- und Pflegeheimen dazu, das sind 56.233 (ein Plus von 6,4 Prozent zum Vorjahr), käme man insgesamt auf 170.500 Menschen, die ihren Lebensunterhalt bzw. ihre Pflege nicht mehr selbst bestreiten können. Das zeigt, dass die Sozialhilfe nicht die Pflegekosten der Zukunft von Menschen mit geringem Einkommen tragen kann. Pflege gehört zu den großen „Lebensrisken“ wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Die Kosten dafür müssen daher auch solidarisch finanziert werden. Sonst haben wir die gute Pflege für Reiche und die schlechte für Arme. Die Sozialhilfe ist für Notlagen, nicht für strukturelle Arbeitslosigkeit, „working poor“, Altersarmut oder Pflege geschaffen worden: Sie wurde eigentlich nur als Instrument zur Überbrückung außergewöhnlicher Notlagen konstruiert. Von daher ist sie gar nicht geeignet, regelmäßig wiederkehrende und massenhaft auftretende soziale Risikolagen wie Arbeitslosigkeit, Billigjobs, Altersarmut oder Pflege aufzufangen. Deshalb: Keine halben Lösungen für ganze Probleme. Die Sozialhilfe kann das alles nicht. Besser präventiv verhindern, dass Leute in Sozialhilfe fallen, solidarische Finanzierung der Kosten der „großen“ Lebensrisken, und für das untere Netz eine existenzsichernde, nicht beschämende, grundrechtsorientierte Mindestsicherung. An den Problemen der Sozialhilfe kann man – wie ein Negativ – ablesen, was das untere soziale Netz können muss: – Falsche Anreizstrukturen in der Finanzierung: die finanziell ärmsten Gemeinden haben die höchsten Kosten, weil sie am meisten Arme haben. Ein Finanzausgleich zwischen ärmeren und reicheren Gemeinden ist nicht in allen Bundesländern berücksichtigt, dies wäre für eine gerechtere Finanzierungsbasis notwendig. 233

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– Mangelnde Rechtssicherheit: Es gibt weder klare Rechtsansprüche auf eine bestimmte Leistungsart noch in allen Fällen bzw. in allen Bundesländern grundsätzlich einen Bescheid. Gnadenrecht und Almosen statt moderner Orientierung an sozialen Grundrechten. – Undurchsichtige Richtsatzhöhen: Wissenschaftlich fundierte Festlegung der Höhe von Richtsätzen, etwa ein Warenkorb, fehlt. Bedürftigkeitsgrenzen basieren auf mehr oder weniger willkürlichen Annahmen. Hilfesuchende sind je nach Bundesland unterschiedlich viel „wert“: Differenzen bis 132 Euro. – Armutsfalle Regress: Rückforderung der Sozialhilfe bei Aufnahme von Arbeit ist ein falscher Anreiz. – Mangelnde Krankenversicherung: Zehntausende bekommen eine Behandlung über „Krankenhilfe“, was z. B. den Erhalt der E-Card ausschließt. Zugang zu medizinischen Leistungen sollte für alle vereinfacht werden; besonders für Einkommensschwache, deren Krankheitsrisiko doppelt so hoch, die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten aber niedriger ist als in der Durchschnittsbevölkerung. – Beschämende Bedarfsprüfungen und hohe Nichtinanspruchnahme: Besonders in den ländlichen Regionen gibt es eine hohe Nichtinanspruchnahme aus Scham. Viele suchen zu spät Hilfestellen auf. – Keine Anrechnung von Pensionszeiten Vielmehr braucht es eine Orientierung an sozialen Grundrechten, die für alle gelten und Existenzsicherung garantieren. Das Netz „nach unten“ muss den Charakter des Gnadenrechts völlig ablegen und zu einer bürgerfreundlichen, transparenten und mit Rechtsansprüchen versehenen Sozialleistung werden. Grundrechte für alle statt Almosen für wenige. Denn für ein modernes soziales Netz muss gelten: von der Unsicherheit zur Rechtssicherheit, vom Armenwesen zur Armutsvermeidung. Eine Armut bekämpfende und Armut vermeidende Wirkung materieller Existenzsicherung ist gegeben, wenn sich ihre Ausgestaltung an folgenden Kriterien orientiert: – Existenzsichernde Höhe – Individueller Anspruch – Rechtssicherheit durch Bescheid – Versicherungsschutz

Sieben Wege der Armutsbekämpfung Mindestsicherung ist aber nur ein Element der Armutsbekämpfung. Die Armutsforschung hat für die reichen Länder sieben Wege der Armutsbekämpfung empirisch aufgezeigt: 234

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1. Die Höhe und Verteilungswirkung der Sozialschutzausgaben 2. Ein Bildungssystem, das soziale Aufstiegschancen unabhängig von sozialer Herkunft gewährleistet 3. Ein progressives Steuersystem 4. Die Anzahl einkommens- und existenzsichernder Jobs 5. Die Höhe der Frauenerwerbsquote und Vereinbarkeit für Eltern von Beruf und Familie 6. Die Möglichkeiten der Weiterqualifizierung am Arbeitsmarkt für benachteiligte Personengruppen 7. Die Höhe der Mindestsicherungselemente im Sozialsystem Genau jene Länder, die in den sieben Punkten die besten Ergebnisse erzielen, haben die geringsten Armutsraten in Europa: Dänemark, Finnland, Schweden, Niederlande – dahinter auch Österreich. Wer von Armutsbekämpfung spricht, muss sein Sozialsystem auf den Prüfstand dieser sieben Indikatoren stellen. Wer verkürzt und nicht ganzheitlich denkt, pickt sich einen oder zwei Punkte heraus und vergisst auf die anderen. Besonders die Bedeutung der Sozialschutzausgaben und des Steuersystems wird gerne übergangen. Für die Reduzierung der Armut braucht es einen ganzheitlichen Approach, einen integrierten Ansatz, die Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken. So vermeiden zum Beispiel die höchsten Familiengelder allein Armut nicht, sonst müsste Österreich die geringste Kinderarmut haben; die hat aber Dänemark – mit einer besseren sozialen Durchlässigkeit des Bildungssystems, einem bunteren Netz von Kinderbetreuung wie auch vorschulischer Förderung und höheren Erwerbsmöglichkeiten für Frauen. „Arbeit schaffen“ allein vermeidet Armut offensichtlich nicht, sonst dürfte es keine „working poor“ in Österreich geben. Eine Familie muss von ihrer Arbeit auch leben können. Anti-Raucherkampagnen allein vermeiden das hohe Erkrankungsrisiko Ärmerer offensichtlich nicht, sonst würden arme Raucher nicht früher sterben als reiche Raucher. Es geht um eine doppelte Perspektive: Grundsicherung nach unten, damit niemand im dunklen Keller verschwindet. Und Integration nach oben, damit niemand im untersten Stockwerk eingeschlossen bleibt. Unser Haus braucht Fangnetze vor dem dunklen Keller – als Antwort auf Armut. Das ist Armutsbekämpfung. Das ist Existenzsicherung. Und es braucht offene Stiegenhäuser und funktionierende Aufzüge – als Antwort auf soziale Ausgrenzung. Das ist Armutsvermeidung. Das ist soziale Integration. Wenn unsere Gesellschaft ein solches Haus ist, dann können wir nicht hinnehmen, dass immer mehr Menschen im dunklen Keller verschwin235

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den. Und das Ziel kann nicht sein, den nassen Keller zu vergrößern, sondern zu verhindern, dass die Leute hineinstürzen. In unseren Beratungsstellen sehen wir: Leute mit kleinen Einkommen können sich beispielsweise keine private Pensionsversicherung leisten, außer sie zahlen die Miete oder die Heizkosten nicht mehr. Wer geringes Einkommen hat, ist stärker auf die öffentliche Infrastruktur angewiesen bei Kinderbetreuung, öffentlichem Verkehr, Schule oder sozialem Wohnbau. Einer Frau im Niedriglohnsektor nützt eine Grundsicherung von 700 Euro gar nichts, wenn gleichzeitig die Miete massiv ansteigt, es keine Kinderbetreuung gibt, beim Arzt immer gezahlt werden muss, Gebühren steigen, die U-Bahn keinen Sozialtarif kennt, die Schule keine kostenlose Nachmittagsförderung für ihr Kind anbietet, die Pensionsversicherung privat gezahlt werden soll.

Solidarkultur Es ereignet sich Solidarität als personales, mitmenschliches Handeln im privaten Raum. Menschen begegnen einander von Angesicht zu Angesicht, face to face, und unterstützen einander: ein Mittagessen für die Kinder, die Pflege der Oma, einem Flüchtling Unterschlupf gewähren. Dann manifestiert sich Solidarität als Handeln in Netzen, Vereinen, Gemeinschaften: eine Erwerbsloseninitiative, Selbsthilfegruppen, die Armutskonferenz oder eine Gruppe in der Pfarrgemeinde, die sich trifft und Gemeinsames unternimmt. Und als drittes existiert Solidarität als Gesellschaftsvertrag, als anonymes Einverständnis: Hilfe bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, im Alter, … Nun ist es möglich, dass eine hohe Solidarkultur in Face-to-face-Gemeinschaften mit einer geringen Solidarität als Gesellschaft einhergehen kann: viele Initiativen und informelle Netze vor Ort, aber ein Viertel der Bevölkerung an der Armutsgrenze. Das ist das System in den USA und auch ansatzweise in England. Und es ist möglich, dass ein mit hoher gesellschaftlicher Solidarität ausgestattetes Gemeinwesen geringes solidarisches Handeln der BürgerInnen aufweist. Das wäre das Modell Wohlfahrt von oben, paternalistisch, ohne Mitbestimmung. Keine Arbeitslosenanwaltschaft, keine Mitbestimmung von Patienten im Krankenhaus, kein offenes Schulsystem, kein Wahlrecht für Migranten. Eine moderne Sozialpolitik braucht eine Solidarkultur in der Vermittlung von Gesellschaft, Gemeinschaft und Privatem. Denn solidarisches Handeln im Privaten allein heißt Familie und meint unter den aktuellen Bedingungen unbezahlte und letztendlich abhängige Versorgungsarbeit von Frauen. Solidarisches Handeln in der Gemeinschaft allein heißt Aus236

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schluss des „Randständigen“, des Dissidenten, des „Ab-Normalen“. So kamen laut einer Studie in den Tiroler Sozialsprengeln Alkoholprobleme, Migranten oder schwierige Jugendliche im bürgerschaftlichen Engagement kaum vor. Und solidarisches Handeln in der Gesellschaft allein heißt Delegation an die öffentlichen Einrichtungen und Nichtzuständigkeit allerorts. Eine entwickelte Solidarkultur macht das Funktionieren und Ineinandergreifen aller drei Bereiche aus. Gefährlich ist eine Politik, die das eine auf Kosten des anderen forcieren will. Wenn es um Solidarität geht, wird die Bedeutung des anonymen Gesellschaftsvertrags meist unterschlagen. Die Soziale Versicherung ist einer der zentralen zivilisatorischen Errungenschaften neben der Menschenrechtsdeklaration. Die solidarische Absicherung von Lebensrisken orientiert sich in ihrer Finanzierung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der BürgerInnen, und in ihren Hilfen am Bedarf unabhängig von Einkommen, Geschlecht oder Alter: nach Einkommen einzahlen, nach Bedarf herausbekommen. Dieser Aspekt von Solidarkultur funktioniert wie das Rettungsauto, dem alle ausweichen, wenn es mit Blaulicht kommt. Wir weichen nicht deshalb aus, weil wir die Person im Krankenwagen kennen und mit ihr mitleiden, sondern weil wir uns denken: „Ich könnte auch einmal da drinnen liegen.“ Gesellschaftliche Solidarität einer inklusiven Gesellschaft funktioniert anders als eine exklusive Gesellschaft. Sie definiert nicht Gruppen, für die die Solidarität gilt, und schließt andere aus, sondern sie formuliert: „Ich möchte für mich das, was allen anderen auch zustehen soll.“ Das, was mir Chancen gibt und mich in den Risken des Lebens stützt, das soll anderen im selben Maße zustehen.

Weiterführende Literatur Gerhard Bäcker/Walter Hanesch: Landessozialbericht, Bd. 7: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerhaushalte mit Niedrigeinkommen. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 1998. Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen: Bericht über die soziale Lage 2001–2002, Analysen und Ressortaktivitäten. Wien 2002. Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz: Bericht über die soziale Lage 2003–2004. Wien 2006. Nikolaus Dimmel: Sozialbedarfserhebung im Bundesland Tirol, 2003. Nikolaus Dimmel: Normgeltungsvermutungen und gradualisierte Rechtsanwendung. Am Beispiel Nichtinanspruchnahme wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. In: Vienna Working Papers in Legal Theory, Political Philosophy, and Applied Ethics, No. 20, 2002.

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Martin Schenk Europäisches Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung: Quantitative und qualitative Erfassung und Analyse der nicht-krankenversicherten Personen in Österreich. Wien 2003. Konrad Hofer: Arbeit ohne Schutz, Eine Analyse an Beispielen atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Wien 2000. Andreas Mielck: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten. Bern 2000. S. Scarpetta: Assessing the role of labour market policies and institutional settings on umemployment: a cross-country study, OECD Economic Studies, No 26, 1997. Martin Schenk: Halbierte Freiheit. Die Stärk(ung)en der Schwachen. In: Magdalena Holztrattner (Hg): Eine vorrangige Option für die Armen im 21. Jahrhundert? InnsbruckWien 2005. Martin Schenk: Lieber reich und g’sund als arm und krank. Soziale Ungleichheit und Gesundheit. In: Die Armutskonferenz u. a. (Hg): Was Reichtümer vermögen. Warum reiche Gesellschaften bei Pensionen, Gesundheit und Sozialem sparen. Wien 2004, S. 174-191. Martin Schenk: Und raus bist du! Die Stärke und die Ohnmacht der Schwachen. In: Hannes Etzlstorfer (Red.): Armut. Katalog zur 298. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien 2002, S. 41-55. Heinz Schoibl: Armut im Wohlstand. Regionaler Armutsbericht für das Bundesland Salzburg. Salzburg 2002. Amartya Sen: Ausgrenzung und politische Ökonomie. In: Wolfgang Voges/Yuri Kazepov (Hg.): Armut in Europa. Wiesbaden 1998, S. 234-247. Statistik Austria: Einkommen, Armut und Lebensbedingungen. Ergebnisse aus EU-SILC 2005, 2007. Statistik Austria: Sozialhilfeleistungen der Bundesländer 2004, 2006. Christine Stelzer-Orthofer: Armut und Zeit. Eine sozialwissenschaftliche Analyse zur Sozialhilfe. Opladen 1997. Willibald-Julius Stronegger/Eva Rasky/Wolfgang Freidl: Soziale Lage, Gesundheitsverhalten und ausgewählte Krankheiten. In: Wiener Medizinische Wochenzeitschrift 1996, 11/12, S. 287-288. Willibald-Julius Stronegger: Gesellschaftliche Grundlagen der Gesundheit und politische Folgerungen, Manuskript, 2003. Ronald Gebauer u. a.: Wer sitzt in der Armutsfalle? Selbstbehauptung zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt. Berlin 2002.

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HUBERT WEITENSFELDER

„RÖMLINGE“ UND „PREUSSENSEUCHLER“ KONSERVATIV-CHRISTLICHSOZIALE, LIBER AL-DEUTSCHNATIONALE UND DER KULTURK AMPF IN VOR ARLBERG, 1860 BIS 1914

Liberal-Deutschnationale und Konservativ-Christlichsoziale bildeten in Vorarlberg wie auch in vielen anderen Territorien Österreich-Ungarns die beiden großen politischen Lager. Das „Ländle“ im äußersten Westen der Habsburgermonarchie empfing auch manche politische Einflüsse aus der Schweiz und Süddeutschland. Eingehend wird hier der facettenreiche „Kulturkampf “ zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Weltanschauungen geschildert und damit eine breite Grundlage für den Vergleich mit anderen Regionen geschaffen. 2008, 258 S. BR. 135 X 205 MM. ISBN 978-3-205-77798-4 (A), 978-3-486-58694-7 (D)

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