Kritische Theorien der Internationalen Beziehungen 9783110471250, 9783486761863

Grundprinzipien kritischen Denkens Heuristik kritischer Theorieperspektiven der Internationalen Beziehungen

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Kritische Theorien der Internationalen Beziehungen
 9783110471250, 9783486761863

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Einleitendes Vorwort
I Der Begriff des Kritischen
Eine kritische Haltung basiert auf Skepsis
Die Skepsis gegenüber ‚derʻ Realität
Die Skepsis gegenüber ‚derʻ sozialen Wirklichkeit
Kritisches Denken ist anti-metaphysisch
Kritisches Denken ist anti-empiristisch
Kritisches Denken ist anti-deterministisch
Kritisches Denken emanzipiert sich vom Subjekt-Objekt Dualismus
Kritisches Denken begreift Wirklichkeit als Geschichte
Kritisches Denken begreift Einzelphänomene als Teilaspekte des Ganzen
Kritisches Denken beschäftigt sich mit der Wirklichkeit als Begriff
Kritisches Denken ist skeptisch gegenüber dem Begriff
Kritisches Denken unterzieht den Begriff dem Verfahren der Dialektik
Kritisches Denken beurteilt die Wirklichkeit anhand der Vernunft
Kritisches Denken entlarvt unvernünftige Denkmuster als Ideologie
Kritisches Denken wehrt sich gegen Dogmatismus und Formalwissen
Kritisches Denken erkennt bürgerliche Ordnung/en als unvernünftig
Kritisches Denken sieht die bürgerliche Ordnungsillusion als das Werk organischer Intellektueller
Parteispitzen als organische Intellektuelle
Jurist/innen als organische Intellektuelle
Journalist/innen als organische Intellektuelle
Expert/innen und Funktionäre als organische Intellektuelle
Sozialwissenschaftler/innen als organische Intellektuelle
Kritisches Denken realisiert sich in einer angemessenen ‚Methodeʻ
II Kritisches Denken in der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen
Kritische IB-Theorie im Kontext der Disziplin IB
Kritische IB-Theorie im klassischen Sinn
Kritische IB-Theorie/n im ‚eigentlichenʻ Sinn
Kritische IB-Theorien ad absurdum
Kritische IB-Theorie als konfrontatives Denken
Das Erkenntnisziel der Entmystifikation
Die strukturell begründete ‚organische Kriseʻ des internationalen Systems
Das Konzept der Hegemonie als notwendig umstrittene Anschauungsform
Kapitalistische Struktur/en als Reproduktionsmechanismen der globalen Krise
Materielle Ressourcen und transnationale Zivilgesellschaft
Institutionen und Ideen der transnationalen Zivilgesellschaft
Transnationale Zivilgesellschaft als Arena für ‚Kämpfeʻ ums Recht
Historische Dialektik, soziale Kräfte und theoretische Konfrontation
Kritische IB-Theorie als subversiver Widerstand
Die Un/Zeit der ‚Morgenröteʻ in den akademischen IB
Kritisches Denken bestimmt sich durch Nonkonformismus
Nonkonformismus und poststrukturalistische Erkenntnisinteressen
Der kritische Fokus auf Subjektivierungsmechanismen
Die Politische Ökonomie der symbolischen Formen
Über ‚dieʻ Relevanz poststrukturalistischer Kritik
Strategien poststrukturalistischer Kritik
Kritische IB-Theorie als Affirmation (?)
Ein neuer Materialismus der internationalen Beziehungen
Das neue Erkenntnisinteresse der ‚Empathieʻ
Die kritische Analyse wird zur ‚Kompositionʻ
Die unerträgliche Kritiklosigkeit des postkritischen Seins
Nachwort
Autorenverzeichnis
Sachregister

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Günther Auth Kritische Theorien der Internationalen Beziehungen

Günther Auth

Kritische Theorien der Internationalen Beziehungen

Die in dieser Arbeit dargestellten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht notwendig die Meinung der Walter de Gruyter GmbH wider.

ISBN 978-3-486-76186-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047125-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047291-2

Library of Congress Control Number: 2022951407 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: sankai / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Niemals nahm ein bedeutenderes, schöneres und nützlicheres Projekt den menschlichen Geist für sich ein als das eines fortdauernden und universalen Friedens zwischen allen Völkern Europas; nie verdiente daher ein Autor in größerem Maße öffentliche Aufmerksamkeit als derjenige, der Mittel vorschlägt, um diesen Entwurf auch zu verwirklichen. […] Wenn dieser Friedensplan trotz alldem nicht zur Ausführung gelangt, so liegt das also nicht daran, dass er ein Hirngespinst wäre, sondern daran, dass die Menschen verrückt sind, und es eine eigene Art Irrsinn ist, weise unter lauter Irrsinnigen zu sein. Jean-Jacques Rousseau, 1756

Einleitendes Vorwort Die Ausführungen im vorliegenden Buch drehen sich um die grundsätzliche Frage, wie ‚manʻ sich politische Praxis vorstellen soll. Dabei geht es insbesondere um diejenige Praxis, die sich über die Tätigkeiten von Elite- und Regierungsnetzwerken in den Bereich der sogenannten internationalen Beziehungen übersetzt. Das Erkenntnisinteresse des verallgemeinerten Kollektivsubjekts ‚manʻ am richtigen Begriff der internationalen Beziehungen speist sich aus einem unvoreingenommenen Orientierungsbedarf, von dem angenommen wird, dass er für viele interessierte ‚Beobachter/innenʻ des politischen Geschehens in Deutschland während des frühen 21. Jahrhunderts einschlägig ist. Weiterhin wird angenommen, dass sich der hier vorausgesetzte Typus des bzw. der interessierten Beobachters/Beobachterin¹ durch eine genuin menschliche Sorge um den Schutz der menschlichen Lebensgrundlagen sowie die begründete Hoffnung auf Frieden bzw. eine Reduzierung der allgegenwärtigen Atomkriegsgefahr auszeichnet. Der genauso interessierte wie besorgte Blick eines verallgemeinerten Kollektivsubjekts auf die politische Praxis wird mithin als Ausdruck eines normalen Alltags- bzw. eines ‚gesundenʻ Menschenverstands behandelt. Unter der Prämisse, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Welt allein einer vernünftigen Wahrheitssuche verpflichtet ist, richten sich die Ausführungen in diesem Buch an neugierige bzw. unvoreingenommene Zeitgenoss/innen und ausdrücklich nicht an weltanschaulich festgelegte Advokaten politischer Willkür. Das Problem, von dem aus die oben aufgeworfene Frage ihre Relevanz erhält, liegt darin, dass wichtige, weil folgenreiche, Formen moderner politischer Praxis in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit allzu oft isoliert betrachtet und in aller Regel auch extrem klischeehaft repräsentiert werden, was aus der Perspektive von interessierten und besorgten Beobachter/innen im 21. Jahrhundert mindestens befremdlich wirken muss, weil es einer allgemeinen ‚Bewusst‘werdung entgegenwirkt, die wiederum die Basis für eine raumzeitlich angemessene Art und Weise der menschlichen Selbstorganisation bildet. Dieses Problem ist nicht neu sondern reicht bis in Zeit zurück, als hohe Staatsbeamte (u. a. Hardenberg, Altenstein, Niebuhr) in Preußen anno 1810 eine umfassende wirtschaftliche Modernisierung vorantrieben. Zeitzeugen und historische Expert/innen würdig(t)en die Maßnahmen damals wie heute als ‚Aufbruch in eine neue Zeitʻ des fortschrittlichen Wandels, insofern die Aufhebung der Zünfte und die Einführung der Gewerbefreiheit wichtige Voraussetzungen für die spätere Industrialisierung schufen. Was dabei befremdlich wirkt, ist die Tatsache, dass die Architekten des preußischen Wirtschaftswunders bei ihrem Tun zwar ganz im Sinne des kultivierten Klischees von

 Im Folgenden wird versucht, geschlechtsneutrale Zuschreibungen vorzunehmen, wo es angezeigt erscheint. Die Ausführungen stehen im Licht der Überzeugung, dass jede Form der geschlechtlichen Diskriminierung ganz grundsätzlich unangemessen ist. https://doi.org/10.1515/9783110471250-001

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Einleitendes Vorwort

neuen progressiven Denkweisen aus dem angelsächsischen Raum angetrieben wurden², dass sie aber faktisch genauso offensichtlich wenig Gespür für die sinnvolle Auslegung der Lehre vom freien Wirtschaftsleben an den Tag legten³. Ebenso wenig brillierten sie durch ein angemessenes Bewusstsein um die staatsrechtlichen, soziokulturellen und ökologischen Rahmenbedingungen für das Gelingen der von ihnen verordneten Schocktherapie⁴. Nüchtern und in einem größeren historischen Kontext betrachtet, setzten die Architekten des preußischen Wirtschaftswunders mit der Schaffung von Voraussetzungen für die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft eine Entwicklung in Gang, die einem ökonomistischen Denken Vorschub leistete, die einen immer weiter zunehmenden Energiehunger im produzierenden Gewerbe auslöste, die politische Zentralisierung bewirkte, die gesellschaftliche Spezialisierung, Ausdifferenzierung und Stratifizierung vorantrieb, die natürliche Stoffwechselkreisläufe zerstörte

 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866: Bürgerwelt und starker Staat (München: Beck, 2017), 48.  Die Smithʼsche Lehre wurde vor allem dadurch vernünftig, dass sie sich in den geistigen Aufbruch Schottlands einfügte, in dem die Überwindung des Feudalabsolutismus und die damit verbundene Befreiung der Leibeigenen zum Zweck der Förderung größerer Selbständigkeit breiter Bevölkerungsschichten von den progressiven Intellektuellen als ein wesentlicher Schritt zu einer gesamtgesellschaftlichen moral improvement sowie einer Hebung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands angesehen worden war. Vgl. Gerhard Huber, Adam Smith: Der Zusammenhang von Moralphilosophie, Ökonomie und Institutionentheorie, in: G. Göhler et al. (Hg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990), 293 – 309.  Die Liberalisierung des Grundeigentums und die Einführung der Gewerbefreiheit nahm der großen Mehrheit de facto die materielle Basis für ihren Lebensunterhalt, während die vormals bestehenden staatlichen Schutzvorrichtungen einfach abgeschafft wurden. Vgl. Arno Herzig, Unterschichtenprotest in Deutschland 1790 – 1870 (Göttingen: Vandenhoeck, 1988), 10: „Durch die Liberalisierung von Wirtschaft und Handel befreite sich der Staat von Pflichten, die er im Ancien Régime erfüllt hatte. […] Die Gewerbe ließ er weitgehend machen, was sie wollten, um die sozialen Mißstände infolge der Liberalisierung kümmerte er sich kaum.“ Viele Adlige behielten oft ihren Grund, weil die Bauern die Kompensationen nicht leisten konnten; die sogenannte Domänenpacht erforderte überdies zumeist unerschwingliche Investitionen; und außerdem traten Bauern mit den reicheren Gutsbesitzern in direkte Konkurrenz. Für eine gegenteilige Interpretation, vgl. Wolfram Fischer, Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der ‚Sozialen Frage‘ in Europa seit dem Mittelalter (Göttingen: Vandenhoeck, 1982), 56 – 62, der den Pauperismus im 19. Jahrhundert als Ausläufer der vorindustriellen Armut begreift, der als solcher nicht neu und ‚nur‘ aufgrund einer neuen humanistischen Sensibilität als problematisch empfunden worden war. Die neuhumanistische Sensibilität für Leid und Elend stellt freilich die entscheidende Zäsur für die Bewertung ‚vernünftiger‘ sozioökonomischer Entwicklungen in der Moderne dar.Vgl. mit Verweis auf die ökologische Dimension der wirtschaftlichen Modernisierung, John Bellamy Foster & Brett Clark, The Robbery of Nature: Capitalism and the Ecological Rift (New York: Monthly Review Press, 2020), 15: „To underscore the enormity of the crisis of soil ecology, [in the 1850s, the celebrated German chemist Justus von] Liebig made a point of attacking entrenched notions propounded by some agriculturalists and the classical political-economist David Ricardo that the ‚power of the soil‘ on any given plot of land was ‚indestructible‘ and hence ‚inexhaustible.‘ The development of modern chemistry had discredited such views.“

Einleitendes Vorwort

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und die schlussendlich im imperialistischen Wettbewerb der westlichen Staatsapparate um Rohstoffquellen, Investitionsmöglichkeiten und Absatzmärkte kulminierte. In einem ähnlichen Licht stand die Intervention des Bundeswirtschaftsministeriums im Frühjahr 2021 in das zeitweise stockende Genehmigungsverfahren für den Bau einer Gigafactory in einem brandenburgischen Wasserschutzgebiet südlich von Berlin. Von Wirtschaftsfachleuten und den deutschen Medien wurde die mit dem Projekt verbundene Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Konjunkturbelebung in der Zuliefer-, Bau- und Verkehrsindustrie ganz überwiegend als Auslöser eines veritablen booms für die Region gefeiert⁵. Was dabei befremdlich wirkt, ist die Tatsache, dass weder die staatlichen Förderer des Wirtschafts- und Technologiestandorts Deutschland noch die beflissenen Kommentator/innen ein angemessenes Bewusstsein für die sozioökologischen Konsequenzen des Projekts in Zeiten eines sich rapide verschärfenden Klimawandels an den Tag legten; angefangen bei der enormen Verkehrsbelastung, dem unvorhersehbaren Flächenfrass aufgrund von Infrastruktur-Neubauten bis hin zum immensen Wasserverbrauch in einer bereits zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise niederschlagsarmen Region. Offensichtlich spielte es für die begriffliche Charakterisierung solcher Projekte immer noch keine große Rolle, ob die ressourcenintensive Produktionsweise im Zusammenhang mit dem eingeübten Mobilitäts- und Konsumverhalten vieler Verbraucher/innen auf der Nordhalbkugel die Substanz des globalen Ökosystems im kleinen wie im großen Maßstab unwiederbringlich aufzehrt. Journalistische Kommentator/innen und Expert/innen in wirtschaftspolitischen Fragen schienen sich mit einem ökonomistischen Selbstverständnis einig darin zu sein, dass die Beibehaltung kollektiv eingeübter Verhaltensmuster bei einer gleichzeitig intensivierten Ausbeutung von Naturressourcen mit unvermeidlichen Kollateralschäden auf dem Weg zu mehr ‚Fortschrittʻ und ‚Wachstumʻ einhergeht. Unvermeidlich scheinen für viele auch die Konsequenzen der westlichen Produktionsweise zu sein, die sich nicht zuletzt in einer verstärkten Bereitschaft der einflussreichsten Kreise zur kriegerischen Aneignung der globalen Energieressourcen und Industriemetalle manifestiert⁶. Wie die strategische Ausrichtung führender westlicher Regierungen bzw. Institutionen seit Jahrzehnten suggeriert⁷, haftet dem post/modernen

 Vgl. Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb, Pressespiegel Dietmar Harhoff zum Bau der neuen Tesla-Fabrik im Raum Berlin, 18. Novermer 2019, https://www.ip.mpg.de/fileadmin/ipmpg/content/ presse/Pressespiegel/2019_Harhoff_Tesla_Pressespiegel.pdf (zuletzt besucht am 15.01.23).  Flankiert und normalisiert wird diese verstärkte Kriegsbereitschaft durch die Proliferation von neuen War Studies-Programmen an führenden westlichen Universitäten und Forschungsinstituten.  Vgl. Thomas Roithner, Europa Macht Frieden: Sieben konstruktive und grunderneuernde Näherungen, JBZ-Arbeitspapiere 41 (2017), 16: „Die deutsche Bundeswehr bekräftigte 1992 in den Verteidigungspolitischen Richtlinien die ‚Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung‘ umzusetzen. Die französische oder britische Haltung gilt diesbezüglich traditionell als ebenso wenig zurückhaltend.“ Vgl. das vom EU-Rat anno 2004 in Auftrag gegebene European Defence Paper, auszugsweise zitiert bei Thomas Roithner, Ressourcensicherung, in: Th. Jäger (Hg.), Handbuch Sicherheitsgefahren (Wiesbaden: Springer VS, 2015), 65 – 74, 70 – 71. Vgl. NATO, Das Strategische Konzept des Bündnisses (1999), Rdnr. 24,

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Einleitendes Vorwort

Krieg trotz seiner manifesten Destruktivität weiterhin die Aura der Unverzichtbarkeit an. Dabei hätte es zumal in Deutschland genug historische Anlässe gegeben, über den Widersinn des institutionalisierten Vernichtungskrieges zwischen imperialistischen Konkurrenten nachzudenken. So hatten sich selbst in der Spätphase des Ersten Weltkriegs noch Tausende hohe Staatsbeamte, Lehrer, Geistliche, Vertrauensleute aus der Bauernschaft sowie diverse andere Honoratioren im Auftrag des preußischen Kriegsministeriums darum bemüht, den ‚schädlichenʻ Einfluss des Pazifismus auf die deutsche Gesellschaft durch eine Beförderung der Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung zurückzudrängen. Die massiven Kriegsgreuel, hervorgerufen u. a. durch den allseitigen Einsatz von Giftgas, Splittergranaten und neuen Munitionsarten (Schrapnell- bzw. Dumdum-Geschosse) im Stellungskrieg zwischen den Schützengräben, die von willkürlicher Gewalt gegen die ganz überwiegend unbeteiligte Zivilbevölkerung begleitet wurden, waren in der deutschen Gesellschaft zwar schon weithin bekannt. Dennoch gaben sich viele Angehörige der gebildetsten Strata dafür her, die Einstellung der Bevölkerung zugunsten eines nachgerade chauvinistischen National- bzw. Staatspatriotismus sowie den bereits völlig abwegig gewordenen Glauben an einen Endsieg gegen die ‚unmenschlichen Feindeʻ des deutschen Volkes in Frankreich bzw. Russland zu beeinflussen. Analog dazu fällt auf, dass sich unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 die allermeisten politischen und gesellschaftlichen Eliten in Deutschland darin einig waren, dass der russische Einmarsch als ein heimtückischer Akt zu verstehen wäre, der quasi auf das alleinige Betreiben eines irregeleiteten Diktators mit revisionistischen imperialistischen Großmachtansprüchen zurückzuführen war. Parallel dazu wurde nicht etwa die Notwendigkeit einer sofortigen Beendigung der Kampfhandlungen betont, sondern die Rede von der Notwendigkeit einer großangelegten Unterstützung der Ukraine zur militärischen Verteidigung ‚westlicher Werteʻ und einem Schutz der ‚regelbasierten internationalen Ordnungʻ gegen die russische Aggression angestimmt. Die Rufe nach einer militärischen Entscheidung des Krieges gegen ‚Putins Russlandʻ wurden in der deutschen Medienöffentlichkeit abermals im Licht massiver Kriegsgreuel forciert und so einhellig und emphatisch unterstützt, dass alle Vorschläge zugunsten einer Verhandlungslösung zwischen den unmittelbar Kriegsbeteiligten schon als Komplizenschaft mit Russland und der Einsatz von Atomwaffen als

https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_27433.htm?selectedLocale=de (zuletzt besucht am 14.01.23); vgl. NATO Lisbon Summit Declaration (2010), Rdnr. 41, https://www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_68828.htm (zuletzt besucht am 14.01.23); vgl. NATO, Strategic Concept (2022), Rdnr. 26, https:// www.nato.int/strategic-concept/ (zuletzt besucht am 14.01.23). Vgl. The White House, National Security Strategy of the United States of America (Washington, 2002), 19 – 20; vgl. The White House, National Security Strategy of the United States of America (Washington, 2017), 23: „The United States will seek to ensure universal access to affordable, reliable energy, including highly efficient fossil fuels, nuclear, and renewables, to help reduce poverty, foster economic growth, and promote prosperity.“ Vgl. The White House, National Security Strategy of the United States of America (Washington, 2022), 28.

Einleitendes Vorwort

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eine hinnehmbare Begleiterscheinung im kollektiven Abwehrkrieg gegen eine feindliche Aggression beschrieben werden konnten. Dabei wirkt es befremdlich, dass sich so viele Volksvertreter/innen nicht mehr an die verfassungsrechtliche Friedenspflicht⁸ erinnerten, und dass so viele Expert/innen in Deutschland als veritable Parteigänger/innen des transatlantischen Imperialismus auftraten und in der Medienöffentlichkeit darauf verzichteten, eine nüchterne historische Betrachtung der Geschehnisse anzustellen. So blieben zwangsläufig all die ‚unbequemenʻ Fakten unberücksichtigt, die das spätestens seit 2014 offiziell beschützte Narrativ über die Freund-Feind-Konstellation zwischen dem ‚guten’ Westen und dem ‚bösen’ Russland weniger künstlich und klischeehaft hätten erscheinen lassen⁹. Aus der Sicht interessierter und besorgter Beobachter/innen diskreditierten sich mithin all diejenigen wissenschaftlichen Expert/innen, die die stetige Eskalation der Krise in der Ukraine der alleinigen Verantwortung russischer Kräfte zugeschrieben und jede Verstrickung westlicher – und ukrainischer – Kräfte von Anfang an kategorisch ausgeschlossen hatten¹⁰. Schließlich hat es seit vielen Jahren Indizien für die Involvierung westlicher Akteursinstanzen und die Existenz eigentümlicher Interessenlagen sowie daraus entspringender Aktivitäten in der Ukraine und dem eurasischen Raum gege-

 Einschlägig sind u. a. die Präambel; Art. 1, Abs. 2; Art. 9, Abs. 2; Art. 20, Abs. 3; Art. 25; und insbesondere Art. 26 GG.  Vgl. dazu u. a. Oliver Boyd-Barrett, Western Mainstream Media and the Ukraine Crisis: A Study in Conflict Propaganda (London: Routlegde, 2017), 2: „The one-sidedness of corporate mainstream Western media coverage in support of the official perceptions of Washington speaks not to the pluralism of a media era lauded by celebrants of digital and social media but to a much older narrative of complicity with the propaganda aims of imperial power.“  Vgl. exemplarisch dazu Taras Kuzio, A New Framework for Understanding Nationalisms in Ukraine: Democratic Revolutions, Separatism and Russian Hybrid War, Geopolitics, History, and International Relations 7:1 (2015), 30 – 51. Als einer der am häufigsten zitierten Ukraine-Experten fiel Kuzio durch Sätze auf, die nicht nur eine angemessene Differenziertheit in der Sache vermissen ließen, sondern die auch durch die angegebene Quellenangabe gar nicht belegt wurden. Vgl. ebda, auf 46: „[A]ggressive and violent political culture is more a feature of Russian and Soviet nationalisms; Party of Regions deputies were always involved in and behind violence in the Ukrainian parliament and the Yanukovych presidency murdered and wounded Euromaidan protesters [sic!].“ Nicht nur ist der lapidare Verweis auf die Ermordung von Demonstranden auf dem Maidan anno 2014 durch die Janukowitsch-Regierung mindestens fragwürdig. Der Verweis auf einen Text von Ioulia Shukan aus dem Jahr 2013 (!) eignet sich nicht dafür, die Ermordung von Demonstranden auf dem Maidan durch die Janukowitsch-Regierung im Februar 2014 (!) in der Sache zu belegen. Vgl. demgegenüber die Auswertung einer Fülle von Datenmaterial durch Ivan Katchanovski, The Maidan Massacre in Ukraine: Revelations from Trials and Investigation, https://papers. ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2994347 (zuletzt besucht am 03.12.22), der zu folgendem Schluss kommt: „The analysis shows patterns of ineffective and delayed Maidan massacre trials and the GPU [Prosecutor General Office of Ukraine] investigations, trumped-up charges, and ignoring, reversing, and covering-up of the evidence, which was revealed by the GPU own investigation and which pointed to the massacre of the protesters and the police by ‚snipers’ [of far-right organizations] in the Maidan-controlled buildings and not [!] by the Berkut police.“

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Einleitendes Vorwort

ben¹¹, die von unvoreingenommenen Journalist/innen hinlänglich belegt und die von seriösen Wissenschaftler/innen kenntnisreich kommentiert worden sind¹². Die wis-

 Vgl. zu den geostrategischen Interessen der USA seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, Defense Planning: Guidance FY 1994– 1999, April 16, 1992, https://www.archives.gov/files/declassification/iscap/pdf/ 2008-003-docs1-12.pdf (zuletzt besucht am 13.11.22). Vgl. die Hinweise auf ökonomische und geopolitische Interessen der USA in Eurasien von George Friedman, Europe: Destined for Conflict? am 04.02. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=QeLu_yyz3tc (zuletzt aufgerufen am 21.09.22). Vgl. zur Eskalationsstrategie der US-Regierung in der Ukraine den Bericht im Auftrag der RAND Corporation von James Dobbins et al, Extending Russia: Competing from Advantageous Ground (Santa Monica: RAND, 2019), 96: „This chapter describes six possible U.S. moves in the current geopolitical competition: providing lethal arms to Ukraine [sic!], resuming support to the Syrian rebels, promoting regime change in Belarus, exploiting Armenian and Azeri tensions, intensifying attention to Central Asia, and isolating Transnistria (a Russian-occupied enclave within Moldova). There are several other possible geopolitical moves discussed in other RAND research but not directly evaluated here – including intensifying NATOʼs relationship with Sweden and Finland, pressuring Russiaʼs claims in the Arctic, and checking Russiaʼs attempts to expand its influence in Asia.“ Vgl. zur Rolle Deutschlands vor Beginn des Krieges am 24. Februar 2022, die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage Drs.-Nr. 20/335 der Abgeordneten Sevim Dagdelen u. a. Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zum Thema ’Deutsche Unterstützung der türkischen Drohnenproduktion durch die Bundesregierung und Hensoldt’.Vgl. zur militärischen Lage im Donbass im Februar 2022 den OSCE Daily Report 40/2022, 21 February 2022, https://www.osce.org/files/2022-02-20-21%20Daily% 20Report_ENG.pdf?itok=82567 (zuletzt besucht am 13.11. 2022).  Vgl. zur breit angelegten Kultivierung eines Russland-Feindbilds in den USA seit der zweiten Präsidentschaft von George W. Bush, Andrej P. Tsygankov, Russophobia: Anti-Russian Lobby and American Foreign Policy (New York: Palgrave, 2009), 14. Vgl. zur gezielten Förderung einer neuen nationalen ukrainischen Identität durch die Regierung Juschtschenko etwa zur gleichen Zeit (2005 – 2010), Per A. Rudling, The OUN, the UPA and the Holocaust: A Study in the Manufacturing of Historical Myths, Carl Beck Papers in Russian & East European Studies No. 2107 (2011), 26: „A part of Yushchenko’s ’Europeanization’ of Ukrainian society included bringing collective memory more in line with the culture of memory of the European mainstream. In order to bridge the conflicting memories, the Yushchenko government needed to manufacture an edifying Ukrainian national past, a patriotic narrative that could partially reconcile the cult of [the Bandera wing of the Organization of Ukrainian Nationalists,] the OUN(b) and the U[krainian] I[nsurgent] A[rmy] with recognition of the Holocaust. The narratives developed by authoritarian groups in the diaspora required a significant make-over in order to make them marketable in the twenty-first century.“ Vgl. die Informationen über konzertierte westliche Versuche der Konflikteskalation im Osten der Ukraine nach dem Regierungswechsel von Janukowitsch zu Jazenjuk bzw. Poroschenko anno 2014 bei Christoph Schult & Klaus Wiegrefe, Gefährliche Propaganda: Ein Netzwerk um NatoOberbefehlshaber Philip Breedlove versuchte, mit zweifelhaften Informationen Waffenlieferungen in die Ukraine durchzusetzen, Der Spiegel 30 (2016), http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/ 145947650 (zuletzt besucht am 13.11.22). Vgl. zur Rolle des IWF sowie derjenigen der US-amerikanischen Regierung anlässlich des Scheiterns der Minsk I und II-Vereinbarungen, Michael Hudson, Ukraine and the New Economic Cold War, International Critical Thought 6:4 (2016), 556 – 569. Vgl. Kees van der Pijl, Flight MH17. Ukraine and the new Cold War: Prism of Disaster (Manchester: Manchester University Press, 2018), besonders 99 – 125.Vgl. Richard Sakwa, Frontline Ukraine: Crisis in the Borderlands (London: Tauris, 2015), 131.Vgl. dazu jüngst Volodymyr Ishchenko & Yuliya Yurchenko, Ukrainian Capitalism and Inter-Imperialist Rivalry, in: I. Ness & Z. Cope (Hg.), The Palgrave Encyclopedia of Imperialism and Anti-Imperialism (Wiesbaden: Springer, 2021), 2697– 2715. Vgl. Jeffrey Sachs, Die Ukraine ist die neueste Katastrophe amerikanischer Neocons, Berliner Zeitung vom 30.06.22, https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verant

Einleitendes Vorwort

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senschaftliche Wahrheitssuche wäre im Sinne ihrer professional responsibility gut beraten gewesen, sich nicht aus Gründen einer unangemessenen politischen Korrektheit selbst zu zensieren. Jeder Krieg gestaltet sich mittlerweile als eine ökologische Katastrophe; jeder Krieg lässt die Aussicht auf eine friedliche Integration der Weltgesellschaft/en im 21. Jahrhundert weiter schwinden; jeder Krieg birgt mittlerweile die Gefahr eines völlig unkalkulierbaren nuklearen Infernos. Und dennoch scheinen sich prominente Meinungsbildner/innen einig über die Unzeitgemäßheit jedweden Pazifismus¹³ – im Widerspruch zum deutschen Grundgesetz und in einer Zeit, in der vor allen anderen Dingen kollektive Anstrengungen zur Verlangsamung des Klimawandels vernünftig wären. Aus der Perspektive eines gesunden Menschenverstands ist nicht nur die selektive und zum Teil völlig faktenbefreite Medienberichterstattung so irritierend¹⁴; wobei es dennoch befremdlich wirkt, dass die sogenannten Qualitätsmedien (nicht nur) in Deutschland in einem besorgniserregenden Ausmaß die Rolle von weltanschaulich festgelegten Parteien in den politischen Debatten übernommen haben¹⁵. Irritierend ist auch nicht allein das öffentliche Gebaren des Spezialistentums aus Einrichtungen, die sich verstärkt durch eine Normalisierung von Ökonomismus bzw. Bellizismus hervortun¹⁶; wobei es ebenfalls befremdlich wirkt, dass die Funktion

wortung/die-ukraine-ist-die-neueste-katastrophe-amerikanischer-neocons-li.242093 (zuletzt besucht am 01.12.22).  Vgl. Slavoj Žižek, Für Putin ist auch Deutschland eine potenzielle Kolonie, Die Welt, 23.06. 2022 https:// www.welt.de/kultur/plus239509037/Slavoj-Zizek-Ein-Krieg-des-protestantischen-Erbes-gegen-die-autorita ere-Orthodoxie.html (zuletzt besucht am 19.07.22).  Vgl. dazu u. a. Jeffrey Sachs, End Ukraine Proxy War or face ’Armageddon’, https://www.youtube.com/ watch?v=g57ViSqmRFM (zuletzt besucht am 22.11.22).  So wird von den Medien gerne der Eindruck erweckt, dass Bilder zuverlässige Informationen über das Kriegsgeschehen darstellten. Vgl. dazu aber Claudia Paganini, Werte für die Medien(ethik) (Baden-Baden: Nomos, 2020), 46 – 47: „Sie [Bilder] vermitteln die Illusion von Unmittelbarkeit und lassen vergessen, dass die Bildrezipienten Beobachter zweiter Ordnung bleiben, Bilder in hohem Maß menschlichen Einflussfaktoren ausgesetzt und daher im Kommunikationsprozess weniger in einer passiven Zeugenrolle als in einer aktiven journalistischen Rolle zu begreifen sind. Dazu kommt noch, dass Bilder primär illustrieren und daher nicht geeignet sind, komplexe Sachverhalte, die einer argumentativen Auseinandersetzung bedürfen, geeignet darzustellen oder zu erklären.“ Zu diesem Sachverhalt passt die Bemerkung von Christian Tuschoff, Distanzverbreiterung vs. Gemeinschaftsbildung: Die Rolle von Medien und Denkfabriken bei der Verarbeitung der Rede von Bundespräsident Gauck, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 8:Supplement 1 (2015), 99 – 122, 114– 115: „Die Medien erfüllen nur in eingeschränktem Maß die Kriterien einer guten Debatte. Sie sind heute weniger denn je eine vermittelnde Brücke zwischen Staat und Gesellschaft […]. Medien […] wirken nicht als BrückenbauerInnen, sondern als Partei in den Debatten.“  Einschlägige Einrichtungen in Deutschland wären u. a. das Institut der deutschen Wirtschaft, die Bertelsmann Stiftung und das Ifo-Institut für Wirtschaftsfragen sowie die Stiftung Wissenschaft und Politik, der German Marshall Fund, die Deutsche Gesellschaft für Außenpolitik, der European Council on Foreign Relations oder auch das Global Public Policy Institute für Angelegenheiten der militärischen Sicherheitspolitik. Vgl. zu den letzteren Christoph Bertram & Christiane Hoffmann, Forschen und Beraten in der Außen- und Sicherheitspolitik: Eine Analyse der deutschen Think-Tank-Landschaft, https://www.

XIV

Einleitendes Vorwort

dieser Klientel in einem immer stärkeren Ausmaß darin zu bestehen scheint, innerhalb der engen Parameter zu denken/argumentieren, die der Regierungspraxis zugrunde liegen, um die von ihr forcierten Weltläufe affirmativ begleiten zu können. Irritierend ist aus der Perspektive eines gesunden Menschenverstands auch und vor allem die große gesellschaftliche Resonanz klischeehafter Vereinfachungen vieler Krisen sowie die weit verbreitete Ignoranz gegenüber der unauflöslichen Verknüpfung zwischen der westlichen Produktionsweise und den zahlreichen Ressourcenkriegen seit über hundert Jahren. Denn in dieser Resonanz bzw. Ignoranz offenbart sich die zunehmende Verbreitung eines konformistischen Mentalitätstypus, der sich neben – oder auch wegen – dem individuellen Hang zum Konsumhedonismus und zur Selbstoptimierung durch eine kindlich-naive Sehnsucht nach Einfachheit und eine egoistische Neigung zur Bestandswahrung auszeichnet. „Wollte man die Mentalität der Gegenwart auf einen einfachen Nenner bringen, dann hieße dieser: ängstliche Vermeidung alles Widerständigen, Risikobehafteten und Unberechenbaren.“¹⁷ Im Sinne einer Bewältigungsstrategie von Unsicherheit und oft auch Abstiegsangst¹⁸ tendiert der neue Konformismus zur Abkehr von zukunftsorientierten politischen Gesellschaftsentwürfen, zur Anpassung an die vorfindlichen Gegebenheiten und zur Abwehr von expliziter Kritik an realweltlichen Krisen, Ungerechtigkeiten und Ausbeutungsverhältnissen. Gleichzeitig besteht der neue Konformismus bei der Bejahung ‚seinerʻ heilen aber in aller Regel völlig weltfremden Wirklichkeitsvorstellung auf einer überlegenen Moralität – und spielt auf diese Weise „[…] unbeabsichtigt eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung destruktiver Entwicklungen.“¹⁹ Weniger weltanschaulich motivierte Selbstgerechtigkeit und mehr Bereitschaft zur intellektuellen Auseinandersetzung mit den politischen Voraussetzungen und Konsequenzen des westlichen Ökonomismus und Bellizismus wäre auf allen Seiten der deutschen bzw. westlichen Gesellschaft/en angesichts der Dringlichkeit von Maßnahmen zur Sicherung der menschlichen Existenzgrundlagen mehr als angebracht. Für Wissenschaftler/innen, die sich nicht fremdbestimmt und parteigebunden, sondern entsprechend dem Ethos ihrer Profession unabhängig und grundlagentheoretisch mit der politischen Praxis beschäftigen, sind es Gebote der beruflichen Pflicht. Bereits eine unreflektierte Wortwahl trägt dazu bei, unangemessene Denkfiguren, kategoriale Zuschreibungen und konzeptuelle Vorstellungen über die politische Praxis zu normalisieren. In dem Maß, wie jede Diskussion über

bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2020-09/Forschen%20und%20Beraten%20in%20der %20Au%C3%9Fen-%20und%20Sicherheitspolitik.pdf (zuletzt besucht am 12.11. 2022).  Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität: Streifzüge durch die gefährdete Mitte (Frankfurt: Campus, 2013), 10.  Vgl. dazu Holger Lengfeld & Jessica Ordemann, Der Fall der Abstiegsangst, oder: Die mittlere Mittelschicht als sensibles Zentrum der Gesellschaft. Eine Trendanalyse 1984– 2014, Zeitschrift für Soziologie 46:3 (2017), 167– 184.  Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität, a.a.O., 13.

Einleitendes Vorwort

XV

Krieg und Frieden zwangsläufig auch moralische Fragen berührt²⁰, ist es nicht nur eine Frage nach der intellektuellen Redlichkeit von Einzelwissenschaftler/innen sondern eine Frage nach der Existenzberechtigung der Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB), dass sich die Deutung der Welt in Zeiten einer fundamentalen ökologischen und sozialen Krise mit einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung²¹ sowohl um die Problematisierung klischeehafter Wirklichkeitsbeschreibungen als auch um die Destabilisierung dogmatischer Anschauungsweisen bemüht. Die kritische Denktradition bietet nach der hier vertretenen Auffassung eine ganze Reihe sinnvoller Anknüpfungspunkte, um diesem Erfordernis in einer solchen Zeit der Krise gerecht zu werden. Aufgrund ihrer Marginalisierung im Kontext der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Krieg und Frieden, scheint es dringend geboten, auf ein Neues an ihre anspruchsvolle Heuristik zu erinnern. Im ersten Teil des vorliegenden Buches sollen deshalb entsprechende Gesichtspunkte rekonstruiert werden, die für eine kritische Haltung gegenüber den realweltlichen Verhältnissen charakteristisch sind. Nacheinander richtet sich der Blick in diesem Teil des Buches auf die Denkfigur der erkenntnistheoretischen Skepsis; die Konsequenzen aus einer anti-metaphysischen, weltimmanenten, begrifflich-dialektischen und vernünftigen Beschäftigung mit der Realität; die typischen Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit bürgerlicher Ordnung/en; die Rolle organischer Intellektueller bei der Herstellung und Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnungsillusion; und schließlich die Implikationen einer kritischen Methode. Leser/innen, die sich mehr für die Fruchtbarmachung des ‚Kritischen’ für die Deutung der realweltlichen Verhältnisse interessieren, sind gut beraten, diesen Teil zu überspringen und ihre Aufmerksamkeit dem zweiten Teil des Buches zu widmen. Im zweiten Teil des Buches soll zunächst die bestenfalls halbherzige Rezeption des Kritischen im Kontext der akademischen Internationalen Beziehungen beschrieben werden. Auf einen zusammenfassenden Überblick mehr oder weniger kritischer Einlassungen auf den Gegenstandsbereich der IB folgen eingehendere Betrachtungen kritischer Theorien der IB entlang ihrer konfrontativen bzw. widerständigen Erkenntnisinteressen und Deutungsschemata. Dieser Teil des Buches endet mit einer kurzen nachdenklichen Auseinandersetzung mit der vergleichsweise jungen Strömung der sogenannten postkritischen IB. Das Nachwort ist einer abschließenden Einordnung kritischer IB-Theorie in den zeitgenössischen wissenschaftlichen Kontext gewidmet. Unter

 Vgl. dazu u. a. Hedley Bull, International Theory: The Case for a Classical Approach, World Politics 18:3 (1966), 361– 377, 368.  Dementsprechend ergingen dazu etwa in Deutschland höchstrichterliche Feststellungen: Der Wissenschaft kommt gemäß dem Bundesverfassungsgericht eine „[…] Schlüsselfunktion […] sowohl für die Selbstverwirklichung des Einzelnen als auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung [sic!]“ zu. BVerfGE 35, 79 (113). „Aus der Schlüsselfunktion der freien Wissenschaft für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung [sic!] folgt auch eine Verantwortung für die Sicherung ihrer Leistungsfähigkeit.“ Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2010 (Rn. 73) – 1 BvR 3389/08).

XVI

Einleitendes Vorwort

Berücksichtigung der dort vorherrschenden Idolatrie eines amerikanisierten ‚Bestentums’ kommt diese Einordnung erwartungsgemäß zu einem pessimistischen Ergebnis hinsichtlich der Rolle kritischer IB-Theorie als realweltlicher Kraft. Bei der Recherche zum vorliegenden Buch hat Frau Annika Hille als wissenschaftliche Hilfskraft wertvolle Zuarbeiten geleistet. Für die Finanzierung dieser Tätigkeit bedanke ich mich ausdrücklich bei Herrn Professor Klaus Goetz in seiner Eigenschaft als geschäftsführender Direktor des Geschwister-Scholl-Instituts an der LMU München. Ein großer Dank gebührt zudem den engagierten Teilnehmer/innen zahlreicher Seminare zu kritischen Theorien des Staates bzw. der internationalen Beziehungen am Geschwister-Scholl-Institut. Dank schulde ich überdies dem Gruyter-Verlag und insbesondere Frau Anett Rehner und Herrn Stefan Giesen für die Geduld und Unterstützung während der Erstellung des Manuskripts in den rar gesäten Zeiten, die außerhalb der beruflichen Lehrverpflichtungen noch zur Verfügung standen. Und nicht zuletzt bedanke ich mich ganz herzlich bei meiner lieben Frau Regina für die emotionale und inhaltliche Unterstützung, die immer wieder erkennen ließ, dass jede noch so intensive Beschäftigung mit dem Kritischen am Ende auch nur so viel zu bewirken vermag. Die Verantwortung für den notwendig unfertigen Inhalt des Buches trägt allein der Autor.

Inhaltsübersicht I

Der Begriff des Kritischen

II

Kritisches Denken in der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen 105

Nachwort

250

Autorenverzeichnis Sachregister

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1

Inhalt I

1 Der Begriff des Kritischen Eine kritische Haltung basiert auf Skepsis 5 Die Skepsis gegenüber ‚derʻ Realität 7 Die Skepsis gegenüber ‚derʻ sozialen Wirklichkeit 9 Kritisches Denken ist anti-metaphysisch 17 20 Kritisches Denken ist anti-empiristisch Kritisches Denken ist anti-deterministisch 28 30 Kritisches Denken emanzipiert sich vom Subjekt-Objekt Dualismus Kritisches Denken begreift Wirklichkeit als Geschichte 32 Kritisches Denken begreift Einzelphänomene als Teilaspekte des 39 Ganzen Kritisches Denken beschäftigt sich mit der Wirklichkeit als Begriff 43 44 Kritisches Denken ist skeptisch gegenüber dem Begriff Kritisches Denken unterzieht den Begriff dem Verfahren der 47 Dialektik 50 Kritisches Denken beurteilt die Wirklichkeit anhand der Vernunft Kritisches Denken entlarvt unvernünftige Denkmuster als Ideologie 52 Kritisches Denken wehrt sich gegen Dogmatismus und Formalwissen 54 60 Kritisches Denken erkennt bürgerliche Ordnung/en als unvernünftig Kritisches Denken sieht die bürgerliche Ordnungsillusion als das Werk organischer Intellektueller 73 74 Parteispitzen als organische Intellektuelle Jurist/innen als organische Intellektuelle 74 Journalist/innen als organische Intellektuelle 79 Expert/innen und Funktionäre als organische Intellektuelle 81 Sozialwissenschaftler/innen als organische Intellektuelle 85 Kritisches Denken realisiert sich in einer angemessenen ‚Methodeʻ 95

II

Kritisches Denken in der Wissenschaft der Internationalen 105 Beziehungen 108 Kritische IB-Theorie im Kontext der Disziplin IB Kritische IB-Theorie im klassischen Sinn 113 Kritische IB-Theorie/n im ‚eigentlichenʻ Sinn 116 Kritische IB-Theorien ad absurdum 121 Kritische IB-Theorie als konfrontatives Denken 128 Das Erkenntnisziel der Entmystifikation 129 Die strukturell begründete ‚organische Kriseʻ des internationalen 131 Systems

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Inhalt

Das Konzept der Hegemonie als notwendig umstrittene Anschauungsform 138 Kapitalistische Struktur/en als Reproduktionsmechanismen der globalen Krise 147 Materielle Ressourcen und transnationale Zivilgesellschaft 152 Institutionen und Ideen der transnationalen Zivilgesellschaft 156 Transnationale Zivilgesellschaft als Arena für ‚Kämpfeʻ ums Recht 161 Historische Dialektik, soziale Kräfte und theoretische Konfrontation 165 172 Kritische IB-Theorie als subversiver Widerstand Die Un/Zeit der ‚Morgenröteʻ in den akademischen IB 174 Kritisches Denken bestimmt sich durch Nonkonformismus 180 189 Nonkonformismus und poststrukturalistische Erkenntnisinteressen Der kritische Fokus auf Subjektivierungsmechanismen 194 203 Die Politische Ökonomie der symbolischen Formen 206 Über ‚dieʻ Relevanz poststrukturalistischer Kritik Strategien poststrukturalistischer Kritik 211 Kritische IB-Theorie als Affirmation (?) 229 Ein neuer Materialismus der internationalen Beziehungen 234 238 Das neue Erkenntnisinteresse der ‚Empathieʻ Die kritische Analyse wird zur ‚Kompositionʻ 242 Die unerträgliche Kritiklosigkeit des postkritischen Seins 245 Nachwort

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Autorenverzeichnis Sachregister

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I Der Begriff des Kritischen Kritische Theorie hatte in der amerikanisierten Politikwissenschaft und insbesondere im Teilbereich der akademischen Internationalen Beziehungen (IB) schon immer einen schweren Stand. Auf der einen Seite explodiert zwar die Zahl von Publikationen, die sich bei einem ersten Blick auf den Titel als irgendwie ‚kritischʻ erkennen lassen²²; wie im zweiten Teil des vorliegenden Buches beschrieben wird, reserviert auch die überbordende Einführungsliteratur in den IB mittlerweile fast immer einen Bereich für die Beschreibung der sogenannten ‚kritischen IB-Theorienʻ. Auf der anderen Seite fahren die gelehrten Diskussionen im IB-Mainstream ²³ und seinen ‚bestenʻ Zeitschriften²⁴, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unverändert innerhalb der normativen und konzeptuellen Leitplanken, die von den weltanschaulich imprägnierten amerikanischen Mainstream-Theorien gesetzt worden sind. Dabei entsteht der Eindruck, dass das Adjektiv ‚kritischʻ lediglich noch im Sinne von critical appraisals/assessments, critical engagements, critical analyses, oder critical perspectives gegenüber Einzelaspekten der paradigmatischen Mainstream-Debatten in den ‚bestenʻ Fachzeitschriften verwendet wird. Wenn ‚kritische Theorieʻ in den akademischen IB auch als solche ein Diskussionsgegenstand ist, dann geht es oft um ihre vermeintlichen ‚Anwendungsʻmöglichkeiten innerhalb eines bereits kategorial abgesteckten Gegenstandsbereichs. Ähnlich wie nach dem Vorbild der amerikanischen Mainstream-Theorien werden ‚dieʻ kritischen IBTheorien dabei häufig der Kanonisierung und Formalisierung unterzogen, um sie entweder als abstrakte Modelle zur Erklärung typischer Sachverhalte heranzuziehen, oder um sie für die Illustration normativer Vorstellungen von einer ‚besserenʻ Welt zu verwenden. Dabei wirken Versuche der Rekonstruktion kritischer Theorie/n aus ihren begrifflichen bzw. philosophischen Wurzeln zuweilen altbacken und mithin sogar

 Eine freie Opac-Suche an der UB der LMU München mit der Phrase ‚critical international relationsʻ und dem Titelstichwort ‚criticalʻ verweist im Oktober 2022 alleine in der Rubrik ‚Aufsätze & mehrʻ auf 88411 Titel.  Vgl. zur Verortung des IB-Mainstreams Ole Waever, Waltzʼs Theory of Theory, International Relations 23:2 (2009), 201– 222, 205: „By ‚mainstreamʻ, I mean the kinds of work that regularly find their way to the leading journals, are included in general IR courses at the top universities, are widely cited by colleagues as ‚interestingʻ, and land Ph.D. students jobs in top departments. In the US this happens to stretch from neorealism to soft constructivism and not least includes methods-driven work from rational choice and increasingly from large-n.“  Laut Scimago Journal & Country Rank gehörten International Organization, International Security, Review of International Political Economy, International Affairs und World Politics im Jahr 2021 zu den ‚wichtigstenʻ Zeitschriften der Disziplin. Vgl. https://www.scimagojr.com/journalrank.php?category= 3320&area=3300&type=j (zuletzt aufgerufen am 22.10. 2022). Vgl. dazu schon vor knapp 30 Jahren die Einschätzung von Gunther Hellmann, Für eine problemorientierte Grundlagenforschung: Kritik und Perspektiven der Disziplin ‚Internationale Beziehungenʻ in Deutschland, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1:1 (1994), 65 – 90, 66, dass innerhalb des IB-Mainstreams v. a. International Organization und International Security zu den wichtigsten IB-Zeitschriften gehören. https://doi.org/10.1515/9783110471250-002

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I Der Begriff des Kritischen

überflüssig. Der eigentümliche Gehalt des ‚Kritischenʻ müsste, so der im Mainstream geteilte Tenor, überhaupt nicht mehr so umständlich erschlossen werden, da „[p]hilosophy is neither the only source of theory nor the only means of determining what makes a theory critical. […] The point is not to dismiss philosophy, but to recover and defend a mode of knowledge that has almost been forgotten from the repertoire of critical international theory.“²⁵ Angesagt wäre nach dieser Einschätzung die Kultivierung eines rein disziplinimmanenten Verständnisses von ‚Kritikʻ, das sich hauptsächlich oder gar ausschließlich mit einem Blick auf die Beiträge im Feld der sogenannten kritischen IB-Theorie gewinnen lassen würde: kritische IB-Theorie ‚istʻ, was die Vertreter/ innen im Feld kritischer IB-Theorie ‚tunʻ. Das Problem der petitio principii, demgemäß erst einmal geklärt werden müsste, wodurch sich besagtes Feld kritischer IB-Theorie überhaupt auszeichnet, wird in pragmatischer Manier einfach als bereits gelöst betrachtet – ein handfester circulus vitiosus. Einen ersten grundsätzlichen Denkfehler in diesem Gebaren kann man darin erkennen, dass im amerikanisierten IB-Kontext aufgrund der Orientierung an einem völlig irrtümlichen Verständnis von science und scientific knowledge oft schon eine eher unausgereifte Vorstellung davon herrscht, was eine sozialwissenschaftliche ‚Theorieʻ überhaupt ist bzw. tut und wofür eine solche Theorie eigentlich da ist. Fakt ist nämlich, dass die Meinungen dazu enorm variieren und die ehrlichste Haltung schlicht und ergreifend die ist, dass „[…] we cannot agree about what theory is or should be.“²⁶ Für die einen ist Theorie die abstrakte Vergegenständlichung einer ‚beobachtbarenʻ Praxis²⁷, wobei angenommen wird, dass diese Praxis einer typischen Logik folgt. Das wirft aber die Frage danach auf, wie man diese institutionelle Praxis konkret ‚beobachtenʻ und worin diese Praxis am Ende typischerweise bestehen soll; für die anderen ist Theorie vor allem die Beschreibung der ‚unabhängigen Variableʻ bzw. des ‚kausalen Mechanismusʻ in einem entsprechenden Modell typischer realweltlicher Zusammenhänge²⁸. Das stellt aber sofort die Frage in den Raum, ob es überhaupt sinnvoll und angemessen sein kann, von ‚kausalenʻ Zusammenhängen auszugehen. Das alles überrascht deswegen, weil der springende Punkt im Umgang mit Theorie selbst im praxisorientierten Mainstream schon seit längerem bekannt hätte sein können, nämlich dass „[…] theory is a picture, mentally formed, of a bounded realm or

 Vgl. Richard Devetak, A Rival Enlightenment? Critical International Theory in Historical Mode, International Theory 6:3 (2014), 417– 453, 418, wo er sein Plädoyer für die Bejahung der Fachblindheit noch ergänzt: „Critical international theories have taken flight into abstract theories of epistemology and ontology, recondite rationalities, and deontological and deconstructive discourses. No doubt this has been a valuable exercise. However, this philosophical intensification risks creating the impression that theory is the provenance of philosophy; and that philosophy alone is in a position to decide what counts as ‚theoryʻ, what qualifies as ‚criticalʻ.“  Richard Ned Lebow, The Quest for Knowledge in International Relations: How Do We Know?, (Cambridge: Cambridge University Press, 2022), 3.  Vgl. Frank Schimmelfennig, Internationale Politik, 5. Auflage (Wien: Böhlau, 2017), 42.  Vgl. Michael Zürn, A Theory of Global Governance: Authority, Legitimacy, and Contestation (Oxford: Oxford University Press, 2018), 11.

I Der Begriff des Kritischen

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domain of activity. A theory is a depiction of the organization of a domain and of the connections among its parts.“²⁹ Die Konsequenzen aus dieser Feststellung waren im Mainstream aber offensichtlich schwer zu ziehen. Denn wenn Theorie eine mehr oder weniger komplexe Vorstellung von ‚normalenʻ und erwartbaren Sachverhalten innerhalb eines bestimmten Vorstellungsraums ist, wie wollte man dann diese Vorstellung an einer sogenannten Realität ‚testenʻ, die ja als solche erst über die Theorie vorstellbar wird. Bei jedem Test müssten wir überdies „[…] immer noch mit Urteilskraft bestimmen, ob der Einzelfall einer intendierten Anwendung nahe genug am Normalfall liegt.“³⁰ Eine solche Urteilskraft ist unweigerlich gebunden an eine gewisse Informiert- bzw. Erfahrenheit über die entsprechende ‚Realität, die sich nicht bloß auf die Kenntnis von Zahlen bzw. Statistiken reduziert, „[…] was im Positivismus im Allgemeinen, in der empirischen Sozialforschung und einer‚evidenzbasiertenʻ Medizin im Besonderen leider immer auch geschieht.“³¹ Die viel entscheidendere Frage ist angesichts solcher Schwierigkeiten dann jedoch, warum wir überhaupt davon ausgehen sollten, Theorie/n der internationalen Beziehungen wären in einem szientistischen Sinn quasi-experimentell an einer vorgängigen Wirklichkeit zu prüfen bzw. zu ‚testenʻ, die als solche ja erst über die Theorien der internationalen Beziehungen ihre Gestalt/en erhält. Offensichtlich ist es mit einer allzu handwerklich motivierten Fokussierung auf beobachtbare ‚Tatsachenʻ, wie zum Beispiel ‚Kriegʻ, und ihre vermeintlichen ‚Ursachenʻ, wie zum Beispiel die Abwendung einer ‚Bedrohungʻ, für wissenschaftliche Zwecke nicht weit her, solange der betreffende ‚Gegenstandʻ als Teilaspekt eines imaginierten Ursache-Wirkung-Zusammenhangs nicht analog zum wirklichen Vorgehen in den Naturwissenschaften – gedanklich – über den Rekurs auf anerkannte Kanones der Sinnzuschreibung bzw. intersubjektiv geteilte Verstandeskategorien und geltende ‚Projektionsnormenʻ zu einem potenziellen Träger von Bedeutung gemacht wird³².

 Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics (Reading: Addison Wesley, 1979), 8.  Pirmin Stekeler-Weithöfer, Generisches Wissen in kategorialen Inferenzstrukturen: Zur Metaphysik des Begrifflichen, in: Volker A. Munz (Hg.), Language and World, Bd.2: Signs, Minds and Actions (Frankfurt: Ontos, 2010), 191– 215, 195 – 196. Auf diesen Punkt verweist auch Colin Wight, Incommensurability and Cross-Paradigm Communication in International Relations Theory: ‚Whatʼs the Frequency Kenneth?ʻ, Millennium 25:2 (1996), 291– 319.  Pirmin Stekeler-Weithofer, Kritik der reinen Theorie: Logische Differenzen zwischen Wissenschaft und Weltanschauung (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018), 348.  Vgl. zur Rolle besagter Kanones und Projektionsnormen Pirmin Stekeler-Weithofer, Philosophiegeschichte (Berlin: de Gruyter, 2006), 223: „Ein solcher Kanon […] vermittelt […] die Projektion einer zum Teil schon formalsprachlich, mathematisch, verfassten Theorie auf die Erfahrung.“ (Hbg. im Original) Und das ist immer noch nicht die ganze Geschichte.Vgl. dazu aus dem Bereich der Medizin die Überlegung von Ludwik Fleck, Zur Frage der Grundlagen der Medizinischen Erkenntnis, Klinische Wochenschrift 14 Nr. 35 (1935), 1255 – 1259, 1257– 1258: „Um einen Gegenstand beobachtbar zu machen, muß man ihn zunächst begrenzen, d. h. isolieren und von einem Hinter- oder Untergrunde hervortreten lassen. Es handelt sich nicht nur um die grob-materiellen Grenzen eines Dinges, auch jede seiner Eigenschaften, jedes seiner Elemente muß begrenzt werden. […] Es hängt also in letzter Linie von der gesamten Kultur und

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I Der Begriff des Kritischen

Und solange die besagten Kanones der Sinnzuschreibung bzw. die intersubjektiv geteilten Verstandeskategorien und geltenden ‚Projektionsnormenʻ nicht von informierten bzw. erfahrenen Werktätigen einer gemeinsamen wissenschaftlichen Praxis anerkannt werden und dort frei von allen berechtigten Zweifeln sind, solange die Parameter des wissenschaftlichen Tuns noch nicht einmal innerhalb dieses Kontextes zweifelsfrei geklärt sind, gibt es schlicht und ergreifend keine Welt der beobachtbaren Tatsachen und Ursachen. Da sich die ‚bestenʻ Fachvertreter/innen der IB in den USA und Großbritannien schon seit Beginn der disziplinären Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen durch ein mehr oder weniger ‚praxisnahesʻ³³ Verständnis ausgezeichnet und sich in ihrem Tun äußerst erfolgreich gegen diese bis auf Kant und Hegel zurückreichende Einsicht verschlossen haben, ist es dem kollektiven Gebaren im amerikanisierten Mainstream der Disziplin auch nie so recht gelungen, sich über diesen Sachverhalt in seiner ganzen Tragweite vollständig ‚bewusstʻ zu werden. Das ändert freilich nichts daran, dass sozialwissenschaftliche Sachverhaltsbeschreibungen der internationalen Beziehungen immer schon theoriegeleitet im Sinne raumzeitlich eingebetteter Vergegenständlichungen von Phänomenen gewesen sind, die als solche auf soziokulturell vermittelte und zumeist stillschweigend mitgedachte ‚Relevanz- und Orientierungsrahmenʻ verwiesen haben, mitsamt ihren vielfältigen begrifflichen Formen der Anschauung. Erst durch diese haben sie für die Sprecher/innen und ihre Zuhörer/innen bzw. Leser/innen ihren spezifischen Sinn erhalten – und zwar völlig unabhängig davon, was von dem in Rede stehenden Sachverhalt tatsächlich jemals irgendwie ‚beobachtetʻ wurde³⁴. Erst die Einübung kategorialer Anschauungsformen erlaubt es, eine Vergegenständlichung von realweltlichen Phänomenen vorzunehmen und über die sachverständige Einpassung in ein entsprechendes Zeichensystem kommunizier- und intersubjektiv nachvollziehbar werden zu lassen. Was mit dem Wort ‚Theorieʻ gemeint ist, bezieht sich unweigerlich auf diesen ganzen zusammenhängenden Komplex von θεωρία als die Summe von Parametern, Kategorien, Konzepten und Denkfiguren, mitsamt dem zumeist unausgesprochenen Vorstellungsraum, der seinerseits an eine Informiert- und Erfahrenheit gebunden ist, die auf die Sprache der Lebensund Alltagswelt zurückverweist und damit immer auch eine soziokulturelle Prägung besitzt. Was nun in Bezug auf diesen ganzen Komplex der ‚Theorieʻ der internationalen Beziehungen, verstanden im Sinne von θεωρία, alles ‚kritischʻ sein kann, lässt sich am Ende gerade nicht nur in einem disziplinären und fachblinden Sinn historisch bzw. mit einem ‚empirischenʻ Blick darauf herleiten, wie bestimmte Teilnehmer/innen am amerikanisierten IB-Diskurs bisher ihre Form der Kritik praktiziert haben. Das würde

deren Entwicklungsgange ab, was und wie man beobachtet. […] Es gibt keine anderen naturgetreuen Beobachtungen als die kulturgetreuen.“ (Hbg. im Original)  ‚Praxisnahʻ im Sinne einer vorgestellten Nähe zum Bereich der (außen)politischen Praxis.  Vgl. dazu Pirmin Stekeler-Weithöfer, Wie bestimmen Sprachformen den Horizont einer Wissenschaft? Bemerkungen zur Vagheit und zur Norm der Exaktheit, in: Herbert. E.Wiegand, Sprache und Sprachen in den Wissenschaften. Geschichte und Gegenwart (Berlin: de Gruyter, 2011), 508 – 532, 529.

Eine kritische Haltung basiert auf Skepsis

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voraussetzen, das ‚Kritischeʻ dort wäre nicht ebenfalls an begriffliche Kriterien gebunden gewesen, die bei der Wahl des Adjektivs ‚kritischʻ als bekannt angenommen worden sind. Das würde bedeuten, diese Fachvertreter/innen hätten sich nicht ihrerseits an einem vorgängigen – philosophischen – Begriff der Kritik mit einer gewissen Tiefendimension orientiert. Und das ist, salopp gesagt, völliger Unsinn. Was in Bezug auf den gerade skizzierten Komplex der ‚Theorieʻ der internationalen Beziehungen alles ‚kritischʻ sein kann, lässt sich nur immer wieder aufs Neue über den Weg in entsprechende Reflexionskontexte erkennen, die sich als mehr oder weniger stark miteinander verflochtene Dimensionen eines unabgeschlossenen Begriffs bzw. Diskurses der Kritik verstehen lassen. Und dieser Begriff/Diskurs ist zwangsläufig breiter, als die Kritik innerhalb der akademischen IB. Natürlich ist es völlig ausgeschlossen, die Grenzen dieses Begriffs/Diskurses endgültig festzulegen, geschweige denn alle seine konstitutiven Dimensionen zu beschreiben. Gemäß der hier vertretenen Prämisse gibt es freilich besonders wichtige Dimensionen eines typisch ‚kritischenʻ sozialwissenschaftlichen Nachdenkens über die Welt, die seit langem elementar für den Begriff der Kritik gewesen sind. Im ersten Teil des vorliegenden Buches sollen daher wichtige Dimensionen dieses Kritikbegriffs rekonstruiert werden, um einen Kriterienkatalog in Erinnerung zu bringen, anhand dessen sich beurteilen lässt, was das ‚Kritischeʻ am Komplex der ‚Theorieʻ der internationalen Beziehungen sein kann. Das Ziel des ganzen Unterfangens besteht darin, bei aller gebotenen Bescheidenheit die Möglichkeitsbedingungen für eine Urteilskraft zu erhalten, die es Interessierten an einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Phänomenen der internationalen Beziehungen erlaubt, einem Sog zu widerstehen, der im Zuge der disziplinären Spezialisierung und Abgrenzung in den Sozialwissenschaften vielerorts schon gar nicht mehr als die intellektuelle Verarmung empfunden wird, die sie eigentlich ist: die emphatische Bejahung der eigenen Disziplinierung und Fachblindheit.

Eine kritische Haltung basiert auf Skepsis Trotz der unsicheren Quellenbasis lässt sich der Schluss vertreten, dass sich im antiken Griechenland zwischen dem sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhundert die ersten Ansätze einer ‚kritischenʻ Haltung aus den Prinzipien einer Skepsis entwickelt hatten, die aufgrund der Art ihrer Positionierung gegenüber den realweltlichen Umständen bis heute relevant geblieben sind. Ihre zentralen Angriffspunkte waren mithin die Anforderungen für ‚wissenschaftlicheʻ Wahrheitsaussagen sowie die Geltungsbedingungen sozialer bzw. rechtlicher Normen. Für ein angemessenes Verständnis dieser Form der Skepsis ist wichtig, sie einerseits vor dem realweltlichen Hintergrund der athenischen ‚Demokratieʻ mit ihrer starken sozialen Stratifizierung als Reaktion auf die daraus entspringenden Erosionstendenzen zu begreifen; und sie andererseits vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund eines neuen und auch überheblichen ‚Pragmatis-

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I Der Begriff des Kritischen

musʻ³⁵ unter den mittleren und Oberschichten zu interpretieren. In diesem Kontext wurde sie als Reflex auf gravierende Missstände³⁶ zu einem durch und durch ‚humanistischenʻ Habitus einer praxisorientierten Kritik an tradierten Formen der Adelswillkür und entsprechenden Praktiken der Diskriminierung. In intellektueller Hinsicht gab sie wichtige ‚aufklärerischeʻ Impulse zur Hinterfragung der tradierten Götter- und Mysterienkulte³⁷ sowie der spekulativen Naturphilosophie, die ihrerseits jedoch auch wichtige Voraussetzungen für ihre Entstehung schuf. Diese lagen zum einen in der Verlagerung des gelehrten Diskurses in ein ‚Sinnfeldʻ³⁸, das seine Konturen immer stärker aus einem gedanklichen Zusammenhang zwischen explizit artikulierten Begriffen wie vor allem ‚Naturʻ (φύσις), ‚Wahrheitʻ (αλήθεια) und ‚Vernunftʻ (λόγος) gewann³⁹; sie lagen zum anderen in der zunehmenden Häufigkeit, mit der einschlägige Tätigkeitswörter verwendet worden waren, die auf eine aktiv deutende Beschäftigung mit der Welt und eine allmähliche Einbettung von theo- und mythologischen Denkfiguren in eine stärker vernunftbasierte Interpretation realweltlicher Sachverhalte schließen lassen: ειδέναι, νοεῖν, γιγνόσκειν, ακούειν oder auch φρονεῖν ⁴⁰.

 Vgl. Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1986), die auf 89 von einer Zeit spricht, die geprägt war„[…] both of acute anxiety and of exuberant confidence in human power […],.“ was aus ihrer Sicht sogar eine frühe Art des ‚human progressʻ war. Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen (Frankfurt: Suhrkamp, 1983), 45 verwendet stattdessen lieber den Begriff eines ‚Könnens- bzw. Problemlösungsbewusstseinsʻ, um gerade nicht von ‚Fortschrittʻ sprechen zu müssen, den er dezidiert ausschließt.  Vgl. prägnant dazu Abraham Coralnik, Zur Geschichte der Skepsis, Archiv für Geschichte der Philosophie 27:2 (1914), 188 – 222, 221: „Ein richtiger Skeptiker leugnet nichts a priori.“  Vgl. dazu Otto Kern, Die griechischen Mysterien der klassischen Zeit (Berlin: Weidmann, 1927).  Der Begriff ‚Sinnfeldʻ impliziert hier, dass realweltliche Zusammenhänge mit Blick auf ihre Bestandteile und deren Bedeutung immer ‚nurʻ in einem gemeinsamen Raum mit symbolisch vermittelten Vorstellungen erkannt werden können. Vgl. dazu auch Markus Gabriel, Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie (Berlin: Suhrkamp, 2016), der allerdings noch einen erheblichen Schritt weiter geht, bzw. wieder auf eine quasi-empiristische Illusion zurückfällt, wenn er auf 466 behauptet, dass sich Sinnfelder (auch) durch Sinne konstituieren, die nicht vom Menschen hervorgebracht werden, sondern die Eigenschaften der‚Dinge an sichʻ [sic!] sind. Es bleibt nur die Frage, wie sich diese Behauptung jemals plausibel begründen lassen soll, wenn man bedenkt, dass alle Spezifikationen von ‚Sinnʻ, ‚Existenzʻ und (realweltlichen) ‚Dingenʻ ihrerseits von der Sprachverwendung und der dazugehörigen Sprachkompetenz etwaiger Adressaten, d. h. einem intersubjektiv geteilten menschlichen Vorstellungsvermögen abhängt. So, wie Gabriel diese Behauptung immer wieder plausibel machen will, gelingt das sicher nicht.  Solche schlagwortartigen Verkürzungen werden den komplexeren griechischen Begriffen nicht gerecht – gerade der ‚Logosʻ-Begriff mit seinem Verweis auf ein ‚inneres Gefügeʻ ist extrem schwierig. Namhafte Philosophen, die unter Voraussetzung bzw. Verwendung solcher und anderer Begriffe zur Diskussion in dem dazugehörigen Sinnfeld beitrugen, waren u. a. Heraklit, Anaxagoras, Empedokles, Demokrit und auch der ‚Sophistʻ Antiphon. Vgl. dazu Felix Heinimann, Nomos und Physis: Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts (Darmstadt: WBG, [1945] 1978).  Vgl.Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen: die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen (Frankfurt: Suhrkamp, 1978), 162– 168. Vgl. auch Richard D. McKirahan, Jr., Philosophy before Socrates: An Introduction with Texts and Commentary (Indianapolis: Hackett, 1994), 7– 19, der in

Eine kritische Haltung basiert auf Skepsis

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Eine zentrale Annahme der meisten sogenannten ‚Vorsokratikerʻ bestand zwar zunächst darin, dass die Welt und ihre wahrnehmbaren Erscheinungen als solche in einem gewissen Sinn ‚empirischʻ⁴¹, d. h. durch Beobachtung aus einem materiell gegebenen Grundstoff, einem als solchen konstanten Grundprinzip, αρχή, abzuleiten wäre; aber schon recht früh entwickelte sich in dieser Phase der Naturphilosophie zwischen ihren verschiedenen Vertretern eine Dialektik, „[…] indem ein System das andere aufhob. Auch mündete sie allemal in eine Pointe, die entweder tatsächlich nihilistisch war oder doch so aufgefasst werden konnte.“⁴²

Die Skepsis gegenüber ‚derʻ Realität Wenn etwa Parmenides im Gespräch mit Sokrates darauf hinwies, dass sich Wissen dem Begriff nach dadurch auszeichnet, dass es immer ein gedankliches bzw. konzeptuelles Wissen um die Wahrheit ist, insofern sich das gedankliche Konzept als Form auf ein realweltliches ‚Seinʻ im Sinne einer unwandelbaren Materie bezieht, dann wirkte das zunächst dogmatisch, was die objektiven Eigenschaften des zu erkennenden Gegenstands betrifft. Freilich war sich Parmenides über die Eigenschaften des Objekts selbst gar nicht sicher⁴³. Vor allem änderte diese Feststellung nichts an seiner Überzeugung, dass jegliches Wissen mit erheblicher Unsicherheit behaftet wäre⁴⁴, schließlich hing alles Wissen von der Welt an einem entsprechenden Begriff, mit dessen Hilfe es erst möglich werden würde, sich über die Prinzipien der Welt schriftlich und vor allem auch mündlich auszutauschen⁴⁵. Passend dazu war die Feststellung von Heraklit, dass die

diesem Zusammenhang insbesondere auf die unterschiedliche Wortwahl in den Texten von Hesiod und Thales hinweist.  Vgl. dazu Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, a.a.O., 170: „Das Sich-Befassen, Abtasten von etwas ist eine Grunderfahrung, durch die erst die Plastizität eines Körpers angeeignet und eben zur Erfahrung wird, die man später beim Sehen mit hineinlegt. Dies Befassen und Befasstsein ist die Grundlage des Begriffs der Erfahrung bei den Griechen. Unser ‚Erfahrenʻ bedeutet ein ‚Erwandernʻ, auch die Vorstellung des ‚fahrenden Gesellenʻ gehört hierhin.“  Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands (München: dtv, [1950] 1981), 262.  Vgl. dazu Heinrich Slonimsky, Heraklit und Parmenides (Gießen: Töpelmann, 1912), 47.  Vgl. das entsprechende ‚Eingeständnisʻ von Parmenides im gleichnamigen Dialog von Platon: „[…] the forms inevitably involve these objections and a host of others besides – if there are those characters for things, and a person is to mark off each form as ‚something itself.ʻ As a result, whoever hears about them is doubtful and objects that they do not exist, and that, even if they do, they must by strict necessity be unknowable to human nature; and in saying this he seems to have a point; and, as we said, he is extraordinarily hard to win over.“ Plato, Parmenides, transl. by M.L. Gill & P. Ryan (Indianapolis: Hackett, 1996), 138. (Hbg. im Original)  Vgl. dazu Jean Hatzfeld, History of Ancient Greece, rev. by André Aymard (New York: Norton, 1966), 86: „It was not only by means of books that the thoughts of these sages were disseminated; indeed it is by no means certain that Thales or even Pythagoras ever wrote anything down. They were the originators of those traditions of oral teaching that lasted as long as Hellenism.“ Wobei ergänzt werden sollte, dass

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Suche nach einem konstanten Urstoff vor allem seine Nicht-Erkennbarkeit nahelegen würde⁴⁶, zumal die unterschiedlichen Naturforschungen bis dato nichts anderes als bloße ‚Meinungenʻ, δόξαι, hervorgebracht hätten, die zumal im Widerspruch zueinander stünden. Das wiederum bedeutete, dass die wahre Natur der realweltlichen Seinsverhältnisse im ‚Widerstreitʻ (πόλεμος) ihrer jeweiligen Elemente liegen würde⁴⁷, und dass analog dazu auch der Widerspruch der Meinungen die einzig vernünftige Wahrheit wäre, die in ein Denken mündete, das als richtiges Denken (λόγος) zu sich käme, wenn es die realweltlichen Seinsverhältnisse ihrem Wesen nach als veränderliche erkennen würde, weil immer wieder von Neuem auftauchende Gegensätze zu einem beständigen Wandel führten. Kurz: „Die Gegensätzlichkeit und die Proportion im Umschlag ist das eigentlich Dauerhafte im Fluß der Veränderung.“⁴⁸ Bereits im sechsten vorchristlichen Jahrhundert wurde also über eine immer selbst‚bewussterʻ werdende empirische Beschäftigung mit der Welt deutlich, dass die Wahrheit realweltlicher Zusammenhänge letzten Endes auf begrifflich fundierter Spekulation beruht und als objektive Seinswahrheit schon deswegen unerreichbar ist, weil sie sich immer an eine Instanz des ‚nach innenʻ gerichteten begrifflichen Denkens bzw. den zur Vergegenständlichung und Deutung der Realität fähigen, weil sprachlich kompetenten Menschen knüpft. Jede Erkenntnis der Wirklichkeit resultiert aus einem vergegenständlichenden und deutenden Denken, das seinerseits immer nur auf der Basis einer zwischen Menschen eingeübten Sprache und ihren Begriffen möglich ist. Jeder realweltliche Gegenstand mit Bedeutung ist seit Beginn einer vernunftbasierten Beschäftigung mit der Welt immer und unweigerlich ein begrifflich vermittelter Gegenstand für Menschen gewesen. Kein realweltlicher Gegenstand kann demnach ohne seine begriffliche Vermittlung zum Gegenstand mit Bedeutung für Menschen werden⁴⁹; jeder

Wissen um ‚wichtigeʻ Begebenheiten im antiken Griechenland bereits seit langer Zeit Gegenstand der oral history gewesen war.  Vgl. dazu seinen Ausspruch: „Der Ursprung [der Dinge] […] pflegt, verborgen zu bleiben.“ M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Band I (Düsseldorf: Patmos, 2007), 301.  Dabei gehören die folgenden beiden Sätze zusammen, nämlich: „Krieg ist Vater von allen und König von allen. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ Und: „Man soll aber wissen, dass Krieg Gemeinsamkeit ist und Gerechtigkeit Streit und dass alles geschieht durch Streit und Notwendigkeit.“ Ebda, 307. Nicht nur die berühmte ‚HerrKnecht-Metapherʻ von Hegel lässt sich direkt auf diesen Gedankengang von Heraklit zurückbeziehen.  Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, a.a.O., 378.  Vgl. dazu aber die – befremdlichen – dogmatischen Bemerkungen von Markus Gabriel, ‚Wir haben Zugang zu den Dingen an sichʻ, in: Carsten Könneker (Hg.), Fake oder Fakt? Wissenschaft, Wahrheit und Vertrauen (Heidelberg: Springer, 2018), 45 – 52, 49: „Es gibt eine Gruppe von Philosophen vor allem in den USA, aber auch hier zu Lande, in Italien und Frankreich, die argumentieren, dass wir notwendig [sic!] einen Zugang zu Dingen an sich haben müssen. An die Kantthese in ihrer traditionellen Form glaubt eigentlich niemand mehr [sic!]. Ich denke zum Beispiel, dass es Farben an sich gibt [sic!], nicht nur in unserer Wahrnehmung.“ Solche apodiktischen Behauptungen scheinen die komplizierte Rolle von ‚Bedeutungʻ für ‚Wahrheitʻ zwischen Menschen komplett zu vernachlässigen. Sie werden im Grunde nur verständlich vor dem Hintergrund pragmatistischer Setzungen, die für die anglo-amerikanische Wissenschaftskultur und ihre Wahrheitsregime typisch sind. Demgegenüber könnte man mit einer Orien-

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realweltliche Gegenstand wird nur insofern ein denkbarer Gegenstand für Menschen, als er sprachlich bzw. begrifflich vermittelt gedacht werden kann; und jede sprachliche Kompetenz des Menschen ist ihrerseits ein Resultat der Sozialisierung durch eine Sprachgemeinschaft qua Kulturgemeinschaft. Denn „[d]ie einzelne Sprache als ein Organon des Verständnisses und der Kommunikation innerhalb einer abgegrenzten Gesellschaft setzt ein vorgängiges gemeinsames Weltverständnis dieser Gesellschaft voraus.“⁵⁰ Ohne eine kollektive ‚Bewusstʻwerdung um die persönliche Innerlichkeit sowie eine Bereitschaft zum begrifflichen Denken, und ohne gemeinsame – begriffliche – Vorstellungen von stofflich-materiellen Elementen wie ‚Wasserʻ (ὕδωρ), einem ‚Unbegrenztenʻ (ἄπειρόν), der ‚Luftʻ (ἀὴρ), oder dem ‚Feuerʻ (πῦρ) als unveränderliche Gegebenheiten und Möglichkeitsbedingungen für realweltliche Seinsverhältnisse, hätte es eine antike Naturphilosophie als diskursiven Verweisungszusammenhang nie gegeben. Mit Blick auf die politischen Institutionen ist es nicht anders, d. h. ohne eine um sich greifende kulturspezifische ‚Gewissheitʻ, dass die Menschen in Attika nicht nur einen zufälligen Personenverband sondern obendrein auch eine ‚Schwur-, Kultur- und Wehrgemeinschaftʻ bildeten und in diesen – zunehmend säkularen – Bewusstseinsformen für ihr individuelles und kollektives Schicksal auch selbst verantwortlich wären⁵¹, oder dass die ‚wohlgeordneteʻ bzw. ‚guteʻ Organisation einer Bürgergesellschaft (ευνομία) vor allem seit Solon mithin der kollektiven Übernahme politischer Verantwortung durch tugendhafte Bürger bedurfte, wäre es im antiken Athen unmöglich gewesen, politische Autorität in einem zunehmend gewaltenverschränkten System zu institutionalisieren und/oder Streitigkeiten sowie Schuldfragen juristisch, d. h. anhand kodifizierter Gesetze, und nicht mehr patriarchal und ‚sekretistischʻ zu verhandeln⁵².

Die Skepsis gegenüber ‚derʻ sozialen Wirklichkeit Wenn im fünften vorchristlichen Jahrhundert nach den sogenannten ‚Perserkriegenʻ eine neue Generation von Intellektuellen damit begann, nicht nur die Möglichkeit der empirischen Natur- und Welterkenntnis zu bezweifeln, sondern insbesondere auch alle Wahrheitsansprüche über die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren und damit dezidiert die Position einer radikalen erkenntnistheoretischen Skepsis einzunehmen, dann war dieser Schritt bereits aufgrund der von Parmenides und Heraklit aufgeworfenen methodischen Zweifel an jedem Wahrheitswissen in einer rein theoretischen

tierung an hermeneutischen Denktraditionen genausogut behaupten, dass die u. a. von Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache (Stuttgart: Klett-Cotta [1959] 2007), 13 vertretene Position unwiderlegt ist, dass nämlich die Wahrheit der Dinge immer eine Wahrheit für den Menschen ist, insofern sie in der Sprache ‚verborgenʻ ist und nur durch Sprache ‚entborgenʻ werden kann.  Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, a.a.O., 475.  Vgl. Linda-Marie Günther, Griechische Antike (Tübingen: Francke, 2008), 52– 65.  Vgl. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, a.a.O., 114.

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Hinsicht naheliegend⁵³. Angesichts der nicht nur in Athen immer wieder aufflammenden Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Adelsfamilien⁵⁴ und ihren Clans wurde er gewissermaßen zwangsläufig. Schließlich gehörte zur Adelskultur in Athen, trotz – oder besser: wegen – der bisherigen Demokratisierungsschritte⁵⁵, weiterhin unverändert der Anspruch auf eine Art kastenartiger Privilegierung bei der Vergabe wichtiger Einflusspositionen⁵⁶, der offenbar auf einem entsprechenden Glauben an bestimmte ‚Notwendigkeitenʻ im Weltgeschehen beruhte, der seinerseits von einer verbreiteten Überzeugung der allgemeinen Ungleichheit der Menschen getragen zu sein schien⁵⁷. Die Kritik mancher ‚Sophistenʻ an solchen Verweisen auf feststehende ‚Naturgesetzeʻ war gleichbedeutend mit einem Zweifel an der Legitimität politischer Machtausübung in einer de facto stratifizierten Ordnung⁵⁸, die als solche nur scheinbar der ‚Naturʻ entsprechen und auch nicht per se auf vollkommenen Gesetzen beruhen konnte – und nur die musste ein Bürger gemäß dem neuen ‚aufgeklärtenʻ Wahrheitsregime auch befolgen⁵⁹. Im Zuge der sogenannten ‚Demokratisierungʻ Athens durch die Kleisthenischen Phylen- und Demenreformen wurde zwar die Bedeutung vormals bestehender Abhän Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, a.a.O., 261.  Vgl. Michael Stahl, Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen: Untersuchungen zur Überlieferung, zur Sozialstruktur und zur Entstehung des Staates (Stuttgart: Steiner, 1987), 89 – 93, der die Neigung zum gewaltsamen Konfliktaustrag im Ämterwettbewerb unter den griechischen Adeligen als Ausfluss ‚agonalerʻ Dispositionen deutet und damit als ein inhärentes Charakteristikum der Adelsschicht versteht.  Vgl. dazu aber Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, a.a.O., 225, der betont, dass Athen zwar die ‚extremste Form der Demokratieʻ zur damaligen Zeit darstellte, es aber viel angemessener wäre, von einer ‚Oligarchieʻ zu sprechen.  Vgl. Elke Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft: Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit (Stuttgart, Steiner, 1989), besonders 134– 138. Vgl. auch Christian Mann, Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation. Die athenische Demokratie aus der Perspektive der Systemtheorie, Historische Zeitschrift 286:1 (2008), 1– 35, 24, der mit Blick auf die Forschung zu den realpolitischen Verhältnissen im späteren 5. Jahrhundert darauf verweist, „[…] daß vielerorts die Meinung vertreten wird, bei der [athenischen] Demokratie habe es sich nicht um eine Volksherrschaft, sondern um eine Fortsetzung der Adelsherrschaft in neuem Gewande gehandelt; nach wie vor habe Politik im wesentlichen zwischen konkurrierenden Adligen stattgefunden, mit dem Bedeutungsgewinn der Volksversammlung sei lediglich eine neue Plattform geschaffen worden, um die Rivalitäten auszutragen.“ Er selbst würde offensichtlich eher der Beurteilung von Winfried Schmitz, Verpaßte Chancen. Adel und Aristokratie im archaischen und klassischen Griechenland, in: H. Beck, P. Scholz & U. Walter (Hg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ,edlerʻ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit (München: Oldenbourg, 2008), 35 – 70, 70, zustimmen, dass die politischen Strukturen weniger aristokratisch als ‚dynastischʻ gewesen waren.  Vgl. Mann, Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation, a.a.O., besonders 8 – 18, der diese Sicht mit Verweis auf entsprechende Textstellen einer Schrift von Pseudo-Xenophon illustriert, die sich auf die Verhältnisse während des bzw. der Peloponnesischen Kriege bezieht.  Vgl. zur Stratifizierung in Attika, Günther, Griechische Antike, a.a.O., 187; vgl. auch Mann, Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation, a.a.O., 17, der allerdings bemerkt, dass sich die soziale Stratifizierung nicht in der Entscheidungsfindung abgebildet hätte.  Vgl. Walther Kranz, Griechische Philosophie (Wiesbaden: Dieterich, 1950), 103, der dabei auf die Argumentation Demokrits verweist.

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gigkeitsverhältnisse zwischen einfachen und adeligen Bürgern für die öffentliche Entscheidungsfindung entwertet, wodurch ein ‚freierʻ Austausch von Argumenten in öffentlichen Diskussionen über die praktische Lösung gesellschaftlicher Probleme überhaupt erst möglich wurde⁶⁰. Und in dieser Hinsicht erwiesen sich manche ‚Sophistenʻ als engagierte Lehrer einer erfolgreichen, weil vor allem auch moralisch überzeugenden Rhetorik offenbar immens einflussreich⁶¹. Allerdings brachte die Ausweitung der Partizipation in Städten wie Athen ab dem frühen fünften vorchristlichen Jahrhundert auch einen starken Anstieg der Politisierung öffentlicher Debatten mit sich, die in aller Regel durch ein erhebliches Maß von ‚parteipolitischerʻ Polemik, Demagogie und Denunziation geprägt waren. Dabei ging es in relativ kurzen Abständen darum, unter den besonders ambitionierten Eliten vermeintliche Hochverräter zu identifizieren bzw. ‚ostrakisierenʻ sowie zahlreiche Positionen in der Verwaltung und den Gerichten zu besetzen⁶². Nicht nur kam es für die Kandidaten, die aufgrund der herrschenden Voraussetzungen weiterhin ganz überwiegend aus der Oberschicht stammten⁶³, darauf an, eine große Menschenmenge von ihrer Eignung für die Führung der Amtsgeschäfte zu überzeugen; aufgrund der auch und gerade in der Öffentlichkeit ausgetragenen Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Cliquen und Parteien⁶⁴, mussten sich angesehene Bürger häufig vor den Gerichten gegen Anklagen und Verleumdungen aus dem ‚feindlichenʻ Lager wehren. „A premium was thus placed, if one were well-off and aspired to a public career (or even to hold oneʼs own in a private lawsuit), on acquiring a facility in public speaking.“⁶⁵ Aus einer sophistischen Haltung heraus war metaphysisches Wissen um die vermeintlichen Grundprinzipien der Welt nicht nur unsicher; es war vor dem konkreten geschichtlichen Hintergrund der athenischen Demokratie mit ihren oft perfide ausgetragenen parteipolitischen Rivalitäten genauso wenig hilfreich, wie eine unbegründete Autoritätsgläubigkeit der einfachen Menschen; oder wie die Suche gebildeterer Schichten nach mathematischen Wahrheiten, die in der realen Welt überhaupt nicht vorkommen und deshalb als rein theoretische Fiktionen zu betrachten wären⁶⁶. Relevantes Wissen zeichnete sich für Sophisten wie Protagoras zumal in einer selbstver-

 Vgl. Mann, Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation, a.a.O., 20 – 22.  Vgl. Kranz, Griechische Philosophie, a.a.O., 106; vgl. auch Bertrand Russell, Denker des Abendlandes. Eine Geschichte der Philosophie (Stuttgart: Belser, 1997), 64.  Vgl. Günther, Griechische Antike, a.a.O., 169 – 173.  Vgl. Mann, Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation, a.a.O., 23: „Bei Wahlverfahren spielen die Person, ihr familiärer Hintergrund, ihre ökonomische Potenz und ihr persönliches Auftreten eine große Rolle.“  Vgl. Günther, Griechische Antike, a.a.O., 181, mit einem Verweis auf den Versuch Kimons anno 461 v.Chr., die durch Ephialtesʻ Reformen herbeigeführte Aufwertung der Volksversammlung gegenüber dem Adelsgremium des Areopag wieder rückgängig zu machen.  John Dillon (Hg.), The Greek Sophists, transl. by J. Dillon & Tania Gergel (London: Penguin, 2003), x.  Vgl. Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, a.a.O., 264.

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walteten ‚Bürgergesellschaftʻ durch seine praktische Verwertbarkeit aus⁶⁷; und dabei wurde nicht mathematische Exaktheit oder eine Korrespondenz zwischen Begriff und materiellem Urstoff, sondern das persönliche Erleben und Erleiden zum wichtigsten Kriterium vernünftiger Wahrheit⁶⁸.Wenn das Leben in Gesellschaft jeden einzelnen und das Kollektiv fortwährend zu Entscheidungen zwingt, dann wären in diesem Zusammenhang keine abstrakten Lehren hilfreich; zumal nicht solche, die von einer handvoll Esoterikern in gesellschaftlicher Isolation gewonnen und auch nur für diese verständlich werden würden⁶⁹. Anstelle der trügerischen Gewissheit vermeintlich objektiver Seinswahrheiten wurden aus sophistischer Sicht vielmehr solche Maximen relevant, die für konkrete Menschen im jeweiligen Kontext einer gesellschaftlichen Praxis ‚nützlichʻ und vernünftig erschienen⁷⁰. Schließlich hatten bereits die verschiedenen Lehren der Naturphilosophen den ‚Nachweisʻ dafür erbracht, dass jede begriffliche Gewissheit als solche bloßer Schein ist, weil sich zu jeder Behauptung über die Natur der Dinge auch eine gegenteilige Behauptung aufstellen lässt. Für den komplexen und wandelbaren Bereich menschlicher Interaktionen konnte es nach dem Dafürhalten mancher Sophisten daher noch viel weniger sinnvoll sein, sich angesichts der epistemischen Gleichwertigkeit (ἰσοσθένεια) widersprüchlicher Prinzipien bzw. Argumente willkürlich für die Befolgung eines daraus abgeleiteten Dogmas zu entscheiden. „Im Gegenteil: die epoché ist das skeptische Plädoyer gegen die Voreiligkeit einer Beschlussfassung angesichts argumentativer Ausweglosigkeit.“⁷¹ Behauptungen über die Beschaffenheit realweltlicher Gegenstände müssen sich stattdessen im konkreten Lebenszusammenhang der Menschen, d. h. an einem humanistischen Maßstab⁷², bewähren. Und das bedeutet, dass die

 Vgl. dazu Protagoras, in: Platon Werke, Band 1, Gunther Eigler (Hg.), 7. Aufl. (Darmstadt,WBG, 2016), 111: „Diese [wichtigste] Kenntnis aber ist die Klugheit in seinen eignen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwalten, und dann auch in den Angelegenheiten des Staats, wie er am geschicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden.“  Vgl. Kranz, Griechische Philosophie , a.a.O., 96, der die sophistische Kritik dementsprechend auch als eine Art ‚Weltanschauungʻ begreift. In diesem Sinn auch Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Band I: Altertum und Mittelalter (Freiburg: Herder, 1980), 54.  Das traf aus Sicht von Protagoras vor allem auf die Zahlentheorie/n der Pythagoreer zu. Vgl. Michael Schramm, Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras, Méthexis 29:1 (2017), 20 – 45, 29. Mit dieser Haltung wird auch suspekt, wie sich die Rückbesinnung auf das mathematische Weltbild bei Galilei auf ‚Staatstheoretikerʻ wie Hobbes auswirkte, der sich nicht scheute, den Staat unter Rückgriff auf die ‚geometrische Methodeʻ als absolutistischen Zwangsapparat zu begreifen – und damit zur Karikatur zu machen. Vgl. zum Einfluss des mathematischen Weltbilds auf Hobbes, Hardy Grant, Geometry and Politics: Mathematics in the Thought of Thomas Hobbes, Mathematics Magazine 63:3 (1990), 147– 154.  Vgl. den entsprechenden Hinweis von Protagoras im Gespräch mit Sokrates: „[…] denn jedem von uns, glaube ich, nützt die Gerechtigkeit und Tugend der andern; deshalb lehrt jeder so gern den andern das Gerechte und Gesetzmäßige.“ Platon Werke, a.a.O., 129.  Dietmar H. Heidemann, Der Begriff des Skeptizismus. Seine systematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung (Berlin: de Gruyter, 2007), 26.  Vgl. Helmut Seidel, Gedanken zum Begriff und zur Geschichte des Humanismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 32:8 (1984), 748 – 755, 750: „Humanistisch sind jene Ideen, die auf Bewahrung und Siche-

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Wahrheit aller Aussagen immer kontingent und relativ gegenüber diesem Lebenszusammenhang ist. Nicht zuletzt der homo mensura Satz (‚der Mensch ist das Maß aller Dingeʻ) von Protagoras als dem ‚Vater des Skeptizismusʻ⁷³, steht für diese Radikalisierung des erkenntnistheoretischen Postulats, demgemäß jegliches Wissen von der Welt immer auf einer deutenden Wahrnehmung durch ein konkretes menschliches Subjekt beruht⁷⁴, die jede objektive Wahrheit der gesellschaftlichen Seinsverhältnisse als solche unerreichbar werden lässt⁷⁵. Das spiegelt sich in der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass es für Menschen keine sinnbeladene Realität im Sinne einer natürlichen Außenweltumgebung ‚an sichʻ geben kann, sondern dass die Realität ihre Konturen immer relativ zu denjenigen Menschen gewinnt, die sich deutend mit der Welt beschäftigen. Diese Prämisse wiederum liegt in der Einsicht begründet, dass sich die Realität der Welt immer über vorgängig geteilte Dispositionen und Vorstellungen für den oder die Menschen in einem bestimmten raumzeitlichen Kontext erschließt, weil erst diese vorgängigen Dispositionen/Vorstellungen jede wie auch immer geartete Wahrnehmung der ‚Dingeʻ (χρήματα) möglich machen. Das schließt mit ein, dass sich die wahrnehmungsabhängige Deutung der Welt durch einen einzelnen oder eine Gruppe von Menschen in dem Maß verändert, wie sich die jeweiligen Dispositionen/Vorstellungen verändern. „What he [Protagoras] declares, then, is that matter is in flux, and as it flows additions arise continuously in place of what flows out, and the senses are restructured and altered in accordance with the stages of life and all the other conditions of bodies.“⁷⁶ Dabei richtete sich die Skepsis nicht nur auf scheinbar objektive Faktizitäten: die Suche nach der Wahrheit implizierte auch, dass Menschen sich in ihrem jeweiligen Kontext nicht teilnahmslos bzw. desinteressiert mit der Wirklichkeit beschäftigten, sondern immer auch mit einem Blick für die ‚Sittlichkeitʻ der sozialen Verhältnisse, in die sie selbst eingebunden sind; und zwar nicht nur mit der Frage, inwiefern die Verhältnisse für sie selbst⁷⁷ und vielleicht noch für ihre Angehörigen Vorteile bieten, sonrung der natürlichen und gesellschaftlichen Existenz der menschlichen Individuen zielen, auf Bedingungen, innerhalb derer der Mensch seine Wesenskräfte frei und schöpferisch zu entfalten und mit seinesgleichen solidarisch zu leben vermag.“  Vgl. Luciano De Crescenzo, Geschichte der griechischen Philosophie. Die Vorsokratiker (Zürich: Diogenes, 1983), 212.  Vgl. Russell, Denker des Abendlandes, a.a.O., 65; vgl. dazu auch Crescenzo, Geschichte der griechischen Philosophie, a.a.O., 211: „Die Deutung des Satzes hat die Vertreter der Philosophiegeschichte in zwei Lager geteilt. Denn es stellt sich die Frage, wer ist dieser Mensch, von dem Protagoras spricht? Ist es irgendein Mensch, Hinz oder Kunz? Oder ist es der Mensch im Allgemeinen, der die Durchschnittsmeinung der Kategorie Mensch vertritt?“ Schramm, Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras, a.a.O., 26, geht im Unterschied zu Crescenzo davon aus, dass eher sogar eine dritte Version, nämlich ein raumzeitliches ‚Kollektiv von Menschenʻ gemeint ist.  Vgl. u. a. Kranz, Griechische Philosophie, a.a.O., 96. Vgl. auch Didymus, zitiert in Dillon, The Greek Sophists, a.a.O., 42.  Sextus Empiricus, zitiert in Dillon (Hg.), The Greek Sophists, a.a.O., 13.  Vgl. aber offensichtlich in genau diesem Sinn Markus Gabriel, Antike und moderne Skepsis zur Einführung (Hamburg: Junius, 2008), 32, der in Protagoras’ Haltung zu seiner Umwelt einen ‚radikalen

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dern auch mit einem Sinn dafür, ob die öffentlichen Verhältnisse als solche ‚wohlgeordnetʻ, ‚demokratischʻ und/oder ‚gerechtʻ sind⁷⁸. Infrage stand daher auch die Legitimität der geltenden Normen und Institutionen⁷⁹. Die Skepsis der altgriechischen Sophistik war in normativen Fragen nicht nur äußerst heterogen⁸⁰, sie war zumindest im Falle von Protagoras enorm anspruchsvoll. Denn bei ihrem wohlweislich berühmtesten Vertreter entfaltete sich die Skepsis gegenüber den herrschenden Verhältnissen vor dem Hintergrund eines vernünftigen Maßstabs, wie z. B. dem des allgemeinen Nutzens⁸¹ und/ oder der richtigen Bürgertugend⁸². Und das war nichts anderes als eine versteckte Kritik am Status Quo. „Bei der Beurteilung der Sophisten dürfen wir [außerdem] nicht vergessen, daß von ihnen fast nichts erhalten ist und von ihrem erbittertsten Gegner Plato fast alles. Daß sie bloße Quacksalber und Marktschreier gewesen seien, die des Geldes wegen zweifelhafte Künste beibrachten, ist gehässige Karikatur.“⁸³

Solipsismusʻ zu erkennen glaubt. Das scheint allerdings eine Fehlinterpretation zu sein, wenn man berücksichtigt, dass Protagoras über die Wichtigkeit von Erziehung zur Tugend und Urteilskraft nur unter der Voraussetzung einer gemeinsamen lebensweltlichen Kultur sprechen konnte, ohne die nicht nur jedes Gespräch, sondern auch jede deutende Wahrnehmung durch einen oder mehrere Menschen unmöglich wird.  Folgerichtig hatte sich Protagoras als Teilnehmer eines Kolonistenzugs anno 444 selbst aktiv darum bemüht, an einer Verfassung zu arbeiten, die für die Bewohner der neu gegründeten Stadt Thurii ‚nützlichʻ im Sinne des Gemeinwohls ist. Vgl. Günther, Griechische Antike, a.a.O., 156.  Vgl. dazu Protagoras, Platon Werke, a.a.O., der auf 105 darauf hinweist, dass es ihm und anderen Sophisten deswegen immer darum gegangen ist, die ‚Jünglingeʻ zum besseren Urteil zu erziehen; sei es unter dem Deckmantel des Sports, der Musik, oder der Lyrik, wenn es notwendig war, sich nicht den Neid anderer Bürger zuzuziehen bzw. sich nicht die Mächtigen der Stadt zum Feind zu machen; oder sei es ganz offen, wie in seinem eigenen Fall – was ihm schlussendlich aufgrund seiner Religionskritik in Athen ja auch zum Verhängnis wurde.  Die zynisch anmutenden Redebeiträge über das ‚Recht des Stärkerenʻ von Kallikles im Platonischen ‚Gorgiasʻ, oder von Thrasymmachos in der ‚Politeiaʻ wirken wie kategorische Absagen an jede Moral; trotzdem könnten sie auch vor dem Hintergrund der realweltlichen Verhältnisse in der athenischen ‚Demokratieʻ interpretiert werden. Dann wirkten sie eher wie Versuche der Entmystifizierung durch gezielte Provokationen gegenüber rein abstrakten Begriffsbestimmungen solcher Tugenden wie der ‚Gerechtigkeitʻ, die in einem de facto erodierenden Gemeinwesen gerade unter den politischen Eliten eher Desiderat als Institution zu sein schien. Und selbst wenn man dazu übergeht, zynische Aussagen der Sophisten über die Menschennatur für ‚bare Münzeʻ zu nehmen, kommt man nicht umhin festzustellen, dass moralischer Zynismus nicht repräsentativ für das gesamte Spektrum ‚sophistischerʻ Kritik ist – sonst gäbe es keinen Grund, rückblickend von der Sophistik in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts als ‚Zeitalter der Aufklärungʻ zu sprechen. Vgl. dazu Kranz, Griechische Philosophie, a.a.O., 104.  Vgl. Schramm, Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras, a.a.O., 38.  Vgl. Protagoras, Platon Werke, a.a.O., 121: „In Sachen der Gerechtigkeit aber und der übrigen ‚bürgerlichenʻ Tugend […würden vernünftige Menschen] behaupten, ein jeder müsse wenigstens behaupten, er sei gerecht, möge er es nun sein oder nicht, oder er wäre verrückt, wenn er sich die Gerechtigkeit nicht zuschriebe; als ob notwendig ein jeder Mensch auf irgendeine Art Anteil an ihr haben müsse oder gar nicht unter Menschen leben.“  Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, a.a.O., 266. In einem ähnlichen Sinn auch Russell, Denker des Abendlandes, a.a.O., 64. Andererseits scheint sich jedoch selbst ein ansonsten so informierter Fachmann wie Hirschberger, Geschichte der Philosophie, a.a.O., 52– 58, dieser Karikatur anzuschließen, wenn

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Einer der Hauptgründe für die pauschale Verunglimpfung ‚der Sophistikʻ lag demnach nicht nur in ihrer Entlarvung allen Wahrheitswissens als mehr oder weniger gelehrte ‚Meinungʻ, sondern auch in ihrem Appell zur kritischen Hinterfragung solcher Institutionen und Konventionen, die als vermeintlich ‚natürlicheʻ und/oder‚gottgewollteʻ von allen Bürger/innen anzuerkennen wären, obwohl sie bestehende Diskriminierungen in immer neuen Formen reproduzierten. Es ist daher kein Wunder, dass sich vor allem die privilegierten Athener Bürger zur intellektuellen bzw. politischen Verfolgung einer solchen demokratischen ‚Ketzerbewegungʻ aufgerufen fühlten⁸⁴. Die konservative Reaktion auf Kritik an den bestehenden Verhältnissen bestand schon damals in Versuchen der Diffamierung und Mundtotmachung von Kritikern durch diejenigen, die sich weigerten, selbst zu denken: „Wer [dann noch] seine geliebten Glaubenssätze in Frage gestellt sieht, fühlt sich unbehaglich und unsicher. Er antwortet mit Haß und Feindseligkeit.“⁸⁵ Tatsächlich wäre es angesichts der vorherrschenden Überzeugungen überraschend gewesen, wenn sich die privilegierten Kreise in Athen nicht über sophistische Hinweise dergestalt aufgeregt hätten, dass es keine Beweise für die Existenz der so oft beschworenen Götter gab; dass die Mächtigen nicht bessere/qualifiziertere sondern oft genug schlechte/schwache bzw. selbstsüchtige und korrupte Menschen wären; dass sich Menschen nicht von Natur aus in Talent und Tugend unterscheiden; oder dass kein Mensch von Natur aus Sklave wäre. Die Strategie zur Verschleierung der Willkür hinter politischen Institutionen bestand schon damals darin, Kritik pauschal als eine Art ‚Verschwörungstheorieʻ zu dämonisieren und existierende Diskriminierungen zu naturalisieren, indem man die öffentliche ‚Ordnungʻ, den νόμος, als legitime Gegebenheit bzw. als etwas ‚Sakrosanktesʻ überhöhte, „[…] das Götter sowohl wie Menschen zeitlos und allüberall bindet.“⁸⁶ Wenn Protagoras demgegenüber erklärte, dass er imstande wäre, ‚den schwächeren Logos zum stärkeren zu machenʻ, dann entsprach das nicht zuletzt einer aufgeklärten Haltung gegenüber etablierten Institutionen. Jeder Logos erhielt demgemäß seine Bedeutung im Kontext von sozialen bzw. Machtbeziehungen, weswegen seine Dekonstruktion auch niemals rein formal und willkürlich bleiben würde⁸⁷. Für die Geltung von

er dazu neigt, die Sophistik durch die Brille der platonischen Dialoge zu rekonstruieren – und zu beurteilen. Kranz, Griechische Philosophie, a.a.O., 108, weist darauf hin, dass erst die Nachfahren der Sophisten die Rhetorik in Misskredit brachten: „[…] erst durch sie wurde das Disputieren zu leerer Klopffechterei.“ Und dass Platon so heftig und voreingenommen gegen die Sophisten polemisierte, hatte wohl auch damit zu tun, dass er als konservativer Adeliger die ‚demokratieförderlichenʻ Aspekte dieses Denkens kategorisch ablehnte. Vgl. dazu Daniel von Fromberg, Demokratische Philosophen: der Sophismus als Traditionslinie kritischer Wissensproduktion im Kontext seiner Entstehung (Münster: Westfälisches Dampfboot, 2007), 89.  Vgl. zur Rolle von Kritias, Crescenzo, Geschichte der griechischen Philosophie, a.a.O., 213.  Russell, Denker des Abendlandes, a.a.O., 66.  Hirschberger, Geschichte der Philosophie, a.a.O., 55.  Vgl. in diesem Sinn aber z. B. Leo Groarke, Skepsis pflegen: Die sophistische Vortragskunst, in: Markus Gabriel (Hg.), Skeptizismus und Metaphysik (Berlin: Akademie, 2012), 221– 238, 230.

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allgemeinen Normen und Regeln folgte daraus, dass ein bloßes ‚Für-wahr-Haltenʻ durch ein Beschlussgremium nicht reicht. Normen und Regeln bedürften immer einer vernünftigen Prüfung durch ihre Adressaten, die einen Vergleich mit möglichen Alternativen anstellen und den Blick auf die damit verbundenen Konsequenzen werfen sollten. Der entscheidende Anhaltspunkt müsste „[…] der längerfristige Horizont der Bewährung einer Meinung sein, also zugleich der Blick in die Vergangenheit auf die tradierte Praxis und Ansicht und der Blick in die Zukunft im Sinne einer begründeten Prognose. Diese sind aber wiederum keine objektiv feststehenden Tatsachen, sondern eine subjektive bzw. intersubjektive Interpretation des Vergangenen und des Zukünftigen, das mitbestimmt, was in der Gegenwart jemanden oder einer Gruppe als das Nötige zu tun erscheint.“⁸⁸ Mit Protagoras wurde klar, dass jede öffentliche Ordnung als solche künstlich wäre, aus einer gesamtgesellschaftlichen Interaktionspraxis resultierte und ihre Legitimation und relative Stabilität schlussendlich der Setzung und Sanktionierung von Recht durch die jeweils einflussreichsten Kräfte verdankte⁸⁹. Die Institutionen der Herrschaftsausübung sowie die dazugehörigen Normen und Regeln müssten mit der Kulturentwicklung der Gesellschaft vereinbar sein und dürften nicht allein schon wegen ihrer offiziellen Etikettierung als ‚Demokratieʻ von einer Prüfung ihrer Angemessenheit ausgenommen werden⁹⁰. Zumal änderten sich die Dispositionen/Vorstellungen der Menschen und unterlägen die Akzeptanzbedingungen der öffentlichen Institutionen einem historischen Wandel. „Der Wert der Dinge verändert sich also von Person zu Person, ja bei ein und derselben Person auch noch von einem Augenblick zum anderen.“⁹¹ Und genau das machte eine regelmäßige Überprüfung ihrer Angemessenheit und Funktionsfähigkeit nach vernünftigen Kriterien und im Licht entsprechender Alternativen erforderlich. Protagoras hielt eine entsprechende Urteilskraft der Bürger nicht nur für lehr- und lernbar⁹². Aufgrund der allgegenwärtigen Gefahr, in den Parteienstreit konkurrierender Gruppen hineingezogen zu werden, herrschte auch großer Bedarf an einer Erziehung der Bürger zur Mündigkeit. Die Relativität und Veränderlichkeit von Wahrheit hatte demzufolge nichts mit einem Nihilismus gegenüber gesellschaftlichen Normen zu tun. Im Gegenteil bestand aus Protagorasʻ Sicht wegen der sich nach 430 v.Chr. noch mehr verstärkenden Erosionstendenzen in Athen⁹³ eine umso größere Notwendigkeit, die öffentlichen Sitten durch die Förderung politischer Verantwortung zugunsten eines größeren Gemeinsinns nachhaltig zu reformieren⁹⁴. Angesichts der immer skrupelloser werdenden Demagogie wird nachvollziehbar, dass und warum es aus sophistischer Sicht jedem Bürger oblag, sich entweder als Schüler um die bestmögliche Förderung der ei-

      

Schramm, Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras, a.a.O., 39. Vgl. Protagoras, Platon Werke, a.a.O., 123. Vgl. dazu Hirschberger, Geschichte der Philosophie, a.a.O., 55. Crescenzo, Geschichte der griechischen Philosophie, a.a.O., 212. Vgl. Protagoras, Platon Werke, a.a.O., 123. Vgl. dazu Günther, Griechische Antike, a.a.O., 215 – 219. Vgl. Nussbaum, The Fragility of Goodness, a.a.O., 103.

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genen praktischen Vernunft oder als Lehrer um die Vermittlung politischer Klugheit zu kümmern⁹⁵. Zwar blieben alle Menschen immer und unweigerlich Richter in eigener Sache, „[…] aber ebenso gewiß wird unser Urteil von der Moral der anderen beeinflusst.“⁹⁶ Art und Intensität politischer Urteilsfindung, beim einzelnen Bürger und in der Gesellschaft als ganzer, bestimmten sich für Protagoras also nach dem allgemeinen Zustand der höchsten Tugend, der αρετή ⁹⁷: einer Bereitschaft aller Bürger zur aktiven Gestaltung des staatlichen Lebens und Rechtswesens. Die Skepsis richtete sich damit gegen die Willkür und den Zynismus hinter der normativen Kraft solcher Gegebenheiten, in denen Bürger die öffentlichen Ämter mitsamt den dazugehörigen Privilegien als Etappe auf ihrem persönlichen Karriereweg betrachteten und politische Funktionen ohne Verantwortung für das übergreifende Interesse der Gesamtgesellschaft ausübten. Dadurch würden widerstreitende Sichtweisen über den Schutz und die Förderung bestimmter Werte am Ende völlig unüberbrückbar. Und in der Öffentlichkeit ginge nicht nur der Glaube an die Möglichkeit einer gemeinwohlverträglichen Gestaltung der sozialen Verhältnisse verloren; in den sich konsolidierenden gesellschaftlichen Lagern stieg auch die Bereitschaft zur rücksichtslosen Befriedigung ihrer Partikularinteressen. Die dadurch wiederum begünstigte Entstehung von organisierten Parteilichkeiten wäre begleitet von einem zunehmend skrupellosen Einsatz von Demagogie und Propaganda, um Lehren wie z. B. die über die ‚Bösartigkeit der Menschennaturʻ und die ‚Unmöglichkeit eines sozialen Ausgleichsʻ als Wahrheiten auszugeben, die das eigene Verhalten normalisierten. Der sophistische Wahrheitsrelativismus entzündete sich an der Frage, wem abstrakte Lehren über die sozialen Verhältnisse nützen – und gewann darüber seine anhaltende Radikalität als ein sich gegenüber den materiellen Verhältnissen vollbringender Skeptizismus.

Kritisches Denken ist anti-metaphysisch Die philosophischen Überlegungen von Kant haben ihrerseits wichtige und unverändert aktuelle Kriterien für den Kritikbegriff geliefert; zum einen, wegen der Konsequenzen, die sich von der kritischen Beschäftigung Kants mit Metaphysik und allen darauf bezogenen Wahrheitsansprüchen ableiten lassen; zum anderen, wegen der Schlussfolgerungen, die sich daraus für die Beschäftigung mit sozialen Phänomenen ziehen lassen. Dabei geht das eine nicht ohne das andere: „Kants Kritiken sollen gewiß mehr sein als eine Grundlegung für die politische Philosophie. Sie aus dieser Perspektive zu lesen, wird weder ihrer Bedeutung noch ihrem Gedankenreichtum gerecht. Auf der anderen Seite wird man Kants politische Philosophie kaum verstehen, ohne die Grundzüge seines

 Vgl. Protagoras, Platon Werke, a.a.O., 109.  Crescenzo, Geschichte der griechischen Philosophie, a.a.O., 213.  Vgl. Kranz, Griechische Philosophie, a.a.O., 106. Vgl. Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, a.a.O., 267.

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kritischen Geschäfts zu berücksichtigen.“⁹⁸ Hinsichtlich der Metaphysik manifestierte sich in den Beiträgen von Kant der skeptische Drang, althergebrachte erkenntnistheoretische Irrtümer betreffend den ontologischen Status realweltlicher Sachverhalte und ihre vermeintlich kausalen Zusammenhänge sowie die entsprechende Herleitung durch Induktion bzw. Deduktion zu überwinden. Im Unterschied zum Dogmatismus sowohl der Empiristen in der Tradition von Locke, demgemäß Wissen von der Wirklichkeit nur durch sinnliche Anschauung und gedankliche Vorstellung der Gegenstände zu gewinnen sei, als auch der Rationalisten in der Tradition von Descartes und Leibnitz, die Wissen über die Welt nur durch Schlussfolgerungen des Verstandes aus Grundbegriffen für möglich hielten, stellte sich im Kantʼschen Projekt die Frage: „Wie kommt es, dass die Dinge auf eine bestimmte Weise erscheinen? Die Sorge des Kantianers betrifft also die Bedingungen der Möglichkeit der Art von Einheit, die der Cartesianer voraussetzt […]: Welche Art der Einheit muss ein ‚Spiel der Vorstellungenʻ charakterisieren, damit es nicht nur ‚ein blindes Spielʻ ist, damit es die Eigenschaft hat Erscheinungen zu liefern – damit es dem Charakter nach Vorstellung von einem Objekt ist?“⁹⁹ Als Befürworter naturwissenschaftlichen Denkens stellte Kant die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen für ein Wissen von der Welt, das nicht lediglich technisch ist, nur lokal und gewohnheitsmäßig bzw. in konkreten Anwendungsfällen gilt und/oder auf der exklusiven Absprache weniger Menschen basiert. Diese Frage war motiviert durch den Versuch einer Rehabilitierung seriöser Wissenschaft gegen einen um sich greifenden Indifferentism und richtete sich auf die Möglichkeiten für ein Wissen, das ‚vernünftigʻ und objektiv ist, insofern es ohne willkürliche Setzungen auskommt und trotzdem als allgemein gültig angesehen werden kann¹⁰⁰. Gleichzeitig war er aber auch davon überzeugt, dass sich seriöse Wissenschaft immer auch selbstkritisch um die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit bewusst bleiben muss: „Die Kritik der Vernunft führt also zuletzt notwendig zur Wissenschaft; der dogmatische Gebrauch derselben ohne Kritik dagegen auf grundlose Behauptungen, denen man ebenso scheinbare entgegensetzen kann, mithin zum [dogmatischen] Skeptizismus.“¹⁰¹ Nur eine selbstkritische Hinterfragung der Vernunft und ihrer Leistungsfähigkeit führt zur Wissenschaft; die einzige Antwort auf die Verbreitung beliebiger dogmatischer Sichtweisen ist der reflektierte Skeptizismus. Eines der wichtigsten Anliegen betraf die Klärung, ob und inwiefern ein Wissen um kausale Beziehungen zwischen realweltlichen Sachverhalten objektive Gültigkeit er-

 Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 3: Die Neuzeit. Teilband 2: Das Zeitalter der Revolutionen (Stuttgart: Metzler, 2008), 145.  James Conant, Spielarten des Skeptizismus, in: Gabriel (Hg.), Skeptizismus und Metaphysik a.a.O. 21– 72, 25.  Vgl. Immanuel Kant, Vorrede zur ersten Auflage, Kritik der reinen Vernunft 1, W. Weischedel (Hg.), Werkausgabe Band III (Frankfurt: Suhrkamp, 1992), 11– 13 und den dortigen Hinweis auf einen imaginären ‚Gerichtshofʻ für die unparteiische Verhandlung über die Gültigkeit aller wissenschaftlichen Behauptungen.  Ebda, 61.

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langen könnte. Der Begriff der Ursache ist weder bereits in den fraglichen Sachverhalten enthalten noch kann er als solcher Gegenstand sinnlicher Erfahrung sein. Zwar lässt sich bis heute mit Hume im Sinn des common sense eine vorläufige Antwort dadurch gewinnen, dass man Veränderungen sowohl von materiellen Gegenständen als auch von komplexeren Sachverhalten auf ihre jeweiligen ‚Ursachenʻ zurückführt, insofern man etwas als den entscheidenden Impuls bezeichnet, der dem ‚beobachtetenʻ oder wie auch immer ‚gemessenenʻ Effekt zeitlich vorausgeht – etwa in dem Sinn, dass die mehrstündige Befindlichkeit eines Menschen in der prallen Mittagssonne ohne Sonnenschutz mit etwas Verzögerung zu einem Sonnenbrand geführt hat. Aber selbst diese scheinbar offensichtliche Verursachung ist niemals durch sinnliche Erfahrung zu begründen, sondern erfordert – mit Kant gesprochen – ein ‚synthetisches Urteilʻ, das dem erfahrbaren Sachverhalt ‚Sonnenbrandʻ etwas hinzufügt, nämlich das Prinzip der Kausalität, das noch nicht im Sachverhalt enthalten war und selbst erfahrungsunabhängig ist¹⁰². Als Verursachung gilt die Befindlichkeit in der Sonne aber auch dann nur für den Fall, dass niemand einer entsprechenden Behauptung widerspricht¹⁰³. Wenn man trotz aller Einschränkungen weiterhin mit einem wissenschaftlichen Anspruch von einer ‚Verursachungʻ realweltlicher Sachverhalte sprechen wollte, was für Kant entgegen einem dogmatischen Skeptizismus angebracht und erstrebenswert gewesen wäre¹⁰⁴, dann wäre die Endabsicht einer selbstkritischen Wissenschaft nicht mehr die objektive Gültigkeit von Wissen um metaphysische Zusammenhänge – also Zusammenhänge, von denen man behaupten würde, dass sie so sind wie sie sind; dass sie sich immer in der gleichen Weise abspielen; dass sie sich als solche beobachten lassen; und dass sie als wirklich gegebene Zusammenhänge auch nicht anders sein können. Wenn man mit einem wissenschaftlichen Anspruch von einer ‚Verursachungʻ realweltlicher Sachverhalte sprechen wollte, dann wäre die Endabsicht einer selbstkritischen Wissenschaft die Gewinnung von einem Wissen, das sich der aktiven Rolle des verallgemeinerten bzw. transzendentalen Subjekts im Erkenntnis- bzw. Forschungsprozess verdankt. Wenn man in der Tradition Kants mit einem wissenschaftlichen Anspruch von einer ‚Verursachungʻ realweltlicher Sachverhalte sprechen wollte, dann wäre die Absicht einer selbstkritischen Wissenschaft die Gewinnung eines rein theoretischen Kausalwissens, das immer ein vorläufiges Wissen von realweltlichen Zusammenhängen für ein verallgemeinertes Subjekt wäre, und für das es keine letzte

 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., 54.  Alternativ dazu könnte man auch versuchen, Kausalität dadurch zu ‚rettenʻ, dass man Ursachen im Sinne von Gründen versteht, die Handelnde selbst sprachlich artikulieren. Diese Strategie bleibt allerdings auf den verstehenden Nachvollzug sozialer Praktiken beschränkt, die als sprachliche Interaktionen modelliert werden können; sie sind schwerlich anwendbar, wenn die handelnden Einheiten komplexe Institutionen sind, die selbst aus einem Netz von Interaktionen bestehen und sich zumal nicht andauernd hinsichtlich ihrer ‚Tätigkeitenʻ erklären.  Vgl. dazu Günter Zöller, Wissenschaft und Weisheit. Kant über die Formen der Metaphysik, ConTextos Kantianos. International Journal of Philosophy 1 (2014), 66 – 80, 76.

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Begründung mehr mit Verweis auf ‚die Welt da draußenʻ geben könnte: ein Wissen im Sinn einer ‚spekulativen Erkenntnis a prioriʻ¹⁰⁵.

Kritisches Denken ist anti-empiristisch Gleichwohl bliebe selbst diese Suche nach einer spekulativen Erkenntnis, einem vorläufigen Wissen um theoretische Ursachen für realweltliche Zusammenhänge, zunächst einmal nur sinnvoll für Gegenstände einer möglichen sinnlichen Erfahrung, wie z. B. einen Sonnenbrand, also dem Bereich natürlicher Sachverhalte. „Kausale Erkenntnis über andere als empirisch gegebene oder gebbare Gegenstände, wie sie etwa im traditionellen Gottesbeweis im Hinblick auf das göttliche Wesen als erste Ursache von allem beansprucht wird, ist [zumindest für Kant] prinzipiell ausgeschlossen.“¹⁰⁶ Die Implikationen aus diesem Umstand sind weitreichend. Denn angesichts der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen für jede spekulative bzw. theoretische Erkenntnis von Ursachen für realweltliche Zusammenhänge, nämlich ihre sinnliche Erfahrbarkeit, ergeben sich ernsthafte Schwierigkeiten für die wissenschaftliche Erforschung von Kausalität in Gegenstandsbereichen wie z. B. der Wirtschaftswissenschaft oder der Politikwissenschaft/Internationale Beziehungen, insofern diese Gegenstandsbereiche gänzlich artifiziell sind. Sozialforschung ist anfälliger für Dissense als naturwissenschaftliche Forschung, weil mit Blick auf die Vielfalt möglicher Projektionsnormen und kategorialer Konzepte notwendigerweise umstritten ist, welche Sachverhalte für den jeweiligen Bereich überhaupt einschlägig sind. Soziale Phänomene sind als solche nicht sinnlich erfahrbar oder in irgendeinem anderen Sinn ‚empirischʻ zu untersuchen. Für die Sozialforschung ist das ‚Kausalprinzip ein Relikt aus vergangener Zeitʻ – wenn man nicht beschließt, im Kollektiv die Denkfiguren des ‚Gegebenenʻ und eine quasi-göttliche Instanz als Letzbegründung wiederzubeleben¹⁰⁷.  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., 55. Vgl. dazu auch die entsprechende Feststellung von Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: derselbe, A. Schmidt (Hg.), Gesammelte Schriften, Band 4: Schriften 1936 – 1941 (Frankfurt: Fischer, 1988), 162– 216, 162: „Im Hinblick auf die Tatsachen bleibt die Theorie daher stets Hypothese.“  Günter Zöller, Philosophie des 19. Jahrhunderts. Von Kant bis Nietzsche (München: Beck, 2018), 13.  Zwar unternimmt heute niemand mehr die Anrufung von Gott als letztem Grund für realweltliche Sachverhalte. Die modernen Sozialwissenschaften scheinen in einer säkularisierten Moderne angekommen zu sein. Dennoch sind ’deistische’ Denkfiguren nicht komplett aus dem Bild der Sozialwissenschaften verschwunden; es ist bei näherer Betrachtung eher so, dass ‚Gottʻ die wissenschaftliche Praxis unter anderen Namen wie z. B. ‚specific causeʻ oder ‚covering lawʻ weiterhin beseelt. Vgl. dazu u. a. Steven van Evera, A Guide to Methods for Students of Political Science (Ithaca: Cornell University Press, 1997), 15: „A good explanation tells us what [anstelle von ‚Gottʻ] specific causes produced a specific phenomenon and identifies the general phenomenon of which this [anstelle von ‚Gottʻ] specific cause is an example.“ Und noch ambitionierter auf 41: „Generalized specific explanations are preferred to non-generalized specific explanations because we can measure [sic!] the conformity of the former but not the latter to their [anstelle von ‚Gottʻ] covering laws.“ (Hbgen hinzugefügt). Steven van Evera hatte mit seinem ambitionierten Methodenbuch sicher nur Gutes im Sinn und wollte students of political science dabei helfen,

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Vor allem in den amerikanisierten Sozialwissenschaften wird gerne so getan, als wäre die Erforschung materieller und chemischer Stoffe das nachahmenswerte Beispiel für wissenschaftliche Forschung generell – als wären alle realweltlichen Sachverhalte in einem wie auch immer gearteten Sinn ‚beobachtbarʻ¹⁰⁸ und ihre ursächlichen Zusambesser nach Kausalität zu forschen. Was Steven van Evera und andere Kausalitäts-Adepten offensichtlich noch nicht anerkennen wollten, ist, dass die Objektwelt der (internationalen) Politik nicht in einem quasimetaphysischen Sinn existiert und als solche auch nicht sinnlich erfahrbar ist, weswegen es auch nicht möglich ist, Hypothesen über Kausalität in dieser Objektwelt an dieser nicht als solcher existierenden Objektwelt zu testen. Wissenschaft von nicht-metaphysischen Gegenstandsbereichen ist – mittlerweile– ein säkularisiertes Geschäft! Reformer/innen der Disziplin IB haben viel versucht, um die Vertreter/innen des Mainstreams auf ihre metaphysischen Ambitionen aufmerksam zu machen und ihnen dabei zu helfen, die Forschung auf andere Art und Weise zu verbessern. Vgl. kürzlich z. B. Patrick Thaddeus Jackson, Causal claims and Causal Explanation in International Studies, Journal of International Relations and Development 20:4 (2017), 689 – 716, der in diesem Schwerpunktheft zum Thema Problems of Causation in World Politics mit Bezug auf ein anderes einflussreiches ‚Methodenbuchʻ, nämlich das von Gary King, Robert O. Keohane & Sidney Verba, Designing Social Inquiry: Scientific Inference in Qualitative Research (Princeton: Princeton University Press, 1994) auf 692– 693 folgendermassen Stellung nimmt: „In the neopositivist narrative, the success of the modern sciences is because of their embrace of techniques designed to distinguish ‚systematicʻ from ‚accidentalʻ variation. The authors of the standard neopositivist methods manual bluntly declare that ‚one of the fundamental goals of inference is to distinguish the systematic component from the nonsystematic component of the phenomena we study […], distinguishing between the two is an essential task of social scienceʻ. […] But there are a variety of difficulties here.“ Aber auch Jackson scheint noch nicht anerkannt zu haben, dass es mit der Erforschung von Kausalität schwierig ist. Anstelle nämlich Kausalität für den Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen unter einen generellen Vorbehalt zu stellen, schlägt Jackson vor, in einem anderen Sinn nach Kausalität zu forschen. Vgl. ebda. auf 703: „[C]ausal claims are ultimately claims about manipulability: ‚one ought to be able to associate with any successful explanation a hypothetical or counterfactual experiment that shows us that and how manipulation of the factors mentioned in the explanation […] would be a way of manipulating or altering the phenomenon explainedʻ.“ Und auf 708: „Causal explanations show how we ended up with particular outcomes and not others and, in so doing, provide recipes or programmes for altering those outcomes, at least in principle: now that we know the specific configuration of factors that produced this outcome [sic!], we can look for interventions designed to change that configuration and, at least in principle, alter the outcome in a more desirable direction.“ Für Jackson besteht die Lösung für das Problem, dass die wirklich ursächlichen Faktoren durch Hypothesentests immer noch schwer zu ermitteln sind darin, hypothetisch und über ein Gedankenexperiment, also quasi-experimentell, zu bestimmen, was die Ursachen für bestimmte Resultate sind, indem man den eigentlichen Test einfach dadurch vollzieht, dass man sich vorstellt, was wirklich gewesen wäre, wenn bestimmte Faktoren nicht vorliegen würden. Das scheint clever, weil die Verursachung von Phänomenen der internationalen Politik nun in die Vorstellungswelt verlagert wird. Dieser Trick wäre aber nur dann wirklich clever, wenn der Gegenstandsbereich der internationalen Politik mitsamt seinen ursächlichen Zusammenhängen wenigstens in der Vorstellungswelt quasi-metaphysisch vorliegen würde. Aber auch da ist er als solcher nicht zu finden – die Arbeit in den Sozialwissenschaften bleibt ein hartes Geschäft!  Vgl. erst kürzlich dazu Bernd Schlipphak, Oliver Treib & Volker Gehrau, Die Beobachtung als Methode in der Politikwissenschaft (München: UVK, 2020), 19: „Die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Beobachtung ist die systematische Erfassung und Protokollierung von sinnlich oder apparativ wahrnehmbaren Aspekten menschlicher Handlungen und Reaktionen [sic!], solange diese nicht rein auf durch Forschende initiierte Kommunikation basieren oder in Form editierter Dokumente vorliegen. Sie dient

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menhänge sogar experimentell untersuchbar¹⁰⁹ – völlig ungeachtet der unlösbaren Probleme, die sich selbst für Physiker oder Chemiker bei dem Versuch ergeben würden, solcherlei Ambitionen tatsächlich einzulösen: „Die Natur dieser mathematisch-experimentellen Naturwissenschaften ist nicht die Natur, in der wir leben, sondern eine kunstvoll arrangierte und dabei fraktionierte Natur, die Natur der begradigten Laborverläufe. Diese realisieren sich zwar ungestört von den komplexen Umgebungen, in die sie ‚von Natur ausʻ eingebunden sind, aber damit eben auch unverbunden mit diesen ihren ‚natürlichenʻ Umgebungen.“¹¹⁰ Auch und gerade naturwissenschaftliche Experimente richten sich auf die von den jeweiligen Forscher/innen künstlich geschaffenen Modellwelten und führen zu Resultaten, die nur mit gewissen Einschränkungen zuverlässig sind. Auch wenn man im Bereich der Sozialforschung zu einer teilnehmenden Beobachtung übergehen würde, änderte sich an der Unzuverlässigkeit der Ergebnisse gar nichts: die Teilnahme an einem Kriegsgeschehen als ‚eingebetter Journalistʻ wird genauso wenig zu einer sinnlichen Erfahrung von kausalen Zusammenhängen, wie die Teilnahme an einer Entscheidungsfindung im UN-Sicherheitsrat. Die sinnliche Erfahrbarkeit von Phänomenen und ihren Ursachen in der internationalen Politik ist immer gleich Null. Der Anspruch auf eine empirische Erforschung kausaler Zusammenhänge in

einem wissenschaftlichen Ziel, ist prinzipiell wiederholbar und legt alle relevanten Aspekte offen.“ Die ‚Beobachtungʻ wird hiernach dadurch zur ‚Beobachtungʻ, dass menschliche Handlungen und Reaktionen sinnlich erfasst werden, ohne dass die/der Beobachter/in kommunikativ in den beobachtenden Kontext eingreift bzw. die Beobachtung auf ‚editierte Dokumenteʻ stützt. Auf 20 wird dazu ergänzt: „In einigen Forschungskontexten ist es kaum möglich, Beobachtungen, Befragungen und Inhaltsanalysen voneinander zu trennen, da sie parallel durchgeführt werden und das durch sie entstandene Material gemeinsam ausgewertet wird.“ Das heißt aber, die ‚Beobachtungʻ wird schlussendlich sehr wohl durch eine kommunikative Intervention und die – aktive – Deutung des – aktiv – erzeugten dokumentarischen Materials geprägt. Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht der offensichtliche Widerspruch zwischen der ersten Definition und ihrer Ergänzung auf der unmittelbar folgenden Seite. Interessant ist vielmehr, dass die genannten Autoren überhaupt nicht merken, dass sie den sozialwissenschaftlichen Akt der‚Beobachtungʻ mit dem sozialwissenschaftlichen Akt des ‚deutenden Sinnverstehensʻ verwechseln. Ob dieser Verwechslung besteht das Buch vor allem aus Folgefehlern. In der Konsequenz ist es dann allerdings so, dass das ‚verstehende Denkenʻ und nicht die ‚Beobachtungʻ zur Methode der Politikwissenschaft wird, was angesichts der nicht sinnlich oder apparativ wahrnehmbaren Aspekte politischer Handlungen und Reaktionen auch offensichtlich und geradezu alternativlos ist.  Vgl. van Evera, Guide to Methods, a.a.O., 27: „We have two basic ways to test theories: experimentation and observation [sic!].“ Vgl. in einer ähnlich unkritischen Manier zum Experimentalismus in den akademischen IB u. a. Susan D. Hyde, Experiments in International Relations: Lab, Survey, and Field, Annual Review of Political Science 18 (2015), 403 – 424; vgl. auch Alex Mintz, Yi Yang & Rose McDermott, Experimental Approaches to International Relations, International Studies Quarterly 55:2 (2011), 493 – 501.  Oswald Schwemmer, Die Philosophie und die Wissenschaften: Zur Kritik einer Abgrenzung (Frankfurt: Suhrkamp, 1990), 23. Vgl. dazu auch Theodor W. Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: derselbe, Soziologische Schriften I (Frankfurt: Suhrkamp, 2003), 547– 565, 556: „Kein Experiment wohl könnte die Abhängigkeit eines jeglichen sozialen Phänomens von der Totalität bündig dartun, weil das Ganze, das die greifbaren Phänomene präformiert, selbst niemals in partikulare Versuchsanordnungen eingeht.“

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sozialen Gegenstandsbereichen ist schon deswegen unerfüllbar, weil die jeweiligen Gegenstandsbereiche und ihre Sachverhalte in jenem problematischen Sinn artifiziell sind, dass sie von Wissenschaftler/innen als Teilnehmer/innen an Gesellschaft nach vorgängigen Überzeugungen und Erkenntnisinteressen modelliert werden¹¹¹, deswegen immer anfällig für grundlegende Dissense sind und unter Ideologieverdacht stehen. Sozialwissenschaftliche Aussagen über mögliche Ursachen zwischen realweltlichen Sachverhalten in rein artifiziellen Gegenstandsbereichen sind nicht nur rein theoretisch, sondern immer auch normativ imprägniert, und können niemals anhand von Fakten im Sinne von ‚rohen Datenʻ beurteilt werden. Selbst auf der Basis einer vorläufigen Übereinkunft zwischen Sozialwissenschaftler/innen über die relevanten Sachverhalte sowie die Angemessenheit von Methoden und Messapparaturen bleibt jede ‚empirischeʻ Erkenntnis von Ursachen ‚spekulativʻ. Das Problem ist freilich noch viel grundsätzlicher, denn die Skepsis gegenüber Ursachen betrifft in einem genauso fundamentalen Sinn den epistemischen Status von Gegenständen der sinnlichen Erfahrung. Dabei ist es noch einmal unabdingbar, den dogmatischen Skeptizismus als Geisteshaltung von der skeptischen Methode zu unterscheiden, die seit Kant ein integraler Bestandteil von Kritik geworden ist¹¹². Herkömmliche Vorstellungen über Art und Gewinnung von Wissen über ‚die Wirklichkeitʻ sind immer zu bezweifeln: nämlich v. a., „[…] was die Gegenstände an sich selbst sein mögen […]“¹¹³, aber das betrifft nicht die Existenz einer solchen Wirklichkeit der ‚Dinge an sichʻ. Infrage steht auch nicht die Möglichkeit eines Wissens von der realen Welt; genauso wenig, dass es möglich sei, ein Wissen von der Welt zu erlangen, dass für die Menschen objektive Gültigkeit besitzt. Die ‚transzendentale Ableitung der Verstandesbegriffeʻ¹¹⁴ (u. a. Substanz; Kausalität; Quantität; Qualität; Relation; Modalität), in Ergänzung zu den als prinzipiell gültig angenommenen Formalbedingungen wie ‚Raumʻ und ‚Zeitʻ, sollte genau dafür eine Basis schaffen, um die realweltlichen ‚empirischenʻ

 Vgl. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, a.a.O., 170: „Und wie der Einfluß des Materials auf die Theorie so ist auch die Anwendung der Theorie auf das Material nicht nur ein innerszientifischer, sondern zugleich ein gesellschaftlicher Vorgang.“  Vgl. den Vorschlag von Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., 133, im ‚Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorienʻ eine Art via media zwischen Lockes ‚Schwärmereiʻ für eine Allmacht der Vernunft einerseits und Humes ‚Skeptizismusʻ gegenüber jeglichem Erkenntnisvermögen der Vernunft andererseits zu finden.  Ebda., 87.  Vgl. ebda, 126: „Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transzendentale Deduktion derselben, und unterscheide sie von der empirischen Deduktion, welche die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben worden, und daher nicht die Rechtmäßigkeit, sondern das Faktum betrifft, wodurch der Besitz entsprungen.“

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Erscheinungen über die Vermittlung dieser so genannten ‚transzendentalenʻ Formen in einer allgemeingültigen Art und Weise erkennen zu können¹¹⁵. Dabei gilt jedoch als Voraussetzung, dass die Gegenstände sinnlicher Erfahrung ihre Konturen immer in Abhängigkeit von a priori gegebenen Formen der Anschauung wie Raum und Zeit sowie den Verstandesbegriffen gewinnen, die Menschen gemeinsam haben, und nicht umgekehrt. Für den Status der realweltlichen Gegenstände bedeutet das, dass sie in keinem Fall erkannt werden können, wie sie ‚an sichʻ sind¹¹⁶. Die Gegenstände der sinnlichen Erfahrung können nur erkannt werden, wie sie für den jeweiligen Betrachter, vermittelt durch Projektionsnormen, Anschauungsformen und Verstandesbegriffe, ‚erscheinenʻ. Selbst die Gegenstände der sinnlichen Erfahrung sind Phänomene im Sinn theoretischer Sachverhalte und nicht unmittelbar gegebene, quasi ‚natürlicheʻ Daten und/oder bedeutungsschwangere Fakten¹¹⁷. Interessant ist, wie Kant selbst diesen Gesichtspunkt am Beginn der ‚transzendentalen Logikʻ weiter differenzierte: „Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht.“¹¹⁸ Das Erkennen erfahrbarer Gegenstände im Sinne von natürlichen Phänomenen beläuft sich auf eine gegenseitige Bedingung von passiver Rezeption, d. h. bloßer ‚Anschauungʻ¹¹⁹, und aktivem Begreifen im Sinne eines durch das Kollektiv vermittelten

 Vgl. ebda, besonders 111– 131; vgl. dazu u. a. auch Martin Bunte, Erkenntnis und Funktion: Zur Vollständigkeit der Urteilstafel und Einheit des kantischen Systems (Berlin: de Gruyter, 2016), besonders 231– 251.  Vgl. für eine zeitgenössische Würdigung dieser Einsicht u. a. Alan Musgrave, Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus: eine historische Einführung in die Erkenntnistheorie (Tübingen, Mohr, 1993), 269: „Die ‚Welt an sichʻ ist nicht irgendeinem Begriffssystem entsprechend eingeteilt oder parzelliert. Wir sind es vielmehr, die sie unserem begrifflichen System entsprechend einteilen und parzellieren. Die ‚Welt an sichʻ ist nicht eingeteilt in den Stoff, der Schnee ist, und die Stoffe, die nicht Schnee sind, oder in die Dinge, die weiß, und die Dinge, die nicht weiß sind. Es sind wir mit unseren Begriffen des Schnees und der Weiße, die diese Einteilung vornehmen.“  Vgl. dazu Peter Baumanns, Anschauung, Raum und Zeit bei Kant, in: I. Heidemann & W. Ritzel (Hg.), Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781 – 1981 (Berlin: de Gruyter, 1981), 69 – 125, 84: „Es legt sich die Annahme nahe, daß Kant mit dem ‚unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauungʻ so etwas meint wie das ‚gegenstandsfähige Gegebeneʻ, das ‚objektivierbare Gegebeneʻ. ‚Erscheinungʻ meinte dann empirische Gegebenheit bzw. die Empfindungen, die im Unterschied zu den Lust und Unlustempfindungen als theoretische Empfindungen bezeichnet werden können, sofern man unter diesem Ausdruck solche Empfindungen versteht, die sich zum Erkenntnisaufbau eignen.“  Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., 97.  Wichtig ist hier, dass ‚Anschauungʻ für Kant nicht ‚Anschauenʻ im wörtlichen Sinn bedeutet. Vgl. Baumanns, Anschauung, a.a.O., 70 – 71: „Man hat sich vom normalsprachlichen Begriff der Anschauung zu lösen, und man hat die gedankliche Anstrengung auf sich zu nehmen, die Grundbegriffe der transzendentalen Ästhetik gemäß ihrer Fragestellung als erkenntnistheoretische Funktionsbegriffe zu rekon-

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begrifflichen Denkens. Mit anderen Worten: kein/e Forscher/in erkennt etwas an realweltlichen Sachverhalten ohne geteilte Anschauungsformen und eine aktive mentale Beschäftigung, durch die etwas zu einem erkennbaren Gegenstand wird¹²⁰. Interessant ist auch hier, dass sich Kant nur über den Status von sinnlich erfahrbaren Gegenständen Gedanken machte, die für den gesamten Bereich der Sozialwissenschaften als solche gar nicht zur Verfügung stehen. Und selbst mit Blick auf sinnlich erfahrbare Gegenstände, wie etwa eine Rötung der menschlichen Haut nach einem Sonnenbrand, eine Verfärbung des Wassers in einem Flusslauf nach Einleitung von Klärschlamm, oder eine Verwirrung der Sinne bei einem Patienten in einer Nervenheilanstalt, sprach Kant von Phänomenen, die in keinem Fall erkannt werden können, wie sie ‚an sichʻ sind. Mit der von ihm selbst beschworenen ‚kopernikanischen Wendeʻ des Erkennens, nämlich weg von der Einsicht in die Dinge ‚an sichʻ zu den Phänomenen, wie sie für das erkennende Subjekt erscheinen, ergab sich eine neue Antwort auf die Frage danach, was der Mensch wissen kann. Objektives Wissen um die Art von natürlichen Phänomenen und ihre kausalen Beziehungen zueinander ist immer spekulativ bzw. bleibt rein theoretisch. Und selbst als solches ist es überhaupt nur von sinnlich erfahrbaren realweltlichen Sachverhalten zu gewinnen. Wichtig ist an dieser Stelle noch einmal das Gebot zur Selbstkritik. Denn jede wissenschaftliche Erkenntnis verdient als solche nur den Namen, wenn sich jede/r Beobachter/in realweltlicher Sachverhalte vor einem verinnerlichten ‚Gerichtshof der Vernunftʻ darauf prüft, ob die Beschäftigung mit realweltlichen Sachverhalten wirklich der wissenschaftlichen Erkenntnis verpflichtet ist – und wirklich nur der wissenschaftlichen Erkenntnis – und nicht etwa dem Drang zur Veranschaulichung der überlegenen Heuristik einer besonders populären Theorie

struieren. […] An so etwas ist gedacht: eine Grundlage der Erkenntnisrelation des Subjekts zu Objekten im Subjekt, die durch Unverfügtheit in einem mit Verfügbarkeit gekennzeichnet ist. Diese Denkaufgabe aber ist unlösbar.“  Vgl. Adorno, Logik der Sozialwissenschaften, a.a.O., 548 – 549. Ein 10-Euro-Schein in unserem Geldbeutel ist so ein ‚etwasʻ, das nur als ein gültiger Geldschein erkannt wird, wenn wir uns das kleine rötlich bedruckte Stück Papier mit der Zahl 10 auch als einen Geldschein vorstellen können, was wiederum nur in Abhängigkeit von einem kulturspezifischen Vorwissen möglich ist, das es uns erlaubt, das besagte Stück Papier als Gegenstand des gesellschaftlich vermittelten Gegenstandsbereichs ‚Geld und Zahlungsmittelʻ wahrzunehmen. Daraus wiederum folgt, dass Gegenstände der Erkenntnis nur in unserer Vorstellung vorkommen und auch nur innerhalb von Gegenstandsbereichen auftauchen, die uns bereits bekannt sind. Der Sinn von Gegenständen der Erkenntnis erschließt sich aus der bereits vorhandenen Kenntnis des jeweiligen Gegenstandsbereichs. „Völlig unbestimmte Gegenstände, die sich nicht von anderen Gegenständen unterscheiden ließen, gibt es deswegen nicht, weil sie in keinem Gegenstandsbereich vorkommen und mithin nicht existieren könnten. Kämen sie in einem Gegenstandsbereich vor, etwa im Gegenstandsbereich der völlig unbestimmten Gegenstände, so wären sie dadurch von anderen Gegenständen unterschieden und folglich nicht im relevanten Sinne völlig unbestimmt. Da Existenz eine Eigenschaft von Gegenstandsbereichen ist, existieren Gegenstände nicht unabhängig von Gegenstandsbereichen. Indem es keine Gegenstände außerhalb von Gegenstandsbereichen gibt, gibt es auch nur dann Gegenstände, wenn es mindestens zwei Gegenstandsbereiche gibt, [die uns Menschen als solchen bereits bekannt sind].“ Markus Gabriel, Dissens und Gegenstand.Vom Außenwelt- zum Weltproblem, in: derselbe (Hg.), Skeptizismus und Metaphysik a.a.O., 73 – 92, 87.

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und/oder der Neigung zur politisch korrekten Rekonstruktion von Sachverhalten aufgrund steigender Chancen auf eine Publikation bzw. Anerkennung durch einen weltanschaulich geprägten Kreis von einflussreichen Fachvertreter/innen usw. Diese Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten auf spekulatives Wissen hat noch nicht einmal etwas mit ‚Interpretationʻ zu tun, insofern Kant hier von universellen Möglichkeitsbedingungen ausgeht, die für alle vernünftigen Menschen gleich sind und dazu führen, dass die sinnlich erfahrbare Welt in einer gewissen Weise wahrgenommen wird. Genau damit wird nicht nur jede Möglichkeit negiert, dass die Anschauung von empirischen Phänomenen ohne jegliche Verstandestätigkeit zu objektiver Erkenntnis im Sinne eines theoretischen Wissens führt; es wird darüber hinaus ausgeschlossen, dass der ganze Bereich der nicht-sinnlich erfahrbaren Welt einer analogen objektiven Erkenntnis im Kantʼschen Sinne zugänglich ist. Der Bereich sozialer Phänomene, so könnte man nun schlussfolgern, lässt sich nicht in derselben Art und Weise wie die sinnlich erfahrbare Welt erkennen; einerseits weil soziale Phänomene wie ‚Staatʻ, ‚Friedenʻ, ‚Konflikt/Kriegʻ usw. nicht zu Gegenständen reiner Anschauungen gemacht werden können, da sie im Unterschied zu vielen natürlichen bzw. materiellen Phänomenen überhaupt nicht als solche erfahrbar sind¹²¹; und andererseits, weil sich die polysemische Mannigfaltigkeit und Fluidität der sozialen Welt, die nicht zuletzt aus Interaktionen zwischen ‚freienʻ und wie auch immer ‚vernünftigʻ handelnden Menschen resultiert, einem objektiven Begreifen auf der Basis unbeweglicher Verstandesbegriffe immer entzieht. Die Bedeutung sozialer Phänomene resultiert nicht aus der Erkenntnis, wie sie sind, sondern daraus, wie sie von Menschen auf der Basis eines komplexen Sets von Voraussetzungen deutend verstanden werden. Die moderne Erkenntnistheorie hat sich zwar parallel zur Ausdifferenzierung der Wissenschaften seit ca. der Mitte des 19. Jahrhunderts über den Neukantianismus, den logischen Positivismus, den Pragmatismus, den kritischen Rationalismus und den epistemischen Naturalismus sukzessive von diesen Schlussfolgerungen distanziert. Und mit der Orientierung an der analytischen Philosophie mitsamt der dort kultivierten szientistischen Epistemologie haben sich immer mehr Mainstream-Sozialwissenschaftler/innen auf einen vormodernen Wissenschaftsbegriff zurückgezogen, um dogmatisch eine wie auch immer geartete empirische Untersuchbarkeit aller realweltlichen Phänomene zu postulieren¹²². All das ändert freilich nichts an der intellektuellen Überle Vgl. den Hinweis von Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., 88, darauf, dass das ‚Rechtʻ im Unterschied zum ‚Gesetzʻ ein Begriff ist, „[…] dessen sich der gesunde Verstand bedient […]. Darum kann man nicht sagen, daß der gemeine Begriff sinnlich sei, und eine bloße Erscheinung enthalte, denn das Recht kann gar nicht erscheinen, sondern sein Begriff liegt im Verstande, und stellet eine Beschaffenheit (die moralische) der Handlungen vor, die ihnen an sich selbst zukommt.“  Die paradigmatische Position im Kontext des sogenannten ‚erkenntnistheoretischen Naturalismusʻ von Willard Quine basiert u. a. auf der Prämisse, dass prinzipiell und sprichwörtlich alles, von ‚materiellen Dingenʻ wie Holz und Stahl bis hin zu Handlungen, Ideen und Vorstellungen, als Teil der Objektwelt zu begreifen wäre, die empirisch, d. h. mit dem erkenntnistheoretischen und methodischen Selbstverständnis der Naturwissenschaften zu untersuchen wäre. Epistemologisch wird dabei sowohl das Subjekt wie auch die Objektwelt radikal verdinglicht und gewissermaßen fetischisiert. „Methodisch wird hierbei

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genheit der erkenntnistheoretischen und methodologischen Argumente Kants betreffend das ‚wasʻ und ‚wieʻ einer empiristisch motivierten Sozialforschung. Gegenüber den von Kant überzeugend beschriebenen Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Vernunft gegenüber Ursachen und Tatsachen wirken sie im günstigsten Fall dilettantisch und im schlimmsten Fall autoritär¹²³. Das Gebot einer selbstkritischen Einsicht in die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis gegenüber sozialen Phänomenen erhält auch dadurch Relevanz, wenn man sich die Eigentümlichkeiten solcher Gegenstandsbereiche klar macht, die sich aus menschlichen Interaktionen zusammensetzen. „Die Restriktion gegenständlicher Erkenntnis auf bloße Erscheinungen schafft nämlich, so Kant, einen Spielraum jenseits der phänomenalen Wirklichkeit samt ihrer mathematisch-naturwissenschaftlichen Gegebenheit für freies menschliches Wollen und Handeln, das insofern unter anderen, eigenen Gesetzen steht.“¹²⁴ Der Gegenstandsbereich sozialer Interaktionen ist alles andere als ein symbolisches Vakuum, das auf Bedeutungszuschreibungen durch empirische Sozialforscher/innen wartet. Im Gegenteil unterliegen soziale Interaktionen immer sowohl vorgängigen Sinnstrukturen als auch historisch bedingten Vorstellungen auf der Seite kognitiv kompetenter Akteure. Es gibt mit anderen Worten einen Unterschied zwischen Gegenstandsbereichen, in denen die Gegenstände der Erkenntnis mit Blick auf ihre Bedeutung für die Fachwissenschaftler/innen konsensfähig sind, sodass auf der Basis eines theoretischen Erkenntnisinteresses davon ausgegangen werden kann, dass die wie auch immer zu beobachtenden Sachverhalte ‚kausalenʻ Wirkungen unterliegen; und solchen, in denen die Gegenstände der Erkenntnis aus den Interaktionen und Entscheidungen von Menschen resultieren, die in ihrem jeweiligen Kontext durch symbolisch vermittelte Sinnstrukturen miteinander interagieren. Für letztere Gegenstandsbereiche müssen alle Rettungsversuche scheitern, die ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis mit dem Konsensprinzip verknüpfen und dabei auf die Zustimmung der Fachwissenschaftler/innen hinweisen¹²⁵. Erkenntnis vom diskursiv zu begründenden Formalobjekt (Kants Quaestio iuris) zu einem empirisch erforschbaren Materialobjekt uminterpretiert.“ Christian N. Meidl, Wissenschaftstheorie für Sozialforscher/innen (Wien: Böhlau, 2009), 177.  Vgl. als Beispiel für den erkenntnistheoretischen Obskurantismus in den akademischen IB das oben schon einmal herangezogene Methodenbuch von Van Evera, Guide to Methods, a.a.O., 28: „An investigator infers predictions from a theory. Then the investigator passively observes the data [sic] without imposing an external stimulus on the situation and asks if observations are congruent with predictions.“ (Hbg hinzugefügt) Offensichtlich braucht es weder für die Ableitung von Hypothesen aus einer Theorie noch für die Sammlung relevanter ‚Datenʻ noch für die Konfrontation der Hypothesen mit diesen ‚Datenʻ irgendeine Art mentaler Leistung im Sinne einer Verstandestätigkeit und einer vorhergehenden Vorstellung vom Gegenstandsbereich, auf den sich die fragliche Theorie bezieht. Zudem wirkt es so, als wäre diese Art der empirischen Untersuchung aus jedem Lesesaal oder Büro zu praktizieren, um Hypothesen in einem zuverlässigen Sinn zu ‚testenʻ.  Zöller, Philosophie des 19. Jahrhunderts, a.a.O., 16.  Vgl. in diesem Sinn aber Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie (Frankfurt: Suhrkamp, 1973), 82; vgl. auch Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (Frankfurt: Suhrkamp, 1995), 178.

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Kritisches Denken ist anti-deterministisch Unter Berufung auf konservative Ideologen wie z. B. Hobbes, der vor allem dadurch ‚berühmtʻ geworden ist, dass er sich unter Berufung auf die ‚geometrische Methodeʻ um die Einschreibung der auf rein destruktive Naturanlagen reduzierten Menschengattung in einen natürlichen Mechanismus der Selbstzerstörung bemüht hatte, tendierten bürgerliche Vertreter/innen politischer Theorie und Praxis immer wieder dazu, den Menschen als ein biologisches Gattungswesen zu deklarieren, dessen Interaktionen mit Hilfe simpler Reiz-Reaktions-Schemata rekonstruiert werden könnten. Offensichtlich lässt sich mit intuitiver Plausibilität behaupten, dass der menschliche Körper rein biologisch gesehen in einen natürlichen Wirkungszusammenhang eingebunden ist. Allerdings ist es nicht weniger plausibel zu behaupten, und zwar nicht nur im Sinne einer ‚regulativen Ideeʻ, dass der Mensch vernunft- und sprachbegabt ist. Für den Kritikbegriff ist die Literatur des 18. Jahrhunderts deswegen so relevant, weil sie in einer intellektuell anspruchsvollen Art und Weise den Kampf gegen diejenigen aufgenommen hatte, die sich unter Berufung auf z. B. Hobbes und/oder die Naturwissenschaften darum bemühten, die Vernunft des Menschen in einer dogmatischen Manier unter falsche Imperative zu zwingen. Kant betonte, dass man für den zwischenmenschlichen Bereich von einer ‚Freiheit des Willensʻ ausgehen sollte¹²⁶, insofern sich vernünftige Menschen nach Postulaten wie z. B. der ‚Freiheitʻ richten, um so ihr eigenes Handeln zu bestimmen. Freiheit in diesem Sinn kennzeichnete sich für vernünftige Menschen dadurch, dass man durch den Gebrauch der eigenen Vernunft selbst zur Einsicht kommt, was richtiges Wollen und Tun ist, wenn man dieses Wollen und Tun verallgemeinern könnte. Mit anderen Worten: wenn und solange vernünftige Menschen versuchten, die eigene Person immer wieder an die Stelle anderer Menschen zu setzen, ‚wüsstenʻ sie am Ende, was das moralisch Richtige in der jeweiligen Situation ist. Das heißt gerade nicht, dass sich alle Menschen automatisch vernünftig und richtig verhalten. Aber dass viele Menschen es nicht tun, ist noch kein Beleg dafür, dass im Gegenstandsbereich menschlicher Gesellschaft/en keine Freiheit und keine Moral herrschten. Tatsächlich wird die Existenz geteilter moralischer Empfindungen immer wieder darin ersichtlich, dass sich Menschen vernehmbar über amoralische Praktiken anderer Menschen empören¹²⁷.

 Vgl. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Jürgen Zehbe (Hg.), Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967), 40 – 54, 42.  Zeitgenössische Beispiele dafür wären etwa die zum Teil lautstarken Empörungen über das Fehlverhalten von Abgeordneten und politischen Parteien; sei es wegen rechtsnationaler bzw. –extremer Rhetorik, sei es wegen ihrer Weigerung zur Aufklärung von Spendenskandalen, sei es wegen ihrer kriegerischen Außenpolitik, oder sei es wegen ihrer Bereitschaft zum Sozialabbau; zu nennen wären überdies Empörungen über moralisches Fehlverhalten von Abgeordneten hinsichtlich der Verschwendung von Steuermitteln und im Zuge von Plagiats- und Maskenaffären. Wichtig bei diesen Empörungen ist, dass das Urteil sich jeweils auf die moralisch fragwürdigen Praktiken bezieht.

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Seit der Antike haben Intellektuelle immer wieder die Rolle der Vernunft als Quelle für die moralische Entwicklung des Menschheitsgeschlechts beschrieben. Auf dem europäischen Kontinent richtete sich der Fokus zum Beispiel auf „[…] die Staatengemeinschaft als eine Weltrepublik, die mit dem Ausdruck civitas bezeichnet wurde.“¹²⁸ Und die schottische Aufklärung stand im Zeichen überindividueller Postulate wie etwa solchen des moral improvement als geteiltes Gefühl um menschliche Verantwortung¹²⁹. Nach Kant hätte jeder Mensch in seiner Eigenschaft als ‚Bürgerʻ¹³⁰ die Pflicht, seine Verstandeskräfte zu benutzen, um die herrschenden Verhältnisse nicht nur zu verstehen, sondern auch, um sie anhand von verallgemeinerbaren Vernunftkriterien zu beurteilen und gegebenenfalls zu verändern¹³¹. Alle einschlägigen Normen für die Beurteilung gesellschaftlicher Institutionen (‚Ehe‘; ‚Eigentumʻ), wie auch derjenigen des Staates (‚Rechtʻ), resultierten aus einer Sittlichkeit bzw. Moral, die ihrerseits in der menschlichen Vernunft gründete. Im Licht vernünftiger Normen wären ‚ständischʻ und ‚zunftmässigʻ begründete Privilegien mitsamt den damit hervorgerufenen Ungerechtigkeiten genauso illegitim, wie repressive Institutionen der Pressezensur, das Verbot der Meinungsfreiheit, die kirchliche Tabuisierung säkularer Denkfiguren sowie die Erhebung von Schulgeld. Nicht zuletzt wäre auf der Basis einer staats- und sogar weltbürgerlichen Vernunft davon auszugehen, dass politische Entscheidungsträger/innen eine genauso kategorische wie theoretisch begründete Pflicht gegenüber den Bürgern besitzen würden, sich um eine angemessene öffentliche Ordnung zu bemühen. „Das Recht dem Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren, und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem erstern beugen, kann aber dafür hoffen, ob zwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird.“¹³² Die Bürger hätten ihrerseits die Aufgabe, politische Funktionsträger unmissverständlich an diese Pflicht zu erinnern. Die kritische Ver-

 Jacob ter Meulen, Der Gedanke der Internationalen Organisation in seiner Entwicklung 1300 – 1800 (Haag. Nijhoff, 1986), 47. (Hbg. hinzugefügt)  Vgl. die Beiträge von Michael Morris und Tom Furniss zum Sammelband von Alex Benchimol & Gerard Lee McKeever (Hg.), Cultures of Improvement in Scottish Romanticism, 1707– 1840 (London: Routledge, 2018).  Allerdings sind die von Kant, Metaphysik der Sitten, hg. von Karl Vorländer (Leipzig: Meiner, Zweite Auflage 1907), 137 vorgenommenen Einschränkungen betreffend den Status als ‚Bürgerʻ nicht unerheblich: „[…] der Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im Dienst des Staates steht); der Unmündige (naturaliter vel civiliter [!]); alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betriebe, sondern nach der Verfügung anderer (außer der des Staats) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz.“  Vgl. Kant, Was ist Aufklärung?, a.a.O., 55 – 61, 61.  Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Preuss. Akademie der Wissenschaften (Hg.), Akademie Ausgabe, Bd. 8: Abhandlungen nach 1781 (Berlin: Reimer [1795], 1900 ff ), 341– 386, 380.

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standestätigkeit jedes einzelnen dürfte sich mit Blick auf die soziopolitischen Verhältnisse keinen Einschränkungen unterwerfen lassen, sollte ihrerseits aber auch keine aktive Einmischung in die politische Sphäre suchen, um nicht gezwungen zu sein, aus Gründen einer falsch verstandenen Praxisrelevanz irgendwelche Abstriche von vernünftigen Schlussfolgerungen vorzunehmen und Kompromisse zu machen¹³³. Die Bedeutung dieser Trennung zwischen Kritik und Politik lag für Kant in erster Linie darin, dass dem Nachdenken ein eigener Raum zur Verfügung stehen sollte, um die Leistungsfähigkeit der Vernunft zu eruieren und damit die Aufklärung über bestehende Unfreiheiten in der Theorie voranzutreiben, ohne Rücksicht auf die politischen Folgen theoretischer Aussagen. Konsequenterweise wäre der Kritiker etablierter Sichtweisen und/oder suspekter Praktiken wegen seiner Aussagen nicht zu diffamieren und damit mundtot zu machen, geschweige denn für mutmaßliche Konsequenzen seiner Aussagen zu kriminalisieren. Gleichwohl gestand Kant ein, dass eine wie auch immer geartete Berührung zwischen kritischer Theorie und politischer Praxis die erstere dazu veranlassen müsste, die politischen Konsequenzen der Theorie zu berücksichtigen. Klar ist allerdings auch, dass eine solche Berührung zwischen Theorie und Praxis nicht bereits darin liegen würde, dass Publikationen kritischer Intellektueller in den Bibliotheken politischer Organisationen archiviert werden.

Kritisches Denken emanzipiert sich vom Subjekt-Objekt Dualismus Kant hatte die positive Rolle der Vernunft vor dem Hintergrund von Krieg und willkürlicher Gewalt beschworen, um auszudrücken, dass Frieden wie die Aufklärung zum heiligen ‚Recht der Menschheitʻ gehört¹³⁴, dass alle wahrhaft freien Menschen auch nach Frieden und Aufklärung streben müssten. An der Aktualität dieses Diktums hat sich insofern nichts geändert, als Krieg im 21. Jahrhundert um ein Vielfaches vernichtender geworden ist, als es sich Kant jemals hätte träumen lassen¹³⁵. Fichte schloss sich Kant bei

 Vgl. mit Berufung auf diese Radikalität Kants z. B. Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung, in: A. Busch (Hg.), Soziologie und moderne Gesellschaft: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin (Stuttgart: Enke, 1959), 169 – 191, 172: „Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen Bewußtsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme. Sie galt stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft: je heller die Einzelnen, desto erhellter das Ganze.“  Vgl. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, a.a.O., 59.  Vgl. Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: M. Lutz-Bachmann & J. Bohman (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung (Frankfurt: Suhrkamp, 1996), 7– 24, 8: „Kant dachte an räumlich begrenzte Konflikte zwischen einzelnen Staaten und Allianzen, noch nicht an Weltkriege. Er dachte an Kriege zwischen Kabinetten und Staaten, noch nicht an Bürgerkriege. Er dachte an technisch begrenzte Kriege, die die Unterscheidung zwischen kämpfender Truppe und Zivilbevölkerung erlauben, noch nicht an Partisanenkampf und Bombenterror. Er dachte an Kriege mit politisch begrenzten Zielen, noch nicht an ideologisch motivierte Vernichtungs- und Vertreibungskriege.“

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der Suche nach den formalen Möglichkeitsbedingungen für die subjektive Erkenntnis eines Gegenstandes durch das Individuum an. Wie Kant blieb Fichte der üblichen Trennung zwischen Subjekt und Objekt verhaftet und privilegierte das transzendentale Subjekt als Instanz des Erkennens¹³⁶. In weltanschaulicher Hinsicht führte sein Radikalismus Fichte zur Polemik gegen den französischen Universalismus und zur Hypostasierung der deutschen Nation. Schelling lässt sich weltanschaulich in der Nähe von Kant verorten, insofern sein ‚Begriff des Politischenʻ ein gewisses Maß an Bildung, Religion und Moral auf der Seite politischer Kräfte als wichtige Vorkehrung gegen die Auswirkungen reiner Parteilichkeit umfasste. Ein Mangel an solchen Tugenden legitimierte eine entsprechende Kritik; gleichzeitig befürwortete Schelling, ähnlich wie Fichte, den Staat und nicht etwa eine Weltrepublik als die objektive Seite der Politik¹³⁷. Vor allem aber versuchte Schelling mit seinem Projekt der ‚philosophischen Konstruktionʻ den erkenntnistheoretischen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden und behauptete im Unterschied zu Kant und Fichte eine Einheit des Erkenntnisvorgangs. Hegel gelang in dieser Hinsicht durch den Begriff der Dialektik eine Art von Synthese, wodurch er sich nachhaltig als der bis dato erfolgreichste Kritiker des wissenschaftlichen Erkenntnisvorgangs etablierte: „Wir haben es nicht nöthig diese Thätigkeit [des Subjekts] als besondere auszuzeichnen, und der subjektiven Weise besondere Namen zu geben, es ist das Denken überhaupt, welches bestimmt und in seinen Bestimmungen fortgeht und die absolute Bestimmung des Objekts ist [sic!] daß die Bestimmungen des Subjektiven und Objektiven identisch sind, betrachten wir daher die Bestimmungen des Objekts, so betrachten wir auch die des Subjekts, wir brauchen sie nicht zu scheiden, sie sind dieselben.“¹³⁸ Das erkennende Subjekt und der Gegenstand der Erkenntnis sind im Prozess des Erkennens immer schon miteinander vermittelt und bleiben auch nicht stabil. Kant hatte damit richtig gelegen, wissenschaftliches Wissen als rein theoretisches Wissen von Phänomenen zu beschreiben, irrte aber dahingehend, dieses Wissen in Abhängigkeit von stabilen kategorialen Formen des Verstandes zu begreifen. Die Verstandeskategorien des erkennenden Subjekts müssen ebenfalls in die kritische Betrachtung genommen werden, wodurch sie selbst zu historischen und veränderlichen Elementen des dialektischen Erkenntnisprozesses werden.

 Vgl. dazu Georg F.W. Hegel,Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes I. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1822 und 1825 (Hamburg: Meiner, 2008), auf 436: „Die Kantsche und Fichtesche Philosophie fängt vom Ich an, dieß unterscheidet sich, setzt das Nicht ich sich gegenüber und daran entwickeln sich die weiteren Bestimmungen dieses Verhältnisses und es ist dieß die Entwickelung dessen was das Objekt ist; dieser Versuch ist von Grund aus einseitig und in der Fichteschen Darstellung sind die Gedankenbestimmungen der Fortbildung des Objekts nicht bloß objektiv ausgedrückt, sondern sie sind in der Form subjektiver Thätigkeit.“  Vgl. André Schmiljun & Volker Thiel, Schelling und die Antipolitische Moderne: Ist die Parlamentarische Demokratie in Gefahr? (Berlin: Logos, 2017), 54– 55.  Hegel, Philosophie des subjektiven Geistes, a.a.O., 436 – 437.

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Kritisches Denken begreift Wirklichkeit als Geschichte Die Hegelʼsche Philosophie vollzog den Schritt hin zur Einsicht, dass alle realweltlichen Sachverhalte, die für den Menschen in Gesellschaft eine Rolle spielen, ihren Sinn durch kollektiv geteilte Vorstellungen von diesen Sachverhalten erhalten¹³⁹. Durch Sinnzuschreibung werden realweltliche Sachverhalte Gegenstände menschlicher Erkenntnis, und zwar als Bestandteile bereits bekannter Gegenstandsbereiche. Unter dem Einfluss der intellektuellen Strömungen seiner Zeit¹⁴⁰ vertrat Hegel dabei allerdings auch den Standpunkt, dass sich die wissenschaftliche Erkenntnis der ‚Wahrheitʻ immer wieder von Neuem an die kritische Prüfung des vorfindlichen Wissens von diesen Gegenständen machen müsse. Ein reflektierter Skeptizismus wäre ein wichtiger Teil jeder wissenschaftlichen Haltung und ‚Lebensweiseʻ, weil Wissenschaft kritisch sein müsse, ohne sich prinzipiell jeglichem Wissen zu verweigern. Mit Hegel, so könnte man behaupten, beginnt sowohl die poststrukturalistische Diskursanalyse als auch die Dekonstruktion, insofern es stets um die Frage geht, wie sich realweltliche Zusammenhänge über informierte und ‚spekulativeʻ Deutungen als symbolisch vermittelte Konstellationen begreifen lassen. Einen wichtigen Beitrag zum Begriff der Kritik leistete die Hegelʼsche Philosophie dadurch, dass sie die Kantʼschen Einsichten über die Unmöglichkeit einer Beschäftigung mit den ‚Dingen an sichʻ beherzigte und im Wissen um den zunehmenden Einfluss des Empirismus vor der Naivität warnte, realweltliche Sachverhalte einfach als gegebene Entitäten zu betrachten, die ohne weiteres Zutun sinnlich erfahrbar wären und im Sinne verdinglichter Variablen behandelt werden dürften. Realweltliche Sachverhalte müssten immer aktiv gedeutet werden, weswegen die Welt nur mit Hilfe von angemessenen konzeptuellen Kategorien zu erschließen bzw. durch verstehende Methoden zu ‚erfahrenʻ wäre. Trotz ihrer Ablehnung des Gegebenen steht diese Haltung nicht im Gegensatz zum Anspruch der ‚Erfahrungswissenschaftenʻ und ist auch nicht ‚idealis-

 Die nachfolgende ‚Aneignungʻ von Aspekten der Hegelʼschen Philosophie geschieht zu dem Zweck, typische Gesten einer kritischen Haltung gegenüber zeitgenössischen Positionen zu illustrieren; dabei werden Mahnungen berücksichtigt, das denkende Subjekt von Hegel, die Gegenstände des Denkens und den Prozess des Denkens nicht völlig in der Abstraktion aufzulösen. Vgl. etwa Karl Marx, Ökonomischphilosophische Manuskripte (Erste Wiedergabe), in: Internationale Marx-Engels-Stiftung (Hg.), Karl Marx, Werke, Artikel, Entwürfe, März 1843 bis August 1844 (Berlin: Akademie, 2009),187– 322. 296: „Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen.“ (Hbg. im Original)  Vgl. Heidemann, Der Begriff des Skeptizismus, a.a.O., 119: „Um 1800 setzt in Deutschland, vor allem in Jena, eine lebhafte und lang andauernde Debatte um den Skeptizismus ein, an der alle Idealisten, darunter insbesondere Hegel, aber nicht nur diese teilnehmen. Diese Debatte […] wird auf hohem argumentativen Niveau geführt, das sich m. E. mit dem der gegenwärtigen Diskussion um den Skeptizismus messen kann […], viele heute für innovativ gehaltene skeptische und antiskeptische Argumente bereits vorwegnimmt und zum Teil bessere liefert. So antizipiert zum Beispiel die Diskussion solcher Begriffe wie Repräsentation oder Realismus in der Debatte um 1800 exakt die Problemlage, die noch im Fokus der heutigen Erörterungen steht.“

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tischʻ in einem metaphysischen Sinn¹⁴¹. „Es gehört zu den üblen Vorurteilen, als ob sie sich im Gegensatz befände gegen eine sinnige Erfahrungskenntnis, die vernünftige Wirklichkeit des Rechts und eine unbefangene Religion und Frömmigkeit; diese Gestalten werden von der Philosophie anerkannt, ja selbst gerechtfertigt; der denkende Sinn vertieft sich vielmehr in deren Gehalt, lernt und bekräftigt sich an ihnen wie an den großen Anschauungen der Natur, der Geschichte und der Kunst […].“¹⁴² Die Hegelʼsche Philosophie begreift Brüche und Konflikte in Gesellschaft nicht einfach nur als ‚normaleʻ Begleiterscheinungen realweltlicher Prozesse, sondern als sichtbaren Ausdruck von sich andauernd ändernden Grundstrukturen der Wirklichkeit und wie diese im common sense bzw. einem ‚allgemeinen Wissenʻ der Menschen verhaftet sind¹⁴³. Daraus lässt sich ein zweiseitiges Postulat ableiten, nämlich erstens: gesellschaftliche Prozesse bzw. ihre Brüche und Konflikte immer auch in Abhängigkeit von den sich ändernden Vorstellungen und Ideen dieses allgemeinen Wissens zu verstehen; und zweitens: den Wahrheitsgehalt konkurrierender Sichtweisen in Anbetracht dieses sich verändernden allgemeinen Wissens zu prüfen. Hegel selbst führte zum Zweck der Prüfung dieses gesamtgesellschaftlichen Wissens den Maßstab einer ‚absoluten Wahrheitʻ ein – einer Wahrheit, die vom dritten bzw. ‚denkenden Standʻ der philosophischen Wissenschaft¹⁴⁴ als einer weltlichen Kraft erkannt werden würde, und die sich im Zug eines historischen Fortschritts ständig erneuerte und es vermochte, konfligierende Deutungen der Welt und dadurch bedingte Positionierungen der Menschen in Gesellschaft miteinander zu versöhnen; etwa in der Form eines reformierten bürgerlichen Rechtsstaates¹⁴⁵.

 Vgl. zu dieser Deutung der Hegelʼschen Philosophie, Klaus Hartmann et al., Die Ontologische Option: Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes (Berlin: de Gruyter, 1976), 2: „Die Hegelsche Philosophie kann in ihren systematischen Werken (Phänomenologie des Geistes, Propädeutik, Logik, Enzyklopädie, Rechtsphilosophie) als eine Kategorienlehre bezeichnet werden. Sie nimmt den Anspruch des Denkens ernst, das was ist, in Begriffen fassen zu können. Damit ist die Kantische Restriktion solchen Anspruchs auf Erscheinungen bestritten, deshalb aber nicht schon einer Metaphysik, wie Kant sie kritisiert, das Wort geredet.“  Georg W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Fr. Nicolin & O. Pöggeler (Hg.) (Hamburg: Meiner, 1991), 4.  Vgl. dazu schon vor über hundert Jahren Gustavus W. Cunningham, Thought and Reality in Hegelʼs System (New York: Longmans, 1910), 3 mit einer vergleichsweise starken Betonung der Bedeutung dieses allgemeinen Wissens für Hegels Philosophie.  Vgl. zur differenzierenden Betrachtung der ‚natürlichenʻ, ‚reflektiertenʻ und ‚denkendenʻ Stände Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 407: „Der dritte, denkende Stand hat die allgemeinen Interessen zu seinem Geschäfte; wie der zweite hat er eine durch die eigene Geschicklichkeit vermittelte und wie der erste eine aber durch das Ganze der Gesellschaft gesicherte Subsistenz.“ (Hbg. im Original)  Vgl. Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Edition G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke, Band 14, Klaus Grotsch (Hg.) (Hamburg: Meiner, 2017), 204: „Von der objektiven Ordnung aber, in Angemessenheit mit ihr und zugleich in ihrem Recht erhalten, wird die subjektive Besonderheit zum Prinzip aller Belebung der bürgerlichen Gesellschaft, der Entwickelung der denkenden Tätigkeit, des Verdiensts und der Ehre. Die Anerkennung und das Recht, daß was in der bürgerlichen Gesellschaft und

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Mit Blick auf die realweltlichen Zusammenhänge im 21. Jahrhundert ließe sich daraus schlussfolgern, dass sich innerhalb und vor allem auch jenseits staatlicher Räume umso konfliktreichere Prozesse vollziehen, je weniger es die beteiligten Kräfte unternehmen, ihre jeweils parteilichen Interessen bzw. ‚subjektiven Besonderheitenʻ unter vernünftigen Ordnungsvorstellungen miteinander in Einklang zu bringen. Eine im Unterschied zum restringierten amerikanisierten IB-Mainstream integrierte Wissenschaft der internationalen Beziehungen hätte diesbezüglich die Aufgabe, die konkurrierenden Sichtweisen auf der Basis von allgemein geteilten Überzeugungen der Weltgesellschaft/en miteinander zu versöhnen. Auch wenn mit Hegel selbst nur eine hohe Konfliktneigung jenseits staatlicher Räume konstatiert werden könnte¹⁴⁶, so nützlich ist dieser Punkt, um daraus – mit Hegel über Hegel hinaus¹⁴⁷ – die hypothetische Schlussfolgerung abzuleiten, dass es selbst in der historischen Epoche des Nuklearzeitalters, in der sich die Menschheit nolens volens Kräften anvertraut hat, die ihre Mission in der Modellierung von Nuklearkriegsszenarien erkennen und mit der Vernichtung jedweden organischen Lebens kalkulieren, mit der Idee einer weltbürgerlichen Ordnung nach wie vor prinzipiell eine ‚wahreʻ Lösung für eine wie auch immer geartete Zukunft in Frieden und Freiheit gäbe. Methodisch besteht dieses Vorgehen auf einer Beschäftigung mit einem raumzeitlich eingebetteten ‚Ganzenʻ und geht dabei davon aus, dass dieses Ganze einer richtigen Verfassung zuträglich wäre, die sich in einem historischen Entwicklungsprozess manifestierte, dessen progressiver Verlauf durch kontingente Vorstellungen, Ideen und Praktiken gesellschaftlicher Kräfte bestimmt wäre. Vom Empirismus erging hierzu schon früh der Vorwurf, die holistische Methode würde jegliches Wissen negieren (‚Nihilismusʻ)¹⁴⁸ und keine verlässliche Wahrheitserkenntnis mehr zulassen (‚Relativismusʻ), was jedoch nur Sinn macht, wenn man weiter an die Metaphysik des ‚empirisch Gegebenenʻ¹⁴⁹ glaubt und davon ausgeht, wissenschaftlich zu nennende Deutungen im Staate durch die Vernunft notwendig ist, zugleich durch die Willkür vermittelt geschehe, ist die nähere Bestimmung dessen, was vornehmlich in der allgemeinen Vorstellung Freiheit heißt.“  Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., 333 mit Verweis auf die hohe Kriegswahrscheinlichkeit zwischen ‚zivilisiertenʻ und ‚rückständigenʻ Staaten bzw. Nationen.  Mit Hegel wäre noch die Integration der Menschen in gemeinwohlorientierten ‚republikanischenʻ Staatsformen als Ausdruck einer vernünftigen Wirklichkeit des Friedens in Freiheit vorstellbar. Vgl. Kenneth Westphal, The basic context and structure of Hegelʼs Philosophy of Right, in: Fr. C. Beiser (Hg.), The Cambridge Companion to Hegel (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), 234– 269, 262. Über Hegel hinaus ginge die Vorstellung der Integration aller Menschen in einer ‚Weltrepublikʻ, mit der sich schon Kant beschäftigt hatte.  Vgl. Otto Pöggeler, Hegel und die Anfänge der Nihilismus-Diskussion, Man and World 3:3 (1970), 163 – 199.  Vgl. Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 65 – 66: „Die Grundtäuschung im wissenschaftlichen Empirismus ist immer diese, daß er die metaphysischen Kategorien von Materie, Kraft, ohnehin von Einem, Vielem, Allgemeinheit, auch Unendlichem usf. gebraucht, ferner am Faden solcher Kategorien weiter fortschließt, dabei die Formen des Schließens voraussetzt und anwendet, und bei allem nicht weiß, daß er so selbst Metaphysik enthält und treibt und jene Kategorien und deren Verbindungen auf eine vollig unkritische und bewußtlose Weise gebraucht.“ (Hbg. im Original)

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der Realität verdankten sich der Domestizierung des Denkens durch allgemeingültige Regeln¹⁵⁰, der Beibringung von ‚Datenʻ als Belegen für Hypothesen über kausale Zusammenhänge und/oder einem finalen Diktum der Mehrheit bzw. etablierter Autoritäten in ihren jeweiligen spezialisieren Fachwissenschaften. Demgegenüber liegt der Wert der Hegelschen Philosophie gerade darin, dass sie nachvollziehbar werden lässt, wie gefährlich eben jene metaphysische Haltung ist, weil sie das wissenschaftliche Denken unter der Illusion einer methodisch zu analysierenden Welt kausaler Dingbeziehungen viel zu stark diszipliniert anstatt es freizulassen und auf das Erkennen einer notwendig kontingenten Wahrheit zu richten. Die Hegelʼsche Philosophie erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Welt immer um die Veränderlichkeit aller Phänomene bewusst bleiben muss, und dass es bei der Beschäftigung mit diesen Phänomenen um den Sinn geht, den sie im Kontext geteilter Vorstellungen und Ideen gewinnen. Dass alle stofflichmateriellen Elemente der Welt für den Menschen in Gesellschaft nur wichtig werden, insofern sie eine Bedeutung gewinnen und als Träger von Bedeutung in der Vorstellungswelt des Menschen aufgehen, zwingt zur Wahl einer ‚Methodeʻ, die es erlaubt die maßgeblichen Sinnstrukturen wissenschaftlich zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich Wissenschaft vor allem durch Reflexion und nachvollziehendes Denken aus; Denken wiederum ist Ausdruck von Freiheit¹⁵¹; und freies wissenschaftliches Denken kann sich seit Kant nicht mehr dogmatisch den Anspruch geben, nach methodisch gesichertem Wissen um das ‚empirisch Gegebeneʻ zu streben, ganz egal, wodurch es in letzter Konsequenz als solches gestützt werden könnte: sei es die Übereinstimmung zwischen Koryphäen, sei es der Konformitätsdruck einer fachwissenschaftlichen Glaubensgemeinschaft, oder sei es die Autorität des Staates. Wissenschaftliches Denken richtet sich auf den veränderlichen Sinngehalt der Welt und ist seinem Begriff nach immer unabhängiges und anti-metaphysisches, zum Teil ganz zwingend auch ‚einsamesʻ Denken, das ausschließlich in die jeweilige ‚Sacheʻ vertieft ist und danach strebt, die Wahrheit dieser Sache „[…] zu begreifen, und dem schon an sich selbst vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form zu gewinnen, damit er für das freie Denken gerechtfertigt erscheine.“¹⁵² Was Hegel mit Blick auf die wissenschaftliche Praxis völlig selbstverständlich schien¹⁵³, wirkt heute zwar obsolet und unpraktisch, was

 Vgl. dazu beispielsweise Susanne Pickel & Gert Pickel, Empirische Politikforschung. Einführung in die Methoden der Politikwissenschaft (Berlin: de Gruyter, 2018), 6: „Die Regeln einer empirisch arbeitenden Wissenschaft sind dabei Gültigkeit (Validität), Zuverlässigkeit (Reliabilität) des von ihr verwendeten Datenmaterials sowie Transparenz der verwendeten Methoden und der erzielten Ergebnisse. Diese Kriterien beziehen sich auf die Abbildung der Wirklichkeit durch Daten [sic!].“  Vgl. Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 57.  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., 7.  Vgl. Hans-Christof Kraus, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (München: Oldenbourg, 2008), 22– 23, der mit Blick auf die Zeit um 1800 das Konzept von universitärer Bildung als eines beschreibt. „[…] das auf der Einheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre beruht und dabei ebenso die Zweckfreiheit des freien Forschens wie auch die Notwendigkeit absoluter Lehr- und Lernfreiheit betont. Das besonders von Fichte und Humboldt hervorgehobene (später oft kritisierte) Grundprinzip von

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aber nur unterstreicht, wie wenig akademische Praxis mit kritischer Wissenschaft zu tun hat. Kant wurde klar, dass die Suche nach der Wahrheit natürlicher Phänomene in letzter Konsequenz von einem sprachlich gebundenen Allgemeinwissen abhängt, das es erlaubt, eine sinnliche Erfahrung im Sinn einer Vorstellung mit dem diskursiven Verstand zu verknüpfen¹⁵⁴, der die Vorstellungen von Dingen ‚an sichʻ in Gedanken verwandelt. Mit Hegel lässt sich erkennen, dass die Wahrheit nicht-erfahrbarer Phänomene nicht in einem ersten Einfall, einer passiven ‚Beobachtungʻ, liegen bzw. sich nicht durch sinnliche Anschauung bzw. Wahrnehmung erschließen kann, sondern daraus „[…] daß man erst darüber nachdenken müsse, um zur wahrhaften Beschaffenheit des Gegenstandes zu gelangen, und daß durch das Nachdenken dies erreicht werde.“¹⁵⁵ Weder die Erlangung von Wissen um soziale Phänomene noch die kritische ‚Prüfungʻ von Wissen um soziale Phänomene kann auf sinnliche Erfahrungen gestützt und auf der Basis eines ‚realistischenʻ Wahrheitsbegriffs vollzogen werden, der ein wie auch immer Gegebenes zum Maßstab macht¹⁵⁶. Diese Infragestellung empirischen Wissens bedeutet gerade nicht die Ablehnung jeglichen Wissens überhaupt. Im Unterschied zum dogmatischen Skeptizismus, der lediglich Ausdruck eines ‚krankhaftenʻ oder rein intuitiven Skeptizismus sei, beschäftigt sich ein ‚authentischerʻ und reflektierter Skeptizismus seit der Antike mit dem Nachdenken selbst und wird damit zum einzigen Weg wissenschaftlicher Erkenntnis¹⁵⁷. Die Inklusion eines reflektierten Skeptizismus in die Suche nach Wahrheit bietet die einzige Gewähr dafür, jeglichen Wissens-Dogmatismus in den bestehenden Ansichten im Sinne einer unkritischen, affirmativen und letztlich auch

‚Einsamkeit und Freiheitʻ reflektiert nur die Tatsache, ‚daß [.. .] die ständige Suche nach Wahrheit vereinsamtʻ und dass ein konsequentes Sich-Einlassen auf die Grundprobleme wissenschaftlichen Denkens und Forschens eine wenigstens zeitweilige weitgehende Entlastung des Forschenden ‚von kollektiven Interessensolidaritäten und Verhaltensnormenʻ erfordert.“  Vgl. Günter Zöller, Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant: Zur systematischen Bedeutung der Termini ‚objektive Realitätʻ und ‚objektive Gültigkeitʻ in der ‚Kritik der reinen Vernunftʻ (Berlin: de Gruyter, 1984), 294.  Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 56.  Die Mainstream-Texte in den Sozialwissenschaften, insbesondere die in der amerikanisierten Politikwissenschaft, scheinen überwiegend einem solchen ‚externalistischen Realismusʻ verpflichtet zu sein, mitsamt dem Glauben an ‚empirische Wahrheitʻ. Vgl. dazu u. a. Pickel & Pickel, Empirische Politikforschung, a.a.O., 8: „Letztendlich ist es das Ziel jedweder Forschung, in empirischen Sätzen darüber zu entscheiden, ob Sätze wahr oder falsch sind.“  In seiner Diskussion der Maximen bzw. ‚Tropenʻ des Skeptizismus weist Hegel darauf hin, dass es seit der Antike die philosophischen Skeptiker gewesen sind, die aufgrund ihrer Neigung zur Hinterfragung der Erscheinungen das Wahre finden; also nicht wegen einer prinzipiellen Ablehnung allen Wissens, sondern aus der „[…] Einsicht, dass eine wahre Philosophie notwendig selbst zugleich eine negative Seite hat, welche gegen alles Beschränkte und damit gegen den Haufen der Tatsachen des Bewusstseins und deren unleugbare Gewissheit […], gegen diesen ganzen Boden der Endlichkeit […] gekehrt und unendlich skeptischer ist […].“ Georg W. F. Hegel, Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten, in: Rainer Schäfer, Hegel. Einführung und Texte (München: Fink, 2011), 55 – 65, 57.

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willkürlichen Haltung gegenüber den herrschenden Verhältnissen (‚so ist esʻ) zu beseitigen¹⁵⁸. Aus einer solchen Skepsis wird weiterhin klar, dass die Wahrheit der Phänomene nicht auf eine Funktion formaler Erkenntnisbedingungen reduziert werden kann, die z. B. Kant und Fichte noch in der Instanz des erkennenden (transzendentalen) Subjekts vorzufinden glaubten: „[W]ie ist also zu den Bestimmungen des Ich, den Kategorien, zu kommen? […] Der Fichteschen Philosophie bleibt das tiefe Verdienst, daran erinnert zu haben, daß die Denkbestimmungen in ihrer Notwendigkeit aufzuzeigen, daß sie wesentlich abzuleiten seien.“¹⁵⁹ Fichtes Kritik richtete sich auf die Unterstellung eines Ursprungs als Voraussetzung des Denkens, ohne dabei jedoch die Instanz des erkennenden Subjekts zu dekonstruieren¹⁶⁰. Hegel tat genau das und sah deswegen ab von „[…] the idea that the mental is entirely subjective, a phenomenological layer of epistemic intermediaries“¹⁶¹. Das Denken des verallgemeinerten Subjekts¹⁶² ist kein privates Denken, sondern immer schon eingebettet in eine gemeinsame ‚Kultur der Vernunftʻ. Es vollzieht sich einerseits immer in bereits existierenden Formationen des Wissens, „[a]ndererseits erzeugen wir dadurch Schichten des Geistes, die [ihrerseits] zu historischen Sedimenten werden können und sind deswegen ge-schicht-liche Wesen […].“¹⁶³ Das Denken liegt nicht mehr im transzendentalen Subjekt der Gattung Mensch sondern im historischen Subjekt einer raumzeitlich verorteten Gesellschaft, wo die Phänomene als Vorstellungen über den diskursiven Verstand in Gedanken überführt werden, durch die sie ihre Bedeutung erlangen bzw. ‚bestimmtʻ werden. Das wiederum bedeutet, dass das Phänomen und der Gedanke in dem Moment zu einer Einheit werden, in dem das raumzeitlich gebundene Denken eine sprachliche Bestimmung des geschichtlichen Phänomens vornimmt¹⁶⁴. Eine wissenschaftliche Forschung, die diesen Namen verdient,

 Vgl. Hans Friedrich Fulda, Einleitung: Fragen und Überlegungen zum Thema, in: derselbe & R.-P. Horstmann (Hg.), Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels (Stuttgart: Klett, 1996), 9 – 26, 13.  Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 68 – 69. (Hbg. im Original)  Vgl. Kurt Röttgers, Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx (Berlin: de Gruyter, 1975), 93 – 96.  Markus Gabriel, What Kind of an Idealist (If Any) Is Hegel?, Hegel Bulletin 37:2 (2016), 181– 208, 195.  Das ‚allgemeine Subjektʻ ist der verallgemeinerte Mensch, entweder im Sinn des individuellen Subjekts, das als Teil einer Gruppe bzw. historischen Kollektivs an allgemeinen Denkprozessen beteiligt ist, oder gleich im Sinn einer ganzen Gesellschaft bzw. einem ‚Volkʻ. Vgl. dazu auch Hegel, Die Vernunft in der Geschichte: Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte (auch: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte), hg. von Georg Lasson (Leipzig: Meiner, 1917), 43 – 44: „Indessen muß die Entwickelung des Geistes als die Bewegung, aus der die Bildung hervorgegangen ist, noch konkreter aufgefaßt werden. Es ist das Allgemeine des Geistes, die Bestimmungen, die er an sich hat, zu setzen. Dies kann wieder im subjektiven Sinne verstanden werden […]. Der Volksgeist ist Wissen, und die Tätigkeit des Gedankens auf die Realität eines Volksgeistes ist, daß er sein Werk als Objektives, nicht mehr bloß Subjektives weiß.“  Markus Gabriel, Was ist (die) Wirklichkeit, in: derselbe & M. D. Krüger (Hg.), Was ist Wirklichkeit? (Tübingen: Mohr, 2018), 63 – 117, 115.  Natürlich kann man gegen die Denkfigur des historischen Subjekts als Kollektivperson Einwände erheben. Vgl. dazu besonders Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (Frankfurt: Suhrkamp, 1966), 391:

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spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, insofern sie Teil dieser Kollektivperson ist und als seine selbstkritische Instanz fungiert. Der Erkenntnisgegenstand ist damit die Vorstellung von einem realweltlichen Phänomen, das seine Bedeutung für ein historisches Subjekt gewinnt, und zwar durch seine sprachlich-konzeptuelle Vergegenständlichung durch das historische Subjekt: „Das viele Einzelne der Sinnlichkeit, wird daher ein Breites, eine Mannigfaltigkeit von Beziehungen, Reflexionsbestimmungen und Allgemeinheiten, und ist auf diese Weise nicht mehr ein unmittelbarer Gegenstand. Da der Gegenstand so verändert ist, so ist das sinnliche Bewusstsein zum Wahrnehmen geworden.“¹⁶⁵ Die Gegenstände der Erkenntnis sind ‚Reflexionsobjekteʻ¹⁶⁶ und werden zu Trägern von Bedeutung für das historische Subjekt. Dabei sind sie nicht stabil, weil einerseits alle realweltlichen Phänomene ‚an sichʻ selbst der Veränderung unterliegen, und weil sie andererseits als Reflexionsobjekte für das historische Subjekt als ein sich andauernd entwickelndes Subjekt abhängig von einer Erkenntnis bleiben, die sich ändern kann. Als Teilnehmer einer ‚lebendigenʻ Menschheit, die sich von einer historischen Gesellschaft zur nächsten entwickelt, verändern sich sowohl die Menschen als auch die Gegenstände als Träger von Bedeutung. „Im Leben [der Menschheit] fallen die gewöhnlichen Verhältnisse von Ursache und Wirkung, Einwirken, die chemischen, mechanischen pp Verhältnisse weg. […] Das Leben negirt [sic!] die Unmittelbarkeit immer und es schaut an, hat zum Gegenstand diese Negation der Unmittelbarkeit des Prinzips, was das Bewußtsein zu solchem macht.“¹⁶⁷ Wenn also im Zuge der wissenschaftlichen Forschung Informationen über irgendwelche Scharmützel und bewaffnete Gefechte zwischen verschiedenen Personenkreisen auftauchen, diese Informationen noch eher intuitiv als schon verständig als ‚militärische Kampfhandlungenʻ gedeutet bzw. ‚wahrgenommenʻ werden und diese Deutung als ‚militärische Kampfhandlungenʻ zur Basis einer Zuschreibung unter Verwendung des Konzepts ‚Kriegʻ wird, dann ist ein soziales Phänomen von den Teilnehmer/innen an der wissenschaftlichen Forschung in ihrer Eigenschaft als Teilnehmer/innen an einem historischen Subjekt durch das Wort ‚Kriegʻ bestimmt worden. Und eben dabei werden das erkennende Subjekt und das Objekt im historisch eingebetteten und sprachlich begründeten Erkenntnisprozess ‚vermitteltʻ und hören auf, jeweils für sich selbst zu sein. Durch eine gedankliche Zuschreibung verliert jede sinnliche oder anders geartete Wahrnehmung ihr Objekt als einen unbestimmten Gegenstand, stattdessen wird am

„Die idealistische Konstruktion jedoch, die den Erdenrest auszuscheiden vorhat, wird wesenlos, sobald sie jene Egoität gänzlich ausmerzt, die Modell des Begriffs Geist war. Darum die Annahme unsinnlicher Egoität, die doch als Dasein, wider ihre eigene Bestimmung, in Raum und Zeit sich manifestieren soll.“ Gleichzeitig liegt eine durchaus wertvolle Heuristik dieser Denkfigur darin, dass sie noch von einem übergreifenden Zusammenhang zwischen den einzelnen Bereichen der Gesellschaft ausgeht und die verschiedenen Tätigkeiten u. a. des Handwerks, der Bürokratie und der Wissenschaft, ähnlich wie später Marx, unter den Begriff der ‚Praxisʻ subsumiert.  Hegel, Philosophie des subjektiven Geistes, a.a.O., 443.  Vgl. ebda, 446.  Ebda, 451.

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gerade beschriebenen Beispiel das unbestimmte historische Phänomen durch das Wort ‚Kriegʻ ein Allgemeines für das ‚verständige Denkenʻ. Als solches wird der Gegenstand mitteilbar und hört auf, ein nur wahrgenommenes Phänomen zu sein. Diese Zuschreibung ist allerdings nicht bereits gleichbedeutend mit Erkenntnis, sondern erst der Beginn des Prozesses, der zu einer vorläufigen Erkenntnis führt.

Kritisches Denken begreift Einzelphänomene als Teilaspekte des Ganzen Der reflektierte Skeptizismus vollbringt sich im weiteren Prozess nach einer ersten Bestimmung des Phänomens als der eigentliche Impulsgeber der Erkenntnis, und zwar vor allem dadurch, dass er das wissenschaftliche Denken auf Ebene der Vernunft in Widersprüche, in dialektisches Denken verwickelt: „[…] d. i. sich in die feste Nichtidentität der Gedanken verliert, somit sich selbst nicht erreicht, vielmehr in seinem Gegenteil befangen bleibt. Das höhere Bedürfnis geht gegen dies Resultat des nur verständigen Denkens und ist darin begründet, daß das Denken nicht von sich läßt, sich auch in diesem bewußten Verluste seines Beisichseins getreu bleibt, ‚auf daß es überwindeʻ, im Denken selbst die Auflösung seiner eigenen Widersprüche vollbringe.“¹⁶⁸ Die erste Bestimmung eines Phänomens ist der Ausschluss einer anderen Bestimmung, die ‚Negation der Negationʻ. Diese mündet in die Reflexion darüber, was der sprachlich bestimmte Gegenstand, z. B. ‚Kriegʻ, als eine Sache der allgemeinen Erfahrung sein kann, die sich durch Eigenschaften auszeichnet, durch die der Gegenstand sich von anderen unterscheidet. So kann ‚Kriegʻ als ein sprachlich bestimmter Gegenstand z. B. nicht zugleich die Abfolge und die Abwesenheit organisierter militärischer Kampfhandlungen sein. ‚Kriegʻ definiert sich gemeinhin durch die Abfolge organisierter militärischer Kampfhandlungen. Und mit dieser Eigenschaft kann ‚Kriegʻ nicht zugleich ‚Friedenʻ sein, da sich ‚Friedenʻ gemeinhin u. a. durch die Abwesenheit von Kampfhandlungen definiert. ‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ schließen sich rein begrifflich aus. Die völlig falsche Forschungsstrategie wäre es jedoch, ‚Kriegʻ als Untersuchungsgegenstand aus seinem raumzeitlich spezifischen Gegenstandsbereich zu isolieren, das Konzept Krieg als eigenständigen Gattungsbegriff zu verwenden und verfügbare Informationen über vermeintliches Kriegsgeschehen mit einem rein klassifikatorischen Erkenntnisinteresse nach typischen Merkmalen zu untersuchen. Sogenannte ‚Fallstudienʻ zu Krieg, egal ob sie im Sinn qualitativer Einzelfallbetrachtungen oder im Sinn quantitativer bzw. vergleichender Untersuchungen angestellt werden, mögen den Anschein vermitteln, als trügen sie zu einem immer detaillierteren und systematischeren Wissen um das Phänomen Krieg bei, aus dem sich in der Zukunft fundierte Aussagen zum jeweiligen Typ des Kriegsgeschehens, seinen Ursachen und der zu erwartenden Dynamik ableiten lassen könnten. Tatsächlich verstärken methodologische Irrwege dieser Art aber nur ein begriffliches Missverständnis über Krieg durch die Zuschreibung

 Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 44. (Hbg im Original)

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rein formaler Attribute. Der Punkt ist, dass Krieg als Untersuchungsgegenstand eben nicht isoliert und von außen betrachtet werden kann, wenn man wirklich ‚inʻ der entsprechenden Materie sein und Krieg als Teil des Ganzen der internationalen Beziehungen verstehen will. Jedes Einzelphänomen wird zu dem, was es ist, über seine Beziehung zum Ganzen¹⁶⁹. ‚Kriegʻ steht sowohl in einer dialektischen Beziehung zu ‚Friedenʻ, als auch zu den anderen Gegenständen, die in einem historisch spezifischen Wissen um internationale Beziehungen inhaltlich bestimmt und miteinander vermittelt sind. Das Wissen von einem historischen Gegenstand impliziert in einem ganz grundsätzlichen Sinn das Wissen um andere historische Gegenstände, die mit diesem Gegenstand ‚wesensmäßigʻ verknüpft sind. Genauer: das Wissen von einem Gegenstand wie ‚Kriegʻ geht immer einher mit einem kontextspezifischen vorgängigen Wissen von anderen Gegenständen im dazugehörigen Gegenstandsbereich, d. h. seinen Dimensionen (Akteure, Interaktionsmuster, Ressourcen usw.) und Konstitutionsbedingungen. Nur innerhalb eines Gegenstandsbereichs, dessen Konturen sich bereits vor dem geistigen Auge des erkennenden Subjekts – einer politisierten Gesellschaft ganz allgemein und einem Kollektiv wissenschaftlicher Fachkräfte im engeren Sinn – abgezeichnet haben, wird es erst möglich, einzelne Gegenstände zum Zweck der Forschung überhaupt als solche zu erkennen. Und eben dieses Wissen um den Gegenstandsbereich veranlasst die Skepsis, den Verstand über ein erstes begriffliches Verstehen der Gegenstände insofern hinauszutreiben, als sie dem Bewusstsein aufgibt, mit ersten definitorischen Bestimmungen künstlich isolierter Sachverhalte nicht zufrieden zu sein, sondern zu berücksichtigen, dass gerade auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit bestimmten Gegenständen immer nur eine Beschäftigung mit partiellen Aspekten eines größeren Ganzen ist¹⁷⁰. Und dieses gilt es aus Sicht des darin befindlichen historischen Subjekts zu verstehen. Wenn sich in der Hegelʼschen Philosophie der Anspruch verbirgt, die menschliche Zivilisation im frühen 19. Jahrhundert für die Angemessenheit des Begriffs der ‚Freiheitʻ zu sensibilisieren, dann könnte man am Anfang des 21. Jahrhunderts von der Angemessenheit des Begriffs des ‚Friedensʻ ausgehen und schlussfolgern, dass eine vernünftige Weltgesellschaft versuchen würde, sich entsprechend zu organisieren. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Problem des Krieges bedeutet die Fokussierung auf ‚das Ganzeʻ, dass sich vermeintliche Gegensätze im Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen wieder aufheben und sogar ineinander enthalten sind: ‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ sind formallogisch Gegensätze. Aber als erste konzeptuelle Bestimmungen realweltlicher Phänomene sind sie nicht mehr als künstliche Vergegen-

 Vgl. Adorno, Logik der Sozialwissenschaften, a.a.O., 550.  Vgl. dazu die Erläuterung von Fr. Nicolin & O. Pöggeler, Zur Einführung, in: Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., xx: „Er [, der Satz: das Ganze ist das Wahre,] besagt zunächst, daß die losgelöste einzelne Endlichkeit keine Wahrheit hat, sondern das Endliche nur wahr ist, sofern es in eine substantielle Ganzheit hineingestellt ist. Dieses Ganze aber darf nicht als die bloß unmittelbar behauptete, sondem muß als die gegliederte, entfaltete Einheit gefaßt werden.“ (Hbg. im Original)

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ständlichungen von Vorstellungen dieser Phänomene: wissenschaftliche Definitionen sind vorläufige Bestimmungen von Vorstellungen, die in einem allgemeinen Wissen einer historischen Gesellschaft verhaftet sind. Die Fokussierung eines exklusiven Kreises von Fachwissenschaftler/innen auf eine technische Definition von ‚Kriegʻ, die keine Berührung mehr mit dem allgemeinen Wissen einer historischen Gesellschaft hat, die zumal von einem tatsächlichen Krieg betroffen wäre, kann nicht zu wissenschaftlicher Erkenntnis im eigentlichen Sinn führen. Ein soziales Phänomen wie ‚Kriegʻ gründet immer in einer allgemeinen Vorstellung von ‚etwasʻ, das selbst Moment eines ‚Ganzenʻ ist, das in diesem Fall eben auch ‚Friedenʻ beinhaltet. Der mit Hilfe einer formalen Definition isolierte Gegenstand ‚Kriegʻ mag zwar für eine akademische Beschäftigung mit Krieg Anlass sein, eine Menge von Adjektiven (‚kleinʻ, ‚großʻ, ‚zwischenstaatlichʻ, ‚asymmetrischʻ usw.) auf diesen Gegenstand zu beziehen, um ihn immer spezifischer zu klassifizieren, aber die Klassifikation als solche ist für die Wissenschaft einer historischen Gesellschaft ‚unwahrʻ. Für die Wissenschaft wird die Beschäftigung mit dem Gegenstand ‚Kriegʻ dadurch relevant, dass sie dabei hilft, die historische Wahrheit des damit verbundenen Begriffs erkennen zu lassen; etwa dahingehend, dass ‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ wesenslogisch miteinander verknüpfte Bestandteile des Ganzen der internationalen Beziehungen sind, sei es als sich gegenseitig konstituierende Momente zur gleichen Zeit, oder als aufeinander folgende Etappen des Ganzen in einer historischen Entwicklung. Die Geschichte der internationalen Beziehungen ist sowohl geprägt durch ein Nebeneinander von ‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ als auch durch ein Nacheinander von ‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ. ‚Friedenʻ entwickelt sich denknotwendig mit und/oder aus ‚Kriegʻ. Die Triebkräfte, die zu dem einen Sachverhalt führen, sind tatsächlich immer schon im anderen enthalten. Diese Art des dialektischen Nachdenkens über die Welt kommt aufgrund des Erkenntnisinteresses am ‚Ganzenʻ niemals zu einem Ende. Die von der Skepsis angetriebene Suche nach der Wahrheit bezweifelt unablässig die vorfindlichen Bestimmungen der realweltlichen Phänomene. Und sie muss dies tun, weil die Phänomene in ihrer Eigenschaft als Gegenstände der Erkenntnis zwar erkennbar sind, aber in ihrer äußeren Existenz in einer Komplexität, d. h. „[…] in einem unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor[treten].“¹⁷¹ Das liegt daran, dass realweltliche Phänomene veränderlich sind, besonders solche im Bereich des ‚Sittlichenʻ bzw. Sozialen, dem Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften: Gewohnheiten, Institutionen und Lebensformen, die Menschen auf der Basis geistiger Anstrengungen und symbolischer Interaktionen über Zeit entwickelt haben. Zudem wird die wissenschaftliche Erkenntnis von Phänomenen der sozialen Welt von den historisch eingeübten Formen der Erziehung und Bildung geprägt, denen das historische Subjekt unterworfen gewesen ist; „d.i. daß Religion, Sittlichkeit, so sehr sie ein Glauben, unmittelbares Wissen sind,

 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., 19.

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schlechthin bedingt durch Vermittlung seien, welche Entwicklung, Erziehung, Bildung heißt.“¹⁷² Die im Zuge von Erziehung und Bildung erworbenen Charaktermerkmale und Sichtweisen prägen sowohl das Zusammenleben der Menschen als auch das wissenschaftliche Nachdenken über die Welt. Das geistig vermittelte Nachdenken über die Welt ist damit genauso wie die natürlichen und sozialen Phänomene der Welt als ein raumzeitlich eingebundenes Denken zu begreifen. Und dieses durch Erziehung und Bildung vermittelte Nachdenken über die Welt verändert sich in Abhängigkeit von Veränderungen in Erziehung und Bildung. Zumal unter dem Einfluss der allgemein üblichen Sprachverwendung sieht sich das durch Erziehung und Bildung vermittelte Nachdenken über die Welt immer wieder von Neuem veranlasst, Kategorisierungen und Unterscheidungen mit Blick auf realweltliche Phänomene in ihrer Eigenschaft als Gegenstände des diskursiven Verstandes vorzunehmen. Je nach Art der Bildung und einer sich daraus speisenden ‚Weltanschauungʻ, etwa hinsichtlich des Status der menschlichen Person, werden z. B. Praktiken der ‚Folterʻ durch staatliche Funktionäre entweder als gerechtfertigte Formen des Bestrafens, oder als zwar unschöne jedoch zweckdienliche ‚alternative Verhörmethodenʻ, oder als schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begriffen. Bei aller Kritik, die man dem Hegelʼschen Begriffsdenken entgegenbringen kann¹⁷³, zeigt sich seine Kraft zur Veranschaulichung: die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist heutzutage ‚vernünftigʻ und als solche wahr. Alle Sachverhalte, die sich als Folter bestimmen lassen, sind ohne jeglichen Zweifel ‚unvernünftigʻ und auch ‚unwahrʻ, obwohl entsprechende Praktiken von den Staatsapparaten westlicher Demokratien bis in die jüngste Zeit vollzogen worden sind und ‚existieren‘¹⁷⁴.

 Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 93. (Hbg. im Original) In diesem Zusammenhang gilt es zu berücksichtigen, dass Hegel mindestens zwischen einer Bildung differenziert, die man Persönlichkeitsbildung nennen könnte (388), und die sich durch die Entwicklung von Charakter, Intelligenz und Urteilskraft auszeichnet, und einer nur ‚formellenʻ Bildung (406), die sich auf die Aneignung abstrakter und vereinzelter bzw. spezialisierter Wissensinhalte konzentriert.  Für Hegel wäre die dialektische Art der Wissensgewinnung, obzwar betrieben von den Angehörigen des ‚denkenden Standesʻ, immer wieder begleitet von der gesamtgesellschaftlichen Einsicht in die Wahrheit eines historisch angemessenen Begriffs (z. B. ‚Freiheitʻ), demgemäß sich eine ‚mündigʻ gewordene Gesellschaft reorganisieren müsste. Der Einwand von Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 20, ist nicht ganz unberechtigt, nämlich dass ‚das Ganzeʻ immer „[…] antagonistisches System sei, nicht erst vermöge seiner Vermittlung zum erkennenden Subjekt, das darin sich wiederfindet.“ Noch schärfer wäre die Feststellung Adornos, ebda, 299, dass der von Hegel als Wahrheit hypostasierte Begriff der ‚Freiheitʻ sich schon kurz nach der Französischen Revolution verflüchtigte und nicht den geringsten Beitrag zu einer wie auch immer gearteten ‚Versöhnungʻ der gesellschaftlichen Widersprüche leisten konnte: „Kaum war die Hegeische Geschichtsphilosophie unabhängig davon, daß in ihr, bereits sich entfernend, der Stundenschlag einer Epoche nachhallte, in der die Verwirklichung der bürgerlichen Freiheit ein solcher Atem bewegte, daß sie über sich hinausschoß und die Perspektive einer Versöhnung des Ganzen eröffnete, in der dessen Gewalt zerginge.“  Vgl. Klaus Mladek, Folter und Scham: Anmerkungen zu Guantánamo und Abu Ghraib, in: Th. Weitin (Hg.), Wahrheit und Gewalt: Der Diskurs der Folter in Europa und den USA (Bielefeld: Transcript, 2015), 243 – 265, 244: „[D]ie zentralen politischen Handlungsparadigmen der USA, die schon lange vor der Re-

Kritisches Denken beschäftigt sich mit der Wirklichkeit als Begriff

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Kritisches Denken beschäftigt sich mit der Wirklichkeit als Begriff Mit Hegel wird der Begriff zur Verkörperung einer sich verändernden Wahrheit des Ganzen, womit die Verstandesbegriffe unter Verweis auf ihre Vermittlung durch den historischen Kontext der Reflexion unterworfen werden. Im kritischen Nachdenken über sein eigenes gegenständliches Denken werden gängige Kategorisierungen und Unterscheidungen, die das historisch spezifische Denken kraft seiner Vernunft an der Wahrheit des Begriffs beurteilt, von einem historischen Kollektivsubjekt ‚ideologiekritischʻ daraufhin geprüft, ob sie im Licht von konkreten Erscheinungen angemessen sind. Bezogen auf das Nachdenken über ‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ könnte man den Aspekt analog wie folgt beschreiben: im Nachdenken über ihr eigenes Denken hinterfragt die vernünftige Weltgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem ideologiekritischen Sinn z. B., ob die gängige Vorstellung von ‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ im Licht der fortschreitenden Entwicklung von atomaren Massenvernichtungswaffen für die Menschheit noch angemessen ist. Eine selbständige und unabhängige Auseinandersetzung mit der ‚Sacheʻ lässt alle vernünftigen Menschen schnell erkennen, dass die begriffliche Kategorie ‚Kriegʻ als Element der internationalen Beziehungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts völlig unvernünftig und damit auch unwirklich geworden ist, dass aber auch ‚Friedenʻ als Bestimmung der politischen Beziehungen zwischen Staaten seit Mitte des 20. Jahrhunderts alleine schon angesichts der enormen Anstrengungen und Ausgaben für die Entwicklung immer grösser werdender Arsenale einsatzfähiger atomarer Massenvernichtungswaffen ein Oxymoron darstellt, solange nicht an einer weitreichenden Abrüstung dieser Waffen gearbeitet wird¹⁷⁵. Wenn man davon ausgeht, dass „[d]as Nachdenken über das Denken […] den Ursachen für die Geltung unserer begrifflichen Unterscheidungen und kategorialen Konzeptualisierungen nach[spürt]“¹⁷⁶, dann könnte man schlussfolgern, dass sich der von Hegel gemeinte ‚praktischeʻ oder ‚interneʻ Skeptizismus in letzter Konsequenz auf mögliche Gründe für die Bezweiflung der herrschenden Wahrheit richtet¹⁷⁷. Anstatt die

gierung Bush galten, werden weiterhin für die Regierung Obama gelten. […] Auch für ihn leben wir weiterhin im Zeitalter des American Exceptionalism, und auch für ihn muss sich alles dem ’I will do whatever is required to keep the American People safe’ unterordnen. Mit diesem politischen Axiom (’Safety and Security’), das der neue amerikanische Präsident mehrmals in seinen Antworten variiert hat, ist auch Folter niemals vollständig auszuschließen; man könnte, ändert sich das Sicherheitskalkül plötzlich (wie unter Bush), jederzeit zu dieser Praxis zurückkehren. Zu keinem Zeitpunkt hat Obama die Ungerechtigkeit oder das universale Unrecht der Folter angesprochen, von denen die Genfer Konventionen ausgehen.“  Vgl. Erich Fromm, Gründe für eine einseitige Abrüstung, in: R. Funk (Hg), Erich Fromm Gesamtausgabe, 12 Bde. (Stuttgart: DVA, 1999), 213 – 224.  Christoph Demmerling, Sprache und Verdinglichung: Wittgenstein, Adorno und das Projekt einer kritischen Theorie (Frankfurt: Suhrkamp, 1994), 15.  Vgl. Markus Gabriel, Einleitung, in: derselbe (Hg.), Skeptizismus und Metaphysik a.a.O., 1– 19, 15 : „Hegel geht dabei insbesondere auf die Pyrrhonische Skepsis zurück und stellt sich den epistemologischen Herausforderungen der fünf Tropen und damit dem in seinen Augen radikalsten skeptischen

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fraglichen Wahrheitsansprüche hinter den herkömmlichen Vorstellungen dabei nur vorgeblich bzw. scholastisch zu negieren, um sie am Ende gegenüber einem lediglich rhetorisch formulierten Zweifel zu rehabilitieren, wäre mit Hegel zu versuchen, alle bestehenden Wahrheitsansprüche in einer selbständigen und ergebnisoffenen Herangehensweise um der Sache willen, also ‚wirklichʻ skeptisch zu überprüfen. Dabei wird die Kantʼsche Forderung nach einer kompromisslosen Verpflichtung des forschenden Subjekts auf die wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis ohne jegliche Ablenkung durch wissenschaftsfremde Interessen wieder relevant. Im Unterschied zum lediglich rhetorisch-scholastischen Zweifel einerseits und einem kategorisch-nihilistischen Zweifel andererseits wird der hegelianische Zweifel an der Wahrheit über den ‚Weg der Verzweiflungʻ zur Methode des ‚sich vollbringenden Skeptizismusʻ: „Er kennzeichnet das, was in bezug auf jede Gestalt des erscheinenden Wissens geschieht, nämlich die bewußte Einsicht in seine Unwahrheit.“¹⁷⁸

Kritisches Denken ist skeptisch gegenüber dem Begriff Ein anderer Begriff für die Methode des sich vollbringenden Skeptizismus ist derjenige der ‚bestimmten Negationʻ. Nur diejenige Wissenschaft, die sich der ‚Verzweiflungʻ des Skeptizismus stellt und auf dem Weg der bestimmten Negation umgehend an die ernsthafte Prüfung aller Wahrheitsansprüche geht, vermeidet eine unkritische Verwendung aus der Zeit gefallener Ansichten, sei es über ‚Kriegʻ oder sei es über ‚Friedenʻ, und gleichzeitig auch die Indoktrination durch die Vorurteile etablierter Autoritäten. Im Unterschied zu Kant, der zumindest mit Verweis auf den erkenntnistheoretischen Status sinnlich erfahrbarer Phänomene eine Art Kriterium angegeben hatte, um in einer nachprüfbaren Art und Weise von ‚Wahrheitʻ sprechen zu können¹⁷⁹, wird diese ‚Kritikʻ eingeübter Sichtweisen jedoch mit Hegel schwerer, weil ‚Wahrheitʻ nun komplett im Bereich der kritischen Vernunft liegt, die unablässig bzw. immer wieder von neuem

Problem, nämlich dem Problem der Rechtfertigung im Zusammenhang mit dem Isosthenie-Prinzip.“ Vgl. in einem ganz ähnlichen Sinn auch Christian Iber, Hegels Konzeption des Begriffs, in: Anton Fr. Koch & Fr. Schick (Hg.), Wissenschaft der Logik (Berlin: Akademie, 2002), 181– 201, 184.  Ulrich Claesges, Das Doppelgesicht des Skeptizismus in Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Fulda & Horstmann (Hg.), Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels, a.a.O., 120.  Vgl. dazu Dina Emundts, Kant über Wahrheit, in: Stefano Bacin et. al. (Hg.), Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht: Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses (Berlin: de Gruyter, 2013), 563 – 574, mit einer Differenzierung zwischen der Wahrheit von Erfahrungssätzen und der Wahrheit von Vernunftsätzen auf 570: „Wenn man dem folgt, was Kant über die Definition der Wahrheit und die Kriterien für Wahrheit sagt, so scheint klar, dass Kant Wahrheit auf den Bereich möglicher Erfahrung einschränkt. Kant bezieht Wahrheit exklusiv auf Urteile über Gegenstände möglicher Erfahrung.“ Und auf 574: „Ebenso wäre dieser Satz wahr, wenn es etwas anstelle dessen, was wir als Substanz vorstellen, geben würde, auf das wir mit dem Begriff ,Seeleʻ referieren und das unter den Begriff ,Unsterblichkeitʻ fällt. […] Für Kant ist Wahrheit nicht auf den Bereich möglicher Erfahrung beschränkt, aber was es heißt, dass etwas wahr ist, wissen wir nur durch die Analogie zu Fällen möglicher Gegenstände der Erfahrung.“

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versucht, nicht-Begriffliches begrifflich zu fassen. „Diese Kritik geht jedoch nicht auf den Inhalt und das bestimmte Verhältnis dieser Denkbestimmungen gegeneinander selbst ein, sondern betrachtet sie nach dem Gegensatz von Subjektivität und Objektivität überhaupt.“¹⁸⁰ Der Hinweis darauf, dass das wissenschaftliche Denken bei der Feststellung von ‚Wahrheitʻ unterschiedliche ‚Gestaltenʻ annehmen muss¹⁸¹, verkompliziert die Beurteilung der Wahrheit – zumindest auf den ersten Blick – überdies, obgleich jede Negation ein Kriterium braucht, um nicht willkürlich zu werden. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass eine Wissenschaft, die in jeder Generation von freien und vernünftigen Menschen betrieben werden würde, keine besonderen Schwierigkeiten damit hätte, eine bestimmte Negation und die anschließende Aufhebung der gegenteiligen Bestimmungen vorzunehmen. „In diesem Dialektischen, wie es hier angenommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit, oder des Positiven im Negativen, besteht das Speculative. Es ist die wichtigste, aber für die noch ungeübte, unfreye Denkkraft schwerste Seite.“¹⁸² Die Tragweite dieses Satzes für die Stoßrichtung der Kritik ist deswegen nicht leicht zu erkennen, weil nicht explizit gesagt wird, wodurch sich eine ‚geübte und freie Denkkraftʻ angesichts des Spekulativen auszeichnet. Freilich kann es nur darum gehen, angesichts der sich darbietenden Probleme der Welt ‚freiʻ und ‚unabhängigʻ über das Bestehende als den formativen Kontext der jeweiligen Probleme hinauszudenken: „Die Macht des Bestehenden errichtet die Fassaden, auf welche das Bewußtsein aufprallt. Sie muß es zu durchschlagen trachten [sic!]. Das allein entrisse das Postulat von Tiefe der Ideologie. In solchem Widerstand überlebt das spekulative Moment: was sich sein Gesetz nicht vorschreiben läßt von den gegebenen Tatsachen, transzendiert sie noch in der engsten Fühlung mit den Gegenständen und in der Absage an sakrosankte Transzendenz.“¹⁸³ Und Horkheimer ergänzt dazu: „Was dem Verstand unvorstellbar ist, darf Vernunft für möglich halten.“¹⁸⁴ Dabei spielt es keine große Rolle, ob die Hegelʼsche Generation angesichts der Französischen Revolution und einer weit geteilten Sehnsucht nach der Befreiung von obrigkeitlicher Adelswillkür noch etwas mehr Hoffnung haben durfte, die Überwindung des Bestehenden als reale Möglichkeit zu erkennen und über angemes-

 Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 67.  Diese drei miteinander verschränkten ‚Gestalten des Geistesʻ umfassen, was man ‚übersetztʻ vielleicht die sinnliche Wahrnehmung als Verstandesleistung; die Kraft des Denkens, das über die isolierte Bestimmtheit hinaus treibt; und eine Beurteilung des Vernünftigen als Einheit der Bestimmungen nennen könnte. Vgl. dazu allgemein auch Otto Pöggeler, Selbstbewußtsein als Leitfaden der Phänomenologie des Geistes, in: D. Köhler & derselbe (Hg.), G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, 2. bearb. Auflage (Berlin: Akademie, 2006), 131– 143, besonders 138 – 140.  Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Pirmin Stekeler-Weithofer, Hegels Wissenschaft der Logik: ein dialogischer Kommentar, Bd 1: Die objektive Logik. Die Lehre vom Sein. Qualitative Kontraste, Mengen und Maße (Hamburg: Meiner, 2020), 196. (Hbg. im Original)  Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 27. (Hbg. hinzugefügt)  Max Horkheimer, Zum Begriff der Freiheit, in: derselbe, G. S. Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 7: Vorträge und Aufzeichnungen 1949 – 1973 (Frankfurt: Fischer, 1985), 145 – 153, 146.

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sene Szenarien zu spekulieren¹⁸⁵. Auch wenn die aktuellen Verhältnisse im Kontext einer überwiegend apathischen und/oder affirmativen Haltung gegenüber den realweltlichen Verhältnissen unveränderlich scheinen, grundlegende Reformen (internationalisierter) Staatlichkeit schon qua Vorstellung unrealistisch sind und die Konturen des Bestehenden sowie existierender Besitzstände als ‚alternativlosʻ gegen Kritik immunisiert werden, gibt es aus der Perspektive einer kritischen Wissenschaft immer vernünftige Alternativen. In letzter Konsequenz zeigt sich die ‚geübte und freie Denkkraftʻ darin, dass sie die sich widersprechenden Deutungen der realweltlichen Verhältnisse im Wissen um das Ganze auf einer höheren Stufe miteinander versöhnt bzw. ‚aufhebtʻ und dabei eine neue Lösung für die damit verbundenen Probleme beschreibt. Das ‚Spekulativeʻ richtet sich auf den Begriff des ‚richtigenʻ Ganzen¹⁸⁶ und wird damit zum Gegenstand einer ErLösung, die sich gerade nicht in einem engen Sinn durch ihre Realisierbarkeit auszeichnet. Und zu diesem Zweck der Er-Lösung muss die kritische Denkkraft sowohl umfassend über den Gegenstandsbereich informiert und erfahren als auch vorausschauend sein; darum muss die Dialektik kritisch im Sinn der Theorie bzw. Philosophie bleiben und darf selbst keine praktischen Interessen und parteilichen bzw. weltanschaulichen Verpflichtungen haben. Je geübter das kritische Subjekt im synoptischen Nachdenken und der vorsorglichen Beschäftigung mit dem Ganzen, desto größer die Erfolgschancen des dialektischen Verfahrens, dessen ultimatives Ziel darin besteht, dass der über das Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit gebildete neue Begriff vom jeweiligen Gegenstand der Realität mit ihm übereinstimmt.Wenn Freiheit und Vernunft zum Anforderungsprofil des erkennenden Subjekts gehören, dann wäre der für das Spekulative geeignete Agent in einer ‚geistigen Aristokratieʻ¹⁸⁷ zu sehen, die sich uneitel und solidarisch der Menschheit als solcher verpflichtet fühlt und durch Tugenden

 Vgl. dazu Paul Nolte, Reformen und politische Modernisierung: Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Vergleich, Archiv für Kulturgeschichte 70:1 (1988), 33 – 100, der recht anschaulich die Dimensionen beschreibt, die in der – reformorientierten – Verfassungspolitik Preußens zwischen 1807 und 1823 eine Rolle spielten.  Vgl. Adorno, Logik der Sozialwissenschaften, a.a.O., 561.  Der hier in Rede stehende Begriff von ‚Aristokratieʻ erschließt sich recht gut durch die Beschreibung von E. M. Forster, Two Cheers for Democracy (London: E. Arnold, 1951), 70 – 71: „I believe in aristocracy […]. Not an aristocracy of power, based upon rank and influence, but an aristocracy of the sensitive, the considerate and the plucky. Its members are to be found in all nations and classes, and all through the ages, and there is a secret understanding between them when they meet. They represent the true human tradition, the one permanent victory of our queer race over cruelty and chaos. Thousands of them perish in obscurity, a few are great names. They are sensitive for others as well as for themselves, they are considerate without being fussy, their pluck is not swankiness but the power to endure, and they can take a joke. […] The aristocrats, the elect, the chosen, the Best People – all the words that describe them are false, and all attempts to organize them fail. Again and again Authority, seeing their value, has tried to net them and to utilize them as the Egyptian Priesthood or the Christian Church or the Chinese Civil Service or the Group Movement, or some other worthy stunt. But they slip through the net and are gone; when the door is shut, they are no longer in the room; their temple, as one of them remarked, is the holiness of the Heartʼs affections, and their kingdom, though they never possess it, is the wide-open world.“

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auszeichnet, wie sie sich u. a. im ‚Könnensbewusstseinʻ, ‚wahrer innerer Lebendigkeitʻ und einer ‚Freiheit des Geistesʻ manifestierten¹⁸⁸. Die kritische Kompetenz einer geistigen Aristokratie wäre verwurzelt in einem humanistischen Geist¹⁸⁹.

Kritisches Denken unterzieht den Begriff dem Verfahren der Dialektik Dass in der Aufhebung der Bestimmungen im Anschluss an ihre wiederholte Negation letztlich ‚Wahrheitʻ liegen soll, wirkt paradox. Aber dass es um Wahrheit geht, ist unmissverständlich: „Wahrheit heißt Einheit des Begriffs und der Realität.“¹⁹⁰ Die am Ende kaum überraschende, aber eben radikale Lösung liegt darin, dass Wahrheit nicht auf eine ‚objektiveʻ oder ‚externalistische Korrespondenzʻ zwischen Begriff und empirischem Sachverhalt¹⁹¹ und auch nicht auf eine ‚internalistischeʻ Wahrheitskonzeption hinausläuft¹⁹². „Die Wirklichkeit ist die unmittelbar gewordene Einheit des Wesens und der Existenz, oder des Innern und des Äußern. Die Äußerung des Wirklichen ist das Wirkliche selbst, so daß es in ihr ebenso Wesentliches bleibt und nur insofern Wesentliches ist, als es in unmittelbarer äußerlicher Existenz ist.“¹⁹³ Die Realität steht von vornherein ‚nurʻ als eine begriffliche Bestimmung von Vorstellungen über Phänomene

 Vgl. dazu Emil Wolff, Hegel und die griechische Welt, Antike und Abendland 1:1 (1944), 163 – 181, 167– 168.  Das bezieht sich nicht zuletzt auf Hegels eigene Sympathie für den griechischen Humanismus, auch wenn sie nicht so offensichtlich ist, wie etwa bei Rousseau und Ferguson. Vgl. grundsätzlich zum Stellenwert der humanistischen Bildung für Hegels Denken, Otto Pöggeler, Review: Denkt Hegel bürgerlich und humanistisch?, Hegel-Studien 19 (1984), 346 – 358, 357.  Hegel, Philosophie des subjektiven Geistes, a.a.O., 195. Auf 202 wird der Prozess dahin wie folgt beschrieben: „Die erste Weise des Begriffs ist die Unmittelbarkeit, so ist noch nicht die Realität gesetzt, aber der Begriff ist schlechterdings nicht ohne Realität. Daher ist die erste Reflexion daß der Begriff das Unmittelbare ist, so haben wir den Begriff in der Form der Unmittelbarkeit und so ist er das sich Äusserlichste, in einer unangemessenen Form, erst am Ende ist er in seiner wahren Form, hier ist er nur für uns, das Letzte ist daß der Begriff sich selbst hat. Wir erkennen den Begriff, dieß Erkennen muß zuletzt uns objektiv werden. Der Geist ist also zuerst in der Form der Natürlichkeit.“  Vgl. dazu auch Tilo Wesche, Hegel und die Wahrheitstheorien der Gegenwart: Ein Streit unter Nachbarn, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57:3 (2009), 355 – 375, 358: „ Die ‚realistischeʻ, ‚objektiveʻ oder‚externalistischeʻ Seite der Entsprechung des Gedankens mit der Welt (adaequatio intellectus ad rem) steht für einen Wirklichkeitsbezug ein. […] Wahrheit verweist hier auf die Welthaltigkeit einer Allaussage. Als eine wahre Aussage macht sie Welt offenbar, indem sie eine sprachliche oder symbolische Form demjenigen gibt, das vage, unbestimmt, verborgen, unberücksichtigt war.“ (Hbg. im Original)  Vgl. Christian Suhm,Wissenschaftlicher Realismus. Eine Studie zur Realismus-Antirealismus-Debatte in der neueren Wissenschaftstheorie (Frankfurt: Ontos, 2005), 166: „Für den internen Realisten ist Wahrheit nicht unabhängig von rationalen Rechtfertigungen und Begründungen. Allerdings setzt er Wahrheit nicht mit gerechtfertigter Behauptbarkeit oder rationaler Akzeptierbarkeit gleich. Entscheidend ist für die internalistische Auffassung der Wahrheit, dass sie an die Vorstellung einer idealen Grenze der Erfahrung und des Wissens, nämlich an ideale epistemische Bedingungen geknüpft ist.“ (Hbg. im Original)  Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 140.

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und gerade nicht als eine gegebene und wie auch immer sinnlich erfahr- bzw. messbare bzw. konsensfähige Objektwelt zur Verfügung. Und in diesem Zusammenhang ist auch der dazugehörige Begriff der Wahrheit entsprechend zu differenzieren. „Mit der scheinbar eindeutigen Auskunft, daß das Ziel der Philosophie die Wahrheit sei, ist weder die Bedeutung der Wahrheit noch der Gegenstand der Wahrheit noch die Auffassung derselben in irgendeiner Weise erläutert. Selbst daß es Wahrheit gebe, ist mit dieser Zielsetzung nicht garantiert.“¹⁹⁴ Die Wahrheit wissenschaftlicher Erkenntnis ist begrifflich vermittelt, immer nur vorläufig und liegt darin, dass über die Negation der einzelnen Bestimmungen (‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ) zunächst die eigentliche Bedeutung der jeweiligen Bestimmungen und in der weiteren Beschäftigung damit – zumindest vorläufig – ‚das Ganzeʻ in seiner eigentlichen Bedeutung als vernünftige Wirklichkeit, d. h. als der historisch angemessene Begriff und absolute Wahrheit erkannt wird. Der Gegenstand der internationalen Beziehungen, der als Wechselspiel zwischen ‚Kriegʻ und ‚Friedenʻ erkannt werden kann, korrespondiert mit dem zeitgenössischen Begriff der internationalen Beziehungen, der nichts weniger ist als die kontingente Wahrheit der objektiven Welt. „Der Begriff ist hiermit die Wahrheit des Seins und des Wesens, indem das Scheinen der Reflexion in sich selber zugleich selbständige Unmittelbarkeit und dieses Sein verschiedener Wirklichkeit unmittelbar nur ein Scheinen in sich selbst ist.“¹⁹⁵ Zur Veranschaulichung dieses Aspekts könnte man von der gängigen Vorstellung ausgehen, dass in der (westlichen) Welt der demokratischen Staaten seit 1945 keine militärischen Auseinandersetzungen stattgefunden haben, zumindest suggerieren die verfügbaren Informationen, dass es zwar unanlässig Wirtschaftskriege, aber keine militärischen Kampfhandlungen größeren Umfangs gegeben hat. Eine erste Bestimmung suggeriert, dass in der westlichen Welt seit 1945 in diesem Sinn ‚Friedenʻ geherrscht hat. ‚Kriegʻ lässt sich als eine gegenteilige Bestimmung der Verhältnisse in der westlichen Welt negieren: Negation der Negation. Die Informiertheit über eine ganze Reihe von Kriegen an der Peripherie der westlichen Welt seit 1945 setzt die Skepsis in Gang, beugt einer unreflektierten Affirmation der ersten Bestimmung vor und lässt die Vernunft darüber gewahr werden, dass die Regierungen der westlichen Welt, vor allem diejenige der USA, in der Vergangenheit oft im Verborgenen im Sinne von covert actions daran gearbeitet haben, innerstaatliche Unruhen und sogar Bürgerkriege in Staaten auszulösen¹⁹⁶. Gleichzeitig haben die USA und andere westliche Regierungen seit vielen

 Luc de Vos, Absolute Wahrheit? Zu Hegels spekulativem Wahrheitsverständnis, in: Fulda & Horstmann (Hg.), Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels, a.a.O., 179 – 205, 179.  Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., 149 (Hgb. im Original). Vgl. dazu auch Gabriel, What Kind of an Idealist Is Hegel?, a.a.O., 199: „What Hegel is looking for is precisely a topic-neutral, universal concept of facts or truths that allows us to develop a ‚system of totalityʻ, where this would consist in an overall coherent conception of the broadest accessible way in which things hang together.“ (Hbg. im Original)  Vgl. Eric Rosenbach & Aki J. Peritz, Confrontation or Collaboration? Congress and the Intelligence Community, Belfer Center for Science and International Affairs (Harvard Kennedy School, 2009).

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Jahren Milliardensummen an universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen für militärisch relevante Forschung und Entwicklung ausgegeben¹⁹⁷. Mehr noch, Rüstungsgüter wurden von westlichen Regierungen in erheblichem Ausmaß mit Exportgenehmigungen in gewöhnliche Handelswaren transformiert und von Unternehmen in Umgehung etwaiger rechtlicher Beschränkungen sogar in Krisenregionen auf dem afrikanischen Kontinent, dem Nahen Osten und der arabischen Halbinsel verbracht¹⁹⁸. Spezialisierung, Wachstum und zunehmender Wettbewerb zwischen profitorientierten Rüstungsproduzenten haben den rüstungsindustriellen Sektor nicht nur in den USA und Großbritannien sondern auch in anderen Staaten zu einem großen und einflussreichen Teilbereich der jeweiligen Volkswirtschaft anwachsen lassen, der sich überdies mit wichtigen Teilen aus der Finanzindustrie und der zivilen Produktion (Maschinen und Motoren; Elektronik und Robotik; Antriebstechnik; Luft- und Raumfahrt usw.) integriert hat¹⁹⁹. Zwar lässt sich immer noch behaupten, dass in der westlichen Welt ‚Friedenʻ im Sinn einer Abwesenheit militärischer Kampfhandlungen herrscht, allerdings sind diverse Kräfte aus Politik, Verwaltung, Ökonomie, Wissenschaft und Gesellschaft/en der westlichen Welt über die organisierte Herstellung und den massenhaften Vertrieb von Rüstungsgütern seit langer Zeit tief in militärische Kampfhandlungen in anderen Regionen der Welt verstrickt, sodass sogar davon ausgegangen werden könnte, die in der westlichen Welt ansässige Rüstungsindustrie wäre nicht selten ein ganz entscheidender Katalysator für die Eskalation militärischer Kampfhandlungen in anderen Regionen der Welt gewesen. Die kritische Reflexion über das Konzept des ‚Friedensʻ hat zur Einsicht in seine Unwahrheit geführt: die Methode der bestimmten Negation. Der vorläufige Schluss aus einer sachorientierten und unabhängigen Beschäftigung mit diesen Entwicklungen suggeriert einerseits, dass aufgrund der Allgegenwart des Militärischen in der westlichen Welt sowie der traditionellen Verstrickung von Politik und Ökonomie in militärische Kampfhandlungen in anderen Teilen der Welt die erste Bestimmung der realweltlichen Situation als ‚Friedenʻ überhaupt nicht haltbar ist. Die

 Vgl. für die Ausgaben der deutschen Bundesregierung, Deutschlandfunk, Umstrittene Rüstungsforschung, 13.09. 2019, https://www.deutschlandfunk.de/hochschulen-umstrittene-ruestungsforschung.680.de. html?dram:article_id=458765 (zuletzt besucht am 15.12.22).  Vgl. SIPRI Arms Transfers Database, Mar. 2021, Global Share of Major Arms Exports by the 10 Largest Exporters, https://www.sipri.org/sites/default/files/styles/body_embedded/public/2021-03/at_fig_2_export er_shares_sm-01.jpg?itok=l4WrZ2YV (zuletzt besucht am 01.12.22); und vgl. SIPRI Arms Transfers Database, Mar. 2021, Global Share of Major Arms Imports by the 10 Largest Importers, 2016 – 20, https://www. sipri.org/sites/default/files/styles/body_embedded/public/2021-03/at_fig_4_importer_shares_sm-01.jpg? itok=qP4KTgw2 (zuletzt besucht am 01.12.22).  Vgl. Nils Wischmeyer, Banken investieren Milliarden in Atomwaffen-Produzenten, SZ vom 07.03. 2018, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/atomwaffen-banken-investieren-milliarden-in-atomwaffen-pro duzenten-1.3894464 (zuletzt besucht am 01.12.22); vgl. auch SIPRI Arms Industry Database, The SIPRI top 25 arms-producing and military services companies in the world, 2015, https://sipri.org/sites/default/files/ 2015-19%20top%2025%20Arms%20producing%20companies%20data%20-%20to%20upload%20on% 20website%20-%20FINAL_edit.xlsx (zuletzt besucht am 01.12.22).

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skeptische Prüfung des Zusammenhangs zwischen Begriff und Gegenstand hat erkennen lassen, dass ganz offensichtlich ein Widerspruch zwischen den verfügbaren Informationen über die ‚Faktenʻ und dem Begriff einer vernünftigen Wirklichkeit des Friedens auf der Welt herrscht. Eine erste – negative – begriffliche Wahrheit besteht demzufolge darin, dass ‚Friedenʻ nicht lediglich die faktische Abwesenheit von militärischen Kampfhandlungen bedeuten kann, sondern auch mit Blick auf die global existierenden Möglichkeitsbedingungen für den Ausbruch und die Eskalation militärischer Kampfhandlungen zu bestimmen ist. Eine positive Formulierung des Begriffs ‚Friedenʻ muss daher (auch) beinhalten, dass relevante Kräfte daran arbeiten, Forschung und Entwicklung sowie Produktion von militärischer hardware zu reduzieren, ihren Export strengstens zu kontrollieren und ihren Endverbleib jederzeit zu dokumentieren: der Schritt zur Aufhebung.

Kritisches Denken beurteilt die Wirklichkeit anhand der Vernunft Eine mögliche Lesart erkennt im ‚Berliner Hegelʻ das Interesse an der Affirmation ungerechter Verhältnisse²⁰⁰. Der ‚bürgerlicheʻ Hegel wird zum Archetyp des disziplinierten bzw. organischen Intellektuellen, der eine kritische Beurteilung der Verhältnisse als unangebrachte ‚Belehrungʻ der Welt empfindet, und der sich lieber mit den formalen Institutionen einer modernen Wettbewerbsgesellschaft beschäftigt²⁰¹. Diese Lesart wirkt jedoch verkürzt, denn solcherlei Quietismus gegenüber den Verhältnissen rechtfertigte sich gerade für Hegel nicht in einem grundsätzlichen Sinn²⁰². Die akademische Akklamation der sozialen Verhältnisse wäre nur in einer Zeit des gesamtgesellschaftlichen Dialogs zu rechtfertigen, in der sich die öffentliche Meinung in einer breiten und offen geführten Diskussion über vernünftige Reformen bildet. Wissenschaftliche Passivität wäre aber dann nicht mehr vertretbar, wenn gesellschaftliche Rufe nach ver Vgl. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 341; vgl. schon etwas früher dazu Dieter Hertz-Eichenrode, ‚Massenpsychologieʻ bei den Junghegelianern, International Review of Social History 7:2 (1962), 231– 259, 236: „Es ist Hegel nicht gelungen, die Masse der deklassierten Menschen, deren Existenz ihm offenkundig war, in sein Schema der bürgerlichen Gesellschaft einzugliedern; er hat die soziale Frage nicht zu lösen gewußt und dadurch die von ihm als System der Bedürfnisse beschriebene bürgerliche Gesellschaft zu einem großen Teil in ein System der unbefriedigten Bedürfnisse umschlagen lassen.“  Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., 19 – 20. Zu einem Teil liegt das auch an der Kritik von Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Zweite Wiedergabe), a.a.O., 405: „Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen. Er erfaßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen d[es] Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden d[es] Menschen innerhalb der Entäusserung oder als entäusserter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt ist die abstrakt geistige.“ (Hbg. im Original)  Vgl.Wilhelm R. Beyer, Der Begriff der Praxis bei Hegel, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6:5 (1958), 752 und insbesondere Fn. 4, der auf einen ‚agitatorischenʻ Charakterzug Hegels hinweist, den er bis zu seinem Lebensende beibehielt – und den er offensichtlich ab 1819 vor den ‚Regierungsbevollmächtigtenʻ, den Spitzeln des preußischen Staates im Universitätsbetrieb, zu verbergen hatte. Vgl. dazu auch Kraus, Wissenschaft im 19. Jahrhundert, a.a.O., 25.

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nünftigen Reformen einfach ignoriert oder mit Verweis auf bestehende Sachzwänge als unrealistisch bagatellisiert werden würden. In jedem Fall setzte die akademische Attitüde einer der Neutralität verpflichteten Desinteressiertheit der Wissenschaft gegenüber den sozialen Verhältnissen²⁰³ funktionierende Institutionen im Bereich einer mit sich selbst versöhnbaren Gesellschaft voraus. Einen Automatismus dahingehend hatte schon Kant für unrealistisch befunden. Und noch vor Marx hatte Hegel die unvernünftige Beziehung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft mit Blick auf ihre konkrete historische Form explizit kritisiert²⁰⁴. Eine Sozialwissenschaft, die sich selbst als Teil der Gesamtgesellschaft versteht und ihre Mitverantwortung für den Zustand der sozialen Verhältnisse akzeptiert, kann sich der Kritik an den bestehenden Verhältnissen nicht enthalten, wenn am Status Quo aus willkürlichen bzw. unvernünftigen Gründen festgehalten wird. Als Kontext des ‚denkenden Standesʻ fällt der modernen Wissenschaft vielmehr die Aufgabe zu, über die kritische Reflexion der herrschenden Verhältnisse mutmaßliche Gründe für bestehende Probleme zu untersuchen und unter Umständen auch gangbare Lösungen zu skizzieren, um der Gesamtgesellschaft Wege aufzuzeigen, sich und ihre Beziehungsgefüge durch Reformen der soziopolitischen und –ökonomischen Institutionen ‚richtigʻ zu organisieren. Umso vordringlicher wird diese Aufgabe, wenn als solche identifizierbare Partikularinteressen daran arbeiten, die öffentliche Meinung zu manipulieren, um soziale Verwerfungen zu kaschieren, die sich andauernd reproduzieren – was historisch gesehen der Hauptgrund dafür ist, dass sich eine aufgeklärte Vernunft in der modernen Gesellschaft noch nie als einflussreiche gesellschaftliche Kraft etablieren konnte. „Die Objektivität des geschichtlichen Lebens ist die von Naturgeschichte. Marx hat das gegen Hegel erkannt, und zwar streng im Zusammenhang mit dem über die Köpfe der Subjekte sich realisierenden Allgemeinen. […] Ideologie überlagert nicht das gesellschaftliche Sein als ablösbare Schicht, sondern wohnt ihr inne.“²⁰⁵

 Vgl. dazu das Profil des deutschen ‚Normalprofessorsʻ in Preußen um die Wende zum 20. Jahrhundert, das Bernhard vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882– 1907: das ‚System Althoffʻ, in: P. Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs (Stuttgart: Klett-Cotta, 1980), 9 – 118, skizziert hat, und der das ‚System Althoffʻ auf 16 als eine notwendige Medizin rehabilitierte „[…] gegen eine politisch und sozial konservative, [staatlichen Obrigkeiten gegenüber servile und] sich mit dem Bismarckschen Verfassungskompromiß bescheidende Professorenschaft […].“  Vgl. zur unrealistischen Idee einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Leipzig: Meiner, 1917), 10 – 12, der auf 12 ff. überdies darauf hinweist, dass die Errichtung einer bürgerlichen Verfassung in direktem Zusammenhang mit den ‚äußeren Staatenverhältnissenʻ bzw. den internationalen Beziehungen steht; vgl. zu geschichtlicher Realität gesellschaftlicher Konflikte Hegel, Grundlinien einer Philosophie des Rechts, a.a.O., 228 – 232, insbesondere die Kritik an der ökonomischen Dialektik zwischen Reichtum und Armut. Vgl. mit Verweis auf die gesellschaftliche Dialektik im 20. Jahrhundert, Theodor W. Adorno, Gesellschaft, in: derselbe, Soziologische Schriften, a.a.O., 9 – 19, 14.  Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 345.

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Kritisches Denken entlarvt unvernünftige Denkmuster als Ideologie Eine Sozialwissenschaft, die sich der Gesamtgesellschaft verpflichtet sieht, setzt sich ideologiekritisch mit etablierten Denkmustern auseinander, wenn diese dazu geeignet sind, unvernünftige Praktiken zu normalisieren. In den ‚refeudalisiertenʻ Schein-Öffentlichkeiten²⁰⁶ westlicher Gesellschaft/en besteht aufgrund einer allgegenwärtigen Fetischisierung des wirtschaftlich-technischen Fortschritts unentwegt Anlass, die Rhetorik zivilisatorischer Errungenschaften wie ‚Freiheitʻ, ‚Fortschrittʻ und ‚Demokratieʻ als sogenannte red herrings zu demystifizieren²⁰⁷. ‚Demokratieʻ ist vor allem dadurch unmöglich geworden, dass sich Bürger/innen einer ständigen Manipulation durch gefilterte Nachrichten einer kontrollierten Berichterstattung ausgesetzt sehen, die eine selbständige und informierte Beschäftigung mit Politik so gut wie unmöglich werden lässt²⁰⁸. ‚Freiheitʻ wird in der bürgerlichen Gesellschaft lediglich in einem ‚negativenʻ Sinn verstanden, nämlich „[…] daß man nicht mehr straflos gequält und ermordet wird, nicht mehr, wie im Altertum, an andere Sklaven gefesselt in Bergwerken zu Tode geschunden oder, wie zur Beginn der Neuzeit, von der elenden Hütte, in der man schlief, verjagt, aufs Betteln angewiesen und wegen Bettelns aufgehängt wird.“²⁰⁹ ‚Freiheitʻ im real existierenden Sinn bedeutet gerade nicht, sich auch gedanklich von den herrschenden Verhältnissen mitsamt ihren destruktiven Konsequenzen für Mensch und Natur völlig zu emanzipieren, die wegen ihrer vermeintlichen ‚Fortschrittlichkeitʻ als die einzig vorstellbaren glorifiziert werden. Das Problem der ideologischen Verklärung gesellschaftlicher Missverhältnisse begann sich schon zu dem Zeitpunkt zu institutionalisieren, als die kritische Philosophie des deutschen Idealismus noch dabei war, die geistigen Grundlagen für eine gesamtgesellschaftliche ‚Bewusstʻwerdung im Namen der ‚Freiheitʻ zu schaffen²¹⁰. Der Durchschlag der Industrialisierung auf die Produktionsweise der Gesellschaft hatte nicht nur  Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Frankfurt: Suhrkamp [1962] 1990), 337.  Vgl. Robert Merton, Foreword, in: Jacques Ellul, The Technological Society (New York: Vintage, 1964), viii: „[E]very part of a technical civilization responds to the social needs generated by technique itself. Progress then consists in progressive de-humanization – a busy, pointless, and, in the end, suicidal submission to technique.“  Vgl. Max Horkheimer, Macht und Gewissen, in: derselbe, Gesammelte Schriften, a.a.O., 154– 159, 157– 158.  Max Horkheimer, Zum Begriff der Freiheit, a.a.O., 147.  In der Bildungsreformdebatte im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war es u. a. Humboldt, Schleiermacher und Fichte darum gegangen, die Aufhebung der Stände im Schulwesen, einen freien Zugang zu praktischem und wissenschaftlichem Wissen sowie das Ideal der geistigen Freiheit in Bildung, Forschung und Lehre zu institutionalisieren. Humboldt vertrat mit Blick auf die Universitäten den Standpunkt, dass die Studierenden lernen sollten, ‚selbständig zu denkenʻ. Oder wie es Martin Eichler, Die Wahrheit des Mythos Humboldt, Historische Zeitschrift 294:1 (2012), 59 – 78 auf 76 kommentiert: „Das ist der Gedanke der Universitätszeit als einer Art Moratorium zwischen Adoleszenz und Beruf.“ Die ‚politische Theorie des deutschen Idealismusʻ bestand im Kern darin, eine freie Gesellschaft über die Befreiung des Denkens zu befördern.

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die Mehrheit der Bevölkerung dazu ‚gezwungenʻ, sich der spezialisierten und kleinteiligen Herstellung von Gütern und Dienstleistungen in der verdinglichten Form von Waren zu widmen. Der Durchschlag der industriell-technischen Revolution hatte auch die Spitzen der staatlichen Bürokratie in Adepten der herrschenden Modernisierungshysterie und in Funktionäre einer angepassten follower society verwandelt. Nicht zuletzt hatte der Durchschlag der industriell-technischen Revolution die Wissenschaft/en auf oberflächliche akademische Fachdebatten reduziert, deren vordringlichste Aufgabe in der empirischen Illustration politisch erwünschter Sachfragen zu liegen schien. Die damit verbundene Um- bzw. Abwertung humanistischer Bildungsinhalte und der kontinuierliche Umbau der Bildungsinfrastruktur²¹¹ bildeten insofern den ‚Sargnagelʻ für jede vernünftige Entwicklung, als sich durch die Selbstzensur der um Anerkennung strebenden Fachdisziplinen unüberwindbare Hindernisse für einen nachhaltigen Aufklärungsdiskurs ergeben hatten, die am Ende noch verhängnisvoller waren als die staatlichen Restriktionen²¹². Staatliche Organe haben Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite daher zunehmend unter dem Einfluss mächtiger Partikularinteressen und fachblinder Expertokratie und mit wenig Rücksicht auf die sozialen Konsequenzen getroffen²¹³. In den bürgerlichen Demokratien ergibt sich aus dem Umstand wiederkehrender Wahlen das ständige Erfordernis, Klientelpolitik so zu inszenieren, als ob sie dem ‚Gemeinwohlʻ diente. Sachverständige ‚Expert/innenʻ erfüllen in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion, indem sie für den Fall einer Abweichung der Politik vom klientelfreundlichen Kurs entsprechende Schreckenszenarien bereithalten, in denen etwa massenhafter

 Vgl. Frank R. Pfetsch, Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750 – 1914 (Berlin: Duncker & Humblot, 1974), 139: „Die Initiative [zur wirtschaftlichen Modernisierung] ging […] zunächst von einigen Kulturpolitikern aus, die wissenschaftliche Ausbildungsstätten als wichtigstes Instrument der Wirtschaftspolitik betrachteten.“ Im zeitgenössischen Kontext wäre ähnliche Entwicklungen daran erkennbar, dass die Umwandlung der staatlichen Universität zur ‚unternehmerischen Universitätʻ vorangetrieben wird, die ihre ‚Leistungsfähigkeitʻ durch die Einwerbung von zusätzlichen privaten Mitteln verbessert.Vgl. allgemein dazu Sabine Maasen & Peter Weingart, Unternehmerische Universität und neue Wissenschaftskultur, in: H. Matthies & D. Simon (Hg.), Wissenschaft unter Beobachtung. Effekte und Defekte von Evaluationen (Wiesbaden: VS, 2008), 141– 160.  Die Karlsbader Beschlüsse von 1819 hatten die Freiheit des Denkens in der Wissenschaft einstweilen ‚nurʻ eingeschränkt, erst die Ressortierung und materielle Förderung des naturwissenschaftlich-technischen Denkens durch den Staat gaben der Wissenschaft insgesamt eine neue inhaltliche Richtung. Nicht nur wurde die technische Forschung und Berufsausbildung für viele Studierende aufgrund entsprechender Karriereaussichten umso attraktiver. „Der naturwissenschaftliche Positivismus wurde schließlich auf die Geistes- und Sozialwissenschaften übertragen.“ Norbert Andernach, Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen in Preußen 1848 – 1918 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1972), 211. Und angesichts der neuen positivistischen Methodenzwänge erkannten viele Angehörige der Universitäten für sich eine richtiggehende Gefahr darin, die Freiheit der Wissenschaft zu weit auszunutzen.  Die Umsetzung der Forderungen deutscher Automobilkonzerne nach niedrigen Grenzwerten für Treibhausgas-Emissionen durch die deutsche Bundesregierung wäre aus einer kritischen Perspektive nur eines von zahlreichen Beispielen. Vgl. Andreas Öffner, Die Macht der Interessen: die deutsche Automobilindustrie in der Europäischen Union (Baden-Baden: Nomos, 2016), besonders 141– 182.

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‚Stellenabbauʻ, ‚Betriebsverlagerungenʻ und ‚Lieferkettenproblemeʻ zum eingeübten Refrain gehören. Das Ideologie-Problem zeigt sich insbesondere darin, dass die politischen Entscheidungsträger/innen von den fraglichen Materien oft keinerlei Ahnung haben und auf den Sachverstand von Expert/innen angewiesen sind, die das Kompetenzvakuum zum Vorteil der privilegiertesten Kreise nutzen.

Kritisches Denken wehrt sich gegen Dogmatismus und Formalwissen Wenn etwa schon die Wirtschaftspolitik in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts daran scheiterte, eine ‚naturwüchsigeʻ sozioökonomische Entwicklung in Gang zu setzen, dann dürfen dafür nicht allein die preußischen Beamten in den Ministerien verantwortlich gemacht werden. Den sprichwörtlichen ‚Untertanenhassʻ verdankten sie ihrem Stand, aber den Dogmatismus in Wirtschaftsfragen erwarben sie sich über den engen Kontakt zu mittelmäßigen ‚Expertenʻ²¹⁴, die marktwirtschaftliche Institutionen per se als ‚vernünftigʻ deklarierten, ohne die dazugehörige Theorie zu verstehen²¹⁵. „Die neue liberale Wirtschaftstheorie der freien Konkurrenz wurde in kurzer Zeit von den meisten führenden Staatsrechtlern in England und auf dem Kontinent anerkannt. Auch auf den preußischen Universitäten pries man die Freihandelslehre [von Smith und Ricardo] bald als der Weisheit letzten Schluß.“²¹⁶ Allerdings geschah dies nicht, weil es sich in der sozio-ökonomischen Wirklichkeit ‚empirischʻ hätte zeigen lassen, dass die neuen Ansichten richtig gewesen wären – die britische Regierung hatte die englischen infant industries schließlich ausreichend lange vor jedem Wettbe-

 Vgl. Ilja Mieck, Preussische Gewerbepolitik in Berlin 1806 – 1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus (Berlin: de Gruyter, 1965), 9: „Der Radikalismus, den die preußischen Professoren in die Freihandelslehre hineintrugen, wurde für den Staat dadurch recht gefährlich, daß durch die Systematisierungssucht der Gelehrten die zukünftigen Verwaltungsbeamten auf den Universitäten mit einer Lehre bekannt gemacht wurden, die sich in ihren hier gezogenen Konsequenzen kaum noch mit den Vorstellungen Adam Smiths deckte.“  Vgl. Ilja Mieck, Preußen von 1807 bis 1850: Reformen, Restauration und Revolution, in: O. Büsch (Hg.), Handbuch der preussischen Geschichte, Bd. 2. Das 19. Jahrhundert und grosse Themen der Geschichte Preußens (Berlin: de Gruyter, 1992), 3 – 292, 119: „Die Hoffnungen der auf Adam Smith und seine Freihandelslehre eingeschworenen liberalen Spitzenbeamten, daß die anderen europäischen Staaten und die USA, die ihre Wirtschaft samt und sonders durch hohe Zölle schützten, ebenfalls zu einer freihändlerischen Politik übergehen würden, erfüllte sich nicht. Die Folgen waren fatal: Fremde, insbesondere englische Waren überschwemmten den offenen preußischen Markt und stürzten die unter dem Schutz der Kontinentalsperre herangewachsenen Manufakturbetriebe, die sich dem Wettbewerb mit den überlegenen Auslandsprodukten schutzlos ausgeliefert sahen, in eine schwere Krise.“  Mieck, Preußische Gewerbepolitik, a.a.O., 3: „Das war besonders das Verdienst des Professors Kraus, der führenden Erscheinung an der Königsberger Universität neben Kant. Außer ihm sind Gelehrte wie Schlözer, Pütter, Feder in Göttingen und Ludwig Heinrich v. Jakob in Halle zu nennen, die ihren Studenten die umwälzende Theorie des schottischen Nationalökonomen [Adam Smith] vorführten.“

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werb geschützt²¹⁷. Der Grund lag vielmehr darin, dass sich populäre Denkfiguren von Smith, Say, und Ricardo in plakative Formeln übersetzen ließen²¹⁸, die ihren Propagandisten Anerkennung verschafften und sich überdies hervorragend zur Mystifizierung der tatsächlichen Verhältnisse eigneten. Und weil sich die entsprechenden Phrasen und Modelle im ökonomischen Diskurs als abstrakte Lehren verselbständigten und schließlich zum angesagten intellektuellen Trend gehörten²¹⁹, galt das vorrangige Interesse der Fachleute irgendwann nicht mehr einem raumzeitlich sensiblen Verständnis ihrer Funktionsbedingungen, sondern ihrer konsequenten ‚Anwendungʻ und Umsetzung in die wirtschaftspolitische Praxis. Zumal in Preußen sahen junge aufstrebende Akademiker auf einmal viel bessere Karrierechancen in einer entschlossenen Hinwendung zu den neuen ‚modernenʻ ökonomischen Sichtweisen als in der behutsamen Modifizierung der traditionellen Kameralistik²²⁰. Und das hatte auch damit etwas zu tun, dass die Begeisterung karriereorientierter Akademiker für die wirtschaftstheoretische Avantgarde aus England mit dem Drang der staatlichen Funktionseliten korrelierte, die Industrialisierung in Preußen voranzutreiben, was eine entsprechende Goutierung der Ersteren durch die letzteren mit sich brachte. Die kapitalistische Modernisierung der Gesellschaft, die in der anwendungsorientierten Wirtschaftswissenschaft immer selbstbewusster zum Dogma und Selbstzweck erhoben worden war, hatte zwar zu keinem Zeitpunkt etwas mit dem aufgeklärten Weltverständnis eines Adam Smith zu tun, was wenig überrascht, denn Adam „Smith taugt nicht als pauschale Referenz für die Befürwortung nach Rückzug des Staates und Verfechtens der hemmungslosen Übung in Laissez-faire-Liberalismus.“²²¹ Aber das hatte die fortschrittsgläubigen Professoren nicht davon abhalten können, den asozialen

 Vgl. Henk Overbeek, Rivalität und ungleiche Entwicklung Einführung in die internationale Politik aus der Sicht der Internationalen Politischen Ökonomie (Wiesbaden:VS-Verlag, 2008), 142, der etwa auf die Abschottung der englischen Textilindustrie hinweist.  Eine der berühmtesten Verkürzungen, die als solche wegen ihrer ideologischen Funktion gar nicht als solche erkannt wird, ist das Sayʼsche Theorem in der angebotsorientierten Mainstream-Ökonomie.Vgl. dazu Mark Blaug, Sayʼs Law of Markets: What Did It Mean and Why Should We Care?, Eastern Economic Journal 23:2 (1997), 231– 235, 231: „There was a time in the long distant past when classical economics meant English Classical Political Economy from Smith to Mill, say, 1776 to 1867. Did those classical economists believe in Sayʼs Law? Yes, they did […], they recognized the existence of cycles of booms and slumps – and increasingly so in the 1840s after the slumps of 1825, 1836 and 1847 – but they distinguished these from a state of secular stagnation, what we would now call a ‚low-level equilibrium trap.ʻ This was no idle academic issue because the Industrial Revolution had raised fears in the minds of many contemporaries about the ability of any economic system to absorb the ever-increasing output of an industrial economy. Unfortunately, in the anxiety to win the intellectual argument, the classical economists fell into the trap of propounding Sayʼs Law as the logical impossibility of general overproduction.“  Vgl. zur diskursimmanenten Dynamik der ‚neuen Wirtschaftslehreʻ und der Popularität der genannten Autoren in Preußen während der 1820er Jahre Keith Tribe, The Reformation of German Economic Discourse 1750 – 1840 (Cambridge: Cambridge University Press, 1988), 191.  Vgl. ebda, 190 – 194.  Helge Hesse, Eine kurze Geschichte des ökonomischen Denkens (Stuttgart: Schäfer, 2018), 56.

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Egoismus der Wirtschaftstätigen mit Verweis auf Smith als abstraktes Wirkungsprinzip hinter einem sich gänzlich selbst regulierenden Prozess zu erkennen, der seine gedanklichen Wurzeln angeblich im antiken Griechenland gehabt hätte, und der im Ergebnis einen harmonischen Ausgleich aller rationalen Interessen bewerkstelligte. „Die Herstellung des Ausgleichs der Interessen stellte man sich als mechanikanaloge Gesetzmäßigkeiten vor. In diesem ‚Maschinenparadigmaʻ, welches das frühmoderne ökonomische Denken beherrscht, manifestiert sich somit eine Mischform der traditionalen und der modernen Weltinterpretation.“²²² Analog zum Bereich der Natur sei auch die marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaft, trotz ihrer Komplexität und aller daraus entstehenden Brüche und Konflikte, in ihrem Funktionsablauf durchschaubar als ein homöostatisches System²²³ mit einfachen standardisierbaren Abläufen. Die Verfolgung rationaler Interessen auf Seiten der typischen Marktteilnehmer/innen führe im Wettbewerb immer wieder zu einem für alle vorteilhaften ‚Gleichgewichtʻ – eine Sichtweise, die bis heute aktuell geblieben ist und im Kern bedeutet, dass die Marktmechanismen zu ‚effizientenʻ Resultaten führen, insofern Konsumenten ihren Nutzen und Produzenten ihren Gewinn maximieren, indem letztere zu minimalen durchschnittlichen Gesamtkosten produzieren²²⁴. Und selbst in der historischen Schule, für eine gewisse Zeit die einzig anerkannte Alternative zur abstraktdeduktiven Wirtschaftswissenschaft der Neo/Klassik, nach einem weit verbreiteten Irrtum sogar eine Art inhaltlicher Gegenentwurf, wurde die Prämisse der individualistischen und hedonistischen Menschennatur in einer ähnlich dogmatischen Art und Weise als das Bewegungsprinzip jeder fortschrittlichen Vergesellschaftung verklärt²²⁵.

 Georg Vobruba, Soziologie der Gleichgewichtsökonomie: Zum kritischen Potential der historischgenetischen Theorie, Österreich Zeitschrift für Soziologie 37: Supplement 1 (2012), 65 – 80, 70.  Für einen kurzen historischen Abriss zum Gleichgewichtsdenken seit Beginn der ‚klassischen Ökonomieʻ, vgl. Heinz D. Kurz, Geschichte des ökonomischen Denkens (München: Beck, 2013), 26.  Vgl. Gregory N. Mankiw & Mark P. Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 7. Auflage (Stuttgart: Schäffer-Pöschel, 2018), 240. Vgl. für eine frühere und nicht weniger einflussreiche Formulierung desselben Irrtums Kenneth Arrow, General Economic Equilibrium, Analytic Techniques, Collective Choice, American Economic Review 64:3 (1974), 253 – 272, 254: „[I]f supply and demand were unequal anywhere, at least some prices would change, while none would change in the opposite case. Because of the last characteristics, the balancing of supply and demand under theses conditions may be referred to as equilibrium in accordance to the usual use of that term in science and mathematics.“ So gut wie alle Betrachtungen in dieser ‚Denkʻtradition kommen mit den gleichen Variablen aus.  Vgl. dazu schon das einflussreiche Lehrbuch von Gustav Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, unveränderter Nachdruck der Auflage von 1923 (Berlin: Duncker & Humblot, 1978), auf 7: „Der Mensch gehörte stets zu den Herdentieren. Aber er ist kein ζῷον πολιτικόν in dem Sinne, daß ein unterschiedsloser Geselligkeitstrieb ihn veranlaßte, Anschluß an jedes andere menschliche Wesen zu suchen […].“ Und auf die Frage, ob der Mensch einen egoistischen Erwerbstrieb hätte, aus dem sich u. a. das Streben ableiten liesse, sich die materielle Außenwelt zu unterwerfen, meinte Schmoller auf 33 antworten zu müssen, „[…] daß die elementaren sinnlichen Lust- und Schmerzgefühle und das an sie sich knüpfende Triebleben, daß ferner die Freude am Glanz und Schmuck, an Waffen und Werkzeugen, am Erfolg der eigenen gelungenen Tätigkeit unzweifelhaft die ersten und dauerhaftesten [sic!] Veranlassungen wirtschaftlichen Handelns sind.“ Es liegt deshalb gewissermassen auf der Hand, dass die Gründe

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Sieht man einmal vom zwischenzeitlichen Einfluss der historischen Schule im deutschen Sprachraum ab, dann hat sich die Wirtschaftswissenschaft im neo/klassischen Mainstream seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr wesentlich verändert. „Seither besteht das ökonomische Denken im Kern aus dem Versuch, Gleichgewicht und mechanikartig gedachte Gesetzmäßigkeiten deduktiv – also: ohne empirische Überprüfung – miteinander zu verbinden.“²²⁶ Das betrifft nicht nur typische Formen der Realisierung von persönlichen Zielvorstellungen innerhalb des ökonomischen Systems, z. B. die je individuelle ‚Konsumentensouveränitätʻ durch den Ge- bzw. Verbrauch von Dingen und Personen, die auf den entsprechenden Märkten im Angebot stehen; das betrifft auch typische Formen politischer Praktiken zur Absicherung der wirtschaftlichen Entfaltungsspielräume und der davon abhängigen Gleichgewichtsordnung²²⁷. Und das betrifft immer wieder auch den Nachweis über positive Effekte von politischen Projekten der Marktliberalisierung²²⁸. Auch die Einführung von Demokratie wäre in der jüngeren Geschichte oft abhängig von der Existenz einer freiheitlichen und stabilen Marktwirtschaft gewesen²²⁹. Und selbst diejenigen, die sich nicht vom Gleichgewichtsdenken haben überzeugen lassen, sind immerhin bereit gewesen, der ökonomischen Theorie wegen ihrer hohen Formalisierung den Nimbus einer ‚hartenʻ Basis für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung zuzugestehen²³⁰. Nach dem Vorbild vieler Soziologen haben deshalb auch Angehörige der Politikwissenschaft für eine enge Orientierung an der neo/klassischen Wirtschaftstheorie plädiert, um die jeweiligen Forschungsgegenstände analog zum Modell der rationalen Wahl und/oder der ‚elegantenʻ Gleichgewichtstheorie zu rekonstruieren: „In Politics the question which should be asked, so far as I can see, is: What are the characteristics of political equilibrium in particular cases? Or, more exactly: What

für den Irrtum solcher Theorien, die sich über die Aufhebung aller Ausbeutungsverhältnisse und die Herstellung vergleichbarer Lebensverhältnisse für alle Menschen Gedanken machen, „[…] in einer Überschätzung des äußeren, irdischen Glückes, in einer Verkennung des wahren Wesens der menschlichen Natur, in einer rohen sinnlichen Weltanschauung liegen […].“ Ebda, 99 – 100. Allerdings – und das sollte man nicht allzu gering schätzen – vergass Schmoller in diesem Zusammenhang eben noch nicht zu erwähnen, dass kritische Theorien zumindest dabei helfen können, das Bewusstsein für eine mögliche Überschätzung der freien Konkurrenz zu schärfen.  Vobruba, Soziologie der Gleichgewichtsökonomie, a.a.O., 71.  Vgl. dazu in der üblich gewordenen Seichtigkeit u. a. Horst Hanusch, Thomas Kuhn & Uwe Cantner, Volkswirtschaftslehre 1. Grundlegende Mikro- und Makroökonomie (Berlin: Springer, 5. Aufl. 2000), besonders 17– 21.  Vgl. erst jüngst wieder zu den positiven Effekten des EU-Binnenmarkts Jan in’t Veld, The economic benefits of the EU Single Market in goods and services, Journal of Policy Modeling 41:5 (2019), 803 – 818.  Vgl. Jürgen Kocka & Wolfgang Merkel, Kapitalismus und Demokratie: Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch, in: dieselben (Hg.), Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie (Wiesbaden: Springer VS, 2015), 307– 337, 308.  Vgl. allgemein dazu Bruno S. Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete (München: Vahlen, 2015).

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characteristics of political adjustment can be formulated in terms of a theory of relative valuation and in terms of a concept of equilibrium?“²³¹ Im Ergebnis sind wichtige intellektuelle Vorleistungen zugunsten einer freiheitlichen Entwicklung menschlicher Gesellschaft/en auf der Basis einer geteilten Vision ihrer Mitglieder über das Richtige und Wünschenswerte durch ein ‚Denkenʻ verdrängt worden, das alle wirtschaftstätigen Personen für die Zwecke theoretischer Verallgemeinerung als Maschinenwesen ohne jegliche soziokulturelle Einbettung ausweist; das diesen Phantasiewesen die Fähigkeit zur Entscheidungsfindung nur unter einer erheblichen mentalen Störung zuschreibt²³²; und das jede Zusammenballung ‚rationaler Idiotenʻ²³³ mit einem mechanischen System assoziiert. Dadurch, dass die neo/klassische Wirtschaftswissenschaft zum Vorbild für sozialwissenschaftliches Denken im weiteren Sinn geworden ist, gilt ein dogmatischer Technizismus in der Anschauung von mechanischen Abläufen zwischen geistig minderbemittelten Entscheidern als Vorbild für die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit der sozialen Realität. Selbst im Bereich des IB-Mainstreams neigen immer noch viele dazu, die von konkreten Akteuren geschäftsmäßig betriebene Vernichtung von Mensch und Natur als typische Fälle gesetzmäßiger

 Duncan Black, The Unity of Political and Economic Science, The Economic Journal, 60:239 (1950), 506 – 514, 512. In der Politikwissenschaft wurde daraufhin z. B. dargelegt, dass politische Parteien den Wahlberechtigten in funktionierenden Demokratien programmatische Angebote machten, die rational handelnde Wähler/innen als Konsumenten analog der Situation auf den Gütermärkten einer Kosten-NutzenBilanz unterzögen, die wiederum den Ausschlag für die individuelle Wahlentscheidung gäbe. Dieser Mechanismus der wettbewerbsorientierten Stimmenmaximierung führte seinerseits dazu, dass im Kampf um politische Macht vor allem ‚verlässlicheʻ und ‚verantwortlicheʻ Parteien entsprechende Positionen erlangten.Vgl. dazu Anthony Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, R.Wildenmann (Hg.) (Tübingen: Mohr, 1968), 27– 28 zur‚Parteimotivationʻ, 35 – 39 zur Nutzenkalkulation durch den Wähler und 102 zur Herstellung eines Parteiengleichgewichts. Selbst in den Rechtswissenschaften etablierte sich die Gleichgewichtsbetrachtung z. B. über die Vorstellung, dass die gerichtliche Spruchpraxis bei Delikten vor allem eine effiziente Schadensregulierung im Auge haben sollte, um die gegenseitigen Ansprüche der Streitparteien auszugleichen. Vgl. dazu Professor und Bundesrichter a.D. Richard A. Posner, für eine gewisse Zeit Hauptvertreter der law and economics und Autor u. a. von The Economics of Justice (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1981).  Vgl. Walter Ötsch, Gibt es eine Grundlagenkrise der neoklassischen Theorie?, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 208:6 (1991), 642– 656, 652: „Die formale Methode zwingt den neoklassischen Theoretiker, Subjekte wie Objekte darzustellen. Neoklassische Subjekte sind mehr ein Programm oder ein Algorithmus als selbstbezügliche Menschen. Änderungen des Verhaltens werden grundsätzlich durch Änderungen der Außenwelt (z. B. geänderte Preise) erklärt. Informationen kommen von außen den Individuen zu und werden nach einem starren Algorithmus in Handlungen umgesetzt. Der Algorithmus selbst (die Präferenzordnung und die Optimierungsregel) ist a priori vorgegeben. Inputs (Informationen) und Outputs (marktrelevantes Handeln) steht in einer fixen und mathematisch beschreibbaren Beziehung. Neoklassische Individuen haben ambivalente Eigenschaften. Über ‚die Weltʻ wissen sie ‚allesʻ: z. B. sind sie vollkommen informiert, unendlich reaktionsschnell usw. Über ‚sich selbstʻ wissen sie jedoch ‚nichtsʻ: sie haben kein Bewußtsein ihrer selbst und ihrer Eigenschaft, ‚in der Weltʻ selbstbezüglich agieren zu können.“  Vgl. dazu den legendären Text von Amartya K. Sen, Rational Fools: A Critique of the Behavioral Foundations of Economic Theory, Philosophy & Public Affairs 6:4 (1977), 317– 344.

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Interaktionen zwischen rationalen Psychopathen im Kontext abstrakter Gleichgewichtsmechanismen zu rationalisieren²³⁴. Die wirtschaftswissenschaftliche Rekonstruktion der Gesellschaft unter Verwendung von Kennzahlen und unter Zugrundelegung abstrakter Modellannahmen liefert seit Beginn der Industrialisierung ein gefährliches Zerrbild der Wirklichkeit, die sich in einem empirischen Sinn nicht erfassen lässt²³⁵. Alle zur Überbrückung eingesetzten Techniken der ‚Beobachtungʻ in der Form von Statistiken, Berechnungen, Modellierungen, oder Meinungsumfragen bleiben partielle Konstruktionen der Wirklichkeit, in die neben willkürlichen Wertungen und den Zwängen der herrschenden Meinung vor allem dogmatische Setzungen einfließen. Und mit dem prinzipiell vertretenen Anspruch, auf einer völlig ungenügenden empirischen Basis „[…] Gesetzmäßigkeiten der wirtschaftlichen Realität zu erkennen und diese in Form von Kausalbeziehungen zwischen ökonomischen Größen zu beschreiben“²³⁶, wird jede Aussage über das Sein und Sollen einer komplexen Gesellschaft zur vulgären Ideologie²³⁷.

 Vgl. für eine eng am wirtschaftswissenschaftlichen Vokabular orientierte Auseinandersetzung mit internationaler Handelspolitik, Sugata Marjit & Eden S.H.Yu, Contemporary and Emerging Issues in Trade Theory and Policy (Bingley: Emerald, 2008); vgl. für einen der frühen und einflussreichen Texte zu Gleichgewichten in der internationalen Sicherheitspolitik, George Liska, International Equilibrium. A Theoretical Essay on the Politics and Organization of Security (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1957), 35: „An equilibrium occurs, and has the best chance of being stable, when all or at least the important states individually and in alliance reach such an optimum level of relative power and security that, by definition, could not be further improved in an armaments race or by a policy of territorial conquest; efforts in that direction would either overtax national resources to the point of marginal disutility of costs in other areas of national power, or provoke a more than offsetting loss in relative military power and security through political realignments and possibly preventive war against the tooambitious Power.“ Vgl. auch die Weiterführung zentraler Überlegungen von Liska bei Alexei D. Voskressenski, Russia and China: A Theory of Inter-State Relations (New York, Routledge: 2003), 55 – 60. Vgl. für einen weiteren höchst einflussreichen Text zur Illustration von internationaler Ordnung als Gleichgewicht, Waltz, Theory of International Politics, a.a.O. besonders 102– 128. Die Metapher des Gleichgewichts war zwar schon im 16. Jahrhundert gebräuchlich, um die Dynamik der Staatenbeziehungen zu illustrieren. Vgl. Harald Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen (Stuttgart: Reclam, 1998), 83. Allerdings blieb das Systemdenken noch lange in einem historischen und juristischen Idiom verhaftet, bevor es im 20. Jahrhundert in ein formal-technisches Vokabular gekleidet wurde.  Vgl. Mankiw & Taylor,Volkswirtschaftslehre, a.a.O., 26: „Die wissenschaftliche Methode besteht darin, Theorien zu entwickeln, Daten zu sammeln und diese dann dazu zu verwenden, die Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen. Das ist deshalb wichtig, weil es eine wesentliche Eigenschaft von Theorien ist,Vorhersagen zu treffen.Wenn wir Vorhersagen über die Zukunft machen wollen, ist es von besonderer Bedeutung, dass unsere Theorien zuverlässig sind.“ Vgl. demgegenüber die Kritik an dieser Illusion bei Ellul, The Technological Society, a.a.O., 160: „The facts of economic life could be grasped directly when economic life was still relatively simple, when economic phenomena (for example, at the end of the eighteenth century) presented a picture which, in magnitudes and elements, was compatible with direct experience. But the enormous growth of the economic milieu has made direct apprehension impossible and brought about the decline of corresponding modes of reasoning.“  Hanusch et. al, Volkswirtschaftslehre, a.a.O., 111.  Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 346 – 347: „Solcher gesellschaftliche Naturbegriff hat seine eigene Dialektik. Die Naturgesetzlichkeit der Gesellschaft ist Ideologie, soweit sie als unveränderliche Natur-

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Kritisches Denken erkennt bürgerliche Ordnung/en als unvernünftig Wider den Zweckoptimismus von Smith, Kant und Hegel erkannten kritische Intellektuelle den parallel zur kapitalistischen Ökonomie heraufziehenden Rechtsstaat und seine Institutionen immer weniger als Lösung denn als neues Problem für eine friedliche und freiheitliche soziale Entwicklung. In den Worten von Marx: „Allein die Vollendung des Idealismus des Staats war zugleich die Vollendung des Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft. Die Abschüttlung des politischen Jochs war zugleich die Abschüttlung der Bande, welche den egoistischen Geist der bürgerlichen Gesellschaft gefesselt hielten. Die politische Emancipation war zugleich die Emancipation der bürgerlichen Gesellschaft von der Politik, von dem Schein selbst eines allgemeinen Inhalts.“²³⁸ Die Überführung des monarchischen Absolutismus in den bürgerlichen Rechtsstaat war im kritischen Vorstellungsraum eine konservative ‚Reaktionʻ auf die Veränderungswünsche der breiten Masse, die sich einen nachhaltigen Weg aus Armut und Unsicherheit erhoffte²³⁹. Diese Transformation nahm während des 19. Jahrhunderts in Europa die Form einer erzwungenen Modernisierung, einer‚passiven Revolutionʻ von oben an²⁴⁰ und gehorchte dabei den materiellen Interessen einer gesellschaftlichen Minderheit. Die Gestaltung der Innenpolitik stand dabei überall in einem engen Wechselverhältnis mit den zwischenstaatlichen Beziehungen und war darauf gerichtet, die Formierung großer bzw. nationaler Volksbewegungen zu verhindern²⁴¹.

gegebenheit hypostasiert wird. Real aber ist die Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der bewußtlosen Gesellschaft, wie es das [Marxʼsche] ‚Kapitelʻ von der Analyse der Warenform bis zur Zusammenbruchstheorie in einer Phänomenologie des Widergeistes verfolgt.“  Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Marx Werke, a.a.O., 141– 163, 161. Vgl. auch Hertz-Eichenrode, ‚Massenpsychologieʻ bei den Junghegelianern, a.a.O., besonders 243 – 248, der in dem Zusammenhang auf Bruno Bauers Kritik an einer entsolidarisierten gesellschaftlichen ‚Masseʻ mit einer ‚Unendlichkeit der konkurrierenden Interessenʻ und eine in ‚ständigem Wechsel begriffene Mischung von Armut und Reichtum, Not und Gedeihenʻ (246) verweist.  Vgl. Herzig, Unterschichtenprotest, a.a.O., 6 – 7.  Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte: kritische Gesamtausgabe in 10 Bänden, K. Bochmann et al. (Hg) (Hamburg: Argument, 2019), Band 1, Heft 1, § 150.Vgl. dazu auch Peter D. Thomas, Toward the Modern Prince, in: R. M. Dainotto & F. Jameson (Hg.), Gramsci in the World (Durham: Duke University Press, 2020), 17– 37, 27– 28: „In this version, passive revolution comes to signify the pacifying and incorporating nature assumed by bourgeois hegemony in the epoch of imperialism, particularly in its Western European heartlands but with determinant effects on the colonial periphery. ‚Revolutionʻ here still refers to the capacity of the ruling class still to deliver substantive and real historical gains, producing real social transformations that could be comprehended, formally at least, as progressive; ‚passiveʻ continues to denote the attempt to produce these transformations without the extensive involvement of subaltern classes as classes, but by means of molecular absorption of their leading elements into an already established hegemonic project.“  Gramsci, Gefängnisheft 8, a.a.O., §21: „Die ganze Geschichte seit 1815 ist der angestrengte Versuch der traditionellen Klassen, die Formierung eines nationalen Willens nicht zuzulassen, sondern die ‚ökonomisch-korporativeʻ Macht im Schlepptau eines internationalen Gleichgewichtssystems zu halten usw.“

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Diese ‚passive Revolutionʻ forcierte zwar die juristische Befreiung gesellschaftlicher Schichten von staatlicher (und kirchlicher) Willkür, dennoch schrieb der bürgerliche Rechtsstaat die feudalen Gewaltverhältnisse de facto für einen erheblichen Teil der Gesellschaft/en unter veränderten Vorzeichen fort. Denn als Begleiterscheinung der ‚freienʻ Gesellschaft/en entwickelten sich schon während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue – ‚unpolitischeʻ – Praktiken der Beherrschung und Übervorteilung, die sich nicht mehr in ständischen Privilegien sondern in ungleichen Eigentumsverhältnissen gründeten; die eine zunehmende Stratifizierung, Prekarisierung sowie Pauperisierung bewirkten; und die unvereinbare Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins zwischen den ärmeren und den bürgerlichen bzw. adligen Schichten herausbildeten. Im frühen 20. Jahrhundert bewirkten bürgerliche Herrschaftstechniken die Entstehung von Nationalismus, Chauvinismus und Antisemitismus, die innerhalb und vor allem jenseits staatlicher Gesellschaften zunehmend eskalierende Antagonismen schürten. Und seit Mitte des 20. Jahrhunderts entfalten sich im ‚internationalisierten bürgerlichen Staatʻ²⁴² und seinem Geflecht von inter-, supra- und transnationalen Institutionen u. a. Individualismus, Konsumhedonismus und (weltanschaulicher) Fundamentalismus, während gleichzeitig die Existenzbedrohung für die Menschheit als Ganze größer wird. Im Vorstellungsraum kritischer Theorie haben es bürgerliche Herrschaftsformen aufgrund ihrer Primärverpflichtung auf den Schutz materieller Interessen der einflussreichsten gesellschaftlichen Kräfte zu keinem Zeitpunkt in der jüngeren Geschichte vermocht, eine vernünftige Ordnung herzustellen, die auf legitimen und vermittelnden rechtlichen Verfahrensweisen beruhte. Zwar strengten ihre liberalkonservativen Befürworter/innen in jeder Generation eine Rhetorik an, die den demokratischen Rechtsstaat trotz seiner ‚Unvollkommenheitʻ²⁴³ als Garanten von Frieden, Freiheit und Fortschritt auswies. Aber vor allem „[d]ie Idee, daß sich die Staatsgewalt als pouvoir neutre über die gesellschaftlichen Kräfte erheben könnte, war immer schon Ideologie.“²⁴⁴ Anstatt der Usurpation von politischer Macht durch Partikularinteressen institutionelle Schranken zu setzen und die immer wieder von Neuem aufbrechenden Konflikte zwischen den gesellschaftlichen Gruppen im Sinne des ‚Gemeinwohlsʻ zu versöhnen, ist der bürgerliche Rechtsstaat stets ein unfertiges Gerüst geblieben, das zumal die gut organisierten bürgerlichen Interessengruppen der Arbeitgeber-, Banken-

 Vgl. dazu Ulrich Brand, Die Internationalisierung des Staates als Rekonstitution von Hegemonie. Zur staatstheoretischen Erweiterung Gramscis, in: S. Buckel & A. Fischer-Lescano (Hg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis (Baden-Baden: Nomos, 2007), 161– 180.  Vgl. zum ‚liberalkonservativenʻ Grundkonsens der Bundesrepublik seit ihrer Gründung, Jens Hacke, Die Verteidigung des Unvollkommenen. Zur Aktualität des altbundesrepublikanischen Liberalkonservatismus, in: U. Ruge & D. Morat (Hg.), Deutschland denken: Beitrage für die reflektierte Republik (Wiesbaden: VS, 2005), 96 – 110.  Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4. erw. Auflage (Frankfurt: Suhrkamp, 1994), 216.

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und Industrieverbände dazu genutzt haben, jede verbleibende Gemeinwohlorientierung der staatlichen Politik im konkreten Fall de facto zu perforieren²⁴⁵. Die Entstehung immer neuer Formen von Ausbeutung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Übervorteilung schufen immer wieder neue Anlässe für soziale Konflikte, die aber durch staatliche Maßnahmen nicht vermittelt wurden. Die unweigerliche Folge waren gesellschaftliche Verwerfungen nicht nur auf nationaler, sondern auch auf inter-, supra- und transnationaler Ebene²⁴⁶. Daran hat auch die formelle Ausweitung politischer Partizipation seit dem frühen 20. Jahrhundert nichts geändert. Der Unterschied zum Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts ist bei genauerem Hinsehen eher oberflächlich. Denn statt in einem demokratischen Rechtsstaat „[…] leben wir im Parteienstaat. Die Partei, die im Parlament die Mehrheit hat, stellt auch die Regierung. Bei uns bestimmt sie praktisch auch die Zusammensetzung des höchsten und wichtigsten Gerichts, des Bundesverfassungsgerichts. […] Außerdem wird dieser Staat noch aus einem anderen Grund immer bedrohlicher. Durch die ungeheure Konzentration von militärischem Vernichtungspotential.“²⁴⁷ Im Mainstream der Politikwissenschaft werden die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft selten in einen systematischen begrifflichen Zusammenhang mit der Struktur des bürgerlichen Rechtsstaats gebracht²⁴⁸. Die doppelte Legitimationskrise der parlamentarischen Demokratie und der liberalen rechtsstaatlichen Ordnung wird zwar durchaus thematisiert²⁴⁹. Aber die sich verschärfenden und in immer neuen Formen

 Vgl. mit Blick auf gegenwärtige Dysfunktionen, Andreas Fisahn & Regina Viotto, Formalisierung des informalen Rechtsstaats, Kritische Justiz 39:1 (2006), 12– 25, die auf 14 die Instrumentalisierung der Verwaltungen beschreiben: „So werden oftmals vor dem eigentlichen, rechtlich geregelten Genehmigungsverfahren Vorverhandlungen mit dem Betreiber geführt, die die Weichen stellen für die Genehmigungsentscheidung. Es findet eine Entscheidungsverlagerung statt; die Entscheidung wird nicht im vom Gesetz vorgesehenen formalen Genehmigungsverfahren getroffen, sondern – in nicht unwesentlichen Teilen – bereits im Stadium der informalen Vorverhandlungen. Zwar binden die Vorverhandlungen die Behörde nicht in rechtlicher Hinsicht; hingegen kann in faktischer Hinsicht eine Bindungswirkung ausgemacht werden. Folge dieser Entscheidungsverlagerung ist, dass die Bürgeranhörung im eigentlichen Genehmigungsverfahren kaum noch Chancen auf Änderung hat.“  Vgl. die Essaysammlung von Heinz Bude & Philipp Staab, Kapitalismus und Ungleichheit: die neuen Verwerfungen (Frankfurt: Campus, 2016), besonders die Beiträge von Heinz Bude (115 – 136) und Göran Therborn (285 – 318).  Uwe Wesel, Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht (Frankfurt: Suhrkamp, 1993), 117.  Vgl. für eine exemplarisch wohlwollende Beurteilung des deutschen Rechtsstaats, Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien (Wiesbaden: Springer VS, 2019), 440.Vgl. derselbe, Das Politische System der Bundesrepublik Deutschland (München: Beck, 2005), besonders 10 – 24.  Vgl. dazu u. a. Michael Zürn, Die schwindende Macht der Mehrheiten. Weshalb Legitimationskonflikte in der Demokratie zunehmen werden, WZB Mitteilungen 139 (2013), 11, der sich bereits bei der Beschreibung des Problems irrt, denn es konnte zu keinem Zeitpunkt die Rede davon sein, dass sich Zustimmung und Vertrauen der Bürger/innen […] weg von demokratischen Mehrheitsinstitutionen hin zu primär expertokratisch legitimierten [internationalen] Institutionen […]“ verschiebt. Gerade auch die Europäische Union hat seit Jahrzehnten an abnehmender Zustimmung gelitten. Es hängt offensichtlich davon ab, wie bzw. anhand welcher Kriterien man Sachverhalte beurteilt! Vgl. derselbe, Perspektiven des

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auftretenden Momente gesellschaftlicher Desintegration innerhalb und außerhalb des bürgerlichen Rechtsstaats scheinen weder etwas mit der sozioökonomischen Realität noch mit der Grundstruktur der bürgerlichen Staatlichkeit/Weltordnung zu tun zu haben. Eher wirken sie wie ein Ausdruck temporärer Störungen, die nicht so tiefgreifend sind, um nicht durch die politischen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft einer Lösung zugeführt werden zu können, etwa in der ‚Ausweitung politischer Partizipationʻ und/oder einer stärkeren ‚Kontrolleʻ inter- bzw. transnationaler Organisationen²⁵⁰. Auf keinen Fall scheint etwas darauf hinzudeuten, dass der bürgerliche Rechtsstaat in dem von seinen Leitungsgremien geschaffenen Geflecht der inter-, supra- und transnationalen Institutionen primär die Funktion erfüllt, einer breiten gesellschaftlichen Mitsprache entgegenzuwirken, während die durch das entgrenzte sozioökonomische System privilegierten Akteure die Lebenswelt der Gesellschaft/en im Sinne einer profitorientierten Verwertungslogik immer weiter kolonisieren können. Extrapoliert man auch in diesem Zusammenhang mit einem kritischen Blick von der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Situation im 20./21. Jahrhundert, dann wirkt es so, als hätte sich das ‚refeudalisierteʻ Bewegungsprinzip der Kolonisierung nicht verändert. Im Gegenteil scheint sich dieses Bewegungsprinzip seit dem historischen Schulterschluss zwischen den privilegierten Kräften aus Wirtschaft, Gesellschaft und staatlicher Verwaltung um die Mitte des 19. Jahrhunderts²⁵¹ unablässig in der Realisierung von Partikularinteressen zu entfalten, die de facto auf einer massiven Ausbeutung von Mensch und Natur beruhen, aber im offiziellen Diskurs stets als Quelle von ‚Friedenʻ, ‚Freiheitʻ und ‚Fortschrittʻ mystifiziert worden sind²⁵². Marx hatte demgegenüber polemisiert, dass die moderne Staatsgewalt nur ein ‚Ausschußʻ sei, „[…] der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet.“²⁵³ Die historische Form

demokratischen Regierens und die Rolle der Politikwissenschaft im 21. Jahrhundert, Politische Vierteljahresschrift 52:4 (2011), 603 – 635.  Vgl. dazu allgemein Armin Schäfer & Michael Zürn, Die demokratische Regression (Frankfurt: Suhrkamp, 2021).  Vgl. Lothar Machtan & Dietrich Milles, Die Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoisie. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher und politischer Herrschaft in Preußen-Deutschland 1850 – 1878/79 (Frankfurt: Ullstein, 1980), 16: „Die bewußte und mit Entschlossenheit verfolgte Zusammenarbeit liberaler Bourgeoisiepolitiker mit dem vormärzlichen Gewaltapparat kann somit als frühes Indiz für einen richtungsweisenden klassenpolitischen Zusammenschluß der deutschen Bourgeoisie interpretiert werden […].“ (Hg. im Original) Vgl. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 305, weswegen die Fähigkeit des ‚Ganzenʻ zur Selbsterkenntnis durch eine bürgerliche Ideologie des (sozial indifferenten) Individualismus als Manifestation des ‚Falschenʻ schon im Grundsatz gestört ist.  Vgl. Jakob Tanner, Refeudalisierung, Neofeudalismus, Geldaristokratie: die Wiederkehr des Vergangenen als Farce?, in: G. Biaggini, O. Diggelmann & Chr. Kaufmann (Hg.), Polis und Kosmopolis: Festschrift für Daniel Thürer (Zürich: Dike, 2015), 733 – 748, 741– 742: „Aus dieser Sicht ist die Refeudalisierung gleichbedeutend mit dem Aufstieg eines neuen Geldadels oder einer Finanzaristokratie, die sich immer schamloser auf Kosten der Allgemeinheit bereichert und der Demokratie das Recht abspricht, sich in volkswirtschaftliche Verteilungsfragen überhaupt nur einzumischen.“  Karl Marx & Friedrich Engels, Das Manifest der kommunistischen Partei, in: dieselben, Werke. Band 4, 6. Auflage, (Berlin: Dietz 1972), 459 – 493, 464.

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des bürgerlichen Rechtsstaates und seine Rolle im Kontext von Wirtschaft und Gesellschaft war zwar immer differenzierter, der Hinweis auf die ‚materialistische Einbettungʻ des Staates in die realweltliche Gesellschaft mit ihren bestehenden Machtverhältnissen, Konfliktformationen und den damit verbundenen Bewusstseinsformen ist im kritischen Denken dennoch stets der Anlass geblieben, um der Parteilichkeit und Willkür jeder konkreten Gestalt bürgerlicher Ordnung/en nachzuspüren²⁵⁴. Die gesellschaftlichen Konflikte zwischen Angehörigen der Unterschichten und denen der bürgerlichen bzw. adligen Schichten, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder von Neuem über Forderungen nach einem besseren sozialen Ausgleich mit Blick auf angemessenere Steuerbelastungen, Lohnzahlungen, Arbeitszeiten und die Gewährung von Grundrechten entluden²⁵⁵, blieben nicht auf isolierte Auseinandersetzungen beschränkt. Die Konflikte verlagerten sich in die politischen Parteien²⁵⁶, die sich mehrheitlich darauf verstanden, den Schulterschluss zwischen Unternehmern und höheren Staatsbeamten zu stabilisieren, der damit nicht mehr nur auf einer geteilten Verachtung des sogenannten ‚Pöbelsʻ und seiner intellektuellen Sympathisanten beruhte, sondern eine institutionelle Dimension gewann: „Immer häufiger sympathisierten Beamte mit der Position der Unternehmer, deren ökonomische Argumente schwer widerlegbar schienen, und betonten die Notwendigkeit, gemeinsam gegen die ruhestörenden Proteste vorzugehen.“²⁵⁷ An diesem traditionellen Sympathieverhältnis zwischen Bourgeoisie und staatlicher bzw. öffentlich-rechtlicher Beam-

 Vgl. Ralf Dahrendorf, Class and Class Conflict in Industrial Society (Stanford: Stanford University Press, 1959), 124: „Marx has explored one of the most interesting, and perhaps the most significant, relationship between social structure and social change by postulating conflict groups and their clashes as forces that make for change. Obvious as it may seem that social conflicts often result in the modification of accepted patterns of organization and behavior, it has neither been seen by all nor been explored as systematically by anybody as by Marx.“  Vgl. etwa Michael Stolleis, Konstitution und Intervention. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert (Frankfurt: Suhrkamp, 2001), 26, der auf die Einigkeit zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum hinweist, „[…] den vierten Stand durch Begrenzung des Wahlrechts von politischer Mitwirkung fernzuhalten.“  Vgl. Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830 – 1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985), besonders 14– 19. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass sich die Konflikte nicht nur zwischen der Arbeiterbewegung und den bürgerlichen Schichten, d. h. an materiellen Unterschieden entzündeten, sondern z. B. auch konfessionell begründet waren. Vgl. dazu Heinz Gollwitzer, Ein Staatsmann des Vörmärz: Karl von Abel 1788 – 1859. Beamtenaristokratie – monarchisches Prinzip – politischer Katholizismus (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993), besonders 52– 77.  Richard Tilly, Unternehmermoral und –verhalten im 19. Jahrhundert. Indizien deutscher Bürgerlichkeit, in: J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd 2: Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995), 35 – 64, 48.

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tenschaft hat sich nichts geändert; der Verbund zwischen den ‚demokratischen Staatenʻ im System der EU steht beispielhaft für die neue Form dieser Reproduktion²⁵⁸. Die sich aus der ‚Klassensymbioseʻ entwickelnde Pfadabhängigkeit hatte zur Folge, dass staatliche Maßnahmen zur Herstellung von ‚Ordnungʻ immer wieder die sozioökonomischen Strukturen der Vergesellschaftung reproduzierten, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert in der Form von Konflikten zwischen unterschiedlichen Anspruchsgruppen manifestierten. Staatliche Einrichtungen haben über Gesetzgebung und/oder Verwaltung die Interessen der Privilegierten am Schutz ihres ‚Eigentumsʻ präferiert²⁵⁹ und damit organisierte Gegenbewegungen der unterprivilegierten Schichten provoziert²⁶⁰, was jede Versöhnung der gesellschaftlichen Verhältnisse unmöglich hat werden lassen. Eine ‚vernünftigeʻ Ordnung wäre von gemeinsamen Vorstellungen aller Schichten von ‚Friedenʻ, ‚Freiheitʻ und ‚Fortschrittʻ getragen gewesen und hätte so die gesamtgesellschaftliche ‚Praxisʻ gelenkt²⁶¹. Eine gesamtgesellschaftliche Versöhnung setzte voraus, dass die einflussreichsten Klientel nicht mehr ihren Partikularwillen zur Grundlage der öffentlichen Berichterstattung und Entscheidung machen könnten²⁶².  Vgl. Bernd Hüttemann & Elena Sandmann, Im Mittelfeld der Europapolitik: Zivilgesellschaft, Lobbyismus und Partizipative Demokratie im Mehrebenensystem der EU, Forschungsjournal Soziale Bewegungen 32:4 (2020), 557– 569.  Die staatliche Förderung landwirtschaftlicher Großgrundbesitzer und ihrer agrarindustriellen Betriebe wäre ein Beispiel für eine anhaltende Bevorzugung. Im 19. Jahrhundert erließ der Staat landwirtschaftliche Schutzzölle sowie Steuer- und Exportvergünstigungen für bestimmte Agrarprodukte. Vgl. dazu Rita Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und Protektionismus: Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879 – 1914 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002), besonders 113 – 173. Im 20. und 21. Jahrhundert haben sowohl staatliche als auch supranationale Einrichtungen eine Vielzahl von Beihilfen an die landwirtschaftlichen Betriebe vergeben, was die Großunternehmer/innen systematisch begünstigt und zu einem fast vollständigen ‚Absterbenʻ der kleinen Höfe geführt hat. Hintergrund dieser Praxis ist die schlussendlich vom EuGH bestätigte Auffassung, dass solche Beihilfen keine Wettbewerbsverfälschung im Landwirtschaftssektor darstellen, weil die Vergabe allgemeinen Kriterien gehorcht.Vgl. Nicolas Jung, Die Vergabe von Unionsbeihilfen. Dargestellt am Beispiel der Landwirtschaftssubventionen der Europäischen Union (Baden-Baden: Nomos, 2018), 37– 39.  Vgl. allgemein für das 19. Jahrhundert Louis Bergeron, François Furet & Reinhart Koselleck, Das Zeitalter der europäischen Revolutionen 1780 – 1848 (Frankfurt: Fischer, 1969), insbesondere 308 – 319. Vgl. für das 20. Jahrhundert die Auflistung von Beispielen durch den Deutschen Gewerkschaftsbund https:// www.dgb.de/uber-uns/bewegte-zeiten/geschichte-des-dgb/gewerkschaftsgeschichte-in-zahlen/++co+ +41f779fa-a7ab-11e9-9f88-52540088cada (zuletzt besucht am 01.12.22). Vgl. für ein jüngeres Beispiel des Protests gegen die Agrarsubventionen für landwirtschaftliche Großbetriebe https://www.zeit.de/politik/ deutschland/2019-01/agrarpolitik-landwirtschaft-demonstration-wir-haben-es-satt-berlin (zuletzt besucht am 01.12.22).  Der (Marxʼsche) Begriff der ‚Praxisʻ ist dahingehend komplex, als er sich sowohl auf die Arbeit der Werktätigen, den gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess sowie die damit verbundenen Bewusstseinsformen bezieht. Vgl. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O., 187– 322, 286; vgl. zur Erläuterung auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis (Freiburg: Alber, 2018), besonders 76 – 98.  Vgl. allgemein dazu Marx & Engels, Manifest der kommunistischen Partei, a.a.O., 480 – 481; vgl. für ein aktuelles Bild der Orientierung der Gesetzgebung an (wirtschaftlichen) Partikularinteressen Lea Elsässer,

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Ohne gesellschaftliche Versöhnung bliebe jede öffentliche Ordnung unvernünftig: „Wir hätten dann [solange noch] nicht eine gesetzgebende Gewalt des Staatsganzen, sondern die gesetzgebende Gewalt der verschiedenen Stände und Korporationen und Klassen über das Staatsganze. Die Stände der bürgerlichen Gesellschaft empfingen keine politische Bestimmung, sondern sie bestimmten den politischen Staat. Sie machten ihre Besonderheit zur bestimmenden Gewalt des Ganzen. Sie wären die Macht des Besondren über das Allgemeine.“²⁶³ Im kritischen Vorstellungsraum war die Arbeitsweise des bürgerlichen Rechtsstaats und seiner Institutionen auch im 20. Jahrhundert nicht geprägt von einer Versöhnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. „Von der Durchsetzung einer umfassenden staatsbürgerlichen Gleichheit zwischen Adel und Bürgertum einerseits, Bürgertum und Unterschicht andererseits kann bis 1918 nicht gesprochen werden, vom fehlenden Frauenstimmrecht ganz abgesehen. Auch was die Karrieren und die gesellschaftlichen Konventionen angeht, blieben die Schranken hoch.“²⁶⁴ Hundert Jahre später hat sich an diesem Umstand immer noch nichts geändert. Wenngleich mehr politische Gleichheit herrscht, insofern das allgemeine Wahlrecht für alle Staatsbürger/innen unter denselben Voraussetzungen gilt, ist die formale politische Gleichheit nicht gleichbedeutend mit einer politischen Gleichstellung. Die bürgerliche Gesellschaft hat auch und gerade im 20. Jahrhundert Mittel und Wege gefunden, die politische Einflussnahme der großen Mehrheit innerhalb und außerhalb staatlicher Räume de facto signifikant zu beschränken. „Vermittelnde Instanzen bilden vor allem die Partei, die Organe der öffentlichen Meinung, die Massenmedien, Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen, viele andere mehr. Die Massenmedien wiederum wirken auf die Beziehung der Partei zur Regierung und zu den Bürgern, die Parteien auf die Massenmedien. […] In den Massenmedien […] setzen sich […] massive Interessen durch. Sie sind auf Popularität, das Wohlwollen einer Reihe von Instanzen, auch die Wirtschaft, angewiesen.“²⁶⁵ Die formale politische Gleichheit hilft in erster Linie dabei, die realweltlichen Diskriminierungen zu überdecken, die sich darin ausdrücken, dass Bürger/innen wählen können, die gewählten Repräsentant/innen aber de facto unter dem Zwang der Fraktionsdisziplin und damit der Willkür von Parteieliten stehen²⁶⁶, deren hauptsächliche Motivation wiederum im Machterhalt der Partei und damit ihrem Zugriff auf Posten und staatliche Versorgungsleistungen besteht; dass Bürger/innen sich zwar prinzipiell wählen lassen können, aber de facto eine mit jeder persönlichen Mündigkeit unvereinbare innerparteiliche ‚Ochsentourʻ bewältigen müssen, um sich als Kandidat/in

Svenja Hense & Armin Schäfer, ‚Dem Deutschen Volkeʻ? Die ungleiche Responsivität des Bundestags, Zeitschrift für Politikwissenschaft 27:2 (2017), 161– 180.  Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx Werke, a.a.O., 5 – 137, 100.  Stolleis, Konstitution und Intervention, a.a.O., 254.  Max Horkheimer, Macht und Gewissen, a.a.O., 154.  Vgl. zum Forschungsstand mit Blick auf den Deutschen Bundestag, Danny Schindler, Politische Führung im Fraktionenparlament: Rolle und Steuerungsmöglichkeiten der Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag (Baden-Baden: Nomos, 2019), besonders 24– 33.

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der Partei für ein Mandat auf Landes- oder Bundesebene zu qualifizieren²⁶⁷; dass die politischen Parteien für den Stimmenwettbewerb zwar regelmäßig ambitionierte Ziele für die Zukunft formulieren, aber im Gesetzgebungsprozess de facto große Abstriche zugunsten mächtiger Partikularinteressen machen (müssen)²⁶⁸; dass die Besetzung politischer und administrativer Ämter durch die politischen Parteien zwar eine gewisse Eignung der Kandidat/innen voraussetzt, aber die Vergabe de facto von innerparteilichen ‚Verdienstenʻ, persönlichen Verbindungen und parteipolitischen Kalkülen abhängt²⁶⁹; dass die Ministerialbürokratie zwar als Anlaufstelle für alle organisierten gesellschaftlichen Interessen fungiert, aber bei der Arbeit an Gesetzentwürfen und/oder Durchführungsbestimmungen de facto die Partikularinteressen mächtiger Banken- und Industrieverbände ihren Niederschlag finden²⁷⁰; dass die Spitzen der Verwaltung in Staat und Industrie zwar mit fachlich qualifizierten Leistungseliten beider Geschlechter besetzt werden sollen, die Personalauswahl sich aber de facto nach der Herkunft und/ oder der Parteizugehörigkeit richtet und grundsätzlich die (männlichen) Angehörigen der privilegierten bürgerlichen Schichten bevorzugt²⁷¹.  Vgl. Daniel Hellmann, Der mühselige Weg zum Mandat – aber welcher? Empirische Untersuchungen zu Inhalt und Bedeutung der Ochsentour, Zeitschrift für Parlamentsfragen 51:1 (2020), 49 – 67.  Vgl. dazu allgemein Michael Kloepfer, Gesetzgebungsoutsourcing, in: St. Lejeune (Hg.), Interessengeleitete Gesetzgebung: Lobbyismus in der Demokratie (Baden-Baden: Nomos, 2015), 29 – 40, sowie die Beiträge von Jürgen Trittin und Thomas von Winter in diesem Handbuch. Vgl. am Beispiel des ‚Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohnsʻ (Mindestlohngesetz – MiLoG), Christoph Butterwegge, Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition (Wiesbaden: Springer VS, 2016), 23: „Vergleicht man den Ursprungsentwurf mit dem endgültigen Gesetzestext, wird überdeutlich, wie stark die Arbeits- und Sozialministerin unter Druck geraten und dass es dem Wirtschaftsflügel der Union, den Unternehmerverbänden und der Verlegerlobby gelungen ist, das Mindestlohngesetz vor seiner Verabschiedung durch massive Einflussnahme aufzuweichen. Dies gilt besonders im Hinblick auf zusätzlich eingefügte Ausnahme- und Übergangsregelungen für einzelne Branchen bzw. Personengruppen, etwa Zeitungszusteller/innen und Erntehelfer/innen. Obwohl es den Wirtschaftsverbänden nicht gelang, unterschiedliche Lohnuntergrenzen für Ost- und Westdeutschland durchzusetzen, ist der großkoalitionäre Mindestlohn keineswegs ‚flächendeckendʻ, gleicht er doch einem Flickenteppich, was Kontrollen hinsichtlich seiner Einhaltung erschwert und Gesetzesverstöße erleichtert.“  Vgl. Georg Eckert, Politische Führung. Eine Einführung (Wiesbaden: Springer VS, 2019), 29: „[J]ede Postenvergabe folgt auch formellen sowie informellen Proporzregelungen und Macht-Kalkülen wie demjenigen, bisherige Rivalen in die Kabinettsdisziplin einzubinden oder beispielsweise durch die scheinbar ehrenvolle Beförderung in aussichtslose Ministerien (besonders beliebt in Deutschland: das Verteidigungsministerium) zu entmachten. Fachliche Qualifikation ist meist eher Zufallsnutzen als Voraussetzung für herausgehobene Ämter.“  Vgl. am Beispiel der ‚Energiewendepolitikʻ, Maximilian Schiffers, Lobbyisten am runden Tisch. Einflussmuster in Koordinierungsgremien von Regierungen und Interessengruppen (Wiesbaden: Springer VS, 2019), 143 – 166.  Vgl. Michael Hartmann, Eliten in Deutschland: Rekrutierungswege und Karrierepfade, Aus Politik und Zeitgeschichte B 10 (2004), 17– 24, 20: „In den Chefetagen der Großkonzerne und an den Bundesgerichten dominieren die Söhne des Bürgertums und vor allem des Großbürgertums ganz eindeutig. Beim Weg in die Chefetagen der 400 führenden Großkonzerne sind die Söhne des gehobenen Bürgertums doppelt, die des Großbürgertums sogar mehr als dreimal so erfolgreich wie jene aus der breiten Be-

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Die Bewegungen hinter den Kulissen sorgen für eine systematische Verzerrung der demokratischen Partizipation, die sich nicht durch ein paar populäre Reformen des politischen Systems im Sinne ‚direktdemokratischerʻ Elemente verbessern lässt. Im kritischen Vorstellungsraum haften dem bürgerlichen Rechtsstaat strukturelle Probleme an, die unlösbar bleiben, solange über die Imprägnierung der bürgerlichen Ordnung durch die kapitalistisch organisierte Gesellschaft noch nicht einmal nachgedacht wird. Die Probleme der bürgerlichen Ordnung sind auch keineswegs trivial, denn sie liegen z. B. nicht lediglich darin, dass dem liberalen Bürgertum der Zugang zur politischen Macht in der Geschichte nicht stärker eröffnet worden ist – ‚dasʻ liberale Bürgertum existierte nie als ein kollektiver Akteur mit ‚vernünftigenʻ Interessen gegenüber der Gesamtgesellschaft, sondern war selbst stets ein heterogenes Gebilde konkurrierender Gruppen. Genau deshalb wäre zu klären, warum der alte weltanschauliche Liberalismus mit seinem Plädoyer für die (humanistische) Persönlichkeitsbildung und dem dazugehörigen Schutz der Grund- und Menschenrechte im Unterschied zum kommerziellen Liberalismus der ‚freienʻ Wirtschaftstätigen so ohnmächtig geblieben ist, dass letztere ihre Privilegien über die Bündelung von Marktmacht, Kartellabsprachen, Verbandslobbyismus und eine Verflechtung mit den Apparaten des Staates sowie der inter-, supra- und transnationalen Organisationen ständig vergrößern konnten Die genannten Probleme rühren auch nicht lediglich daher, dass der bürgerliche Rechtsstaat sich zu wenig aus dem kapitalistischen Verwertungsprozess herausgehalten und nur mit erheblichen Abstrichen eingerichtet worden ist²⁷² – öffentliche Einrichtungen waren zu jedem Zeitpunkt und in diversen Funktionen an der industriellen Wirtschaftsförderung beteiligt, nicht selten in direkter Verbindung mit den einflussreichsten Klientel des Bürgertums, die ihrerseits zu keinem Zeitpunkt die Bereitschaft (und den Mut) hatten, sich als Nutznießer staatlicher Zuwendungen wirklich unabhängig vom Staat und seinen diversen Leistungen zu machen. Wenn sich z. B. ‚der Staatʻ bereits im 19. Jahrhundert „[…] keineswegs auf einen Laissez-faire-Standpunkt zu-

völkerung. Der Nachwuchs von leitenden Angestellten schafft den Sprung nach oben sogar zehnmal häufiger als Arbeiterkinder. Bei den Spitzenpositionen der Justiz sieht es ähnlich aus. Während in der Justizelite im weiteren Sinne noch fast jeder zweite promovierte Jurist aus der breiten Bevölkerung kommt, gilt das nur noch für ein Drittel der Bundesrichter und gerade noch für einen von acht an den (nach dem Bundesverfassungsgericht) beiden wichtigsten Bundesgerichten: dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverwaltungsgericht. Die Sprösslinge des Großbürgertums stellen unter den Promovierten dagegen mehr als ein Viertel der Bundesrichter und im Falle dieser beiden Bundesgerichte sogar über ein Drittel der Richter. Von den promovierten Juristen aus großbürgerlichen Familien ist fast jeder dritte Bundesrichter geworden. Soziale Aufsteiger findet man umso seltener, je wichtiger und machtvoller die Position ist [!]. Bei den Söhnen des gehobenen und vor allem des Großbürgertums sieht es genau umgekehrt aus. In der Elite im engeren Sinne sind sie besonders stark vertreten.“  Vgl. in diesem Sinn aber Stolleis, Konstitution und Intervention, a.a.O., 257. Tatsächlich wurden ja in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus wesentliche Institutionen des Rechtstaates im Kaiserreich verankert. Vgl. dazu auch Dietmar Willoweit & Steffen Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 8. überarb. und erw. Auflage (München: Beck, 2019), 291.

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rück[zog, … sondern] intensive Wirtschaftsförderung bis hin zur staatlich unterstützten Industriespionage in Belgien und England [betrieb]“²⁷³, dann war das nicht lediglich ein isolierter Einzelfall aus der Geschichte des Deutschen Reichs, sondern ein Beispiel dafür, wie die Staatsapparate aller entwickelten Industriestaaten die gedeihliche Entwicklung der auf ihrem Gebiet ansässigen Banken und Großkonzerne seit eh und je mit legalen und illegalen Mitteln befördert haben²⁷⁴. Und eben diese Funktion des Staates bietet im kritischen Denken Anlass für die Schlussfolgerung, dass der bürgerliche Rechtsstaat mit seinen Institutionen in erster Linie für den Kapitalverwertungsprozess geschaffen wurde, und dass sich die Kapitalakkumulation ohne ein entsprechendes Zutun des Staates in dieser Form gar nicht hätte vollziehen können. Die genannten Probleme rühren auch nicht daher, dass der bürgerliche Rechtsstaat und seine Institutionen immer ‚nurʻ „[…] in einer halbfeudalen […] und nie bis an die Wurzel liberalisierten Gesellschaft“²⁷⁵ verortet gewesen ist – ‚derʻ bürgerliche Rechtsstaat ist schon immer die institutionelle Manifestation einer quasi-feudalen Vergesellschaftung gewesen, die mit dem Durchschlag der industriellen Revolution einen zivilisatorischen Fortschritt der Gesamtgesellschaft/en verhindern musste, damit die materiell privilegierten Kreise aus dem vormaligen Adel sich nicht von Staats wegen dazu veranlasst sehen, allen Menschen auch de facto mit einer Achtung ihrer Grundund Menschenrechte zu begegnen oder gar ihre je persönliche Menschenwürde zu respektieren²⁷⁶. Die doppelgesichtige Gestalt der liberalen Gesellschaft und des bürgerlichen Rechtsstaats existierten weder für das Bürgertum noch für die höheren Staatsbeamten jemals als ein ‚vernünftigerʻ Begriff in dem Sinn, wie er von Kant und Hegel propagiert worden war²⁷⁷. Deswegen folgte seine Entwicklung auch unweigerlich solchen Pfaden, die im Feudalabsolutismus mit Blick auf die ‚beschränkten Untertanenʻ gelegt worden waren; die sich heute in so abschätzigen Begriffen wie ‚Humankapitalʻ und ‚natürliche Ressourcenʻ erkennen lassen; und die eine geschäftsmäßige Vernichtung von Mensch und Umwelt zugunsten von Macht und/oder Profit durch die eingeübte  Stolleis, Konstitution und Intervention, a.a.O., 257.  Vgl. dazu u. a. Christian Schaaf, Industriespionage: der große Angriff auf den Mittelstand (Stuttgart: Boorberg, 2009), besonders 11– 30 zur Geschichte der privat und öffentlich betriebenen Wirtschaftsspionage sowie 33 – 51 zur Rolle der ausländischen Geheimdienste in Deutschland. Vgl. für eine USamerikanische Sicht auf dasselbe Phänomen, Steven Fink, Sticky Fingers: Managing the Global Risk of Economic Espionage (Chicago: Dearborn, 2002), der anhand von Beispielen (52– 55) auch auf die rituelle Entrüstung des staatlichen Personals über die Spionage der jeweils anderen verweist.  Stolleis, Konstitution und Intervention, a.a.O., 259.  Eines von vielen möglichen Beispielen ist der weitgehend recht- und würdelose Status von sogenannten ‚Wanderarbeiter/innenʻ in landwirtschaftlichen Betrieben und der Fleischindustrie. Vgl. dazu Kathrin Birner, Die modernen Wanderarbeiterʼinnen: Arbeitsmigrantʼinnen im Kampf um ihre Rechte (Münster: Unrast, 2021), besonders 23 – 70.  Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, a.a.O., 133, der den bürgerlichen Rechtsstaat dort als einen Staat definiert, „[…] welcher seiner Form wegen, als verbunden durch das gemeinsame Interesse aller, im rechtlichen Zustande zu sein, das gemeine Wesen (res publica latius sic dicta) genannt wird […].“ Und auf 136: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können.“

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Bagatellisierung entsprechender Praktiken mit Hilfe solcher Begriffe wie ‚Systemwettbewerbʻ als unvermeidlich und normal ausweisen²⁷⁸. Im kritischen Denken liegt das Problem des bürgerlichen Rechtsstaats darin, dass Bürgertum und Adel schon im frühen 19. Jahrhundert eine symbiotische Beziehung eingegangen waren, um ihre Interessen gegen die Ansprüche der Bevölkerungsmehrheit besser verteidigen zu können; dass sich die bürgerlichen und adligen Schichten im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf der Basis ihrer exklusiven Ansprüche gegenüber ‚dem Pöbelʻ immer weiter annäherten und schließlich sogar integrierten²⁷⁹; und dass die daraus entstehende ‚gemischteʻ Schicht nicht nur im Fall Preußens bzw. des Deutschen Reichs²⁸⁰ zur herrschenden Elite wurde, wenngleich sich ihre jeweilige Formierung über die Grenzen hinweg mit unterschiedlichen kulturellen Konnotationen vollzog²⁸¹. „Die[se] Herrschaft der Bourgeoisie findet ihren Ausdruck sowohl in der Abhängigkeit der Regierungen von den Banken und kapitalistischen Gruppierungen als auch in der Abhängigkeit jedes einzelnen Arbeiters von seinem Arbeitgeber sowie darin, daß der Staatsapparat in seinem Personalbestand mit der herrschenden Klasse verwachsen ist.“²⁸² Aufgrund dieser Institutionalisierung einer genuin politischen Stratifizierung hat der bürgerliche Rechtsstaat seit dem 19. Jahrhundert die Privilegien der (groß)bürgerlichen Schichten gewahrt und entsprechende Interessen befriedigt; und zwar unab-

 Vgl. etwa Andreas Mayert, Menschengerechte Arbeit in der Fleischindustrie?, Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 72:3 (2018), 208 – 212, zur ‚Ausbeutungʻ der Werkvertragsarbeiter/innen in der deutschen Fleischindustrie. Insbesondere 210 – 211: Das auch vom EuGH durch seine ‚wettbewerbsfreundlicheʻ Spruchpraxis zumindest indirekt beförderte Geschäftsmodell hat zu einer völligen Dehumanisierung der Fleischproduktion beigetragen. Die Entsendebetriebe „[…] verschaffen sich im Konkurrenzkampf um Aufträge Vorteile dadurch, dass sie ihren Beschäftigten mit einer Vielzahl von Taktiken Teile ihres Lohnes entziehen, sie gefährlichen bis unverantwortlichen Arbeitsbedingungen aussetzen, ihnen bei Krankheit oder Arbeitsunfällen kündigen, sie unter menschenunwürdigen Bedingungen am Arbeitsort unterbringen und dafür noch hohe Mieten verlangen. Sie nutzen dabei gnadenlos die strukturelle Schwäche von Werkvertragsarbeitnehmern aus, die dringend auf ihre geringen Löhne angewiesen sind, die aufgrund fehlender deutscher Sprachkenntnisse und Unwissen über das deutsche Arbeitsrecht ihre Ansprüche nicht kennen, die in wohnbedingter Abhängigkeit von ihrem Arbeitgeber stehen, bei Kündigung obdachlos werden und denen systematisch Dokumente vorenthalten werden, mit denen sie ihre Ansprüche überhaupt nachweisen könnten. Völlig zu Recht wird in diesem Zusammenhang von Ausbeutung gesprochen. Dass es sich bei diesen Praktiken um eine aus sozialethischer Sicht strengstens abzulehnende, dehumanisierende Verzwecklichung von Arbeitnehmern handelt, deren Menschenwürde nicht in Ansätzen beachtet wird, ist unwiderlegbar. Ein Mindestmaß an unternehmerischer Moral ist nicht vorhanden.“  Vgl. Stolleis, Konstitution und Intervention, a.a.O., 257.  Vgl. Roberto Mangabeira Unger, Law in Modern Society, . Toward a Criticism of Social Theory (New York: Free Press, 1976), 190: „The same was true, to a lesser extent, of the English rule of law.“  Vgl. Werner Mosse, Adel und Bürgertum im Europa des 19. Jahrhunderts. Eine vergleichende Betrachtung, in: J. Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich. Eine Auswahl. Band 3: Verbürgerlichung, Recht und Politik (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995), 9 – 47.  Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, H. Klenner & L. Mamut (Hg.) (Freiburg: Haufe, [1929] 1991), 143.

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hängig von den sich verändernden Formen bzw. Zuschreibungen²⁸³, je nachdem, ob es für diese Schichten angesichts konkreter Herausforderungen einen Anlass dazu gab. Im 20. Jahrhundert bestand die größte Herausforderung für die (groß)bürgerlichen Eliten darin, die breite Masse der Bevölkerung stärker zu beteiligen, um zu verhindern, dass der bis dahin allenfalls proto-demokratische Rechtsstaat den proletarischen Angriffen endgültig zum Opfer fällt. „Daß diese [bürgerliche] Demokratie auf ‚Bildung und Besitzʻ beschränkt blieb, konnte von einer Zeit gerechtfertigt werden, in welcher der Besitz noch gebildet und die Bildung noch besitzend war. Das mußte sich im Zeitalter des entwickelten und organisierten Kapitalismus grundlegend ändern. Ein sich beständig vermehrendes Proletariat erwacht zum Selbstbewußtsein und macht die Forderung der bürgerlichen Demokratie in Gestalt der sozialen Demokratie zu seiner eigenen.“²⁸⁴ Allerdings spielte es für die Funktionsweise des bürgerlichen Rechtsstaats überhaupt keine Rolle, ob die demokratischen Partizipationsmöglichkeiten ausgeweitet worden sind: „Was [seitdem] als Liberaldemokratie bezeichnet wird, findet seine wahre Beschaffenheit in einem politischen Zustand, der von der Verfassung selbst festgeschrieben wird. Ihre richtige Bezeichnung lautet: konstitutionelle Oligarchie. Alle andere Bezeichnung fällt in den Bereich einer fraglos sinnvollen, weil konsensbildenden und damit friedensstiftenden, lügenhaften Publizität.“²⁸⁵ Denn zusätzlich zu den bereits genannten Formen der Einflussnahme auf Gesetzgebung und –vollzug sowie die staatliche Rechtsprechung haben die privilegierten (groß)bürgerlichen Kräfte verstärkt informelle Mechanismen sogenannter Expertengremien²⁸⁶ und beratender Ausschüsse sowie inter-, supra- und transnationale Institutionen der Politikkoordinierung für sich genutzt²⁸⁷. Im Ergebnis vollzieht sich die Ausübung von Herrschaft im bürgerlichen Rechtsstaat prinzipiell in den Formen, die seit dem 19. Jahrhundert eingerichtet worden sind: die privilegierten Klientel der Gesellschaft/en sind direkt und indirekt an der staatlichen, inter- und supranationalen Entscheidungsfindung beteiligt²⁸⁸ und beeinflussen die relevanten Verfahren, um den materiell-rechtlichen Inhalt aller wichtigen Regelungen und

 Vgl. Schmidt, Demokratietheorien, a.a.O., 221, der z. B. zwischen ‚liberalemʻ und ‚sozialemʻ Rechtsstaat unterscheidet.  Hermann Heller, Rechtsstaat und Diktatur (Tübingen: Mohr, 1930), 7.  Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften (Hamburg: Konkret, 2004), 208. (Hbg. im Original)  Vgl. dazu u. a. Sebastian Botzem & Judith Hesselmann, Gralshüter des Ordoliberalismus? Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als ordnungspolitischer Fluchtpunkt bundesrepublikanischer Politikberatung, Leviathan 46:3 (2018), 402– 431.  Vgl. dazu mit Blick auf die Integration des europäischen Binnenmarkts, Christopher Schoenfleisch, Integration durch Koordinierung?: Rechtsfragen der Politikkoordinierung am Beispiel der nationalen Wirtschaftspolitiken (Tübingen: Mohr, 2018), besonders 37– 77.  Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, a.a.O., 143, schrieb davon, dass „[…] der Staatsapparat in seinem Personalbestand mit der herrschenden Klasse verwachsen ist.“

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Beschlüsse mitzubestimmen²⁸⁹. Das alles überragende Ziel liegt im Schutz des bürgerlichen Eigentums, was angesichts seiner vielfältigen Dimensionen²⁹⁰ ein hochkomplexes Projekt geworden ist, das dauerhafte Aufmerksamkeit beansprucht. Im Zusammenspiel einer Vielzahl von unsichtbaren technokratischen Gremien auf innerstaatlichen und inter-, supra- bzw. transnationalen Ebenen wird so „[…] die immanente Rationalität von Wirtschaftsprozessen den Rationalitätskriterien des Verfassungsrechts [und damit auch des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses] vorgeordnet.“²⁹¹ Aufgrund dieser Inklusion der privilegierten (groß)bürgerlichen Schichten in den Rechtsstaat und dessen Ausrichtung an den materiellen Interessen der privilegierten bürgerlichen Schichten herrscht sowohl in der staatlichen als auch der inter- bzw. supranationalen Politik das ‚Primat der Ökonomieʻ; gleichzeitig benötigt die kapitalistische Produktionsweise den Rechtsstaat und seine Institutionen als politische Form/en, um der faktischen ‚Herrschaft des Kapitalsʻ Effektivität und Legitimität zu verleihen²⁹². Der Staat bzw. seine Pendants auf den inter-, supra- und transnationalen Ebenen schlüpfen daher nicht selbst in die Rolle von ‚Gesamtkapitalistenʻ, sondern erscheinen im offiziellen Bild als von Ökonomie und Gesellschaft unabhängige institutionelle Gefüge, die lediglich aus formalen Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren bestehen. Diese Paradoxie liegt darin begründet, dass die Herrschaft im Rechtsstaat tatsächlich und in einem ‚empirischenʻ Sinn durch formale Rechts- bzw. Verwaltungsakte ausgeübt wird, insofern staatliche Beschlüsse und Bestimmungen, aufgrund ihrer abstrakt gehaltenen Fachsprache, keine natürliche und juristische Person direkt begünstigen, sondern prinzipiell alle gleich behandeln und daher als interessenunabhängig wahrgenommen werden können. Überdies werden im offiziell sanktionierten Bild die vom Rechtsstaat geschützten Interessen als allgemeine, nämlich an ‚Friedenʻ, ‚Freiheitʻ und ‚Fortschrittʻ orientierte, nicht als parteiliche und exklusive Interessen deklariert, was nicht zuletzt daran liegt, dass höhere Staatsbeamte und meinungsbildende Eliten grundsätzlich eine systemaffirmative Haltung an den Tag legen und persönlich davon überzeugt sein können, dass die rechtsstaatlichen Garantien des bürgerlichen Eigen-

 Das geht seit den Anfängen der Wohlfahrtsstaatlichkeit in den 1920er Jahren so weit, dass „[…] cartels and professional associations continued to produce their own internal law. The law of the corporate bodies was to be independent in source and application from both the administrative and the judicial bureaucracy. This resulted in what has been called a ‚destatizationʻ (Entstaatlichung) of law.“ Unger, Law in Modern Society, a.a.O., 177.  Vgl. Peter Badura, § 10 Eigentum, in: E. Benda (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Berlin: de Gruyter, 1994), 327– 390, 329: „Geldforderungen, Aktien, Urheberrechte, privat- und sozialversicherungsrechtliche Anwartschaften und Ansprüche und andere vermögenswerte Rechte haben wirtschaftlich vergleichbare Bedeutung wie das Eigentum an Sachen. In einem weiteren Sinn ist ‚Eigentumʻ jedes vermögenswerte Recht. Dieser weite, materielle Begriff des Eigentums ist auch Gegenstand der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie (Art. 14 GG).“  Ingeborg Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus (München: Fink, 1986), 234.  Vgl. zu dieser Funktion der politischen Formen, obgleich noch stärker am bürgerlichen Rechtsstaat orientiert, Agnoli, Die Transformation der Demokratie, a.a.O., 206.

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tums aufgrund ihrer trickle-down Effekte tatsächlich als Realisierung allgemeiner Interessen anzusehen sind. In den konventionellen geschichtlichen und zeitgenössischen Betrachtungen des bürgerlichen Rechtsstaats dominiert ein ‚juristischer Blickʻ, gemäß dem der Staat als eine selbständige ‚souveräneʻ Kraft wahrgenommen wird²⁹³. Mit der bürgerlichen Unterstellung, dass der Staat nicht nur unabhängig von gesellschaftlichen Kräften existiert, sondern diesen als ein neutraler Wirkungsmechanismus gegenübersteht, wird die real existierende Form des Staates mit dem vernünftigen Begriff verwechselt. Der real existierenden Form werden Eigenschaften zugeschrieben, die der bürgerliche Rechtsstaat in seiner bisherigen Geschichte aufgrund seiner Einbettung in eine fragmentierte und stratifizierte Feudalgesellschaft zu keinem Zeitpunkt entwickeln konnte: eine neutrale Maschinerie mit aufeinander bezogenen Mechanismen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts zu sein. Nachdem der bürgerliche Rechtsstaat in seiner realen Existenz immer das gewesen ist, was die privilegiertesten Akteure in ihrem Kampf gegen die schwächer organisierte Bevölkerungsmehrheit aus ihm gemacht haben, folgt daraus für die bürgerliche Ordnung: „This structure of group domination ensures that an order will in fact be imposed.“²⁹⁴ Die einzig offene Frage ist, wie das Mischungsverhältnis zwischen Zwang und Konsens ausfällt, was wiederum ein Licht auf die Funktion der ‚organischen Intellektuellenʻ wirft.

Kritisches Denken sieht die bürgerliche Ordnungsillusion als das Werk organischer Intellektueller Die Legitimität der bürgerlichen Ordnung/en beruht auf der ‚Akzeptanzʻ ihrer politischen und gesellschaftlichen Institutionen durch die Gesamtgesellschaft/en. Die Ausübung von Herrschaft darf nicht von zu vielen als ungerecht, willkürlich, oder gar bedrohlich empfunden, sondern muss als sinnvoll, notwendig und sachlich begründet eingeschätzt werden. Innerstaatlich spielen die politischen Parteien und besonders die Mitglieder der jeweiligen Parteiführung eine wichtige Rolle bei der Herstellung einer allgemeinen ‚Zustimmungʻ. Sie sind nach langen Jahren des parteiinternen Aufstiegs in der Regel vollständig in ihre jeweilige Partei inkorporiert und können auf Außenstehende überzeugend wirken, weil sie die offizielle Parteilinie verinnerlicht haben und mithin sogar glauben, was sie in dieser Rolle emphatisch vertreten. Als hochrangige Mitglieder von weit verzweigten ‚Volksparteienʻ mit einer schwindenden, aber relativ stabilen Wählerbasis leben sie im Bewusstsein um eine gewisse Nähe zur Staatsmacht und es kommt nicht selten vor, dass sich neben den Mandatsträgern auch die führenden

 Vgl. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, a.a.O., 154– 155.  Unger, Law in Modern Society, a.a.O., 174.

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Parteifunktionäre (Fraktionsspitzen, Parteivorstände und Generalsekretäre) schon selbst in einem gewissen Sinn für den Staat halten²⁹⁵.

Parteispitzen als organische Intellektuelle Die rechtzeitige und wiederholte Kommentierung rechtspolitischer Maßnahmen durch eloquente Parteispitzen in den Medien trägt dazu bei, Gesetze in der öffentlichen Resonanz als angemessene und gemeinwohlförderliche Instrumente aussehen zu lassen. Prädestiniert dafür sind die Spitzen der Regierungspartei/en. Die Opposition spielt dabei eine wichtige Rolle, solange ihre Kritik an der Regierungspolitik nicht einhergeht mit dem Versuch der gezielten Aufdeckung klientilistischer Entscheidungen. Die Stoßrichtung rechtspolitischer Maßnahmen wird in bürgerlichen Ordnung/en von den politischen Parteien selten grundsätzlich infrage gestellt, weil sich selbst die parlamentarische Opposition zumeist innerhalb der terms of debate bewegt und so zur Entstehung einer ‚informellen großen Koalitionʻ beiträgt²⁹⁶. Sowohl die Angehörigen der Regierungsparteien als auch diejenigen der Opposition treten aufgrund ihrer apologetischen Funktion im politischen System als ‚organische Intellektuelleʻ auf, d. h. als „[…] ‚Gehilfenʻ der herrschenden Gruppe bei der Ausübung der subalternen Funktion der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung.“²⁹⁷ Im Prinzip wiederholt sich diese Dynamik auf allen Ebenen der inter-, supra- und transnationalen Entscheidungsfindung, da sich auch dort die jeweilige Opposition, d. h. die von der Mehrheit abweichenden Delegierten nationaler Regierungen, selten durch wirkliche Kritik hervortun und als ‚institutionalisierteʻ bzw. ‚integrierte Oppositionʻ²⁹⁸ beschrieben werden können.

Jurist/innen als organische Intellektuelle Jurist/innen spielen aufgrund der zunehmenden Verrechtlichung bürgerlicher Ordnung/ en eine zunehmend wichtige Rolle, sei es auf der Ebene inter-, supra- und transnationaler Organisationen, oder sei es im Staatsdienst. Ihre Funktion besteht darin, die faktischen Einschränkungen und Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft/en als gesetzlich

 Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 12, a.a.O., § 1.  Vgl. Schmidt, Das Politische System, a.a.O., 56.  Gramsci, Gefängnisheft 12, a.a.O., § 1.  Vgl. Isabelle Ley, Opposition im Völkerrecht. Ein Beitrag zur Legitimation internationaler Rechtserzeugung (Heidelberg: Springer, 2015), 190: „Ein wichtiger Unterschied zwischen institutionalisierter Opposition oder Alternativität und einer Neuauflage des naturrechtlichen Widerstandsrechts besteht darin, dass integrierte Opposition berechtigt ist, Rechtsetzungsvorhaben anzustoßen und weiterhin die Aussicht auf Durchsetzung ihrer Positionen für die Zukunft hat.“

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garantierte ‚Freiheitenʻ erscheinen zu lassen²⁹⁹. Die von Staats wegen angestrebte Konformität der Bürger/innen mit Blick auf Bildung, Beruf und Lebensführung wird offiziell nicht durch ‚Verboteʻ, sondern durch die Allgegenwart von rechtlich garantierten ‚Grundfreiheitenʻ und Entfaltungschancen hergestellt. Die richterliche Funktion gewinnt in diesem Zusammenhang enorme Bedeutung, da Gerichte Anlaufstellen für Beschwerden sind und als höchste Kontrollinstanzen die Rechtmäßigkeit gesetzlicher Maßnahmen prüfen. Verfassungsrichter/innen können den Gesetzgeber im Fall einer Inkonsistenz sogar dazu anhalten, innerhalb bestimmter Fristen die Vereinbarkeit zwischen Gesetz und Verfassung herzustellen. Das damit bezweckte Ergebnis besteht nicht nur darin, die rechtspolitischen Maßnahmen zu verbessern, sondern der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, die rechtliche Ausgestaltung der gesellschaftlichen Sphäre stünde jederzeit unter der Kontrolle unabhängiger Gerichte. Um diese Wirkung zu erzielen, informiert auch die mediale Berichterstattung über richterliche Entscheidungen, inklusive einer ‚sachverständigenʻ Einschätzung durch kompetente Journalist/ innen bzw. ‚unabhängigeʻ Rechtsexpert/innen. Gerichtliche Kontrollen legislativer und administrativer Entscheidungen suggerieren den Bürger/innen Sicherheit, nicht nur angesichts der schieren Flut von rechtspolitischen Maßnahmen sowie ihrer für den Laien unmöglichen Lesbarkeit³⁰⁰, sondern auch angesichts der oft extrem mangelhaften Qualität zentraler Textpassagen. Viele rechtspolitische Maßnahmen werden vom Gesetzgeber bzw. den im Vorfeld mit der Formulierung beauftragten Anwälten³⁰¹ ‚schlechtʻ formuliert, sei es aus Fahrlässigkeit, Inkompetenz oder Kalkül, und zwar entweder in dem Sinn, „[…] daß nahezu jedes Gesetz von Anfang an lückenhaft ist […]“³⁰²; oder in dem Sinn, dass die mit einem Gesetz

 Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 13, a.a.O., §7.  Vgl. Hans-Jürgen Papier, Die Warnung: Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Deutschlands höchster Richter a.D. klagt an (München: Heyne, 2019), 16.  Vgl. dazu Kloepfer, Gesetzgebungsoutsourcing, a.a.O., 32: „Selbst wenn auch ein von Rechtsanwälten erarbeiteter Gesetzentwurf zunächst noch vom Minister gebilligt, danach vom Kabinett beschlossen und schließlich vor allem noch das verfassungsrechtlich geordnete Gesetzgebungsverfahren durchlaufen muss, ist der gestaltende Einfluss der Anwaltschaft auf den Gesetzesinhalt in den Fällen der Beauftragung mit dem Entwerfen von Gesamtgesetzentwürfen so groß, dass die politische Rationalität des Gesetzgebungsverfahrens als staatliche Gemeinwohlverwirklichung geschädigt werden oder gar verloren gehen kann. Der Anwalt wird materiell zum Gesetzgeber – aus Beratung wird unmittelbare Gestaltung. Die faktische Selbstpreisgabe politischer Gestaltungsmacht durch den Gesetzesinitianten und letztlich durch den Gesetzgeber selbst ist unverkennbar.“  Bernd Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat, Juristenzeitung 57:8 (2002), 365 – 371, 365. Ein Grund liegt darin, dass die mit einem Entwurf beauftragten Jurist/innen genau wissen, wie sie unbestimmte Rechtsbegriffe platzieren müssen, um den angestrebten Zuschnitt des Gesetzes herzustellen; ein anderer Grund besteht vor allem auf überstaatlichen Ebenen der Regulierung darin, dass jedes legislative Instrument am Ende einen Kompromiss auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner darstellt. Klassisch dazu Ulrich Fastenrath, Lücken im Völkerrecht: zu Rechtscharakter, Quellen, Systemzusammenhang, Methodenlehre und Funktionen des Völkerrechts (Berlin: Duncker & Humblot, 1991). Für den nationalen Gesetzgeber bzw. die durch ihn wirkenden Klientel können ‚schlechteʻ Gesetze immer dann sinnvoll sein, wenn Druck aus der Gesellschaft zum Legislativaktionismus zwingt, wie etwa

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angestrebte Beeinflussung von bestimmten Verhaltensweisen nur symbolischen Wert besitzt³⁰³. Die Organisation der Gesellschaft mit Hilfe lückenhafter Gesetze und Verordnungen schwächt nicht nur die Mehrheit der Bürger gegenüber einflussreichen Interessengruppen, die im konkreten Fall auf die eigene Rechtsabteilung zurückgreifen können; Regierung/Steuerung durch ‘schlechte’ Gesetze verlagert die Gestaltungsmacht de facto auf die vielen Anwälte und Kanzleien im Dienst der intermediären Institutionen, und hebt zudem die höheren Richter/innen in den Stand von quasi-Exekutivorganen. Schließlich dient ihre Befassung mit Klagen gegen die Anwendung lückenhafter/ symbolischer gesetzlicher Regeln vorläufig als letztes Wort – mit einer entsprechenden Signalwirkung für ähnlich geartete Fälle. Auch aus diesem Grund haben politische Parteien und Bürokratie schon seit dem 19. Jahrhundert unablässig versucht, Auswahl und Arbeitsweise der höheren Richter/innen zu beeinflussen³⁰⁴. Trotz aller Reformen behalten sich die politischen ‚Parteien der Mitteʻ die Bestellung der höchsten Richter/innen vor und streiten hinter den Kulissen mitunter heftig um die Auswahl der Kandidat/innen, selbst wenn das damit verbundene Gezerre an die Medienöffentlichkeit dringt und den ganzen Akt als parteipolitische Farce zu diskreditieren droht³⁰⁵. Der Zweck heiligt dabei insofern die Mittel, als etwa Bundesrichter/in-

im ‚Atomausstiegʻ, den ‚prekären Beschäftigungsverhältnissenʻ, der ‚Energiewendeʻ, oder der ‚Mietpreisbremse in Ballungsräumenʻ. Uneindeutige bzw. unergiebige Generalklauseln und/oder ein Versäumnis mit Blick auf erforderliche Formvorschriften des BGB können schon ausreichen, um das Gesetz für Interessengruppen und ihre Anwälte anfechtbar zu machen und eine Zuständigkeit der Gerichte herzustellen, die hohe Entschädigungen beschließen und/oder das schlechte Gesetz zur Überarbeitung verurteilen, wenn sie es nach einer längeren Verfahrensdauer nicht gleich ganz kippen. Schließlich besteht kein ‚Amtshaftungsanspruch für enttäuschtes Vertrauenʻ der Bürger/innen in die Wirksamkeit einer gesetzlichen Regelung. Vgl. dazu erst kürzlich wieder BGH, Urteil vom 28. Januar 2021 – III ZR 25/20, Rdnr. 31.  Vgl. Martin Führ, Symbolische Gesetzgebung: verfassungswidrig?, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 86:1 (2003), 5 – 21, 8: „Bei ‚modernenʻ Umweltgesetzen finden sich eingangs zunächst Ziel- und Zweckbestimmungen, bei denen schon fraglich ist, ob man von ihnen verhaltenssteuernde Effekte erwarten darf. Dies gilt jedenfalls dann, wenn in den Zweckbestimmungen konfligierende Ziele niedergelegt sind […]. Man kann ein Gesetz aber – anstatt von der Zweckbestimmung in § 1 aus – auch von den konkreten Festlegungen her lesen. Dann wird beim Bundes-Immissionsschutzgesetz rasch deutlich, dass es zumindest auch den wirtschaftlichen Interessen von Industrieanlagenbetreibern dienen soll, denn sonst wären bestimmte, aus der Gewerbeordnung übernommene Privilegierungen kaum zu rechtfertigen, die im Ergebnis die zivilrechtliche aequitas zu Gunsten der Investoren deutlich verschieben.“  Vgl. Volker Müller-Benedict, Akademische Karrieren in Preußen und Deutschland 1850 – 1940 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008), 115: „Die Forschung hat unisono die Abhängigkeit des Richteramtes von der politischen Einflußnahme des Justizministeriums betont. Die Richter wähnten sich bezüglich der Beförderungskriterien und der allgemeinen Dienstaufsicht jedoch nicht nur von willkürlichen politischen, sondern auch von alltagweltlichen Kriterien abhängig. Vorgesetzte und Justizministerium überwachten neben der Urteilspraxis auch die private Lebensführung.“  Zu nennen wäre etwa die sogenannte ‚Hinterzimmermauscheleiʻ zwischen der damaligen Justizministerin Däubler-Gmelin (SPD und Rupert Scholz, Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Richterwahlausschuss, bei der Neubesetzung des Bundesgerichtshofs anno 2001. Vgl. Dietmar Hipp, Wie auf dem Viehmarkt. Nach dem Eklat um die Ernennung neuer Bundesrichter steht das politische Kun-

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nen auf Lebensdienstzeit und Verfassungsrichter/innen für zwölf Jahre bestellt werden, was einen parteipolitischen Einfluss auf die richterliche ‚Prüfungʻ der Gesetzgebung dauerhaft garantiert. Wie bei jeder Besetzung hoher Staatsfunktionen tragen die Parteien auch mit Blick auf die Besetzung der Gerichte die Verantwortung dafür, dass nicht die besten Kandidat/innen ernannt werden. „Die seit Langem üblich gewordenen ‚Paketlösungenʻ wechselseitig nur geduldeter Kandidaten haben schon bisher oft berechtigtes Unbehagen erregt. Sie dienen nicht immer der Auswahl nach fachlicher Eignung. Ähnliche Probleme bestehen seit jeher in den Richterwahlausschüssen für die Wahl der Bundesrichter.“³⁰⁶ Inwieweit sich die höchsten Richter/innen bei ihren Entscheidungen im Einzelfall tatsächlich von ihrer Parteinähe leiten lassen, ist zumindest umstritten³⁰⁷. Neben dem parteipolitischen Einfluss spielen soziale Herkunft, Milieuzugehörigkeit, Anpassungsfähigkeit an ein System mit klaren Hierarchien und Karrierewegen sowie eine entsprechende Disposition zur Bewahrung bestehender Verhältnisse eine wichtige Rolle³⁰⁸. Prozesse der Sozialisierung und die rein notenbasierte Selektion machen Jurist/innen tendenziell zu Funktionseliten, deren Grundeinstellung sich durch eine Autoritätsgläubigkeit auszeichnet³⁰⁹, die zunimmt, je höher der Aufstieg gelingt³¹⁰. Und aus dem Monopol der Richterbestellung durch die bürgerlichen Parteien, die bei der Auswahl neben der Loyalität die bisherige Spruchpraxis an den vorgängigen Stationen berücksichtigen, ergibt sich an den (höchsten) Gerichten ein Übergewicht solcher Perspektiven, die sich den anerkannten Normen und Selbstverständnissen einer Profession verpflichtet fühlen, die im bürgerlichen Rechtsstaat und einer ‚liberalenʻ Weltgelverfahren bei der Richterwahl komplett in Frage, Der Spiegel 43 (2001), https://www.spiegel.de/politik/ wie-auf-dem-viehmarkt-a-a692dc8a-0002-0001-0000-000020410353 (zuletzt besucht am 01.12.22) Ein Beispiel aus jüngerer Zeit wäre die Bestellung des CDU-Abgeordneten Stephan Harbarth zum Verfassungsrichter. Vgl. Jan Jeuchel & Volker Votsmeier, Stephan Harbarth: Verfassungsrichter mit umstrittener Vergangenheit, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/designierter-praesident-stephan-harbarth-v erfassungsrichter-mit-umstrittener-vergangenheit/25612434.html (zuletzt besucht am 01.12.22).  Bernd Rüthers, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, hg.v. Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Germanistische Abteilung 130:1 (2013), 510 – 517, 513.  Vgl. für eine differenzierte Sicht, Benjamin G. Engst et. al., Zum Einfluss der Parteinähe auf das Abstimmungsverhalten der Bundesverfassungsrichter – eine quantitative Untersuchung, Juristenzeitung 72:17 (2017), 816 – 826.  Vgl. dazu Walther Richter, Zur Bedeutung der Herkunft des Richters für die Entscheidungsbildung (Berlin: Schweitzer, 1973), 49.  Vgl. am Beispiel des US-amerikanischen Kontexts, Duncan Kennedy, Legal Education and the Reproduction of Hierarchy, Journal of Legal Education 32:4 (1982), 591– 615, 595: „Much of what happens [in law school] is the inculcation through a formal curriculum and the classroom experience of a set of political attitudes toward the economy and society in general, toward law, and toward the possibilities of life in the profession.“ Für eine Bestätigung dieser Ansicht von Kennedy in neuerer Zeit, vgl. Nicola Lacey, Legal Education as Training for Hierarchy Revisited, Transnational Legal Theory 5:4 (2014), 596 – 600; und für den britischen Kontext, vgl. Christopher Stanley, Training for the Hierarchy – Reflections on the British Experience of Legal Education, Law Teacher 22:2– 3 (1988), 78 – 86.  Vgl. Susanne Baer, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung, 4. Aufl. (Baden-Baden: Nomos, 2021), 169 – 170.

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ordnung ein funktionsfähiges Gebilde erkennt. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass der nahezu gänzlich untheoretische bzw. unwissenschaftliche Umgang mit ‚dem Rechtʻ das Jurastudium zu einer praktischen ‚Ausbildungʻ und alle ‚normalenʻ Jurist/innen zu praktischen Rechtsanwender/innen macht³¹¹. Jurist/innen sehen sich zwar durchaus dazu aufgerufen, in einer verrechtlichten Welt/Gesellschaft für ‚soziale Gerechtigkeitʻ zu sorgen³¹², bringen aber qua Herkunft und Sozialisierung sowie fehlenden wissenschaftlichen Kenntnissen der realweltlichen Totalität denkbar schlechte Voraussetzungen dafür mit. Für diejenigen Jurist/innen, die aus politischen Gründen für die höchsten Positionen rekrutiert werden, gilt die allgemeine Konservatismusvermutung gegenüber einer ‚praktischen Jurisprudenzʻ³¹³ daher umso mehr. Seinen gesellschaftlichen Einfluss entfaltet der richterliche Konservatismus über die ‚objektive Methodeʻ: der Richter befragt in einem konkreten Verfahren „[…] nicht das Gesetz oder einen Grundsatz, um eine Lösung zu finden, sondern er benutzt sie, um eine vorher gefundene Lösung zu legitimieren. […] Die Methodenwahl ergibt sich aus dem Vorverständnis des Richters.“³¹⁴ Im kritischen Vorstellungsraum gehorcht die richterliche Entscheidungsfindung nicht den Prinzipien der sogenannten ‚Interessenjurisprudenzʻ, indem sie versucht, die vom Gesetzgeber deklarierten Zwecke im konkreten Fall zu verwirklichen³¹⁵. Im Gegenteil emanzipiert sich die richterliche Entscheidungsfindung nicht selten vom Willen des Gesetzgebers und macht die richterliche Disposition zur alleinigen Grundlage der Entscheidung – angesichts besagter Lücken im Gesetz liegt darin laut Bundesverfassungsgericht sogar eine wesentliche Funktion der Rechtsprechung³¹⁶. Im Ergebnis entsteht damit sowohl im innerstaatlichen als auch im inter-, trans- und supranationalen Bereich eine Art ‚Ersatzgesetzgeberʻ, wie das z. B. mit Verweis auf den EuGH auch allgemein anerkannt und sogar als ‚Erfolgʻ gewürdigt wird³¹⁷. Die (groß)bürgerlichen Interessen am Schutz des Eigentums genießen damit in einem grundsätzlichen Sinn Vorrang wegen ihres Status als Grundrechte³¹⁸. Die richter-

 Vgl. Wesel, Juristische Weltkunde, a.a.O., 177.  Vgl. Baer, Rechtssoziologie, a.a.O., 173.  Vgl. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat, a.a.O., 366.  Wesel. Juristische Weltkunde, a.a.O., 188.  Vgl. zur Interessenjurisprudenz, auch im Vergleich zu alternativen Rechtsverständnissen wie der ‚Begriffsjurisprudenzʻ, der ‚Freirechtsschuleʻ und der ‚Wertungsjurisprudenzʻ, Susanne Baer, Rechtssoziologie, a.a.O., besonders 35 – 43.  Vgl. dazu Franz Reimer, Juristische Methodenlehre (Baden-Baden: Nomos, 2016), 247.  Vgl. Thomas Horsley, The Court of Justice of the European Union as an Institutional Actor: Judicial Lawmaking and its Limits (Cambridge: Cambridge University Press, 2018), besonders 156 – 168 und 193 – 212.  Vgl. Volkmar Gisler, Die Eigentumsgarantie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Berlin: Lehmanns, 2020); vgl. für die Rechtsprechung auf EU-Ebene, Marco Buschmann, EuGH und Eigentumsgarantie. Eine Analyse zu Ursprung und Inhalt des Eigentumsrechts der Europäischen Union Heidelberg: Springer, 2017), 10: „Das Eigentumsrecht besitzt für die europäische Grundrechtsentwicklung grundlegende Bedeutung. Denn anhand eigentumsrechtlich zu würdigender Sachverhalte sind entscheidende Fortschritte bei der grundrechtlichen Rechtsfortbildung des Gemeinschaftsrechts gelungen.

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liche Spruchpraxis stimmt in diesem Punkt in der Regel mit dem Erwartungshorizont des Gesetzgebers überein³¹⁹. Gleichwohl besteht immer die Möglichkeit, dass Gerichte als politische Akteure in Erscheinung treten, um bestimmte gesellschaftliche Interessen eben ‚juristischʻ zu schützen – und andere nicht³²⁰. Und im Extremfall kann die objektive Methode dazu führen, dass der rhetorisch artikulierte Wille des Gesetzgebers für die Öffentlichkeit sichtbar in sein Gegenteil verkehrt wird. Faktisch machen sich Richter/ innen damit zu den ‚Herrenʻ der Rechtsordnung.³²¹ Aber vor allem fungieren sie, wie die vielen anderen Jurist/innen im Staatsdienst und bei einflussreichen zivilgesellschaftlichen Institutionen als ‚organische Intellektuelleʻ³²², die ihre gedanklich-geistige Arbeit in den Dienst einer scheinbar rechtlich fundierten Ordnung stellen³²³.

Journalist/innen als organische Intellektuelle Die bürgerliche Ordnung fußt auf einer öffentlichen Meinung, die solche gesellschaftlichen Sachverhalte und Entwicklungen als legitim und gemeinwohlverträglich erachtet, von denen die Angehörigen der privilegierten Schichten besonders oder sogar exklusiv profitieren. „Was ‚öffentliche Meinungʻ genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der ‚Zivilgesellschaftʻ und der ‚politischen Gesellschaftʻ, zwischen dem Konsens und der Gewalt.“³²⁴ Deswegen spielen prominente Vertreter/innen der Massenmedien eine wichtige Rolle

Grundlegende Erkenntnisse entstammen beispielsweise den Urteilen Nold und Hauer, in denen sich der EuGH mit Fragen des Eigentumsrechts auseinandergesetzt hat.“  Vgl. dazu erst kürzlich die Entscheidung des zweiten Senats zum ‚Berliner Mietendeckelʻ, Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. März 2021, 2 BvF 1/20, 2 BvL 4/20, 2 BvL 5/20.  Vgl. dazu den Beschluss des ersten Senats zum Klimaschutz, Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. März 2021, 1 BvR 2656/18, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, 1 BvR 288/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, in dem der Gesetzgeber dazu veranlasst wird, die Gewährleistung eines freiheitsschonenden Übergangs in die Klimaneutralität zu gewährleisten. Interessant ist bei der Argumentation des Gerichts, dass Umweltverbände, die sich zugunsten eines wirksameren Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen als einem Kollektivgut beschwert hatten, gar nicht erst als ‚Anwälte der Naturʻ anerkannt wurden. Gleichzeitig anerkennt das Gericht explizit eine Schutzpflicht des Staates hinsichtlich der Eigentumsgefahren des Klimawandels.  Vgl. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat, a.a.O., 368.  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 12, a.a.O., §1: „Jede gesellschaftliche Gruppe schafft sich, während sie auf dem originären Boden einer wesentlichen Funktion in der Welt der ökonomischen Produktion entsteht, zugleich organisch eine oder mehrere Schichten von Intellektuellen […]: der kapitalistische Unternehmer schafft mit sich den Techniker der Industrie, den Wissenschaftler der politischen Ökonomie, den Organisator einer neuen Kultur, eines neuen Rechts usw. usf.“  Vgl. Lia Becker et al (Hg.), Gramsci lesen, – Einstiege in die Gefängnishefte (Hamburg: Argument, 2019),, 90: „[Gramsci] bringt den Intellektuellenbegriff immer dann ins Spiel, wenn es darum geht, wie sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen und Klassen formieren und zu politischen Kräften zusammenschließen.“  Gramsci, Gefängnisheft 7, a.a.O., §83.

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für die Herstellung von künstlichen bzw. ‚synthetischen Identifikationenʻ³²⁵ der Gesellschaft mit den herrschenden Ansichten und Gewohnheiten. Es ist daher nicht unerheblich, ob die Chef/Redakteure der führenden Printmedien von sich aus persönliche Verbindungen zu den jeweiligen Eliten aus Politik und Wirtschaft suchen und deren Sichtweisen betreffend sicherheits- und wirtschaftspolitische Herausforderungen in ihren Leitartikeln als Subtexte übernehmen³²⁶; ebenso wenig ist es unerheblich, ob die Redaktionsteams im ‚Leitmedium Fernsehenʻ, besonders die Nachrichtenmagazine und Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender, die thematischen und begrifflichen Prämissen des offiziellen politökonomischen Diskurses als frames für die eigene Berichterstattung bzw. Diskussion nutzen, ohne diese kritisch zu hinterfragen; und schließlich ist es nicht unerheblich, ob Spitzenjournalist/innen und Chefredakteure unter einem wie auch immer gearteten Einfluss (partei)politischer Funktionäre stehen, die sich direkt oder indirekt in die Berichterstattung einmischen und/oder hinter den Kulissen Druck ausüben³²⁷. Zwar ist kritisches Denken gut beraten, keine pauschalisierende Beurteilung der Massenmedien mit Blick auf ihre ideologische Funktion für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung anzustellen – Zeitungen sowie die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten haben für Interessierte immer auch auch gut recherchierte Hintergrundberichte im Portfolio. Allerdings lässt sich konstatieren, dass sowohl die normative Orientierung der sogenannten ‚Elitejournalist/innenʻ am Polit-establishment

 Vgl. Adorno, Beitrag zur Ideologienlehre, a.a.O., 476.  Vgl. für zwei prominente Beispiele in dieser Hinsicht zum einen die Publikationstätigkeiten von ZeitChefredakteur Josef Joffe, der etwa anlässlich des bevorstehenden Angriffs der USA auf den Irak anno 2003 dezidiert die Position des damaligen US-Präsidenten George Bush Jr. gegenüber der deutschen Bundesregierung mit durchaus kerniger Wortwahl verteidigte: ‚Stunde der Dilettantenʻ, Die Zeit vom 13.02. 2003, https://www.zeit.de/2003/08/01_Leiter_1_2f8 (zuletzt besucht am 01.12.22); und zum anderen die loyale Haltung von Jochen Bittner gegenüber der US-Sicherheitsaußenpolitik innerhalb der NATO, etwa im Beitrag, Die Nato kreist Russland ein! Noch eine Verschwörungstheorie. Und was dran ist, Zeit online, 22. September 2016, https://www.zeit.de/2016/38/verschwoerungstheorie-russland-nato-einkreisung (zuletzt besucht am 01.12.22).  Vgl. zur parteipolitisch geprägten Personalpolitik im Fall des damaligen ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender, dessen Vertragsverlängerung im ‚Superwahljahrʻ 2009 vom zuständigen und mehrheitlich mit Unionspolitikern besetzten Verwaltungsrat abgelehnt wurde, die Dissertation von Inga Wagner, Informelle politische Kommunikation. Eine Rekonstruktion des Falls Nikolaus Brender (Wiesbaden: Springer, 2016), 226 – 227: „Das Entscheidungsgremium ZDF-Verwaltungsrat ist zum großen Teil mit aktiven und ehemals aktiven bundes- und landespolitischen Eliten besetzt. Neben fünf amtierenden Ministerpräsidenten sitzen acht weitere Mitglieder, die vom Fernsehrat gewählt werden, im Verwaltungsrat, außerdem ein Vertreter des Bundes.Von Ende 2008 bis Ende 2009, während intern und öffentlich über die Vertragsverlängerung des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender debattiert wurde, waren die acht gewählten Mitglieder ausschließlich einflussreiche ehemalige und aktive Funktionsträger. Lediglich zwei Mitglieder bezeichneten sich als politisch unabhängig, als Graue, wurden aber auch dem unionsnahen Freundeskreis zugerechnet.“ Vgl. zum Versuch der Einflussnahme auf Vorgesetzte die Auswertung von Befragungen Berliner Journalist/innen von Hans M. Kepplinger, Marcus Maurer & Marco Kreuter, Erfahrungen der Berliner Journalisten mit Politikern (2006), Tab. 19 und 20 https://www.kepplinger.de/files/ Erfahrungen_der_Berliner_Journalisten_mit_Politikern.pdf (zuletzt besucht am 24.05. 2021).

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als auch der parteipolitische Einfluss auf die journalistische Berichterstattung signifikant sind³²⁸. Die Auswahl der Themen sowie die Art der Berichterstattung weisen auffällige Indexing-Effekte auf, d. h. sowohl die Printmedien als auch Rundfunk und Fernsehen weichen – vor allem während der prime time – selten von der geltenden ‚politischen Korrektheitʻ ab, zudem kommen Akteure aus den peripheren und/oder subalternen Ebenen der Zivilgesellschaft in diesem Zeitraum extrem selten als Kommentator/innen aktueller Entwicklungen zu Wort³²⁹. Bemerkenswert ist, dass die politische Parteilichkeit der Medien sogar im eher konservativen Mainstream der Politikwissenschaft schon explizit als Problem thematisiert worden ist³³⁰. Wie dem richterlichen Personal kann auch den Akteuren in Rundfunk und Fernsehen nicht zwingend eine ausgeklügelte Strategie bei ihrem Tun unterstellt werden. Auch und gerade im ‚Qualitätsjournalismusʻ bringen diverse Selektionsmechanismen und institutionelle Abläufe in den eng miteinander verzahnten Bereichen ‚Ökonomie – Medien – Politikʻ eine Vielzahl von Restriktionen für die journalistische Tätigkeit mit sich. Die Abhängigkeit der Printmedien von großen Werbekunden und die Verbindung vieler ‚Karrierejournalist/innenʻ mit ihren Informationsquellen, ob im Bereich der parlamentarischen Entscheidungsfindung, dem Milieu der Banken- und Konzernindustrie, oder im außen- und sicherheitspolitischen Kontext, bewirkt nicht selten eine schleichende Kooptierung der Redakteur/innen und Journalist/innen durch den jeweiligen Diskurs. Im Ergebnis manifestieren sich im Qualitätsjournalismus die Sozialisationsmechanismen des ‚Geschäftsʻ allerdings in einer affirmativ-unkritischen Disposition all derjenigen, die ins System Einlass finden und dort Karriere machen können³³¹.

Expert/innen und Funktionäre als organische Intellektuelle Weil die Definition gesellschaftlicher Probleme in vielen Ländern mittlerweile in der Medienöffentlichkeit stattfindet, insofern bestimmte Themen zuerst in Rundfunk/ Fernsehen sowie den sozialen Netzwerken diskutiert werden, kommen oft schon in

 Vgl. Uwe Krüger, Elitäre Netzwerke. Eine Doktorarbeit über die Nähe von Medienschaffenden zu den Mächtigen löste unter führenden Journalisten heftige Abwehr aus. Das sagt viel über deren Selbstbild, Schweizer Monat 97: 1052 (2017), 58 – 62, 61.  Vgl. Uwe Krüger, Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse (Köln: Halem, 2019), 255.  Vgl. Tuschoff, Distanzverbreiterung vs. Gemeinschaftsbildung, a.a.O., 114– 115.  Vgl. Ruth Enzler Denzler & Edgar Schuler, Zur Psychopathologie des Journalismus. Typen, Werte und Zukunftsperspektiven. Wie Medienmacher ticken, Schweizer Monat 97:1052 (2017), 63 – 65, 64: „Die Veränderungen der Medienlandschaft führen dazu, dass es zunehmend Menschen mit der Werthaltung des Ordnungsstrukturtyps [sic!] in den Journalismus zieht, Menschen, die in der Lage sind, Informationen gemäss der gerade aktuellen Stimmung rasch in leicht verdauliche Narrative zu verwandeln. Auf der Strecke bleibt ein Journalismus, der facettenreiche Recherchen mit Tiefgang vor seinen Lesern differenziert ausbreiten will und kann.“

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einem relativ frühen Stadium sogenannte ‚Expert/innenʻ zu Wort³³², die aufgrund ihrer vermeintlichen Sachkenntnis angesichts der Komplexität vieler Materien und der rasanten Zunahme von Staatstätigkeiten in fast allen gesellschaftlichen Bereichen aus dem politischen Bereich nicht mehr wegzudenken sind. Auffällig ist, dass diejenigen ‚Expert/ innenʻ, die in der Öffentlichkeit als Kommentator/innen des aktuellen Geschehens und in den hintergründigen Sachverständigengremien als Politikberater/innen auftreten, mehrheitlich zu konservativen Einrichtungen mit engen Verbindungen zur jeweiligen Regierung sowie zu den Spitzen in der Banken-, Konzern- bzw. Rüstungsindustrie gehören³³³. Ihr ‚Wissenʻ benutzen solche ‚Expert/innenʻ oft dazu, um mit einem entsprechenden Standesbewusstsein ihre ‚technische, intellektuelle und sogar moralische Überlegenheitʻ in bestimmten Sachfragen zum Ausdruck zu bringen³³⁴. Entsprechend diesem Selbstverständnis sehen sie sich auch nicht selten dazu befähigt, bereits in einem frühen Stadium aktueller Entwicklungen mögliche Ursachen für Probleme zu identifizieren und geeignete Lösungen zu skizzieren, völlig unabhängig davon, ob und inwiefern sie die fragliche Materie schon in einem umfassenderen Sinn verstanden haben. Vorrangig werden ‚Expert/innenʻ zu gesamtgesellschaftlich wichtigen Sachlagen befragt, vor allem den Entwicklungen auf Finanz- und Arbeitsmärkten sowie in allen Bereichen der Industrie bzw. des Handels; den Herausforderungen durch den Klima-

 Vgl. Sonja Blum & Klaus Schubert, Politikfeldanalyse. Eine Einführung, 3. überarb. Aufl. (Wiesbaden: Springer 2018), 166.  Im amerikanischen Kontext gehör(t)en dezidiert konservative Denkfabriken, wie v. a. das Project for the New American Century, das National Institute for Public Policy und das Center for Security Policy seit den 1990er Jahren zu den einflussreichsten Plattformen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, die entsprechend ihrer politischen Bedeutung durch die großen Rüstungsunternehmen (Lockheed Martin, Boeing, General Dynamics, Raytheon, und Northrop Grumman) finanziell gefördert wurden, vgl. Ronald W. Cox, The Military-Industrial Complex and US Military Spending After 9/11, Class, Race and Corporate Power 2:2 (2014), 1– 20, 9. Im deutschen Kontext wäre etwa der German Marshall Fund of the United States oder die Stiftung Wissenschaft und Politik zu nennen, wenn es um außenpolitische und internationale Angelegenheiten sowie um solche mit einem Bezug zu sicherheitspolitischen Fragen geht; das Ifo-Institut, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft, wenn es um volkswirtschaftliche Fragen geht. Mit Blick auf die Sachverständigenräte wäre hier v. a. derjenige für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu nennen, in dem sich wiederum verhältnismäßig viele organische Intellektuelle aus dem weit verzweigten Netzwerk des Ifo-Instituts wiederfinden. Vgl. dazu auch Botzem & Hesselmann, Gralshüter des Ordoliberalismus?, a.a.O., 406, die zudem auf die hintergründige Gestaltung der Denkhorizonte im politischen System hinweisen. Dabei gilt es zu beachten, dass die neoliberale Ideologie des SVR Veränderungen und Konjunkturen ausgesetzt war, wenngleich sich an den grundsätzlichen Prämissen wenig geändert hat: „Ordoliberale Überzeugungen in der Politik, die die Nachkriegszeit entscheidend geprägt hatten, wurden Ende der 1960er Jahre von Ansätzen der prozessorientierten Makrosteuerung abgelöst, die jedoch ihrerseits seit Mitte der 1970er Jahre durch monetaristische und angebotstheoretische Überzeugungen verdrängt worden sind, die auch heute noch im Rat dominieren.“  Vgl. Ronald Hitzler, Wissen und Wesen des Experten: Ein Annäherungsversuch – zur Einleitung, in: derselbe, A. Honer & C. Maeder (Hg.), Expertenwissen: die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994), 13 – 30, 17.

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wandel; den Risiken von Epidemien/Pandemien; und natürlich den Erfordernissen erfolgreicher Bedrohungsabwehr in Kriegs- und Krisensituationen. Bemerkenswert ist dabei, dass die zugeschalteten ‚Expert/innenʻ im Tenor schnell und häufig darauf verweisen, dass die vorliegenden Probleme nicht nur spezifische Gründe haben, sondern auch innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen mit bewährten Strategien, wie z. B. einer Förderung des ‚Wirtschaftswachstumsʻ, einer Initiative zur besseren ‚Ausbildungʻ, einer größeren ‚Entschlossenheitʻ, einer Verbesserung von ‚Anreizenʻ oder der Bereitschaft zur Lieferung ‚schwerer Waffenʻ lösbar wären. Die ideologische Verkürzung der ‚Analysenʻ wird meist nur übertroffen von der Kurzsichtigkeit der Ratschläge, was in erster Linie daran liegt, dass die rasche Abfolge von Platituden dem kurzen Zeitfenster des Gesprächs geschuldet ist, das dem Publikum in erster Linie ein Gefühl vermitteln soll, dass Entscheider/innen und Sachverständige alles unter Kontrolle haben. Daneben schlüpfen auch Mitglieder gesellschaftlicher Gruppen, wie z. B. Gewerkschafter/innen, Sportfunktionär/innen, Kulturschaffende, mittelständische Berufe, Studierende, oder auch Angehörige der verschiedenen Kirchen in die Rolle organischer Intellektueller³³⁵. Sie alle tragen dazu bei, das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein im Sinne einer‚totalen Ideologieʻ³³⁶ zu bestimmen und auch zu reproduzieren³³⁷, ohne dass damit immer die ganz großen Fragen angesprochen sein müssen. Es reicht schon, dass im öffentlichen Auftreten der jeweiligen Funktionsträger/innen die vorherrschende Meinung über die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des jeweiligen Bereichs, etwa der ‚Seelsorgeʻ durch die Kirchen, der ‚kulturellen Vielfaltʻ von Literatur und Kunst, der ‚Kreativitätʻ in Malerei und Architektur, der ‚Exzellenzʻ der Universitäten, oder der ‚Kompetenzvermittlungʻ im schulischen Unterricht bestätigt wird. Auch und gerade Vertreter/innen aus gesellschaftlichen Bereichen, die keine direkte Funktion im profitorientierten Verwertungsprozess übernehmen, spielen eine wichtige Rolle, wenn sie in ihren jeweiligen Bereichen das vorherrschende Bild der Gesellschaft/en als einem Kontext von ‚Trostʻ, ‚Glückʻ, ‚Solidaritätʻ, ‚Gerechtigkeitʻ, ‚Freiheitʻ, ‚Fortschrittʻ, ‚Chanceʻ und ‚Erfolgʻ bestätigen – und damit relativieren, dass die gesamtgesellschaftliche Re-

 Vgl. dazu bereits Gramsci, Gefängnisheft 12, a.a.O., §1: „In der modernen Welt hat sich die so verstandene Kategorie der Intellektuellen unerhört erweitert. Das bürokratisch-demokratische Gesellschaftssystem hat beeindruckende Massen ausgeformt, die nicht alle durch die gesellschaftlichen Notwendigkeiten der Produktion gerechtfertigt sind, wenn gleich sie durch die politischen Notwendigkeiten der herrschenden grundlegenden Gruppe zu rechtfertigen sind.“  Vgl. Max Horkheimer, Ein neuer Ideologiebegriff?, in: derselbe, Sozialphilosophische Studien: Aufsätze, Reden und Vorträge 1930 – 1972; mit einem Anhang über Universität und Studium (Frankfurt: Athenäum, 1972), 13 – 32, 25: „Der totale Ideologiebegriff betrifft nicht mehr einzelne Theorien und Wertungen der Gegenpartei, sondern gleich das gesamte Bewußtsein ‚einschließlich der kategorialen Apparaturʻ.“  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 3, a.a.O., §49.

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produktion weder im nationalen noch im globalen Maßstab solchen Prinzipien tatsächlich gehorcht³³⁸. Die Primärfunktion von organischen Intellektuellen ist zwar die Sicherung der gesellschaftlichen Stellung ihrer Gruppe, aber diese Stellung ist eng damit verknüpft, dass die bestehenden Verhältnisse, aus der jede etablierte Gruppe ihre Ressourcen und Privilegien zieht, in der jeweiligen Gruppe als funktionsfähig und legitim eingeschätzt werden. Der Verdacht auf eine Verbreitung ‚kritischerʻ oder gar ‚subversiverʻ Gesinnungen durch Angehörige gesellschaftlicher Gruppen diskreditiert unter Umständen alle ihre Angehörigen. Führende Mitglieder der unterschiedlichsten Gruppen leisten also schon einen Beitrag zur Stabilisierung der Verhältnisse, wenn sie sich mit dem Verweis darauf, wie die Dinge ‚in Wahrheitʻ sind, vernehmbar von allen Kritiker/innen des Status Quo distanzieren, indem sie „[…], den durch das Prestige der Funktion in der Produktionssphäre gegebenen Konsens und den Zwangsapparat für diejenigen Gruppen [sichtbar bejahen], die weder aktiv noch passiv ‚zustimmenʻ, oder für diejenigen Momente einer Befehls- und Führungskrise, in denen der spontane Konsens eine Krise erleidet.“³³⁹ Entscheidend ist dabei gerade nicht, dass der öffentlich orchestrierte Konsens vernünftig und zum Wohl der Gesamtgesellschaft ist, sondern dass sich die Mitglieder der etablierten Gruppen erkennbar zur medial popularisierten Weltsicht der einflussreichsten Gruppen bekennen³⁴⁰.

 Vgl. exemplarisch zur anhaltenden Ausbeutung von Lohnarbeit in Deutschland, Maria Baranków & Christian Baron, Klasse und Kampf (Berlin: Claassen, 2021), 7: „Zieht man die Trennung von Produktionsmitteln und die abhängige Lohnarbeit als Kriterien heran, dann war der Grad an Ausbeutung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sogar nie größer als heute [Dezember 2020].“ Vgl. zur anhaltenden Diskriminierung in Deutschland, Heike Weinbach, Social Justice statt Kultur der Kälte. Alternativen zur Diskriminierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland (Berlin: Dietz, 2006); vgl. zur globalen Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Rohstoffabbau, Sebastian Matthes, Der Neo-Extraktivismus und die Bürgerrevolution. Rohstoffwirtschaft und soziale Ungleichheiten in Ecuador (Wiesbaden: Springer, 2019), besonders 9 – 66 zur Situation in Lateinamerika allgemein; und 113 – 229 zur Sozialstruktur der politischen (Rohstoff‐)Ökonomie in Ecuador.  Gramsci, Gefängnisheft 4, a.a.O., §49.  Vgl. Krüger, Elitäre Netzwerke, a.a.O., 62: „Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung führte 2013 eine Befragung von deutschen Führungskräften aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Verbänden, Justiz, Militär,Wissenschaft, Medien, Gewerkschaften, Kirchen und der Zivilgesellschaft durch. Darin zeigte sich, dass es einen hohen Konsens bei bestimmten Werten und Einstellungen gibt: dass Einwanderung das Zusammenleben bereichert und gut für die deutsche Wirtschaft ist; dass öffentliche Ausgaben reduziert und der Arbeitsmarkt flexibilisiert werden sollten; dass ökonomische Liberalisierung generell, der Welthandel, Wettbewerb und Privatisierung staatlicher Unternehmen gut sind und umgekehrt Zölle, Importbeschränkungen oder Subventionen zum Vorteil der heimischen Wirtschaft schlecht; und dass Homosexualität und Scheidung akzeptabel sind. Diesem wirtschaftspolitisch wie kulturell liberalen Mainstream in den ‚höheren Kreisenʻ steht eine gespaltene Bevölkerung gegenüber: Einwanderung etwa wurde zur selben Zeit in allgemeinen Umfragen nur von der Hälfte der Deutschen befürwortet. Dass die Eliten so liberal sind, liegt übrigens nicht nur an deren hohem Bildungsgrad, denn schaut man sich in den Bevölkerungsbefragungen nur jene Teilnehmer mit Hochschulabschluss an, so ist deren Haltung in der Einwanderungsfrage durchaus nicht so homogen.“

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Sozialwissenschaftler/innen als organische Intellektuelle Diejenigen, die sich theoretisch und/oder praktisch mit der bürgerlichen Gesellschaft und dem darin befindlichen System der politischen Ökonomie beschäftigen, gehören ebenfalls zu einer wichtigen Gruppe der organischen Intellektuellen. Denn es liegt nicht nur in ihrer Macht, der Gesamtgesellschaft mit ‚Theorienʻ und ‚empirischen Analysenʻ dabei zu helfen, sich über die relevanten Akteure, ihre Aktivitäten sowie die davon ausgehenden Konsequenzen ein realistisches Bild zu verschaffen³⁴¹; es wäre sogar ihre rechtliche Pflicht und wichtigste pädagogische Aufgabe, die Gesellschaft über „[…] unwahre Deutungen und Kausalitätsvermutungen aufzuklären und durch wissenschaftlich erwiesene zu ersetzen.“³⁴² Staats-, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler/innen üben einen beträchtlichen Einfluss darauf aus, ob neben Bürger/innen auch zukünftige Entscheidungsträger/innen und/oder Lehrkräfte den Bereich der Gesellschaft/en als eine Wirklichkeit wahrnehmen, die sich in selbststeuernde Funktionsbereiche (‚Ökonomieʻ, ‚Politikʻ, ‚Rechtʻ) mit jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten aufteilt; oder als eine komplexe historische Totalität, deren zerstörerische Dialektik eine disziplin- und parteiübergreifende Problemwahrnehmung benötigt, damit sie für zukünftige Generationen nachhaltig gestaltet werden kann. Dass sich die Mehrheit der einflussreichsten Sozialwissenschaftler/innen gerade nicht in irgendeiner gesellschaftlichen Verantwortung für eine wirklich ‚freieʻ und disziplinübergreifende wissenschaftliche Untersuchung der Welt/Gesellschaft sieht, geht auf die Politisierung der Institution Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert zurück³⁴³.

 Vgl. dazu auch Horkheimer, Zum Begriff der Freiheit, a.a.O., 153.  Claus Offe, Die kritische Funktion der Sozialwissenschaften, in: derselbe (Hg.), Institutionen, Normen, Bürgertugenden (Wiesbaden: Springer VS, 2019), 379 – 386, 379.  Vgl. Roberto Sala, Verwissenschaftlichung des Sozialen – Politisierung der Wissenschaft? Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 40:4 (2017), 333 – 349, 334. Die nicht nur im Deutschen Reich sondern auch in anderen westlichen Industriestaaten vorangetriebene ‚Akademisierung der Wissenschaftʻ bestand aus zwei miteinander verschränkten Dimensionen: nahezu alle Fachdisziplinen beschäftigten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild der Naturwissenschaften zunehmend abstrakt und mathematisch mit der sogenannten empirischen Realität, verzichteten dabei immer stärker auf eine aktive Beschäftigung mit tagespolitischen Problemen und grenzten sich von benachbarten Disziplinen ab, um damit die Autorität des Fachs zu unterstreichen; gleichzeitig begannen die positivistisch gewendeten Sozialwissenschaften damit, das ,akademische Feldʻ gegenüber politisch relevanten Sachfragen zu öffnen, um Anteil an der gesellschaftlichen Modernisierung zu nehmen, indem sie anwendungsorientierte Inhalte in Forschung und Lehre stark machten.Vgl. für die Situation im Deutschen Reich, Andernach, Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen, a.a.O., 210 – 211. Vgl. Peter Wagner, Sozialwissenschaften und Staat: Frankreich, Italien, Deutschland 1870 – 1980 (Frankfurt: Campus, 1990), 99, der auf 104– 105 zudem darauf verweist, „[…] dass politisch dominante Vorstellungen den Verlauf der Sozialwissenschaftsgeschichte seit dem Beginn der universitären Konstituierung erheblich mitgeprägt haben.“ Dabei zeichnete sich die Orientierung der Sozialwissenschaftler vor allem im Deutschen Reich durch eine ganz besondere Loyalität gegenüber dem Obrigkeitsstaat aus. Für die Sozialwissenschaften ergab sich daraus eine zunehmende Wechselbeziehung mit der Politik, und zwar im Sinne einer ‚Verwissenschaftlichung

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Die Wirtschaftswissenschaften heben sich dadurch hervor, dass sie aus dem Schulterschluss zwischen Bourgeoisie und der staatlichen Bürokratie hervorgingen. Ihre ersten Vertreter ließen sich schon früh durch entsprechende Kräfte aus der Praxis instrumentalisieren, die versuchten, den ‚gelehrtenʻ Diskursstrang zu beeinflussen, um die Ausrichtung der (groß)bürgerlichen Partikularinteressen an volkswirtschaftlichem Wachstum und technischem Fortschritt mit einem Anstrich von Notwendigkeit zu versehen. In den Worten von Marx: „Das Verhältniß der Industrie, überhaupt der Welt des Reichthums zu der politischen Welt ist ein Hauptproblem der modernen Zeit. Unter welcher Form fängt dies Problem an, die Deutschen zu beschäftigen? Unter der Form der Schutzzölle, des Prohibitivsystems, der Nationalökonomie. […] Während das Problem in Frankreich und England lautet: Politische Oekonomie oder Herrschaft der Societät über den Reichthum, lautet es in Deutschland: National-Oekonomie, oder Herrschaft des Privateigenthums über die Nationalität.“³⁴⁴ Im kritischen Vorstellungsraum ist diesbezüglich zum einen relevant, dass sich die von den Universitätsökonomen seit dem 19. Jahrhundert hinter immer abstrakteren Formeln wie z. B. ‚Marktliberalisierungʻ, ‚Preisstabilisierungʻ und ‚Wachstumʻ versteckte Hypostasierung des ‚freienʻ Unternehmertums als gesetzmäßig wirkender Triebkraft jeder (!) gesellschaftlichen Entwicklung immer wieder in politisch-administrative Entscheidungsprozesse zurückübersetzt und stets aufs Neue unvernünftige Praktiken normalisiert hat³⁴⁵. Eine wichtige Voraussetzung dafür war, dass der Typ des wirtschaftswissenschaftlich ausgebildeten Staatsbeamten seinerseits Gefallen daran fand, die sozioökonomische Entwicklung des Landes über einen Radikalkurs zu modernisieren, dessen Tragweite ihm oft nicht nur egal war, sondern die er oft auch nicht zu begreifen vermochte³⁴⁶. ‚Fortschrittʻ bestand per definitionem darin, die sozial

der Politikʻ, insofern Staats- und Sozialwissenschaftler als Experten in politische Entscheidungsprozesse eingebunden wurden; und im Sinne einer ‚Politisierung der Wissenschaftʻ, insofern sich die Fachdisziplinen auf politisch relevante Themen und Fragestellungen, wie z. B. die Erklärung abweichenden individuellen und kollektiven Verhaltens von geltenden Standards, sowie die Erfolgsaussichten praktischer Maßnahmen in Sachbereichen wie z. B. der Sozialpolitik konzentrierten.Vgl. Sala,Verwissenschaftlichung des Sozialen, a.a.O., 334.  Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, a.a.O., 170 – 183, 174.  Beispiele wären ex hypothesi die ‚Austeritätspolitikʻ im Deutschen Reich nach der Weltwirtschaftskrise anno 1929, vgl. Albrecht Ritschl, ‚Wir haben deutlich gelernt, dass wir nichts gelernt habenʻ, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 19:2 (2018), 78 – 93; die unreflektierte Abwicklung der deutschen Wiedervereinigung durch die Treuhandanstalt, vgl. Jan Priewe, Der Preis der Einheit: Bilanz und Perspektiven der deutschen Vereinigung (Frankfurt: Fischer, 1991), besonders 164– 188; oder die in vielerlei Hinsicht unausgereifte Einführung des Euro anno 1999 als Folgefehler des EU-Binnenmarktes, vgl. Günther Hannich, Die kommende Euro-Katastrophe: Ein Finanzsystem vor dem Bankrott? (München, FinanzBuch, 2009), besonders 19 – 34.  Vgl. zu dieser Einschätzung den Brief des Freiherrn vom Stein an Heinrich von Gagern vom 24ten August 1821: „Diese 4 Worte enthalten den Geist unserer und ähnlicher geistlosen Regierungsmaschinen. Besoldet, […] – buchgelehrt, also lebend in der Buchstabenwelt, und nicht in der wirklichen; – interessenlos, […] – eigenthumslos, also alle Bewegungen des Eigenthums treffen sie nicht; es regne oder scheine die Sonne, die Abgaben steigen oder fallen, man zerstöre alte hergebrachte Rechte, oder lasse sie be-

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Schwächsten ökonomisch zu benachteiligen und die Aristokratie/Bourgeoisie durch staatliche Interventionen (v. a. Steuererleichterungen) zu entlasten³⁴⁷. In diesem Widerspruch eine Beförderung des Gemeinwohls zu erkennen, gehörte seitdem zu den Grundfesten bürgerlicher Gesellschaften³⁴⁸. Zum anderen ist festzuhalten, dass sich der Glaube an vorgängige Zwänge im ökonomischen System mit einer mechanistischen Weltauffassung verknüpft hat, die ganz ähnlich wie der christliche Erlösungsglaube vor allem Ausweis einer eklatanten Unselbständigkeit im Denken gewesen ist³⁴⁹. Dass die ‚bestenʻ Ökonomen im neoklassischen Mainstream über Generationen hinweg so erfolgreich damit bleiben konnten, mit ihren Berechnungen von mechanisch wirkenden Abläufen im Phantasiemodell einer stationären Volkswirtschaft einen falschen Glauben an Notwendigkeiten zu nähren, erklärt sich aus dem Zustand eines Wissenschaftssystems, in dem alle berechtigten Zweifel an solchen ‚Theorienʻ durch ideologischen Populismus unterdrückt worden sind. Nur wenigen randständigen Kritiker/innen blieb es vorenthalten, den offensichtlichen Sachverhalt zu erkennen, dass mechanische Gesetzmäßigkeiten analog zur heiligen Dreifaltigkeit nur in dem Maß zur gesellschaftlichen Wirklichkeit werden, in dem es Prediger/innen wider jeglichen besseren Wissens gelingt, völlig weltfremde Vorstellungen unter unselbständigen Gläubigen als unhintergehbare Dogmen zu etablieren³⁵⁰. Wenn Hegel den reformorientierten bürgerlichen Rechtsstaat unter dem Einfluss der Französischen Revolution und anlässlich der Niederlage Preußens gegen das na-

stehen, man theoretisiere alls Bauern zu Taglöhnern, und substituiere an die Stelle der Hörigkeit an die Gutsherrn, die Hörigkeit an […] die Wucherer, alles das kümmert sie nicht.“ Karl vom und zum Stein, Die Briefe des Freiherrn von Stein an den Freiherrn von Gagern: von 1813 – 1831, mit Erläuterungen (Stuttgart: Cotta, 1833), 91.  Vgl. Unger, Law in Modern Society, a.a.O., 185.  Vgl. zum Dogmatismus der preußischen Reformer Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens (Berlin: de Gruyter, 1984), 289 – 290; vgl. auch Hans Jürgen Teuteberg, Zum Problem von Staat und Wirtschaft in Preußen am Beginn der Industrialisierung, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 181:1 (1967), 51– 60, 55: „Das hervorstechendste Merkmal zwischen 1815 und 1848 in Preußen ist gerade das Überleben älterer sozio-ökonomischer Strukturelelmente, unter anderem auch die vorindustrielle enge Verflechtung von [Feudal‐]Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.“  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §12.  Vgl. Christian Kreiß & Heinz Siebenbrock, Blenden, Wuchern, Lamentieren. Wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt (Berlin: Europa, 2019), 17: „Unsere Wirtschaft folgt nicht unabänderlichen Gesetzen. Alle unsere ökonomischen und gesellschaftlichen Regeln haben wir uns selbst gegeben. Umdenken ist also möglich. Wenn wir beginnen, in den Wirtschaftswissenschaften umzudenken, indem wir die alles beherrschende Gewinnmaximierung durch menschengerechte Ziele ersetzen, kann unsere Gesellschaft den Weg in eine lebenswertere, sozialere und hoffnungsvollere Zukunft einschlagen.“ Vgl. dazu auch schon Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit (Leipzig: Buske, 1935), 208: „Der soziale und historische Prozeß ist ohne Zweifel wie jeder Lebensprozeß einheitlich und, wenn auch alle Erkenntniß des organischen Lebens, um klar und deutlich zu werden, der mechanistischen Methode sich bedienen muß, so bedarf doch diese der unablässigen Korrektur durch die Erkenntnis, daß schon die Unterscheidung der Organe und Funktionen, also die Anatomie und Physiologie irreführend ist, wenn man nicht ihrer Künstlichkeit, also ihres begrenzten Wertes als bloßer Mittel der Erkenntnis fortwährend bewußt bleibt.“

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poleonische Heer 1806, trotz der bereits schwelenden sozialen Konflikte, in einem spekulativen Sinn als wissenschaftlichen Begriff und potenzielle Aufhebung begreifen konnte, dann offensichtlich deswegen, weil aus seiner Perspektive des ‚unparteiischenʻ philosophischen Standes noch eine residuale Aussicht darauf bestand, die soziopolitischen Institutionen des ‚unwahrenʻ Feudalstaats mithilfe der wissenschaftlichen Philosophie rundzuerneuern³⁵¹. Wenn Marx eine Generation später die Perspektive des ‚unparteiischenʻ Wissenschaftlers aufgab und die Philosophie zum Instrument der Aufklärung und Emanzipation des Proletariats erklärte³⁵², dann offensichtlich deswegen, weil die Reproduktion der Gesellschaft aufgrund der Häufigkeit sozialer Konflikte in den 1840er Jahren in eine neue Phase der dialektischen Entwicklung eingetreten war, die jedoch im Idiom der neuen Wirtschaftswissenschaft/en zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zum Gegenstand gemacht werden konnte³⁵³. In der zeitgenössischen Folklore wird der dialektische Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis der Industrialisierung oft als imaginärer ‚Fortschrittʻ sowohl der Gesamtgesellschaft als auch der Wissenschaftsentwicklung glorifiziert, der „[…] eng mit den dramatischen Erfolgen [sic!] des sich entwickelnden Industriezeitalters und dem Aufstieg des Kapitalismus verbunden“³⁵⁴ gewesen sei. Nüchtern und realistisch betrachtet, wäre eher davon zu sprechen, dass sich organisierte Fraktionen der Bourgeoisie³⁵⁵ in wichtige soziopolitische Institutionen integriert und die Vertreter der neuen Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften kooptiert hatten, um die gesamtgesellschaftliche Praxis mit Hilfe abstrakter Theorien auf den Schutz des akkumulierten Privateigentums und seiner (Profit‐)Interessen zu verpflichten. Zumal die Entwertung

 Vgl. als einen möglichen Anlass für diesen Optimismus das ‚Preussische Verfassungsversprechenʻ vom 22. Mai 1815, in: Manfred Botzenhart (Hg.), Die deutsche Verfassungsfrage 1812– 1815 (Göttingen: Vandenhoeck, 1968), 69 – 70, insbesondere §1 auf 69: „Es soll eine Repräsentation des Volkes gebildet werden.“ Und Hegel schien es offensichtlich ausreichend, dass die ‚Provinzialständeʻ, aber eben nicht das ‚Volkʻ, ihre Repräsentanten in die ‚Versammlung der Landesrepräsentantenʻ mit Sitz in Berlin entsenden sollten, wie in §3 desselben Dokuments niedergelegt.  Vgl. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, a.a.O., 182: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emancipation der Deutschen zu Menschen vollziehn.“ (Hbg. im Original)  Vgl. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Zweite Wiedergabe), a.a.O., 323 – 438, 363: „Die Nationalökonomie geht vom Factum des Privateigenthums aus. Sie erklärt uns dasselbe nicht. Sie faßt den materiellen Prozeß des Privateigenthums, den es in der Wirklichkeit durchmacht, in allgemeine, abstrakte Formeln, die ihr dann als Gesetze gelten. Sie begreift diese Gesetze nicht, d. h. sie zeigt nicht nach, wie sie aus dem Wesen des Privateigenthums hervorgehn. Die Nationalökonomie giebt uns keinen Aufschluß über den Grund der Theilung von Arbeit und Capital, von Capital und Erde.“  Karsten Mause, Christian Müller & Klaus Schubert, Politik und Wirtschaft analysieren: Ein integrativer Ansatz, in: dieselben (Hg.), Politik und Wirtschaft. Ein integratives Kompendium (Wiesbaden: Springer, 2018), 3 – 17, 5.  Vgl. Heinrich Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980), 81– 87, der diesbezüglich etwa auf die Vorreiterrolle des ‚Deutschen Handels- und Gewerbsvereinsʻ von 1819/1820 hinweist.

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der Hegelschen Philosophie durch eine neue akademische ‚Geistlosigkeitʻ „[…] bedeutet das Verschwinden des Gedankens der Widersprüchlichkeit des Fortschritts. Soweit eine Ideologie des Fortschritts weiter beherrschend bleibt – und sie ist noch lange Zeit die führende Ideologie der liberalen Bourgeoisie –, wird aus ihr jedes Element der Widersprüchlichkeit getilgt; es entsteht die Auffassung der Geschichte als einer glatten, gradlinigen Evolution.“³⁵⁶ Ökonomische und auch soziologische Theorien, die diesem Narrativ entsprangen, hatten schlussendlich weder etwas mit ‚Fortschrittʻ noch mit ‚Wissenschaftʻ zu tun, sondern blieben Ideologie. Ihre breite Rezeption sorgte dafür, dass ihre Ideologie schon gar keine Hülle mehr gewesen ist, „[…], sondern nur noch das drohende Antlitz der Welt. Nicht nur kraft ihrer Verflechtung mit Propaganda, sondern der eigenen Gestalt nach geht sie in Terror über.“³⁵⁷ Wenn Hegel im Glauben an die Vernunft noch einen Grund für die optimistische Hoffnung sah, eine freie Wissenschaft gebildeter Menschen könnte den bürgerlichen Rechtsstaat mit einem gemeinwohlorientierten Verständnis der Worte ‚bürgerlichʻ und ‚Rechtsstaatʻ im Sinne des vernünftigen Zeitgeists zur gesamtgesellschaftlich konsensfähigen Wahrheit erklären, dann war Marx zur Einsicht gekommen, dass die von Staats wegen geförderten akademischen Disziplinen genauso wie alle anderen wichtigen soziopolitischen Institutionen umso stärker zu einem integralen Teil der gesellschaftlichen Kämpfe zwischen Privilegierten und der wachsenden Zahl von Unterprivilegierten werden mussten³⁵⁸. Die vom real existierenden bürgerlichen Rechtsstaat organisierte gesellschaftliche Praxis war mit ihren sozialen Konflikten zum formativen Kontext der Wissenschaft/en und damit auch des gesellschaftlichen Bewusstseins geworden, nicht die von Kant angemahnte ‚Selbstkritikʻ oder das von Hegel beschworene kollektive ‚Selbstbewusstseinʻ³⁵⁹. Die bürgerlichen ‚Wissenschaftlerʻ konzentrierten sich auf ihre neue Rolle als ‚organische Intellektuelleʻ, indem sie die Verhältnisse nicht nur höchst abstrakt und selektiv untersuchten, sondern dabei die Perspektive der einflussreichsten Kräfte annahmen. Aus dieser Perspektive lag es nahe, realweltlich existierende Konflikte nicht als Ausdruck einer strukturell bedingten gesamtgesellschaftlichen Krise, sondern als randständiges und zu vernachlässigendes Problem innerhalb einer funktionierenden ‚Ordnungʻ zu interpretieren, und sich auf den Wirklichkeitsausschnitt zu konzentrieren, der sich nach dem Vorbild der Newtonʼschen Physik als Ergebnis mechanischer Prozesse eines immerwährenden Gleichgewichtssystems beschreiben ließ³⁶⁰. Kontingente

 Georg Lukacs, Der Verfall des historischen Bewußtseins, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3:4 (1955), 451– 464, 454.  Adorno, Beitrag zur Ideologienlehre, a.a.O., 477.  Und tatsächlich versuchten die Parteien ab den 1860er Jahren verstärkt, Einfluss auf Universitäten und auch einzelne Wissenschaftler zu nehmen. Vgl. dazu Andernach, Der Einfluss der Parteien auf das Hochschulwesen, a.a.O., 180 – 181.  Vgl. Karl Marx & Friedrich Engels, Konvolut zu Feuerbach, in: Karl Marx,Werke, a.a.O., 16 – 123, 45 – 46.  Vgl. Lukacs, Der Verfall des historischen Bewußtseins, a.a.O., 454. Nicht zuletzt David Ricardos Werk mit der Betrachtung der Ökonomie als einem eigenen System hat diese verhängnisvolle Entwicklung

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menschliche Interaktionen verschwanden für Ökonomen hinter idealen ‚Gesetzmäßigkeitenʻ; und die je fachwissenschaftlich betriebene Analyse der politischen Ökonomie ergab, dass und warum die geschäftsmäßig betriebene Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Umwelt unweigerlich zu mehr ‚Friedenʻ, ‚Freiheitʻ und ‚Fortschrittʻ führt. Angesichts der instrumentellen Bedeutung formalwissenschaftlicher Theorien für die Legitimierung der herrschenden Verhältnisse ist es nicht überraschend, dass die Eliten der bürgerlichen Gesellschaft/en dazu übergingen, sozialwissenschaftliche Tätigkeiten in unabhängigen Fachdisziplinen zu organisieren und sie in einem ‚Akt der Willkürʻ³⁶¹ an einem unwirklichen Bild des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses auszurichten. Nicht zuletzt im Bereich der amerikanischen Politikwissenschaft ist diese Entwicklung aufgrund des Fehlens einer etablierten humanistischen Bildungstradition von Anfang an besonders virulent gewesen³⁶². Der Fokus verengte sich schon früh auf die Entscheidungen öffentlich-rechtlicher Instanzen im entstehenden Bundesstaat; das epistemologische Selbstverständnis beschränkte sich auf die Abstraktion des Untersuchungsgegenstands von den historischen Umständen; und der methodologische Zugang basierte auf der Verwendung formaler Begriffe, um vermeintliche ‚Regelmäßigkeitenʻ zu beschreiben und auf ihre ‚Ursachenʻ zu schließen³⁶³. Aber vor allem nahmen die meisten amerikanischen Politikwissenschaftler aufgrund ihrer Herkunft/Sozialisierung schon früh Partei für den bürgerlichen Charakter des staatlichen Institutionengefüges³⁶⁴, das die Rechte und Freiheiten der wohlhabenden weißen Minderheit im Vergleich zu allen anderen existierenden politischen Systemen eingeleitet, „[…] weil es der theoretischen Analyse den Weg der typischen Modellkonstruktion eröffnet hat. Diese Betrachtungsweise hat seit Ricardo in zunehmender Weise das theoretische Denken der Wirtschaftswissenschaft beherrscht und damit das Erfassen wirtschaftlicher Vorgänge in interdepedenten [sic!] Zusammenhängen ermöglicht, was Ricardo in erster Linie bei der Bewältigung des Verteilungsproblems in so eindringlicher Weise veranschaulichte. Dieses Bestreben hat bekanntlich Ricardo den Vorwurf eingebracht, wirtschaftsfremde Ergebnisse zu erarbeiten. Ein solcher Vorwurf muß jedoch mehr oder weniger jede theoretische Konzeption treffen, da jede Theorie von der Wirklichkeit abstrahiert, und ist daher nur dann berechtigt, wenn die Abstraktion von der Wirklichkeit soweit getrieben wird, daß ihr überhaupt kein Erkenntniswert mehr zukommt.“ Gerhard Stavenhagen, Geschichte der Wirtschaftstheorie (Göttingen: Vandenhoeck, 1969), 73.  Vgl. in diesem Sinn auch Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §30.  Daran ändert auch der zwischenzeitliche ‚humanistischeʻ Einfluss von Franz bzw. Francis Lieber, einem deutschen Emigranten, auf wirkungsmächtige Figuren wie dem späteren Präsidenten der Yale Universität, Theodore Woolsey, nichts. Vgl. dazu Dorothy Ross, The Origins of American Social Science (Cambridge: Cambridge University Press, 1991), 39 – 42 für das Lieberʼsche Verständnis von Politikwissenschaft; 64– 77 für die Rezeption der Lieberʼschen Politikwissenschaft u. a. durch John Burgess; und 288 – 297 für die endgültige Ausrichtung der amerikanischen Politikwissenschaft am Szientismus.  Vgl. dazu Jürgen Hartmann, Geschichte der Politikwissenschaft, (Opladen: Leske & Budrich, 2003), 27, der behauptet, dass es erst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer ‚Zäsurʻ und einer Hinwendung der amerikanischen Politikwissenschaft zum Szientismus kam. Ross, The Origins of American Social Science, a.a.O., 401 verweist dazu auf die Rolle des 1923 gegründeten Social Science Research Council (SSRC), lässt den Einfluss des Szientismus aber früher beginnen.  Vgl. ebda, 139: „American academic social scientists had also to contend with the power of respectable opinion, and behind it, the power of the capitalist class to enforce its will.“

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am besten zu schützen vermochte³⁶⁵. Ähnlich, wie die preußischen Staatswissenschaftler ‚ihrenʻ Staat mystifizierten³⁶⁶, verklärten amerikanische Politikwissenschaftler die rule of law als unpersönliche Herrschaft der Vernunft, während die tonangebende Schicht der weißen Protestanten über die Institutionen des Rechts die rassistischen und genozidalen Strukturen der amerikanischen Gesellschaft zum eigenen materiellen Vorteil immer weiter fortschrieb³⁶⁷. Staats- und Politikwissenschaftler/innen wären in ihren jeweiligen Ländern eigentlich immer schon dazu aufgerufen gewesen, sich mit der politischen Dimension gesellschaftlicher Praxis gründlich zu beschäftigen. Denn „[a]t stake here is our ability to recognize that human beings often act in socially harmful ways, and our determination to curb their tendency to do so, even though it constitutes an unpredictable, even mysterious, force in political affairs.“³⁶⁸ Allerdings taten sich Staats- und Politikwissenschaftler/innen grundsätzlich eher schwer damit, die oft geschäftsmäßig betriebene Herbeiführung von Leid und Zerstörung als Problem zu definieren und systematisch zu untersuchen. Die fehlende Distanz zur politischen Praxis und die Kultivierung eines irregeleiteten Wissenschaftsverständnisses³⁶⁹ hatten im Zuge einer fortschreitenden Professionalisierung der Fachdisziplinen den gegenteiligen Effekt, insofern sich die Forschung durch einen immer abstrakteren Formalismus und eine fachblinde Loyalität gegenüber inter-, supra- und transnationalen Institutionen auszeichnete, deren

 Vgl. dazu Paul W. Kahn, Legitimacy and History. Self-Government in American Constitutional Theory (New Haven. Yale University Press, 1992), besonders 32– 35, der den patriotischen sense of mission der amerikanischen Oberschicht als Ausdruck einer politischen Zivilreligion auf Abraham Lincoln zurückführt.  Vgl. Andernach, Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen, a.a.O., 182.  Vgl. die ‚Skandalurteileʻ des US Supreme Court: Dred Scott v. Sandford (1856) und Plessy v. Ferguson (1896), ersteres auf https://caselaw.findlaw.com/us-supreme-court/60/393.html (zuletzt aufgerufen am 31.05. 2021), zweiteres auf https://supreme.justia.com/cases/federal/us/163/537/ (zuletzt aufgerufen am 01.06. 2021).  David M. Ricci, The Tragedy of Political Science: Politics, Scholarship, and Democracy (New Haven: Yale University Press, 1984), 297.  Selbst im anglo-amerikanischen Raum hätte es Möglichkeiten gegeben, den Szientismus als Irrweg für die Sozialwissenschaften erkennen zu können.Vgl. etwa Alfred N.Whitehead, Science and the Modern World. Lowell Lectures, 1925 (New York: Free Press [1925] 1967), 194– 195, der nicht nur die rationalistische „[…] assumption of bodies and minds as individual substances, each existing in its own right apart from any necessary reference to each other“ als verhängnisvollen Kategorienfehler beschreibt. „Also the independence acribed to bodily substances carried them away from the realm of values altogether. They degenerated into a mechanism entirely valueless, except as suggestive of an external ingenuity.“ Vgl. auch Peter Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie (Frankfurt: Suhrkamp, 1966) der auf 25 noch einmal auf den seit Kant und Hegel trivialen Sachverhalt hinweist, daß die Bedeutungen der umgangssprachlich und auch wissenschaftlich verwendeten Konzepte überhaupt erst festlegen, ‚was dem Bereich der Wirklichkeit angehörtʻ; und der auf 169 feststellt, „[…] daß soziale Beziehungen nur im Rahmen der in einer Gesellschaft herrschenden Ideen und durch sie existieren; oder anders ausgedrückt, daß soziale Beziehungen unter dieselbe logische Kategorie fallen wie Beziehungen zwischen Ideen.“

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Hauptfunktion de facto darin bestand, die bürgerliche Ordnung jenseits staatlicher Räume zu konsolidieren³⁷⁰. Wie bei allen organischen Intellektuellen spielten auch in der Politikwissenschaft Selektions- und Sozialisationsmechanismen eine große Rolle für die quietistische Haltung ihrer ‚bestenʻ Vertreter/innen gegenüber den politischen Entscheidungsinstanzen. Diejenigen, die im Nachkriegsdeutschland als Vertreter/innen einer ‚affirmativen Demokratiewissenschaftʻ³⁷¹ mit überwiegend deskriptiver Institutionenkunde des Rechtsstaats Karriere machten³⁷², indem sie entweder parlamentarische Abläufe dokumentierten, westlich-liberale Regierungssysteme verklärten, oder außenpolitische Handlungsspielräume beschrieben, zeichneten sich nicht selten durch eine Parteinähe oder gar Parteimitgliedschaft aus³⁷³, der sie nicht nur ihre Loyalität zum erneuerten Institutionengefüge sondern in vielen Fällen auch ihre akademische Karriere verdankten. Ob bereits die parteipolitische Nähe vieler Nachkriegsprofessor/innen ausreicht, um zu verstehen, dass die in der Bundesrepublik zur Struktur gewordenen Interessen der unverändert einflussreichen Konzernindustrie nicht zu einem relevanten Phänomen wurden, ist abschließend nicht zu beurteilen. Auffällig ist im kritischen Vorstellungsraum auf jeden Fall, dass viele Politikwissenschaftler/innen im Mainstream einen engen Politikbegriff verwendet haben, und dass es den politikwissenschaftlichen Diskussionen, nicht nur in Deutschland, auch nach dem Zweiten Weltkrieg an einer ‚fragenden Zuspitzungʻ möglicher Zusammenhänge in der Gegenwart und ihrer‚radikal nüchternen Analyseʻ bis auf wenige Ausnahmen gemangelt hat³⁷⁴. Die schleichende szientistische Durchdringung und die Ausdifferenzierung des Fachs in immer detailliertere Forschungsbereiche haben der ohnehin schon unkritischen Grundorientierung im Mainstream schließlich jeden Sinn für problematische Verstrickungen staatlicher Politik in die Herbeiführung von Leid und Zerstörung genommen. „Während die einen – inzwischen die große Mehrheit – also nur noch rech Vgl. Robert Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations: An Essay in Method, Millennium 12:2 (1983), 162– 175, 172– 173.  Vgl. zum Kontext der Begriffsverwendung, Alfons Söllner, Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: M. Seckelmann & J. Platz (Hg.), Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945. Ordnungsvorstellungen zu Staat und Verwaltung im transatlantischen Transfer (Bielefeld: Transcript, 2017), 99 – 128, 107.  Vgl. Hartmann, Geschichte der Politikwissenschaft, a.a.O., 148 – 152, der in dem Zusammenhang auf Eschenburg, Sternberger, Hennis, Steffani und Ellwein verweist; vgl. auch Eckhard Jesse, Politikwissenschaft, in: R. Voigt (Hg.), Handbuch Staat (Wiesbaden: Springer, 2018), 89 – 99, 94– 96, der eine ganze Reihe von Namen aus der ersten und zweiten Generation der deutschen Politikwissenschaftler/innen der Nachkriegszeit nennt, die sich ebenfalls deskriptiv mit dem politischen System beschäftigten.  Vgl. Lars Holtkamp, Der Parteienstreit: Probleme und Reformen der Parteiendemokratie (BadenBaden: Nomos, 2018), 13.  Vgl. Wolf-Dieter Narr, Politikwissenschaft als Beruf, den wir mein(t)en, in: Th. Greven & O. Jarasch, Für eine lebendige Wissenschaft des Politischen (Frankfurt: Suhrkamp, 1999), 20 – 37, 32. Hartmann, Geschichte der Politikwissenschaft, a.a.O., 157– 162, weist auf die ‚Etablierungʻ einer kritischen Perspektive am Rand des Faches in den 1970er Jahren hin, die sich von den normativen, deskriptiven und zunehmend empirisch-quantitativen Strömungen im Mainstream abschottete.

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nen, so will es scheinen, flüchten sich die anderen in theoretische Spezialdiskurse oder moralphilosophische Höhenflüge. Die derzeit vielbeschworene Krise der Demokratie ist damit auch eine Krise der Politikwissenschaft.“³⁷⁵ Mehr als jedes substanzielle Ergebnis, so scheint es, zählt nur noch die anspruchsvolle Anwendung geeigneter Methoden bei der vermeintlich ‚empirischenʻ Analyse eines isolierten und peripheren Zusammenhangs³⁷⁶. Da sich zumal in Deutschland die bürgerliche Herkunft der Durchschnittsprofessor/innen genauso reproduziert hat, wie die obrigkeitlichen Konventionen, existiert eine ‚freieʻ Forschung und Lehre vor allem insofern, als sich abhängig beschäftigte Politikwissenschaftler/innen ‚freiwilligʻ an die von den zentralen Gremien in OECD, EUKommission, Bildungsministerien, Centrum für Hochschulentwicklung, Hochschulrektorenkonferenz, der Deutschen Vereinigung der Politikwissenschaft sowie den Leitungsgremien der jeweiligen Institute festgelegten Konventionen halten können. Im kritischen Vorstellungsraum geschieht die Affirmation der welt/gesellschaftlichen Verhältnisse durch Politikwissenschaftler/innen letztendlich dadurch, dass sie sich als bekennende Mitglieder eines Spezialistentums im Mainstream ausschließlich für Theorieperspektiven, Denkfiguren und Themen interessieren, die ihrer eigenen Karriere in einem weltabgewandten Diskurszusammenhang förderlich sind; dass sie sich aus Karrieregründen mit dem offiziell sanktionierten Bild eines ‚liberalenʻ Regierungssystems als der stabilsten Grundlage einer friedlichen, fortschrittlichen und freiheitlichen Weltordnung identifizieren; und dass sie sich an einem Wissenschaftsbegriff orientieren, der sie methodisch nach kausalen Zusammenhängen in einem winzigen Ausschnitt einer für die Zwecke ihrer ‚Forschungʻ als gegeben postulierten Objektwelt suchen lässt. „Nicht zuletzt hapert es [den Politikwissenschaftler/innen im Mainstream] an einem erhaben abständigen Wertprofil, daß die herrschaftsdetektivische Arbeit ebenso förderte wie die Vorstellung anderer institutioneller, anderer politischer Formen. Der Mangel an ‚political imaginationʻ bezeichnet […] das schlimmste, das am meisten bedrückende Manko.“³⁷⁷ Auch im Bereich der Sozialwissenschaft/en wäre es jedoch unangemessen, etablierten Professor/innen wegen ihrer Abkehr von den realweltlichen Verhältnissen, der Reproduktion von Hierarchie, sowie der versuchten Steuerung des wissenschaftlichen Diskurses eine ausgeklügelte Strategie zu unterstellen. Die wenigsten hinterfragen offen den Sinn etablierter Konventionen, sondern verhalten sich fügsam gegenüber Zwängen,  Verena Frick, Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre: Vereint in der Krise?, Zeitschrift für Politik 66:2 (2019), 127– 142, 136.  Vgl. dazu ein willkürlich ausgewähltes Beispiel aus dem amerikanischen Kontext Dean Knox & Christopher Lucas, A Dynamic Model of Speech for the Social Sciences, American Political Science Review 115:2 (2021), 649 – 666, 649: „Our approach models political speech as a stochastic process shaped by fixed and time-varying covariates, including the history of the conversation itself. In an application to Supreme Court oral arguments, we demonstrate how vocal tone signals crucial information – skepticism of legal arguments – that is indecipherable to text models.“ Politisches Sprechen wird am Ende modelliert als intonierte Informationsweitergabe.  Narr, Politikwissenschaft als Beruf, a.a.O., 32. Vgl. in einem ganz ähnlichen Sinn schon Whitehead, Science and the Modern World, a.a.O., 197.

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die aus dem Bereich der Zivilgesellschaft auf das akademische System einwirken. In der ‚verwalteten Weltʻ der bürgerlichen Gesellschaft/en fungieren die Kultur- und Bildungsinstitutionen als Mechanismen, die sich für die Normalisierung und Legitimierung eines Systems einsetzen, in der die systematische Zerstörung von Mensch und Umwelt für ‚Wohlstandʻ, ‚Wachstumʻ und ‚Fortschrittʻ sorgt³⁷⁸. Verantwortliche Wissenschaftsmanager/innen sichern in diesem Zusammenhang in erster Linie die Stellung einer Universität, eines Fachbereichs, oder eben auch einer hochspezialisierten Disziplin gegenüber Zweifeln ‚von obenʻ an ihrer Performance im ‚globalen Wettbewerbʻ. „Particularly for public colleges and universities, repositioning with respect to contemporary environmental demands is difficult – not only in terms of determining how to reconcile conflicting demands, but also in terms of determining the extent to which the organization can respond to demands that threaten its survival.“³⁷⁹ Im kritischen Vorstellungsraum entbindet die Teilnahme am bürokratisierten System der Wissenschaft dennoch nicht gänzlich von persönlicher Verantwortung, kann eine solche Form des ’Gehorsams’ nicht immer mit Verweis auf herrschende Zwänge gerechtfertigt werden. In ihrem eigentlichen Sinn betrachtet, bleibt die Wissenschaft als der denkende Teil gesellschaftlicher Praxis dazu aufgerufen, sich um das ‚wieʻ und ‚wozuʻ der menschlichen Reproduktion Gedanken zu machen und die Logik aktueller Entwicklungen zu hinterfragen³⁸⁰. Privilegierte Kräfte der Zivilgesellschaft mögen seit dem 19. Jahrhundert über den Weg der politischen Parteien, der Forschungsförderung, oder der bildungspolitischen Einrichtungen dazu übergegangen sein, einer ‚modernen Wissenschaftʻ Schranken zu setzen und Auflagen zu erteilen. Wissenschaftler/innen ‚dienenʻ dennoch der Suche nach der Wahrheit und orientieren sich am vernünftigen Begriff, was die Emanzipation von jeglicher Einflussnahme durch die Partikularinteressen der Zivilgesellschaft zwingend voraussetzt. Je größer die Irrationalität sowohl der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung als auch der akademischen Diskussionen, desto mehr versucht eine verantwortliche Wissenschaft, ihre ‚Mündigkeitʻ³⁸¹ über die Anwendung einer ‚kritischen Methodeʻ³⁸² zu erreichen.

 Vgl. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, in: derselbe, Soziologische Schriften, a.a.O., 354– 370, 361: „Zur Totalität entwickelt sie [, die industrielle Arbeit,] sich dadurch, daß Verfahrungsweisen, die den industriellen sich anähneln, ökonomisch zwangsläufig sich auch auf Bereiche der materiellen Produktion, auf Verwaltung, auf die Distributionssphäre und die, welche sich Kultur nennt, ausdehnen.“  Patricia J. Gumport, Academic Restructuring: Organizational Change and Institutional Imperatives, Higher Education 39:1 (2000), 67– 91, 85.  Vgl. Horkheimer, Verwaltete Welt, in: derselbe, Gesammelte Schriften, a.a.O., 363 – 384, 379.  Vgl. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: derselbe, Was ist Aufklärung?, a.a.O., 55 – 61. Mit Adorno wäre eine solche ‚Mündigkeitʻ zu verstehen als Fähigkeit zu einer unangepasst-kritischen Realitätsprüfung. „Dieses kritische Moment umfasst sowohl das Hinterfragen unerhellter Autorität, als auch die kritische Selbstreflexion und bildet als Kritik am Bestehenden und als Erziehung zur Kritikbereitschaft (Das ,sapere aude!ʻ zielt auf den voluntativen Aspekt von Mündigkeit.) den Kern der Adomoschen Überlegungen einer,Erziehung zur Mündigkeitʻ.“ Jens Zöller, Dimensionen von Mündigkeit im Anschluss an Adorno – Zur Reformulierung eines unausgeschöpften emanzipatorischen Entwurfs, in:

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Kritisches Denken realisiert sich in einer angemessenen ‚Methodeʻ Die kritische Suche nach der Wahrheit gewinnt ihre Konturen in Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen Wissens- und Wahrheitsregimen der existierenden bürgerlichen Ordnung/en. Sie „[…] ist der absolute ‚Historizismusʻ, die absolute Verweltlichung und Diesseitigkeit des Denkens, ein absoluter Humanismus der Geschichte.“³⁸³ Ihr Anspruch liegt darin, aus einem teilnehmenden Verstehen der Zeitgeschichte Möglichkeiten für die Gestaltung einer besseren Zukunft zu erkennen³⁸⁴. Die bürgerlichen Sozialwissenschaften sind gemäß ihrem irregeleiteten Selbstverständnis auf einen ‚Primat des Objektsʻ festgelegt, der sich in der Illusion ausdrückt, realweltliche Sachverhalte ‚empirischʻ, d. h. distanziert und vorurteilslos zu untersuchen, um objektives Wissen zu erlangen. Dabei verkennen die meisten Sozialwissenschaftler/innen im positivistischen Mainstream ihre eigene Situation komplett, wenn sie von der künstlichen und kontingenten Verfassung der Wirklichkeit absehen und nicht merken, dass sie zu Parteigängern der herrschenden bürgerlichen Schichten³⁸⁵ werden, indem sie bereits bei der Projektion ihres Gegenstandsbereichs deren Weltsicht übernehmen. Wenn Mainstream-Sozialwissenschaftler/innen etwa zum Schluss kommen, dass ‚Deregulierungʻ und ‚Liberalisierungʻ z. B. im ‚Außenhandelʻ über ‚Wettbewerbʻ zu ‚Produktivitätssteigerungʻ und ‚Beschäftigungszuwachsʻ, mithin sogar zu einer effizi-

A. Bernhard & W. Keim (Hg.), Jahrbuch für Pädagogik 2008: 1968 und die neue Restauration, (Frankfurt: Lang, 2009), 153 – 170, 156.  Vgl. zum methodologischen Aspekt einer ‚Philosophie der Praxisʻ, Louis Althusser & Etienne Balibar, Reading Capital (London:Verso [1968] 1997), 137„[…] the ‚philosophy of praxisʻ can, as a philosophy, only be the philosophy of the philosophy-history identity, or of the science-history identity. Deprived of any object of its own, Marxist philosophy loses the status of an autonomous discipline and is reduced […] to a mere ‚historical methodologyʻ, i. e., to the mere self-consciousness of the historicity of history, to a reflection on the presence of real history in all its manifestations […].“ Das begrifflich vermittelte Nachdenken über die geschichtlich angemessene Bedeutung des fraglichen Gegenstands wäre am Ende das Bewegungsprinzip dieses Unterfangens.  Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §27.  Vgl. dieselbe Haltung bei Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 380: „Die Dialektik von Praxis verlangte auch: Praxis, Produktion um der Produktion willen, universales Deckbild einer falschen, abzuschaffen. Das ist der materialistische Grund der Züge, die in negativer Dialektik gegen den offiziellen Lehrbegriff von Materialismus rebellieren. Das Moment von Selbständigkeit, Irreduktibilität am Geist dürfte wohl zum Vorrang des Objekts stimmen. Wo Geist heut und hier selbständig wird, sobald er die Fesseln nennt, in welche er gerät, indem er anderes in Fesseln schlägt, antizipiert er, und nicht die verstrickte Praxis, Freiheit.“  Vgl. dazu auch Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, a.a.O., 171: „In Wahrheit resultiert jedoch das Leben der Gesellschaft aus der Gesamtarbeit der verschiedenen Produktionszweige, und wenn die Arbeitsteilung unter der kapitalistischen Produktionsweise auch nur schlecht funktioniert, so sind ihre Zweige, auch die Wissenschaft, doch nicht als selbständig und unabhängig anzusehen. Sie sind Besonderungen der Art und Weise, wie sich die Gesellschaft mit der Natur auseinandersetzt und in ihrer gegebenen Form erhält.“

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enten ‚Marktpreisbildungʻ³⁸⁶, führt und die damit einhergehende Ausgleichsfunktion zwischen Anbietern und Konsumenten wegen ihrer ‚Wohlfahrtseffekteʻ im ‚Interesseʻ moderner ‚Staatenʻ liegt³⁸⁷, dann mystifizieren sie mit dieser Reifizierung von komplexen Sachverhalten zum einen den Umstand, dass ‚Staatenʻ und die von ihnen eingerichteten inter-, supra- und transnationalen Organisationen von privilegierten Kreisen mit Partikularinteressen³⁸⁸ gelenkt werden; und zum anderen, dass jeder Marktmechanismus nur unter strikter Einhaltung aller notwendigen Regeln und der Voraussetzung wirklich unabhängiger Kontrollinstanzen funktioniert, die es so aber noch nie gegeben hat – weswegen vor allem entgrenzte Märkte de facto den Interessen der einflussreichsten Akteure dienen, die sich ihre Vorteile de facto durch alle möglichen illegalen Praktiken (Lohndumping, Industriespionage, Erpressung, Korruption, Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen usw.) sichern³⁸⁹. Eine empirische Suche nach kausalen Beziehungen zwischen reifizierten Variablen, die solche negativen Begleiterscheinungen erst gar nicht in den Blick nimmt, die sich stattdessen auf ein Phantasiemodell der internationalen Ökonomie konzentriert, um die Analyse auf idealisierte Zusammenhänge zu reduzieren³⁹⁰, reproduziert mit einer solchen Reifikation die Verwaltung der Welt, wie sie von den etablierten Kräften praktiziert wird³⁹¹.

 Selbst im Bereich der Mainstream-Ökonomie wird mittlerweile durchaus anerkannt, dass hier verschiedene realweltliche Konstellationen zu unterscheiden sind, vgl. etwa Timm Gudehus, Dynamische Märkte: Praxis, Strategien und Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft (Berlin: Springer, 2007), 203: „Das Niveau der Marktpreise hängt entscheidend von der Art der Preisbildung ab. Die Marktpreise sind für Angebotsfestpreise am niedrigsten, für Nachfragerfestpreise am höchsten und liegen für Verhandlungsund Vermittlungspreise dazwischen.“  Vgl. in diesem Sinn z. B. gleich das Eingangsstatement im enorm einflussreichen Text von Judith Goldstein, Trade Liberalization And Domestic Politics, in: M. Daunton, A. Narlikar & R. M. Stern (Hg.), The Oxford Handbook on The World Trade Organization (Oxford: Oxford University Press, 2012), 64– 83.  Vgl. für den staatlichen Kontext Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse: Grundlagen der politischen Wissenschaft (Bern: Francke, 1950), 83; vgl. für den Kontext internationaler Organisationen, Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations, a.a.O. besonders 172– 173  Vgl. Eva Kreisky, Weltwirtschaft als Kampffeld: Aspekte des Zusammenspiels von Globalismus und Maskulinismus, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 30:2 (2001), 137– 159, 143: „Für exzessive Profit- und Expansionssucht kapitalistischer Regime ist der Impact kriegerischen Treibens keineswegs hinfällig oder gar nutzlos geworden, auch wenn Kriege heutzutage zunehmend andere Formen aufweisen. Sie präsentieren sich längst nicht mehr nur als Staatenkriege, vielmehr ist eine neue Art ‚organisierter Gewaltʻ im Vormarsch, ein ‚Mischgebilde aus Krieg, Verbrechen und Menschenrechtsverletzungenʻ, das nicht nur Aushöhlung von Staatsmacht, tendenziellen Staatszerfall, sondern zudem auch Rückfälle in ‚wildeʻ Männlichkeiten indiziert.“ Vgl. auch Saskia Sassen, Ausgrenzungen: Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft (Frankfurt: Fischer, 2015).  Vgl. z. B. die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) in Auftrag gegebene Studie von Gabriel Felbermayr et al, Auswirkungen der Marktöffnung im Außenhandel für Wirtschaft, Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland (1990 – 2014) (München: Ifo Institut, 2017), 158.  „To the extent that it seeks to explain ‚thingsʻ, it is administering knowledge – namely, the ‚knowledgeʻ built into the existing social formation – rather than creating or questioning it.“ Michael J. Shapiro, The Rhetoric of Social Science: The Political Responsibilities of the Scholar, in: J.S. Nelson (Hg.), The

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Die Narrative der Mainstream-Sozialwissenschaften sind in aller Regel disziplinär und weltanschaulich verkürzt, weswegen die damit konstruierte Realität aus einer kritischen Haltung zum Gegenstand von empirisch fundierter Kritik wird³⁹². Dabei basiert die kritische Methode auf der Weltsicht einer informierten und bereits existierenden Masse von vernünftigen Menschen³⁹³, die sie sukzessive auszuweiten sucht, um dadurch die etablierten gesellschaftlichen Praktiken zu ändern. Mit diesem Verständnis problematisiert sie den funktionalen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Stratifikation einerseits und den positivistischen Sozialwissenschaften als Sachwalter der herrschenden Interessen andererseits. Dabei positioniert sie sich aufgrund ihres Wissens um die sozialen und ökologischen Verwerfungen gegenüber den herrschenden Verhältnissen als eine skeptische Instanz, strebt mit ihrem Erkenntnisinteresse nach einem tieferen Verständnis der hintergründigen Zusammenhänge und ist getragen von der Überzeugung, dass vernünftige Veränderungen in der Weltgesellschaft nur durch eine gänzliche Entmystifizierung der Verhältnisse möglich werden, die deswegen auch dringend erforderlich ist³⁹⁴. Sie stellt sich nicht nur in Opposition zu den positivistischen Mainstream-Sozialwissenschaften sondern lehnt es auch explizit ab, sich mit diesen auf deren Terrain zu versöhnen. Eine kritische Methode richtet den Fokus auf real existierende Brüche und Konflikte in der Gesamtgesellschaft, die sie als Ergebnis historischer Entwicklungen erkennt. Existierende Brüche und Konflikte gelten dabei nicht zwingend als Momente eines ‚Klassenkampfsʻ, der als solcher essenziell, gesetzmäßig und unabänderlich ist³⁹⁵; überhaupt ist es fraglich, ob sich ein enger Begriff der ‚Klasseʻ dazu eignen würde, den vielen verschiedenen Gruppen der Weltgesellschaft/en, die sich gegen Willkür, Diskriminierung, Ausbeutung, Vertreibung, Umweltzerstörung usw. zur Wehr setzen, ein ge-

Rhetoric of the Human Sciences: Language and Argument in Scholarship and Public Affairs (Madi-son: University of Wisconsin Press, 1987), 363 – 380, 376.  Vgl. Mark Rupert, Reading Gramsci in an Era of Globalising Capitalism, Critical Review of International Social and Political Philosophy 8:4 (2005), 483 – 497, 486: „Insofar as productive interaction with the natural world remains a necessary condition of all human social life, I would maintain that understandings of social power relations which abstract from the social organisation of production must be radically incomplete.“  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 10, a.a.O., §31.  Vgl. zu dieser Rolle der Wissenschaft als Philosophie und der Philosophie als emanzipatorische Wissenschaft schon Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, a.a.O., 183: „Die Emancipation des Deutschen ist die Emancipation des Menschen. Der Kopf dieser Emancipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“  Zwar verwendet Gramsci, Gefängnisheft 6, a.a.O., §5, selbst den Begriff ‚Klasseʻ und tendiert auch dazu, Geschichte als ‚Geschichte von Klassenʻ zu verstehen; allerdings weist er in Gefängnisheft 10, a.a.O., §8 auch darauf hin, dass der Strukturbegriff, der sich auf die realweltlichen Produktionsverhältnisse bezieht, wie jeder systematische Begriff, geschichtlich aufgefasst werden muss, „[…] als das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die wirklichen Menschen sich bewegen und wirken, als ein Ensemble objektiver Bedingungen, die mit Methoden der ‚Philologieʻ [!] und nicht der [deduktiven] ‚Spekulationʻ untersucht werden können und müssen.“

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nerisches Kollektivmerkmal zuzuordnen³⁹⁶, das sich begriffs- und ideengeschichtlich auf den Konflikt zwischen ‚Arbeitʻ und ‚Eigentumʻ bezogen hat³⁹⁷. Gleichwohl ist aufgrund der Konflikte in stratifizierten Weltgesellschaft/en von einer Dialektik auszugehen, insofern jedem Versuch einer Veränderung der herrschenden Verhältnisse eine organisierte Gegenbewegung derjenigen Kräfte entgegenschlägt, die vom Status Quo am meisten profitieren³⁹⁸. In ihrem methodischen Vorgehen orientiert sich die Praxis der Kritik an den Erfahrungen konkreter Menschen und begreift ihren Standpunkt als einen welt‚immanenten‘³⁹⁹. Aus dieser Perspektive erscheint die Rhetorik von ‚Friedenʻ, ‚Freiheitʻ und ‚Fortschrittʻ als inhaltsleeres Gerede, solange die sozialen Verhältnisse zerrüttet, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zerstört und ein kollektives Umdenken gezielt verhindert werden. Aufgrund der herrschenden Ansichten über die Welt, die durch Fachdisziplinen reproduziert werden, die ihre Legitimation aus der Fortschreibung der herrschenden Verhältnisse erhalten⁴⁰⁰, kann eine kritische Praxis „[…] anfänglich nicht anders als in polemischer und kritischer Haltung auftreten, als Aufhebung der vorhergehenden Denkweise und des konkreten bestehenden Denkens (oder der bestehenden kulturellen Welt).“⁴⁰¹ Schließlich geht es darum, dem denkenden Teil der Menschheit begreiflich zu machen, dass sie sich in ein handlungsfähiges Kollektivsubjekt verwandeln könnte, das mittelfristig noch eine Chance auf eine lebenswerte Zukunft findet⁴⁰². Eine kritische Methode ist nicht damit zufrieden, lediglich die existierenden Formen der bürgerlichen Aneignung zu beschreiben und zu erklären, sie sieht ihren Auftrag vielmehr darin, die Art und Weise der gesamtgesellschaftlichen Re-/

 Vgl. David Byrne, Social Exclusion, 2nd ed. (New York: Open University Press, 2005), 3, der diese Einschätzung – etwas hilflos – ‚postmodernʻ nennt.  Vgl. Lukacs, Der Verfall des historischen Bewußtseins, a.a.O., 455, der auf Literatur verweist, in der ‚das Problem der Rasseʻ die Basis für die Denkfigur des Klassenkampfs gebildet hatte. Vgl. außerdem für einen hilfreichen Text zur aktuellen Literatur über den ‚Klassismusʻ, Christian Baron, Klasse und Klassismus. Eine kritische Bestandsaufnahme, Prokla 44:2 (2014), 225 – 235, der auf 228 – 231 auch die analytische Schärfe des Begriffs diskutiert.  Vgl. dazu auch Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §15, der betont, dass sich in solchen Konstellationen nur der Kampf vorhersehen lässt, nicht ‚die konkreten Momenteʻ desselben.  Vgl. dazu auch Gramsci, Gefängnisheft 10, Teil 1, a.a.O., §8. Vgl. dazu auch Hans-Jürgen Bieling, Die politische Theorie des Neomarxismus: Antonio Gramsci, in: A. Brodocz & G. Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart: eine Einführung, 4. überarb. und akt. Auflage (Opladen: Budrich, 2015), 447– 478, 453.  Vgl. Peter Strasser, Die verspielte Aufklärung (Frankfurt: Suhrkamp, 1986), 141– 143.  Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §12.  Vgl. dazu auch Martina Thom, Das Praxis- und Wissenschaftsverständnis von Karl Marx – Einige Fragen der Interpretation, in: H. Müller (Hg.), Das Praxis-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft (Norderstedt: BoD, 2005), 41– 84, 45: „Ganz offensichtlich und mit großer Berechtigung wird aber von Gramsci mit der Bezeichnung ‚Philosophie der Praxisʻ die bei Marx und Engels vermittels des historischen Materialismus ausgearbeitete und implizit vorhandene philosophische Leitidee eines universellen Selbsterzeugungsaktes der Menschheit vermittels des praktischen Aneignungsvorganges gegenüber der umgebenden Wirklichkeit hervorgehoben.“

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Produktion zu verändern, indem sie das Alltagswissen der Gesamtgesellschaft aufhebt⁴⁰³. Daraus ergeben sich spezifische Postulate für das Streben nach Wissen, denn „[d]ie wichtigste Frage im Hinblick auf die Wissenschaft ist die der objektiven Existenz der Wirklichkeit.“⁴⁰⁴ Wenn die soziale Wirklichkeit durch kollektive Sinnzuschreibung von Menschen entsteht, die sich in bestimmten sozialen Verhältnissen befinden und in einer Beziehung zum Ökosystem stehen⁴⁰⁵, „[…] dann ist das Wichtigste nicht die Objektivität des Realen als solche, sondern der Mensch, der diese Methoden ausarbeitet, diese materiellen Instrumente, welche die Sinnesorgane berichtigen, diese logischen Unterscheidungsinstrumente, also die Kultur, die Weltauffassung, also die Beziehung zwischen dem Menschen und der Realität.“⁴⁰⁶ Mainstream-Sozialwissenschaftler/innen mögen glauben, einer Objektwelt gegenüberzustehen; sie mögen vergessen, dass sie sich in einem Kontext mit vorgefertigten Sinnstrukturen befinden; und sie mögen sich empirischer Methoden bedienen, von denen sie annehmen, dass sie den existierenden Gegenstand ins Bild setzen, wie er ‚istʻ. Ungeachtet all dieser Illusionen bleiben ihre Tätigkeiten verortet in einem historischen Kontext, der sich bereits durch komplexe Sinnstrukturen auszeichnet; der sich in der Formung ihrer Kognitionsfähigkeiten manifestiert; der sich damit als ermöglichende Bedingung in die Kontur ihres Wissens von der Wirklichkeit übersetzt; und der sie – merklich oder unmerklich – dazu anhält, den ‚objektiven Geistʻ der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen, die de facto immer schon eine partikulare und reaktionäre gewesen ist⁴⁰⁷. Die Objektivität der Wirklichkeit lässt sich einerseits nicht vom erkenntnistheoretischen Subjekt ablösen, das selbst ein Teil der sozialen Verhältnisse ist: „[…]: wenn man diese Ablösung macht, verfällt man in Geschwätz, in die sinnlose Abstraktion.“⁴⁰⁸ Andererseits ist die Faktizität der Welt eine durch und durch historische Konstruktion des erkenntnistheoretischen Subjekts, bei der die Verortung in einem historischen Kontext gleichbedeutend ist mit einer geteilten Voraussetzung für die Wahrnehmung der

 Die scheinbare Paradoxie, die darin zu liegen scheint, dass eine Philosophie der Praxis alltägliche gesellschaftliche Erfahrungen ernst nimmt, um durch Aufklärung und Überzeugung den oft bornierten und fehlgeleiteten Alltagsverstand zu ändern und eine neue Kultur im Sinn einer gerechteren und nachhaltigeren Lebensweise zu bewirken, löst sich in der Einsicht auf, dass ‚Gesellschaftʻ kein monolithisches und homogenes Ding darstellt, sondern durch eine Gleichzeitigkeit rational-vernünftiger Sichtweisen des ‚gesunden Menschenverstandsʻ und unreflektiert-impulsiver Überzeugungen geprägt ist. Vgl. Dazu augh Anne Showstack-Sassoon, Gramsciʼs Politics (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1980), 250 – 251.  Gramsci, Gefängnisheft 4, a.a.O., § 41.  Vgl. Peter Thomas, The Gramscian Moment: Philosophy, Hegemony and Marxism (Leiden: Brill, 2009), 304.  Gramsci, Gefängnisheft 4, a.a.O., § 41.  Vgl. Jean-Paul Sartre, Plädoyer für die Intellektuellen: Interviews, Artikel, Reden 1950 – 1973, in: derselbe (Hg), Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Politische Schriften, Band 6 (Reinbek: Rowohlt, 1995), 98.  Gramsci, Gefängnisheft 4, a.a.O., §41.

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Wirklichkeit. Ein weltimmanenter Standpunkt bietet die Möglichkeit, einen nüchternen und realistischen Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse zu werfen und die Wirklichkeit in einer Weise wahrzunehmen, die für vernünftige Menschen in einem konkreten raumzeitlichen Kontext ‚objektivʻ ist⁴⁰⁹. Der Materialismus der Objektwelt wird zum historischen Materialismus für das vernünftige Subjekt. In dem Maß, wie die Forschung eine Parteilichkeit gegenüber den Verhältnissen entwickelt⁴¹⁰ und jede parteiübergreifende Sichtweise auf die Wirklichkeit als Hirngespinst oder ‚Utopieʻ abtut⁴¹¹, verkommt die Deutung der Welt zu einer konservativen Konstruktion. Kritische Theorie wird in diesem Zusammenhang dann auch selbst zur Ideologie und zieht sich mithin den populistischen Vorwurf der ‚Verschwörungstheorieʻ zu, obgleich sie aus ihrer Sicht an einen ethischen Fortschritt des ‚Ganzenʻ appelliert⁴¹². Die Zielsetzung einer kritischen Praxis war und ist die Herstellung einer größeren gesellschaftlichen Einheit, die durch eine gemeinsame Überzeugung für die Notwendigkeit wirklichen ‚Friedensʻ, wirklicher ‚Freiheitʻ und wirklichen ‚Fortschrittsʻ getragen wird. Mit dieser Absicht stellt sie sich sowohl in den Dienst der freien und unabhängigen Spekulation über das Vernünftige, das die jeweils existierenden Verhältnisse zwar im Prinzip vorstellbar werden lassen, das die jeweils privilegierten Kräfte aber de facto immer nur in einer die feudale Vergangenheit reproduzierenden Art und Weise verwirklichen⁴¹³; als auch beherzigt sie die Forderung, die Welt im Sinne des Vernünftigen zu verändern. Zwar mag eine zunehmende kulturelle Vielfalt und Differenz einen Wesenszug der Weltgesellschaft/en im 21. Jahrhundert darstellen, dennoch wird ange-

 Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §37: „‚Objektivʻ bedeutet gerade und einzig dieses: daß jene Wirklichkeit als ‚objektivʻ, als objektive Wirklichkeit ausgesagt wird, die von allen Menschen festgestellt worden ist, die unabhängig von allem bloß partikularen oder gruppenspezifischen Standpunkt ist.“ ‚  Vgl. zu dieser Unterscheidung professioneller Rollen auch Jan Rehmann, Philosophy of Praxis, Ideology-Critique, and the Relevance of a ‚Luxemburg-Gramsci Lineʻ, Historical Materialism 22:2 (2014), 99 – 116, 101– 102.  Vgl. Benedetto Fontana, Hegemony and Power: On the Relation between Gramsci and Machiavelli (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1993), 9.  „The philosophy of praxis therefore insists upon its necessarily partial and incomplete nature, as the theoretical expression of an historical subjectivity that wants to help create the conditions of a genuinely human objectivity, that is, a ‚universal subjectivityʻ.“ Thomas, The Gramscian Moment, a.a.O., 306.  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 10, Teil 1, a.a.O., §10: „Was ist folglich die Charakteristik des 19. Jahrhunderts in Europa? Nicht Geschichte der Freiheit zu sein, sondern Geschichte der sich als solcher bewußten Freiheit zu sein; im 19. Jahrhundert gibt es in Europa ein kritisches Bewußtsein, das es zuvor nicht gab, man macht die Geschichte im Wissen dessen, was man macht, im Wissen, daß die Geschichte Geschichte der Freiheit ist, usw. […] Doch es hat sich eine Strömung und eine Partei gebildet, die sich speziell liberal genannt hat, die aus der spekulativen und kontemplativen Position der Hegelschen Philosophie eine unmittelbare politische Ideologie gemacht hat, ein praktisches Instrument gesellschaftlicher Herrschaft und Hegemonie, ein Mittel der Konservierung partikularer politischer und ökonomischer Einrichtungen, die im Verlauf der Französischen Revolution und des Zurückflutens, das die Französische Revolution in Europa erfuhr, gegründet worden waren. Eine neue konservative Partei war entstanden, eine neue Autoritätsposition hatte sich gebildet, und diese neue Partei tendierte genau dahin, mit der Partei des Syllabus zu verschmelzen.“

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sichts der existierenden Bedrohungen durch Krieg und Klimawandel ein globaler Gemeinsinn unausweichlich, um die schlimmsten Folgen der sich zuspitzenden globalen Krise eindämmen zu können. Die kritische Methode forciert das Programm eines post/ modernen ‚neuen Prinzenʻ: keiner politischen Partei im herkömmlichen Sinn, sondern einer Bewegung, die sich erst im Kampf gegen Bellizismus, Militarismus und eine sich verstärkende Logik der Profitmaximierung und Kapitalverwertung formt⁴¹⁴. Die Situation dieser Bewegung gleicht zuweilen einem ‚Stellungskriegʻ⁴¹⁵, insofern es unumgänglich ist, eine bewusste Gegnerschaft zu den diversen organischen Intellektuellen in ihrer Eigenschaft als ‚Kampftruppenʻ der etablierten Kräfte zu forcieren: „When dealing with political identities, which are always collective identities, we are dealing with the creation of an ‚usʻ that can only exist by its demarcation from a ‚themʻ.“⁴¹⁶ Das gilt für die parteipolitische Propaganda genauso, wie für die journalistische Berichterstattung, die juristische Praxis, die sozialwissenschaftliche ‚Forschungʻ, oder die politische ‚Bildungʻ. Die kritische Methode bedient sich bei der Beförderung einer vernünftigen Bewegung der Polemik und Ideologiekritik, wenn sich die organischen Intellektuellen als Sachwalter des Status Quo mit ihren Programmen hinter dem Mantel wissenschaftlicher Objektivität verstecken. „As a result, theory choice becomes much more politicized here, and gets more implicated with performativity or‚terroristicʻ struggles to defy critiques.“⁴¹⁷ Polemik richtet sich auf sozialwissenschaftliche Spezialisierung/en, v. a. die disziplinäre Trennung von Ökonomie, Recht und Politik, so als wäre die Untersuchung des Sozialen trennbar in eigengesetzliche Bereiche⁴¹⁸. Die Sozialwissenschaft/en haben

 Thomas, Toward the Modern Prince, a.a.O., 31, der dazu noch weiter ausführt: „[T]he modern Prince is conceived much more as a totalizing process of civilization reformation and refoundation. Similarly, this party ‚of another typeʻ is not a given and fixed form, but must constitutively overflow itself in order to be itself. The modern Prince, that is, is not a Communist Leviathan, or a Marxist volonté générale. It does not signify an organizational form in which unity and stability dominate over difference and conflict, which can then only appear as un- or pre-political, as the social chaos that (state) politics must organize, in a transcendental fashion. Rather, it is an always provisional condensation of relations of force that continuously modify the composition of the modern Prince as a collective organism, and as an expansive revolutionary process in movement.“  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 13, a.a.O., §24. Die militaristische Metaphorik soll grundsätzlich deutlich machen, dass analog zum Kriegsgeschehen (Scharmützel, Gefecht, Schlacht usw.) auch in der Zivilgesellschaft zwischen verschiedenen Konfliktsituationen zu unterscheiden ist und ein verlorener ‚Kampfʻ um die Realisierung von besseren Ideen nicht gleichbedeutend mit einer Niederlage im ‚Kriegʻ ist. ‚Stellungskriegʻ meint in diesem Zusammenhang die Arbeit für die Sache, die quasi unmerklich und im Verborgenen stattfindet.  Chantal Mouffe, Democracy in a Multipolar World, Millennium 37:3 (2009), 549 – 561, 550.  David Harris, From Class Struggle to the Politics of Pleasure: The Effects of Gramscianism on Cultural Studies (London: Routlede, 1992), 159.  Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch Versuche wie z. B. den von Angela Ambrosino, Mario Cedrini & John B. Davis, The Unity of Science and the Disunity of Economics, Cambridge Journal of Economics 45:4 (2021), 631– 654, die Ökonomie wieder stärker in die Sozialwissenschaften bzw. den (entstehenden) Kontext einer transdisciplinary behavioural science zu integrieren

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aufgrund ihres eingeschränkten Fokus nicht nur die übergreifenden Gesichtspunkte komplett aus den Augen verloren⁴¹⁹, sie haben eine Technokratie ohne Urteilskraft herausgebildet, die zumal daran scheitert, die sich vertiefende Krise der (globalen) Gesamtgesellschaft zu erkennen⁴²⁰. Philosophie, Ökonomie, Politik und auch das Recht sind als Tätigkeiten „[…] die notwendigen konstitutiven Elemente ein und derselben Weltauffassung […] und alle zusammen bilden einen homogenen Kreis.“⁴²¹ Polemik richtet sich überdies auf einen konservativen Scholastizismus im wissenschaftlichen Wissen, der gegen das Prinzip empirischer Sozialwissenschaft verstößt, „[…] daß die Ideen nicht von anderen Ideen geboren werden, daß die Philosophien nicht von anderen Philosophien entbunden werden, sondern daß sie immer aufs neue Ausdruck des wirklichen Geschichtsprozesses sind.“⁴²² Polemik richtet sich schließlich auf eine wissenschaftlich verkleidete Halbbildung, „[…] der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist. So wie der Sozialcharakter des Handlungsangestellten, des Kommis alten Stils, mittlerweile als Angestelltenkultur überwuchert […] so haben die ehrwürdigen Profitmotive der Bildung wie Schimmelpilze die gesamte Kultur überzogen. Daß sie das von ihr Abweichende kaum mehr durchläßt, einzig dies Totalitäre ist am neuen Zustand das Neue.“⁴²³ Die Unfähigkeit, tradierte Theorien angesichts realweltlicher Entwicklungen anzupassen und Konzepte aus einer komplexen und sich verändernden Wirklichkeit abzuleiten, führt zur Fetischisierung etablierter Theorien und Konzepte in einer Flut von Publikationen in den vermeintlich ‚bestenʻ Zeitschriften, während sich die damit einhergehende Immunisierung solcher Theorien und Konzepte gegenüber empirischer Kritik als das genaue Gegenteil von wissenschaftlichem Fortschritt entlarvt. „Damit aber ist der Geist von Halbbildung auf

 Vgl. Hegel, Philosophie der Weltgeschichte, a.a.O., 48 – 49: „Dieses Denken, diese Reflexion, hat dann vor dem unmittelbaren, das es als ein besonderes Prinzip erkennt, keinen Respekt mehr; es entsteht eine Trennung des subjektiven Geistes von dem allgemeinen. Die Individuen treten in sich zurück und streben nach eigenen Zwecken; wir haben schon bemerklich gemacht, daß dieses das Verderben des Volkes ist: jeder setzt sich nach seinen Leidenschaften seine eigenen Zwecke. Zugleich aber tritt bei diesem Zurücktreten des Geistes in sich nun das Denken als besondere Wirklichkeit hervor, und es entstehen die Wissenschaften. So sind Wissenschaften und das Verderben, der Untergang eines Volkes immer miteinander verpaart.“  Vgl. Max Horkheimer, Über den Zweifel, in: derselbe (Hg.) Sozialphilosophische Studien (Frankfurt: Athenäum, 1972), 122– 130, 126 – 127: „Daß die westliche Kultur in einer Krise sich befindet, die an Schärfe die vergangenen Übergangsperioden übertrifft, ist eine triviale Feststellung. […] Die in steigendem Maß das Leben das Leben bestimmenden sozialen Faktoren, Manipulation durch Massenmedien, Freizeitgestaltung, Administration schlechthin werden perfektioniert, gleichen das Verhalten der Individuen einander an, ersetzen Religion und die in ihr begründete Moral bei der Steuerung des Verhaltens.“ Und auf 130: „Daß auf Erden an so vielen Stellen Ungerechtigkeit und Grauen herrschen und die Glücklichen, die es nicht leiden müssen, davon profitieren, daß ihr Glück vom Unglück anderer Kreaturen, heute wie in der vergangenen Geschichte, abhängt, die sogenannte Erbschuld, ist offenbar. Den im eigentlichen Sinn Denkenden ist all dies bewußt, und ihr Leben, selbst in glücklichen Momenten, schließt Trauer ein.“  Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §65.  Gramsci, Gefängnisheft 9, a.a.O. §63.  Adorno, Theorie der Halbbildung, a.a.O., 181.

Kritisches Denken realisiert sich in einer angemessenen ‚Methodeʻ

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den Konformismus vereidigt. Nicht nur sind ihr die Fermente der Kritik und der Opposition entzogen, die die Bildung im achtzehnten Jahrhundert gegen die etablierten Mächte in sich trug, sondern die Bejahung und geistige Verdopplung dessen, was ohnehin ist, wird zu ihrem eigenen Gehalt und Rechtsausweis. Kritik aber ist zur puren Schlauheit erniedrigt, die sich nichts vormachen lässt und den Kontrahenten drankriegt, ein Mittel des Vorwärtskommens.“⁴²⁴ Polemik richtet sich außerdem auf eine isolierte Betrachtung der Wissenschaft als einem System mit vermeintlich unabhängigen und neutralen Mechanismen der Selbststeuerung. Wenn die modernen Sozialwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert in den Kampf um die Erringung der Vorherrschaft einer bürgerlichen Koalition verschiedener gesellschaftlicher Gruppen hineingezogen worden sind, dann spiegelt sich in der Organisation und auch im Diskurs der Sozialwissenschaft/en das gesellschaftliche Kräftefeld wider⁴²⁵. Politische Parteien und einflussreiche gesellschaftliche Gruppen ‚steuernʻ den Gang der wissenschaftlichen Entwicklung über die Einrichtung oder Abwicklung ganzer Fachdisziplinen, über die Berufung von Professor/innen und/oder über die Lenkung der Forschung durch konkrete Aufträge bzw. finanzielle Anreize. „In der Phase des Kampfes um die Hegemonie entwickelt sich [so z. B.] die Politische Wissenschaft […].“⁴²⁶ Der ‚Erfolgʻ einer Idee oder Theorie im Mainstream verdankt sich nie allein ihrer sachlichen bzw. intellektuell-philosophischen Qualität, sondern immer auch ihrer Konjunktur und Nützlichkeit für den historischen Block der etablierten Gruppen. Polemik richtet sich ferner auf die Disziplinierung der sozialwissenschaftlichen Forschung, die einerseits darin besteht, dass sie immer dazu angehalten wird, an die Vorleistungen der etablierten Fachvertreter/innen ‚anzuschließen; und die andererseits darin besteht, dass ihre Ergebnisse im Kontext der Mainstream-Debatten verhandelbar sein sollen. Die kritische Methode richtet sich stattdessen an alle Interessierten innerhalb und vor allem außerhalb der spezialisierten Fachwissenschaften, wobei sie explizit den Kontakt zu informierten Nicht-Akademiker/innen sucht. „Wenn sie das Erfordernis des Kontakts zwischen Intellektuellen und Einfachen bejaht, so geschieht das nicht, um die wissenschaftliche Aktivität einzuschränken und um eine Einheit auf dem niedrigen Niveau der Massen aufrechtzuerhalten, sondern gerade um einen moralisch-intellektuellen Block zu errichten, der einen massenhaften intellektuellen Fortschritt und nicht nur einen von spärlichen Intellektuellengruppen politisch möglich macht.“⁴²⁷ All diese Strategien kulminieren in der wiederholten Infragestellung der im Mainstream verwendeten Theorien und Konzepte, die grundsätzlich dazu da sind, die

 Ebda, 186.  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §38 mit dem Hinweis darauf, dass die Wissenschaft immer zum Bereich des Überbaus bzw. der ‚Superstrukturʻ gehört und damit an die Gesellschaft zurückgebunden bleibt.  Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O. §65.  Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §12.

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I Der Begriff des Kritischen

realweltlichen Verhältnisse zu mystifizieren⁴²⁸. Dabei ist sich eine kritische Praxis dessen bewusst, dass sie wenig ausrichtet, solange sie mit dem strategischen Nachteil lebt, innerhalb und außerhalb der Wissenschaft kein sichtbarer‚Agentʻ der Veränderung zu sein. ‚Theoretischer Pessimismusʻ hinsichtlich ihrer Wirkung wird im Bewusstsein um die Richtigkeit ihrer vernünftigen Haltung durch einen ‚praktischen Optimismusʻ überlagert⁴²⁹. In diesem Bewusstsein ist eine kritische Praxis „[…] an attempt to uncover the cultural and political conditions that will either retard or contribute to the creation and development of an actor who, though existing as a subordinate entity within the existing sociopolitical reality, nevertheless possesses within itself the seeds or potential that will enable it to move beyond the given reality.“⁴³⁰ Die Distanz zu den herrschenden Kräften und ihren organischen Intellektuellen beruht auf einer praktischen Vernunftentscheidung gegen eine Politik der geschäftsmäßigen Vernichtung von Mensch und Umwelt. „Deshalb also läßt sich die Philosophie nicht von der Politik trennen, und es läßt sich sogar zeigen, daß die Wahl und die Kritik einer Weltauffassung ihrerseits eine politische Tatsache ist.“⁴³¹

 Vgl. zu dieser Vorgehensweise als dem Kern der Philosophie der Praxis, Deb J. Hill, Hegemony and Education: Gramsci, Post-Marxism, and Radical Democracy Revisited (Lanham: Rowman & Littlefield, 2007), 52  Vgl. Max Horkheimer: Kritische Theorie gestern und heute, in: derselbe, Gesellschaft im Übergang, Aufsätze, Reden und Vorträge 1942– 1970, Werner Brede (Hg.) (Frankfurt: Fischer, 1972), 162– 175, 175.  Fontana, Hegemony and Power, a.a.O., 5 – 6.  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 11, a.a.O., §12.

II Kritisches Denken in der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen Im Vorstellungsraum kritischen Denkens stellt die Monolog-Kultur der ‚bestenʻ IB-Zeitschriften aufgrund ihrer Verwurzelung in arbiträren weltanschaulichen Prämissen, ihrer Hypostasierung praxisorientierter Modellwelten, ihrer Fixierung auf uneinlösbare szientistische Prämissen und ihrer Ablehnung kritischer Selbstreflexion mehr denn je ein unüberwindliches Hindernis auf dem Weg zu einer seriösen Wissenschaft der IB dar⁴³². Für wirklich wissenschaftliche Diskussionen bietet der amerikanisierte IB-Mainstream aufgrund seiner Nähe zum politischen establishment und der dort eingeübten Praktiken zur Vergegenständlichung der internationalen Beziehungen kaum sinnvolle Anknüpfungspunkte. Stimmen aus dem Spektrum ‚kritischerʻ Theorien haben zwar schon seit Beginn der disziplinären Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen während der Zwischenkriegszeit dazu gemahnt, gängige Denkfiguren und das konzeptuelle Vokabular der Disziplin immer wieder einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen⁴³³. Dennoch haben die ‚bestenʻ Fachvertreter/innen bis zum heutigen Tag mit Unverständnis und/oder Gleichgültigkeit reagiert, wenn Kritik am Publikationsgebaren in den ‚bestenʻ Zeitschriften allzu grundsätzlich wurde⁴³⁴.

 Vgl. aus der reichhaltigen Literatur, in der diese Defizite bereits festgestellt worden sind, einen Text zur Rolle von Ideologie/n in den IB von Alan Cassels, Ideology and International Relations in the Modern World (London: Routledge, 1996), 240; vgl. zu den ‚bizarrenʻ Auswirkungen der positivistischen Epistemologie in den IB, u. a. Steve Smith, The Forty Yearsʼ Detour: The Resurgence of Normative Theory in International Relations, Millennium 21:3 (1992), 489 – 506, 489. Immer noch lesenswert ist auch Bull, International Theory a.a.O., dessen Kritik am Irrweg des damaligen IB-Mainstreams auf 372 unverändert aktuell geblieben ist: „[…] the substitution of methodological tools and the question ‚Are they useful or not?ʻ for the assertion of propositions about the world and the question ‚Are they true or not?ʻ“ Vgl. auch Barry Buzan & Richard Little, Why International Relations Has Failed as an Intellectual Project and What to Do About It, Millennium 30:1 (2001), 19 – 39.  Vgl. dazu etwa Brian C. Schmidt, Anarchy, World Politics and the Birth of a Discipline: American International Relations, Pluralist Theory and the Myth of Interwar Idealism, International Relations 16:1 (2002), 9 – 31, 17: „During the 1920s, the juristic theory of the state fell on some difficult times as the suitability of the theory was challenged by a number of critics. The pluralists were a central voice in the critique of juristic theory, and one analyst concluded that pluralism was a ‚critical political theoryʻ that stood in opposition to the ‚conservative political theory of state monismʻ.“  Vgl. John J. Mearsheimer, Benign Hegemony, International Studies Review 18:1 (2016), 147– 149, 148: „The dominance of American-based scholars is reinforced by the fact that they have developed a rich variety of theories that are very useful for comprehending the politics of the international system. This means, however, there is not a lot of room for new theories or even major twists on existing theories. To be sure, this is not to say that there is no room for new theories, especially when it comes to middle-range theories. Plus, there is always room to refine existing theories. Still, there are limited opportunities in 2015 for scholars outside the United States – as well inside it – to develop wholly new theories.“ Vgl. Robert O. Keohane, International Institutions: Two Approaches, International Studies Quarterly 32:4 (1988), 379 – 396, 392. https://doi.org/10.1515/9783110471250-003

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II Kritisches Denken in der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen

Mancherorts wird diese intellektuelle Unbeweglichkeit im IB-Mainstream gar nicht den ‚bestenʻ Fachvertreter/innen und den von ihnen bevorzugten Zeitschriften angelastet. Nach dem Dafürhalten einer selbsterklärten neuen Avantgarde liegt der Fehler bei den Vertreter/innen kritischer IB-Theorie, die es angeblich nicht geschafft hätten „[…] to translate their theoretical sophistication into practical change.“⁴³⁵ Nicht der amerikanisierte IB-Mainstream steckte in der Krise, sondern das altbekannte Genre kritischer IB-Theorie, weswegen es angezeigt wäre, nicht nur die Möglichkeitsbedingungen, sondern auch den Zweck kritischer IB-Theorie gründlich zu hinterfragen⁴³⁶. Solche Beweislastumkehrungen stehen sinnbildlich für den Aufstieg eines affirmativen Gestus, sind mittlerweile fester Bestandteil antikritischer Positionen geworden und finden sich nicht nur in den akademischen IB, sondern haben sich zu einem Ritual sozialwissenschaftlicher Praxis insgesamt entwickelt⁴³⁷. Die Diagnose einer vermeintlichen ’Erfolglosigkeit’ kritischer IB-Theorien lässt dabei vor allem erkennen, wie sehr die spezialisierte Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit neben dem Hang zum Konformismus einem sachgrundlosen Druck zur Originalität unterliegt.Vor diesem Hintergrund wirkt es paradox, dass parallel zum avantgardistischen Krisengerede ausgerechnet im IB-Mainstream Gedanken über eine ‚Rückkehrʻ oder gar ‚Wiederbelebungʻ⁴³⁸ kritischer IB-Theorien angestellt worden sind, so als ob diese kritischen IBTheorien zwischenzeitlich verreist oder gar schon tot gewesen wären. Für manche Vertreter/innen aus dem Mainstream sind kritische IB-Theorien trotz ihrer scheinbaren Unzulänglichkeiten deswegen wieder verstärkt in Mode gekommen, weil sich in der Realität immer mehr Widerstand gegen die Politik der inter- und transnationalen Institutionen gerichtet hat⁴³⁹. In diesem Zusammenhang eigneten sich ‚kritischeʻ IB-Theorien angeblich dafür, bestehende Widerstandsformen mit einer grundsätzlichen Herrschaftskritik zu verbinden. Für andere sind kritische IB-Theorien, allen Unkenrufen zum Trotz, wieder en vogue, weil ihr vermeintlich ureigenster Gegenstand, die verschiedensten Formen von Chauvinismus und Populismus, eine Renaissance erfahren hätten und als realweltliche Phänomene eine Herausforderung für die Wissenschaft darstellten. Schließlich hätten sich kritische Theorien „[…] devoted to the fight against nationalism, racism, misogyny, homophobia, anti-intellectualism, eco-

 Jonathan Luke Austin, Rocco Bellanova & Mareile Kaufmann, Doing and Mediating Critique: An Invitation to Practice Companionship, Security Dialogue 50:1 (2019), 3 – 19,  Vgl. Philip R. Conway, Critical International Politics at an Impasse: Refexivist, Reformist, Reactionary, and Restitutive Post‑Critique, International Politics Reviews 9:1 (2021), 213 – 238, 217.  Vgl. etwa auch Albena Azmanova, Crisis? Capitalism is Doing Very Well. How is Critical Theory?, Constellations: An International Journal of Critical and Democratic Theory 21:3 (2014), 351– 365; Douglas Kellner, Critical Theory and the Crisis of Social Theory, Sociological Perspectives, 33:1 (1990), 11– 33; Ehrhard Bahr, The Anti-Semitism Studies of the Frankfurt School: The Failure of Critical Theory, German Studies Review 1:2 (1978), 125 – 138.  Vgl. Nicole Deitelhoff & Michael Zürn, Lehrbuch der Internationalen Beziehungen: Per Anhalter durch die IB- Galaxis (München: Beck, 2016), 258 – 290, 279, die mit ‚kritische Theorienʻ vor allem ‚postmarxistischeʻ, ‚poststrukturalistischeʻ und ‚postkolonialeʻ Theorien meinen.  Ebda, 260.

II Kritisches Denken in der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen

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nomic inequality, and power politics.“⁴⁴⁰ Positiv an solchen Einschätzungen ist, dass ungeachtet des antikritischen Modebewusstseins zumindest in gewissen Teilen des IBMainstreams noch ein heuristischer Wert in den kritischen IB-Theorien gesehen wird. Das Problem liegt freilich darin, dass solche Einschätzungen, die den Wert von ‚kritischen IB-Theorienʻ nur danach beurteilen, ob und inwiefern sie die Beschreibungen und Erklärungen der Mainstream-Theorien ergänzen können, nicht nur ein formales und schablonenhaftes Bild von ‚Theorieʻ voraussetzen; sie scheinen vor allem den begrifflich fundierten Relevanzbereich sozialer Wirklichkeit und die darauf gerichtete Stoßrichtung der ‚Kritikʻ nicht ernst zu nehmen, wie er sich aus grundlegenden Texten zum Kritikbegriff ins Spektrum der kritischen IB-Theorien übersetzt hat. Das wiederum passt zu einem viel grundsätzlicheren Fehler im Umgang mit kritischen IB-Theorien, dass nämlich nicht nur ihre anhaltende Vitalität und Ausdifferenzierung, sondern auch ihr gesellschaftlich fundiertes und begrifflich motiviertes Erkenntnisinteresse in einem akademischen Kontext paternalistischer Selbstgefälligkeiten⁴⁴¹ völlig aus dem Blick geraten zu sein scheint⁴⁴². Anstatt sich gemäß der im akademischen Bereich vorherrschenden Logik einer wettbewerbsmäßig betriebenen Rechthaberei um die originellste Wortschöpfung und/oder‚besteʻ Kausalanalyse einer vorkonfigurierten Wirklichkeit

 Vgl. Beate Jahn, Critical Theory in Crisis? A Reconsideration, European Journal of International Relations 27:4 (2021), 1274– 1299, 1274.  Vgl. in diesem Zusammenhang die ‚Bewertungʻ des kritischen Projekts in den akademischen IB bei Friedrich V. Kratochwil, Looking back from Somewhere: Reflections on what remains ‚criticalʻ in Critical Theory, Review of International Studies 33:S1 (2007), 25 – 45. Die paternalistische Auseinandersetzung mit den kritischen IB reduzierte sich bei Kratochwil offensichtlich auf genau zwei Texte, einen von Cox aus dem Jahr 1981 und einen von Ashley aus dem Jahr 1984, die er aber offensichtlich nicht mehr besonders gut in Erinnerung hatte; wie sonst lässt sich die völlig fehlgeleitete Kritik an Cox auf 37 erklären, dass dieser analog zur Existenz einer transnational managerial class fälschlicherweise vom Werden einer ähnlich geschlossenen Klasse der labouring masses ausging, wo Cox doch über seine ganze Schaffensperiode nie müde wurde zu betonen, dass die Masse der workers im globalen Maßstab enorm differenziert zu betrachten sei, da es ihr – auch und gerade im Vergleich mit den transnational classes – an Kohäsion mangele. Und daran schlossen sich von 36 – 45 nicht minder paternalistische Überlegungen an, was denn im Namen kritischer IB-Theorie in Zukunft zu tun sei (what needs to be done).Vor allem drei sets of concerns würden das Spektrum kritischer Theoriearbeit abstecken: einmal „[…] that a critical theory has to address the problem of how modes of knowledge and political practices interact positively and negatively“; zum zweiten, „[…] the decay or even conscious rejection of the Western political project that was supposed to be universally applicable“; und schließlich, der Bedarf an „[…] a more adequate account of action.“ Das erste set of concerns dreht sich um ein Anliegen, das seit 30 Jahren u. a. von Gill und van der Pijl eingehend bearbeitet worden ist; das zweite und dritte set of concerns sind für sich genommen nachvollziehbare persönliche Einschätzungen, werfen allerdings die Frage auf, warum ausgerechnet diese Einschätzungen für die Praxis kritischer IB-Theorie/n relevant sein sollen.  Vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag vor einiger Zeit von Milja Kurki, The Limitations of the Critical Edge: Reflections on Critical and Philosophical IR Scholarship Today, Millennium 40:1 (2011), 129 – 146, die meinte, sich dem Trend anschließen zu müssen, in dem kritische (IB‐)Theorien auf ihren ausgebliebenen ‚Erfolgʻ hin diskutiert worden sind: (auf 131) „Also, few analysts have dared to openly comment on the striking failures of critical theory to bring about or facilitate progressive change in todayʼs world political environment.“

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zu streiten, ist es kritischen Stimmen angesichts der ideologisierten Fachdiskussionen im IB-Mainstream immer auch – eigentlich sogar viel mehr – um einen wissenschaftstheoretisch anspruchsvollen Austausch und ein undogmatisches Gespräch über die angemessene Bestimmung des sortalen Gegenstandsbereichs der internationalen Beziehungen gegangen⁴⁴³, um auf diesem Weg das ganze Ausmaß weltgesellschaftlicher Widersprüche, die sie mitbedingenden intellektuellen Fehlentwicklungen sowie mögliche Strategien zur Verbesserung von gängigen Anschauungsformen und damit auch der politischen Praxis besser zu erkennen. Diesem viel umfassenderen, weltzugewandten und gleichzeitig immer auch kontingenten Projekt kritischer IB-Theorie plakativ ein ‚Scheiternʻ anzulasten, oder aber kritische theoretische Praxis auf ein weiteres Unterfangen zur empirischen Modellierung zu reduzieren, um dann selektiv auf brauchbare semantische Versatzstücke rein formal begriffener ‚kritischer IB-Theorienʻ zurückzugreifen, bezeugt die Dimension jenes selbstbezüglichen und weltabgewandten Antiintellektualismus, der so typisch für die amerikanisierte Fachdiskussion in den IB geworden ist. Selbstverständlich kann es vor diesem Hintergrund auch keine (‚Er‐)Lösungʻ für kritische IB-Theorien sein, wenn sich vermittelnde Stimmen für ihre Reintegration in die akademische Debatte einsetzen und dabei einen sogenannten ‚dritten Wegʻ vorschlagen: „one that is neither essentialised as problem-solving nor critical, but which embraces some relevant assumptions of both.“⁴⁴⁴ Zuerst ein Wort zur besagten Vitalität und Ausdifferenzierung, dann ein Wort zum gesellschaftlich fundierten und begrifflich motivierten Erkenntnisinteresse kritischer IB-Theorien.

Kritische IB-Theorie im Kontext der Disziplin IB Tatsächlich haben Diskussionen über die verschiedenen Möglichkeiten einer kritischen Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen außerhalb des IB-Mainstreams nie aufgehört, sich ständig von Neuem zu beleben⁴⁴⁵. Das hat mit der fundamentalen Problemwahrnehmung bei den Vertreter/innen kritischer (IB‐)Theorien zu tun, dass menschliche Gesellschaft/en und das sie ermöglichende Ökosystem seit Beginn des

 Vgl. dazu auch die Schlussbetrachtung bei Jahn, Critical Theory in Crisis?, a.a.O., 1291: „It [critical theory] promises to create the space for political imagination – a space that closes down when theory is made to fit practice.“  Nathan Andrews, Beyond the Ivory Tower: A Case for ‚Praxeological Deconstructionismʻ as a ‚Third Wayʻ in IR Theorising, Third World Quarterly 34:1 (2013), 59 – 76, 72.  Vgl. die Beiträge zu dezidiert ‚kritischenʻ Zeitschriften wie Alternatives, New Left Review, Constellations, Critical Review of lnternational Social and Political Philosophy, oder auch Millennium; erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch das Review of lnternational Studies, das als Zentralorgan der britischen IB-community zwar beileibe keine ausgewiesen kritische Zeitschrift ist, in dem allerdings ebenfalls regelmäßig kritische Beiträge veröffentlicht werden – was eigentlich überhaupt keiner besonderen Erwähnung wert sein dürfte und deshalb unterstreicht, wie prekär die Lage im IB-Mainstream ist.

Kritische IB-Theorie im Kontext der Disziplin IB

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profitorientierten Kapitalverwertungsprozesses aufgrund der damit verbundenen Konsequenzen: auf der einen Seite Gewalt, Ungerechtigkeit und damit verbundene ‚Entfremdungserscheinungenʻ⁴⁴⁶ und auf der anderen Seite ein völlig irrationaler und zunehmend desaströs werdender Technologiefetischismus bzw. ‚Machbarkeitswahnʻ, in eine sich immer weiter verschärfende Krise geschlittert sind⁴⁴⁷. Es braucht also überhaupt keinen isolierten ‚empirischenʻ Anlass wie den vermeintlichen ‚Widerstand gegen die Politik der inter- und transnationalen Institutionenʻ oder irgendwelche ‚Formen von Chauvinismus und Populismusʻ für eine Rückbesinnung auf die kritischen (IB‐)Theorie/n – die Totalität der realweltlichen Verhältnisse liefert seit über zweihundert Jahren täglich neue Indizien für eine vollumfängliche Systemkrise der Weltgesellschaft/en, hervorgerufen durch Bellizismus, Militarismus, Ökonomismus und Konservatismus in den Milieus der privilegiertesten Kräfte. Kritische Beobachter/innen der bürgerlichen Gesellschaft/en haben schon früh auf die dem kapitalistischen System inhärente Unvernunft hingewiesen⁴⁴⁸. Ein zum Selbstzweck erhobener Ökonomismus würde totalitäre Wirkungen entfachen, da er sich zum alleinigen Organisationsprinzip moderner Gesellschaft/en und zum dominierenden Weltbild und Wissensregime aufschwingen würde. Die dadurch forcierte Kolonialisierung der gesellschaftlichen Lebenswelt/en manifestierte sich in Entfremdung, Wettbewerb und einer alles Geistige durchdringenden ‚instrumentellen Rationalitätʻ⁴⁴⁹. Deswegen wäre nicht nur die gemeinsame Herstellung von Freiheit und Frieden als sogenannten ‚Kollektivgüternʻ zum Scheitern verurteilt, sondern auch alle Versuche gesellschaftlicher ‚Bewusstʻwerdung. Die im IB-Mainstream ausgelobte Wiederkunft kritischer IB-Theorie/n scheint diesen Relevanzbereich des Kritischen nicht einmal im Ansatz erkennen zu können. Ein flüchtiger Blick in die Einführungsliteratur zu den Theorien der internationalen Beziehungen suggeriert zwar, dass die Theorielandschaft

 Vgl. dazu Rahel Jaeggi, Alienation, transl. by Fr. Neuhouser & Alan E. Smith, Fr. Neuhouser (Hg.), (New York: Columbia University Press, 2014), 5 – 6: „An alienated relation is a deficient relation one has to oneself, to the world, and to others. Indifference, instrumentalization, reification, absurdity, artificiality, isolation, meaninglessness, impotence – all these ways of characterizing the relations in question are forms of this deficiency. A distinctive feature of the concept of alienation is that it refers not only to powerlessness and a lack of freedom but also to a characteristic impoverishment of the relation to self and world.“  Vgl. Poul F. Kjaer & Niklas Olsen, Introduction: European Crises of Public Power from Weimar until Today, in: dieselben (Hg.), Critical Theories of Crisis in Europe. From Weimar to the Euro (London: Rowman & Littlefield, 2016), xi-xx, xi: „As initially pointed by Georg W. F. Hegel and reinforced by scholars as different as Jürgen Habermas, Herbert Marcuse and Reinhart Koselleck, the breakthrough of modernity in the latter half of the eighteenth century also marked the emergence of the crisis phenomenon. Societal crises, as well as narratives and analysis of crises, are, in other words, inherent to the history of modern Europe.“  Vgl. Hannes Kuch, Ökonomie, Subjektivität und Sittlichkeit: Hegel und die Kritik des kapitalistischen Marktes, in: S. Ellmers & Ph. Hogh (Hg.), Warum Kritik? Begründungsformen kritischer Theorien (Weilerswist: Verlbrück, 2017), 134– 163.  Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Frankfurt: Suhrkamp, [1981] 2011), 470 – 488.

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mittlerweile auch ein Fleckchen besitzt, das selbständig von sogenannten ‚kritischen Theorienʻ verwaltet wird. Das heißt aber nicht zwingend, dass die dort vorfindlichen ‚Theorienʻ tatsächlich auch alle ‚kritischʻ im Sinn des hier propagierten Begriffes sind; und noch weniger bedeutet es, dass sie gegenüber etablierten Perspektiven auch nur ansatzweise gleichberechtigt wären. Mithin lässt sich feststellen, dass die etwas besseren Hand- bzw. Textbücher zum Stand der fachwissenschaftlichen Theorieentwicklung spätestens seit der Jahrtausendwende zumindest für den Einstieg einen sinnvollen Überblick liefern, indem sie jeweils auch ein einigermaßen informatives Kapitel zu den sogenannten ‚kritischen Theorienʻ der internationalen Beziehungen beinhalten⁴⁵⁰. Der leidige Punkt dabei ist, dass solche allgemeinen Einlassungen auf die Semantik kritischer IB-Theorie/n zwar in einem numerischen Sinn zugenommen haben, dass sie aber allesamt eher oberflächlich bleiben, und dass sich das Missverständnis über ihre kritische ‚Haltungʻ vis-à-vis den realweltlichen Entwicklungen und den einflussreichsten formalbegrifflichen Vergegenständlichungen dieser Entwicklungen nicht aufgelöst hat. Die wichtigsten Orientierungsfragen bei der Beschäftigung mit kritischen IBTheorien wären in einem ganz grundsätzlichen Sinn solche danach, was mit ‚kritischerʻ IB-Theorie eigentlich gemeint sein soll; was in der verfügbaren Literatur, auch der weniger anspruchsvollen, unter dem Adjektiv ‚kritischʻ verstanden wird; und welche Spielarten kritischer ‚Theorie/nʻ in welchem Zusammenhang und mit welchem Verständnis ihrer jeweiligen Heuristik Erwähnung finden. Unter diesem Gesichtspunkt beginnt die ganze Angelegenheit schnell etwas komplizierter zu werden. Schließlich lässt die einschlägige Literatur oft nicht erkennen, was ‚Kritikʻ im Zusammenhang mit den Theorien der internationalen Beziehungen konkret bedeutet, was genuin ‚kritische Theorie/nʻ eigentlich auszeichnet, da „[…] the label ‚criticalʻ has become, in many instances, almost meaningless.“⁴⁵¹ Feststellungen, wie die folgende, treffen den neuralgischen Gesichtspunkt: „It is not clear to me what the term critical means when applied to either political theory or international theory when both are severed from their constitutive condition of possibility. More disconcertingly, it is not clear to me what critique

 Vgl. für ein immer noch lesenswertes Handbuch zum Stand der Theorieentwicklung in den 1990er Jahren, Steve Smith, Ken Booth & Marysia Zalewski (Hg.), International Theory: Positivism and Beyond (Cambridge: Cambridge University Press, 1996); vgl. für den Zeitraum ab 2000 etwa den ‚Klassikerʻ von John Baylis & Steve Smith (noch ohne Patricia Owens im Herausgeberteam), The Globalization of World Politics, Third Edition, An Introduction to International Relations (Oxford: Oxford University Press, 2001), die auf den Seiten 225 – 249 „[…] the Marxist contribution to the study of International Relations“ beschreiben und explizit betonen, dass „[…] no analysis of globalization is complete without an input from Marxist theory.“ (225) Mit marxistischen Theorien waren in diesem Buch die ‚Weltsystemtheorieʻ, ‚Gramscianismusʻ (sic!), ‚Kritische Theorieʻ und ‚Neuer Marxismus gemeint. Der wichtige Beitrag solcher Theorien zur Analyse der Globalisierung hat sich freilich wie im vorigen Kapitel gezeigt immer noch nicht bis in die Herausgebergremien der ‚bestenʻ Zeitschriften herumgesprochen.  Conway, Critical International Politics at an Impasse, a.a.O., 217.

Kritische IB-Theorie im Kontext der Disziplin IB

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might mean when used in relation to the outer limit of an opposition between dogma and critique.“⁴⁵² Nimmt man beispielsweise die mit dem Kritik-Begriff häufig konnotierte ‚reformerischeʻ Intention zum Maßstab, dann kommt mitunter eine Haltung in den Blick, die eine gewisse Zeit lang im Dunstkreis der sogenannten ‚Englischen Schuleʻ gepflegt worden ist, nämlich das Adjektiv ‚kritischʻ in einem sowohl historischen als auch programmatischen Sinn zu verstehen und synonym zu ‚revolutionärʻ zu verwenden; dann wären kritische IB-Theorien möglicherweise solche im Spektrum eines „[…] Kantian pattern of thought […] that had divided modern international society on horizontal rather than vertical lines: that of the Protestant Reformation, that of the French Revolution and that of the Communist Revolution of our own times.“⁴⁵³ Die Herleitung des ‚Kritischenʻ aus einer solchen Kantian tradition wäre allerdings noch nicht wirklich erschöpfend, da diese ‚Traditionʻ im Kontext der Englischen Schule eher ein Spektrum für kritische Überlegungen im Sinne eines soft revolutionism darstellt, von denen sich Denkweisen der sogenannten hard revolutionists unterscheiden, die etwa für die sogenannten ‚Jakobinerʻ und ‚Marxistenʻ eigentümlich gewesen sind⁴⁵⁴; und selbst wenn man dazu noch eine Kategorie erfindet, die beide Richtungen irgendwie integriert, wäre das Spektrum immer noch nicht endgültig abgesteckt, da man mit Blick auf die allgegenwärtige Gefahr der globalen Vernichtung durch einen fahrlässig oder willkürlich initiierten Atomkrieg noch pazifistische Überlegungen als Ausdruck eines inverted revolutionism berücksichtigen müsste⁴⁵⁵. Das größte Manko dieser Haltung wäre aber vermutlich, dass sie ihre disparaten Vorstellungen von einer wie auch immer gearteten Reform der modern international society am Ende doch wieder mit formalen Konzeptionen souveräner Staatlichkeit in Einklang zu bringen sucht, die auch im amerikanisierten IB-Mainstream vorherrschen; im Zusammenhang damit bezieht sie sich auch nur sehr halbherzig auf die ökonomische Dimension der internationalen Beziehungen, indem sie wenig bis gar keine Aufmerksamkeit auf differenzierte Akteurskonstellationen sowie deren materielle Interessen und Überzeugungen legt; überdies scheitert sie aufgrund ihrer vorgängigen Verpflichtung auf einen Zustand der ‚Ordnungʻ daran, die ganze Virulenz globaler Menschheitsbedrohungen angemessen einzuordnen. Neuere Strategien der Rubrifizierung schlagen demgegenüber vor, die ‚Andersartigkeitʻ kritischer Theorien als Gattungsbegriff zu verwenden und „[…] to examine how different modes of critique engage with the

 R.B.J. Walker, Out of Line. Essays on the Politics of Boundaries and the Limits of Modern Politics (London: Routledge, 2016), 33. Vgl. dazu auch Oliver Daddow, International Relations Theory (London: Sage, 2009), 133: „All in all, C[ritical T[heory] is difficult to ‚placeʻ as a neatly self-contained theory about IR because in both its scope and methods it transcends many of the other theories of IR […].“  Hedley Bull, Martin Wight and the Theory of International Relations: The Second Martin Wight Memorial Lecture, Review of International Studies 2:2 (1976), 101– 116, 105.  Vgl. Martin Wight, International Theory: The Three Traditions (Leicester: Lecester University Press, 1991), 267.  Vgl. Bull, Martin Wight and the Theory of International Relations, a.a.O., 106.

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episteme of alternativity“⁴⁵⁶, wobei die Schwierigkeit dann darin liegt, diese ‚Andersartigkeitʻ in einer plausiblen Art und Weise näher zu bestimmen. Im Unterschied dazu wäre es auch möglich, das Kritische überall dort zu vermuten, wo eine „[…] ‚disciplinary silenceʻ on the role of the non-West in the emergence, mechanisms and transformation of ‚the internationalʻ [herrscht].“⁴⁵⁷ Dabei wäre es angezeigt, die Entstehung des modernen Staatensystems als einen viel komplexeren Prozess zu begreifen, der sich nicht nur auf sozioökonomische Entwicklungen in Europa reduzieren lässt. Und in einem wieder anderen Sinn wäre es möglich, dass ‚Kritischeʻ an einem neuen Verständnis von ‚Zeitlichkeitʻ festzumachen, da sich genuin kritische Theorien mit den Möglichkeiten von Wandel und Veränderung beschäftigen. Weil sie oft dazu tendierten, ein ‚uhrzeitlichesʻ Verständnis an den Tag zu legen, das im Unterschied zum ‚kalendarischenʻ Zeitverständnis Linearität und materiellen Determinismus der geschichtlichen Prozesse voraussetzte, wäre die Frage „[…] how critical theorists might theorise international political time in a way that matches up to their counter-hegemonic aspirations.“⁴⁵⁸ Und schließlich wäre das Kritische vielleicht eher darin zu sehen, dass mit der globalen ökologischen Krise neue Dringlichkeiten entstanden wären, die danach riefen, „[…] the Critical Theory of International Relations with the concept of world-ecology […]“⁴⁵⁹ zu verbinden. Solche Einlassungen zum Stand der kritischen Theorieentwicklung sind zumindest Belege für die fortdauernde Relevanz kritischer Theoriebildung. Solche Einlassungen sind eventuell auch hilfreich, um einen theoretischen Fokus zu schärfen, der sich auf die Schwachstellen der Perspektiven im Mainstream bezieht. Mit Blick auf die verschiedenen Vorschläge, was kritische IB-Theorien am Ende auszeichnet, bleibt die entscheidende Frage allerdings offen, ob solche Vorschläge zur ‚Andersartigkeitʻ, zum ‚Außenbereichʻ der westlichen Denktradition, zur ‚Zeitlichkeitʻ, oder zur ‚Ökologieʻ als Prinzipien des Kritischen die entscheidenden Gesichtspunkte kritischer IB-Theorien treffen, oder ob es nicht eher Verweise auf bestimmte Momente innerhalb eines kritischen Nachdenkens über den Komplex der θεωρία sind. Vielleicht ist es also sinnvoller, unter Rückgriff auf vorfindliche Kategorien zuerst ein negatives Kriterium in Anwendung zu bringen und ‚kritischeʻ IB-Theorien in Abgrenzung zu bereits bestimmten ‚alternativenʻ IB-Theorie/n zu beschreiben, als da wären: Historical Sociology, Normative Theory, Feminist Theory, Post-modernism und Post-colonialism ⁴⁶⁰. Das scheint zumal  Gëzim Visoka, Critique and Alternativity in International Relations, International Studies Review 21:4 (2019), 678 – 704, 682.  Cemal Burak Tansel, Deafening silence? Marxism, International Historical Sociology and the Spectre of Eurocentrism, European Journal of International Relations 21:1 (2015), 76 – 100, 78.  Kimberley Hutchings, Happy Anniversary! Time and Critique in International Relations Theory, Review of International Studies 33:S1, Special Issue: Critical International Relations Theory after 25 years (2007), 71– 89, 72.  Piotr Walewicz, How International Relations Scholars explain the World: A World-Ecological Critique, Torun International Studies 1:12 (2019), 51– 60, 54.  Vgl. Steve Smith & Patricia Owens, Alternative Approaches to International Theory, in: Baylis & Smith, The Globalization of World Politics, a.a.O., 271– 293. Alternativ könnte auch – weniger schablonenhaft – im

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aufgrund der offensichtlichen Proliferation immer neuer ‚kritischerʻ Sensibilitäten seit den 1990er Jahren hilfreich für die Feststellung, was kritische IB-Theorien eben nicht sind – und die Suche nach einer positiven Bestimmung wird etwas leichter.

Kritische IB-Theorie im klassischen Sinn Tatsächlich lässt sich die Bestimmung ‚kritischer IB-Theorienʻ sinnvoll vereinfachen, wenn man kritisch zusätzlich zur Aufmerksamkeit für die allfällige ökonomische Durchwirkung der modernen Gesellschaft/en auch als ‚praxisreflexivʻ in einem umfassenden gesellschaftlichen Sinn versteht: die entscheidende Frage ist dann, ob sich die entsprechenden Theorien dafür interessieren, welche realweltlichen Geschehnisse von welchen Kräften und in welcher Art und Weise vergegenständlicht werden⁴⁶¹. Mit diesem Verständnis von ‚kritischʻ eröffnet sich eine Möglichkeit, zwischen ‚klassischenʻ und neueren kritischen IB-Theorien zu unterscheiden. Dabei können zu den ersteren solche Theorien gezählt werden, die primär oder ausschließlich „[…] die (materiellen) Produktionsverhältnisse in der Gesellschaft zum Ausgangspunkt ihrer Analyse machen. Hier liegt die [kritische bzw.] emanzipatorische Perspektive insbesondere in der Analyse von Möglichkeiten, den (globalen) Kapitalismus zu schwächen oder zu überwinden.“⁴⁶² Ihre einschlägigen Bezeichnungen sind oft ‚marxistischeʻ, ‚strukturalistischeʻ oder auch ‚postmarxistischeʻ Theorien gewesen. Kritisch wären diese Theorien insofern, als ihr Fokus auf solche ökonomischen Sachverhalte gerichtet worden ist, die im Mainstream traditionell totgeschwiegen worden sind⁴⁶³. Klassisch wären sie deswegen, weil sie mit einem objektivistischen Denkansatz die hinter dem Kapitalverwertungsprozess liegenden strukturellen Ursachen

Sinne einer alternativen geographischen Verortung solcher IB-Wissenschaftler gemeint sein, die in einem eigenen Diskussionszusammenhang stehen. Vgl. Hun Joon Kim, Will IR Theory with Chinese Characteristics be a Powerful Alternative?, Chinese Journal of International Politics 9:1 (2016), 59 – 79. Schließlich wäre alternativ möglicherweise auch einfach so etwas, wie post-Western IR, vgl. Muhammed A. Ağcan, IR Theory, Difference and Subjectivity: On Conditions of The Possibility of Post-Western IR Theory, Alternatif Politika 8:2 (2016), 251– 269.  Vgl. dazu auch Steve Smith, Singing our World into Existence: IR Theory and September 11, International Studies Quarterly 48:3 (2004), 499 – 515.  Vgl. Deitelhoff & Zürn, Lehrbuch der Internationalen Beziehungen, a.a.O., 280.  Vgl. Kai Koddenbrock, Strategies of Critique in International Relations: From Foucault and Latour towards Marx, European Journal of International Relations 21:2 (2015), 243 – 266, 245: „Nevertheless, within debates in IR, the academic field tasked with studying world politics, ‚totalityʻ and capitalism have been neglected since the heyday of dependency or world systems theory, surviving mostly in specialist discussions in parts of International Political Economy (IPE), in geography or in sociology, far removed from the core of IR.“ Vgl. auch Shannon Brincat, On the Methods of Critical Theory: Advancing the Project of Emancipation beyond the Early Frankfurt School, International Relations 26:2 (2012), 218 – 45, 239: „Critical Theory is therefore often spurned rather than grappled with, and consequently fails to take up more than one week of lectures and reading material even in the most advanced IR theory courses.“

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gesucht⁴⁶⁴ und damit die gleichen epistemologischen Prämissen angenommen haben, wie der IB-Mainstream, wenn nicht sogar eine ganz ähnliche methodologische Herangehensweise⁴⁶⁵. Insofern es diesen Theorien in ihrer Eigenschaft als gesellschaftlich bedingten und sozial verantwortlichen Anschauungsformen um die ‚Emanzipationʻ der unterdrückten und ausgebeuteten Teile der globalen Gesellschaft gegangen ist, ist der ‚Erfolgʻ dieses Unterfangens vor allem davon abhängig gewesen, dass die Angehörigen der unterprivilegierten bzw. ‚subalternenʻ Mehrheit der Weltbevölkerung die Wahrheit über die Auswirkungen ‚desʻ globalen Kapitalismus auch wirklich erfahren. Ausgangspunkt für die Vergegenständlichung relevanter Zusammenhänge ist in diesem Zweig kritischer IB-Theorie oft die konzeptuelle Beschäftigung mit der profitorientierten industrialisierten Produktionsweise gewesen, die in ihrer Eigenschaft als materielle Struktur eine Art erzählerischer Fluchtpunkt für die Rekonstruktion, der sich daraus ergebenden Konsequenzen im Kontext der internationalen Politik gewesen ist. Die Einspeisung immer neuer Imperialismustheorien in die kritische Diskussion über die internationalen Beziehungen liefert unzählige Beispiele dafür, wie in den jeweiligen Deutungs- und Erklärungsansätzen so unterschiedliche Phänomene wie die Staatenkonkurrenz vor dem Ersten Weltkrieg⁴⁶⁶, die Ausweitung des Ost-West Konflikts mitsamt den Stellvertreterkriegen in der sogenannten Dritten Welt nach 1945⁴⁶⁷, die Politik der Modernisierung in der sogenannten Peripherie des Weltsystems zwischen den 1950er und den 1970er Jahren⁴⁶⁸, oder auch die Erneuerung des imperialen Systems unter der Führung der USA seit dem Ende des Ost-West-Konflikts⁴⁶⁹ auf den sich immer weiter expandierenden Kapitalverwertungsprozess zurückgeführt worden sind.

 Vgl. Overbeek, Rivalität und ungleiche Entwicklung, a.a.O., 23; vgl. für eine zusammenfassende Diskussion dieses Arguments der ‚marxistischenʻ IB-Theorien, Andrew Davenport, Marxism in IR: Condemned to a Realist Fate?, European Journal of International Relations 19:1 (2011), 27– 48, 29.  Vgl. exemplarisch Andreas Bieler, The Struggle over EU Enlargement: a Historical Materialist Analysis of European Integration, Journal of European Public Policy 9:4 (2002), 575 – 597, 576, der für seine Analyse des EU-Beitritts von Österreich und Schweden auf eine ‚most-similar comparative studyʻ zurückgreift, so als ob die Wirklichkeit aus ähnlich gelagerten ‚Fällenʻ bestehen würde; allerdings muss dabei auch erwähnt werden, dass Bieler in seiner Analyse nicht gänzlich in eine modellhaft objektivierende Betrachtung der Zusammenhänge verfallen ist.  Vgl. für einen Überblick über die relevante Literatur zu den entsprechenden ‚marxistischenʻ Theorien, Tobias ten Brink, Staatenkonflikte. Zur Analyse von Geopolitik und Imperialismus – ein Überblick (Stuttgart: Lucius & Lucius, 2008), besonders 26 – 33.  Vgl. für die verschiedenen Strömungen der ‚marxistischenʻ Theoriebildung dazu, Wolfgang J. Mommsen, Imperialismustheorien. Ein Überblick über die neueren Imperialismusinterpretationen (Göttingen: Vandenhoeck, 1977), besonders 91– 110.  Vgl. für die verschiedenen marxistischen imperialismustheoretischen Ansätze dazu, Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den Internationalen Beziehungen (Frankfurt. Suhrkamp, 2001), besonders 182– 198.  Vgl. dazu Alex Callinicos, Does Capitalism Need the State System?, Cambridge Review of International Affairs 20:4 (2007), 533 – 549 sowie die Beiträge von Benno Teschke & Hannes Lacher, John M. Hobson, Adam David Morton und Kees van der Pijl im selben Heft.

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Viele solcher klassischen kritischen bzw. neo/marxistischen Theorien sind sich bei der Veranschaulichung der Zusammenhänge zwischen ökonomischen und politischen Dimensionen des imaginierten Gegenstandsbereichs nicht immer einig über die Rolle des ‚Staatesʻ als einer endogenen oder exogenen Variable im Kapitalverwertungsprozess gewesen⁴⁷⁰; haben ausgehend von entsprechenden Überlegungen Trotzkis über die Frage nach einem ‚kombiniertenʻ bzw. ‚integriertenʻ oder ‚unkoordiniertenʻ sowie ‚ungleichmäßigʻ verlaufenden Kapitalverwertungsprozess gestritten⁴⁷¹; und sind schließlich auch über die Notwendigkeit eines strukturell bedingten Wandels aufgrund der dem Kapitalverwertungsprozess inhärenten Krisentendenzen und Klassenantagonismen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen⁴⁷². Einig sind sich die Vertreter/innen der klassisch marxistischen Theorien in der Regel jedoch über den Status der Untersuchungsgegenstände als objektive Sachverhalte gewesen, wenn nicht sogar über die Aufgabe der Wissenschaft, „[…] die ‚Gesetzmäßigkeitenʻ, die diese objektive Realität bestimmen, zu entdecken.“⁴⁷³ Damit haben die Vertreter/innen dieser Theorieansätze zeitgleich denselben Fehler gemacht, wie viele der ‚bestenʻ Vertreter/innen im amerikanisierten IB-Mainstream, nämlich ganz bestimmte Sachverhalte in einer stark reifizierten Form einer vorausgesetzten Objektwelt einzuschreiben, um ihnen im gleichen Atemzug die Eigenschaft von Impulsgebern für typische Entwicklungen in der realen Welt zuzuweisen – mit der Konsequenz, dass sie damit andere wichtige Zusammenhänge gänzlich aus den Augen verloren haben⁴⁷⁴. Es ist daher nachvollziehbar, warum nicht nur die neorealistische Reifizierung militärischer Schlagkraft als ‚Strukturʻ des internationalen Systems, sondern auch der Fokus marxistischer Theorien auf das reifizierte ‚Kapitalʻ epistemologisch motivierte Kritik an eben diesen Argumentationsweisen provoziert hat, die sich innerhalb des Spektrums dieser ‚klassischenʻ Theorien nicht mehr in einem konstruktiven Sinn hat verhandeln lassen. Auch wenn zwischen ‚klassisch marxistischenʻ und ‚neuen kritischenʻ Theorien in der Literatur nicht immer entlang dieser Konfliktlinie unterschieden worden ist⁴⁷⁵, kann die Ablehnung des Naturalismus und Objektivismus als das

 Vgl. Paul M. Sweezey, Some Problems in the Theory of Capital Accumulation, International Journal of Political Economy 17:2 (1987), 38 – 53.  Vgl. zum Stand dieser Diskussion Justin Rosenberg, Jack Bracke, Tatiana Pignon & Lucas de Oliveira Paes (Hg), New Directions in Uneven and Combined Development (London: Routledge, 2022), insbesondere den einleitenden Beitrag von Rosenberg, Results and Prospects: An Introduction to the CRIA Special Issue on UCD, auf 1– 19.  Vgl. die jeweiligen Beiträge der Autoren in Samir Amin, Giovanni Arrighi, Andre Gunder Frank & Immanuel Wallerstein, Dynamik der globalen Krise (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986).  Overbeek, Rivalität und ungleiche Entwicklung, a.a.O., 23.  Vgl. ten Brink, Staatenkonflikte, a.a.O., 196 – 197, der die Krise der neo/marxistischen Theorien auf ihre Überforderung angesichts einer ‚neuen Komplexitätʻ der Welt gegen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zurückführt.  Vgl. für ein gelungenes Einführungsbuch, das die verschiedenen ‚kritischenʻ Theorieperspektiven auch so kenntlich macht, Christian Reus-Smit & Duncan Snidal, The Oxford Handbook of International Relations (Oxford: Oxford University Press, 2010), die sowohl Raum für die jeweils zusammenhängenden

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vielleicht wichtigste Kriterium angesehen werden, das eine Trennlinie zwischen die ersteren und die neueren kritischen Theorien, d. h. die kritischen IB-Theorien im eigentlichen Sinn zieht⁴⁷⁶. Erst durch die Aufgabe einer primären Verpflichtung auf die Ableitung von Wirkungen aus dogmatisch postulierten Ursachen rückt die praxisreflexive Frage in den Vordergrund, wie, unter welchen Bedingungen und von welchen Kräften Geschehnisse in der modernen Weltgesellschaft vergegenständlicht und zu relevanten Sachverhalten werden.

Kritische IB-Theorie/n im ‚eigentlichenʻ Sinn Kritische Theorien der IB wären dann insofern ‚kritischʻ, als sie in der Tradition der philosophischen Dialektik davon ausgehen, „[…] dass manche unserer Repräsentationen sich auf mögliche Vergegenwärtigungen von realen Erscheinungen beziehen, dass es aber sinnwidrig ist, an die ‚Existenzʻ eines Gegenstandes oder an die ‚Wirklichkeitʻ eines Geschehens in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft auch nur zu glauben, wenn wir wissen, dass nur wir selbst die Repräsentationen und Vorstellungen geschaffen haben, die wir den durch die Namen vertretenen fiktiven Gegenständen zuschreiben.“⁴⁷⁷ Kritik entfaltet sich damit auf der zentralen Prämisse, dass die realweltlichen Sachverhalte der sozialen Welt immer begrifflich vermittelt sind. Mit Blick auf den Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen zeichnen sich die kritischen IB-Theorien also dadurch aus, dass sie im Bewusstsein um die konstitutive Rolle von symbolischen Formen Aussagen über die Wirklichkeit machen wollen, die nicht in einem vermachteten akade-

Kapitel Marxism und The Ethics of Marxism (163 – 200) sowie für Critical Theory und The Ethics of Critical Theory (327– 358) zur Verfügung stellen. In diesem Zusammenhang wäre auch zu nennen Joscha Wullweber, Antonia Graf & Maria Behrens (Hg.), Theorien der Internationalen Politischen Ökonomie (Wiesbaden: Springer VS, 2013), die nicht nur die abstrakten Pflichtbeiträge eingesammelt, sondern im Abschnitt V. des Buches auch Raum für ‚kritischeʻ Interpretationen des Weltgeschehens gegeben haben. Vgl. außerdem eine neuere (8te) Auflage von John Baylis, Steve Smith & Patricia Owens, The Globalization of World Politics: An Introduction to International Relations (Oxford: Oxford University Press, 2020), 115 – 129. Vgl. im Unterschied zu den vorgenannten Einführungen aber auch die neueste (7te) Auflage von Richard Jackson, Georg Sørensen & Jørgen Møller, Introduction to International Relations: Theories and Approaches (Oxford: Oxford University Press, 2019), die ‚den Marxismusʻ (187– 194) im Kapitel über International Political Economy ‚versteckenʻ, dafür aber immerhin ein ganzes Kapitel dem sogenannten Postpositivism in IR (262– 285) widmen. Vgl. im Unterschied dazu aber auch die vermeintlich ‚hotly awaited second edition of this best-selling introductory textbookʻ von Joseph Grieco, G. John Ikenberry & Michael Mastanduno, Introduction to International Relations: Perspectives, Connections, and Enduring Questions (London: Red Globe Press, 2019), die der abstrakten Beschreibung des Realismus, Liberalismus, Sozialkonstruktivismus und Marxismus jeweils nur spärliche 5 – 6 Seiten widmen, um dann bei den zahlreichen Veranschaulichungen der Unterschiede in den theoretischen Erklärungsansätzen gar kein Wort mehr über den sogenannten ‚Marxismusʻ zu verlieren.  Vgl. in einem ganz ähnlichen Sinn, Mark Hoffman, Critical Theory and the Inter-Paradigm Debate, Millennium 16:2 (1986), 231– 250, 232.  Stekeler-Weithofer, Kritik der reinen Theorie, a.a.O., 173.

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mischen Diskurs nach Anschluss suchen, sondern die vernunftgeleiteten Gesprächssituationen der Weltgesellschaft/en im 21. Jahrhundert angemessen sind. Mit diesem ‚undiszipliniertenʻ dialogischen Anspruch müssen kritische IB-Theorien gewissermaßen die in vielerlei Hinsicht sinnwidrigen Reifizierungen von Sachverhalten und Zusammenhängen in den künstlich verengten Gegenstandsbereichen der akademischen IB ‚negierenʻ. Das betrifft in erster Linie solche ‚Theorienʻ, in denen die ökonomischen Dimension der internationalen Beziehungen und ihre realweltliche Bedeutung völlig ausgeblendet worden ist, um vermeintlich ‚politischeʻ Phänomene als Wirkungen vermeintlich ‚politischerʻ Gründe darstellen zu können; das betrifft in zweiter Linie solche Theorien, in denen ‚die Ökonomieʻ, versinnbildlicht durch die Konzentration ‚des Kapitalsʻ, als eine autonome Instanz mit mehr oder weniger determinierender Wirkung konzipiert worden ist. Durch eine raumzeitlich verortete und historisch informierte Negation des im Mainstream imaginierten internationalen Systems, seiner prototypischen Akteure sowie der dort vorfindlichen Strukturen eröffnet sich die Möglichkeit für solche Vorstellungen von realweltlichen Zusammenhängen, in denen die kapitalistische Produktionsweise und die von ihr hervorgebrachten Produktionsverhältnisse typischerweise als kontingente historische Struktur bzw. als konstitutive Formation hinter realweltlichen Krisenerscheinungen steht⁴⁷⁸. Mit einem Interesse an der Überwindung unvernünftiger akademischer Projektionsnormen zugunsten angemessener Normalfallbeschreibungen der historischen Wirklichkeit erkennen Vertreter/innen kritischer IB-Theorie/n die internationalen Beziehungen als einen Raum, in dem die relevanten Praxisformen nicht in einem formalen und allzu engen Sinn als ‚politischʻ gedacht werden dürfen; in dem die relevanten Praxisformen nicht per se auf die Herstellung einer wie auch immer gearteten ‚Ordnungʻ ausgerichtet sind; in dem die einflussreichsten Klientel auch nicht lediglich im Feld der ‚staatlichen Politikʻ tätig werden; und in dem sich die einflussreichsten Klientel zum eigenen Vorteil wie selbstverständlich aller geeigneten Formen zur Legitimierung bzw. Mystifizierung ihres Tuns bedienen. Und solange bereits die Konfiguration des Gegenstandsbereichs der internationalen Beziehungen entlang dieser negativen begrifflichen Festlegungen inkompatibel mit den Modellwelten des IB-Mainstreams ist, lässt sich kaum sinnvoll von einer ‚Rückkehrʻ der kritischen IB-Theorie/n sprechen: an welcher Begriffswelt sollte sich diese Rückkehr orientieren, zumal die an der politischen Praxis ausgerichteten Interessen des IB-Mainstreams bei der Vergegenständlichung der internationalen Beziehungen den Erkenntnisinteressen kritischer IB-Theorien diametral entgegengesetzt sind⁴⁷⁹.

 Vgl. zu diesem generischen Merkmal ‚kritischer Theorie/nʻ u. a. Kellner, Critical Theory and the Crisis of Social Theory, a.a.O., 24.  Vgl. eben dazu die ‚klassischʻ gewordene Unterscheidung zwischen problem-solving theory und critical theory von Robert W. Cox, Social Forces, States and World Orders: Beyond International Relations Theory, Millennium 10:2 (1981), 126 – 155, 128: „[T[heory can serve two distinct purposes. One is a simple, direct response: to be a guide to help solve problems posed within the terms of a particular perspective which was the point of departure. The other is more reflective upon the process of theorising itself: to

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Ihre zeitgenössische ‚Identitätʻ haben die kritischen IB-Theorien erst zu Beginn der 1980er Jahre im Vorfeld der sogenannten ‚Debatteʻ über postpositivistische epistemologische Prämissen gewonnen⁴⁸⁰, als sie die Wende zum Konstruktivismus in der Disziplin eingeläutet haben –, die im IB-Mainstream von Anfang an höchst umstritten gewesen ist⁴⁸¹ und ein Jahrzehnt gebraucht hat, um sich schließlich in den intellektuell bescheideneren Ausformungen eines amerikanischen ‚Sozialkonstruktivismusʻ durchzusetzen, der sich nicht so recht von den Prämissen des objektivistischen Weltbildes zu lösen vermochte⁴⁸². Kritischen IB-Theorien ist demgegenüber eine Distanz zum Objektivismus eigentümlich⁴⁸³; keine kritische Einlassung auf realweltliche Geschehnisse akzeptiert für sich eine allzu schematische bzw. modellhafte Vergegenständlichung des Bereichs der internationalen Beziehungen unter der Voraussetzung von rigiden ‚Notwendigkeitenʻ und zum Zwecke der Illustration einer ‚mechanischenʻ Kausalität zwischen realweltlichen Entitäten. Im Gegenteil zeichnen sich kritische Theorien der internationalen Beziehungen dadurch aus, dass sie sich sowohl für die lebensweltliche ‚Wirklichkeitʻ des Gegenstandsbereichs mit seinen jeweils relevanten Kräften als auch für die darin enthaltene ‚Möglichkeitʻ der Entwicklung und Veränderung interessieren, zumal sich alle sozialen Prozesse qua Annahme durch eine bewusste Gestaltung auf der

become clearly aware of the perspective which gives rise to theorising, and its relation to other perspectives […]; and to open up the possibility of choosing a different valid perspective from which the problematic becomes one of creating an alternative world.“  Vgl. Stephen Gill, American Hegemony and the Trilateral Commission (Cambridge: Cambridge University Press, 1990), 210: „The 1980s has brought a ferment of intellectual deconstruction, doubt, and a level of exploration and contestability notably absent from the debates of the 1960s: in other words, the 1980s has a different tenor and intellectual complexion.“ Vgl. auch Richard Devetak, Critical International Theory: An Intellectual History (Oxford: Oxford University Press, 2018), 84– 87; und vgl. Nicholas Michelsen, What is a minor international theory? On the limits of ‚Critical International Relationsʻ, Journal of International Political Theory 17:3 (2021), 488 – 511, gleich im allerersten Satz auf 488.  Vgl. den alarmistischen Ton bei Kalevi J. Holsti, The Dividing Discipline: Hegemony and Diversity in International Theory (Boston: Allen & Unwin, 1985), angesichts eines möglichen Verlusts disziplinärer Kohärenz wegen des Heraufkommens eines neuen kritischen Paradigmas; vgl. demgegenüber den vorsichtigen Optimismus bei Yosef Lapid, The Third Debate: On the Prospects of International Theory in a Post-Positivist Era, International Studies Quarterly 33:3 (1989), 235 – 254, 250: „In the space cleared by the weakening of deeply rooted urges for firm foundations, invariant truths, and unities of knowledge, an optimistic hope is now being planted-as hinted by the demand to make room for new ‚problematiquesʻ and ‚to open up the field to critical approaches which have hitherto been marginalised, neglected, or dismissed by the disciplineʻ […].“.  Vgl. Kees van der Pijl, The Discipline of Western Supremacy. Modes of Foreign Relations and Political Economy, Vol. III (London: Pluto, 2014), 195. Vgl. für eines ‚derʻ Schlüsselwerke, das dabei half, den Konstruktivismus im Mainstream hoffähig zu machen, Nicholas G. Onuf,World of Our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations (Columbia: University of South Carolina Press, 1989).Vgl. dazu die viel weniger ambitionierten Beiträge von Alexander Wendt, Social Theory of International Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), oder Martha Finnemore, National Interests in International Society (Ithaca: Cornell University Press, 1996).  Vgl. Andrew Linklater, The Achievements of Critical Theory, in: Smith, Booth & Zalewski, International Theory, a.a.O., 279 – 298, 279.

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Basis von Denkweisen, Überzeugungen, Interessen und Wünschen konkreter Menschen auszeichnen. Wenn sich kritische ‚Analysenʻ dabei immer auch durch eine Negation der etablierten akademischen Praxis auszeichnen, dann steht das im Licht der normativen Überzeugung, dass die eingeübten Denkweisen und Doktrinen der Disziplin hinterfragt werden sollten, wenn durch ihre unreflektierte Beibehaltung wichtige Aspekte des Gegenstandsbereichs außer Acht gelassen werden. „Critical theory is a mode of thought that exposes the common current doctrines as inadequate in dealing with global problems, and that tries to find other elements that could be thought of, either separately or collectively, as an alternative.“⁴⁸⁴ Dahinter steht die skeptische Vermutung, dass in stratifizierten Gesellschaften elitäre Ideologien unter dem Deckmantel formalwissenschaftlicher Theorien immer dazu beitragen, mit entsprechenden Modellierungen von realweltlichen Zusammenhängen organisierten Partikularinteressen in die Hände zu spielen. Das unterstreicht noch einmal den Punkt, dass kritische IB-Theorien keinem ‚bürgerlichen Pluralismusʻ verpflichtet sind und etwa nur danach streben, die Vielfalt der bereits bestehenden ‚Untersuchungsansätzeʻ zu erweitern bzw. einen alternativen Kanon von abstrakten Kategorien und formalen Konzepten zu etablieren, um Adepten mit einer wie auch immer gearteten ‚kritischenʻ Konfession ein eigenes Vokabular zur Verfügung zu stellen. Kritische IB-Theorien zeichnen sich grundsätzlich dadurch aus, dass sie ideologiekritische Fragen an die etablierten Projekte der International Order und Global Governance richten. Angesichts der fundamentalen Bedeutung ‚wissenschaftlicherʻ Diskurse für die Normalisierung und Legitimierung normativer Sichtweisen richten kritische IBTheorien ihr Augenmerk auf die etablierten Mechanismen zur ideologischen Durchdringung von Gesellschaft/en in denjenigen Institutionen, wo die gedankliche Arbeit an einer Veränderung der Welt verhindert wird⁴⁸⁵. Kritische IB-Theorien sind vor diesem Hintergrund am besten zu verstehen als Anschauungsformen realweltlicher Geschehnisse, die sich allesamt zurückführen lassen auf „[…] a broader attitude of thought, a disposition towards the world, a lens through which to grapple with the diversity of social life.“⁴⁸⁶ Zwar greifen auch kritische IB-Theorien mitunter auf ein charakteristisches Vokabular für die Vergegenständlichung von realweltlichen Phänomenen zurück, aber dieses Vokabular besteht gerade nicht aus formalen Definitionen sondern bleibt grundsätzlich in der metaphorischen Sprache der Lebenswelt/en verortet und gewinnt immer wieder neue Bedeutung in Abhängigkeit von einer konkreten Reflexion über die

 Robert Cox im Interview mit Shannon Brincat, Laura Lima & João Nunes, For Someone and for Some Purpose: An Interview with Robert W. Cox, in: dieselben (Hg.), Critical Theory in International Relations and Security Studies: Interviews and Reflections (London: Routledge, 2012), 15 – 34, 20.  Vgl. zu diesen zwei important consequences auch Samuel Knafo, Critical Approaches and the Legacy of the Agent/Structure Debate in International Relations, Cambridge Review of International Affairs 23:3 (2010), 493 – 516, 496  Shannon Brincat, Laura Lima & João Nunes, Introduction, in: dieselben, Critical Theory in International Relations and Security Studies a.a.O., 1– 11, 2.

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imaginierten Gegenstände, auf die sich sowohl die Alltagssprache als auch die theoriegeleitete ‚Analyseʻ beziehen. Das Vokabular kritischer IB-Theorie/n steht im Dienst einer allgemeinen ‚Bewusstwerdungʻ über die ‚Gemachtheitʻ und damit auch über die Kontingenz der menschlichen Lebenswelt/en. Eine ‚kritischeʻ Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen teilt das Selbstverständnis kritischer Sozialtheorie, von der sie nicht isoliert betrachtet werden kann⁴⁸⁷. Feministische Literatur reiht sich hier ein, wenn sie etwa typisch ‚maskulineʻ Verengungen konstitutiver Kategorien des verfügbaren Vokabulars aufzudecken vermag. Die Stoßrichtung feministischer IB-Theorie ist dann insofern kritisch, als es ihren Vertreter/innen zugunsten einer angemesseneren Vergegenständlichung realweltlicher Sachverhalte um subversion und displacement von fragwürdigen ontologischen Setzungen im objektivistischen Wissenschaftsverständnis des Mainstreams geht⁴⁸⁸. Allerdings haben feministische Stimmen im Zuge ihrer Auseinandersetzungen mit dem IBMainstream oft noch viel grundsätzlichere Probleme im Gegenstandsbereich ‚internationale Beziehungenʻ erkannt⁴⁸⁹; etwa, wenn sie die männlich konnotierten Verstehensweisen internationaler Sicherheitspolitik und/oder die geschlechtsunabhängige Verallgemeinerung der involvierten Akteursinstanzen abgelehnt haben⁴⁹⁰. Viele Vertreter/innen dieses Genres hat zudem die Rückbindung von Akteurseigenschaften an den Bereich der Produktion gar nicht mehr interessiert. Darüber hinaus haben manche selbst jene geschlechtsspezifischen Interpretationen der Welt auf der Basis eines ‚frau-seinsʻ angesichts anderer menschlicher Identitätsmerkmale als zu eng und inhärent instabil empfunden⁴⁹¹. Im Tenor haben feministische und identitätsbasierte Einlassungen auf die internationalen Beziehungen oft zum Ausdruck gebracht, dass „[o]ur enterprises of theorising go beyond International Relations as presently constituted, correcting a field whose subject matter is the absence of that which its title

 Vgl. Craig J. Calhoun, Critical Social Theory: Culture, History, and the Challenge of Difference (Oxford: Blackwell, 1995), 35: „Critical social theory […] should be seen not just as a ‚schoolʻ, but as the interpenetrating body of work which demands and produces critique in four senses: […] a critical engagement with the theoristʼs contemporary social world, recognizing that the existing state of affairs does not exhaust all possibilities, and offering positive implications for social action; […] a critical account of the historical and cultural conditions […] on which the theoristʼs own intellectual activity depends; […] a continuous critical re-examination of the constitutive categories and conceptual frameworks of the theoristʼs understanding, including the historical construction of those frameworks; and […] a critical confrontation with other works of social explanation that not only establishes their good and bad points but shows the reasons behind their blind spots and misunderstandings, and demonstrates the capacity to incorporate their insights on stronger foundations.“ Vgl. Kellner, Critical Theory and the Crisis of Social Theory, a.a.O., 30 – 31.  Vgl. Anne Sisson Runyan & V. Spike Peterson, The Radical Future of Realism: Feminist Subversions of IR Theory, Alternatives 16:1 (1991), 67– 106, besonders 77– 99.  Vgl. dazu den Überblick von Annick T.R. Wibben, Feminist International Relations: Old Debates and New Directions, Brown Journal of World Affairs 10:2 (2004), 97– 114.  Vgl. J. Ann Tickner, Gender in International Relations: Feminist Perspectives on Achieving Global Security (New York: Columbia University Press, 1992), 3.  Linda R. Forcey, The Future of Feminist Discourse, Peace & Change 21:1 (1996), 78 – 83, 79.

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advertises – neither very worldly in its sense of the international nor very attuned to the range of relations that are often involuntary connections of identities and locales.“⁴⁹² Damit hat sich der feministische/identitätsbasierte Fokus vom hier veranschlagten Begriff der Kritik in weiten Teilen emanzipiert und eine ganz eigene Art des ‚Nachdenkensʻ etabliert.

Kritische IB-Theorien ad absurdum Kritische IB-Theorien im hier propagierten Sinn zeichnen sich demgegenüber durch ein Interesse an einer (radikalen) Neukonzeption des Gegenstandsbereichs der internationalen Beziehungen und einer vollumfänglicheren Erfassung seiner widersprüchlichen Zusammenhänge aus. Dieses Erkenntnisinteresse wird, wie bereits erwähnt, oft dadurch ad absurdum geführt, dass kritische IB-Theorien lediglich als ‚Erklärungsansätzeʻ und in einer ähnlich kanonisierten Form ‚angewendetʻ werden, wie die Formaltheorien im IB-Mainstream. Im Sinn einer Kompromisslösung wird der erkenntnistheoretische Anspruch zwar oft noch rhetorisch aufrechterhalten, aber im Vordergrund steht bei einer solchen Beschäftigung häufig nur noch, ‚wasʻ kritische IB-Theorien denn jeweils abstrakt mit ihren typischen Schlagworten über die Welt zum Ausdruck bringen; die ganze Schwierigkeit bei der Herstellung eines konkreten Weltbezugs bleibt oft genauso unterbelichtet, wie die skeptische Haltung gegenüber dem IB-Mainstream in seiner Eigenschaft als akademisches outlet der offiziellen politischen Praktiken. Charakteristisch ist in diesem Sinn zum Beispiel die Unterscheidung zwischen kritischen IB-Theorien, die sich typischerweise etwa verstärkt an ‚kommunikationstheoretischen Ansätzenʻ wie zum Beispiel dem von Habermas orientieren, indem sie „[…] auf die Verzerrungen der kommunikativen Reproduktionspraxis innerhalb von Gesellschaften [fokussieren;]“⁴⁹³ und solchen, die stattdessen „[…] auf poststrukturalistische Theorieansätze zurück[greifen], welche die in Diskurse und Praktiken eingelassenen Machtstrukturen ins Zentrum ihrer Herrschaftsanalysen und -kritik stellen.“⁴⁹⁴ Analog dazu liest sich eine gängige Unterscheidung zwischen der Theorie des sogenannten ‚Neogramscianismusʻ⁴⁹⁵ und derjenigen des sogenannten ‚Kosmopolitis-

 Christine Sylvester, The Achievements of Feminist Theory, in: Smith, Booth & Zalewski, International Theory, a.a.O., 254– 278, 271– 272.  Deitelhoff & Zürn, Lehrbuch der Internationalen Beziehungen, a.a.O., 280.  Ebda.  Vgl. u. a. Christoph Scherrer, Neo-gramscianische Interpretationen internationaler Beziehungen. Eine Kritik, in: Uwe Hirschfeld (Hg), Gramsci-Perspektiven: Beiträge zur Gründungskonferenz des ‚Berliner Instituts für Kritische Theorieʻ vom 18. bis 20. April 1997 im Jagdschloss Glienicke, Berlin (Hamburg: Argument, 1998), 160 – 174; vgl. Randall D. Germain and Michael Kenny, Engaging Gramsci: International Relations Theory and the New Gramscians, Review of International Studies 24:1 (1998), 3 – 21; vgl. Baylis & Smith, The Globalization of World Politics, a.a.O., 235 – 239; vgl. Julian Saurin, The Formation of NeoGramscians in International Relations and International Poitical Economy, in: Alison J Ayers (Hg.), Gramsci, Political Economy, and International Relations Theory: Modern Princes and Naked Emperors

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musʻ: erstere sei von Robert Cox „[…] innerhalb des produktionistischen Paradigmas [sic!] durch Rückgriff auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci“⁴⁹⁶ entwickelt worden; letztere von Andrew Linklater, der „[…] sich von Marx hingegen durch einen Übergang zum kommunikativen Paradigma Kritischer Theorie ab[setzte].“⁴⁹⁷ Entsprechend einer jeweils ‚paradigmatischenʻ Argumentationslogik von als solchen unterscheidbaren kritischen IB-Theorien steht interessierten ‚Anwendernʻ der jeweiligen Theorie dann auch ein jeweils ‚paradigmatischesʻ Vokabular mit seinen einschlägigen buzzwords zur Verfügung. Im Fall des sogenannten ‚Neogramscianismusʻ wären das z. B. solche Formalbegriffe wie ‚Hegemonieʻ, ‚historischer Blockʻ, ‚Ideenʻ, ‚Institutionenʻ oder auch (materielle) ‚Ressourcenʻ⁴⁹⁸; im Fall des sogenannten ‚Kosmopolitismusʻ wären das vor allem ‚Transformationʻ, ‚Bürgerschaftʻ, ‚Souveränitätʻ, ‚Transnationalisierungʻ, oder auch (internationale bzw. kosmopolitische) ‚Gesellschaftʻ⁴⁹⁹; und im Fall des ‚Poststrukturalismusʻ hätten wir ‚Strukturʻ, ‚Akteurʻ, ‚Identitätʻ und ‚Diskursʻ⁵⁰⁰ im Angebot. Analog zur theoriepraktischen Arbeitsteilung im IB-Mainstream bekommt bei dieser Lesart auch jede kritische IB-Theorie im Sidestream ihr eigenes label und zeichnet sich dabei obendrein noch durch eine spezifische toolbox aus, mit der sich die Welt aus der jeweiligen ‚Perspektiveʻ abbilden lässt⁵⁰¹, indem die Fakten entsprechend dem Gerüst der Theoriearchitektur angeordnet werden. Besonders dogmatisch – und auch bedenklich – wird der Umgang mit kritischen IBTheorien dann, wenn auch noch innerhalb der einzelnen Theorieperspektiven ‚desʻ sogenannten Kosmopolitismus, ‚desʻ sogenannten Poststrukturalismus und ‚desʻ sogenannten Neogramscianismus verschiedene ‚Strängeʻ unterschieden werden, die als besondere paradigmatische Denkschulen innerhalb der allgemeineren paradigmatischen Denkschulen erkannt werden, und die ihrerseits ein eigenes label erhalten. Kaum

(New York: Palgrave, 2008), 23 – 43; vgl. Hans-Jürgen Bieling, Neogramscianismus, in: J. Wullweber, A. Graf & M. Behrens (Hg.), Theorien der Internationalen Politischen Ökoomie (Wiesbaden: Springer VS, 2013), 185 – 200.  Christoph Humrich, Kritische Theorie, in: S. Schieder & M. Spindler (Hg.), Theorien der Internationalen Beziehungen (Opladen: Leske & Budrich, 2003), 421– 447, 424. Vgl. mit fast derselben Wortwahl, Ulrich Hamenstädt, Kritische Theorie, in: S. Feske, E. Antonczyk & S. Oerding (Hg.), Einführung in die Internationalen Beziehungen: Ein Lehrbuch (Opladen: Budrich, 2014), 63 – 80, 67. Vgl. auch Adrian Budd, Class, States and International Relations: A Critical Appraisal of Robert Cox and Neo-Gramscian Theory (Milton Park: Routledge, 2013), 15 – 16.  Humrich, Kritische Theorie, a.a.O., 424. Vgl. auch dazu Hamenstädt, kritische Theorie, a.a.O., 67.  Vgl. Andreas Bieler & Adam David Morton, Neo-Gramscianische Perspektiven, in: Schieder & Spindler, Theorien der Internationalen Beziehungen, a.a.O., 337– 362, besonders 340 – 351; vgl. auch Deitelhoff & Zürn, Lehrbuch der Internationalen Beziehungen, a.a.O., 281.  Vgl. Humrich, Kritische Theorie, a.a.O. besonders 424– 441.  Vgl. Joscha Wullweber, Poststrukturalismus, in: derselbe, A. Graf & M. Behrens, Theorien der internationalen Politischen Ökonomie (Wiesbaden: Springer VS, 2013), 233 – 249, 234– 235.  Vgl. etwa Andreas Bieler & Adam David Morton, A Critical Theory Route to Hegemony, World Order and Historical Change: Neo-Gramscian Perspectives in International Relations, Capital & Class 28:1 (2004), 85 – 113, besonders 99 – 14, mit einer kurzen Rekonstruktion der Kontroverse über verschiedene ‚neogramscianische Perspektivenʻ.

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überraschend geht diese Art der Kanonisierung dann auch mit der Feststellung einher, dass die einzelnen ‚Strängeʻ qua Sonderdenkschulen für die Zwecke einer Deutung und begrifflichen Vergegenständlichung der internationalen Beziehungen gar nicht mehr miteinander integriert werden sollten. Denn „[a]ngesichts der Tatsache, dass sich die Diskussion in den unterschiedlichen Phasen [der Theorieentwicklung] zunehmend differenziert hat, ist allen Ambitionen eines integralen Neo-Gramscianismus [sic!] mit einer gewissen Skepsis zu begegnen.“⁵⁰² Der vermeintliche Vorteil solcher Kanonisierungen kritischer IB-Theorien liegt auf der Hand: Wissenschaftler/innen dürfen sich in der Illusion wiegen, dass sie mit Hilfe paradigmatischer Formalbegriffe besonderer Denkschulen die perspektivisch relevanten ‚Faktenʻ benennen können, um diese dann souverän im Sinn einer ebenfalls paradigmatischen Argumentationslogik ‚desʻ Neogramscianismus bzw. seiner jeweiligen Sonderdenkschulen, wahlweise auch ‚desʻ Kosmopolitismus bzw. ‚desʻ Poststrukturalismus und ihrer jeweiligen ‚Strängeʻ, zu beschreiben. Dass bei dem Versuch der Kanonisierung und Kategorisierung von Perspektiven und ihren diversen Strängen allerlei Unterschiede, Heterogenitäten und Alleinstellungsmerkmale erkannt werden, wo eigentlich gar keine sind⁵⁰³, liegt in der Natur einer solchen Scholastik. Das größte Problem bei diesem Vorgehen ist, dass das heuristische Potenzial dieser Theorien in ihrer Eigenschaft als begrifflich und metaphorisch vermittelte Anschauungsformen genau in dem Maß verschenkt wird, wie sie analog zu den IB-Mainstream-Theorien auf paradigmatische Theoriebausteine verkürzt, wie sie als ‚Ansätzeʻ in diverse Spezialabteilungen eingeordnet, wie sie als Reservoir formaler Definitionen angesehen und wie ihre unterschiedlichen gedanklichen Ursprünge in den jeweils abgeschlossenen Œuvres isolierter intellektueller Heroen wie Gramsci, Habermas, oder Foucault verortet werden, die dann als ‚Urheberʻ und ‚Quellenʻ für die identitätsstiftenden Merkmale der jeweiligen ‚Theorieperspektiveʻ und ihrem säuberlich voneinander getrennten Schulen- bzw. Schubladendenken verantwortlich gemacht werden können. Es geht freilich komplett an der kritischen Sache vorbei: am Versuch begrifflich vermittelter Weltdeutung/en mit einem wie auch immer gearteten Anspruch auf ‚Kritikʻ, wenn Diskussionen über kritische IB-Theorien die formalbegriffliche Ausdifferenzierung als Selbstzweck erkennen und nur noch, oder primär, daran interessiert sind, die einzelnen Stränge und Analyseraster einem geistigen ‚Schöpferʻ zuzuordnen, der im Kontext des ‚Neogramscianismusʻ neben Gramsci dann allenfalls noch Polanyi oder Poulantzas heißt⁵⁰⁴. Bei einem genaueren Blick in die ‚Gefängnishefteʻ, der in diesem Zusammenhang zu einem vordringlichen Gebot wird, springt sofort ins Auge, wie se-

 Bieling, Neogramscianismus, a.a.O., 186. (Hbg. im Original)  Man wird zum Beispiel die Selbstverortung der sogenannten ‚Amsterdamer Schuleʻ im historischen Materialismus schwerlich als ein Charakteristikum dieser ‚Schuleʻ beschreiben können, dass sich so nur in den Werken von van der Pijl, Overbeek, oder Apeldoorn finden lässt; in diesem Sinn aber Bieling, ebda. 190.Wie weiter unten näher ausgeführt wird, haben sich auch schon Cox und Gill explizit im historischen Materialismus verortet.  Vgl. Bieling, ebda. 186 und 189.

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lektiv und pragmatisch Gramsci selbst seine Denkfiguren und Konzepte in Auseinandersetzung mit den Werken so unterschiedlicher Autoren wie Machiavelli, Marx, Bucharin, Croce oder auch Sorel entwickelt hatte⁵⁰⁵, weil es ihm dabei um die Sache einer kritischen Weltdeutung ging, und weil dabei in allererster Linie wichtig war, ‚wasʻ sich aus den unterschiedlichsten intellektuellen Vorleistungen der genannten Autoren für ein angemessenes Verständnis konkreter realweltlicher Zusammenhänge ableiten ließ. Es gibt schließlich überhaupt keinen vernünftigen Grund dafür, warum sich ein praxisreflexiver Versuch der Weltdeutung schon wieder in ein Gefängnis – oder Irrenhaus – hermetisch abgeschlossener Denkschulen begeben sollte. Im Gegenteil spricht alles dafür, dass sich ein solcher Versuch mit vollstem ‚Bewusstʻsein an einer weltzugewandten und intellektuell integrativen ‚Philosophie der Praxisʻ orientiert, die sich nicht als starre Theoriearchitektur eines sogenannten ‚Neogramscianismusʻ definiert, sondern pragmatisch und selektiv auf alle dort bisher entwickelten Denkfiguren, Ansätze, Begriffe und Analysestrategien stützt, wenn genau das einer anspruchsvollen Vergegenständlichung realweltlicher Zusammenhänge dienlich ist. Zumal bleibt jede Weltdeutung genau das: eine mögliche Deutung raumzeitlich konkreter Sachverhalte unter anderen; eine Deutung, die unweigerlich begrifflich vermittelt ist, was eine allzu eng gezogene Wortsinngrenze und Formalbestimmung im Sinne vorgängiger Denkschablonen kategorisch ausschließen muss – zumindest aus einer Perspektive des gesunden Menschenverstands. Ohne eine Sensibilität für die Intertextualität, den Mosaikcharakter und auch die raumzeitliche Gebundenheit des entsprechenden Vokabulars wird die Wortwahl der vermeintlichen ‚Schöpferʻ zumal gern für eine Quelle sakrosankter Reliquien gehalten, obwohl einschlägige Begriffe wie z. B. ‚Hegemonieʻ im Werk von Gramsci eher ‚profaneʻ Metaphern gewesen sind, mit denen das zugehörige Sinnfeld der konkreten Lebenswelt erschlossen werden sollte, um mit einer gewissen Kreativität die in einem raumzeitlich bestimmten Reflexionskontext relevanten Vorgänge zu rekonstruieren⁵⁰⁶. Beflissene

 Das betrifft nicht zuletzt einen der zentralsten Begriffe Gramscis, den des ‚historischen Blocksʻ, den Gramsci laut eigenen Angaben – wenngleich nicht wörtlich – aus dem Werk von Georges E. Sorel abgeleitet hat. Vgl. Gramcsi, Gefängnisheft 4, a.a.O., §15. Des Weiteren bediente sich Gramsci bei der Verwendung des Begriffs ‚passive Revolutionʻ laut eigener Aussage bei Vincenzo Cuoco. Vgl. ebda, §57.  Die Lektüre einschlägiger Paragraphen der‚Gefängnishefteʻ suggeriert zum Beispiel, dass es Gramsci bei der Verwendung des Begriffs der ‚Hegemonieʻ unter anderem darum ging, die faschistische Machtübernahme in Italien nicht als eine zufällige oder absonderliche Abweichung von der Normalität, sondern als Resultat einer sich dynamisch gestaltenden geschichtlichen Entwicklung zu verstehen; andererseits ging es ihm offensichtlich auch darum herauszufinden, auf welche Weise es unterprivilegierten Gruppen gelingen könnte, die Mächtigen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und den Hegemoniebestrebungen der Privilegierten eine gegenhegemoniale Bewegung entgegenzusetzen. Die Metapher der ‚Hegemonieʻ gewinnt hier ihre jeweilige Bedeutung als ein Sachverhalt durch das Interesse Gramscis an dem dahinterliegenden und konflikthaft verlaufenden gesellschaftlichen Prozess. Vgl. dazu Gramcsi, Gefängnisheft 1, a.a.O., §44; vgl. auch den informativen Kommentar von Showstack-Sassoon, Gramsciʼs Politics a.a.O., 125.

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Kommentator/innen kritischer IB-Theorie/n schaffen es zwar immer wieder, mit einem ‚konstruktivʻ gemeinten Beitrag aufzufallen, in dem die Notwendigkeit einer Ausweitung der ursprünglichen Wortsinngrenze solcher Grundbegriffe wie eben desjenigen der ‚Hegemonieʻ unterstrichen wird⁵⁰⁷. Dabei vernachlässigen sie freilich allzu oft, wie sehr sich nicht nur Gramsci als vermeintlicher ‚Schöpferʻ solcher Konzepte um ihre semiotischen Funktionsbedingungen bewusst war, sondern auch, wie sehr ihre prominentesten Fürsprecher im Kontext der akademischen IB darum bemüht waren zu zeigen, dass Gramsci „[…] was constantly adjusting his concepts to specific historical circumstances. The concepts cannot usefully be considered in abstraction from their applications, for when they are so abstracted different usages of the same concept appear to contain contradictions or ambiguities. A concept […] is loose and elastic and attains precision only when brought into contact with a particular situation which it helps to explain – a contact which also develops the meaning of the concept.“⁵⁰⁸ Zum Zweck einer sprachlich vermittelten und intellektuell anspruchsvollen Deutung von realweltlichen Sachverhalten würde es am Ende idealerweise darum gehen, das jeweilige Vokabular zu ‚provinzialisierenʻ, d. h. konzeptuelle Kategorien wie ‚Hegemonieʻ in immer neuen und reflektierten Lesarten „[…] from and for the margins […]“⁵⁰⁹ zu verwenden. Schließlich plädierte der Linguist Gramsci selbst dafür, Begriffe für die Deutung historischer Sachverhalte auf keinen Fall als formale Definitionen zu verwenden, sondern der immerwährenden Spannung zwischen Begriff und dem zu deu-

Gramsci versuchte in diesem Teil der ‚Gefängnishefteʻ den Kampf um Hegemonie am Beispiel der Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegung des sogenannten Risorgimento, der ‚Wiedergeburtʻ Italiens als einem selbständigen Staat, nachzuvollziehen. In methodischer Hinsicht war das konsequent, weil die politischen Wirren in Italien, während der 1920er Jahre aus seiner Sicht durch Geschehnisse bedingt worden waren, die ihre Genese ihrerseits historischen Strukturen verdankten, und aus denen schließlich der Totalitarismus entsprang. Um den Aufstieg des Faschismus zu verstehen, war Gramsci also bemüht, die ihn ermöglichenden Bedingungen zu rekonstruieren. Dass sein historischer Abriss unter Zugrundelegung des Hegemonie-Begriffs nur eine von verschiedenen möglichen Lesarten darstellt, versteht sich aufgrund der Standortgebundenheit seiner Betrachtungen von selbst. Was die Periode des Risorgimento darüber hinaus interessant macht, ist der Umstand, dass in dem Zeitintervall ab ca. der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine politische Bewegung in der Lage war, eine hegemonische Formation zu errichten. Gleichwohl fanden unablässig Machtkämpfe zwischen verschiedenen politischen Lagern statt, die zu gegebener Zeit auch durch äußere Mächte angeheizt und zuweilen sogar militärisch ausgetragen wurden. Vgl. für die Einmischung von außen, Gramsci, Gefängnisheft 1, a.a.O., §114. Diese Machtkämpfe lieferten Gramsci somit reichlich Anschauungsmaterial für eine mutmaßliche Logik hegemonialer Prozesse, von denen Gramsci womöglich erwartete, dass sie sich unter vergleichbaren historischen Bedingungen auch woanders in einer ähnlichen Art und Weise abspielen würden – aber nicht unbedingt in derselben.  Vgl. Owen Worth, Recasting Gramsci in International Politics, Review of International Studies 37:1 (2011), 373 – 392, besonders 381– 386.  Robert W. Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations: An Essay in Method, Millennium 12:2 (1983), 162– 175, 162– 163.  Michele Filippini, On the Productive Use of Hegemony (Laclau, Hall, Chatterje), in: D. Cadeddu (Hg.), A Companion to Antonio Gramsci. Essays on History and Theories of History, Politics and Historiography (Leiden: Brill, 2020), 114– 123, 115, der dabei Dipesh Chakrabarty zitiert.

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tenden Sachverhalt Rechnung zu tragen, indem semantische Bezüge zwischen Begriff und Sachverhalt/en stets aufs neue und selbst‚bewusstʻ hergestellt werden⁵¹⁰. Der heuristische Wert der im konkreten Fall einer Untersuchung verwendeten Konzepte hängt, letztlich davon ab, was, d. h. welche imaginierten realweltlichen Sachverhalte zum Gegenstand der Untersuchung werden⁵¹¹. Und bei dieser Vergegenständlichung des Möglichkeitsraums der internationalen Beziehungen und seiner phänomenalen Bestandteile verbinden sich immer eine Vielzahl von Optionen, Gramsci und die von ihm verwendeten Begriffe für die Zwecke einer Deutung des Weltgeschehens zu ‚lesenʻ⁵¹². Es spricht also weder für eine gelungene Rezeption noch für eine konstruktive Weiterentwicklung (kritischer) IB-Theorien, wenn sie als ‚Theorienʻ mit Blick auf ein für sie jeweils charakteristisches Vokabular und damit a priori auf einen formal geschlossenen Korpus reduziert werden, um sie auf dieser Basis von anderen (kritischen) ‚Theorieperspektivenʻ sowie ihren jeweiligen Schulen zu unterscheiden⁵¹³. Denn es sei noch einmal erwähnt: „[…] critique is not a settled set of propositions, but an ongoing practice and ethos.“⁵¹⁴ Durch eine scholastische und verdinglichende Herangehensweise verkrusten sich kritische IB-Theorien zu formalen Denkschablonen; ihre konzeptuellen Bestandteile kommen früher oder später in einem vorgeblich reinen bzw. ursprünglichen Wortsinn daher⁵¹⁵; und schließlich etablieren sie sich nach dem falschen Vorbild

 Vgl. dazu Gramsci, Gefängnisheft 4, a.a.O., §41.  Vgl. dazu auch Robert W. Cox, The Political Economy of a Plural World: Critical Reflections on Power, Morals and Civilization (London: Routledge, 2002), 29: „The pertinent question is not: Did I correctly understand Gramsci? Rather, it is: Do the inferences which I have drawn (perhaps incorrectly, but I am not ready to admit that) from Gramsci help towards understanding the historical phenomenon that is the object of my enquiry? The concern should be with the adequacy of Coxʼs understanding of the world rather than with the adequacy of his understanding of Gramsci.“  Vgl. in diesem Sinn auch schon Mark Rupert, (Re‐)Engaging Gramsci: a Response to Germain and Kenny, Review of International Studies 24:3 (1998), 427– 434, 431. Erwähnenswert sind in dem Zusammenhang auch die entsprechenden Versuche von Marlies Glasius, Maaike Warnaar, Otto Holman, Andrea Ruggeri and Peter Ives, Gramsci for the Twenty-first Century: Dialectics and Translatability, International Studies Review 14:4 (2012), 666 – 686.  Vgl. eine typische Unterscheidung zwischen den sogenannten ‚neo-Gramscianischenʻ und ‚konstruktivistischenʻ Ansätzen bei Jan Aart Scholte, Tom Casier & Piotr Dutkiewicz, Hegemony in World Politics: An Introduction, in: dieselben (Hg.), Hegemony and World Order: Reimagining Power in Global Politics (Oxon: Routledge, 2021), 1– 14, 9: „Whereas neo-Gramscian approaches understand hegemony in terms of a mode of production [sic!], constructivist perspectives look first of all at ideational structure. In this case hegemony – the dominant power that exercises legitimate rule in world politics – resides in certain ways of knowing.“ Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem ‚Hegemoniebegriffʻ der kritischen IB-Theorie in der Tradition des historischen Materialismus würde schnell ersichtlich werden lassen, wie simplifizierend und irreführend diese Unterscheidung ist.  Kimberly Hutchings, Practicing Critique in IR, in: Brincat, Lima & Nunes, Critical Theory in International Relations and Security Studies, a.a.O., 207– 216, 208.  Vgl.Worth, Recasting Gramsci in International Politics, a.a.O., 382: „For hegemony, at least in its purest Gramscian sense [sic!], is primarily a theory of the subaltern […].“ (Hbg. hinzugefügt)

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der Mainstream-Theorien als eigenständige Paradigmen⁵¹⁶. Zumal geht bei einer Fokussierung auf die bloße Semantik der Theorie/n völlig verloren, in welchem gedanklichen und theoriegeschichtlichen Zusammenhang die fraglichen Begriffe stehen, ‚wofürʻ und damit auch ‚wogegenʻ die jeweilige ‚Perspektiveʻ in Anschlag gebracht werden könnte bzw. mit welchem Erkenntnisinteresse die realweltlichen Verhältnisse auf der Basis von Kategorien und Konzepten zu deuten wären⁵¹⁷. Dabei lässt sich noch einmal erkennen, wie wichtig es im Sinne kritischer IBTheorien ist, die Deutung realweltlicher Sachverhalte mit einer kritischen Reflektion etablierter Kanones der Sinnzuschreibung zu verbinden, um die ideologische Durchwirkung herrschender Deutungsansätze im IB-Mainstream unter Berücksichtigung subalterner bzw. alternativer Sichtweisen im Kollektiv der globalen Gesamtgesellschaft zu entmystifizieren. Die Aufmerksamkeit richtet sich mit anderen Worten auch auf die soziokulturellen Möglichkeitsbedingungen der akademischen Diskussion, insofern diese für ideologisierte Vergegenständlichungen der realweltlichen Verhältnisse mitverantwortlich sind⁵¹⁸. In diesem Zusammenhang wäre im Übrigen festzustellen, dass etwa die Linie normativ motivierter Theorieentwicklung, die vor allem von Andrew Linklater mit einer starken Orientierung an den Werken u. a. von Habermas und Elias betrieben worden ist, zu weiten Teilen gar nicht mehr als eine ‚kritischeʻ IB-Theorie in dem hier veranschlagten Sinn gesehen werden kann. So respektabel die Versuche einer normativen Projektion des Begriffs der ‚Weltbürgergesellschaftʻ auf die internationalen Be-

 Vgl. dazu etwa die eindringliche Warnung von Stephen Gill, Gramsci and Global Politics: Towards a Post-Hegemonic Research Agenda, in: derselbe (Hg.), Gramsci, Historical Materialism and International Relations (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), 1– 18, 1: „Gramsciʼs notes on IR need to be linked to a reconstruction of historical materialist thought in a broad sense, so as to avoid a new intellectual sectarianism.“ Vgl. auch Cox im Interview mit Brincat, Lima & Nunes, For Someone and for Some Purpose, a.a.O., 18: „I donʼt belong to any school or espouse any doctrine.“  Vgl. Cox ebda., 20: „My purpose is normative, and my aims could be summarized as the achievement of greater equity in peopleʼs material life, a greater sense of understanding and tolerance of differences in culture and ideas, as a means of moderating conflict among peoples.“  Anschaulich hat das u. a. Stephen Gill, Epistemology, Ontology and the ‚Italian Schoolʻ, in: derselbe (Hg.), Gramsci, Historical Materialism and International Relations (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), 21– 48, 46 – 47 in der Auseinandersetzung mit neorealistischen Argumentationsweisen exerziert. Auf die rhetorische Frage, wie sich die ungebrochene Attraktivität der neorealistischen Denkfiguren und Konzepte im US-amerikanischen IB-Mainstream erklären ließe, fiel die Antwort zweigeteilt aus: „First, the plausibility of neo-realist rational choice approaches corresponds to the predominance of positivist and behaviourist traditions in Anglo-Saxon academia. These traditions have served to constitute the bulk of American social science, and are rooted deeply. […] Second, and at a broader social level […], the abstract application of this discourse, with its substantive liberal capitalist and imperialist bias gains strength from and sits well with deep-rooted elements in Americaʼs manichean political culture. Two aspects seem important here: American anti-intellectualism and pragmatism (which includes an attraction to simple, parsimonious theories and to detailed empirical work) and, perhaps as fundamental, the pervasive metaphysics of denominational religion, with its ideas concenring Manifest Destiny, evangelism and crusaderism, which evoke a twin sense of mission and responsibility to save the rest of the world from itself.“

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ziehungen auch sein mögen, fehlt es diesem Projekt schlicht und ergreifend an einer Rückbindung an wesentliche Aspekte des ‚Kritischenʻ. Wenn sich im Feld kritischer IB-Theorien seit den 1980er Jahren aufgrund unterschiedlicher Dispositionen verschiedene Spielarten der kritischen Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen entwickelt haben, richtet sich die entscheidende Frage mit Blick auf ihre Heuristik nicht darauf, wodurch sich die jeweiligen Aussagensysteme in einem rein formalen Sinn unterscheiden. Viel wichtigere Fragen beziehen sich einerseits auf die inhaltliche Dimension des kritischen Erkenntnisinteresses und ob sich aus einer dadurch motivierten Negation des IB-Mainstreams charakteristische Formen der Anschauung und begrifflichen Vergegenständlichung erkennen lassen, die immer noch sinnvoll und intellektuell ‚gewinnʻbringend auf den Projektionsbereich der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert übertragbar sind. Dabei wird zusätzlich zum Gesichtspunkt der angemessenen Weltdeutung interessant, welche Strategien sich für eine Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen ableiten lassen, um die realweltlichen Verhältnisse verändern zu können. Wie sich zeigen wird, drängen sich angesichts der Vorherrschaft neo/liberaler und ultra/konservativer Deutungsschemata im amerikanisierten IB-Mainstream die Strategien der intellektuellen ‚Konfrontationʻ bzw. des subversiven ‚Widerstandsʻ auf.

Kritische IB-Theorie als konfrontatives Denken Was besagtes Erkenntnisinteresse betrifft, ging es in den Beiträgen von Cox, Gill und anderen darum, dem konservativen und komplizenhaften Denken im IB-Mainstream mit einer Haltung entgegen zu treten, die sich der sozialen Gebundenheit jedes Subjekts bewusst ist und aus dieser Warte problematisiert, welche Loyalitäten den einflussreichsten Anschauungsformen der Disziplin zugrunde liegen, welche sozialen Kräfte von den gängigen Beschreibungen und Erklärungen der Wirklichkeit profitieren, d. h. wessen Sicht der Dinge mit Hilfe abstrakter ‚wissenschaftlicherʻ Termini normalisiert wird. In den Worten Coxʻ: „Theory is always for someone and for some purpose. […] The world is seen from a standpoint defineable in terms of nation or social class, of dominance or subordination, of rising or declining power, of a sense of immobility or of present crisis, of past experience, and of hopes and expectations for the future.“⁵¹⁹ Dabei verorteten sich Cox und Co. erkenntnistheoretisch in der Tradition des historischen Materialismus, wählten für sich die Perspektive der Subalternen, d. h. den Standpunkt der ‚Machtperipherieʻ, und verbanden damit das normative Erkenntnisinteresse, die Möglichkeiten für eine Veränderung der prekären globalen Verhältnisse zu eruieren⁵²⁰.  Cox, Social Forces, a.a.O., 128. (Hbg. im Original)  Vgl. Vgl. Gill, Epistemology, a.a.O., 25: „[I]n contrast to the tendency in much of the (American) literature to prioritise systemic order and management, from a vantage point associated with the ruling elements in the wealthy core of the global political economy, the historical materialist perspective looks at the system from the bottom upwards, as well as the top downwards, in a dialectical appraisal of a given

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Das Erkenntnisziel der Entmystifikation Ob es am Ende die begriffliche Unterscheidung zwischen ‚problemlösendenʻ/szientistischen und ‚kritischenʻ/historisch materialistischen Perspektiven ist, die den ‚Beginnʻ kritischer IB-Theorie im eigentlichen Sinn markiert⁵²¹, ist müßig und kann hier dahingestellt bleiben. Für das inhaltliche Verständnis des historischen Materialismus in den IB ist wichtig, dass die Problematisierung der Standortgebundenheit und die damit zusammenhängende Geste der Solidarisierung mit den Subalternen nichts weniger darstellt als eine konfrontative Haltung gegenüber dem ‚praxisnahenʻ IB-Mainstream und seiner institutionellen Anbindung an die einflussreichsten amerikanischen Stiftungen sowie die ‚bestenʻ amerikanischen Universitäten und Zeitschriften⁵²². Diese konfrontative Haltung zeichnet sich nicht durch das Bedürfnis aus, in einen völlig fehlgeleiteten Diskurs zurückzukehren. Diese konfrontative Haltung zeichnet sich durch den Versuch aus, die von den Angehörigen des IB-Mainstreams wissentlich oder unwissentlich verkürzten Vergegenständlichungen der internationalen Beziehungen zu entmystifizieren. In letzter Konsequenz zeichnet sich diese konfrontative Haltung gegenüber dem IBMainstream dadurch aus, dass sie den etablierten Diskurs zugunsten einer friedlicheren und gerechteren Welt überwinden will. Der kritische Standpunkt unterscheidet sich vor allem dahingehend vom problemlösenden Standpunkt, dass er die eingefahrene Praxislogik der außenpolitischen Entscheidungsfindung nicht einfach als gegeben und unveränderlich, sondern als willkürlich und problematisch betrachtet, dass er nicht die Nähe, sondern die Distanz zu dieser politischen Praxis sucht. Das wurde schon in der ‚bewusstenʻ Parteinahme von Cox und anderen für solche Vorstellungen ersichtlich, die während der 1970er Jahre bei diversen sozialen Bewegungen auf der Nord- und Südhalbkugel gereift waren; die sich zunehmend in Forderungen nach ‚Frieden durch Abrüstungʻ und die Errichtung einer gerechteren sowie ökologisch nachhaltigen ‚Neuen Weltwirtschaftsordnungʻ (NWWO) manifestiert hatten⁵²³; und die aufgrund ihrer Stoßrichtung zugunsten tiefgreifender Veränderungen im globalen Maßstab völlig in-

historical situation: a concern with movement, rather than management.“ Vgl. auch Gill, Gramsci and Global Politics, a.a.O., besonders 8 – 13; vgl. Cox, Social Forces, a.a.O., 129.  Vgl. Conway, Critical International Politics at an Impasse a.a.O. 217: „“As every bored undergraduate inducted into disciplinary lore knows, ‚critical IRʻ was ushered into the world […] when Robert Cox distinguished between ‚criticalʻ and ‚problem-solvingʻ theories. […]. Critical theorists […] presuppose the historical contingency of the world, thus allowing for empirical and theoretical analysis of its possibilities for systemic transformation.“ Vgl. im gleichen Sinn, Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus, a.a.O., 204.  Vgl. Gill, American Hegemony and the Trilateral Commission, a.a.O., 207.  Vgl. Cox, Social Forces, a.a.O., 130. ‚Bewusstʻ vor allem deswegen, weil Cox auch darauf hinwies, dass die von ihm favorisierte kritische Theorie „[…] must reject improbable alternatives just as it rejects the permanency of the existing order.“

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kompatibel mit den Analysen und Empfehlungen aus dem amerikanisierten IB-Mainstream gewesen waren⁵²⁴. Trotz angestrengter Bemühungen kritischer Theorie und Praxis, nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit umfassender Reformen nachvollziehbar werden zu lassen⁵²⁵, übersetzten sich jedoch die seit dem Zweiten Weltkrieg tradierten geostrategischen Sichtweisen auch während der 1980er Jahre nicht nur ungebrochen in den neorealistischen Diskurs transatlantischer Sicherheitspolitik, sondern auch in den neoliberalen Diskurs der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen. Die aus den Chefetagen einflussreicher Banken und Konzerne lancierten Hinweise auf Bedrohungen für das Wirtschaftswachstum in der westlichen Welt, vermeintlicherweise bedingt durch die ‚gelbe Gefahrʻ im ökonomischen Wettbewerb mit Japan und China⁵²⁶, wurden durch Vermittlung der Trilateralen Kommission zum neuen Forschungsschwerpunkt namhafter Vertreter des IB-Mainstreams ⁵²⁷, die sich fortan nicht mehr nur mit rationaler ‚Abschreckungʻ, sondern auf der Basis des Regime-Begriffs mit dem Problem einer rationalen Gestaltung bzw. strategischen Organisation zunehmender ‚Interdependenzʻ beschäftigten⁵²⁸ – auf europäischer Bühne durch die forcierte Binnenmarktintegration; im transatlantischen bzw. triadischen Raum durch eine engere Abstimmung zwischen den Regierungen Nordamerikas, Europas und Japans im Rahmen der G7, der Weltbank, des IWF und eben jener Trilateralen Kommission. Aus einer kritischen Haltung heraus betrachtet, taten die Vertreter/innen des sogenannten Neorealismus bzw. Neoliberalismus im IB-Mainstream seit den 1970er Jahren mit dem konzeptuellen Vokabular ihrer jeweiligen Theorieperspektiven nichts anderes, als die Aufrechterhaltung der US-amerikanischen Einflusssphären in militärischer und

 Vgl. Craig N. Murphy, Global Institutions, Marginalization and Development (London: Routledge, 2005), 116: „Hundreds of articles and books on the NIEO appeared in the 1970s and early 1980s […]. Vanishingly few of the studies involve reading the primary documents of the North– South debates over governing the world economy from the beginning, or talking at length with the Third World principals about the history of their proposals and what they hoped to achieve. […] In part, the problem was the tendency of prestigious American International Relations scholars to flock to policy relevant topics – which, as long as OPEC was boosting oil prices, the NIEO seemed to be. Within that group of scholars, empathetic, first-hand knowledge of Africa, developing Asia, or Latin America (except as an extension of US foreign policy) was rare [!]. Additionally, of course, there was the cumulative impact of the leading explanations themselves. Most, like Krasnerʼs, advised policy-makers to avoid the kind of direct engagement with the Third World that could have led to a more benign interpretation of the NIEO.“  Vgl. am Beispiel der Bundesrepublik, Lothar Rolke, Protestbewegungen in der Bundesrepublik: Eine analytische Sozialgeschichte des politischen Widerspruchs (Wiesbaden: VS, 1987), besonders 319 – 402; vgl. mit Blick auf die USA, Wilfried Mausbach, Vereint marschieren, getrennt schlagen? Die amerikanische Friedensbewegung und der Widerstand gegen den NATO-Doppelbeschluss, in: Ph. Gassert, T. Geiger & H. Wentker (Hg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: Der NATO-Doppelbeschluss in deutschdeutscher und internationaler Perspektive (München: Oldenbourg, 2011), 283 – 303.  Vgl. Frank Billé, Introduction, in: derselbe & S. Urbansky (Hg.), Yellow Perils: China Narratives in the Contemporary World (Honolulu: University of Hawaii Press, 2018), 15.  Vgl. Gill, American Hegemony and the Trilateral Commission, a.a.O., 209.  Van der Pijl, The Discipline of Western Supremacy, a.a.O., 196.

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wirtschaftlicher Hinsicht wie einen ‚rationalenʻ bzw. systeminduzierten Reflex auf entstehende ‚Ungleichgewichteʻ erscheinen zu lassen. Ihre Loyalitäten galten offensichtlich den privilegiertesten Kräften in den miteinander verflochtenen Konzern- und Regierungsnetzwerken der USA und ihren ‚befreundetenʻ Partnerstaaten. Die Begünstigten dieser Art ‚Wissenschaftʻ waren in letzter Konsequenz die executives und shareholder des euro-atlantischen ‚Kapitalsʻ, die im Schulterschluss mit den zahlreichen Think Tanks und ihren dazugehörigen ‚Expertenʻkollegien versuchten, eine nachhaltige Befriedung der Ost-West-Beziehungen und das Projekt der Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO) zu sabotieren⁵²⁹. Angemessener und weltanschaulich weniger voreingenommen als das Epithet einer ‚liberalen Weltordnungʻ wäre die Beschreibung dieser historischen Konstellation mit dem Begriff der globalen ‚Kriseʻ gewesen, gerade auch im Sinn der bei Gramsci zu findenden Formulierung einer ‚organischen Kriseʻ, „[…] die sich manchmal über Jahrzehnte hinzieht. Das bedeutet, daß in der Struktur [des Systems] unheilbare Widersprüche aufgetreten sind […]“⁵³⁰, weswegen die Frage in den Vordergrund rückt, ob die etablierten konservativen Kräfte mit ihren Ordnungsversuchen noch erfolgreich sein können, ob die Organisation der Gesamtgesellschaft ohne eine umfängliche Reparatur der defizitären konstitutionellen Parameter des Systems noch funktionieren kann.

Die strukturell begründete ‚organische Kriseʻ des internationalen Systems Wie Gramsci weiter schreibt, ist es bei solchen Diagnosen wichtig, den Zusammenhang zwischen dem ‚Organischenʻ und dem ‚Konjunkturellenʻ bzw. ‚Gelegenheitsbedingtenʻ einer Krise nicht aus den Augen zu verlieren, was impliziert, dass es ebenso wichtig ist, das ‚Organischeʻ einer Krise nicht mit dem ‚Konjunkturellenʻ zu verwechseln. „[D]adurch kommt man entweder dazu, Ursachen als unmittelbar wirkend darzustellen, die stattdessen mittelbar wirken, oder zu behaupten, die unmittelbaren Ursachen seien die einzigen wirkenden Ursachen […].“⁵³¹ Diese Unterscheidung zwischen dem ‚Organischenʻ und dem ‚Konjunkturellen/Gelegenheitsbedingtenʻ hilft dabei, den analytischen

 Vgl. zur Ablehnung der bis Ende der 1970er Jahre praktizierten Entspannungspolitik und der außenpolitischen Orientierung an einem neuen ‚Primat des Militärischenʻ in den Ost-West-Beziehungen mit dem Beginn der Reagan-Administration, Manfred Görtemaker, Amerikanisch-sowjetische Beziehungen am Scheideweg: Eine Zwischenbilanz zur Halbzeit der Reagan-Administration, Osteuropa 32:12 (1982), 969 – 982, besonders 970 – 974; vgl. zum ‚Kampfʻ gegen die Neue Weltwirtschaftsordnung, Jennifer Bair, Taking Aim at the New International Economic Order, in: Ph. Mirowski & D. Plehwe (Hg), The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective (Cambridge: Harvard University Press, 2009), 347– 385, die auf 357– 367 als einflussreiche Ideologen gegen die NWWO Gottfried Haberler, Karl Brunner, Peter Bauer und Deepak Lal nennt, und die auf 373 – 379 zudem auf die Strategie der Heritage Foundation verweist, alle laufenden Anstrengungen zur Herstellung einer NWWO im Rahmen der Vereinten Nationen zu diskreditieren.  Gramsci, Gefängnishefte 4, a.a.O., §38 und 13, a.a.O., §17.  Ebda.

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Fokus kritischer IB-Theorie besser zu erkennen, der sich auf die Identifikation derjenigen Ursache/n richtet, die für die Entstehung unüberbrückbarer Sichtweisen in der Gesamtgesellschaft betreffend ihre vermeintliche ‚Ordnungʻ verantwortlich sind; und die in den vorherrschenden Rahmenbedingungen liegen, unter deren Einfluss die relevanten Akteure ihre Entscheidungen treffen. Die Rede ist dabei von der prägenden historischen Struktur der internationalen Beziehungen, dem zentralen Konzept der von Cox und anderen hergeleiteten Anschauungsweise der internationalen Beziehungen im Feld des historischen Materialismus. „Within a historical structure, three categories of forces interact: ideas, material capabilities, and institutions.“⁵³² Diese Konfiguration von Kräften bringt stets gewisse Handlungseinschränkungen für die relevanten Akteure mit sich, ohne jedoch deren Handlungen und Entscheidungen in einem direkten und mechanischen Sinn zu determinieren⁵³³, was daran liegt, dass historische Strukturen selbst erzeugt bzw. von sozialen Kräften konstruiert werden. „In an international environment, Cox acknowledges the importance of change while maintaining the idea of structural continuity over extended periods of time within a historical structure. In unraveling this historical structure, he acknowledges the mutual constitution of the social, institutional, and the material as well the duality of agency and structure.“⁵³⁴ Wenn beispielsweise die internationalen Beziehungen während der 1970er Jahre verstärkt dadurch geprägt gewesen waren, dass die liberaldemokratischen Regierungen der ‚westlichen Staatenʻ die immer lauter werdenden Rufe subalterner und reformerischer Kräfte nach ‚Frieden durch Abrüstungʻ zwischen den großen Militärmächten auf der Nordhalbkugel und nach ‚Gerechtigkeitʻ im Sinne von mehr Gleichberechtigung in Wirtschaftsfragen zwischen den hochindustrialisierten Staaten des Nordens und den vergleichsweise schwach bzw. nicht-industrialisierten Staaten des Südens ignorierten, dann offenbart sich darin die kollektive Unfähigkeit der etablierten politischen Kräfte des Westens, die Kritik an den inter- und transnationalen Verhältnissen als Anlass für einen Wandel dieser Verhältnisse zu erkennen. Obwohl sie nicht von den herrschenden Verhältnissen dazu ‚gezwungenʻ waren, entschieden sich die westlichen Regierungsnetzwerke dazu, die aus ihrer Sicht bestehende ‚Weltordnungʻ als eine solche gegen die erklärten Wünsche und Interessen der subalternen Kräfte zu bewahren. Bei der Untersuchung des Organischen dieser Krise wäre unter Berücksichtigung struktureller Einflüsse davon Abstand zu nehmen, den Eigenschaften der nominell handelnden politischen Akteure des Westens allzu viel ursächliche Bedeutung beizumessen, die nominell handelnden Akteure als eigenständige ‚rationaleʻ Akteure misszuverstehen. Das unter westlichen Regierungen und ihren jeweiligen Beraterkreisen immer wieder kursierende Gerede von ‚Raketenlückenʻ als vermeintlichen Indizien für  Maaike Warnaar, Gramsciʼs Bridges: A Dialectical Approach to International Studies, in: Glasius et al, Gramsci for the Twenty-first Century, a.a.O., 667– 670, 668.  Vgl. Cox, Social Forces, a.a.O., 135: „Individuals and groups may move with the pressures or resist and oppose them, but they cannot ignore them.“  Warnaar, Gramsciʼs Bridges, a.a.O., 669.

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akute Verteidigungsdisparitäten zwischen dem Westen und der Sowjetunion⁵³⁵ war zwar genauso wie der von westlichen Eliten angestimmte Alarmismus über den von den Dritte-Welt-Staaten forcierten ‚Dirigismusʻ im globalen Rohstoffhandel und einer dadurch bedingten Gefährdung der Prosperität der Industriestaaten aufgrund steigender Produktionskosten⁵³⁶ Ausdruck einer kollektiven Einstellung, die auf exklusiven Interessen, manipulativen Absichten und oft auch irrationalen Ängsten basierte. Und obschon diese Einstellung mit dem ‚NATO-Doppelbeschlussʻ⁵³⁷ von 1979 bzw. der ‚Revision der Fazilitätenʻ⁵³⁸ von 1988 ihre Spuren in der sicherheits- und wirtschaftspolitischen Entscheidungsfindung der westlichen Regierungen hinterließ, waren Interessen, Ängste und die dazugehörigen Feindbilder der politischen Akteure ihrerseits bedingt durch ein umfassenderes Zusammenspiel von materiellen Ressourcen, formellen und informellen Institutionen sowie geteilten bzw. konkurrierenden Vorstellungen und Überzeugungen. Kurz: die nominell handelnden Akteure in den westlichen Regierungszentralen entschieden immer unter dem Einfluss bereits etablierter Sichtweisen in den privilegiertesten Strata der bürgerlichen Gesellschaft/en. Die Unterscheidung zwischen dem Organischen und dem Konjunkturellen gebietet zudem, bei der Beschreibung des zu untersuchenden Sachverhalts darauf zu achten, nicht jede von entsprechenden Fachwissenschaftler/innen als eine völkerrechtliche, ökonomische, diplomatische, institutionelle, sektorale, temporäre, geopolitische oder ökologische beschriebene Krise als alleinstehendes Phänomen und als das relevante empirische datum zu begreifen, um bei der Beschäftigung mit solchen Oberflächenphänomenen nicht ihre Verbindung mit der tiefer liegenden globalen/organischen Krise aus den Augen zu verlieren. Die ‚Korea-Kriseʻ⁵³⁹ anno 1951, die ‚Suezkriseʻ⁵⁴⁰ anno 1956/ 1957, die ‚Krise der Europäischen Gemeinschaftenʻ⁵⁴¹ anno 1965, die ‚Krise der NATOʻ⁵⁴²

 Vgl. dazu Werner Sonne, Leben mit der Bombe: Atomwaffen in Deutschland (Berlin: Springer, 2020), der auf 240 einen entsprechenden Wahlkampfslogan John F. Kennedys anno 1961 und auf 291 eine entsprechende Initiative des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt anno 1977 beschreibt.  Vgl. Rainer Tetzlaff, Die Forderungen der Entwicklungsländer nach einer ‚Neuenʻ Weltwirtschaftsordnung, die Internationalisierung der Produktion und das AKP-Abkommen von Lomé, Verfassung und Recht in Übersee 9:1 (1976), 33 – 55, der auf 33 eine entsprechende Warnung des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt beschreibt.  Vgl. Sonne, Leben mit der Bombe, a.a.O., 302.  Vgl. Gian Trepp, IWF, Schuldenkrise und Neue Weltwirtschaftsordnung,Widerspruch 8:15 (1988), 127– 130, 127.  Vgl. Christian Tomuschat, ‚Uniting for Peaceʻ – Ein Rückblick nach 50 Jahren, Friedens-Warte 76:2/3 (2001), 289 – 303, 295.  Vgl. Dietrich Rauschning, Rechtsprobleme der Suezkanal-Krise, German Yearbook of International Law 7:2 (1957), 257– 282.  Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens: Vom Kalten Krieg zum Mauerfall (München: Beck, 2014), 457.  Vgl. James Ellison, Defeating the General: Anglo-American Relations, Europe and the NATO Crisis of 1966, Cold War History 6:1 (2006), 85 – 111.

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anno 1966, die ‚Vietnam-Kriseʻ⁵⁴³ anno 1966, die ‚Krise der Vereinten Nationenʻ⁵⁴⁴ während der 1960er Jahre, oder auch die ‚Skleroseʻ der Europäischen Gemeinschaften⁵⁴⁵ nach der Norderweiterung während der 1970er Jahre waren jeweils für sich genommen veritable Krisen. Diese Krisen waren aber – jeweils für sich genommen – ebenso wenig lösbar, wie die ‚Krise der entwicklungspolitischen Institutionenʻ⁵⁴⁶ seit den 1960er Jahren, die sogenannte Öl- oder ‚Energiekriseʻ⁵⁴⁷ von 1973/1974, oder in jüngerer Zeit die sogenannte ‚Finanzkriseʻ⁵⁴⁸ von 2007/2008, die ‚Griechenland-Kriseʻ⁵⁴⁹ ab 2009, die ‚Georgien-Kriseʻ⁵⁵⁰ von 2008, die ‚Ukraine-Kriseʻ⁵⁵¹ seit 2014, oder die allgegenwärtige ‚Klimakriseʻ. Die Virulenz solcher und anderer realweltlicher Krisenerscheinungen steht völlig außer Frage. Auch, dass die von solchen und anderen Entwicklungen ausgehenden Konsequenzen für Mensch und Natur dramatisch sind, unterliegt keinem Zweifel. Der Punkt betrifft die un/angemessene begriffliche Charakterisierung solcher Krisen. Denn die Aufteilung der Sozialwissenschaften in diverse Spezialdisziplinen und das damit zusammenhängende „[…] conventional cutting up of reality […]“⁵⁵² hat es zum Normalfall werden lassen, dass die jeweiligen Spezialist/innen nur jeweils einen kleinen Teilbereich komplexer Entwicklungen mit dem verfügbaren Fachjargon beschreiben – und dabei in aller Regel völlig übersehen, wie sehr ihre eigenen verengten Krisendiagnosen sowie die darauf unter Umständen gegründeten Lösungsvorschläge aufgrund der Tiefenstruktur des analysierten Phänomens an der Wirklichkeit vorbeigehen (müssen). Aus einer kritischen Sicht wäre es angemessener, davon auszugehen, dass diese und viele andere Krisen trotz ihrer morphologischen Unterschiede einen gemeinsamen ‚organischenʻ Kern besitzen⁵⁵³, der ohne eine entscheidende Modifikation

 Vgl. Otto Leichter,Wahl des Generalsekretärs und andere UN-Probleme,Vereinte Nationen 14:4 (1966), 105 – 111, 106.  Vgl. Peter Wittig, Die Krise der Vereinten Nationen, Zeitschrift für Politik N.F., 12:4 (1965), 309 – 318.  Vgl. Bernhard Sälzer, Die Einheitliche Europäische Akte: Die neuen Vertragsartikel Forschung und technologische Entwicklung, Integration 9:3 (1986), 121– 125, 121.  Vgl. Horst Breier, Krise und Krisengerede: Vom Zustand der Entwicklungspolitik, Vereinte Nationen 45:2 (1997), 55 – 61, 59.  Vgl. Volker Matthies, Neue Weltwirtschaftsordnung: Hintergründe, Positionen, Argumente (Opladen: Leske & Budrich, 1980), 21.  Vgl. Jens van Scherpenberg, Finanzkapital, Finanzkrise und internationale Staatenkonkurrenz, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 16:2 (2009), 325 – 337.  Vgl. Oliver Read & Stefan Schäfer, 10 Jahre Diskurs über die Griechenland-Krise, WiSt-Wirtschaftswissenschaftliches Studium 49:1 (2020), 22– 28.  Vgl. Stacy R. Closson & Uwe Halbach, Die Georgien-Krise in ihrer kaukasischen Dimension, SWPAktuell 75/2008, Stiftung Wissenschaft und Politik (2008), 1– 8.  Vgl. August Pradetto, Die Ukraine-Krise: Geopolitik und Identität im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen, Friedens-Warte 89:1/2 (2014), 31– 58.  Cox, Social Forces, a.a.O., 126.  Eine eindrückliche Beschreibung dieses ‚organischen Kernsʻ zahlreicher Krisen findet sich bei Stephen Gill, Organic Crisis, Global Leadership and Progressive Alternatives, in: derselbe (Hg.), Global Crises and the Crisis of Global Leadership (Cambridge: Cambridge University Press, 2011), 233 – 254, 238 – 239:

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seiner Strukturelemente immer neue akute Krisen und Bedrohungen repliziert, die unweigerlich das internationale System und damit die institutionelle Basis der organisierten Menschheit zerstören. Aber nicht nur spezialisierte Fachwissenschaftler/innen, auch bekannte bzw. bekennende ‚Neogramscianer/innenʻ täten offensichtlich gut daran, ihre Krisenanalysen mit mehr Bedacht an der ursprünglichen Vorstellung Gramscis von einer wechselseitigen Dynamisierung ökonomischer, sozialer, rechtlicher und politischer Prozesse zu orientieren, die sich darin zeigt, dass die unvermeidlichen ökonomischen Widersprüche von politischen Widersprüchen begleitet werden, die im inter- und transnationalen Raum fast immer reaktionäre und so gut wie niemals progressive Praktiken nach sich gezogen haben. Dieser Bezug auf die dynamische „[…] ‚integrale Ökonomieʻ entgleitet der neogramscianischen Krisendiagnostik [jedoch oft] komplett.“⁵⁵⁴ So findet sich selbst in einem der grundlegenden Texte kritischer IB-Theorie die Einschätzung von Cox, dass „[…] following the Second World War (1945 – 65), the United States founded a new hegemonic world order [sic!] similar in basic structure to that dominated by Britain in midnineteenth century but with institutions and doctrines adjusted to a more complex world economy and to national societies more sensitive to the political repercussions of economic crises.“⁵⁵⁵ Diese Einschätzung suggeriert, dass selbst innerhalb der kritischen Theoriedebatten offensichtlich nicht immer gründlich genug über den Begriff der ‚Kriseʻ nachgedacht worden ist. Der gebetsmühlenartige Hinweis sowohl von sogenannten ‚Neogramscianer/ innenʻ als auch von sogenannten ‚Neo-Marxist/innenʻ auf unterschiedliche Hegemoniekonstellationen hat immer wieder plakative Unterscheidungen zwischen Phasen ‚hegemonialer Ordnung/enʻ und solchen ‚hegemonialer Krise/nʻ kultiviert⁵⁵⁶. Ein möglicher Grund dafür mag in der unkritischen Fortschreibung allzu holzschnittartiger Interpretationen aus der Weltsystemtheorie gelegen haben, die sich bei ihren stark generalisierenden Vergegenständlichungen des internationalen Systems an der soge„The global organic crisis is exacerbated by […] new enclosures and the expropriation of the social commons. […O]riginal accumulation is reflected not only in the privatization of state assets, a trend that increased massively throughout the 1990s, but also in the ‚privatization of parts of the state form itselfʻ. Both the ‚privatization of previously socialized institutions associated with provisioning for social reproductionʻ and the ‚alienation or enclosure of common social propertyʻ, we argue, can be seen as ‚part of a new global enclosure movementʻ.We note that ‚these changes tend to grant more power to capital, while simultaneously undermining socialized forms of collective provisioning and human securityʻ.“  Bernd Röttger, Neogramscianische Krisenanalysen: Für die kritische Rekonstruktion einer materialistischen Krisenheuristik, in: Opratko & Prausmüller, Gramsci Global, a.a.O., 106 – 124, 109.  Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations, a.a.O., 170 – 171. Auch Stephen Gill, Introduction: Global Crises and the Crisis of Global Leadership, in: derselbe (Hg.), Global Crises and the Crisis of Global Leadership (Cambridge: Cambridge University Press, 2011), 1– 20, 15, teilte diese Einschätzung für eine gewisse Zeit, wenngleich er die besagte Weltordnung begriff als „[…] characterized by two rival hegemonies, each with the capacity to destroy life on the planet (a capacity they retain).“  Vgl. stellvertretend für das Lager des ‚Neo-Marxismusʻ, Alex Callinicos, Bonfire of Illusions: The Twin Crises of the Liberal World (Cambridge: Polity, 2010), 4– 5, der den Irak-Krieg ab 2003 und die Finanzkrise ab 2007/2008 als zwei Indikatoren für einen neuerlichen demise of US hegemony erachtet.

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nannten Konjunkturzyklentheorie orientiert und demgemäß auch die Phase des sogenannten ‚Bretton Woods-Systemsʻ zwischen 1945/48 und 1965/68 als Ausdruck einer stabilen, progressiven und weitgehend friedlichen Hegemoniekonstellation unter USamerikanischer Führung gedeutet hatten⁵⁵⁷. Cox selbst war unter diesem Einfluss offensichtlich davon überzeugt, dass „[…] the Bretton Woods system attempted to strike a balance between the liberal world market and the domestic responsibilities of states. […] This balanced compromise between defence of welfare and a liberal international economic order sustained three decades of growth and progress, but a crisis in the postwar order came about during the years 1968 – 75.“⁵⁵⁸ Allerdings wird die Beschreibung des Zeitintervalls zwischen 1945/48 und 1965/68 als eine Pax Americana, die mit einer friedlichen ‚Nachkriegsordnungʻ einherging, die in einem liberal world market fußte, und die erst ab Beginn der 1970er Jahre in eine ‚Kriseʻ schlitterte, bei einer analytischen Verwendung des Begriffs der ‚Weltordnungʻ⁵⁵⁹ nur plausibel, wenn man bei der Zuschreibung von ‚Friedenʻ und ‚Ordnungʻ die fundamentale Instabilität verschweigt, die liberalen Marktprozessen innerhalb und zwischen Staaten inhärent ist, und die ständig von einem Rückgriff auf politische und militärische Gewalt begleitet wird⁵⁶⁰; wenn man überdies den analytischen Fokus, wider die grundlegenden methodologischen Prämissen kritischer Theorie, gerade nicht auf das ganze soziale System der internationalen Beziehungen richtet, sondern in geographischer Hinsicht auf die US-amerikanische Einflusssphäre in Westeuropa und in sektoraler Hinsicht auf die Bereiche der ökonomischen Produktion, des Handels und der Finanzen verengt; und wenn man dabei die vom transatlantischen Raum bereits seit dem Ersten Weltkrieg ausgehenden tiefen Risse in der integralen politischen Ökonomie der internationalen Beziehungen ausblendet, die ihrerseits immer wieder höchst reaktionäre politische Strategien nach sich gezogen haben. Schließlich lässt sich vor allem die westliche Energiepolitik seit dem Ersten Weltkrieg nicht anders als eine ultraimperialistische Praxis begreifen, die ihre eigene ‚Logik  Vgl. etwa die Ausführungen zur sogenannten ‚Hegemoniezyklentheorieʻ von Terence K. Hopkins & Immanuel Wallerstein, World-Systems Analysis: Theory and Methodology (Beverly Hills: Sage, 1982), 104; vgl. dazu auch die Beschreibung der US-amerikanischen Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg bei Giovanni Arrighi, The Three Hegemonies of Historical Capitalism, Review (Fernand Braudel Center) 13:3 (1990), 365 – 408, besonders 396 – 403, der dabei interessanterweise meint, sich bei dieser Charakterisierung explizit auf Gramsci beziehen zu können (367): „[F]ollowing Gramsci, we shall speak of hegemony only when the claim [of the dominant group] is at least in part true and adds something to the power of the dominant state. A situation in which the claim of the dominant state to represent a general interest is purely fraudulent will be defined not as a situation of hegemony but as a failure of hegemony [sic!].“ (Hbg. hinzugefügt)  Cox, The Political Economy of a Plural World, a.a.O., 80. Vgl. ganz ähnlich dazu auch Overbeek, Rivalität und ungleiche Entwicklung, a.a.O., 181.  Vgl. dazu Gill, Organic Crisis, a.a.O., 234, der den Zweck einer analytischen – im Unterschied zu einer normativen – Begriffsverwendung darin sieht „[…] to capture the actual nature of world orders. It refers to the configurations of power and authority, relations between rulers and ruled, leaders and led, and the problématiques of war and peace, and of socio-economic development in particular epochs.“  Vgl. Mary Ann Tétraeault, Regimes and Liberal World Orders, Alternatives 13:1 (1988), 5 – 26, 21.

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des Geopolitischenʻ⁵⁶¹ herausbildete; die zu jedem Zeitpunkt höchst widersprüchlich und konfliktträchtig gewesen war⁵⁶²; die einen der gewaltwahrscheinlichsten Konflikttypen erzeugte⁵⁶³; die sich unter dem steigenden Einfluss US-amerikanischer Regierungs- und Elitenetzwerke seit den 1990er Jahren durch einen bis dato unbekannten globalen Totalanspruch auszeichnete, insofern sich dieser explizit auf die gewaltsame Inbesitznahme aller bekannten Energieressourcen der Welt konzentrierte⁵⁶⁴; und die in ihrer Wirkung nicht wohlfahrtssteigernd sondern hochgradig destabilisierend auf die ökonomische, politische, rechtliche, soziale und ökologische Verfassung des internationalen Systems gewirkt hat⁵⁶⁵, weswegen manche Kommentator/innen diesen Zusammenhang auch schon als transnational fascism ⁵⁶⁶ beschrieben haben.

 Vgl. dazu Steffen Bukold, Öl im 21. Jahrhundert, Band I: Grundlagen und Kernprobleme (München: Oldenbourg, 2009), 14: „Öl war seit diesem [Ersten Welt] Krieg untrennbar mit Geopolitik verbunden. Die Erschließung und Ausbeutung von Ölquellen hatte von nun an neben der kommerziellen immer auch eine strategische Dimension. Der Zugang zu ausländischen Ölquellen wurde zum strategischen Ziel der Großmächte.“  Vgl. Lutz Zündorf, Das Weltsystem des Erdöls. Eine theoretisch-empirische Skizze, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55:3 (2003), 421– 446, besonders 429 – 432.  Vgl. Andreas Denninghoff, Ressourcenkonflikte als globales Sicherheitsrisiko?, in: Th. Jäger (Hg.), Handbuch Sicherheitsgefahren (Wiesbaden: Springer VS, 2015), 21– 32, 30.  Vgl. Mazen Labban, The Struggle for the Heartland: Hybrid Geopolitics in the Transcaspian, Geopolitics 14:1 (2009), 1– 25, 5: „Throughout the 1990s, the Caspian region was thought to contain hydrocarbon resources of global significance, enough to relieve the US and Europe of their dependence on Gulf oil and to present a counterweight, if not an equivalent rival, to OPEC. The size and significance of Caspian oil and gas reserves, however, were deliberately exaggerated by governments eager to attract foreign investment and, particularly, by the US Department of State, to attract US investors and justify the interventionist strategy of the US in the region.“  Vgl. Alexander Smith, Treibstoff der Macht: Eine Geschichte des Erdöls und der europäischen Einfuhrabhängigkeit (Wiesbaden: Springer VS, 2021), 499: „Die politische Instrumentalisierung des Erdöls durch die arabischen Exportstaaten und die Preisschocks der 1970er Jahre bewogen die westlichen Einfuhrländer zu einer effizienteren Energienutzung und einer verstärkten Substitution des Erdöls vor allem durch Erdgas. Zudem verlegten die internationalen Ölkonzerne den Fokus ihrer Explorationsbemühungen in politisch stabilere Weltgegenden, darunter Alaska und die Nordsee.“ Vgl. John Bellamy Foster, Peak Oil and Energy Imperialism, Monthly Review 60:3 (2008), 12– 33, 12: „The rise in overt militarism and imperialism at the outset of the twenty-first century can plausibly be attributed largely to attempts by the dominant interests of the world economy to gain control over diminishing world oil supplies. Beginning in 1998 a series of strategic energy initiatives were launched in national security circles in the United States in response to: (1) the crossing of the 50 percent threshold in U.S. importation of foreign oil; (2) the disappearance of spare world oil production capacity; (3) concentration of an increasing percentage of all remaining conventional oil resources in the Persian Gulf; and (4) looming fears of peak oil. The response of the vested interests to this world oil supply crisis was to construct what Michael Klare in Blood and Oil has called a global ‚strategy of maximum extraction.ʻ This required that the United States as the hegemonic power, with the backing of the other leading capitalist states, seek to extend its control over world oil reserves with the object of boosting production. Seen in this light, the invasion and occupation of Afghanistan (the geopolitical doorway to Western access to Caspian Sea Basin oil and natural gas) following the 9/11 attacks, the 2003 invasion of Iraq, the rapid expansion of U.S. military activities in the Gulf of Guinea in Africa (where Washington sees itself as in competition with

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Unter dem Strich lässt sich die ultraimperialistische Praxis der westlichen Regierungsnetzwerke seit dem Ersten Weltkrieg selbst mit der größten Fantasie nicht als ein Projekt begreifen, das neben aller Willkür und Gewalt auch in einem hinreichendem Maß auf Konsens gegründet war. Das wiederum spricht ihr aus einem kritischen Blickwinkel jedwede Legitimität ab und lässt sie bestenfalls als Suprematie oder Dominanz erkennen, aber nicht als eine hegemoniale Ordnung.

Das Konzept der Hegemonie als notwendig umstrittene Anschauungsform Ein Großteil der Hegemoniediskussion lief daher ins Leere. Hinweise, wie etwa die von Scherrer auf eine unpräzise Fassung von Begriffen wie ‚Hegemonieʻ⁵⁶⁷ behandelten das Konzept als Element eines feststehenden Begriffsapparats, obwohl erst die Verwendung von Konzepten mit einem Weltbezug verdeutlicht, ob und inwiefern dieser Bezug auch sinnvoll hergestellt wird; und dieser Umstand ist noch völlig unabhängig von dem zusätzlichen Problem, dass es außer Urteilskraft und intersubjektivem Konsens weder Kriterien für das empirisch ‚Wahreʻ gibt noch eine Sicherheit für die Bereitschaft der ‚Gesprächspartner/innenʻ zur Anerkennung des behaupteten Weltbezugs. „Verstehen ist eben daher, wie die menschliche Kommunikation und Kooperation generell, immer der weiteren Verbreiterung, Vertiefung und Absicherung fähig und bedürftig.“⁵⁶⁸ Analytische Begriffe wie ‚Hegemonieʻ sind als Theoriebausteine immer kontextabhängig in ihrem Gebrauch und bleiben notwendigerweise offen für ein bildhaftes Verstehen veränderlicher Wirklichkeitsausschnitte. Sie besitzen eine metaphorische Dimension und erlauben damit Flexibilität bei der begrifflichen Veranschaulichung realweltlicher Zusammenhänge, deren Sinnhaftigkeit damit notwendigerweise der weiteren Verhandlung vorbehalten bleibt. Konzeptuelle Kritik muss deswegen nicht grundsätzlich scheitern. Eine solche Kritik müsste jedoch auf ‚interneʻ Richtigkeiten und Falschheiten der verhandelten Konzepte abstellen. Das heißt, konzeptuelle Kritik müsste einerseits den Zusammenhang zwischen Konzepten und ihrem Analyserahmen und andererseits auch den legitimen Anwendungskontext der jeweiligen Konzepte in konkreten Analysen historischer

Beijing), and the increased threats now directed at Iran and Venezuela – all signal the rise of a dangerous new era of energy imperialism.“  Vgl. Yuliya Yurchenko, Ukraine and the Empire of Capital: from Marketisation to Armed Conflict (London: Pluto, 2018), 203.  Vgl. Christoph Scherrer, Neo-gramscianische Interpretationen internationaler Beziehungen: Eine Kritik, a.a.O., 160 – 174. wo der Autor auch eine kurze Skizze der Entwicklungsgeschichte des vermeintlichen ‚Forschungsprogrammsʻ entwirft; derselbe, Freihandel als hegemoniales Projekt?: Zur Geschichte der Aussenwirtschaftspolitik in den USA, Widerspruch 19:38 (1999), 5 – 17; und derselbe, Internationale Politische Ökonomie als Systemkritik, in: G. Hellmann, K.-D. Wolf & M. Zürn (Hg.), Die neuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland (Baden-Baden: Nomos, 2003), 465 – 494.Vgl. Scherrer, Internationale Politische Ökonomie als Systemkritik, a.a.O., 481  Stekeler-Weithofer, Kritik der reinen Theorie, a.a.O., 234.

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Phänomene berücksichtigen. Mit dieser Sensibilität für die allgemeinen Konturen des Gegenstandsbereichs bleibt es möglich zu beurteilen, ob und inwiefern besagte Konzepte in einem vorgesehenen und zulässigen Sinn zum Einsatz kommen, insofern sie ein gemeinsames Verstehen ermöglichen⁵⁶⁹. Eine rein abstrakte Kritik an vermeintlich unterbestimmten, deterministisch gehandhabten oder sogar unbotmäßigen Begriffsverwendungen wird dagegen willkürlich und doktrinär, wenn sie darauf verzichtet, eben jene Kriterien für eine interne Beurteilung zu entwickeln. Mit Blick auf eine internationale Hegemoniekonstellation wäre dann zu sagen, dass bereits die jahrzehntelange militärische Präsenz Großbritanniens im Nahen Osten, gekoppelt an die Bereitschaft der britischen Regierung, „[…] zum Schutz der britischen Öl-Investitionen im Persischen Golf sowie [… zur] Sicherung des Öl-Transports nach Europa […]“⁵⁷⁰ notfalls auch militärisch in legitime innenpolitische Maßnahmen der Anrainer-Staaten zu intervenieren⁵⁷¹ sowie mit den Regierungen der USA und/oder Frankreichs Putschversuche gegen missliebige arabische Regierungen zu unternehmen⁵⁷², von tiefgreifenden Konflikten zwischen den involvierten westlichen Regierungen begleitet war. Zudem hatte diese militärische Präsenz erheblich zur Verschärfung antiwestlicher Ressentiments in der Region beigetragen⁵⁷³. Und in dem Maß, wie zudem

 Nicht zuletzt hatte Scherrer in der Folge auch selbst diesen Weg eingeschlagen, vgl. derselbe, Hegemonietheoretische Zugänge zum Finanzwesen. Neogramscianismus und Poststrukturalismus, in: I. Dzudzek, C. Kunze & J. Wullweber (Hg.), Diskurs und Hegemonie: Gesellschaftskritische Perspektiven (Bielefeld: transcript, 2012), 173 – 201, besonders 190 – 196.  Helmut Mejcher, Die britische Erdölpolitik im Nahen Osten, 1914– 1956, Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte 59:3 (1972), 350 – 377, 374.  Vgl. zur Frage der völkerrechtlichen Legitimität, der Compagnie universelle du Canal maritime de Suez die Konzession zur Nutzung des Suez-Kanals zu kündigen, Roger Pinto, Die Suezkrise, German Yearbook of International Law 7:1 (1957), 1– 21, 4: „Die Befähigung der ägyptischen Regierung, die Konzession vor ihrem normalen Ablauf zu kündigen – im Rahmen ihrer Beziehungen mit der Compagnie und abgesehen von den internationalen Verpflichtungen Ägyptens im Hinblick auf die freie Benutzung des Kanals – kann heute keinem Zweifel unterliegen, wenn auch im Augenblick der Gründung der Compagnie die beteiligten Staaten sicherlich nicht ins Auge gefaßt hatten, daß der Konzessionsakt einseitig vor dem Fristablauf gekündigt werden könne.“  Vgl. Smith, Treibstoff der Macht, a.a.O., auf 188 – 205 zum erfolgreich durchgeführten Regierungswechsel im Iran anno 1953, und auf 283 – 298 zum erfolglosen Versuch des Regierungswechsels in Ägypten anno 1956.  Vgl. Rainer Hermann, Arabisches Leben: Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten (Stuttgart: Klett-Cotta, 2018), 30: „Im 19. Jahrhundert noch war Europa den Arabern Vorbild gewesen, im 20. Jahrhundert wurde es zum Feind. Als die Europäer in den Nahen Osten eindrangen, waren sie auf ein dichtes Geflecht von konfessionellen, tribalen und ethnischen Identitäten gestoßen, auf das sie nicht vorbereitet waren. Als sie die Region verließen, waren die Linien, die diese Identitäten trennen, noch schärfer, und sie traten klarer hervor. Zwei Interventionen haben den Nahen Osten im 20. Jahrhundert mehr verändert als alles andere: erst das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, dann 1953 der Sturz des liberalen iranischen Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh. Mossadegh hatte begonnen, Iran gegen den Willen von Schah Reza Mohammad Pahlevi auf den Pfad der Demokratie zu führen. Von Großbritannien forderte Mossadegh, die Einnahmen aus der Ölförderung im Land zu gleichen Teilen mit Iran zu teilen. Doch der britische Premierminister Winston Churchill bestand darauf, dass die Anglo-Iranian Oil Company, die

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noch die anhaltende militärische Unterstützung Israels durch die US-Regierung von vielen politischen Kräften im Nahen Osten als westlicher bzw. US-Imperialismus perzipiert wurde, was seinerseits den seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schwelenden Panarabismus in der Region immer wieder neu entfachte⁵⁷⁴, eskalierten Interessenkonflikte, die sich etwa über die israelische Siedlungspolitik oder auch den langjährigen Streit über die Wassernutzung des Jordan immer weiter ideologisch aufgeladen hatten. Mit anderen Worten verband zwar die im Kontext des Korea-Krieges von 1950 – 1953 zum Leben erweckte Organisation der NATO die führenden westeuropäischen Staaten zusammen mit den USA und Kanada in einem scheinbar stabilen transatlantischen Bündnis. Nicht zuletzt die gemeinsam beschworene, wenngleich jederzeit völlig übertriebene⁵⁷⁵, Bedrohung durch die Sowjetunion schien den verantwortlichen Regierungen ein hinreichender Anlass zu sein, um sich der geteilten politischen Interessen an einer transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft ‚liberal-demokratischer Staatenʻ bewusst zu werden. Dementsprechend, so könnte man schlussfolgern, war es auch nur logisch, dass die führenden Eliten der westlichen Staaten im Herbst 1954 nach den ersten Treffen der sogenannten Bilderberg-Gruppe eine gemeinsame Erklärung verlautbarten, in der sie die ‚Atlantische Einheitʻ zum politischen Programm erhoben⁵⁷⁶. Allerdings waren schon diese Verhandlungen alles andere als von einem gemeinsamen transatlantischen spirit geprägt; vielmehr verdeutlichten die Gespräche die Existenz eines tiefgreifenden Problems: „[…] the real problem was anti-Americanism, and especially the old anti-Americanism of European elites, with McCarthy constituting one of the hottest topics.“⁵⁷⁷ Hinsichtlich der vermeintlichen Hegemoniekonstellation innerhalb des atlantischen Bündnisses aber noch viel entscheidender: die politischen Kräfte der westlichen Staaten waren sich spätestens anlässlich der Suezkrise weder über eine wie auch immer geartete Führungsrolle ‚derʻ USA noch über die Vision einer ‚liberalen Weltordnungʻ,

spätere BP, weiter nahezu ohne Gegenleistung über das gesamte in Iran geförderte Erdöl verfügen sollte. Der amerikanische Präsident Harry S. Truman lehnte zunächst eine britische Bitte ab, Mossadegh gemeinsam zu stürzen. Als ihm 1953 Dwight D. Eisenhower folgte, war der dazu bereit und beauftragte die CIA damit. Die ‚Operation Ajaxʻ stürzte Mossadegh. Washington und London setzten den zuvor geflohenen Schah Reza Mohammad Pahlevi als Marionette wieder ein, der von nun an mit eiserner Hand regierte.“ Vgl. dazu auch Beat Zimmermann, Sir Anthony Eden und die Suezkrise: Im Spannungsfeld britisch-amerikanischer Beziehungen, Schweizer Monatshefte 76:11 (1996), 10 – 12, 12.  Vgl. John Tirman, Spoils of War: The Human Cost of Americaʼs Arms Trade (New York: Free Press, 1997), 6.  Vgl. Thomas D. Lairson, Revising Postrevisionism: Credibility and Hegemony in the Early Cold War, in: A. Hunter (Hg.), Rethinking the Cold War (Philadelphia: Temple University Press, 1998), 84: „At all points in the Cold War the Soviets were inferior to the United States, and the difference is even more pronounced when we add in the various allies.“  Vgl. Kees van der Pijl, The Making of an Atlantic Ruling Class (London: Verso, 2014), 184.  Valerie Aubourg, Organizing Atlanticism: The Bilderberg Group and the Atlantic Institute, 1952– 1963, Intelligence and National Security 18:2 (2003), 92– 105, 95.

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noch über ihre jeweiligen Rollen zueinander einig⁵⁷⁸. Sogar der nuklearstrategische Führungsanspruch der USA innerhalb der NATO war spätestens mit dem Amtsantritt de Gaulles anno 1958 nachhaltig infrage gestellt⁵⁷⁹ und erfuhr mit dem Austritt Frankreichs aus der militärischen integrierten Kommandostruktur der NATO anno 1966 nicht seinen ersten, sondern nur mutmaßlich größten Dämpfer⁵⁸⁰. Und weit entfernt von einer gemeinsamen Verortung in einem integrativ wirkenden liberal world market, perzipierten sich auch die Eliten der anderen westlichen Staaten gegenseitig eher als Bedrohungen ihrer imperialistischen Interessen: „Rivalry in the periphery was indeed recognized as a major cause for the discord between the North Atlantic allies. […] In the report of the Three Wise Men […], submitted to the North Atlantic Council in December of [… 1956], imperialist rivalries were considered a more acute danger than socialism.“⁵⁸¹ Parallel zur Entfremdung gegenüber den westeuropäischen Verbündeten, die sich auch aufgrund des ‚neuen Bilateralismusʻ gegenüber der Sowjetunion ab 1962 vertiefte, betrieb die US-Regierung mit dem Amtsantritt Kennedys den Aufbau einer ‚partnerschaftlichenʻ Beziehung zu Israel, die sich auf eine Intensivierung der wirtschaftlichen und vor allem auch der militärischen Unterstützung konzentrierte, und die während der Johnson Administration die Form einer sogenannten patron-client relationship annahm. „The new patron-client relationship was characterized by major U.S. arms supplies and an informal U.S. commitment to come to Israelʼs aid in case of an external attack, and by Israeli deference and self-restraint.“⁵⁸² Verantwortlich für diesen Schritt war jedoch nicht lediglich eine positivere Wahrnehmung Israels durch die Verantwortlichen im USestablishment. Entscheidend war die zunehmende Verschlechterung der Beziehungen

 Vgl. Ralph Dietl, Suez 1956: A European Intervention?, Journal of Contemporary History 43:2 (2008), 259 – 278, 277: „The year 1956 witnessed a struggle about world order. It witnessed a clash of two world visions: bipolarity versus multi-polarity. It witnessed a contest between nuclear non-proliferation and nuclear proficiency. In other words, the year 1956 is characterized by a European upheaval, set against the US reconstruction of Europe, the hierarchical security architecture of the West, and the bipolar order of the Cold War. The hierarchical security architecture of the West instituted between 1949 and 1955 seemed incompatible with European ambitions. The more self-assertive Europe of the mid-1950s aimed at rebalancing the Atlantic Alliance – either towards an Atlantic community or towards a dumb-bell structure. Neither of these European visions was compatible with Eisenhowerʼs grand strategy to establish a European subsystem that could serve as a platform for an all-European security architecture guaranteed by the superpowers. The US concept entailed a perpetuation of the unequal division of tasks within the Alliance. It implied a transformation of ‚Europeʻ into a US nuclear protectorate.“  Vgl. Richard Crockatt, The Fifty Years War: The United States and the Soviet Union in World Politics, 1941 – 1991 (London: Routledge, 1995), 181: „France […] never recovered trust in the United States and moved quickly towards an independent position within the Western alliance, speeding up the development of its own nuclear weapons and opting eventually for a partial withdrawal from NATO.“  Vgl. Christian Nuenlist, Dealing with the Devil: NATO and Gaullist France, 1958 – 66, Journal of Transatlantic Studies 9:3 (2011), 220 – 231, der die ausgeprägten Spannungen zwischen den Regierungen der USA und Frankreichs ab 1958 rekonstruiert.  Van der Pijl, The Making of an Atlantic Ruling Class, a.a.o., 185.  Yaacov Bar-Siman-Tov, The United States and Israel since 1948: A ‚Special Relationshipʻ?, Diplomatic History 22:2 (1998), 231– 262, 239.

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zwischen den USA und den Regierungen Ägyptens, Syriens und des Irak aufgrund ständiger Einmischungen der USA in die inneren Angelegenheiten der arabischen Staaten⁵⁸³ sowie aufgrund der anhaltenden Aufrüstung von ‚strategischenʻ Partnern in den diktatorischen Vasallenregimen Saudi-Arabiens und Jordaniens durch die USA⁵⁸⁴. In der Konsequenz bewirkte der konfliktgeladene Ölimperialismus der USA, Großbritanniens und Frankreichs im Nahen Osten nicht lediglich eine Distanzierung der arabischen Staaten vom ‚Westenʻ und einen markanten Prestigegewinn der Sowjetunion in der Region⁵⁸⁵. Die sogenannte ‚Eisenhower-Doktrinʻ von 1957, auch gemeint als Strategie der US-Regierung zur Übernahme der Rolle als ‚Ordnungsmachtʻ nach dem Rückzug Großbritanniens und Frankreichs aus der Region, stieß auf erbitterte Feindschaft unter dem rasch anwachsenden Klientel einflussreicher arabischer Nationalisten. Das wiederum bedeutet, dass die Versuche der Kooptierung arabischer Eliten durch die US-amerikanischen Elitenetzwerke, dass die Durchführung einer flächendeckenden ‚passiven Revolutionʻ⁵⁸⁶ im Kampf um die regionale Hegemonie, dass die Verbreitung von Überzeugungen im nahöstlichen Raum zugunsten einer im westlichen Sinn ‚fortschrittlichenʻ Entwicklung im Zuge der kommerziellen Nutzung der nahöstlichen Ölreserven durch die großen US-amerikanischen, britischen und französischen Energieunternehmen, abgesehen von den Diktaturen in Saudi-Arabien, Jordanien und dem Iran, weitgehend erfolglos blieben. Es wirkt daher alles andere als überraschend, dass die arabischen Staaten einerseits aufgrund innerarabischer Rivalitäten und andererseits aufgrund anti-israelischer bzw. anti-westlicher Dispositionen massive Aufrüstung betrieben, und dass die Spannungen in der Region aufgrund des Fehlens einer ‚Ordnungsmachtʻ immer weiter eskalierten: „[…] anti-israelische Maßnahmen und die sich verstärkende Israel-feindliche Propaganda und Kriegsrhetorik vonseiten höchstrangiger arabischer Regierungsvertreter

 Vgl. Luiz Alberto Moniz Bandeira, The World Disorder: US Hegemony, Proxy Wars, Terrorism and Humanitarian Catastrophes (Cham: Springer, 2019), 114: „[T]he CIA had been meddling in Syrian affairs since March 1949 […]. Two CIA agents, Miles Copeland and Stephen Meade, advised and certainly bribed Colonel Husni al-Zaʼim […], Chief of Staff of the Army, who overthrew the democratically elected President Shukri al-Quwatli because he had hesitated in approving the construction of the Trans-Arabian-Pipeline (Tapline) connecting the oil fields of Saudi-Arabia to the ports of Lebanon, which the United States wanted to build through Syria.“ Vgl. Crockatt, The Fifty Years War, a.a.O., 178 – 179: „[T]he Iranian crisis [of 1953] illustrated the dynamics of American relations with Third World countries which would be repeated later: American resistance to efforts by Third World nationalists to seize full control of their own resources; the difficulty of finding ‚acceptableʻ nationalist leaders who could chart a third way between communism and right-wing dictatorship; the pursuit by the United States of policies which would tend to polarize internal politics and render a third way more difficult to achieve; and the ultimate decision to back political forces whose chief attraction was the negative one of anti-communism.“  Vgl. Bar-Siman-Tov, The United States and Israel since 1948, a.a.O., 238 – 239.  Vgl. Crockatt, The Fifty Years War, a.a.O., 182.  Vgl. zur Illustration des Konzepts im Kontext der internationalen politischen Ökonomie (unter besonderer Berücksichtigung des Phänomens der ‚ungleichen und kombinierten Entwicklungʻ), Chris Hesketh, Passive Revolution: A Universal Concept with Geographical Seats, Review of International Studies 43:3 (2017), 389 – 408.

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veranlassten das israelische Kabinett Ende Mai 1967 zu einer Mobilmachung der Streitkräfte. Nasser forderte in einem weiteren Eskalationsschritt die arabischen ‚Bruderstaatenʻ dazu auf, Armeeeinheiten an die Grenze zu Israel zu verlegen und schloss am 30. Mai sowie 4. Juni nach dem Vorbild Syriens militärische ‚Verteidigungspakteʻ mit Jordanien und dem Irak.“⁵⁸⁷ Weil auf den anschließenden israelischen Präventivschlag gegen die arabischen Allianzstaaten nur sechs Jahre später mit dem Jom-Kippur-Krieg eine weitere militärische Eskalation folgte, „[…] beschloss die Organisation der arabischen ölfördernden Länder (OAPEC) ein Embargo, das vor allem die als israelfreundlich wahrgenommenen USA und die Niederlande treffen sollte […, während] die umfassendere OPEC den sogenannten posted price des Öls sukzessive [erhöhte], bis sich der Ölpreis im Januar 1974 auf dem vierfachen Stand des Ölpreises vor der Ölkrise stabilisierte.“⁵⁸⁸ Angesichts der Komplexität und Widersprüchlichkeit in der langen Geschichte des von den ‚sieben Schwesternʻ⁵⁸⁹ forcierten westlichen Ölimperialismus, der in diesem Zusammenhang von den großen amerikanischen Rüstungskonzernen aus reinen Profitinteressen forcierten Militarisierung des Nahen Ostens⁵⁹⁰, der ideologischen Aufladung von Freund-Feind-Wahrnehmungen besonders zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten, der davon immer wieder beeinflussten Exportpolitik der schlussendlich im OPEC-Kartell organisierten Ölförderstaaten, den dadurch bewirkten energie- und finanzpolitischen Konsequenzen für die westlichen Industriestaaten zwischen 1945 und 1970 sowie der zunehmenden Politisierung und Finanzialisierung des Erdöls bzw. ‚wertʻvoller (Energie‐)Ressourcen insgesamt⁵⁹¹ von einer ‚internationalen Ordnungʻ zu sprechen, die obendrein vermittelt durch das Bretton Woods-Regime in einer imaginären US-Hegemonie begründet gewesen wäre, wirkt selbst unter Vernachlässigung der

 Smith, Treibstoff der Macht, a.a.O., 299.  Henning Türk, Zwischen Versorgungssicherheit und Markttransparenz: Die institutionalisierte Zusammenarbeit der westlichen Industrieländer mit den multinationalen Ölfirmen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Chr. Henrich-Franke, C. Hiepel, G. Thiemeyer & H. Türk (Hg.) Grenzüberschreitende institutionalisierte Zusammenarbeit von der Antike bis zur Gegenwart (Baden-Baden: Nomos, 2019), 327– 351, 336.  Vgl. Smith, Treibstoff der Macht, a.a.O., 170: „Zu den Sieben Schwestern zählten Standard Oil of New Jersey, [Standard Oil of New York, alias] SOCONY, [Standard Oil Company of California, alias] SOCAL, Royal Dutch Shell, BP, Gulf Oil und TEXACO. Als Urheber der Bezeichnung gilt Enrico Mattei, der bis 1962 der staatlichen italienischen Erdölgesellschaft vorgestanden war. Die sieben mächtigen Konzerne verhielten sich laut Mattei wie Schwestern, die sich einerseits zankten, in Konkurrenz zueinander standen und aufeinander eifersüchtig waren, andererseits jedoch, in Situationen kollektiver Bedrängnis, sich verbündeten und vereint auftraten.“  Vgl. Tirman, Spoils of War, a.a.O., 282.  Vgl. Mazen Labban, Space, Oil and Capital (London: Routledge, 2008), 6 – 7; vgl. Antonio Tricarico & Heike Löschmann, Finanzialisierung – Ein Hebel zur Einhegung der Commons, in: S. Helfrich & HeinrichBöll-Stiftung (Hg.), Commons: Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2. Auflage (Bielefeld: Transcript, 2014), 184– 195, 189 – 190.

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omnipräsenten Atomkriegsgefahr zwischen dem wie auch immer organisierten ‚Westenʻ und der damaligen Sowjetunion völlig aus der Luft gegriffen⁵⁹². Alles, was sich in punkto Hegemonie bis ca. 1970 mit einem gewissen Anspruch auf Plausibilität behaupten lässt, läuft darauf hinaus, dass treibende Kräfte in den angloamerikanischen und transatlantischen Elitenetzwerken seit dem Ersten Weltkrieg zwar unablässig versucht haben, grundlegende Sichtweisen, Theorien und Deutungsmuster zu popularisieren, gemäß denen die öffentlich wahrnehmbaren politischen Praktiken der westlichen Regierungen nicht als ultraimperialistische Reflexe in einem widersprüchlichen Verdrängungswettbewerb, sondern als legitime Strategien zur Herstellung von ‚Ordnungʻ verstanden werden konnten. Gleichwohl blieb die damit verbundene Verengung von Räumen des Denk- und Sagbaren jederzeit genauso umkämpft, wie der Zugang zu den globalen Energieressourcen sowie alle damit verbundenen Möglichkeiten der Kapitalakkumulation. Die Rede von einer wie auch immer gearteten US-amerikanischen Hegemonie während der Phase des Bretton-Woods Systems bagatellisiert nicht nur die Schärfe und Häufigkeit innerwestlicher Spannungen; die unplausible Rede von einer imaginären US-Hegemonie verwischt jeden Zusammenhang zwischen dem skrupellosen westlichen Ölimperialismus und den zahlreichen Kriegen an der Peripherie. Vor dem Hintergrund anhaltender Kämpfe zwischen den westlichen Regierungen um ungehinderten Zugang zu den globalen Öl- und Gasressourcen sowie ihre profitable Verwertung machte folglich auch die Rede von einem durch das Ende des Bretton Woods Systems eingeläuteten ‚hegemonialen Abstiegʻ der USA als Staat und Volkswirtschaft bzw. einem dadurch bedingten Übergang zu einem interdependenten und in internationalen Institutionen verfassten Staatensystem keinen Sinn⁵⁹³: die vermeintliche Aufrechterhaltung von internationaler‚Kooperationʻ seit den 1980er Jahren entsprach nicht einer ‚rationalenʻ Einsicht auf Seiten westlicher Regierungen in die Notwendigkeit einer institutionellen Stabilisierung der ‚liberalen internationalen Ordnungʻ; auch ‚Bündnistreueʻ und ‚Folgebereitschaftʻ innerhalb des US-amerikanischen dominiums waren zu keinem Zeitpunkt Resultate einer breiten Anerkennung des US-amerikanischen Anspruchs „[…] that the expansion of its power relative to some or even all other states is in the general interest of the subjects of all states.“⁵⁹⁴ ‚Disziplinʻ gründete sich im US-amerikanischen dominium mit seinen bestenfalls semisouveränen Mitgliedstaaten nicht einmal zwischen den Verbündeten auf ‚Freiwilligkeitʻ und ‚Konsensʻ, sondern war zu jedem Zeitpunkt (mit)bedingt durch das domi-

 Vgl. in diesem Sinn auch John W. Dower, The Violent American Century: War and Terror since World War II (Chicago: Haymarket, 2017), ix: „Despite a great deal of Pax Americana rhetoric over the course of the postwar decades, the United States never exercised anything close to global hegemony.“  Vgl. dazu Peter Gowan, The Global Gamble: Washingtonʼs Faustian Bid for Global Dominance (London: Verso, 1999), 19: „[T]he reality was very different. The Nixon administration was determined to break out of a set of institutionalised arrangements which limited US dominance in international monetary politics in order to establish a new regime which would give it monocratic power over international monetary affairs.“  Arrighi, The Three Hegemonies of Historical Capitalism, a.a.O., 368.

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nante Gebaren eines militarized empire ⁵⁹⁵, das zur Sicherung seines Energiebedarfs wie selbstverständlich auf jedes geeignete Mittel zurückgriff, um Fügsamkeit bei den ‚Verbündetenʻ zu erreichen: Instrumentalisierung geheimdienstlicher Erkenntnisse über Friedensbedrohungen⁵⁹⁶; geheimdienstliche Ausspähung von Personen sowie Wirtschaftsunternehmen ‚verbündeterʻ Staaten unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung⁵⁹⁷; Dämonisierung von ‚Feindstaatenʻ bis hin zur Vorlage von fabricated evidence zur Rechtfertigung von Kriegen und Militärschlägen⁵⁹⁸; Kooptierung von Intellektuellen, Meinungsbildnern (Journalist/innen), Lehrer/innen sowie Influencer/innen im Rahmen von Public bzw. Digital Diplomacy-Mechanismen⁵⁹⁹; Drohungen sowie Erpressungen auf Regierungsebene⁶⁰⁰ und auf Ebene der NATO sowie über die weltweite Präsenz in vielen hunderten Militäreinrichtungen⁶⁰¹; oder auch der gezielte Einsatz von auswärtigen covert operations ⁶⁰² bis hin zur Orchestrierung ‚anti-kommunistischerʻ Guerillaaktivitäten⁶⁰³, inklusive rechtsradikaler terroristischer Gewalt⁶⁰⁴. Viel angemessener als alle Narrative über die ‚liberale internationale Ordnungʻ wirken zumal solche Beschreibungen der internationalen Beziehungen, die politische Entscheidungen der jeweiligen US-Regierungen in einer engen Verbindung mit „[…] the interests of financial capital concentrated in Wall Street, entangled with the interests of the oil and gas corporations and the war industry and its production chain […]“⁶⁰⁵ sehen. Die daraus resultierenden Kontrollambitionen der von den US-amerikanischen dominierten transatlantischen Elitenetzwerke gegenüber den weltweiten Energieressourcen

 Vgl. Chalmers Johnson, The Sorrows of Empire: Militarism, Secrecy, and the End of the Republic (New York: Metropolitan, 2004), 5.  Vgl. Volker Foertsch & Susanne Meinl, Desinformation durch Geheimdienste: eine untaugliche Waffe des Kalten Krieges wiederbelebt?, Zeitschrift für Aussen- und Sicherheitspolitik 9:4 (2016), 489 – 501, 492– 493.  Vgl. Ulrich Blum,Wirtschaftskrieg: Rivalität ökonomisch zu Ende denken (Wiesbaden: Springer, 2020), 851.  Vgl. Johnson, The Sorrows of Empire, a.a.O., 11.  Vgl. Joseph S. Nye, Jr. Public Diplomacy and Soft Power, Annals of the American Academy of Political and Social Science 616:1 (2008), 94– 109, 101– 102, der diesbezüglich die drei Dimensionen der daily communication, der strategic communication und des development of lasting relationships with key individuals unterscheidet. Vgl. auch Falk Hartig, Public Diplomacy: Internationale PR für Staaten – eine Annäherung (Wiesbaden: Springer, 2019), 11– 12.  Vgl. Fritz W. Meyer, Illusionäre Politik der Entwicklungshilfe, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 10:3 (1961), 7– 26, 10 – 11..  Vgl. Bandeira, The World Disorder, a.a.O., 340.  Vgl. Johnson, The Sorrows of Empire, a.a.O., 129 – 130.  Vgl. Tirman, Spoils of War, a.a.O., 86.  Vgl. Olav Riste, ‚Stay Behindʻ: A Clandestine Cold War Phenomenon, Journal of Cold War Studies 16:4 (2014), 35 – 59, 36 – 37: „The first official acknowledgment that a Stay Behind network of paramilitary and intelligence organizations had existed in Western Europe during the Cold War came in August 1990 when Italian Prime Minister Giulio Andreotti revealed the program during a parliamentary debate on terrorism in Italy, causing a media sensation.“ Vgl. auch Franco Ferraresi, Threats to Democracy: The Radical Right in Italy after the War (Princeton: Princeton University Press, 1996), 77.  Bandeira, The World Disorder, a.a.O., 335.

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fußten seit je her auf dem Streben nach US primacy, artikulierten sich schon nach dem Ende des Bretton Woods-Systems in einer autoritären Manier⁶⁰⁶ und nahmen sukzessive einen neokonservativen Charakter⁶⁰⁷ an, der sich schließlich nach dem Ende des OstWest Konflikts in Maßnahmen der militärischen Disziplinierung manifestierte: „[T]he period between the two Iraq wars – from January 16, 1991 […] to March 19, 2003 […] saw a vast expansion of our empire of military bases in the Persian Gulf region. […] It was reasoned [in 1999] that a new war would eliminate once and for all the influence of Saddam Hussein, gain control of his oil, and extend our influence into the vacuum created in the oil-rich lands of southern Eurasia by the demise of the Soviet Union.“⁶⁰⁸ Dieser neokonservative US-Imperialismus hat sich von den eher traditionellen Formen des Imperialismus nicht dadurch unterschieden, dass er bei der Interessendurchsetzung nur mehr Druck auf Regierungen ausübte und sich unter pragmatischer Missachtung des Souveränitätsprinzips ganz erheblich in die inneren Angelegenheiten der Staaten einmischte; er hat sich getreu entsprechender Verlautbarungen in den ersten Entwürfen zur sogenannten Defense Planning Guidance anno 1992 durch einen unilateralen Führungsanspruch und die Option der militärischen Gewaltanwendung zum Schutz US-amerikanischer (Öl- bzw. Energie‐)Interessen ausgezeichnet (‚WolfowitzDoktrinʻ); und zwar sowohl präventiv als auch unter Rückgriff auf alle geeigneten Methoden der Kriegführung⁶⁰⁹, inklusive solcher mit nuklearen Waffen, selbst gegen Nichtnuklearwaffenstaaten. Und in dieser Hinsicht hat er sich durch einen in dieser Form noch nie dagewesenen Globalanspruch definiert: „US foreign policy since the end of the Soviet Union, guided by the interests of large banking, oil, and military corporations, engaged more and more in the international deployment of full-spectrum dominance and full-spectrum superiority on land, sea, and air. Its strategic objective consisted in creating a unitary economic space, under the pretext of promoting democracy in the most diverse countries, thus spreading Americaʼs total superiority through the international dictatorship of financial capital.“⁶¹⁰ Es wirkt vor diesem Hintergrund auch nicht mehr widersprüchlich, dass alle Versuche eigenständiger Entwicklungsprojekte in Europa, im Nahen Osten, in Asien, in Afrika, oder in Lateinamerika von US-amerikanischen Regierungsnetzwerken unter dem Vorwand der‚Demokratieförderungʻ und zum Schutz der (ökonomischen) ‚Freiheit/ enʻ kontrolliert worden sind. Im great game des neuen US-Imperialismus ging es von  Vgl. Michael Cox, Empire, Imperialism and the Bush Doctrine, Review of International Studies 30:4 (2004), 585 – 608, 591.  Naná de Graaff & Bastiaan van Apeldoorn, Varieties of US Post-Cold War Imperialism: Anatomy of a Failed Hegemonic Project and the Future of US Geopolitics, Critical Sociology 37:4 (2010), 403 – 427, 409 – 410: „It is the overriding concern with order, and the willingness to back up that order through coercion, both domestically and internationally, that distinguishes the neoconservative project from the neoliberal project.“  Johnson, The Sorrows of Empire, a.a.O., 226.  Vgl. Luiz Alberto Moniz Bandeira, Der zweite Kalte Krieg: Zur Geopolitik und strategischen Dimension der USA (Wiesbaden: Springer VS, 2016), 36 – 37.  Bandeira, The World Disorder, a.a.O., 338 – 339. (Alle Hbgen. hinzugefügt)

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Anfang an um nichts weniger als die Durchsetzung globaler Vorherrschaft, was auch den gestiegenen Einsatz extremer Maßnahmen US-amerikanischer und/oder transatlantischer Kreise erklärt, wenn diese geeignet waren, die Herstellung eines unitary economic space zugunsten des US-amerikanischen Finanzkapitals zu ermöglichen⁶¹¹. Unter dieser Interpretation erscheint es rückblickend völlig unwirklich, dass inhaltsleere Phrasen populär werden konnten, gemäß denen sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem vermeintlichen Untergang des Sowjetkommunismus das ‚Ende der Geschichteʻ großer ideologischer Auseinandersetzungen ankündigte, eine Art ‚Siegeszugʻ der westlichen liberaldemokratischen Friedensordnung aus dem transatlantischen Raum in andere Teile der Welt begonnen hätte⁶¹². Das einzige, was sich entsprechend dem kategorialen Anschauungssystem kritischen Denkens nach dem Ost-West-Konflikt tatsächlich weiterhin ungehindert aus dem transatlantischen Raum verbreitet hat, war die von den Protagonist/innen des USamerikanischen military empire im Zuge der neoliberalen Kapitalakkumulation forcierte Destabilisierung des internationalen Systems durch Wirtschaftskriege, Regimewechsel, Militärschläge, Besatzungen sowie die Förderung immer neuer und bedrohlicher Konfliktformationen.

Kapitalistische Struktur/en als Reproduktionsmechanismen der globalen Krise Auch und gerade über die Zukunft Europas entbrannte zwischen 1989 und 1991 ein knallharter Richtungsstreit, den die imperialistischen und marktradikalen Kräfte aus dem Dunstkreis der US-amerikanischen Elitenetzwerke unter Einsatz bewährter Strategien schnell und eindeutig für sich entschieden. Wenn Interpret/innen dazu unter Rückgriff auf den vermeintlichen ‚Ansatz des Neogramscianismusʻ lapidar feststellten, dass im Laufe der 1980er Jahre „[i]mmer mehr europäische Länder […] die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik auf[gaben] und […] auf einen monetaristisch-neoliberalen Kurs [umschwenkten]“⁶¹³, oder dass „[…] sich die Mehrzahl der Regierungen der übrigen kapitalistischen Hauptländer [dem neuen Trend der Liberalisierung des Kapitalver-

 Vgl. Kees van der Pijl, A Transnational Class Analysis of the Current Crisis, in: B. Jessop & H. Overbeek (Hg.), Transnational Capital and Class Fractions: The Amsterdam School Perspective Reconsidered (Milton: Routledge, 2019), 241– 262, 256 – 257: „As money-dealing capital can no longer offer any compromises to the population at large, it replaces material rewards and side payments with a political aesthetics, arousing fear over terrorism, fostering xenophobia, and demonizing selected foreign leaders – turning oligarchic rule into straightforward authoritarianism.“  Vgl. dazu auch John Gray, False Dawn: The Delusions of Global Capitalism (London: Granta, 1998), 120 – 121: „To think that history would end because a conflict between ephemeral Enlightenment ideologies had come to a close exhibits a parochialism that is hard to credit. It is a telling mark of the condition of intellectual and political life towards the end of the century that such absurd speculations could ever have seemed credible.“  Anja Baisch, Soziale Kämpfe in der EU: Neogramscianismus und Kritik der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik (Köln: Papyrossa, 2009), 31.

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kehrs] nicht entziehen wollte oder die Risiken von Alleingängen (z. B. im Fall von Frankreich 1982 nach dem Regierungswechsel) scheute“⁶¹⁴, dann wird hier der gleiche Kategorienfehler wie im IB-Mainstream begangen, insofern ‚Staatenʻ nicht als ‚internationalisierte Gebildeʻ⁶¹⁵ sondern als souverän und selbständig handelnde Einheiten gedacht werden. Bei dieser Lesart bleiben überdies die aus einer kritischen Haltung wichtigsten Aspekte der historischen Entwicklung völlig unberücksichtigt. Denn es gab bis Anfang der 1990er Jahre ernsthafte Versuche von europäischen Regierungen, bei der Arbeit an der Herstellung des europäischen Binnenmarkts am keynesianischen Akkumulationsmodell des Industriekapitalismus festzuhalten und dabei auch die Institution des Wohlfahrtsstaates so gut wie möglich zu schützen⁶¹⁶. Nur wurden diese Anstrengungen durch die zwischen den westlichen ‚Verbündetenʻ üblichen Maßnahmen des Wirtschaftskrieges konterkariert⁶¹⁷. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bestand unter den anglo-amerikanischen Eliten schließlich die Sorge, eine zu eigenständige Entwicklung der Europäischen Union, zumal unter dem gestiegenen Einfluss des wiedervereinigten Deutschlands, könnte sich mittelfristig nachteilig für den von den US-Eliten avisierten unitary economic space auswirken: „American policymakers feared that left-leaning political forces could in the future win elections in key European states – forces that wanted to shield European producers from American and Japanese economic competition. In this case, the United States could be driven ‚out of the market,ʻ as Secretary of State James Baker had argued already in an early 1989 consultation with Canadian leaders.“⁶¹⁸ Insbesondere die zu Woontaek Lim, Zur Transformation der industriellen Beziehungen in den europäischen WohIfahrtsstaaten: Von der sozialgerechten Produktivitätspolitik zur wettbewerbsorientierten Ungleichheit, Studien der Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaften (FEG) Nr. 19 (Marburg, 2003), 160.  Vgl. Cox, Social Forces, a.a.O., 144– 146. Vgl. Joachim Hirsch, Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen (Hamburg: VSA, 2002), 137: „Institutionell drückt sich dies in Verschiebungen in der Konfiguration der Staatsapparate und in ihrem Verhältnis zueinander aus. Diese äußern sich nicht zuletzt im wachsenden Gewicht der Finanzministerien und der gegenüber demokratischen politischen Entscheidungsprozessen weitgehend autonomisierten Zentralbanken, die beide eine besonders enge Verbindung mit den Interessen des internationalen (Finanz‐) Kapitals aufweisen […].“  Vgl. Kees van der Pijl, From Gorbachev to Kosovo: Atlantic Rivalries and the Re-Incorporation of Eastern Europe, Review of International Political Economy 8:2 (2001), 275 – 310, 286: „West Germany along with France and Italy seemed well on the way to lead the European Community to a durable reorientation towards a ‚Euro-globalʻ relative autonomy from the Atlantic mainstream, in combination with a Europeanization of Eastern Europe (which for West Germany held the vital promise of reunification with its eastern counterpart). The Lafontaine/Delors/Späth concept was potentially available to provide political cohesion to this development, almost irrespective of electoral outcomes.“  Vgl. Gowan, The Global Gamble, a.a.O., 45: „The French socialist government attempted this in the early 1980s. This effort was frustrated not least because of the Reagan administrationʼs economic statecraft. It used the high dollar and high interest rates as a weapon against the French project. The failure of the French project led the Mitterand government to accept the scrapping of controls on international financial movements as part of a wider strategy (the single market and the achievement of monetary union).“  Liviu Horovitz & Elias Götz, The Overlooked Importance of Economics: Why the Bush Administration Wanted NATO Enlargement, Journal of Strategic Studies 43:6 – 7 (2020), 847– 868, 852– 853.

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künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland bereiteten den US-Eliten erneut Kopfzerbrechen. Denn zu befürchten stand, dass eine deutsch-russische Partnerschaft einen eigenständigen Einflussbereich konstituieren würde, der den geplanten Zugriff der US-amerikanischen und transatlantischen Netzwerke auf die geo- und energiepolitisch wichtige Region Eurasiens und damit die Ausübung von world leadership durch die US-Regierung erschweren könnte⁶¹⁹. Aus diesem Grund entschieden sich die US-Regierungsnetzwerke für die Verfolgung von mehreren eng miteinander verbundenen Strategieansätzen: erstens, eine fortdauernde Präsenz der USA in Europa als primus inter pares auf Ebene der NATO⁶²⁰; zweitens, eine Verhinderung der deutsch-russischen Partnerschaft durch eine räumliche Trennung über die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Instrumentalisierung der Länder Mittelosteuropas, d. h. vor allem Polens und der baltischen Staaten⁶²¹; drittens, eine Anbindung der politökonomischen Eliten in der Ukraine an die US-amerikanischen bzw. transatlantischen Netzwerke⁶²²; und viertens, eine Öffnung und neoliberale Transformation der Ökonomie Russlands nach der erfolgreichen Zerschlagung der Sowjetunion: „US covert intervention nudged the process along, from initial Heritage and Free Congress Foundation activity in the USSR, to actual CIA and National Security Agency action when the Yanayev coup attempt threatened to turn back the clock. […] While Bush at this point held on to the concept of a unified USSR, US support for Yeltsin between August and December 1991, allowed the latter to mount a coup dʼetat of his own that broke up the Soviet Union.“⁶²³ Ganz ähnlich verfuhren die US-amerikanischen Regierungsnetzwerke in anderen Regionen der Welt: nach der Eliminierung des Irak als ‚souveränerʻ Staat ab 2003 richtete sich ihr Fokus auf den ebenfalls ölreichen Iran, dessen Regierung vorgehalten wurde, die ganze Region des Nahen Ostens mit dem Aufbau eines eigenen Atomwaffenprogramms zu destabilisieren⁶²⁴. Als Reaktion verfolgten die US-Behörden vor allem während der Trump-Präsidentschaft eine aggressive Strategie, indem sie Wirtschaftssanktionen gegen den Iran erließen, einen Regimewechsel forderten und „[…] allen europäischen Firmen, die weiter Geschäfte mit dem Iran treiben, mit dem Ausschluss vom US-Markt [drohten].“⁶²⁵ Gegenüber dem Erdölexporteur und OPEC-Gründungsmitglied Venezuela betrieben die US-amerikanischen und transatlantischen Elitenetzwerke seit 1999 zunächst eine Politik der Delegitimierung und Diskreditierung, nachdem sich die venezolanische Regierung um eine friedliche Lösung im kolumbianischen

 Vgl. Gowan, The Global Gamble, a.a.O., 301.  Vgl. Horovitz & Götz, The Overlooked Importance of Economics, a.a.O., 853.  Vgl. Gowan, The Global Gamble, a.a.O., 301.  Vgl. Bandeira, Der zweite Kalte Krieg, a.a.O., 79 – 80.  Van der Pijl, From Gorbachev to Kosovo, a.a.O., 288.  Vgl. dazu Bandeira, Der zweite Kalte Krieg, a.a.O., der auf 472– 473 erwähnt, dass die höchsten Religionsführer des Iran anno 2005 und 2012 in der Form entsprechender ’Weisungen’ (Fatwas) bekräftigten, dass der Iran keine Atomwaffen bauen wollte.  Vgl. Nils Ole Oermann, Wirtschaftskriege: Geschichte und Gegenwart (Freiburg: Herder, 2019), 166.

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Bürgerkrieg bemüht und in diesem Zusammenhang geweigert hatte, eine massive Aufstockung der amerikanischen Militärpräsenz im venezolanischen Hoheitsgebiet zu tolerieren⁶²⁶. Nach der Verstaatlichung aller ausländischen Ölunternehmen durch die venezolanische Regierung anno 2007 ging die US-Regierung zu einer kompromisslosen Sanktionspolitik über, die schließlich in die Unterstützung eines Putschversuches anno 2019 mündete, der zusammen mit den Regierungen Brasiliens und Boliviens vorbereitet worden war⁶²⁷. Libyen, das afrikanische Land mit den größten Ölvorkommen, geriet ins Visier der US-Administration, nachdem die libysche Regierung anno 2009 die kanadische Ölfirma Verenex verstaatlichte. Die im Jahr 2011 eskalierenden Proteste gegen die libysche Staatsführung wurden daraufhin vor allem in den USA als ein willkommener Anlass gesehen, um nach Verabschiedung der UN-Resolution 1973 und unter dem Vorwand des ‚Menschenrechtsschutzesʻ die Interessen am Zugang zu den Ölressourcen zu sichern⁶²⁸: „Die Operation Odyssey Dawn von Frankreich, Großbritannien und den USA startete unmittelbar nach Verabschiedung der UN-Resolution 1973. Eigentliches Ziel der hier tätigen ultraimperialistischen Kartellmächte war nicht der Schutz der Zivilbevölkerung, sondern der Regimewechsel in Libyen. Unmittelbar darauf wurde die Operation unter dem neuen Namen ‚Unified Protectoʻ an die NATO delegiert […].“⁶²⁹ Syrien, das Land, in dem die USA ihren energiepolitischen Interventionismus gewissermaßen begründete, befand sich seit 2003 schon wieder auf der Liste derjenigen Staaten, in denen die Bush Jr.-Regierung einen Regimewechsel plante. „And one of the reasons the fall of Bashar alAssadʼs regime was seen as crucial was the construction of the South Pars/North Dome pipeline through Syria.“⁶³⁰ Ein anderer Grund lag in der langjährigen Kooperation zwischen Syrien und Russland und konzentrierte sich auf die syrische Konzession an Russland, den Hafen in Tartus als Versorgungsstützpunkt für die russische Kriegsmarine zu nutzen. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund lassen sich die vielen Krisen, Konflikte und Kriege vernünftigerweise nicht als isolierte Einzelfälle verstehen, die aus lokalen Ur-

 Vgl. Ingo Niebel,Venezuela – not for sale! (Berlin: Homilius, 2006), 135: „Mit Blick auf Kolumbien hatte die Clinton-Administration das Schwert der ‚Aufstandsbekämpfungʻ aus dem Waffenschrank geholt, das unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung und als ‚Plan Colombiaʻ getarnt die Guerilla enthaupten sollte. Chávezʻ Vermittlungsbemühungen waren da überhaupt nicht gefragt und schon gar nicht, daß er das US-Militär in seiner Bewegungsfreiheit einengte.“  Vgl. Achim Wahl, Welt Trends 27:150 (2019), 44– 49, 44.  Vgl. Jürgen Wagner, Lybien-Krieg: Die Machtfrage ins Ausland verlagern, IMI-Informationsstelle Militarisierung 2 (2011), 3: „In den USA erschienen bereits unmittelbar nach Ausbruch des Aufstandes zahlreiche Artikel, die für ein bewaffnetes Eingreifen in der ein oder anderen Form plädierten. Prominent wahrgenommen wurde vor allem ein gemeinsamer Brief vom 25. Februar 2011, der von 40 US-Außenpolitikern unterzeichnet wurde, darunter zwölf, die in der Bush-Regierung teils hohe Posten innehatten. Er forderte Präsident Barack Obama auf, ‚sofortʻ militärische Maßnahmen zum Sturz des GaddafiRegimes vorzubereiten.“  Bandeira, Der zweite Kalte Krieg, a.a.O., 273.  Bandeira, The World Disorder, a.a.O., 117.

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sachenbündeln resultierten. Die rasche Abfolge und auch Gleichzeitigkeit der Krisen/ Kriege im Irak, in Georgien, in Syrien, in Libyen, in der Ukraine, im Iran, in Venezuela und weiteren Regionen der Welt suggeriert vielmehr, dass die unablässigen Aneignungsund Verteilungskonflikte zwischen den relevanten Akteursinstanzen im Akkumulationsprozess des transnationalen Kapitals gleichzeitig an verschiedenen Orten eskalier(t)en, und zwar umso stärker, je mehr sich die politischen Funktionseliten der westlichen Staaten dazu veranlasst sahen, bei der Unterstützung von Profitinteressen auf ultra-reaktionäre Maßnahmen zurückzugreifen. Das verbindende organische Element vieler Krisen besteht folglich darin, dass der seit dem Zweiten Weltkrieg von den einflussreichsten Zirkeln in den USA und anderen westlichen Staaten forcierte transnationale Kapitalverwertungsprozess im Sinne einer globalen enclosure, d. h. einer vollumfänglichen „[…] Privatisierung gemeinschaftlicher Ressourcen und des Bodens, öffentlicher Unternehmen und des öffentlichen Raums […]“⁶³¹ mit einer fortlaufenden Enteignung breiter Bevölkerungsmassen zum Zwecke der privaten Inwertsetzung natürlicher Ressourcen und existenzieller Lebensgrundlagen verbunden ist. Die Konsequenzen dieser dynamischen Kapitalakkumulation manifestieren sich in massenhafter Ausbeutung, Verarmung und Verelendung; in Protesten, Widerständen und Alternativprojekten privater und/oder staatlicher Natur; sowie in widersprüchlichen Versuchen ihrer Kontrolle von Seiten der einflussreichsten Elitenetzwerke durch die Anwendung unterschiedlicher Macht- und Steuerungstechniken⁶³², angefangen bei medial inszenierter Kriegspropaganda und diplomatischer Erpressung bis hin zu Maßnahmen der Wirtschaftskriegführung⁶³³ und schlussendlich dem Rekurs auf (para‐)militärische Gewalt⁶³⁴. Der Bereich der transnationalen Ökonomie ist personell, institutionell und strukturell mit demjenigen der nationalen und transnationalen Zivilgesellschaft/en und ihren Funktionsbereichen der (internationalen) Politik, des (inter- bzw. transnationalen)  Stephen Gill, Progressives politisches Handeln und die globale organische Krise, in: Opratko & Prausmüller, Gramsci Global, a.a.O., 265 – 283, 266.  Vgl. zur Konkurrenz zwischen westlichen Regierungsnetzwerken im Kontext solcher Steuerungsversuche, Bandeira, Der zweite Kalte Krieg, a.a.O., 94, der auf die widerstreitenden Strategien westlicher Regierungen zwischen 2004 und 2006 angesichts der forcierten Expansion der US-amerikanischen Präsenz in Zentralasien und dem Kaukasus verweist.  Vgl. Blum, Wirtschaftskrieg, a.a.O., 488, zum Versuch der USA „[…] Absatz für ihr Naturgas zu fnden und deshalb einen Ausbau des Pipelinesystems nach Europa – konkret Nord-Stream-II – zu verhindern. Dies geschieht auch mit extraterritorialen Erzwingungsmaßnahmen gegen deutsche Unternehmen, die zwar völkerrechtswidrig sind, denen aber Europa schutzlos ausgeliefert ist mangels Willen zur geostrategischen Positionierung und vor allem infolge fehlender Fähigkeiten, Zahlungsverkehre ohne die USA abzuwickeln: Wirtschaftliche Beziehungen zum Iran bedeuten Ausschluss vom US-Markt und massive Strafzahlungen – derartiges hat BNP Paribas im Jahr 2012 über 9 Mrd. US$ gekostet.“ Vgl. dazu auch den Kommentar von Hans-Jochen Luhmann, Nord Stream 2: Wirtschaftskrieg der USA?, Wirtschaftsdienst 100:8 (2020), 566,  Vgl. Daniel R. Kramer,Verdeckte paramilitärische Operationen im Schatten der US-Sicherheitspolitik, Zeitschrift für Aussen- und Sicherheitspolitik 4:3 (2011), 447– 465, 449 mit Verweis auf den Beginn paramilitärischer Einsätze durch US-amerikanische Streitkräfte anno 1947.

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Rechts und der (internationalen) Organisation/en verknüpft. In diesem komplexen Zusammenhang „[…] gibt [es] kein Zentrum und kein Bereich ist a priori den anderen gegenüber privilegiert.“⁶³⁵ Auch wenn die materiellen Ressourcen aus dem Bereich der Ökonomie bzw. des Kapitals in der Architektur kritischer Theorie immer noch die Rolle der sogenannten ‚Basisʻ einnehmen, scheidet jede weitergehende Annahme aus, die eine lineare Abhängigkeit zwischen materiellen Ressourcen und politischen Entscheidungen bzw. realweltlichen Ergebnissen unterstellt, da kritisches Denken keine kausale Erklärung anstrebt und deswegen auch keine konzeptuelle Trennung zwischen den einzelnen Funktionsbereichen braucht. Wenn also in den Einzelwissenschaften immer mehr völkerrechtliche, diplomatische, institutionelle, sektorale, temporale, geopolitische oder ökologische Krisenphänomene identifiziert werden, dann handelt es sich im kritischen Vorstellungsraum um Einzelaspekte einer vollumfänglichen Systemkrise, die im Prozess der immer weiter ausgreifenden und von den transnational vernetzten Eliten als alternativlos perzipierten Kapitalakkumulation ihren wichtigsten Impulsgeber besitzt.

Materielle Ressourcen und transnationale Zivilgesellschaft In diesem Zusammenhang wird selbst im Kontext kritischer IB-Theorie oft völlig unterschätzt, welche Zäsur die fortschreitende Technisierung des Kriegsgeräts, die militärische Nutzung der Kernenergie und das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Wettrüsten darstellte⁶³⁶. Durch die sprunghaft steigenden Ausgaben für die militärtechnologische Forschung und Entwicklung vergrößerte sich alleine auf Seiten der Rüstungsfirmen, ihrer Zulieferungsindustrien sowie ihren zahlreichen Investoren der Anreiz, unablässig Feindbilder zu kultivieren und Kriegsgefahren zu beschwören, um dauerhaft hohe Profite aus den steigenden staatlichen Investitionen in die ‚nationale Verteidigungʻ zu schlagen – wider jegliche vernünftige Einsicht in die Notwendigkeit von Abrüstung und Rüstungskontrolle im Atomzeitalter. Eine ähnliche Zäsur stellte die explosionsartige Steigerung des Energieumsatzes seit den 1950er Jahren dar. Nachdem sich die ökonomischen und Finanzeliten auf die Massenproduktion energieintensiver Rohmaterialien, die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Ausweitung motorisierter Individualmobilität sowie die Förderung grenzüberschreitender Handels- und Verkehrstätigkeiten verlegt hatten⁶³⁷, betrieben sie Desinformationskampagnen zum Schutz ihrer Profite und finanzierten ‚klimaskeptische Stimmenʻ von organischen In-

 Joscha Wullweber, Staat und Ökonomie als Diskursformationen, in: A. Hetzel (Hg.), Radikale Demokratie: Zum Staatsverständnis von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau (Baden-Baden: Nomos, 2017), 171– 192, 175.  Vgl. Henry Kissinger, Kernwaffen und auswärtige Politik, 2. Aufl. (München: Oldenbourg, 1974), 14– 15.  Vgl. Simon Pirani, Burning Up: A Global History of Fossil Fuel Consumption (London: Pluto, 2018), besonders 79 – 87.

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tellektuellen an Universitäten und Denkfabriken⁶³⁸ – wider jegliche vernünftige Einsicht in die Notwendigkeit des Schutzes der menschlichen Existenzgrundlagen. Nach dem Verständnis des historischen Materialismus haben sich die Forderungen sozialer Bewegungen nach Abrüstung und der Schaffung einer atomwaffenfreien Welt bzw. nach mehr ökonomischer Gerechtigkeit und wirksamer Maßnahmen zum Klimaschutz auf wichtige Aspekte der globalen Krise gerichtet, ohne sich jedoch konsequent genug auf den unmittelbaren Kern bzw. das Organische dieser Krise zu konzentrieren: die sich fortwährend reproduzierenden Praktiken und Institutionen eines transnational operierenden Kapitalverwertungsprozesses, vor allem seiner ungebremsten Ausbeutung der globalen Produktionsfaktoren und Akkumulationsbedingungen⁶³⁹. In dem Maß, wie sich im Zuge von Militarisierung, Industrialisierung und Globalisierung die Widersprüche in den Produktionsverhältnissen auf der Ebene der Gesellschaft/en und ihrer politischen Organisation reproduziert haben, d. h. in dem Maß, wie der von privilegierten euro-atlantischen Interessen forcierte ‚Neoimperialismusʻ⁶⁴⁰ gegenüber humanen und ökologischen Ressourcen organisierte Gegenreaktionen auf Seiten oppositioneller Kräfte innerhalb und jenseits staatlicher Räume provoziert hat, sind die auf politischer Ebene verfolgten Strategien zur militärischen Abschreckung und Eindämmung oppositioneller Kräfte nicht mehr als Widerspruch zu ökonomisch motivierten Interessen an einer Ausweitung staatenübergreifender Kooperation zu verstehen gewesen⁶⁴¹.

 Vgl. Jonas Rest, Grüner Kapitalismus? Klimawandel, globale Staatenkonkurrenz und die Verhinderung der Energiewende (Wiesbaden: VS, 2011), 112.  Vgl. in diesem Sinn Eve Croeser, Ecosocialism and Climate Justice. An Ecological Neo-Gramscian Analysis (London: Routledge, 2020), 192.  Cox, Social Forces, a.a.O., 144, schrieb zwar von einem ‚imperialen Systemʻ, aber mit Blick auf die von ihm betonte Besonderheit des Imperialismus als geschichtliche Konstellation wäre es wohl auch nicht falsch, den Begriff ‚Neoimperialismusʻ zu verwenden.Vgl. dazu auch David Harvey, The New Imperialism (Oxford: Oxford University Press, 2003), der den ‚Neoimperialismusʻ als accumulation by dispossession beschreibt und seine charakteristischen Manifestationen auf 148 in einer Reihe von „[…] cannibalistic as well as predatory and fraudulent practices […]“ erkennt: nämlich „[…] the patenting and licensing of genetic material, seed plasma, and all manner of other products […,] the pillaging of the worldʼs stockpile of genetic resources […] The escalating depletion of the global environmental commons (land, air, water) and proliferating habitat degradations […] The commodification of cultural forms, histories, and intellectual creativity entails wholesale dispossessions (the music industry is notorious for the appropriation and exploitation of grassroots culture and creativity). The corporatization and privatization of hitherto public assets (such as universities), to say nothing of the wave of privatization (of water and public utilities of all kinds) that has swept the world […] The rolling back of regulatory frameworks designed to protect labour and the environment from degradation has entailed the loss of rights. The reversion of common property rights won through years of hard class struggle (the right to a state pension, to welfare, to national health care) to the private domain has been one of the most egregious of all policies of dispossession pursued in the name of neo-liberal orthodoxy.“  Vgl. aber in diesem Sinn noch Overbeek, Rivalität und ungleiche Entwicklung, a.a.O., 206; vgl. auch Gill, American Hegemony and the Trilateral Commission, a.a.O., 224, der mit Blick auf die Diskussionen auf Ebene der Trilateralen Kommission die beiden Lager der (neoliberalen) traders und der (neorealistischen) Prussians unterscheidet.

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In zahlreichen Kriegen und Repressalien hat sich seit den frühen 1950er Jahren gezeigt, dass die ständige Weiterentwicklung militärischer Kapazitäten und ihrer Bündelung in zwischenstaatlichen Organisationen wie der NATO direkt und indirekt dem Schutz der expandierenden Kapitalakkumulation geschuldet gewesen ist; sei es als Drohkulisse hinter den konventionellen Streitkräften, oder sei es neuerdings in Gestalt atomarer Gefechtswaffen für einen taktischen Nuklearkrieg, der zumindest in der offiziellen Rhetorik auf ein regionales Gefechtsfeld begrenzbar sein soll⁶⁴². Die globale organische Krise, so die Schlussfolgerung, mündet in die organisierte Zerstörung zivilisierter Weltgesellschaft/en sowie der natürlichen Lebensgrundlagen. Und sie wird in erster Linie dadurch befeuert, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – zumal unter dem credo eines wettbewerbsinduzierten exportorientierten Wirtschaftswachstums – immer mehr Teile bestehender Wertschöpfungsketten in einen trans- und internationalen Verwertungszusammenhang integriert worden sind. Diese Ausweitung der profitorientierten Produktion, des grenzüberschreitenden Handels und vor allem auch der Auslandsinvestitionen⁶⁴³ ist seit dem Ende des Ost-West-Konflikts von einer abermals forcierten Transnationalisierung der Konzern- und Bankenstrukturen begleitet worden⁶⁴⁴, mitsamt dem riesigen Komplex der privaten Dienstleister/innen⁶⁴⁵, die im Sinne der kritischen Theorieperspektive seit Cox zusammengenommen als das privilegierte Spektrum einer transnationalen Zivilgesellschaft beschrieben werden können⁶⁴⁶. Ihre Spitzenvertreter/innen haben sich zusammen mit dem Chefpersonal von Regierungen, Parteien, Medien und staatlicher Verwaltung auf der Basis von exklusiven Partikularinteressen zu einer emergenten transnationalen Klasse integriert⁶⁴⁷. Plattformen wie u. a. das Weltwirtschaftsforum, die Trilaterale Kommission, die OECD, in einem weniger transparenten Raum auch der Atlantic Council, die Bilderberg-Gruppe und die Atlantik-Brücke dienen ihnen dabei, die Orientierung auf ein gemeinsames Projekt und den Sinn für die Wichtigkeit entsprechender Maßnahmen zu reproduzieren⁶⁴⁸. Zur Mystifizierung ihres Tuns nähren sie den Glauben an immer neue ‚Welt Vgl. Peter Rudolf, Deutschland, die Nato und die nukleare Abschreckung, SWP-Studie 11 (Berlin, 2020), 21.  Vgl. Overbeek, Rivalität und ungleiche Entwicklung, a.a.O., 196.  Vgl. van der Pijl, From Gorbachev to Kosovo, a.a.O., 282.  Vgl. de Graaff & van Apeldoorn, Varieties of US Post-Cold War Imperialism, a.a.O., 420.  Vgl. zum Begriff der transnational civil society u. a. Rupert, (Re‐)Engaging Gramsci, a.a.O., 433. Vgl. auch Lia Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann & Anne Steckner (Hg.), Gramsci lesen: Einstieg in die Gefängnishefte (Hamburg, Argument, 2013), 68 – 69: „Zur Zivilgesellschaft gehören etwa Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Interessenverbände, aber auch Medien, kulturelle Initiativen, politische Vereine und Nichtregierungsorganisationen.“  Vgl. dazu auch die Überlegungen zu einer Atlantic ruling class von Kees van der Pijl, Class Formation at the International Level, Capital & Class 3:3 (1979), 1– 21.  Vgl. van der Pijl, From Gorbachev to Kosovo, a.a.O., 282: „Such networks of joint directorates can be interpreted as a structure of communication and strategy formulation, especially if the actual links are by so-called network specialists, or ‚big linkersʻ. It is they who also often participate in informal planning councils, which play a key role, as collective ‚organic intellectualsʻ, in forging the dynamic consensus underpinning a comprehensive concept of control.“

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ordnungenʻ⁶⁴⁹ und nutzen dafür alle geeigneten „[…] Institutionen, die helfen, bestimmte Verhaltens- und Erwartungsmuster der Menschen zu erzeugen, die mit der [vermeintlich] hegemonialen sozialen Ordnung konsistent sind […].“⁶⁵⁰ Auf diese Weise erscheint die anhaltende nukleare Aufwertung militärischer Kapazitäten, nicht nur solchen unter ‚staatlichenʻ Oberbefehlen sondern gerade auch solchen unter internationaler Aufsicht, wie zum Beispiel im Rahmen der NATO, vielen Menschen in der westlichen Welt nicht als ein dauerhafter Bruch völkerrechtlicher Vereinbarungen, sondern als ein Maßnahmenkatalog zur Aufrechterhaltung von ‚Sicherheit und Friedenʻ. Dabei steht aus kritischer Sicht außer Zweifel, dass die nukleare Mobilmachung integraler Bestandteil einer Praxis geworden ist, die sich kompromisslos einer fortschreitenden Inter- bzw. Transnationalisierung sowohl der profitorientierten Produktion als auch der sie stabilisierenden neokorporativen Strukturen verschrieben hat, zu denen auch jeder westliche militärisch-industrielle Komplex gehört⁶⁵¹. Man könnte in diesem Zusammenhang mit Verweis auf die ständige Weiterentwicklung der transnationalen Zivilgesellschaft einwenden, dass in der „[…] particular configuration of social forces, national and transnational […]“⁶⁵² Mechanismen entstanden sind, die auch (neuen) sozialen Bewegungen die Möglichkeit für ideologische Auseinandersetzungen mit den transnational vernetzten Fraktionen des Kapitals bieten⁶⁵³. Schließlich verdichten sich auch die weniger privilegierten sozialen Bewegungen und Organisationen der nationalen Zivilgesellschaft/en mittlerweile in einem transnationalen Raum auf der Basis einer gemeinsamen Systemkritik, motiviert durch geteilte Interessen an einem positiven Frieden und einer sicheren Zukunft für die Menschheit⁶⁵⁴. Damit nutzen sie die transnationale Zivilgesellschaft vermeintlicherweise bereits als einen weiteren Bereich der Kommunikation, um die materiellen Lebensverhältnisse mit Blick auf ihre Verfassung – und Legitimation – mitzugestalten. Fragen zu so wichtigen Instituten wie dem des ‚Eigentumsʻ: was damit in einem juristisch-technischen Sinn gemeint ist; ob und inwiefern natürliche Ressourcen, wissenschaftliche Er Vgl. Mark Rupert, Ideologies of Globalization: Contending Visions of a New World Order (London: Routledge, 2000), besonders 19 – 41; vgl. auch Fouad Ajami, World Order: The Question of Ideology, Alternatives 6:3 (1980), 473 – 485, 474: „‚World orderismʻ is permeated with legal and liberal assumptions: there is belief in rationality, in nonviolent change, in education, in appeals to the enlightened self-interest of the privileged to cooperate in the making of a better world.“  Stephen Gill, Theoretische Grundlagen einer neo-gramscianischen Analyse der europäischen Integration, in: H.-J. Bieling & J. Steinhilber (Hg.), Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie (Münster: Westfälisches Dampfboot, 2000, 23 – 50, 24.  Vgl. Stephen Gill, Transnational Class Formations, European Crisis and the Silent Revolution, Critical Sociology 43:4– 5 (2017), 635 – 651, 636.  Cox, Social Forces, a.a.O., 144.  Vgl. dazu auch Alex Demirović, Politische Gesellschaft – zivile Gesellschaft. Zur Theorie des integralen Staates bei Antonio Gramsci, in: Sonja Buckel & Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis (Baden-Baden: Nomos, 2007), 21– 41, 28.  Vgl. dazu auch Ulrich Brand, Contradictions and Crises of Neoliberal-Imperial Globalization and the Political Opportunity Structures for the Global Justice Movements, Innovation 25:3 (2012), 283 – 298.

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kenntnisse und/oder kulturelle Schöpfungen durch grenzüberschreitende Investitionen zu ‚Eigentumʻ werden können; was un/gerechte ‚Eigentumʻsverhältnisse bzw. welche Formen des ‚Eigentumʻserwerbs legitim sind; und inwiefern die Gewinnung von ‚Eigentumʻ durch staatliche und nicht-staatliche Institutionen eine Verantwortung für die globale Gesamtgesellschaft impliziert, sind möglicherweise schon längst Anlässe geworden, um im Raum der transnationalen Zivilgesellschaft zu streiten und nach kompromissfähigen Antworten zu suchen. Allerdings lässt sich ebenfalls mit Verweis auf das Vokabular kritischer IB-Theorie konstatieren, dass diese transnationale Zivilgesellschaft oft viel zu undifferenziert als ein Raum ‚begriffenʻ wird, in dem bereits ein gemeinsamer Nenner darüber herrscht, dass „[…] groups, movements and individuals can demand a global rule of law, global justice and global empowerment. [And that a transnational …] civil society is based on the belief that a genuinely free conversation, a rational critical dialogue, will favour the ‚civilizingʻ option.“⁶⁵⁵ Realistischerweise wäre eher davon auszugehen, dass auf dieser transnationalen Ebene de facto ein mindestens ebenso großes Gefälle zwischen den oppositionellen Koalitionen herrscht, wie im nationalen Raum – gemessen an ihrem jeweiligen Zugriff auf entsprechende Ressourcen symbolischen und kulturellen Kapitals, um sich in der Öffentlichkeit vernehmbar zu artikulieren. Die einflussreichsten politischen Parteien, die großen Verbände und die mächtigsten gesellschaftlichen Organisationen bewegen sich in der Regel im Umfeld transnational agierender Banken und Konzerne sowie ihrer Dienstleister/innen. Und es sind diese Kräfte, die sich bei der Lancierung von Denkfiguren und Konzepten wie ‚Sicherheitʻ, ‚Friedenʻ, ‚Gerechtigkeitʻ und ‚Wachstum/Fortschrittʻ bisher in der Regel haben durchsetzen können, nicht etwa engagierte Aktivist/innen und Wissenschaftler/innen, die für ‚positiven Friedenʻ, ‚soziale Gerechtigkeitʻ und ‚ökologische Nachhaltigkeitʻ eingetreten sind.

Institutionen und Ideen der transnationalen Zivilgesellschaft Die daraus entstandenen Sinnstrukturen haben sich perfiderweise dahingehend ausgewirkt, dass sie die Möglichkeiten des Sagbaren für Letztere nachhaltig eingeschränkt haben⁶⁵⁶. Das bedeutet nicht, dass die (neuen) sozialen Bewegungen deswegen komplett unfähig geworden wären, sich zu artikulieren⁶⁵⁷. Mithin haben sich mit dem Ausbau

 Mary Kaldor, Global Civil Society: An Answer to War (Cambridge: Polity, 2003), 12.  Vgl. für die Art und Weise, wie sich Einschränkungen auf Akteure der transnationalen Zivilgesellschaft auswirken, die sich zum Beispiel mit Gerechtigkeitsproblemen des Klimawandels beschäftigen, Brandon B. Derman, Climate Governance, Justice, and Transnational Civil Society, Climate Policy 14:1 (2014), 23 – 41.  Vgl. Lisa Kastner, ‚Much ado about nothing?ʻ Transnational Civil Society, Consumer Protection and Financial Regulatory Reform, Review of International Political Economy 21:6 (2014), 1313 – 1345, 1317, die sich am Beispiel der inter- und transnationalen Finanzmarktreformen ab 2008 bemüht zu zeigen, „[…]

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neokorporativer Strukturen jenseits staatlicher Räume durchaus neue Gelegenheiten für Vertreter/innen der Zivilgesellschaft/en eröffnet, sich in Entscheidungsprozesse auf supra- und internationaler Ebene einzubinden, um ihre Expertise zu sozialen und/oder ökologischen Fragen einzuspeisen⁶⁵⁸. Allerdings kommt solchen Veranstaltungen in der Regel eher ein symbolischer Charakter zu und es wäre schlicht und ergreifend irreführend zu behaupten, dass alle Teilnehmer/innen an sogenannten Governance-Prozessen auch nur annähernd gleiche Möglichkeiten hätten, diese Prozesse mitzugestalten. Die vielleicht am besten geeignete konzeptuelle Metapher für eine begriffliche Vergegenständlichung dieser Situation der relativen Ausgeschlossenheit vieler gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen auf Ebene der transnationalen Zivilgesellschaft in Fragen politischer Gestaltung, trotz bestehender Möglichkeiten zur Bündelung und Artikulation ihrer Interessen, ist die des ‚neuen Konstitutionalismusʻ⁶⁵⁹. Die Auswirkungen des neuen Konstitutionalismus haben sich vor allem in der zunehmenden Immunisierung der gängigen Denkfigur/en eines marktbasierten Wirtschaftswachstums gegen allzu radikale Infragestellungen gezeigt; ab 1945 zunächst im transatlantischen Raum, wobei die entsprechenden Elitenetzwerke, wie zum Beispiel die Bilderberg Konferenzen und die Tagungen der Mont Pelerin Society, schon früh darauf bedacht waren, dass sich entsprechende Verpflichtungen auf ein möglichst uneingeschränktes Marktgeschehen nicht nur bei den größeren politischen Parteien sondern auch bei diversen gesellschaftlichen Gruppierungen einstellen⁶⁶⁰. Dabei sollte sich die Popularität der ‚Marktwirtschaftʻ innerhalb und jenseits der wichtigsten staatlichen Wirtschaftsräume in Westeuropa und den USA nicht nur parallel zueinander entwickeln, die damit einhergehende Verengung der dazugehörigen Denkhorizonte sollte sich auch gegenseitig verstärken. Sichtbarster Ausdruck dieser Entwicklung war zum einen ab den 1950er Jahren die Forcierung der europäischen Integration⁶⁶¹ sowie die von ihr ausgehende Stimulierung der Verhandlungen über Zollsenkungen im Rahmen der sogenannten ‚Kennedy Rundeʻ unter den Teilnehmerstaaten des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT)⁶⁶²; und zum anderen die Umwandlung der euro-

how civil society formed transnational networks, called upon and lobbied powerful political allies, reframed the issues, transformed the discourse and shifted the reform agenda.“  Vgl. Jochen Roose, Soziale Bewegungen und Europa, in: M. Bach & B. Hönig (Hg.), Europasoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium (Baden-Baden: Nomos, 2018), 369 – 374, der auf 372 aber seinerseits darauf verweist, dass „[…] diese Gelegenheiten offensichtlich nur begrenzt nutzbar [sind].“  Stephen Gill, Constitutionalizing Inequality and the Clash of Globalizations, International Studies Review 4:2 (2002) 47– 65, 48: „New constitutionalism redefines political limits of the possible now and in the future. And it entails efforts to politically contain challenges to the disciplinary neoliberalism project through co-optation, domestication, neutralization and depoliticization of opposition.“  Vgl. dazu die lesenswerte Publikation von Walter O. Ötsch, Stephan Pühringer & Katrin Hirte, Netzwerke des Marktes: Ordoliberalismus als Politische Ökonomie (Wiesbaden: Springer, 2018), insbesondere 103 – 106.  Vgl. van der Pijl, Class Formation at the International Level, a.a.O. 16.  Vgl. Douglas A. Irwin, The GATT in Historical Perspective, American Economic Review 85:2 (1995), 323 – 328, 326.

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päischen Gemeinschaft in die EU anno 1991 sowie die anschließende Überführung des GATT in die Welthandelsorganisation (WTO) anno 1995 sowie ihre sukzessive Erweiterung um Mitgliedstaaten wie China und Russland. Die damit verbundene ‚Festschreibungʻ von Wirklichkeitsvorstellungen und normativen Überzegungen „[…] involves macroeconomic policies and institutions (for example independent central banks and balanced budget amendments) in ways that minimize, or even ‚lock outʻ democratic controls over key economic institutions and policy frameworks in the long-term.“⁶⁶³ Die damit de facto verbundene Marginalisierung und Unterdrückung alternativer Sichtweisen betreffend die transnationale Organisation der Produktion ist nicht etwa verschwunden, weil innerstaatlich als auch jenseits staatlicher Räume immer mehr ‚demokratischeʻ bzw. ‚deliberativeʻ Verfahren eingerichtet worden sind, um einem existierenden Pluralismus Rechnung zu tragen; sie ist im Zuge einer konsequenten Nichtbeachtung ‚unrealistischerʻ Alternativvorschläge eher unsichtbar gemacht geworden. „The oppressed, the marginalized, and the voiceless are indeed important elements of civil society, and they merit special attention precisely because they are generally overlooked, even though they are in the majority; but to regard them as tantamount to civil society can only result in a false understanding of the complex dynamics of power relations within, among, and across States [sic].“⁶⁶⁴ Wenn trotz solcher Praktiken der Exklusion und Entprivilegierung zuweilen von einer ‚Modernitätʻ der global civil society die Rede ist, die sich analog zur nationalen Zivilgesellschaft in Pluralismus und Gewaltabstinenz manifestiert, insofern sie eine Vielzahl von Gruppierungen und Organisationen umfasst, die ihre Konflikte analog zum innerstaatlichen Raum unter Rückgriff auf rationale und legale Mechanismen der Kompromissfindung austragen können⁶⁶⁵, dann ist es aus einer kritischen Perspektive angezeigt, zu differenzieren. Und zwar schon aus dem Grund, weil die Verortung sozialer Kräfte in unterschiedlichen nationalen Kontexten mit unterschiedlichen Graden der Deprivation einhergeht⁶⁶⁶. Eine wirklichkeitsnahe Beschäftigung mit solchen Zusammenhängen muss daher berücksichtigen, dass die Angehörigen der verschiedenen Milieus/Klassen in unterschiedlichen nationalen Kontexten nicht nur unterschiedlich stark von den herrschenden Produktionsweisen betroffen sind, sondern dass sie auch unterschiedlich stark ausgeprägte Fähigkeiten besitzen, vermittels ihrer jeweiligen Gruppen und Organisationen Themen und die dazugehörigen Wirklichkeitsdeutungen

 Stephen Gill, Toward a Postmodern Prince? The Battle in Seattle as a Moment in the New Politics of Globalisation, Millennium 29:1 (2000), 131– 140, 132.  Joseph A. Buttigieg, The Contemporary Discourse on Civil Society: A Gramscian Critique, Boundary 32:1 (2005), 33 – 52, 35.  Vgl. Kaldor, Global Civil Society, a.a.O., 3.  Vgl. dazu auch Gramsci, Gefängnisheft 13, a.a.O., §7, der mit Blick auf die Verfassung der nationalen Zivilgesellschaft/en zudem einen Unterschied zwischen ‚modernenʻ Staaten und solchen, die in ihrer ökonomischen und zivilisatorischen Entwicklung zurückgeblieben sind, betonte.

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in die Öffentlichkeit/en der nationalen und noch viel stärker der transnationalen Zivilgesellschaft zu tragen⁶⁶⁷. Prinzipiell und de iure wird die transnationale Zivilgesellschaft zu einem Ort, wo die konkurrierenden Weltsichten verschiedener Gruppierungen in einem offenen Diskurs aufeinanderprallen; aber nicht erst dort, sondern schon innerhalb der nationalen Zivilgesellschaft/en, existiert oft eine beträchtliche Stratifikation, woraus sich Bewegungen mit unterschiedlich gelagerten Einstellungen und Temperamenten entwickeln. Und es sind trotz gewisser Unterschiede zwischen den nationalen Kontexten in aller Regel die am stärksten Benachteiligten, die von den real-existierenden Partizipationsmechanismen völlig ausgeschlossen bleiben⁶⁶⁸ und wegen ihren ‚radikalenʻ Rufen nach besseren Lösungen oft am wenigsten gehört werden. Dieser allgegenwärtige Umstand der strukturellen Gewaltausübung bleibt natürlich nicht folgenlos: „When the agonistic dynamics of pluralism are hindered because of a lack of democratic forms of identifications, passions cannot be given a democratic outlet and the ground is laid for various forms of politics articulated around essentialist identities of nationalist, religious or ethnic type and for the multiplication of confrontations over non-negotiable moral values […].⁶⁶⁹ De facto herrscht daher bei vielen oppositionellen Gruppen, gerade auch solchen, die vergeblich in den Zivilgesellschaften der westlichen ‚demokratischenʻ Staaten nach Anschluss suchen, überhaupt kein Glaube mehr daran, dass die jeweilige Zivilgesellschaft tatsächlich noch einen Raum für ‚zivilenʻ Konfliktaustrag durch ergebnisoffene und sachliche Diskussionen darstellt⁶⁷⁰. In den Worten Gramscis bildet sich auch die transnationale Zivilgesellschaft als eine hochkomplexe ‚Superstrukturʻ in Abhängigkeit von ebenso komplexen sozialen Kräfteverhältnissen, die ihrerseits eng an die materielle Struktur der sogenannten Produktionsverhältnisse und ihrer spezifischen Kapitalverwertungsprozesse gebunden sind⁶⁷¹. In diesem Zusammenhang wirkt es umso dramatischer, wenn sich dieselben Vermachtungstendenzen und Ausschließungsmechanismen wie im innerstaatlichen Raum auf transnationaler Ebene reproduzieren und bewirken, dass die im globalen Maßstab ohnehin schon extrem stratifizierten gesellschaftlichen Verhältnisse obendrein noch durch exklusive Privilegien bei der Festlegung der geltenden Wirklichkeitsbeschreibung

 Ganz ähnlich dazu auch schon Cox, Social Forces, a.a.O., 150 – 151.  Vgl. exemplarisch mit Verweis auf die Situation in Indien, Filippini, On the Productive Use of Hegemony, a.a.O., 121.  Vgl. dazu auch Chantal Mouffe, Democracy in a Multipolar World, Millennium.37:3 (2009), 549 – 561, die auf 551– 552 als Lösung dafür ein agonistic model of democracy vorschlägt.  Vgl. mit Blick auf eine culture of despair über die sogenannten demokratischen Institutionen angesichts der anhaltenden Umweltzerstörung in den USA, Amy K. Glasmeier & Tracey L. Farrigan, Poverty, Sustainability, and the Culture of Despair: Can Sustainable Development Strategies Support Poverty Alleviation in Americaʼs Most Environmentally Challenged Communities?, The Annals of the American Academy of Political and Social Science 590:1 (2003), 131– 149, 133 – 134.  Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 8, a.a.O., §182: „Die Struktur und die Superstrukturen bilden einen ‚geschichtlichen Blockʻ, das heißt, das komplexe und nicht übereinstimmende Ensemble der Superstrukturen ist der Reflex des Ensembles der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse.“

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stabilisiert werden. Die im Namen von ‚Friedenʻ, ‚Gerechtigkeitʻ und ‚Wachstum/Fortschrittʻ auf inter- und transnationaler Ebene sanktionierten Weltanschauungen, sozialen Normen und völkerrechtlichen Vorschriften spiegeln in allererster Linie das Selbstverständnis und stehen im Dienst einer Politik der globalizing elites ⁶⁷², der einflussreichsten Klassenfraktionen des transnational operierenden Kapitals, die nicht als homogene Einheit gedacht werden dürfen, „[…] as it is still fractured along both functional and geographical lines“⁶⁷³, die jedoch oft genug zum eigenen Vorteil eine gegenseitige Duldung ihrer unterschiedlichen Projekte walten lassen. Es sind die Propagandist/innen dieser Projekte, die sich mit unterschiedlichen Berufsbezeichnungen als ‚organische Intellektuelleʻ in den ‚bestenʻ (westlichen) Kanzleien, Beraterfirmen, Forschungseinrichtungen, Expertengremien, Denkfabriken und Universitäten betätigen, privilegierten und zuweilen auch exklusiven Zugang zu den Medien erhalten, und von dort aus eine Deutungshoheit in fast allen wichtigen gesellschaftlichen Fragen beanspruchen⁶⁷⁴. Selbst vergleichsweise gut organisierte alternative Bewegungen haben am herrschenden common sense über Fragen der Herstellung von ‚Friedenʻ, ‚Gerechtigkeitʻ und ‚Wachstum/Fortschrittʻ seit Jahrzehnten so gut wie nichts mehr ändern können⁶⁷⁵. Und aufgrund einer vollständigen Abschließung privilegierter Kräfte gegenüber Forderungen nach ergebnisoffenen Auseinandersetzungen über fundamentale Fragen, sind die Interessen der weitaus größten Teile der globalen Gesamtgesellschaft bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben. Deswegen ist es auch nachvollziehbar, dass und warum ‚Modernitätʻ im 21. Jahrhundert nicht gleichbedeutend mit Pluralismus und Gewaltabstinenz sein kann. Es erscheint angesichts der zum Teil erheblichen Deprivationen im globalen Maßstab viel logischer, dass „[…] the resistance to capital may [continue to] have reactionary and regressive dimensions.“⁶⁷⁶

 Vgl. Gill, Constitutionalizing Inequality and the Clash of Globalizations, a.a.O., 48.  Bastiaan van Apeldoorn, Transnationalization and the Restructuring of Europeʼs Socioeconomic Order: Social Forces in the Construction of ‚Embedded Neoliberalismʻ, International Journal of Political Economy 28:1 (1998), 12– 53, 15.  Vgl. mit Verweis auf die Medienberichterstattung über (militärische) Krisen und Kriege seit dem Jahr 2000, Oliver Boyd-Barrett, Ukraine, Mainstream Media and Conflict Propaganda, Journalism Studies 18:8 (2017), 1016 – 1034, 1017: „Princeton scholar of Russia Stephen F. Cohen commented that whereas in the Cold War ‚the media were open – the New York Times, the Washington Post – to debate,ʻ today ‚they no longer are. Itʼs one hand clapping in our major newspapers and in our broadcast networksʻ. Such synchronicity reinforces trends that have been widely observed, including in Western mainstream media coverage of the invasion and occupation of Afghanistan in 2001, invasion and occupation of Iraq in 2003, the disputed 2009 elections in Iran, claims that Iranʼs nuclear energy program constitutes a dangerous nuclear weapons threat, and Western-supported destabilization of Libya and of Syria from 2011.“  Vgl. etwa mit Blick auf die gescheiterten Versuche des alter-globalisation movement, Matthew Stephen, Globalisation and Resistance: Struggles over Common Sense in the Global Political Economy, Review of International Studies 37:1 (2011), 209 – 228.  Gill, Constitutionalizing Inequality and the Clash of Globalizations, a.a.O., 64. Vgl. auch Mouffe, Democracy in a Multipolar World, a.a.O., 552.

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Transnationale Zivilgesellschaft als Arena für ‚Kämpfeʻ ums Recht Im Vorstellungsraum kritischen Denkens ist die aktuelle Konstitution der Weltgesellschaft, die durch eine signifikante Konzentration militärischer, ökonomischer und symbolisch-kultureller Ressourcen sowie ein weit verzweigtes Institutionengefüge als Verkörperung ‚transnationaler Staatlichkeitʻ geprägt ist, oft auch als Ergebnis des Kampfes um eine ‚transnationale Hegemonieʻ beschrieben worden⁶⁷⁷. Damit ist im Kern gemeint, dass nicht Staaten, sondern die mächtigsten Fraktionen des transnational organisierten Kapitals im Verbund mit den einflussreichsten Regierungsnetzwerken danach streben, Vorteile aus den gesellschaftlichen Verhältnissen zu ziehen, ohne dabei in ihrem Kampf gegen oppositionelle Kräfte ständig auf Zwang und Repression zurückgreifen zu müssen. Speziell zu diesem Zweck arbeiten schließlich unzählige Instanzen an der Verbreitung von Vorstellungen, gemäß denen die von Großkonzernen und Banken betriebene Profitmaximierung im globalen Maßstab als ‚natürlichʻ, ‚alternativlosʻ, ‚progressivʻ und daher wünschenswert erscheint. „Those constituents are varied, and, as neo-Gramscian theory [sic!] posits, they are not merely domestic but increasingly international and transnational in nature […].“⁶⁷⁸ Inwiefern sich dieser Kampf tatsächlich als einer um ‚transnationale Hegemonieʻ begreifen lässt, und nicht doch wieder als das rücksichtslose Streben nach ‚Dominanzʻ oder auch purem ‚Zwangʻ, wird auch diesbezüglich Anlass für kontroverse Interpretationen bleiben⁶⁷⁹. Schließlich gibt es genügend Indizien, die dafür sprechen, dass seit der abermaligen Intensivierung des transnationalen Akkumulationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg selbst innerhalb des US-amerikanischen dominiums nicht nur gezielte Propagandaaktivitäten sondern – auch und gerade in Verbindung damit – (para‐)militärische

 Vgl. u. a. Stephen Gill, Neo-liberalism and the Shift towards a US-centred Transnational Hegemonyʻ, in: H. Overbeek (Hg.), Restructuring Hegemony in the Global Political Economy: The Rise of Transnational Neoliberalism in the 1980s (London: Routledge, 1993), 261; vgl. William I. Robinson, Gramsci and Globalization: From Nation-State to Transnational Hegemony, Critical Review of International Social and Political Philosophy 8:4 (2005), 559 – 574, besonders 563 – 566; Vgl. Jim Glassman, Transnational Hegemony and US Labor Foreign Policy: Towards a Gramscian International Labor Geography, Environment and Planning D: Society & Space 22:4 (2004), 573 – 593.  Philip G. Cerny, Dilemmas of Operationalizing Hegemony, in: M. Haugaard & H. H. Lentner (Hg.), Hegemony and Power: Consensus and Coercion in Contemporary Politics (Lanham: Rowman & Littlefield, 2006), 67– 87, 72.  Vgl. für eine eher skeptische Sicht hinsichtlich der Entstehung einer transnationalen Hegemonie Bob Jessop & Ngai-Ling Sum, Towards a Cultural International Political Economy: Poststructuralism and the Italian School, in: M. de Goede (Hg.), International Political Economy and Poststructural Politics (Basingstoke: Palgrave, 2006), 157– 176, 173; vgl. für eine strikt ablehnende Haltung zur transposition des Konzepts der innerstaatlichen Hegemonie auf den Bereich der internationalen Beziehungen, Lorenzo Fusaro, Crises and Hegemonic Transitions From Gramsciʼs Quaderni to the Contemporary World Economy (Leiden: Brill, 2019), 10. Interessant in diesem Zusammenhang auch sein Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der ursprünglichen Vorstellung Gramscis von ‚internationaler Hegemonieʻ, ebda 272: „Gramsci defines hegemony at the international level as being based on economic power realised as politico-military power: war or the threat of war is eventually what ‚makes a hegemonic powerʻ.“

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Formen von ‚Zwangʻ bei der Kontrolle oppositioneller Gruppen und Bewegungen eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben; sei es die Bekämpfung von ‚Linkenʻ und ‚Kommunistenʻ in den westeuropäischen Staaten unter Rückgriff auf false flag operations seit den 1950er Jahren durch die sogenannten stay behind-Verbände unter dem Dach der NATO⁶⁸⁰; sei es die Unterdrückung von ‚linkenʻ bzw. nationalen Emanzipations- und Befreiungsbewegungen in Lateinamerika und Südostasien durch die gezielte Installierung und Unterstützung von faschistischen Regimen bzw. Militärdiktaturen⁶⁸¹; oder sei es die gezielte Unterstützung von Oppositionellen und der tatkräftigen Mithilfe bei Regimewechseln in Osteuropa und Eurasien⁶⁸². Dennoch wäre es auch wieder nicht zutreffend, die hervorgehobene Stellung der transatlantischen Status- und Kapitalfraktionen ausschließlich als das Ergebnis rein repressiver Praktiken zu beschreiben. Denn neben der Verengung von Denkhorizonten und des Sagbaren haben sie auch mit technischen Fachkompetenzen, Beschwichtigungen und der Signalisierung von Kompromissbereitschaft unter Ausschöpfung der ganzen Palette sogenannter soft skills gearbeitet, die im Zuge der Pluralisierung transnationaler Gremien wichtige Machtinstrumente geworden sind.  Vgl. erst jüngst Tamir Sinai, Eyes on target: ‚Stay-behindʻ Forces during the Cold War, War in History 28:3 (2021), 681– 700; vgl. Riste, ‚Stay Behindʻ, a.a.O.; vgl. Matt Everett, Western State-Sponsored Terrorism and the Strategy of Tension, Journal of Psychohistory 35:2 (2007), 182– 198, 183: „[T]he secret stay-behind armies existed throughout the Cold War in all the Western European nations that were members of the North Atlantic Treaty Organization (NATO), and even in four neutral, non-NATO countries: Switzerland, Austria, Finland, and Sweden. The Central Intelligence Agency (CIA) and the British Secret Intelligence Service (MI6) established the networks after the Second World War, based upon the experiences of the war, during which similar networks had been set up to fight the occupying German forces. Each countryʼs military secret service would run its secret army, in close collaboration with the CIA or MI6. On an international level, the Allied Clandestine Committee (ACC) and the Clandestine Planning Committee (CPC) of NATOʼs Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) coordinated the armies.“ Vgl. auch Linda Rosso, ‚Enlightening Public Opinionʻ: A Study of NATOʼs Information Policies between 1949 and 1959 based on Recently Declassified Documents, Cold War History 7:1 (2007), 45 – 74, 57: „[T]he documents available offer sufficient information about NATO counter-propaganda and repression strategies and demonstrate the correlation between the recommendations of the [Committee on Information and Cultural Relations] CICR and the actual measures adopted by the national governments.“  Vgl. mit Verweis auf die ‚Jakarta-Methodeʻ in Indonesien, Vincent Bevins, The Jakarta Method. Washingtonʼs Anticommunist Crusade and the Mass Murder Program that Shaped Our World (New York: Public Affairs, 2020), Vgl. zu den Aktivitäten in Lateinamerika u. a. Greg Grandin, Empireʼs Workshop: Latin America, the United States, and the Rise of the New Imperialism (New York: Holt, 2006), 4: „After World War II, in the name of containing Communism, the United States, mostly through the actions of local allies, executed or encouraged coups in, among other places, Guatemala, Brazil, Chile, Uruguay, and Argentina and patronized a brutal mercenary war in Nicaragua. Latin America became a laboratory for counterinsurgency, as military officials and covert operators applied insights learned in the region to Southeast Asia, Africa, and the Middle East. By the end of the Cold War, Latin American security forces trained, funded, equipped, and incited by Washington had executed a reign of bloody terror – hundreds of thousands killed, an equal number tortured, millions driven into exile – from which the region has yet to recover.“  Vgl. Joachim Becker, Editorial: Ukraine – Zur politischen Ökonomie eines europäischen Konfliktes, Kurswechsel 29:3 (2014), 69, der auf die ‚Fälleʻ Georgiens, der Ukraine und Kirgisistans verweist.

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Es sind vor allem Strategien, die Gramsci zusammenfassend als Formen des ‚Transformismusʻ (trasformismo) beschrieben hatte⁶⁸³, mit denen es die einflussreichsten Kräfte im transnationalen Kontext geschafft haben, zumindest einen Teil der gemäßigteren globalen Bewegungen in Verhandlungen zu verstricken, um sie dort mit einem Heer von ‚Expert/innenʻ für wirtschaftliche und rechtliche Aspekte in der Sache zu ‚überzeugenʻ⁶⁸⁴. Wichtig ist dafür in der Regel die gemeinsame Festlegung von begrifflichen Orientierungspunkten für die jeweiligen Verhandlungen gewesen, wie z. B. die ‚Emissionsreduktionʻ in den Gesprächen über die politische Gestaltung des Klimawandels, um im Anschluss daran den Fokus auf konsensfähige Strategieoptionen zu lenken, die als Maßnahmen von ‚allgemeinem Interesseʻ beschrieben werden können. Ganz ohne Druck geht es dabei nie, wie die Geschichte der UN-Klimaverhandlungen zeigt. Die in allen Gesprächen auf der inter- und transnationalen Ebene beteiligten Fürsprecher/innen marktbasierter Lösungen konnten bei den Verhandlungen über den Klimaschutz nur deshalb glaubhaft auf die Notwendigkeit einer Verträglichkeit zwischen klimapolitischen Maßnahmen und dem Schutz bisher erreichter Marktfreiheiten verweisen, nachdem sie die vorgeblich herrschende Sehnsucht vieler Menschen nach ‚Wohlstandʻ und ‚Entwicklungʻ erfolgreich als Ausgangsprämisse etabliert hatten. Trotz ihrer anfänglichen Opposition hatten diverse Gruppen aus Europa und dem globalen Süden unter solchen Vorzeichen die scheinbare „[…] Alternativlosigkeit von Marktmechanismen [anerkannt …]. In der internationalen Klimapolitik bildet sich so ein ‚neues globales Regulierungssystemʻ heraus, dass die Reproduktion der Ökonomie garantiert und dabei – entsprechend des neoliberalen Dogmas – wirtschaftliches Wachstum bzw. den Wettbewerb auf freien Märkten in keiner Weise in Frage stellt.“⁶⁸⁵ ‚Regulierungʻ verweist in diesem Zusammenhang auf einen zentralen Gesichtspunkt, denn früher oder später treten solche Verhandlungen in den Prozess der ‚Verrechtlichungʻ ein, in dem die Verhandlungsgegenstände sukzessive in ein juristisches Vokabular übersetzt werden, dessen Tragweite am Ende nur noch hochspezialisierten Sachverständigen vertraut ist. Die paraphierten Lösungen erscheinen oft unpolitisch und suggerieren obendrein sogar noch eine gewisse Verbindlichkeit⁶⁸⁶. Der Kampf um Einfluss zur Realisierung von Profitinteressen läuft im transnationalen Kontext oft ge-

 Vgl. Gramsci, Gefängnisheft 8, a.a.O., §36, der dort noch zwischen einer Art ‚kollektivemʻ und ‚molekularenʻ Transformismus unterscheidet, d. h. mit Blick auf letzteren, dass nicht ganze Gruppen und Bewegungen sondern „[…] die einzelnen von den demokratischen Oppositionsparteien hervorgebrachten politischen Persönlichkeiten werden einzeln der konservativ-moderaten ‚politischen Klasseʻ einverleibt […].“  Vgl. dazu auch Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations, a.a.O., 166 – 167.  Philip Bedall, Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus? Klimadiskurse im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie (Bielefeld: Transcript, 2014), 122– 123.  Vgl. Sonja Buckel & Andreas Fischer-Lescano, Gramsci Reconsidered: Hegemony in Global Law, Leiden Journal of International Law 22:3 (2009), 437– 454, 446: „Both the abstractness and the formalized justificatory procedures offer, through the already established legal entities – and the fixation, systematization, and reproducibility thereof – a reservoir for the argumentation, which is thereby relieved of their arbitrariness in favour of a particularistic interest through a kind of formal constraint.“

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nug über die ökonomischen und juristischen Expert/innen mit ihren technischen Kenntnissen, die sich scheinbar nur mit den formalrechtlichen Aspekten der Materie beschäftigen, de facto aber wie ‚Kopfgeldjägerʻ danach streben, mit Hilfe sorgfältiger Formulierungen die von den jeweiligen Auftraggebern ausgerufene ‚Beuteʻ zu erlegen. Gerade die erfolgreichsten Karrierejurist/innen zeichnen sich nicht mehr durch Unabhängigkeit, Berufsethos, Bildung und eine umsichtige Praxis der technisch-juristischen Argumentation aus. Als ergebnisorientierte Profis, die selbst dem Wettbewerbsdruck ihrer Berufssparte unterliegen, unterstützen sie ihre Klienten rückhaltlos bei ihrem Kampf ums ‚Gewinnenʻ⁶⁸⁷. Eine weitere Begleiterscheinung solcher Prozesse der Verrechtlichung ist, dass nicht zuletzt die Angehörigen der privilegiertesten Gruppen, die sich ihrerseits nicht immer in allen ‚politischenʻ Fragen einig sind, und die sich auch nicht immer und überall als Mitglieder einer gemeinsamen Klasse verstehen müssen, im Zusammenhang mit solchen Verhandlungen wegen der ‚überzeugendenʻ Arbeit ihrer eigenen ökonomischen und juristischen Expert/innen oft schon aus opportunistischen Erwägungen heraus Teil einer gemeinsamen Bewegung werden, um den oppositionellen sozialen Bewegungen möglichst geschlossen gegenübertreten zu können⁶⁸⁸. Angelehnt an Gramsci lässt sich damit ein wichtiger Schlüssel für die erfolgreiche Bildung von Status- und Klassenfraktionen im Wirken der zahlreichen Expert/innen in ihrer Funktion als organische Intellektuelle erkennen, deren technische, programmatische und zum Teil auch visionäre Rhetorik erst zu einer Integration verschiedener Gruppierungen in eine nicht nur partei- sondern auch staatenübergreifende politische Bewegung geführt hat⁶⁸⁹. Gleichwohl bleibt es in kapitalistisch organisierten Weltgesellschaft/en angesichts der strukturell verankerten Tendenzen zum existenziellen Verdrängungswettbewerb zwangsläufig umstritten, inwiefern die transnationale Konstellation mit dem Begriff der ‚Herrschaftʻ einer wie auch immer gearteten Klassenfraktion überhaupt plausibel beschrieben werden kann. Eine legitime transnationale Herrschaft wäre vermittelt durch das transnationale Recht und verfasst in einem transnationalen Konsens, der sich erst in letzter Konsequenz auf Zwang stützen würde. Der andauernde Kampf privilegierter Kräfte um die Herbeiführung von Akquieszenz auf Seiten oppositioneller Kräfte gegenüber den von ihnen forcierten Projekten der Kapitalakkumulation sowie die jederzeit mögliche Lancierung von Strategien des Wirtschaftskriegs und des militärischen Zwangs zur

 Christopher May, The Rule of Law as the Grundnorm of the New Constitutionalism, in: St. Gill & A. Claire Cutler (Hg.), New Constitutionalism and World Order (Cambridge: Cambridge University Press, 2014), 63 – 75, 71: „[L]awyers are now often more focused on the commercial success of their practice, and are not only looking to corporations as clients, but are themselves often part of a transnational legalcommercial community of practice functioning in an international market.“.  Vgl. Kees van der Pijl, From the Cold War to Iraq (London: Pluto, 2006), 28.  Vgl. dazu auch Gramsci, Gefängnisheft 1, a.a.O., §46: „Gioberti bot den Intellektuellen [im Unterschied zu Mazzini] eine Philosophie, die national und originell erschien, geeignet, Italien auf ein Niveau mit den fortgeschrittensten Nationen zu stellen und dem italienischen ‚Denkenʻ neue Würde zu verleihen.“

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gewaltsamen Durchsetzung privater Profitinteressen sind jedoch starke Indikatoren für das Fehlen eines solchen transnationalen Konsenses und bezeugen in allererster Linie die Abwesenheit legitimer Herrschaft. Diesbezüglich ist die ‚kritischeʻ Literatur, wie bereits erwähnt, erstaunlich unkritisch⁶⁹⁰. Die in der transnationalen Zivilgesellschaft vor allem über den akademischen Diskurs popularisierte Rhetorik einer ‚internationalen Ordnungʻ und Global Governance verkörpert dann auch weniger einen faktisch bestehenden inter- bzw. transnationalen Konsens, sondern dient der Normalisierung einer Weltsicht, mit der die privilegierten Kapitalfraktionen und Elitenetzwerke gegenüber ihren Kritiker/innen und politischen Gegnern ‚Dominanzʻ oder ‚Suprematieʻ beanspruchen⁶⁹¹.

Historische Dialektik, soziale Kräfte und theoretische Konfrontation Es ist die Ablehnung solcher Willkür und der damit oft einhergehenden Gewalt, die kritische IB-Theorie in der Tradition des historischen Materialismus dazu veranlasst hat, sich mit einer Loyalität für die ‚periphereʻ Seite der imperialistischen Machtausübung zu positionieren⁶⁹². Die Arbeit mit den konzeptuellen Kategorien kritischer Theorie leistet damit einen Beitrag zum politischen Projekt der Transformation sozialer Verhältnisse⁶⁹³; zumal geht sie davon aus, dass theoriegeleitete Arbeiten, die ‚nurʻ danach streben, ‚kausaleʻ Zusammenhänge abzubilden, sich fundamental über die Möglichkeitsbedingungen für die sozialwissenschaftliche Arbeit mit ‚reinerʻ Theorie irren⁶⁹⁴. Das Streben nach Veränderung begründet eine grundsätzliche Dialektik zwischen den Partikularinteressen der dominierenden Klassenfraktionen einerseits und den dazu entgegengesetzten Interessen der subalternen strata andererseits. Da es für die Sozialwissenschaften aufgrund ihrer raumzeitlichen Verortung unmöglich ist, einen neutralen Standpunkt einzunehmen, wird die Notwendigkeit der‚vernünftigenʻ Gestaltung sozialen  Vgl. etwa Cerny, Dilemmas of Operationalizing Hegemony, a.a.O., 5: „Within the center countries in the capitalist world, the proportion of active constituents and of those who are coopted is bigger, but in the peripheries hegemony is weaker – though certainly not nonexistent. Thus one fault line can be drawn between the center, consisting of the active pro-hegemonic alliances of social forces, and the peripheries or the ‚recipientsʻ of hegemony.“  Vgl. zur Charakterisierung des disziplinären Neoliberalismus, aufgrund seines – zwangsläufigen – Scheiterns bei der vollständigen intellektuellen und moralischen Durchdringung der transnationalen Zivilgesellschaft, als supremacy, Stephen Gill, The Global Panopticon? The Neoliberal State, Economic Life, and Democratic Surveillance, Alternatives 20:1 (1995), 1– 49.  Vgl. z. B. Stephen Gill, U.S. Hegemony: Its Limits and Prospects in the Reagan Era, Millenium 15:3 (1986), 311– 338; Kees van der Pjil, Soviet Socialism and Passive Revolution, in: Stephen Gill (Hg), Gramsci, Historical Materialism and International Relations, a.a.O., 237– 258; Craig Murphy, International Organization and Industrial Change: Global Governance since 1850. Europe and the International Order (New York: Oxford University Press, 1994); Claire Turenne Sjolander & Wayne S. Cox (Hg.), Beyond Positivism: Critical Reflections on International Relations (Boulder: Lynne Rienner, 1994).  Vgl. Hoffman, Critical Theory and the Inter-Paradigm Debate, a.a.O., 233 – 235.  Vgl. dazu auch schon Gramsci, Gefängnisheft 10, a.a.O., §57.

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Wandels zugunsten einer Verbesserung der sozialen Verhältnisse und, als Voraussetzung dafür, die Erneuerung etablierter Denkgewohnheiten zum eigentlichen Impuls für die theoriegeleitete Deutung der internationalen Beziehungen⁶⁹⁵. Soziale Verhältnisse sind immer durch willkürliche Arrangements der Über- und Unterordnung sowie die damit einhergehenden Entprivilegierungen vieler charakterisiert. Kategoriale Formen wie ‚Souveränitätʻ und ‚Staatʻ sowie viele der damit assoziierten Konzepte der ‚internationalen Kooperation/Organisation/Ordnungʻ überdecken die konfliktgeladene Prozesshaftigkeit der sozialen Verhältnisse, und dass selbst etablierte Institutionen und die mit diesen Institutionen verbundenen Privilegien im Zentrum einer sogenannten Weltordnung andauernd vehement infrage gestellt werden⁶⁹⁶. Spätestens in diesem Zusammenhang wird klar, warum sich der Fokus kritischen Denkens nicht auf Abstrakta wie souveräne ‚Staatenʻ oder internationale ‚Organisationenʻ als interessegeleitete Agenten einer friedlichen ‚internationalen Ordnungʻ richten kann, sondern den Blick auf die konflikthaften sozialen Kräfteverhältnisse richten muss, in die sich schlussendlich alle formalen Instanzen und Konstellationen einbetten⁶⁹⁷. Wegen der immensen Bedeutung der transnational vernetzten Konzernindustrie und aufgrund einer starken wechselseitigen Durchdringung ökonomischer, politischer, rechtlicher, sozialer sowie kultureller Prozesse im globalen Maßstab, wäre es völlig unergiebig, in einem eigenen Teilbereich der‚internationalen Beziehungenʻ nach genuin politischen Kräften zu suchen und etwa nur die ‚offiziellenʻ Teilnehmer/innen an den politischen Systemen innerhalb und jenseits staatlicher Räume als solche zu identifizieren. Das entscheidende Kriterium für die Identifikation von Akteuren als politisch relevanten Kräften liegt in ihrem jeweiligen Grad der gesellschaftspolitischen Mobilisierung; und ob sie damit bereits einen als solchen wahrnehmbaren Einfluss auf die gesamtgesellschaftlichen Konflikte und Verteilungskämpfe ausüben können. Zumal die ständigen und zum Teil auch sehr massiven Veränderungen in der internationalisierten bzw. globalisierten industriellen Fertigung, mitsamt den damit verbundenen Herausforderungen für Transport, Vertrieb und Logistik, haben enorme Konsequenzen für die Höhe von Löhnen, Beschäftigung, Preisen, Konsum, Lebensweise, Ressourcenverbrauch und die anhaltende Zerstörung der globalen Biosphäre. Damit durchwirkt die transnationale Ökonomie die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse in einem fundamentalen Sinn. Ökonomische Krisen wirken sich immer auch als Störungen des Sozialen aus und ziehen Initiativen der gesellschaftlichen Mobilisierung nach sich⁶⁹⁸, die von mehr oder weniger ausgeprägten Konflikten begleitet werden.

 Vgl. Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations, a.a.O.,.162.  Vgl. in diesem Sinn auch die Lesart der ‚Gefängnishefteʻ bei Chantal Mouffe, Hegemony and Ideology in Gramsci, in: J. Martin (Hg.), Chantal Mouffe: Hegemony, Radical Democracy, and the Political (London: Routledge, 2013), 15 – 44, 26.  Vgl. dazu auch Hans-Jürgen Bieling, The Other Side of the Coin: Conceptualizing the Relationship between Business and the State in the Age of Globalisation, Business and Politics 9:3 (2007), 1– 20, 6.  Vgl. Cox, Social Forces, a.a.O., 147.

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Aus heuristischen Gründen erscheint es daher durchaus begründet, dass sich kritische Anschauungsformen mit Blick auf die internationalen Beziehungen in einem ersten Schritt weiterhin selbstbewusst auf sogenannte Eurocentric assumptions ⁶⁹⁹ stützen und zwischen solchen Kräften unterscheiden, die sich in die herrschenden Elitenkoalitionen auf der Seite des ‚Kapitalsʻ einfügen, und solchen, die sich in oppositionelle Formationen der ‚Arbeitʻ zusammenschließen⁷⁰⁰. Trotz der überragenden Bedeutung des ökonomischen Systems ist klar, dass sich die einflussreichsten Kräfte immer aus einem breiten gesellschaftlichen Spektrum rekrutieren und als ein Gefüge von Koalitionen zu einem mehr oder weniger ‚integralenʻ Gebilde mit bürokratischen Strukturen zusammenfinden⁷⁰¹, das sie sukzessive ausweiten. Das soziale ‚Ganzeʻ lässt sich nicht in einem engen abstrakt-ökonomistischen Sinn auf die Dialektik zwischen Kapital und Arbeit reduzieren⁷⁰². Der intellektuelle Zugang über die Vorstellung einer Dialektik in den Produktionsverhältnissen liefert gleichwohl einen möglichen Einstieg in eine anspruchsvollere ‚post-westlicheʻ Vergegenständlichung von realweltlichen Konflikten⁷⁰³, um gegebenenfalls abhängig vom kulturellen Kontext differenzierter zwischen solchen sozialen Kräften zu unterscheiden, die sich als Individuen, Gruppen und/oder Institutionen sowohl innerhalb als auch jenseits staatlicher Grenzen in der wie auch immer gearteten ‚politischen Gesellschaftʻ für die Aufrechterhaltung und den Schutz der kapitalistischen Produktionsweise/n engagieren; und solchen, die sich im Gegensatz dazu außerhalb und in Opposition zur einflussreichen ‚politischen Gesellschaftʻ für soziale, aber auch ethnische, kulturelle oder eben ökologische Belange einsetzen, die ihrerseits oft durch ökonomische Prozesse und die davon ausgehenden Externalitäten bedroht sind und darüber zu Angelegenheiten von einem breiteren ‚öffentlichenʻ Interesse werden (können)⁷⁰⁴. Mit einer Vorstellung von social forces, die sich aus den jeweiligen Produktionsverhältnissen zu den relevanten Akteuren der internationalen Beziehungen aufschwingen, wird es unmöglich, politische Initiativen von staatlichen Regierungen zur Herstellung von größeren Binnenmarkträumen auf nationaler, europäischer, transatlantischer, trilateraler bzw. globaler Ebene auf sogenannte ‚nationale Interessenʻ zurückzuführen. Regierungsinitiativen wirken eher wie Reflexe auf lautstarke Forderun-

 Vgl. dazu Sanjay Seth, Postcolonial Theory and the Critique of International Relations, Millennium 40:1 (2011), 167– 183.  Vgl. Stephen Gill & David Law, Global Hegemony and the Structural Power of Capital, in: Gill, Gramsci, a.a.O., 93 – 124, 113.  Vgl. dazu auch Mouffe, Hegemony and Ideology in Gramcsi, a.a.O. 26, mit Verweis auf den ‚integralen Staatʻ, wobei das gemeinte Gebilde analog auch als ‚integrale inter- bzw. transnationale Organisationʻ denkbar wäre.  Vgl. in diesem Sinn auch Cox, The Political Economy of a Plural World, a.a.O., 30.  Vgl. dazu Pinar Bilgin, Thinking past ‚Westernʻ IR?, Third World Quarterly 29:1 (2008), 5 – 23.  Vgl. Cox, The Political Economy of a Plural World, a.a.O., 41– 42: „Economic globalization strives to eliminate all other forms of economy and in doing so exacerbates inequalities and weakens the biosphere upon which all life depends. Awareness of these consequences mobilizes people in a variety of acts of resistance that have only begun to achieve coherence at the global level.“

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gen aus den Leitungsgremien der Banken und Konzernindustrie, die angesichts eines seit Beginn des 20. Jahrhunderts unhinterfragten Imperativs zur Profitmaximierung⁷⁰⁵ auf bessere Möglichkeiten für eine Steigerung der Gesamtproduktion plus einer Ausweitung des Konsums durch zunehmende ‚Internationalisierungʻ pochen⁷⁰⁶. Die typischen Formen internationaler Institutionalisierung und Verrechtlichung haben hier ihren Ursprung⁷⁰⁷ und stehen für ein Projekt der sich zunehmend vernetzenden bürgerlichen Koalitionen, einer ‚transnationalen Gesellschaftʻ, bestehend aus dem Chefpersonal der transnational agierenden Industriekonzerne, aktuellen und ehemaligen Regierungsmitgliedern, den Spitzenvertreter/innen der einflussreichsten politischen Parteien, Gewerkschaftsfunktionär/innen sowie ‚organischen Intellektuellenʻ aus dem sogenannten ‚Qualitätsjournalismusʻ, liberal-konservativen Think Tanks, reputierten Beratergremien, den ‚bestenʻ Universitäten und der Dienstleistungsindustrie⁷⁰⁸. Diese eng miteinander verkoppelten Dimensionen der ökonomischen und politischen ‚Transnationalisierungʻ, die durch eine ‚globalisierendeʻ Produktion ständig mit neuen Impulsen versehen wird und sich in einer ausdehnenden Verwaltungsbürokratie jenseits staatlicher Räume manifestiert, symbolisieren die Herrschaft des ‚Kapitalsʻ im 21. Jahrhundert. Ihre Ausgestaltung obliegt den gerade genannten Kräften als einem sich immer wieder erneuernden Zusammenschluss einer transnational agierenden managerial class. „Having its own ideology, strategy and institutions of collective action, it is both a class in itself and for itself. Its focal points of organisation, the Trilateral Commission, World Bank, IMF and OECD, develop both a framework of thought and guidelines for policies.“⁷⁰⁹ Das alles überragende Ziel, dem sich seine Mitglieder verpflichten, besteht in der Förderung eines quantitativ konzipierten Wirtschaftswachstums und einer Steigerung der Produktivitätsfortschritte auf den entsprechenden Ebenen der inter- bzw. transnationalen Marktintegration. Die ‚Verliererʻ dieser Entwicklung befinden sich zu einem ganz erheblichen Teil im Milieu der nationalen Produzenten, einfachen Angestellten und Arbeiter/innen sowie den Angehörigen zahlreicher subalterner Gruppen. Der Verdrängungswettbewerb trifft

 Vgl. Rolf Walter, Wirtschaftsgeschichte: Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, 5. akt. Auflage (Köln: Böhlau, 2011), 267– 268.  Vgl. für die kosteninduzierten Vorteile einer ‚Internationalisierungʻ von Markträumen und Konzernstrukturen für deutsche Großkonzerne, Hardy Wagner, Internationalization Speed and Cost Efficiency: Evidence from Germany, International Business Review 13:4 (2004), 447– 463.  Vgl. zu den Hintergründen der Ausweitung des europäischen Binnenmarkts, van Apeldoorn, Transnationalization and the Restructuring of Europeʼs Socioeconomic Order, a.a.O., 12– 53; vgl. analog zur Ausweitung des europäischen Finanzmarktes, Hans-Jürgen Bieling, Social Forces in the Making of the New European Economy: The Case of Financial Market Integration, New Political Economy 8:2 (2003), 203 – 224; vgl. ebenfalls analog zur Erweiterung der EU, Andreas Bieler, The Struggle over EU Enlargement, a.a.O.  Vgl. Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations, a.a.O., 168.  Cox, Social Forces, a.a.O., 147, der auf 147– 149 zudem die verschiedenen Formen von etablierten und nicht-etablierten Industriearbeiter/innen sowie die oft völlig mittellose Landbevölkerung als Teile einer oppositionellen Fraktion nennt.

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nicht zuletzt viele kleine und mittelständische Betriebe, die aufgrund ungleicher ‚Erfolgsbedingungenʻ nicht nachhaltig am Prozess der Inter- bzw. Transnationalisierung teilnehmen (können)⁷¹⁰. Einnahmeverluste aufgrund schwindender Marktanteile im Zuge einer zunehmenden Anbieterkonkurrenz bedeuten für viele nicht selten einen vollständigen Marktausstieg. Dabei bleibt es jederzeit möglich, dass Verlierer der Internationalisierung früher oder später damit beginnen, ihre Marginalisierung als gemeinsames Los zu erkennen, was unter gewissen Umständen zur Bildung von Koalitionen und neuen Formen der Mobilisierung gegen die Auswirkungen des globalisierten Kapitalverwertungsprozesses führt⁷¹¹. Da im Zuge eines ständig forcierten Wirtschaftswachstums seit Jahrzehnten enorme Mengen von fossilen Rohstoffen ausgebeutet worden sind, und weil aufgrund der im Kontext von Produktion und Vertrieb freigesetzten Gifte und Emissionen sowohl die globale Umweltbelastung als auch die globale Durchschnittstemperatur weiter steigt, hat der inter- und transnational operierende Kapitalverwertungsprozess indirekt auch dramatische Konsequenzen für solche Teile der globalen Gesellschaft, die nicht direkt zu den Fraktionen des ‚Kapitalsʻ bzw. den oppositionellen Gruppierungen gerechnet werden können⁷¹². Die sich daraus ergebende Konfliktlinie besteht aus einem immer schärferen Gegensatz zwischen den genannten Kräften im Lager des transnationalen ‚Kapitalsʻ und solchen Kräften, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen zum Schutz des globalen Ökosystems solidarisieren. Der sich zuspitzende Kampf um die Formen der Bearbeitung des Klimawandels ist damit zu einem weiteren Aspekt der globalen Dialektik geworden, die mittelfristig das Potenzial entfalten kann, eine längst überwunden geglaubte Bereitschaft zur gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen dem Kapital und seinen Kritiker/innen wiederzubeleben; zumal auch immer offensichtlicher wird, wie zynisch die einflussreichsten Vertreter/innen aus der Konzernindustrie und der regierenden politischen Parteien seit längerer Zeit mit einem Problem umgehen, das nichts weniger als die Existenz der gesamten Menschheit bedroht⁷¹³.  Vgl. zu diesen Erfolgsbedingungen für kleine und mittelständische Unternehmen, Phillipp Kruse, Internationalisierung der Absatzmärkte für kleine und mittelständische Unternehmen (Wiesbaden: Gabler, 2009), besonders 19 – 33 und 183 – 187, der in seiner Dissertation vor allem ‚finanzielle Ressourcenʻ, aber auch ‚Marktkenntnisseʻ, ‚Managementkompetenzenʻ, ‚Markt- und Kundenorientierungʻ sowie ‚Innovationsfähigkeitʻ nennt.  Vgl. auch hierzu bereits die Überlegungen bei Cox, Social Forces, a.a.o., 149 – 151.  Vgl. zu einigen besonders dramatischen Auswirkungen des Klimawandels auf Natur und die Gesellschaft/en u. a. Bernd Sommer, Interdependenzen und Ungleichzeitigkeiten im Kontext des anthropogenen Klimawandels, Leviathan 39:1 (2011), 55 – 72, besonders 59 – 61.  Vgl. David Lammers, Wie steht es um den unternehmerischen Klimaschutz? Eine Zustandsbeschreibung mit Handlungsempfehlungen, in: A. Sihn-Weber & Fr. Fischler (Hg.), CSR und Klimawandel: Unternehmenspotenziale und Chancen einer nachhaltigen und klimaschonenden Wirtschaftstransformation (Berlin: Springer, 2019), 191– 200, der auf 194– 195 feststellt, dass sich ein Großteil der europäischen Unternehmen nach wie vor nicht zum Ziel der Emissionsreduktion bekennt. Vgl. zur Rolle der Parteipolitik am Beispiel Großbritanniens und den USA, Peter Wadhams, Abschied vom Eis. Ein Weckruf aus der Arktis (Berlin: Springer, 2020), 320 – 329, der auf 322 zudem darauf hinweist, dass ausgerechnet die frühere Regierungschefin Großbritanniens, Margaret Thatcher, einmal nicht als Vorkämpferin für die

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Mit einer Fokussierung auf relevante social forces als den eigentlichen Agenten der Entwicklung/en erschließt sich bei einer historisch materialistisch motivierten Vergegenständlichung der internationalen Beziehungen, etwa im Bereich der konflikthaften Klimaschutzpolitik, eine kaum noch überschaubare Menge von Akteursinstanzen, Koalitionen und ihren verschiedenen Projekten. Während auf der Seite des Kapitals zwar ebenfalls diverse Anspruchsgruppen auftreten, lassen sich die Hauptprotagonist/innen anhand ihrer rhetorischen Haltung zu den vordringlich avisierten Maßnahmen⁷¹⁴ noch verhältnismäßig leicht ausfindig machen. Anders sieht es im Lager der Klimaschützer/ innen aus. Dort offenbart eine ungleich größere ‚Heterogenität der Akteursnetzeʻ, ausgedrückt in den Unterschieden „[…] hinsichtlich ihrer Zusammensetzung, ihrer zeitlichen Befristung, ihrer Strategien sowie hinsichtlich der räumlichen Ebenen (scales), auf denen sie an sozialen Auseinandersetzungen beteiligt sind“⁷¹⁵, wie vielfältig die Auswirkungen des kapitalistischen Kapitalverwertungsprozesses und die Grade der Mobilisierung geworden sind. Für die Heuristik des historischen Materialismus bedeutet das, dass sich der theoretische Fokus auf relevante social forces in zweierlei Hinsicht als ergiebig erweist: einmal, weil daraus ersichtlich wird, welche Akteure in welchen Kontexten mit welchen inhaltlichen Forderungen auftreten – damit werden weder die relevanten Akteure noch ihre politische Motivationen ex ante als typische Körperschaften (‚Staatenʻ bzw. ‚Organisationenʻ) mit formal bestimmten Interessen definiert, sondern bei einer konkreten Beschäftigung mit den verfügbaren empirischen Informationen über die realweltlichen Prozesse erschlossen; zum zweiten, weil die Art der politischen Auseinandersetzung besser nachvollzogen werden kann, und zwar mit Blick darauf, welche thematischen Aspekte auf inter- und transnationalen Ebenen überhaupt verhandelt werden, welche Akteure aufgrund ihrer vermeintlich zu ‚radikalenʻ Forderungen Marginalisierungstendenzen unterworfen sind, inwiefern Ausschließungsmechanismen zum Vorteil bestimmter Akteurskoalitionen auf der Seite des Kapitals arbeiten, und inwiefern die Exklusion bestimmter Akteure und ihrer Forderungen möglicherweise oder bereits de facto zu einer Radikalisierung führt.

Liberalisierung und Deregulierung von Märkten sondern als studierte Chemikerin auftrat, um am 08. November 1989 in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen davor zu warnen, „[…] dass eine vom Menschen verursachte Umwelt- oder Klimaveränderung eine selbstverstärkende oder ‚unkontrollierbareʻ Qualität annehmen […] und unumkehrbar sein kann […].“  Vgl. etwa zum geforderten Abschied von fossilen Treibstoffen Eva Friesinger, NGOs und Agrotreibstoffe: Ein spannungsreiches Verhältnis, in: A. Brunnengräber (Hg.), Zivilisierung des Klimaregimes. NGOs und soziale Bewegungen in der nationalen, europäischen und internationalen Klimapolitik (Wiesbaden: VS, 2011), 233 – 262, 237: „Im Detail sind diese Interessen je nach Kapitalfraktion zwar durchaus unterschiedlich, aber grundsätzlich kann ganz allgemein davon ausgegangen werden, dass neben das Interesse an der Maximierung der Gewinnspanne zunehmend eine ökologische Ausrichtung der Unternehmen tritt – oder zumindest lautstark proklamiert wird. Insbesondere die Automobilindustrie und Mineralölkonzerne scheinen mit Agrokraftstoffen ein gewisses ‚greenwashingʻ zu betreiben.  Bedall, Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus?, a.a.O., 150. (Hbg. hinzugefügt)

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Wenn historische Materialist/innen aufgrund ihrer Loyalität für die marginalisierten und unterprivilegierten Kräfte ihre kritischen Analysen der Suche nach Möglichkeiten für eine Realisierung solcher Forderungen nach einem gerechten Wandel widmen, plädieren sie nicht für eine ‚revolutionäreʻ Umgestaltung der weltgesellschaftlichen Verhältnisse⁷¹⁶. Da die etablierten Kräfte ihre Vorherrschaft immer auch auf Mechanismen zur ideologischen Durchdringung der Gesellschaft/en stützen, wäre jede Offensive gegen die internationalen Institutionen des Kapitals nicht nur sofortiger Gegenstand repressiver Maßnahmen, sondern auch einer entsprechenden Propagandaoffensive zu ihrer Rehabilitierung. Entgegen der noch von Marx erhofften Befreiung des Proletariats durch den gewaltsamen Umsturz nach Art eines großangelegten ‚Bewegungskriegsʻ präferieren historische Materialist/innen den allmählichen Umbau der Gesellschaft/en nach Art des ‚Stellungskriegsʻ⁷¹⁷. Mit seiner Stoßrichtung gegen die etablierten Ideologien findet der avisierte Stellungskrieg in erster Linie dort statt, wo organische Intellektuelle zugunsten der herrschenden Kapitalfraktionen an einer Mystifizierung der realweltlichen Verhältnisse arbeiten, indem sie etwa ‚notwendigeʻ Zusammenhänge zwischen empirischen Sachverhalten herausstellen und dabei allzu fundamentale Kritik an den Prämissen und der Methode als unwissenschaftlich sowie den Vorwurf der Ideologie als ‚verschwörungstheoretischʻ motiviert abtun. Im Kontext der akademischen IB lassen sich Momente dieses Kampfes daran erkennen, dass Vertreter/innen des historischen Materialismus nicht nur explizit thematisiert haben, wie neo/realistische und neo/liberale Denkfiguren und Konzepte der hegemonic stability bzw. des international regimes dafür instrumentalisiert worden sind, den Schutz liberal-kapitalistischer Praktiken durch die US-amerikanische Regierung als Ausdruck einer globalen Verantwortung fehlzudeuten⁷¹⁸; wie weiter oben schon einmal kurz erwähnt, haben sie auch darauf hingewiesen, dass neorealistische Theorien an den ‚bestenʻ US-amerikanischen Universitäten vor allem auch aufgrund gezielter finanzieller Zuwendungen sowie tradierter konservativer Denkgewohnheiten in gewissen Spektren der US-amerikanischen Gesellschaft einflussreich bleiben konnten⁷¹⁹. Die Momente der

 Vgl. Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations, a.a.O., 173.Vgl. Cox, The Political Economy of a Plural World, a.a.O., 40: „I advocated a ‚two-track strategyʻ: continuing to use the existing institutions to highlight issues affecting the less fortunate while at the same time putting effort into the building of a civil society that is both nationally based and transnational in its orientation. This has been called ‚globalization from belowʻ.“  Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations, a.a.O., 165: „It means actively building a counter-hegemony within an established hegemony while resisting the pressures and temptations to relapse into pursuit of incremental gains for subaltern groups within the framework of bourgeois hegemony. This is the line between war of position as a long-range revolutionary strategy and social democracy as a policy of making gains within the established order.“  Vgl. Gill, Epistemology, a.a.O., 47; vgl. Augelli & Murphy, Gramsci and International Relations, a.a.O., 140 – 141.  Vgl. Gill, Epistemology, a.a.O., 46 – 47. In dem Zusammenhang ist interessant, dass mit Blick auf die USA „[t]here is considerable agreement among academics that taking the publicʼs desires into account when setting a scientific agenda, i. e., deciding which scientific questions should be prioritized over others, is

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Konfrontation mit dem IB-Mainstream für eine Veränderung der Verhältnisse zu nutzen, bedeutet, dass auch und gerade im Kontext der Wissenschaft immer wieder problematisiert wird, wie sehr sich Wissenschaftler/innen mit dem jeweiligen politischen establishment solidarisieren und das von den etablierten Kräften forcierte Projekt unterstützen, indem sie darin ein Maßnahmenpaket erkennen, das schon per se auf die Herstellung einer ‚internationalen Ordnungʻ gerichtet ist. Die Problematisierung einer Komplizenschaft zwischen Theorie und Praxis im IB-Mainstream ist letztlich kein rein akademisches Unterfangen, sondern dient dem Ziel einer Überwindung der organischen Krisenkonstellation⁷²⁰.

Kritische IB-Theorie als subversiver Widerstand Poststrukturalistische Kritik ist eine Form der kritischen Auseinandersetzung mit den gängigen Anschauungsformen der internationalen Beziehungen, die – immer noch – gewisse Schwierigkeiten aufwirft⁷²¹. Und damit ist nicht zwingend gemeint, dass ihr argumentatives Verfahren, ihre ‚Technikʻ sozusagen, schwer zu ‚erlernenʻ und ‚anzuwendenʻ wäre – die vielen ‚Diskursanalysenʻ, die in einschlägigen Monografien und Zeitschriften zu finden sind, suggerieren das Gegenteil. Es ist eher deswegen der Fall, weil sie an ein historisches bzw. raumzeitliches Bewusstsein appelliert, das von den gängigen Wissensformen in den ‚gebildetenʻ Strata in eine Art komatösen Zustand versetzt worden ist. Wenn gängige Wissensformen in den ‚gebildetenʻ Strata darauf abzielen, das an und für sich Relevante, das an und für sich Typische, das an und für sich Repetitive in den einzelnen ‚Teilbereichenʻ der sozialen Welt zu beschreiben und zu erklären, dann impliziert dieses Verfahren in aller Regel eine vorgängige und oft genug weltanschaulich geprägte Objektivierung sozialer Ereignisse, ihre generalisierende Betrachtung, ihre Vergegenständlichung als zeitlose Phänomene unter Rückgriff auf gängige – und oft gar nicht als solche reflektierte – Anschauungsformen und ihre theoriegeleitete Assoziierung mit vorhergehenden Sachverhalten als vermeintlichen Ursachen, die ihrerseits als objektiv, generell und zeitlos angesehen werden. Der komatöse Zustand des besagten Bewusstseins verhindert, dass die entscheidenden Fragen gegenüber diesem szientistischen Verfahren in den akademischen IB und anderswo überhaupt gestellt werden. Die entscheidenden Fragen richten sich aus

desirable. […] Furthermore, widespread rejection of wellfounded scientific claims due to political bias can endanger the practical application of scientific discoveries given the publicʼs ability to punish political actors through elections and boycott associated products in the marketplace.“ Elizabeth Suhay & James N. Druckman, The Politics of Science: Political Values and the Production, Communication, and Reception of Scientific Knowledge, The Annals of the American Academy of Political and Social Science 658:1 (2015), 6 – 15, 8 – 9.  Vgl. Cox, Social Forces, a.a.O., 130.  Vgl. in diesem Tenor schon Mark Hoffman, Restructuring, Reconstruction, Reinscription, Rearticulation: Four Voices in Critical International Theory, Millennium 20:2 (1991), 169 – 185, 176.

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poststrukturalistischer Sicht nicht darauf, welche weltanschaulich geprägte Objektivierung der internationalen Beziehungen als zwischenstaatliche Beziehungen fundierter, welche Generalisierung und theorieabhängige Vergegenständlichung staatlicher Interaktionen stimmiger und welche (formal)theoriegeleitete Erklärung staatlichen Entscheidungshandelns zutreffender ist. Das Problem bei all diesen Schritten ist, dass sie – pragmatisch oder kategorisch – bereits eine Wirklichkeit der internationalen Beziehungen mit sinnhaften Konturen voraussetzen, die als Maßstab für die Beurteilung wissenschaftlicher Aussagen über diese Wirklichkeit herhalten könnte. Der komatöse Zustand, in den das wissenschaftliche Bewusstsein durch die gängigen Wissensformen in den ‚gebildetenʻ Strata versetzt worden ist, zeichnet sich obendrein durch eine Reflexionsunfähigkeit angesichts völlig absurder Forderungen aus, dass poststrukturalistische Kritik demonstrieren soll, dass die von ihr propagierte Art der Wissenschaft nicht in Relativismus bzw. Nihilismus führt⁷²². Der neuralgische Punkt ist schlicht und ergreifend der, dass „[p]oststructuralism cannot claim to offer an alternative position or perspective, because there is no alternative ground upon which it might be established“.⁷²³ Aus poststrukturalistischer Sicht sind die entscheidenden Fragen an jedes anspruchsvolle sozialwissenschaftliche Verfahren viel grundsätzlicher, insofern sie sich darauf richten, wie man damit umgehen soll, dass die Ereignisse der sozialen Welt als solche nicht einfach da sind; dass die Objektivierung bestimmter Sachverhalte, wie zum Beispiel ‚Kriegʻ, immer ein Stück weit willkürlich, weil sie von weltanschaulichen Voreingenommenheiten geprägt ist; dass jede Generalisierung von Sachverhalten mit Hilfe bestimmter Theorien eine ahistorische Gleichförmigkeit dieser Sachverhalte unterstellt, die inhärente Besonderheiten und Unterschiede zwischen diesen Sachverhalten negiert; und dass jede Behauptung über Kausalitäten zwischen realweltlichen Sachverhalten tiefgehende erkenntnistheoretische Aporien ignoriert. Im Gegensatz zum Bewusstsein der modernen Sozialtheorie lehnt es eine kritische poststrukturalistische Haltung grundsätzlich ab, all diese ungeklärten Probleme zugunsten eines vermeintlich höheren Zwecks, sei es ein imaginärer

 Vgl. dazu explizit Robert O. Keohane, International Relations Theory: Contributions of a Feminist Standpoint, Millennium 18:2 (1989), 245 – 253, 249 – 250.Vgl. dazu auch zwanzig Jahre später (!) immer noch derselbe, Political Science as a Vocation, PS:Political Science & Politics 42:2 (2009), 359 – 363, 362– 363. Was für neo/positivistische Mainstream-Vertreter/innen wie Keohane et al ganz offensichtlich so schwierig zu akzeptieren gewesen ist, betrifft ihre Rolle als verantwortliche (Mit‐)Konstrukteure der Welt, in der wir alle leben. Aber der Vorwurf des Relativismus/Nihilismus hat sich auch bei Vertreter/innen anderer epistemologischer Überzeugungen erhalten, vgl. die Position der sogenannten ‚Standpunktepistemologieʻ bei Milja Kurki, Stretching Situated Knowledge: From Standpoint Epistemology to Cosmology and Back Again, Millennium 43:3 (2015), 779 – 797, 784; und vgl. die Haltung des kritischen Realismus, wie sie bei Manuel Iretzberger & Bernhard Stahl, Politikrelevanz und Handlungsempfehlungen in den Internationalen Beziehungen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 25:2 (2018), 64– 95, auf 83 kurz referiert wird.  Vgl. Richard K. Ashley, Living on Border Lines: Man, Poststructuralism, and War, in: James Der Derian & Michael J. Shapiro (Hg.), International/Intertextual Relations: Postmodern Readings of World Politics (New York: Lexington, 1989), 259 – 321, 278.

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‚wissenschaftlicher Fortschrittʻ, oder sei es die ‚Verbesserung der Weltʻ, pragmatisch zu bejahen.

Die Un/Zeit der ‚Morgenröteʻ in den akademischen IB Die ersten Formen dezidiert poststrukturalistischer Kritik in den IB kamen während der 1980er Jahre zum Vorschein und ähnelten den Beiträgen aus dem Feld des historischen Materialismus in ihrer Stoßrichtung. Ein gemeinsamer Nenner beider Haltungen lag in der Prämisse, dass sich menschliches Dasein durch eine raumzeitliche Verortung in Gesellschaft auszeichnet und deswegen immer durch weithin geteilte Ideen, Vorstellungen und Normen, vermittelt durch ein breites Sammelsurium begrifflicher Kategorien, strukturiert wird. Menschen handeln insofern im Kontext einer ‚erfahrbarenʻ Materialität realweltlicher Entwicklungen, als sie dieser Materialität unter dem Einfluss bestimmter konzeptueller Gesichtspunkte Bedeutung zuschreiben, die in der jeweiligen Gesellschaft verfügbar und anerkannt sind. Für Sozialwissenschaftler/innen gilt diesbezüglich genau dasselbe. Für Poststrukturalist/innen war die Entstehung solcher konzeptuellen Gesichtspunkte freilich viel weniger direkt auf kapitalistische Produktionsweisen zurückzuführen, als für die Vertreter/innen des historischen Materialismus, die, wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, im Wesentlichen zwischen zwei grundsätzlichen Verortungen im Kontext der modernen Gesellschaft unterschieden: einer privilegierten Position innerhalb des ‚Kapitalsʻ bzw. der‚Bourgeoisieʻ bzw. des ‚Zentrumsʻ einerseits, und einer subalternen Position innerhalb des Milieus der ‚Arbeitʻ bzw. des ‚Proletariatsʻ bzw. der ‚Peripherieʻ andererseits. In Aufweichung der generalisierenden Annahme, diese beiden Positionierungen wären trotz ihrer raumzeitlichen Gebundenheit gleichbedeutend mit strukturellen Abhängigkeiten, die sich wiederum in einem mehr oder weniger spezifischen ‚Klassenbewusstseinʻ manifestierten, vertraten Poststrukturalist/innen die Ansicht, dass sich Menschen in symbolischen Interaktionen engagierten, ohne dabei immer nur von bestimmten sozioökonomischen Verhältnissen geprägt zu sein. In ihrem situativ aufeinander bezogenen Verhalten könnten Menschen stattdessen auch bzw. stärker von milieuspezifischen, geschlechtsspezifischen, altersspezifischen, religiösen, ethnischen, nationalen und diversen anderen Prägungen beeinflusst sein. Anstatt die Wirklichkeit also mit einem besonderen oder gar exklusiven Blick für die symbolischen Ressourcen zu rekonstruieren, die für typisch kapitalistische Lebenswelten charakteristisch sind, wäre der ‚metaphysische Glaubeʻ an die Rolle der Ökonomie als ‚Basisʻ einzuklammern⁷²⁴ und stattdessen von vielen lebensweltlichen Wirklichkeiten auszugehen, die mehr oder weniger spannungsgeladen nebeneinander existierten⁷²⁵.  Vgl. u. a. Ernesto Laclau & Chantal Mouffe, Hegemony & Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics (London: Verso, 1985), 85.  Vgl. für die Rezeption dieses Gedankens im Kontext der IB die ‚klassischenʻ Texte von R.B.J. Walker, One World, Many Worlds: Struggles for a Just World Peace (Boulder: Lynne Rienner, 1988), der sich auf die

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Für die Zwecke der Erforschung solcher Lebenswelten wäre wie im historischen Materialismus davon auszugehen, dass der jeweilige soziale Raum vermachtet ist, und dass sich die Stratifikation der Gesellschaft im Großen wie im Kleinen auf die Befindlichkeiten ihrer Angehörigen auswirkt. Im Unterschied zum historischen Materialismus und seiner Betonung der gesamtgesellschaftlichen Ressourcenverteilung würden sich nach dem Dafürhalten vieler Poststrukturalist/innen bei den Formen und Auswirkungen der Macht allerdings zum einen die vielfältigen Institutionen der Gesellschaft stärker bemerkbar machen. In der sogenannten ‚Disziplinargesellschaftʻ⁷²⁶ wären Sichtweisen und Überzeugungen der Menschen stärker geformt durch ihre Rollen im Kontext bürokratisch organisierter Praktiken, wie eben solchen der ‚Bildungʻ, der ‚Rechtspflegeʻ, der ‚Medizinʻ, der ‚Psychiatrieʻ usw. Die jeweilige Kompetenzverteilung in solchen Bereichen, in der Regel gekoppelt an einschlägige job titles, wäre konstitutiv für entsprechende Beziehungen der Über- und Unterordnung im Sinne einer sogenannten micro-physics of power ⁷²⁷. Und in dem Maß, wie sich die Bürokratie des modernen Staates seit dem 19. Jahrhundert als Institutionengefüge mit eigenem telos in diese Bereiche einzumischen begann⁷²⁸, wurden die Formen und Auswirkungen der Macht zum anderen durch staatliche ‚Dispositiveʻ⁷²⁹ vermittelt. Dieser letzte Gesichtspunkt ist insofern relevant für die akademische Diskussion über die internationalen Beziehungen, als die Disziplin ihre Institutionalisierung von Anfang an solchen staatlichen Dispositiven verdankte⁷³⁰, die unablässig dafür gesorgt

Lebenswelten kritischer sozialer Bewegungen bezieht und ihre Pluralität auf 136 in „[…] the proliferation of histories, experiences and identities […]“ erkennt; und von Richard K. Ashley & R.B.J. Walker, Speaking the Language of Exile: Dissident Thought in International Studies, International Studies Quarterly 34:3, Special Issue (1990), 259 – 268, 260, die auf die vielen marginal sites verweisen „[…] where genres blur, narratives of knowing and doing intesect in mutually destabilizing ways, contingency threatens to displace necessity, the very identity of the subject is put in doubt, and human beings live and toil as exiles, deprived of any absolute territory of being to call home.“  Vgl. Michel Foucault, Discipline and Punish: The Birth of the Prison (New York:Vintage, 1995), 216: „On the whole, therefore, one can speak of the formation of a disciplinary society in this movement that stretches from the enclosed disciplines, a sort of social ‚quarantineʻ, to an indefinitely generalizable mechanism of ‚panopticismʻ. Not because the disciplinary modality of power has replaced all the others; but because it has infiltrated the others, sometimes undermining them, but serving as an intermediary between them, linking them together, extending them and above all making it possible to bring the effects of power to the most minute and distant elements. It assures an infinitesimal distribution of the power relations.“  Vgl. ebda, 26 – 31. (Hbg. hinzugefügt)  Vgl. ebda, 216 – 217.  Vgl. Michel Foucault, Dispositive der Macht: Über Sexualität, Wissen und Wahrheit (Berlin: Merve, 1979), 119 – 120: „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“  Vgl. Kees van der Pijl, The Wages of Discipline: Rethinking International Relations as a Vehicle of Western Hegemony, Spectrum: Journal of Global Studies 4:1 (2012), 5 – 26, 13: „The development of a de-

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haben, dass die populärsten akademischen Normalfallbeschreibungen der internationalen Politik im IB-Mainstream im Wesentlichen deckungsgleich mit den Wirklichkeitskonstruktionen der jeweiligen Regierungsnetzwerke waren. Es ist daher nur konsequent, dass sich auch im poststrukturalistischen Diskurs der IB eine kritisch motivierte Diskussion über typische Anschauungsformen des Gegenstandsbereichs der internationalen Beziehungen erkennen lässt; einerseits, weil die strategischen Praktiken staatlicher Regierungsnetzwerke in einem durch (teils extrem) konservative Annahmen vorkonfigurierten Raum stattgefunden und einen entsprechenden Kosmos mit spezifischen Wirklichkeitsvorstellungen reproduziert haben; und andererseits, weil sich akademische Fragen im IB-Mainstream auf Gesetzmäßigkeiten konzentriert haben, die in diesem Kosmos vermeintlicherweise wirken. Der ‚Staatʻ nahm daher auch im Kontext der poststrukturalistischen Diskussion eine zentrale Rolle ein, weil begriffliche Vorstellungen vom Staat einerseits zu „[…] the most effective interpretive dispositions and practical orientations [gehörten] by which women and men, statesmen and entrepreneurs go about their business, interpret ambiguous circumstances, impose meaning, discipline and exclude resistant interpretations, and participate in the construction of the conditions, limits, dilemmas, and prevailing ways of knowing and doing that we take to be the familiar truths of global life.“⁷³¹ Andererseits empfahl sich für Poststrukturalist/innen die kritische Beschäftigung mit dem ‚Staatʻ und der ‚Anarchieʻ, weil im Kontext des IB-Mainstreams aufgrund der dort vorherrschenden szientistischen Überzeugungen so gut wie überhaupt keine Sensibilität dafür zu erkennen war, dass die im Kontext der US-amerikanischen bzw. britischen Regierungsnetzwerke in pragmatischer Manier geteilten Vorstellungen vom Staat gerade nicht ‚natürlichʻ, selbstverständlich oder gar objektiv sein können⁷³². „If you are a member of a foreign policy élite – say in the British Foreign Office or the US National Security Council, or, in the US, one of the think-tanks staffed by the sort of people who might end up in the NSC – you will already tend to think in the realist way.“⁷³³ Mithin gab es aus poststrukturalistischer Sicht in der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts

dicated discipline of IR accompanied the projection of US power in Europe under Woodrow Wilson. This concerned both the development of an expressly political IR, deployed (by implication rather than overt critique) against the political-economic, mostly Marxist theories of imperialism; and a Comparative Politics of nation-building that would rise to prominence in the era of decolonisation. Woodrow Wilsonʼs response to the Russian Revolution entailed the conscious adoption of a strategy of propagating the nation-state form as a container of democratic change, and this intervention would have long-lasting effects which still today play out in for instance the creation of Western-friendly regimes in e. g. the former Yugoslav and Soviet republics.“  Richard K. Ashley, Untying the Sovereign State: A Double Reading of the Anarchy Problematique, Millennium 17:2 (1988), 227– 262, 228.  Vgl. David Campbell & Roland Bleiker, Poststructuralism, in: T. Dunne, M. Kurki & St. Smith (Hg.), International Relations Theories: Discipline and Diversity, 5th Edition (Oxford: Oxford University Press, 2021), 197– 219, 200.  Carne Ross, Independent Diplomat. Dispatches from an Unaccountable Elite (Ithaca. Cornell University Press, 2007), 120 – 121.

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jedoch überhaupt keinen plausiblen Grund dafür, ‚realistischeʻ Vorstellungen und Denkweisen über den ‚Staatʻ, seine ‚Souveränität, seine ‚harmonischeʻ Innenwelt, seine ‚anarchischeʻ Außenwelt, seine ‚Bedürfnisseʻ und ‚Interessenʻ aus dem Kontext imperialistischer Regierungspraktiken einfach unhinterfragt als Gemeinplätze in die akademische Diskussion über die internationalen Beziehungen zu übersetzen⁷³⁴. Nicht nur konkurrierten diese konservativen Vorstellungen und Denkweisen über den ‚Staatʻ, seine vermeintliche ‚Souveränitätʻ und seine ‚anarchischeʻ Außenwelt mit anderen weltanschaulich imprägnierten Vorstellungen/Denkweisen, die mindestens genauso plausibel waren; was schlicht und ergreifend bedeutete, dass jede im Kontext der außenpolitischen Praxis geteilte Vorstellung „[…] as an arbitrary political construction [anzusehen wäre] that is always in the process of being imposed.“⁷³⁵ Viel entscheidender war aufgrund des Fehlens objektiver analytischer Kriterien, dass diese ‚realistischenʻ Vorstellungen und Denkweisen über den Staat in ethischer Hinsicht problematisch geworden waren, insofern sie den ‚Staatʻ und seine (rationalen) ‚Interessenʻ gegenüber anderen Bezugsgrößen, wie zum Beispiel der menschlichen Weltgesellschaft oder dem globalen Ökosystem, moralisch überhöhten⁷³⁶. Und genau deswegen berief sich die kritische Haltung des Poststrukturalismus in den akademischen IB von Anfang an auf ethische Kriterien, die ihren Protagonist/innen im Feld der IB u. a. den Auftrag gaben, „[…] to resist the restriction of moral spaces to a state-oriented geographic imaginary.“⁷³⁷ Dieses Problem der fehlenden Sensibilität für die Willkür der etablierten Sprachpraxis ist aus kulturhistorischen Gründen für die akademische Diskussion in den USA immer schon ganz besonders virulent gewesen, gilt es doch an den ‚bestenʻ Universitäten des Landes traditionell als Qualitätsmerkmal, wenn theoriegeleitete Forschung für die politische Praxis ‚relevantʻ ist, wenn die Fachvertreter/innen ‚praktische politische Erfahrungenʻ mitbringen und die US-amerikanische Regierung beraten oder zeitweise sogar als ‚Expert/innenʻ in der Regierungsbürokratie mitarbeiten können. Die unver Vgl. R.B.J. Walker, World Politics and Western Reason: Universalism, Pluralism, Hegemony, Alternatives 7:2 (1981), 195 – 227, auf 200: „Any analysis of world politics made in terms of the traditional liberal model begins with the assumption that a sharp dichotomy can and must be made between the nature of life within sovereign stantes and the interactions that occur between such states.“ Und auf 203: „In fact, however, there is a recurring suspicion that the classical model, championed by traditionalists as ‚realismʻ, may well mark a theoretical and political naivety of a most obtuse and dangerous kind.“  Ashley, Untying the Sovereign State, a.a.O., 229.Vgl. auch Campbell & Bleiker, Poststructuralism, a.a.O., 198.  Vgl. ebda, 200: „Critical scholars were dissatisfied with the way realism – and its revivification at that time through neorealism – remained powerful in the face of new global transformations. These scholars felt that realism marginalized the importance of new transnational actors, issues, and relationships and failed to hear (let alone appreciate) the voices of excluded peoples and perspectives. As such, poststructuralism began with an ethical concern to include those who had been overlooked or excluded by the mainstream of IR.“  David Campbell & Michael J. Shapiro, Introduction: From Ethical Theory to the Ethical Relation, in: dieselben (Hg.), Moral Spaces: Rethinking Ethics and World Politics (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1999), vii-xx, xvii.

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meidliche Folge daraus ist neben der unhinterfragten weltanschaulichen Voreingenommenheit auch eine eigentümliche Betriebsblindheit der akademischen Expert/innen aufgrund ihrer partisan perspective gegenüber der US-amerikanischen Regierungspraxis, ohne die eine konstruktive Mitarbeit dort gar nicht möglich wäre. Nicht selten hat besagte Voreingenommen- und Betriebsblindheit in eine emphatische Teilnahme akademischer ‚Expertenʻ an der außenpolitischen Praxis umgeschlagen, hat sich die Rolle des distanzierten academic analyst of war in diejenige des patriotischen warrior academic verwandelt⁷³⁸. Das Werben für eine poststrukturalistische Sensibilität musste in diesem Kontext zwangsläufig zur Unzeit kommen. Die ‚bestenʻ Vertreter/innen des IB-Mainstreams ignorierten nicht nur den Hinweis auf die Gefahren einer Komplizenschaft der Disziplin mit der außenpolitischen Praxis, sie verteidigten auch tradierte Grenzziehungen zwischen imaginären disziplinären Gegenstandsbereichen ‚des Rechtsʻ, ‚der Ökonomieʻ und ‚der Politikʻ, zwischen ‚Innen-ʻ und ‚Außenpolitikʻ, und zwischen ‚wissenschaftlichenʻ und ‚unwissenschaftlichenʻ Untersuchungsformen⁷³⁹. Ob aus Willfährigkeit, Überzeugung oder Opportunismus, die führenden Vertreter/innen des amerikanisierten IBMainstreams haben die internationalen Beziehungen nicht als Wissenschaftler/innen,

 Zwei prominente Beispiele dafür wären die partisan perspectives von John J. Mearsheimer und Stephen D. Krasner. Ersterer, Absolvent der Militärakademie in West Point, Offizier der Luftwaffe, Mitarbeiter am Council on Foreign Relations und Professor für Politikwissenschaft an der University of Chicago, sah keinen Widerspruch darin, als Akademiker an der Planung der US-Militärintervention in Libyen anno 2011 teilzunehmen und die Strategie des offshore balancing zu empfehlen; vgl. auch John J. Mearsheimer, A Return to Offshore Balancing, Newsweek, 30. Dezember 2008, https://www.newsweek.com/return-offshore-balancing-82925 (zuletzt aufgerufen am 28.09.22). Letzterer, Absolvent der Harvard Kennedy School und Professor für Internationale Beziehungen an der Stanford University, arbeitete ab 2001 in wechselnden Funktionen für die US-Regierung, bevor er sich ab 2005 als Director of the Policy Planning Staff at the U.S. Department of State mit Strategien zur ‚Umwandlungʻ von ‚semi-souveränenʻ Staaten in der eurasischen Region, z. B. der Ukraine, in ‚demokratische Staatenʻ beschäftigte. Vgl. das einschlägige ‚Manifestʻ von Krasner & Carlos Pascual, Addressing State Failure, Foreign Affairs 84:4 (2005), 153 – 163, 160: „If the United States and the rest of the international community do not understand and plan for long-term transitions in advance, the chances of success diminish. Elections are generally not an endpoint, but only one of many necessary steps to build local legitimacy. International actors must be able to shift out of crisis-response mode to supply normal support mechanisms without losing attention or commitment. There will inevitably be international disillusionment with slow progress as countries take control of their own reconstruction and struggle to use the aid they are given. At this point, leadership from the White House and Congress will be key [sic!]. Decision-makers must maintain a long-term perspective and remember that, although the complexity of transition is frustrating, cutting off funding only increases the likelihood that a country may lapse into chaos.“ (Hbg. hinzugefügt) Was das heißen kann, wird deutlicher bei einem Blick in den Rest von Krasnerʼs ‚scholarshipʻ, vgl. etwa Krasner & Jeremy M. Weinstein, Improving Governance from the Outside In, Annual Review of Political Science 17:1 (2014), 123 – 145, 126: „Of course, any assessment of the efficacy of different policies for achieving institutional change is complicated by the fact that these instruments are not deployed at random. Force is costly and may only be used for ambitious objectives (regime change as opposed to changing specific institutions or policies) when other policies have failed.“  Vgl. Walker, Out of Line, a.a.O., besonders 17– 22.

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sondern mit der Identität von Praktiker/innen vergegenständlicht⁷⁴⁰. Deswegen überrascht es auch nicht, dass alle Versuche der Sensibilisierung für die Willkür etablierter Redeweisen, wie eben derjenigen über den ‚Staatʻ und seine ‚Bedürfnisseʻ/‚Interessenʻ, im amerikanisierten Mainstream ganz grundsätzlich als Relevanzverlust der akademischen IB empfunden wird und zu hysterischem Alarmismus führt⁷⁴¹. Aus wissenschaftlicher Sicht bedenklich wird es, wenn dieselbe Voreingenommen- bzw. Betriebsblindheit und die sie umtreibende Suche nach praktischer Relevanz exportiert und auch anderswo zum vorrangigen Qualitätsstandard der Disziplin IB erhoben wird; wenn etwa auch in Deutschland Stimmen Resonanz erfahren, die das akademische Personal in einer ähnlich willfährigen und unreflektierten Manier dazu anhalten, „[s]ich mit Fragen zu beschäftigen, die politischen Entscheidungsträgern oder der Gesellschaft auf ‚den Nägeln brennenʻ [… und] das Gespräch mit Politikern, Militärs oder Beamten aus den Ministerien […]“⁷⁴² zu suchen. Und noch bedenklicher wird es, wenn sich die ambitioniertesten Nachwuchswissenschaftler/innen damit brüsten, solche Gespräche zum

 Die Liste derjenigen Fachvertreter/innen, die während ihrer Karriere die US-Regierung berieten bzw. sich direkt in Projekte des State Department, des Department of Defense (Pentagon), oder der CIA einbinden ließen, ist dementsprechend lang und liest sich wie das who-is-who der Disziplin seit ihren allerersten Anfängen: Zu diesen Namen gehör(t)en u. a. Edward Strobel, Chester Llloyd Jones, Paul S. Reinsch, Leo S. Rowe, Frank Goodnow, Westel W. Willoughby, Charles Merriam, William F. Willoughby, James K. Pollock, Ralph Bunche, Harold D. Lasswell, Hans J. Morgenthau, Carl J. Friedrich, Gabriel Almond, Merle Fainsod, Reinhold Niehbuhr, Bernard Brodie, Thomas Schelling, David Mitrany, Karl W. Deutsch, Walt W. Rostow, Ernst B. Haas, Graham Allison, Samuel Huntington, Charles P. Kindleberger, Stanley Hoffmann, Klaus Knorr, Joseph Nye Jr., John Ruggie,William R. van Cleave, Robert Jervis, Kenneth N.Waltz, Bruce Bueno de Mesquita, Bruce Russett, Stephen D. Krasner, Philip Zelikow, Amitai Etzioni, Fred Iklé, Stephen Rosen, Henry Rowen, Morton Halperin, Anthony Lake, Robert Art, Richard Betts, Eliot A. Cohen, Michael Doran, Richard Feinberg, James Goldgeier, Richard Herrmann, G. John Ikenberry, Bruce Jentleson, Robert H. Johnson, Colin Kahl, Lawrence Korb, Matthew Kroenig, Charles Kupchan, F. Stephen Larrabee, Thomas Mahnken, Michael Mastanduno, Michael McFaul, Theodore Moran, Gideon Rose, David Shambaugh, Anne Marie Slaughter, Charles Stevenson, Richard Ullman, Celeste Wallander, Amy Zegart, Philip Zelikow, Ruth Wedgwood, Harold H. Koh. Vgl. dazu Ido Oren, The Enduring Relationship Between the American (National Security) State and the State of the Discipline, PS: Political Science & Politics 37:1 (2004), 51– 55; Vgl. auch van der Pijl, The Discipline of Western Supremacy, a.a.O., besonders 95 – 141; und Vgl. Randolph B. Persaud, Ideology, Socialization and Hegemony in Disciplinary International Relations, International Affairs 98:1 (2022), 105 – 123, 112.  Vgl. etwa erst jüngst die hitzige Debatte über Vor- und Nachteile einer schwindenden Praxisrelevanz der akademischen IB in den USA, die sich an den Beitrag von Joseph S. Nye Jr., Scholars on the Sidelines, Washington Post, April 13 (2009), A15 angeschlossen hatte. Für einen Kommentar mit Blick auf die Konsequenzen daraus für die (American) security studies, vgl. Michael Desch, Technique Trumps Relevance: The Professionalization of Political Science and the Marginalization of Security Studies, Perspectives on Politics 13:2 (2015), 377– 393. Vgl. zudem die teils kritischen Reaktionen darauf von Ido Oren, Laura Sjoberg, Helen Louise Turton, Erik Voeten und Stephen M. Walt im selben Heft.  Carlo Masala, Die Zukunft der deutschen Politikwissenschaft, Zeitschrift für Politikwissenschaft 27:1 (2017), 73 – 74, 74.

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Beispiel mit dem diplomatischen Korps auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse ‚erfolgreichʻ geführt zu haben⁷⁴³.

Kritisches Denken bestimmt sich durch Nonkonformismus Aus einer kritischen poststrukturalistischen Haltung ist die Solidarisierung des akademischen Personals mit den Staatsapparaten schon immer suspekt gewesen, ganz gleich, unter welcher ‚schönenʻ Form der betreffende Staat in den offiziellen Redeweisen firmiert bzw. welche ästhetischen Attribute seine Adepten ihm zuschreiben. Aus einer kritischen poststrukturalistischen Haltung verdienen alle Regierungsapparate zunächst einmal uneingeschränktes Misstrauen, da sie sich immer einer wirksamen demokratischen Kontrolle durch die vernünftige Gesellschaft zu entziehen suchen und letzten Endes auf willkürliche Gewalt stützen⁷⁴⁴. Alle opportunistischen Aufrufe zur Anbiederung an den ‚Staatʻ und seine Dispositive zugunsten einer größeren ‚Relevanz der Forschungʻ sind aus dieser Warte nichts anderes gewesen als Versuche der Disziplinierung allzu selbständigen Denkens, denen gegenüber Widerstand zu leisten wäre, und zwar durch einen Prozess, der „[…] alienates familiar language […], dismantles fixed oppositions and hierarchies […], and challenges literary conventions […]. The method is to disturb habitual ways of thinking and acting in international relations; the goal is to provide new intelligibilities and alternative possibilities for the field.“⁷⁴⁵ Der Umstand, dass sich diese Sensibilität an den Rändern der amerikanisierten IB während der 1980er Jahre so offen artikulierte, war kein Zufall. Die enorme Popularität der neorealistischen Theorieperspektive seit den 1970er Jahren ließ erkennen, dass es die führenden Vertreter/innen des amerikanisierten IBMainstreams im Kontext des Ost-West-Konflikts immer weniger vermocht hatten, sich von den professionellen und diskursiven Zwängen eines Wissenschaftssystems zu befreien, das der US-amerikanische warfare state schon seit dem Ende des Ersten Welt-

 Vgl. etwa Elvira Rosert, Die Internationalen Beziehungen auf dem Rückzug? Warum Professionalisierung und Praxisrelevanz kein Widerspruch sind, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 12:1 (2019), 113 – 132, 128: „Doch gerade auf Basis meiner jahrelangen abstrakten Auseinandersetzung mit internationalen Normen und der detaillierten Erforschung konkreter Verregelungsprozesse im Bereich des humanitären Völkerrechts konnte ich einen Vorschlag erarbeiten, wie man autonome Waffensysteme, die seit einigen Jahren bei der Konferenz über besondere konventionelle Waffen in Genf diskutiert werden, völkerrechtlich regulieren kann [sic!]. Die Idee fand nicht nur bei den Aktivistʼinnen auf Twitter Widerhall, sondern diente auch als Basis für mehrere Gespräche mit Vertreterʼinnen des Auswärtigen Amtes, des deutschen und des Europäischen Parlaments sowie politischer Stiftungen.“  Vgl. Jacques Derrida, The ‚Worldʻ of the Enlightenment to come (Exception, Calculation, Sovereignty, Research in Phenomenology 33:1 (2003), 9 – 52, 47: „Every sovereign state is in fact virtually and a priori in a state [en état] to abuse its power and, like a rogue state, transgress international law. […] The stateʼs use of power is originally excessive and abusive.“  James Der Derian, The Boundaries of Knowledge and Power in International Relations, in: derselbe & Shapiro (Hg.), International/Intertextual Relations, a.a.O., 3 – 10, 4.

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kriegs angefangen hatte, sich dienstbar zu machen. Offensichtlich hatten es die ‚bestenʻ Fachvertreter/innen an den ‚bestenʻ Universitäten dann vor allem im Zuge der ‚konservativen Bewegungʻ⁷⁴⁶ immer schwerer, ihre Identitäten als Wissenschaftler/innen zu finden und für die paradoxe Suche nach der‚Wahrheitʻ einzutreten. Dabei ist es nicht so, dass sich eine kritische poststrukturalistische Haltung durch eine bereits erfolgte ‚Emanzipationʻ von diesen Zwängen auszeichnete und als Schulmeisterin auftreten wollte. Schließlich war klar that „[t]he cultural field of international relations [is] populated by subjects who are disciplined and discipline one another […]: it [poststructuralism] cannot effect a critical break from a prevailing subjectivity ever disposed complacently to affirm the self-evidence of its familiar, taken for-granted existence […].“⁷⁴⁷ Den Protagonist/innen dieser Haltung war mit anderen Worten immer bewusst, dass es unrealistisch ist, sich völlig aus der Umklammerung durch die Dispositive der Macht und die von ihnen angestoßenen Subjektivierungsmechanismen zu lösen⁷⁴⁸. Deswegen ging es angesichts einer zunehmenden Verengung der Denkhorizonte durch den ausgreifenden Diskurs der nationalen Sicherheit eher um die konsequente Beherzigung der Einsicht, dass „[t]he political task, in a time of closure and danger, is to try to open up that which is enclosed, to try to think thoughts that stretch and extend the normal patterns of insistence.“⁷⁴⁹ Die poststrukturalistische Haltung, die sich parallel zu derjenigen des historischen Materialismus, während der 1980er Jahre im peripheren kritischen Spektrum der akademischen IB herauszubilden begann, rieb sich in substanzieller Hinsicht an der offensichtlichen Bereitschaft im akademischen IB-Mainstream, das radikale politische Projekt der Neokonservativen im US-amerikanischen Regierungssystem durch den Import entsprechender Kategorien in den akademischen Kontext zu unterstützen⁷⁵⁰. Dieses neokonservative Projekt richtete sich einerseits auf eine forcierte Militarisierung cum Nuklearisierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik⁷⁵¹ und andererseits auf die  Vgl. dazu Bruce J. Schulman, Rightward Bound: Making America Conservative in the 1970s (Cambridge: Harvard University Press, 2008), 3.  Richard Ashley, The Achievements of Poststructuralism, in: Smith, Booth & Zalewski, International Theory, a.a.O., 240 – 253, 249.  Vgl. Jenny Edkins & Véronique Pin-Fat, in: dieselben & Michael J. Shapiro (Hg.), Sovereign Lives: Power in Global Politics (New York: Routledge, 2004), 1– 21, 5.  William E. Connolly, Identity and Difference in Global Politics, in: Der Derian & Shapiro, International/Intertextual Relations, a.a.O., 323 – 342, 338 (Hben hinzugefügt).  Vgl. Simon Dalby, Dealignment Discourse: Thinking Beyond the Blocs, Current Research on Peace and Vio-lence 13:3 (1990), 140 – 154, 141– 142; vgl. dazu auch den Versuch der Dekonstruktion entsprechender ‚Texteʻ der nuclear strategies von 1984 in den USA und Frankreich bei Diane Rubenstein, Hate Boat: Greenpeace, National Identity, and Nuclear Criticism, in: Der Derian & Shapiro, International/Intertextual Relations, a.a.O., 231– 255.  Vgl. Dalby, Dealignment Discourse, a.a.O., 142: „In the 1970s, led by organisations like the Committee on the Present Danger in the US, the political right mounted a campaign to reassert the primacy of cold war military containment as the most important priority for US policy. To support this contention they rearticulated the security discourses of the 1950s again, linking a realist focus on power politics with a

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Herstellung günstiger Akkumulationsbedingungen für die US-amerikanischen Konzerne in globalem Maßstab⁷⁵². Die kritische Haltung gegenüber diesem politischen Projekt speiste sich aus einer allgemeineren intellektuellen Befindlichkeit, die sich zwar als solche auch wieder auf Gramsci zurückführen ließ, die aber eher von Adorno, Althusser und Foucault einer eingehenderen Klärung unterzogen worden war. Ihr gemeinsamer Nenner bestand in der weiter oben schon erwähnten Annahme, dass die moderne Gesellschaft im bürgerlichen Staat einen hierarchischen, vermachteten und stratifizierten Komplex darstellt, der den Bereich des Sozialen unablässig der Formung und Disziplinierung unterwirft. Die ‚ideologischen Staatsapparateʻ⁷⁵³ und ‚Regierungsdispositiveʻ hätten schon seit dem 19. Jahrhundert in allen westlichen Staaten erheblichen Aufwand betrieben, um über entsprechende Aus/Bildungsprogramme kognitive und kommunikative Fähigkeiten herzustellen, die aus den Menschen im Staat angepasste ‚Subjekteʻ mit kleinbürgerlichen Präferenzen bzw. ‚staatsbürgerlichenʻ Loyalitäten werden ließen⁷⁵⁴; die mit der Gewährung formal gleicher bürgerlicher ‚Freiheitenʻ in einem Kontext materialer Ungleichheit die Möglichkeitsbedingungen für die Entstehung von Solidarität zwischen Angehörigen verschiedener ‚Klassenʻ und/oder ‚Nationenʻ verhinderten; und die im Zuge einer Ausweitung der Verantwortung sowohl staatlicher (Recht; Bildung) als auch gesellschaftlicher Institutionen (Familie; Medizin; Arbeit) für das individuelle ‚Wohlergehenʻ die Möglichkeitsbedingungen für eine harmonische Subjektivität bei vielen verschütteten⁷⁵⁵. Seit den 1970er Jahren zeichneten sich insbesondere die US-amerikanischen ‚Staatsapparateʻ und ‚Regierungsdispositiveʻ durch „[…] a ranting eulogy of technology […]“⁷⁵⁶, eine Verengung des Sagbaren hinsichtlich nationaler Verteidigung als Praxis internationaler Sicherheit⁷⁵⁷ sowie weitergehende Bemühungen zur anwendungsorientierten Verwissenschaftlichung der akademischen IB aus⁷⁵⁸. Für kritische Poststrukturalist/innen bestand die Herausforderung demgegenüber im Kampf gegen solche Machtmechanismen „[…] as they work to impose and fix ways of knowing and doing that shall be recognized as natural and necessary to autonomous being. They work to produce effects of presence, of identity, of a territorial ground and origin of meaning.“⁷⁵⁹ Angesichts der Gemachtheit aller existierenden Institutionen,

hostile Sovietological perspective and coupling the traditional themes of geopolitics with a revision of the late 1950s plans for nuclear war fighting strategies. This provided them with an effective ideological perspective to mobilise opinion against a Soviet Union that could easily be portrayed as the aggressor in Afghanistan and elsewhere.“  Vgl. Gray, False Dawn, a.a.O., 103 – 110  Vgl. Louis Althusser, Marxismus und Ideologie: Probleme der Marx-Interpretation (Berlin: VSA, 1973), 127– 133.  Vgl. auch Michel Foucault, The Subject and Power, Critical Inquiry 8:4 (1982), 777– 795, 787.  Ebda., 784.  Gray, False Dawn, a.a.O., 107.  Vgl. Dalby, Dealignment Discourse, a.a.O., 142.  Vgl. Ricci, The Tragedy of Political a.a.O., 291– 304.  Ashley & Walker, Speaking the Language of Exile, a.a.O., 261.

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angesichts der Künstlichkeit vermeintlich ‚natürlicherʻ Ordnung/en, angesichts der Kontingenz jedweder Präsenz, Identität und Bedeutung ging es Poststrukturalist/innen ganz grundsätzlich um die Überwindung der Angst des modernen (klein)bürgerlichen/ akademischen Subjekts vor dem Unkonventionellen, dem Anderen, dem Unbestimmten, dem Veränderlichen und dem Widersprüchlichen sowie die Rückbesinnung auf den Wert des menschlichen Lebens, insbesondere des akademischen Lebens, als einer aktiven und unangepassten Suche nach dem, was für das eigene ‚Selbstʻ wichtig wäre⁷⁶⁰. Der Versuch einer solchen Bestimmung und Verwirklichung des ‚Selbstʻ lief zwangsläufig über die Gewinnung eines Bewusstseins um die letztendlich willkürliche Formung von Subjektivität durch die staatlichen Mechanismen der Machtausübung. Diese ‚Einsichtʻ in die Verstrickung des modernen Subjekts in die Machtstrukturen des bürgerlichen Staates und seiner Gesellschaft sowie die von ihnen angeheizte Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Lebenswelten warf für Poststrukturalist/innen die Frage nach Alternativen zu dieser omnipräsenten Zwangslage auf. In Reminiszenz an die Tradition philosophischer Kritik seit Kant beschrieben Adorno und Foucault das zentrale Problem dahingehend, dass staatlich verfasste Gesellschaft/en den Einzelmenschen über die Verknappung möglicher Deutungs- und Handlungsoptionen einem Anpassungsdruck aussetzten, der von vielen trotz ihrer oft misslichen Lage gar nicht mehr als solcher wahrgenommen werden würde. Der Kampf gegen diese Maschinerie der Formung durch alle möglichen Mechanismen der Disziplinierung müsste daher auch mit der Weigerung einer Avantgarde beginnen, weiterhin die angepassten und konformen Subjekte der (klein)bürgerlichen Gesellschaft zu sein⁷⁶¹. Für Poststrukturalist/innen war es angesichts der eingefahrenen Disziplinierungsmechanismen durchaus wahrscheinlich, dass die Notwendigkeit eines solchen Kampfes um neue Formen der Subjektivität von der breiten (akademischen) Masse nicht an/erkannt werden würde; dass insbesondere an den Schulen und in den höheren Bildungsinstitutionen viele ‚Ausgebildeteʻ ihre Identität nicht als Objekt der Willkür kleinbzw. staatsbürgerlicher Konventionen in einem künstlich verengten Feld von Handlungsoptionen begreifen würden; und dass fragwürdige staats/bürgerliche Realitätsvorstellungen weiterhin als ‚normalʻ empfunden werden und nicht suspekt erscheinen würden. Gleichwohl wären alternative Normen und Wirklichkeitsvorstellungen nicht per se ‚unnormalʻ, weil es die ‚eineʻ Wirklichkeit nur für diejenigen Menschen geben könnte, die ihre Persönlichkeitsentwicklung, also nicht nur ihre Erfahrungen, sondern

 Vgl. William Connolly, Freedom and Contingency, in: St. K. White (Hg.), Life-World and Politics. Between Modernity and Postmodernity (Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1989), 166 – 190, 172: „In late-modernity, old standards of freedom impose a new set of hard choices. One can either treat oneʼs life as a project, negotiating a path through a finely grained network of institutionally imposed disciplines and requirements, or struggle against those disciplines by refusing to treat oneʼs life as a project.“  Vgl. Foucault, The Subject and Power, a.a.O., 785: „We have to imagine and to build up what we could be to get rid of this kind of political ‚double bindʻ, which is the simultaneous individualization and totalization of modern power structures. […] We have to promote new forms of subjectivity through the refusal of this kind of individuality which has been imposed on us for several centuries.“

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auch ihr Wollen und Wünschen, von der jeweils auf sie wirkenden ‚Mikrophysik der Machtʻ widerstandslos manipulieren ließen⁷⁶². Die Anstrengungen der modernen Staatsapparate zur Normalisierung von Erwartungen, Vorstellungen und Hoffnungen, vor allem über seine Systeme der Bildung und des Rechts, haben jeder wirklichen Freiheit und Gerechtigkeit entgegengewirkt und das ethische Problem erzeugt, dass sich aus der sozialen Wirklichkeit in dem Maß willkürliche Anpassungszwänge ergeben, für den Einzelnen wie für das Kollektiv, wie nie genügend Raum für die Suche nach anderen Formen der Wirklichkeit und der Selbstverwirklichung bleibt⁷⁶³. Interessanterweise meinten Poststrukturalist/innen während der 1980er Jahre, auch in den akademischen IB ein solches Bewusstsein um die Notwendigkeit eines Kampfes um neue Formen der akademischen Subjektivität erkennen zu können, dessen Ziel darin bestand, die theoriegeleiteten Diskussionen in der Disziplin von den Zwängen des imperialistischen Außen– und Sicherheitspolitikdiskurses der USA zu befreien. „We want to suggest that for some years now, a ‚spectreʻ has haunted the ‚European continentʻ of international studies. It is the spectre of a widely proliferating and distinctly dissident theoretical attitude spoken in uncertain voice by women and men who, for various reasons, know themselves as exiles from the territories of theory and theorizing solemnly affirmed at the supposedly sovereign centers of a discipline.“⁷⁶⁴ Wie ausgeprägt dieses Bewusstsein auch immer war, es war offensichtlich nicht aus einer bloßen Laune heraus entstanden, einer vermeintlich anti-wissenschaftlichen Attitüde, wie es im amerikanisierten IB-Mainstream oft in polemischer Weise kolportiert wurde⁷⁶⁵.

 Vgl. Theodor W. Adorno, Individuum und Organisation, in: derselbe, Soziologische Schriften, a.a.O., 440 – 456, 448: „Das Bedrohliche der Organisation rührt nicht her von einem mythisch erhabenen Schicksal, das die Menschheit ihre Wurzel verlieren ließ und sie der Entmenschlichung auslieferte. Sondern die Menschen erkennen in dem scheinbar durch geheimen Richterspruch über sie Verhängten nicht länger sich selbst wieder und zeigen sich darum bereit, jenes Verhängnis hinzunehmen, wenn nicht gar es zu bejahen.“ Und auf 450: „Wenn im Ernst von der Bedrohung des Menschen die Rede sein kann, dann einzig in dem Sinn, daß die Weltverfassung es bereits verhindert, daß in ihr jene sich entwickeln, die fähig wären, sie zu durchschauen und daraus die rechte Praxis abzuleiten.“  Vgl. Shapiro, The Rhetoric of Social Science, a.a.O., 366. Vgl. dazu auch Stekeler-Weithöfer, Kritik der reinen Theorie, a.a.O., 180: „Dabei ist die Einsicht besonders bedeutsam, dass unser eigener Begriff der objektiven Wirklichkeit und der wirklichen Dinge und Kräfte in der Welt in dem Sinne ein ‚geistigerʻ Begriff ist, als er abhängt von unserer eigenen Rahmengeschichte über das, was die innerweltlichen Dinge ‚gemachtʻ haben, ‚tun könnenʻ und weiterhin ‚tun werdenʻ. Wir selbst setzen im Rahmen allgemein kanonisierten Wissens dispositionelle Kräfte und Mächte in die Dinge, so zwar, dass diese Setzungen dazu passen, was wir in der Welt allgemein erleben, beobachten, herstellen und vorhersagen können, aber doch auch so, dass die Lokalisierungen der zugeordneten ‚Energienʻ in Spannung stehen zu ihren bloß generellen Folgen. „  Ashley & Walker, Speaking the Language of Exile, a.a.O., 263.  Vgl. Campbell & Bleiker, Poststructuralism, a.a.O., 204: „Aside from their willingness to engage ways of thinking they regarded as ‚foreignʻ, these critics [within the IR-Mainstream] reacted as if the questioning of critical approaches meant that the traditional containers of politics (especially the state) and the capacity to judge right rom wrong were being rejected. In so doing, they mistook arguments about the historical production of foundations for the claim that all foundations had to be rejected.“

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Dieses Bewusstsein verdichtete sich in dem Maß zu einer kritischen Haltung, wie „[t]he challenges to US conceptions of security from the World Order Models Project, the Worldwatch Institute, and others in the late 1970s, not to mention the Carter administrationʼs efforts to develop an energy policy that was ‚the moral equivalent of warʻ, were swept aside by calls for a reinsertion of the Cold War geopolitical premises as the terms for political debate.“⁷⁶⁶ Dahinter stand der Glaube an die Verantwortung einer seriösen Wissenschaft der IB, die offiziell von den neo/konservativen anglo-amerikanischen Regierungsnetzwerken sanktionierten Weltbilder, in denen es für die USA vorrangig darum ging, sich in einem Nuklearkrieg ‚durchzusetzenʻ (to prevail)⁷⁶⁷, nicht mehr länger als ‚normalʻ zu akzeptieren, wenn es am Ende reine Willkür ist, so zu tun, als wäre diese Objektwelt die einzige, über die es sich nachzudenken lohnte. Die sogenannten ‚Spiele mit der Wahrheitʻ⁷⁶⁸ über eine ‚Logik der Anarchieʻ, die Problematisierung der gängigen symbolischen Formen (‚Staatʻ, ‚Souveränitätʻ) sowie die Hinterfragung der allseits akzeptierten ‚Signifikantenʻ (‚nukleare Abschreckungʻ), hatten nichts mit einem angeblich unseriösen und selbstverliebten Relativismus zu tun. Solche diskursiven Interventionen waren vielmehr Versuche, sich vom disziplinierten Herdentrieb im amerikanisierten IB-Mainstream zu ‚distanzierenʻ, um die Normalisierung von Weltsicht/en, in denen die ständige Bereitschaft zur militärischen Auseinandersetzung und die Vorbereitung für den nuklearen Ernstfall nicht nur ‚rationaleʻ sondern geradezu ‚unausweichlicheʻ Strategien für alle staatlichen Planer/innen und ihre akademischen Berater/innen wären, als durch und durch willkürliche ‚politischeʻ Praktiken erkennen zu lassen. Als widerständige Handlungen befanden sie sich im Kontext eines spekulativen Moments im Hegelʼschen Sinn: „Distance […] is not, moreover, the dispassionate observation of a stoic but a textual practice oriented by a commitment to freedom, a freedom that is not the traditional, liberal individualist model of minimizing the domain of controlled public space but the freedom that allows one to see the possibility of change.“⁷⁶⁹ Und wenngleich sich die kritische Haltung der Poststrukturalist/innen seit je her ganz besonders von den ‚bestenʻ theoriegeleiteten Praktiken im US-amerikanischen Mainstream distanzierte, war ihr selbstgewähltes Exil doch nicht lokal beschränkt. Mit Blick auf den deutschen IB-Kontext wäre etwa zu konstatieren, dass sich die ‚bestenʻ Beiträge zur theoriegeleiteten Diskussion genauso wenig durch eine poststrukturalistische Sensibilität ausgezeichnet haben, wie in den USA. Die allermeisten

 Simon Dalby, Security, Modernity, Ecology: The Dilemmas of Post-Cold War Security Discourse, Alternatives 17:1 (1992), 95 – 134, 96.  Vgl. Rubenstein, Hate Boat, a.a.O., 248.  Vgl. dazu Ludwig Gasteiger, Michel Foucaults interpretative Analytik und das unbestimmte Ethos der Kritik, in: U. Freikamp et al. (Hg.), Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik (Berlin: Dietz, 2008), 33 – 51, 33.  Michael J. Shapiro,Weighing Anchor: Postmodern Journeys from the Life-World, in: St. K.White (Hg.), Life-World and Politics. Between Modernity and Postmodernity (Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1989), 139 – 165, 155 – 156. (Hbg. hinzugefügt)

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Beiträge entsprangen in aller Regel einer vom etablierten Wissenschaftssystem antrainierten Aufmerksamkeit für ‚internationaleʻ, d. h. ‚amerikanischeʻ, Themenkonjunkturen. Die Disziplinierung durch die Zwänge etablierter Konventionen war gewissermaßen ‚totalʻ – was nicht überraschen kann. Denn „[d]ie Grundvoraussetzungen für eine universitäre Karriere im Bereich der Internationalen Beziehungen, nicht nur in den Zentren der IB, ist [sic!] zunehmend die Internationalität von Karrierewegen und Publikationen.“⁷⁷⁰ Daher waren die meisten deutschen Beiträge zur IB-Forschung nicht wirklich grundlagentheoretisch motiviert; und sie waren erst recht nicht problemgetrieben in dem Sinn, dass sie auf ‚als drängend wahrgenommenenʻ (von wem?) Problemlagen beruhten. Wie die Beiträge zur vermeintlich ‚bestenʻ Zeitschrift der deutschen IB-community, der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB), seit Jahrzehnten suggerierten, waren und sind die deutschsprachigen Beiträge fast ausnahmslos disziplinierte Einlassungen auf die amerikanisierten Themenkonjunkturen gewesen⁷⁷¹. Aufgrund ihrer Sozialisierung durch besagte Subjektivierungsmechanismen fehlte ausgerechnet den ‚bestenʻ IB-Forscher/innen im deutschen Mainstream die Bereitschaft für eine eigenständige Beschäftigung mit den ‚wirklichenʻ Problemen als Ausgangsbasis für eine kritische Forschung, weswegen auch jede Schuldzuweisung zu kurz greift. Bereits interessierte Noviz/innen sehen sich als Studierende im Feld der IB mit amerikanisierten Anschauungsformen konfrontiert, um als Graduierte im Rahmen von eigenen Forschungsprojekten zur intensiven Beschäftigung mit den ‚Schein-Weltenʻ des amerikanisierten IB-Mainstreams angehalten zu werden⁷⁷². Für die besonders ambitionierten Teilnehmer/innen am IB-Diskurs wird es obendrein ‚üblichʻ, wenigstens einmal jährlich zum Treffen der International Studies Association (ISA) ins Mekka der Disziplin zu pilgern, um abseits von uninspirierten paper-Präsentationen und aporetischen panel-

 Katharina Glaab & Lisbeth Zimmermann, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Zoologische Betrachtungen des IB-Nachwuchs und seiner Publikationstätigkeit, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 21:2 (2014), 121– 131, 126.  Vgl. dazu allerdings Antje Wiener, Kontestation in verknüpften Diskursräumen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 21:2 (2014), 147– 154, 149 – 150, die mit Verweis auf die Diskussionen über ‚Kommunikatives Handelnʻ und ‚Integrationstheorieʻ meinte, wenigstens zwei Themen identifiziert zu haben, die ihren Ursprung nicht im US-amerikanischen Kontext gehabt hätten. Sie nannte in dem Zusammenhang auch die in Deutschland beginnende ‚Kritische Normenforschungʻ, wobei sich dazu aber feststellen lässt, dass die Anfänge (auch) diesbezüglich in den USA gelegen haben. Vgl. Neta Crawford, Postmodern Ethical Conditions and a Critical Response, Ethics & International Affairs 12:1 (1998) und Laura K. Landolt, Constructing Population Control: Social and Material Factors in Norm Emergence and Diffusion, Global Society 21:3 (2007), 393 – 414 sowie dieselbe, Review: (Mis)Constructing the Third World? Constructivist Analysis of Norm Diffusion, Third World Quarterly 25:3 (2004), 579 – 591.  Vgl. zur Weltbildkonstruktion in Abhängigkeit von Dispositiven und Diskursformationen, Isaac Kamola, US Universities and the Production of the Global Imaginary, British Journal of Politics and International Relations 16:3 (2014), 515– 533, 522: „Imaginaries, therefore, are not elite ideas coalescing with material realities in some contingent and unspecified way, but rather the lived meaning that emerges as material habits and practices are organized and reorganized within particular structured, material apparatuses.“

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Diskussionen⁷⁷³, für die sich die wenigen Anwesenden zumeist auch eher beiläufig interessieren, die disziplinären Standards zu verinnerlichen und im besten aller Fälle den überwiegend in den USA ansässigen Diskussionsleiter/innen ihre persönliche Aufwartung zu machen⁷⁷⁴. Diese Sozialisierung im Rahmen einer mehrjährigen IB-‚Ausbildungʻ, die weder problemorientiert noch ansatzweise kritisch ist, gleicht einer Dressur, in der die meisten Leidtragenden versuchen, „[…] aus der jeweiligen Situation durch Anpassung an die Begebenheiten das Beste zu machen.“⁷⁷⁵ In diesem Zusammenhang bleibt es Aktivismus, wenn die Propagandist/innen einer‚deutschen IB-Identitätʻ davon ausgehen, dass eine stärkere Förderung deutscher Publikationen schon der Ausweg aus der intellektuellen Krise sei. Deutschsprachige Beiträge zur Diskussion über die internationalen Beziehungen haben ganz überwiegend ein durch die US-amerikanischen Theorieperspektiven und Methodenvorschriften restringiertes Bild des disziplinären Gegenstandsbereichs reifiziert, wobei die Vorstellungen von diesem Gegenstandsbereich in der deutschen IBcommunity überwiegend aus einer Orientierung an liberal-institutionalistischen Prämissen resultieren (sollen)⁷⁷⁶, mit dem sich die US-amerikanischen Kolleg/innen zumeist die Prozesse im US-amerikanischen Einflussbereich veranschaulichen. Forschungsprobleme werden demzufolge gerade nicht mit einem sorgfältigen Blick auf konkrete Kriege, Krisen und sonstige Katastrophen sowie das daraus herrührende Leid von Menschen formuliert, sondern mit Blick auf ihre Subsumptionsmöglichkeiten unter angesagte thematische Rubriken: die ‚liberale internationale Ordnungʻ; ‚Politisierung internationaler Organisationenʻ; ‚internationale Autoritätʻ; der ‚demokratische Friedenʻ, oder arkane methodologische Diskussionen. Der deutsche IB-Diskurs offenbart sich als ähnlich vermachteter Kontext, wie der US-amerikanische, insofern ambitionierte Nachwuchswissenschaftler/innen mit rigiden Karrierevorschriften und Publikationsregeln zum vorauseilenden Gehorsam gegenüber etablierten Denkfiguren und ein Vgl. Mark Carl Rom, Reinventing the Scholarly Conference: Reflections from the Field, PS: Political Science & Politics 48:2 (2015), 311– 314, 311: „Presentations run long – it seems to me, the less developed the paper, the longer the presentation – therefore, the audience has little time to ask questions. In fact, few questions are asked: about 70 % of APSA panelists receive one or no questions. Discussants often give detailed criticisms that might be of great interest to the presenters but are of little value to the patient audience. As I summarized the panel experience: ‚The presenters walk in, present, and walk out; the audience sits down, listens, and leavesʻ.“  Die Erwähnung solcher Pilgerreisen und entsprechender paper-Präsentationen gehört mitterweile zum must-have auf einem aussagekräftigen CV und ist damit fester Bestandteil des Initiationsritusʻ für ambitionierte IB-Nachwuchswissenschaftler/innen. Vgl. für einen solchen ‚Nachweisʻ, der sich in diesem Fall auch für die Einleitung zu einem Handbuch eignet, Benjamin Martill & Sebastian Schindler, Theory as Ideology: The Politics of Knowledge (London: Routledge, 2020), xiii: „This book has its origins in an encounter at the International Studies Association (ISA) conference in Atlanta, Georgia, in 2016.“  Glaab & Zimmermann, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, a.a.O., 128.  Vgl. etwa Stephan Stetter & Bernhard Zangl, Qualität jenseits des SSCI: Zum 20-jährigen Bestehen der ZIB, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 21:2 (2014), 107– 119, 109: „Die Welt globaler Politik, die in der ZIB gezeichnet wird, besteht mit anderen Worten primär aus IOs und NGOs. Sie ist eine stark institutionalisierte Welt, in der Regeln und Verfahren sowie Lobbyarbeit eine zentrale Rolle spielen.“

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flussreichen Fachvertreter/innen angehalten werden. Die generationenübergreifende Reproduktion etablierter Deutungsmuster suggeriert, dass die einflussreichsten Fachvertreter/innen in ihrer Eigenschaft als Betreuer/innen von Nachwuchswissenschaftler/ innen, als Herausgeber/innen⁷⁷⁷ und vor allem als anonyme Gutachter/innen der‚bestenʻ Zeitschriften⁷⁷⁸ darauf achten, dass die Taburäume der Disziplin nicht betreten werden und wirklich unkonventionelle Ideen gar nicht erst reifen. Die enge Orientierung an den Diskussionsvorlagen der amerikanischen Fachkolleg/ innen dient dem weitergehenden Ziel, sogenannte Forschungsleistungen in den internationalen bzw. amerikanisierten Zusammenhang ‚einzubettenʻ, etwaige ‚Forschungslücken zu schließenʻ und die bisherigen ‚Forschungen zu erweiternʻ bzw. zu ‚ergänzenʻ. Die Illusionen hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit dieses Prozederes werden unablässig genährt, was aber nichts daran ändert, dass die vorgelegten Weltdeutungen in tradierte Denkschablonen passen (sollen). Ein Thema wird im deutschen IB-Mainstream schließlich vor allem dann diskussionswürdig, wenn sich bei den US-amerikanischen Kolleg/innen die ersten konzeptuellen Problemaufrisse dazu finden lassen. Im Ergebnis diskutiert der deutsche IB-Mainstream mit etwas Verzögerung über dieselben Themen, die im neo/liberalen Sektor des US-amerikanischen Mainstreams Konjunktur haben. Und weil es für die akademischen ‚Debattenʻ auch hierzulande nicht von großer Bedeutung ist, ob ‚theoriegeleitete Forschungʻ besonders viel mit der lebensweltlichen Wirklichkeit konkreter Menschen in Deutschland und Europa zu tun hat, ist sogar der totgeglaubte Neorealismus wieder im Kommen⁷⁷⁹.  Vgl. dazu Paul Hollander, Peer Review, Political Correctness, and Human Nature, Academic Questions 26:2 (2013), 148 – 156, 149: „[E]ditors may be disposed to select reviewers who will assure that politically incorrect pieces will not be published. Finally, those reviewing the manuscripts, the gatekeepers (regardless of how they were selected in the first place), are likely to have internalized the prevalent, conventional, politically correct wisdom, and will be reluctant to approve of writings that appear to deviate from it.“  Vgl. Lawrence M. Mead, Scholasticism: Causes and Cures, Academic Questions 24:3 (2011), 300 – 318, 306 „Journal reviewers are now usually specialists in the subject that a paper addresses. They usually ask only if the author is technically proficient in the methods used in that specialty. They seldom focus on the paperʼs argument, let alone its broader significance. Above all, they defend the literature. Reviewers demand that research address questions arising from past research and use methods accepted there“ Vgl. Margit Osterloh & Bruno S. Frey, Das Peer Review-System auf dem ökonomischen Prüfstand, in: Jürge Kaube (Hg.), Die Illusion der Exzellenz: Lebenslügen der Wissenschaftspolitik (Berlin: Wagenbach, 2009), 65 – 73, 66 – 67: „Die Übereinstimmung zwischen Gutachterurteilen ist gering: Bleiben die ablehnenden Gutachten unberücksichtigt, ist der Grad an Seriosität bei der Auswahl der Besten sogar minimal. […] Außerdem beurteilen Gutachter Artikel besser, die ihre eigenen Ansichten zustimmend zitieren. Entsprechend fühlen sich Autoren oft von Gutachtern gedrängt, ihre Manuskripte zu ändern, um die Akzeptanz bei den Gutachtern zu erhöhen, auch wenn diese Änderungen ihrer Überzeugung widersprechen. […] Man kann ein solches Verhalten ‚akademische Prostitutionʻ [sic!] nennen.“  Vgl. Carlo Masala, Are the boys back in town? Zur anhaltenden Bedeutung realistischer Theorien, Zeitschrift für Politikwissenschaft 24:1– 2 (2014), 175 – 183; vgl. die Dissertation von André Böing, Die außenpolitischen Debatten in Deutschland um die Raketenabwehrpläne der USA und der NATO während der Amtszeiten der Regierungen Merkel (2005 – 2017): Eine Analyse im Lichte der Spannungsverhältnisse ‚Westintegrationʻ und ‚Ostpolitikʻ (Münster, 2019), besonders 46 – 57; und vgl. die Dissertation von Stephan

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Nonkonformismus und poststrukturalistische Erkenntnisinteressen Vor diesem Hintergrund stellt/e sich aus poststrukturalistischer Sicht die Frage nach der Verantwortung wissenschaftlicher Praxis umso vordringlicher, wenn man berücksichtigt, dass sich in der amerikanischen Politikwissenschaft die Einbettung der‚bestenʻ Vertreter/ innen in die Bürokratie des militärisch-industriellen Komplexes seit dem Zweiten Weltkrieg⁷⁸⁰ so massiv ausgeweitet hat, dass Politikberatung und Theoriebildung zwei sich gegenseitig befruchtende Aktivitäten derselben akademischen Praxis geworden sind⁷⁸¹. Theoriebildung im amerikanisierten IB-Mainstream hat sich immer stärker in ein verlängertes Spielfeld für die Zusammenarbeit organischer Intellektueller aus den ‚bestenʻ amerikanischen Universitäten und den establishment elites in den US-amerikanischen Denkfabriken⁷⁸² verwandelt. Und in dem Maß, wie darüber nicht nur eine falsch verstandene naturwissenschaftliche Art der Forschung zum Fetisch erhoben⁷⁸³, sondern verteidigungspolitische Phantasien einer nukleargestützten Abschreckung⁷⁸⁴, oder auch wirtschaftspolitische Ambitionen auf eine Steigerung des Wirtschaftswachstums – und Liedtke, Die Ölversorgungssicherheitspolitik der USA und der VR China: Eine theoriegeleitete Analyse angebotsorientierter Energieaußenpolitik (Wiesbaden: Springer, 2019), besonders 31– 78.  Vgl. van der Pijl, The Discipline of Western Supremacy, a.a.O., besonders 95 – 141; vgl. Persaud, Ideology, Socialization and Hegemony, a.a.O., 112.Vgl. Sonja M. Amadae, Prisoners of Reason: Game Theory and Neoliberal Political Economy (New York: Cambridge University Press, (2015), 75.Vgl auch dieselbe, Arrowʼs impossibility theorem and the national security state, Studies in History and Philosophy of Science 36:4 (2005), 734– 743, 736: „[I]t is unquestionable that RANDʼs isolationist think tank status provided sanctuary for theoretical research outside the breach of public accountability. Given his ‚top secretʻ security clearance issued in 1949 and active through 1971, [Kenneth] Arrow is safely regarded as a defense intellectual.“  Aus heutiger Sicht interessant ist in diesem Zusammenhang etwa die lange Liste von Namen solcher Akademiker/innen, die am Final Paper of the Princeton Project on National Security, der unter Federführung von G. John Ikenberry & Anne-Marie Slaughter ausgearbeiteten Nationalen Sicherheitsstrategie der USA ab 2006, mitwirkten (80 – 89). https://www2.world-governance.org/IMG/pdf_0080_Forging_a_World_of_Liberty_Under_Law-2.pdf (zuletzt besucht am 01.04. 2022).  Vgl. dazu allgemein etwa Sigmund Diamond, Compromised Campus: The Collaboration of Universities with the Intelligence Community, 1945 – 1955 (New York: Oxford University Press, 1992). Ein Ausdruck dieser Entwicklung wäre in der Stimulation und Absorption eines beträchtlichen Teils akademischer Forschung durch das Camelot-Projekt ab 1964 zu sehen: „[…] Gabriel Almond summed up the sentiments of many political scientists when he said, ‚The Camelot problem really is only a symptom of a problem which has been with us and will perhaps be with us on an increasing scaleʻ as the government funds research to fulfill its need for information in an age of global Cold War.“ Joy Rohde, Armed with Expertise. The Militarization of American Social Research during the Cold War (Ithaca: Cornell University Press, 2013), 83. Vgl. auch Mark Solovey, Project Camelot and the 1960s Epistemological Revolution: Rethinking the Politics-Patronage-Social Science Nexus, Social Studies of Science 31:2 (2001), 171– 206; und Inderjeet Parmar, How elite networks shape the contours of the discipline and what we might do about it, in: Synne L. Dyvik, Jan Selby & Rorden Wilkinson (Hg.), Whatʼs the Point of International Relations (Routledge: New York, 2017), 107– 117.  Vgl. Solovey, Project Camelot and the 1960s Epistemological Revolution, a.a.O., 176.  Vgl. Deborah Welch Larson, Deterrence Theory and the Cold War, Radical History Review, 63 (1995), 86 – 109.

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des Profits – durch Forcierung einer internationalen Anbieterkonkurrenz auf der Nordhalbkugel sowie durch Kapitaltransfer in den globalen Süden zu ‚normalenʻ Gegenständen akademischer Theoriebildung geworden sind⁷⁸⁵, ist es für eine seriöse Wissenschaft der IB eine ethische Angelegenheit ersten Ranges, sich um die praktischen Konsequenzen dieser ‚politischenʻ Wirklichkeitskonstruktionen zumindest bewusst zu werden. In dem Maß, wie sich der amerikanisierte IB-Mainstream in ein outlet der tragenden Institutionen des imperialen Systems verwandelt hatte⁷⁸⁶, war schon während der 1980er Jahre bei vielen, die sich diesem Mainstream aufgrund der damit verbundenen Subjektivierungstendenzen nicht mehr zugehörig fühlten, der Wunsch gereift, „[…] to interrogate limits, to explore how they are imposed, to demonstrate their arbitrariness, and to think other-wise, that is, in a way that makes possible the testing of limitations and the exploration of excluded possibilities.“⁷⁸⁷ Wie schon erwähnt, bildeten gesellschaftliche Protestbewegungen den breiteren gesellschaftlichen Kontext für wissenschaftliche Argumente gegen die Beibehaltung des aktuellen politischen Kurses. Zumal die Friedens- und die Umweltbewegungen befanden sich in einer Koalition mit randständigen Kritiker/innen an den Universitäten. „They are challenging the formulation of the establishment elites that touts the inevitability of an eventual clash between the superpowers […].“⁷⁸⁸ Es waren von Anfang an solche Gesten der Skepsis gegenüber einem in seiner Perzeptionsfähigkeit limitierten IB-Mainstream, die den kritischen Impetus poststrukturalistischer Beiträge markiert haben. Poststrukturalistische Erkenntnisinteressen richteten sich daher häufig darauf, eingeübte Rede- und Schreibweisen mit Blick auf ihre diskursiven Möglichkeitsbedingungen zu erkennen, d. h. wie sie hervorgebracht werden „[…] by language, by the tropes, rhetoric, narratives and grammar that make up an array of ambiguous and indeterminate signifying practices“⁷⁸⁹. Der heuristische Wert einer poststrukturalistischen ‚Analyseʻ liegt damit zum Teil darin, dass sie erkennen lässt, wie sich ein bestimmter gesellschaftlicher Kontext über die dort verbreiteten Dispositionen und Orientierungen in die ‚Texteʻ der vermeintlich ‚bestenʻ und originellsten zeitgenössischen Autoren einschreibt – was man an den Schriften von Goethe und Karl May genauso erkennen kann, wie in den geometrischen Souveränitätstheorien von Bodin,

 Vgl. Irene L. Gendzier, Managing Political Change: Social Scientists and the Third World (Boulder, CO: Westview Press, 1995).  Vgl. Jim George, Discourses of Global Politics: A Critical (Re)introduction to International Relations (Boulder: Lynne Rienner, 1994), besonders 118 – 138.  Richard K. Ashley & R. B. J.Walker, Introduction: Speaking the Language of Exile: Dissident Thought in International Studies, International Studies Quarterly 34:3, Special Issue: Speaking the Language of Exile: Dissidence in International Studies (1990), 259 – 268, 263.  R.B.J.Walker, Contemporary Militarism and the Discourse of Dissent, Alternatives 9:3 (1983), 303 – 322, 303.  James Der Derian, The (S)pace of International Relations: Simulation, Surveillance, and Speed, International Studies Quarterly 34:3, Special Issue: Speaking the Language of Exile: Dissidence in International Studies (1990), 295– 310, 297.

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Grotius und Hobbes⁷⁹⁰, oder der Denkfigur des ‚unparteiischen Beobachtersʻ von Adam Smith: „Smithʼs privileging of direct vision is very much an eighteenth-century model of seeing. Living in an age of machine-generated images, it is difficult to appreciate that, prior to the reorganization of vision that technologies such as photography helped to produce in the nineteenth century, seeing in Smithʼs century was mimetic or referential in conception. Smithʼs observers were ‚spectatorsʻ.“⁷⁹¹ Gleichzeitig waren und sind poststrukturalistische Erkenntnisinteressen in aller Regel vernunftethisch motiviert⁷⁹², insofern die im IB-Mainstream eingeübten Rede- und Schreibweisen unter Rückgriff auf normative Kriterien außerhalb des sie ermöglichenden Diskurses bewertet wurden bzw. werden. Namhafte Poststrukturalist/innen der ‚ersten Stundeʻ identifizierten sich als Friedensforscher/innen, oder hegten starke Sympathien mit den Beweggründen der Friedensforschung. Andere Poststrukturalist/ innen wurden bei ihrer Kritik am IB-Mainstream vom Schutz des Ökosystems, angetrieben⁷⁹³. Es ist mithin dieser normative stake gewesen, mit dem die Möglichkeitsbedingungen des vorherrschenden IB-Diskurses oft problematisiert wurden, um die davon abhängigen Rede- und Schreibweisen mit Blick auf ihre performatorischen Effekte zu kritisieren⁷⁹⁴. Kritische Fragen richteten sich dementsprechend darauf, welche diskriminatorischen und zerstörerischen Praktiken die Texte aus dem IB-Mainstream stabilisierten. Angesichts von Krieg und Zerstörung hätten die im IB-Mainstream eingeübten Rede- und Schreibweisen nicht nur völlig anders, sie hätten auch sehr viel ‚besserʻ sein müssen, gemessen am eigentlichen Ziel der wissenschaftlichen Wahrheitssuche, und auch gemessen an den vernünftigen Desideraten eines positiven Friedens als wünschenswerter Situation für die Menschheit im Atomzeitalter sowie einem nachhaltige-

 Vgl. Jens Bartelson, Sovereignty as Symbolic Form (London: Routledge, 2014), 22.  Michael J. Shapiro, Eighteenth Century Intimations of Modernity: Adam Smith and the Marquis de Sade, Political Theory 21:2 (1993), 273 – 293, 280.  Vgl. insbesondere auch Derrida, The ‚Worldʻ of the Enlightenment to come, a.a.O., 48 – 49: „In any case, such a questioning of sovereignty is not simply some formal or academic necessity for a kind of speculation in political philosophy, or else a form of genealogical, or perhaps even deconstructive, vigilance. It is already under way. It is at work today; it is whatʼs coming, whatʼs happening. It is and it makes history through the anxiety provoking turmoil we are currently undergoing. For it is often precisely in the name of the universality of human rights, or at least of their perfectibility, as I suggested earlier, that the indivisible sovereignty of the nation-state is being more and more called into question, along with the immunity of sovereigns, whether heads of state or leaders, and even the institution of the death penalty, the last attribute of state sovereignty.“ (Hbgen im Original)  Vgl. Dalby, Security, Modernity, Ecology, a.a.O., und derselbe, Peace in the Anthropocene, Peace Review 25:4 (2013), 561– 567.  Vgl. dazu eindrücklich David Campbell, National Deconstruction: Violence, Identity, and Justice in Bosnia (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1998), xi: „Drawing out these representational issues so we can better appreciate our imbrication in the relationship to the other and invent better political responses attuned to the relationship to the other is the overriding purpose of this book. As such, it can be read as the problematization of the problematizations that reduce Bosnia to a problem, thereby bringing to the fore the necessary concern [!] with ethics, politics, and responsibility contained by more traditional accounts.“ (Hbg. hinzugefügt)

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ren Umgang mit endlichen Ressourcen sowie dem Schutz des Ökosystems als Habitat und ‚Zweck an sichʻ. Vor allem aber hätten die in der Disziplin eingeübten Redeweisen auch sehr viel besser sein können, wenn sich durch eine kollektive Bewusstwerdung und daran anschließende Neubesinnung auf andere Reflexionsweisen und Praxisorientierungen bei einer selbst/kritischen Masse von ‚Autor/innenʻ in den akademischen IB eben auch andere Sprachpraktiken etabliert hätten. Wenn etwa Stephen Krasner in seiner Funktion als einer der ‚bestenʻ Akademiker im Kontext des US-amerikanischen IB-Mainstreams über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten behaupten konnte, dass staatliche Souveränität „[…] has three separate and distinct elements: international legal sovereignty, Westphalian/Vattelian sovereignty, and domestic sovereignty […]“⁷⁹⁵, um in seiner zwischenzeitlichen Funktion als Regierungsbeamter im Kontext der außenpolitischen Praxis zu fordern „[…] that the United States ought to be trying to create a world of responsible sovereigns […] that can essentially govern effectively within their own boundaries, and would play by the existing international rules of the game“⁷⁹⁶, dann verwechselte er aufgrund einer sagenhaften Lernresistenz gegenüber der Fiktionalität des Unterschieds zwischen staatlicher inside/outside nicht nur seine eigene begriffliche Vorstellung von Souveränität mit einem realweltlichen Sachverhalt. Mit dem konkreten Hinweis darauf, dass die Regierung der USA im Namen völlig willkürlicher Vorstellungen von Souveränität durch Regimewechsel und Militärinterventionen in den Staaten Lateinamerikas, Afrikas und des Nahen Ostens weiter ungebrochen ‚Faktenʻ schaffen sollte, normalisierte und bagatellisierte Krasner den Tatbestand, dass die imperiale Außenpolitik der USA seit dem Zweiten Weltkrieg in einer völlig willkürlichen Art und Weise in vielen Regionen der Welt immer wieder massenhaft Menschenleben vernichtet (hat). Erwartungsgemäß pflichteten diesem Vorgang die Funktionäre des militärisch-industriellen Komplexes der USA mit lobenden Worten bei⁷⁹⁷. Aber anstatt die Zustimmung aus der Welt der militarisierten imperialen Staatspraxis zum Maßstab für die Stimmigkeit solcher Redeweisen zu machen, wäre es

 Stephen D. Krasner, The Persistence of State Sovereignty, in: O. Fioretos (Hg.), International Politics and Institutions in Time (Oxford: Oxford University Press, 2017), 39 – 58, 41. Vgl. dazu Stephen D. Krasner, Problematic Sovereignty, in: derselbe (Hg.), Problematic Sovereignty: Contested Rules and Political Possibilities (New York: Columbia University Press, 2001), 1– 23, 2.  Stephen Krasner, Can America Find a Grand Strategy?, Cornell International Affairs Review 2:1 (2008), 6 – 14, 12.  Vgl. etwa Max G. Manwaring, Ambassador Stephen Krasnerʼs Orienting Principle for Foreign Policy (and Military Management) – Responsible Sovereignty (Carlisle: Strategic Studies Institute, U.S. Army War College, 2012), 8: „Given the long tradition of war between or among nation-states adhering to generally accepted rules and practices initiated with the Peace of Westphalia in 1648, it is hard to equate the multidimensional responsibility to protect (responsible sovereignty) concept with war or conflict – say nothing of understanding how to respond to it. It has been considered too hard, too complex, and too ambiguous. This broadened definition of the contemporary security problem makes the concept so vague as to render it useless as an analytical tool. The genius [sic!] of Ambassador Krasner, however, helps solve the problem.“

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aus poststrukturalistischer Sicht im Kontext der akademischen IB viel angemessener gewesen, wenn die ‚bestenʻ Vertreter/innen ihrer Zunft selbstkritisch über die Möglichkeitsbedingungen solcher Redeweisen nachgedacht hätten. Im Falle von Krasner hätte es unter gewissen Umständen zur Einsicht gereicht, dass Souveränität gar keine sozialwissenschaftliche Kategorie ist⁷⁹⁸. Im günstigsten Fall wäre vielleicht sogar die Erkenntnis möglich gewesen, dass „[s]tate sovereignty works [only] because it has come to seem to be simply there, out in the world, demarcating the national orders of here and there. But the lessons that theorists of international relations have consistently refused to learn since Hobbes is that sovereignty is never simply there.“⁷⁹⁹ Für viele Poststrukturalist/innen ging es aus Gründen wissenschaftlicher Verantwortung darum, mit der in der Disziplin üblich gewordenen Praxisorientierung zu brechen und die Dominanz real existierender Lebensweltstrukturen zu de(kon)struieren⁸⁰⁰. In einer Radikalisierung der philosophischen Kritik seit Kant interessierten sich viele Poststrukturalist/innen für eine vernünftige Wissenschaft, allerdings nicht mehr im Zeichen einer Aufklärung, sondern im Zeichen des intellektuellen Widerstands gegen staatspraxisorientierte Vergegenständlichungen realweltlicher Phänomene und ihre pseudo-wissenschaftlich abgesicherten Notwendigkeiten. Ganz konkret ging es vielen Poststrukturalist/innen um eine kritische Auseinandersetzung mit den Bedingungen, unter denen es möglich geworden war, dass sich die tonangebende Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen, dass sich ihre ‚bestenʻ Vertreter/innen in den USA und Europa einem imaginären ‚Zwangʻ ausgesetzt sahen, immer wieder rationale Antworten auf angebliche Bedrohungen der USA und ihrer Einflusssphäre finden zu müssen – nicht um den für sich genommen völlig belanglosen Nachweis, dass es keine endgültigen formalen Wahrheiten gibt und sich realweltliche Sachverhalte immer auch anders ausdrücken lassen. Nur unter einer völligen Verkennung der ethischen Gesichtspunkte hinter ihrem normativen Erkenntnisinteresse ist es möglich gewesen, poststrukturalistischer Kritik einen Mangel an wissenschaftlicher Seriosität vorzuhalten. Die internalisierte Betriebsblindheit erwies sich im IB-Mainstream neben einer weit verbreiteten Kleinmü-

 Vgl. Hirsch, Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, a.a.O., 132.  R.B.J. Walker, International Relations and the Possibility of the Political, in: K. Booth & St. Smith (Hg.), International Relations Theory Today (Cambridge: Polity, 1995), 306 – 327, 322 (Hbgen hinzugefügt).  Vgl. dazu ein weiteres Mal Ashley, Three Modes of Economism, a.a.O., 491– 492: „First, it is necessary to replace the currently dominant concept of the states system as a vectoring of power and interests among multiple states-as-actors obeying technical rational logics of action. […] Second, it is necessary to comprehend the dominant global order, like all political relations, as a relation of domination. […] Third, combining the first two concerns, it is important to try to grasp the role of international political practice, including leadership practices and war, in generating and perpetuating the political preconditions of the dominant coalitionʼs protracted dominance. […] Fourth, in contrast to equilibrium models or static models, it is necessary to try to ascertain and historically situate the crisis tendencies of the current order of domination. […] Fifth, it is necessary to try to specify the historical conditions, including the conditions of crisis in the dominant order, under which habits of compliance with the logic of economy might be called into question.“

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tigkeit freilich als das größte Hindernis, poststrukturalistische Kritik als Ausdruck einer Sorge um die Menschheit zu verstehen, weswegen Charakterisierungen wie die folgende immer noch ohne weiteres sagbar sind, intuitiv plausibel wirken und kaum Widerspruch provozieren: „The proclamation of the poststructuralist position as being marginal, dissident, at the boundaries, or simply a ‚view from up highʻ [sic!] could be unmasked as suggesting a pure, uncriticisable ‚Godʼs Eye Viewʻ [sic!] through which the ontological hierarchy of boundary positions could be observed. […] The hierarchical level onto which the poststructuralist herself intended to take roots begins to crumble as soon as we scrutinise this level with the typical poststructuralist critique.“⁸⁰¹. So unverständlich solcherlei Unverstand nach so vielen Jahren auch ist, die eigentliche Kritik daran richtet sich gar nicht (primär) auf den Autor solcher Zeilen, sondern auf die Subjektivierungsmechanismen der Disziplin.

Der kritische Fokus auf Subjektivierungsmechanismen Im Unterschied zu den Vertreter/innen des historischen Materialismus, die ihre Kritik noch in einer vergleichsweise direkten Art und Weise an den IB-Mainstream adressierten, indem sie einerseits seine typischen Anschauungsformen für ihre affirmative Vergegenständlichung realweltlicher Zusammenhänge, und indem sie andererseits seine führenden Protagonist/innen für ihre Komplizenschaft mit der politischen Praxis kritisierten⁸⁰², ging es Poststrukturalist/innen nicht primär darum, den gängigen Theorien ‚Lückenʻ oder konkrete Deutungsfehler vorzuhalten, bzw. ihren ‚Autor/innenʻ sinistre Absichten zu unterstellen⁸⁰³. Die ideologische Dimension des IB-Mainstreams wurde vollumfänglich anerkannt⁸⁰⁴, aber der Gegenstand poststrukturalistischer Kritik änderte sich grundlegend. Die vermeintlich ‚bestenʻ Vertreter/innen der akademischen IB verhielten sich zwar wie verantwortungslose Ideolog/innen, wenn sie offizielle Funktionen in staatlichen Vernichtungsmaschinerien übernehmen würden und in dieser Eigenschaft, wie u. a. John Mearsheimer und Stephen Krasner, die dort übliche Semantik bedienten. Gleichwohl spielten sie in diesem Zusammenhang nicht unbedingt nur die Rolle von ‚Täternʻ. Als Adressaten etablierter Dispositive und ihrer Subjektivierungsmechanismen fielen sie der Mikrophysik einflussreicher Diskurse zum Opfer, die ihnen den Status von ‚privilegierten Sprecher/innenʻ und ihren Rede- und Schreibweisen ein besonderes Gewicht als outstanding scholarship im Sinne ‚produktiverʻ bzw.

 Philipp Klüfers, The Truth of Politics: Antinomies in Theorising International Relations in Political Realist, Constructivist, and Poststructuralist Thinking (Neubiberg, 2017), 263; online-Ressource auf https:// athene-forschung.unibw.de/doc/138036/138036.pdf (zuletzt besucht am 19.10. 2021).  Vgl. etwa van der Pijl, The Discipline of Western Supremacy, a.a.O., 188 – 235.  Vgl. in diesem Sinn dezidiert, Ashley, Untying the Sovereign State, a.a.O., 228.  Vgl.Walker, Contemporary Militarism and the Discourse of Dissent, a.a.O., 314: „Yet, there can be little doubt that the dominant discourse about international relations has served to legitimize as well as to explain the prevailing order.“

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‚performatorischerʻ Akte verliehen. Freilich war es aufgrund der Vermachtung des akademischen Bereichs auch nicht egal, wer durch welche Semantik auffiel: „This warrant, it should be noted, includes both what is to be spoken, written, and analyzed as well as who is to ‚occupy the position of a subjectʻ.“⁸⁰⁵ Konkreter Angriffspunkt poststrukturalistischer Kritik waren nicht mehr die populärsten Vertreter/innen des IB-Mainstreams als vermeintliche ‚Urheber/innenʻ konservativer Theorien über zwischenstaatliche Beziehungen, sondern die diskursiven und nicht-diskursiven Möglichkeitsbedingungen ihrer ‚Texteʻ. Die Frage nach der Selbstverständlichkeit, mit der bestimmte Sachverhalte und Zusammenhänge der internationalen Beziehungen als ‚natürlicheʻ Phänomene in den Beiträgen zu den ‚bestenʻ Zeitschriften, oder in Monographien mit ihren major contributions zur Disziplin vergegenständlicht werden konnten, lenkte den Fokus auf „[…] the interpretive dispositions and practical orientations that are, in fact, at work in modern culture and productive of the modes of subjectivity, objectivity, and conduct prevailing therein.“⁸⁰⁶ Eine vordringliche Frage poststrukturalistischer Kritik richtete sich darauf, wie die Themenkonjunkturen überhaupt entstehen, die im IB-Mainstream regelmäßig einen hektischen Überbietungswettbewerb zwischen den ‚bestenʻ Fachvertreter/innen um die cleversten – und mithin weltfremdesten – formalbegrifflichen Unterscheidungen auslösen. Eine typische Form poststrukturalistischer Kritik belief sich demzufolge auf eine Rekonstruktion der populärsten theoretischen Sachverhalte: ‚Staatʻ, ‚Anarchieʻ, ‚Souveränitätʻ, ‚Allianzʻ, ‚Kooperationʻ, ‚Institutionʻ, ‚Integrationʻ, ‚Ordnungʻ usw. mit Blick auf ihre Rückbindung an dominante, wenngleich eben völlig willkürliche, Wirklichkeitsvorstellungen. Maßgeblich dafür war das Problemverständnis, dass diese Wirklichkeitsvorstellungen eine anspruchsvolle akademische Beschäftigung mit anderen theoretischen Sachverhalten erschwert oder gar nicht erst möglich haben werden lassen⁸⁰⁷. So war beispielsweise auffällig, wie mechanisch die meisten Beiträge zu den ‚bestenʻ Zeitschriften der Disziplin seit Beginn der 1980er Jahre darauf verwiesen, dass das in-

 Michael McKinlay, American Intelligence as American Knowing, Alternatives 21:1 (1996), 31– 66, 33. (Hbg. im Original) Dabei wäre zu beachten, dass besagter ‚Opferstatusʻ nicht im wörtlichen Sinn gemeint ist. Vgl. McKinlay, ebda, 59: „Although some might find it tempting to portray the exploits of Colby, Huntington, and Kissinger as those of paranoids or anti-intellectuals, this would, once again, only excuse them and their causes; indeed, the distressing reality of these exemplars is not that they were rogues of their kind but that they were exemplary products of exemplary processes in exemplary institutions – the ‚bestʻ of their kind.“ (Hbg. an dieser Stelle hinzugefügt)  Ashley, Untying the Sovereign State, a.a.O., 228.  Vgl. James Der Derian, Critical Encounters in International Relations, International Social Science Journal 59:191 (2008), 69 – 73, 71: „The flow of goods, the rights of property and the free market define the political economy. In a similar way the flow, exchange and regulation of signs, symbols and other representations; in other words, the discourse, produces value and meaning in the cultural economy. Discourse, in the sense of authoritative statements, is the currency of this cultural economy. Discursive practices mediate and often dominate IR by establishing what can be said and who can say it with authority.“

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ternationale Staatensystem ihrer geteilten Anschauung nach als ‚anarchischʻ anzusehen, und dass zwischenstaatliche Kooperation trotz ihrer empirischen Häufigkeit ein veritables Forschungsproblem wäre⁸⁰⁸. Im Vorstellungsraum kritischen Denkens machten solche Prämissen noch nie besonders viel Sinn. Freilich korrespondierten solche Phrasen mit den Wirklichkeitsvorstellungen in den neokonservativen Zirkeln der USamerikanischen Regierungsnetzwerke, die zum Teil von den Propaganda-Aktivitäten der public diplomacy-Programme popularisiert wurden⁸⁰⁹, die ihrerseits im engen Schulterschluss mit privaten Medienkonzernen wie der News Corporation von Rupert Murdoch arbeiteten, nachdem die Reagan-Administration den Weg für einen conservative turn in der öffentlichen Medienberichterstattung frei gemacht hatte⁸¹⁰: die internationale Politik war nach dem Dafürhalten im konservativen establishment der USA mindestens geprägt durch ‚Unsicherheitʻ⁸¹¹, wenn nicht durch die unhintergehbare Notwendigkeit eines entschlossenen nukleargestützten counterbalancing gegen aggressive Staaten wie die Sowjetunion. Jedem vernünftigen Zeitgenossen mussten solche Einlassungen höchst befremdlich vorkommen, zumal es noch nicht so lange her war, dass die Welt im Kontext der sogenannten ‚Kuba-Kriseʻ anno 1961– 1962 kurz vor einem Atomkrieg stand. Was hätte also in den verantwortlichen Entscheidungsgremien eines vermeintlicherweise ‚demokratischenʻ Staates anlässlich wachsender militärischer Bedrohungen mehr Priorität verdient als eine angestrengte Suche nach Frieden im Atomzeitalter, gestützt auf ernsthafte Bemühungen um Rüstungsbegrenzung und atomare Abrüstung. Der entscheidende Punkt ist, dass solche Überlegungen weder im akademischen Kontext der amerikanisierten IB noch im Milieu des politischen establishments der USA besonders anschlussfähig gewesen sind. Wenn einflussreiche Neokonservative wie Norman Podhorez während der 1980er Jahre öffentlich behaupteten, dass „[…] those who still hold with the 1980 consensus on the Soviet threat, and who are not politicians, […] have a great responsibility to go on saying that the Soviet threat can only be successfully met by a policy of strength and resolve which will inevitably [sic!] entail larger defense budgets and a continued reliance on nuclear weapons; […] that we can deter a war with the Soviet Union only if we are prepared and willing if necessary to fight […]“⁸¹², dann sagte er die

 Fast jeder Beitrag zu International Organization und International Security lieferte bereits auf den ersten Seiten ein Indiz für den ‚Konformismusʻ einer ganzen Generation. Vgl. dazu exemplarisch einen der ‚berüchtigtenʻ Reader aus International Security: Michael E. Brown, Sean M. Lynn-Jones & Steven E Miller (Hg.), The Perils of Anarchy: Contemporary Realism and International Security (Cambridge: MIT Press, 1995).  Vgl. Lucia Graves, Donald Trump and Rupert Murdoch: Inside the Billionaire Bromance, The Guardian 17. Juni 2017, https://gooriweb.org/news/2000s/2017/guardian17june2017.pdf (zuletzt aufgerufen am 07.10.22).  Vgl. Douglas Kellner, The Murdoch Media Empire and the Spectacle of Scandal, International Journal of Communication 6 (2012), 1169 – 1200, 1173.  Vgl. exemplarisch Michael Smith, The Reagan Administrationʼs Foreign Policy, 1981– 1985: Learning to Live with Uncertainty?, Political Studies 36:1 (1988), 52– 73.  Norman Podhorez, Appeasement By Any Other Name, Commentary 76:1 (1983), 25 – 38, 38.

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volle ‚Wahrheitʻ. Denn innerhalb der im politischen establishment der USAvorfindlichen Projektionsnormen, Denkgewohnheiten und Deutungsschemata war spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nur noch wenig Platz für Anschauungsformen, die eine Rhetorik des ‚Friedensʻ, der ‚Abrüstungʻ, der ‚Solidaritätʻ, oder gar der grenzüberschreitenden ‚Gerechtigkeitʻ plausibel und diskussionswürdig hätten erscheinen lassen. Mitunter ganz entscheidend für die ständige Reproduktion einer manichäischen Wahrnehmungswelt durch US-amerikanische Bürokratie, Medien und ‚Wissenschaftʻ⁸¹³ dürfte mit Blick auf die nicht-diskursiven Möglichkeitsbedingungen gewesen sein, dass die Hersteller von kriegsrelevanten Produkten schon während des Ersten Weltkrieges ganz direkt in die Arbeit der jeweiligen Ministerialbürokratien eingebunden worden waren. In quantitativer Hinsicht war eine Folge daraus, dass „[a]fter the World War, in spite of the removal of controls at the insistence of industry, a larger measure of governmental authority remained than had ever existed before“⁸¹⁴. Das bedeutete in qualitativer Hinsicht, dass „[t]he collaboration of industry and the military continued during the 1920s and 1930s and took the form of procurement and economic planning for future wars.“⁸¹⁵ Ausmaß und Bedeutung dieser intensiven Zusammenarbeit zwischen Militär und Industrie bei der nationalen Wirtschaftsplanung dürfen nicht unterschätzt werden. „The relationship ranged from the largest, oligopolistic industries such as steel to the miniscule optical glass business. Additionally, practically every trade association of any significance was at least in contact with the O[ffice of the] A[ssistant] S[ecretary of ] W[ar] and many were deeply involved in planning. The same was true with all major business federations, such as the Chamber of Commerce.“⁸¹⁶ Im Ergebnis resultierte daraus in den USA und Großbritannien schon während der 1920er Jahre ein teurer welfare state mit der speziellen Funktion, die exklusiven ‚Bedürfnisseʻ in der militärisch relevanten Industrieproduktion zu befriedigen⁸¹⁷. Einflussreiche Manager, Funktionäre und Lobbyisten dieses sich herausbildenden militä Vgl. Peter Galison, The Ontology of the Enemy: Norbert Wiener and the Cybernetic Vision, Critical Inquiry 21:1 (1994), 228 – 266, 232: „Building on Wienerʼs own usage of the term Manichean to designate the continuing struggle against an active oppositional intelligence, I will call this triad of wartime enterprises […, i. e. operations research, cybernetics und rational choice] the Manichean sciences.“ (Hgb. im Original)  Ernest L. Bogart, The Changing Economic Functions of Government, Annals of the American Academy of Political and Social Science 206:1 (1939), 1– 5, 3.  Paul A.C. Koistinen, The Military-Industrial Complex. A Historical Perspective (New York: Praeger, 1980), 50.  Paul Koistinen, Toward a Warfare State: Militarization in America during the Period of the World Wars, in: John R. Gillis (Hg.), The Militarization of the Western World (New Brunswick: Rutgers University Press, 1989), 47– 64, 55. (Hbgen hinzugefügt)  Vgl. für Großbritannien, John Ferris, Treasury Control, the Ten Year Rule and British Service Policies, 1919 – 1924, Historical Journal 30:4 (1987), 859 – 883, 865: „Indeed, throughout the 1920s Britain spent absolutely at least as much money on its armed forces as did any other state on earth. A desire for economy was only one factor in the formulation of British strategic policy. Every cabinet agreed that armed forces were necessary to preserve vital British interests and intended to spend enough money to ensure that they could do so.“ Vgl. dazu auch David Edgerton, Warfare State: Britain, 1920 – 1970 (Cambridge: Cambridge University Press, 2006), besonders 15 – 58.

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risch-industriellen Komplexes, wie Bernard Baruch, Grosvenor Clarkson und Harry Bingham in den USA bzw. Winston Churchill und Maurice Hankey in Großbritannien, betonten als privilegierte Sprecher unablässig die überragende Bedeutung einer leistungsfähigen Kriegsindustrie. In den USA hatten Baruch und seine Kollegen überdies im Nachfragemonopol des Staates gerade auch in Friedenszeiten, d. h. in der Phase einer andauernden Vorbereitung auf den nächsten Krieg, ein höchst lukratives Geschäftsfeld erkannt⁸¹⁸, beschworen daher auch nach dem Ende des Krieges die Notwendigkeit einer ständigen military bzw. economic preparedness ⁸¹⁹ und „[…], joined at times by the State and Commerce Departments, consistently worked to undermine [sic!] national policies for arms control, arms sales, and arms embargos.“⁸²⁰ Das gelang, trotz zum Teil noch massiver Kritik aus der Bevölkerung und in den Parlamenten⁸²¹, mitunter auch deshalb, weil sich die entscheidenden politischen Gremien zur Vorbereitung von Gesetzentwürfen, wie der 1916 in den USA eingerichtete Council of National Defense ⁸²², später umbenannt in die treffendere Bezeichnung War Industries Board, ausgerechnet von Vertretern und Anwälten derjenigen Unternehmen beraten lassen sollten, die direkt von den zu bewilligenden staatlichen Mitteln für die Beschaffung profitierten⁸²³. Dass Woodrow Wilson in den Pariser ‚Friedensverhandlungenʻ anno 1919 gegenüber entsprechenden Vorstößen der französischen Delegation beharrlich blieb und keinerlei Bereitschaft zeigte, über eine internationale ‚Kontrolleʻ der nationalen Streitkräfte sowie eine Begrenzung nationaler Rüstungsanstrengungen

 Koistinen, The Military-Industrial Complex, a.a.O., 56.  Vgl. für eine frühe und auch noch kritische Auseinandersetzung mit entsprechenden Argumenten zugunsten einer military preparedness aus dem Dunstkreis des Secretary of War, des Chief of Staff und des Army War College, S. Leon Levy, The Burdens of Preparedness and War, Political Science Quarterly 35:2 (1920), 272– 295. Vgl. dazu aber auch die Stimme der Funktionäre und Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes auf der anderen Seite, etwa Scott Turner, Preparedness Work in the Bureau of Mines, The Military Engineer 25:143 (1933), 427– 430; und L. A. Codd, Preparedness in England: A Study of Industrial Mobilization, IV, Army Ordnance 18:108 (1938), 347– 350. Vgl. für ein Argument zugunsten der militärisch relevanten economic preparedness, Bernard M. Baruch, Taking the Profit Out of War. Necessity for Central Control and a Fixed Price Pattern, Army Ordnance 12:67 (1931), 31– 36.  Koistinen, Toward a Warfare State, a.a.O., 56.  Vgl. dazu Charles A. Beard, Preparedness: An American Issue, Current History 42:2 (1935), 179 – 186.  Das britische Pendant, das Committee of Imperial Defence, existierte schon seit 1902.  Vgl. Paul A.C. Koistinen, The ‚Industrial-Military Complexʻ in Historical Perspective: World War I, Business History Review 41:4 (1967), 378 – 403, 383: „Passed in August 1916, as part of the Army Appropriations Act, the legislation provided for a Council of National Defense consisting of six Cabinet officers. Council members would nominate and the President appoint seven experts in various fields to act as a National Defense Advisory Commission (NDAC) to the Council. Together with the NDAC, the Council would serve as the Presidentʼs advisory body on all aspects of industrial mobilization. The creation of the NDAC was actually a formalization of the procedures adopted by the Naval Consulting Board: industrial experts voluntarily donated their talents as public officials without surrendering their positions or incomes as private citizens. The precedent was an important one. It provided the wherewithal for industrialists to guide the process of mobilizing the economy.“

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zu diskutieren⁸²⁴, mag diesem Umstand geschuldet sein. Mit der anhaltenden Ausrichtung von staatlicher Wirtschaftsplanung und militärischem Beschaffungswesen auf die Profitinteressen der Konzernindustrie korrelierte schließlich ein weitergehendes Erfordernis, für die Gewinnung von Informationen nicht nur über aktuelle, sondern vor allem auch über zukünftige Bedrohungen der ‚nationalen Sicherheitʻ auf entsprechende Dienste akademischer Einrichtungen innerhalb und außerhalb des Militärs zurückzugreifen⁸²⁵. Durch diese anhaltenden Begehrlichkeiten des sich immer weiter ausdehnenden US warfare state wird einerseits nachvollziehbar, dass und warum sich bis heute so viele Beiträge zu International Security (IS), vorgeblich eine der ‚bestenʻ Zeitschriften der Disziplin mit Anbindung an eine der vorgeblich ‚bestenʻ Universitäten weltweit, mit ihren thematischen Schwerpunktsetzungen ungebrochen an den beiden großen strategischen Dimensionen der Sicherheitsaußenpolitik der USA seit 1945 orientieren: zum einen die ‚wettbewerbsorientierteʻ Positionierung der USA gegenüber anderen militärisch hochgerüsteten Staaten; zum anderen die Ausweitung der US-amerikanischen Einflusssphäre durch militärische Interventionen in die Staaten an der sogenannten ‚Peripherieʻ⁸²⁶. Andererseits erlauben die Beiträge zu IS Rückschlüsse darauf, welche Fachvertreter/innen von welchen akademischen Einrichtungen ihren ‚Analysenʻ einen engen Sicherheitsbegriff zugrunde legen, um als warrior academics zu fungieren, die mit ihren Ratschlägen an die politische Praxis darauf hinarbeiten, eine imaginäre ‚internationale Ordnungʻ aufrechtzuerhalten – völlig unabhängig davon, dass diese Ordnung außerhalb der US-amerikanischen Einflusssphäre oft überhaupt nicht als solche wahrgenommen wird. Die Verbreitung der warrior academics über die ‚bestenʻ Universitäten verdeutlicht wiederum, wie sehr die Grenzen zwischen einer vermeintlich wissenschaftlichen Betrachtung der Welt und der Teilnahme an einer institutionalisierten Logik der Vernichtung von Mensch und Natur mittlerweile verwischt worden sind. Die Beschäftigung mit praktischen Problemen internationaler Sicherheit hat sich vollständig mit dem strategischen Diskurs der US-amerikanischen Sicherheitsaußenpolitik integriert. Die ‚wissenschaftlicheʻ Beschäftigung mit internationaler Sicherheit

 Vgl. George B. Noble, Policies and Opinions at Paris, 1919. Wilsonian Diplomacy, the Versailles Peace, and French Public Opinion (New York: Macmillan, 1935), 115 – 117.  Vgl. dazu auch A. Naomi Paik, Education and Empire, old and new: HR 3077 and the Resurgence of the US University, Cultural Dynamics 25: 1 (2013), 3 – 28, 5: „In 1941, the Social Science Research Council (SSRC) and the American Council of Learned Societies assisted the Office of Strategic Services (OSS) in recruiting the nationʼs foremost scholars to ‚collect and analyze all information and data which may bear on national securityʻ. Recruited academics offered their services through the OSS Research and Analysis branch, which […] ‚presented a model for postwar collaboration between intelligence and academeʻ and provided the context for the emergence and development of area studies following WWII, when the fieldʼs organization shifted from the state to the university.“  Vgl. zu diesen beiden Strategierichtungen bereits vor über 30 Jahren Michael T. Klare, East-West versus North-South: Dominant and Subordinate Themes in U.S. Military Strategy since 1945, in: John R. Gillis (Hg.), The Militarization of the Western World (New Brunswick: Rutgers University Press, 1989), 141– 165, 143.

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und die bürokratische Durchführung der US-amerikanischen Sicherheitsaußenpolitik fallen in eins. Aus poststrukturalistischer Sicht ergibt sich daraus die Konsequenz, dass vermeintlich theoretische Konzepte wie state, polarity, alliance, balance of power, threat, capability, (nuclear) deterrence, rivalry, competition, hegemony usw. ihren semantischen Gehalt aus dem ‚Möglichkeitsraumʻ der außen– und sicherheitspolitischen Praxis der USA gewinnen, und zwar wie dieser durch ein dort traditionell gehegtes ‚Freund-FeindDenkenʻ charakterisiert ist⁸²⁷. Das führt im Umkehrschluss dazu, dass sich das konzeptuell-begrifflich gebundene ‚Wahrnehmenʻ von Wirklichkeit durch die ‚bestenʻ Fachvertreter/innen der akademischen IB nur auf solche Aspekte richtet, die sich mit dem kulturimprägnierten Möglichkeitsraum der außen– und sicherheitspolitischen Praxis der USA vereinbaren lassen. Der Möglichkeitsraum der außen– und sicherheitspolitischen Praxis der USA begrenzt den Raum des ‚wissenschaftlichʻ Denk- und Sagbaren. Weltanschauliche Blindheit paart sich mit unreflektierter Praxisorientiertheit, was im IB-Mainstream zum verhängnisvollen Effekt führt, dass so lange keine Aussicht darauf besteht, die Wirklichkeit der internationalen Beziehungen aus einer gebildeten, unabhängigen und übernationalen Haltung gegenüber einem diffusen und hochkomplexen Gegenstandsbereich zu erschließen, wie sich im Zentrum der Disziplin kein Widerstand gegen die mächtigen Dispositive und die von ihnen angestrengten Subjektivierungsmechanismen formiert. Die gängigen Wirklichkeitskonstruktionen der Disziplin bleiben eng verknüpft mit dem in der außen– und sicherheitspolitischen Praxis der USA kultivierten Vorstellungsraum. Das wird daran sichtbar, dass sich die meisten Beiträge zu International Security nicht nur durch eine ungebrochene Aufmerksamkeit für den ‚Staatʻ sondern auch durch eine stereotypische Lesart des ‚Staatesʻ als Bezugspunkt und wesentlichen Akteur im Kontext internationaler Sicherheit auszeichnen. „These stereotypes have been assembled into the rhetorical strategies of a political realism […] that slip and slide from claims about temporal contingency to claims about spatial and structural necessity, and many scholars are still prepared to use these strategies as an uncontentious ground for knowledge rather than as a rather extraordinary work of political art.“⁸²⁸ Entlang konsolidierter groupthink-Konventionen berufen sich besagte claims auf den ‚Staatʻ als eine homogene territorial definierte Entität, die wiederum von bestimmten konzeptu-

 Vgl. dazu etwa Matthias Lemke, Ausnahmezustände als Dispositiv demokratischen Regierens: Eine historische Querschnittsanalyse am Beispiel der USA, Zeitschrift für Politikwissenschaft 22:3 (2012), 307– 331. In einem ähnlichen Tenor, vgl. Christian Hacke, Die außenpolitische Doktrin der USA nach dem 11. September: Die deutsch-amerikanischen Beziehungen im Zeichen des Krieges gegen den Terror und der Irakkrise, Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 8:1 (2004), 167– 178. Vgl. zur historischen Verwurzelung des ‚Freund-Feindʻ-Denkens in der US-amerikanischen Außenpolitik, Hans J. Kleinsteuber, Die Binnenstruktur der USA und ihre weltwirtschaftliche Dominanz, in: W. Röhrich (Hg.), Gesellschaftssysteme der Gegenwart: Politökonomische Systemanalysen im Internationalen Kontext (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986), 43 – 67, 65.  Walker, After the Globe, a.a.O., 67.

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ellen Annahmen und ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander reproduziert wird. Zu diesen Annahmen gehören nach wie vor die Geschlossenheit des internationalen Systems als Staatensystem, die synonyme Verwendung der Begriffe ‚Territorial-ʻ und ‚Nationalstaatʻ sowie die begrifflich-logische Trennung von inside/outside, d. h. eines ‚internationalenʻ Raumes mit eigenen Gesetzmäßigkeiten vom ‚innerstaatlichenʻ Raum⁸²⁹. Im Unterschied zu früher werden komplexe Konstellationen innerhalb und zwischen Staaten wenigstens nicht mehr unter Modellvorstellungen des liberal optimism, Hobbesian pessimism und neo-liberal institutionalism als die vielleicht extremsten Auswüchse eines US-American banalism reifiziert⁸³⁰. Völlig abwesend sind in diesem Raum der ‚internationalen Sicherheitʻ die ‚Menschenʻ bzw. die ‚Menschheitʻ als solche, weswegen auch immer nur von staatlichen Akteuren die entscheidenden Initiativen für sicherheits‚politischeʻ Maßnahmen ausgehen, die ipso facto nicht willkürlich oder kriminell sein können⁸³¹. Damit wird das Politische in IS zu einer exklusiven Eigenschaft solcher Akteure, die formal und/oder funktional mit der Kategorie ‚Staatʻ assoziiert werden (können)⁸³², was sie in IS zum Zwecke theoriegeleiteter Erklärungen privilegiert – und auch gegen Kritik an ihrem Gebaren immunisiert. Charakteristisch für die politische Relevanz von staatlichen Akteuren ist dabei in erster Linie ihre Verfügung über militärische hardware, nicht zuletzt Nuklearwaffen, die z. B. ‚denʻ USA und China in einem zukünftigen Konflikt dazu dienen könnten, ihre jeweilige Position im System zu ‚verbessernʻ⁸³³, die aber auch von anderen

 Vgl. dazu John Agnew & Stuart Corbridge, Mastering Space: Hegemony, Territory and International Political Economy (London: Routledge, 1995), 83.  Vgl. z. B. Brian Rathbun, The Rarity of Realpolitik: What Bismarckʼs Rationality Reveals about International Politics, International Security 43:1 (2018), 7– 55 und Michael Beckley, The Power of Nations: Measuring What Matters, International Security 43:2 (2018), 7– 44 mit Jack Snyder, Averting Anarchy in the New Europe, International Security 14:4 (1990), 5 – 41, der tatsächlich noch Kategorien wie liberal optimism, Hobbesian pessimism und neo-liberal institutionalism benutzte, um die Konstellation in Europa nach 1990 einzuordnen.  Vgl. Jacqueline R. McAllister, Deterring Wartime Atrocities: Hard Lessons from the Yugoslav Tribunal, International Security 44:3 (2019/20), 84– 128, die z. B. auf die Einrichtung internationaler Strafgerichtshöfe durch einflussreiche Staaten hinweist, um nicht nur begangene Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, sondern auch zukünftige abzuschrecken; vgl. auch Asfandyar Mir, What Explains Counterterrorism Effectiveness? Evidence from the U.S. Drone War in Pakistan, International Security 43:2 (2018), 45 – 83, der terroristischen Aktivitäten nicht-staatlicher Akteure wie z. B. den Taliban, Al-Kaida oder dem Islamischen Staat keine, terrorismusbekämpfenden Maßnahmen der USA aber durchaus politisch-strategische Dimensionen zuschreibt.  Vgl. dazu etwa Marika Landau-Wells, High Stakes and Low Bars: How International Recognition Shapes the Conduct of Civil Wars, International Security 43:1 (2018), 100 – 137, 102, die die Motivation nichtstaatlicher Akteure genau darin sieht, dass sie nach Anerkennung als ‚politischeʻ Akteure streben: „The unfolding of events in Libya illustrates the significance of international recognition during civil conflict. States allied with anti-Qaddafi forces were able to use bilateral recognition of the NTC to affect the balance of capabilities in the conflict, both because they could transfer Libyan state assets to the rebels and because they could provide enhanced military assistance.“  Vgl. die beiden Beiträge zum Schwerpunkt Military Dimensions of U.S.-China Relations von Stephen Biddle & Ivan Oelrich, Future Warfare in the Western Pacific: Chinese Antiaccess/Area Denial, U.S. AirSea

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größeren Staaten in der Region gegen China eingesetzt werden könnten, um potenzielle Angriffe und eine drohende Destabilisierung des internationalen Systems durch China zu verhindern⁸³⁴. Der Umstand, dass staatliche Akteure eine Verantwortung für den Frieden oder eine Verlangsamung des Klimawandels tragen, lässt sich aufgrund des Fehlens entsprechender Kategorien in der US-amerikanischen Praxis auch im Kontext des IB-Mainstreams kaum denken. Weil die ‚bestenʻ Teilnehmer/innen an den disziplinären fads aufgrund ihrer Verpflichtung auf den US-amerikanischen warfare state seit Generationen so beflissen darin waren, das paradigmatische Vokabular der von ihnen geschätzten Theorieperspektiven auf immer neue Sachverhalte in ihrer Eigenschaft als exemplarische ‚Fälleʻ einer als solchen erkennbaren ‚Logik der Anarchieʻ ‚anzuwendenʻ, fiel es ihnen gar nicht mehr auf, dass sie als organische Intellektuelle einem Wissensregime zum Opfer gefallen waren, das den unwirklichsten Formen von Wissenschaft die höchste akademische Reputation verlieh und die damit verknüpften Wirklichkeitskonstruktionen nicht als gefährliche imperial doctrines sondern als Ausdruck von best thinking und outstanding scholarship auswies⁸³⁵. Als Begleiterscheinung des besagten Herdentriebs im sich räumlich ausbreitenden IB-Mainstream internationalisierte sich dasselbe technische mindset, das seit der Charakterisierung nuklearer Abschreckung als Ausdruck von rational deterrence wiederholt seine pathologischen Züge offenbarte⁸³⁶. Immer weiter in den Hintergrund rückte im IB-Mainstream die genauso wichtige wie simple Einsicht, dass akademische Theorien und die davon beeinflusste ‚Forschungʻ schon immer eine enorm wichtige Rolle bei der diskursiven Reproduktion von willkürlichen Wirklichkeitsvorstellungen gespielt haben⁸³⁷.

Battle, and Command of the Commons in East Asia, International Security 41:1 (2016), 7– 48 und Charles L. Glaser & Steve Fetter, Should the United States Reject MAD? Damage Limitation and U.S. Nuclear Strategy toward China, International Security 41:1 (2016), 49 – 98.  Vgl. Christopher Clary & Vipin Narang, Indiaʼs Counterforce Temptations: Strategic Dilemmas, Doctrine, and Capabilities, International Security 43:3 (2018/19), 7– 52; Michael Beckley, The Emerging Military Balance in East Asia: How Chinaʼs Neighbors Can Check Chinese Naval Expansion, International Security 42:2 (2017) 78 – 119 und die sich daran anschließende Diskussion zwischen Travis Sharp, John Speed Meyers, and Michael Beckley, Correspondence: Will East Asia Balance against Beijing?, International Security 43:3 (2018/19), 194– 197.  Vgl. die Kommentare von John Lewis Gaddis und Samuel Huntington in der Form von book praises zum International Security Reader von Brown, Lynn-Jones & Miller (Hg.), The Perils of Anarchy, a.a.O. Vgl. demgegenüber McKinlay, American Intelligence as American Knowing, a.a.O., 50 – 53.  Vgl. dazu Dalby, Security, Modernity, Ecology, a.a.O., 98: „This understanding of security is inherently politically conservative precisely because it emphasizes permanence, control, and predictability, and, it should be noted, it can easily invoke the use of violence to maintain the desired stability.“ Vgl. mit einem sehr ähnlichen Tenor, George, Discourses of Global Politics, a.a.O., besonders 221– 231.  Vgl. R.B.J. Walker, Inside/Outside: International Relations as Political Theory (Cambridge: Cambridge University Press, 1992), zugespitzt auf 5; Vgl. auch Shapiro, The Rhetoric of Social Science, a.a.O., 368. Vgl. auch Reiner Keller et al, Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Einleitende Bemerkungen zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, in: dieselben (Hg.), Die diskursive Konstruktion

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Die Politische Ökonomie der symbolischen Formen Aus poststrukturalistischer Sicht stellte sich die im amerikanisierten IB-Mainstream kultivierte Selbstüberhöhung ihrer scientific community als Spielfeld der ‚bestenʻ Wissenschaftler/innen als ein Mythos dar, der bei der Verschleierung der Tatsache half, dass es neben einer vernünftigen Urteilskraft keine objektiven Kriterien für die Beurteilung gibt, welche wissenschaftliche Deutung einer vielschichtigen Realität angemessen ist. Zu den ‚Bestenʻ zu gehören, verringerte in dem Zusammenhang den Druck zur Rechtfertigung dafür, dass und warum man in der Disziplin IB nach exemplarischen ‚Fällenʻ für die Existenz weltanschaulich vorgefertigter Wirklichkeitsvorstellungen suchen sollte. Einer der wichtigsten Erkenntnisgewinne, der mit einer poststrukturalistischen Kritik verbunden war, bestand darin, dass die Durchdringung der akademischen IB mit weltanschaulichen Prämissen und naturwissenschaftlichen Ausdrucksformen viel mit den bereits erwähnten Institutionen und Dispositiven der modernen bürgerlichen Gesellschaft/en zu tun hatte. ‚Archäologischʻ betrachtet, ließ sich ihr Beginn auf die Diskursformation des laissez-faire Kapitalismus im 19. Jahrhundert datieren, von wo aus sie sich im 20. Jahrhundert in der Formation des statist capitalism intensivierte⁸³⁸, um sich im 21. Jahrhundert in der Form des transnationalist bzw. supranationalist capitalism zu realisieren. Bereits im laissez-faire Kapitalismus hatten sich seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts eine Reihe ganz entscheidender Denkfiguren, Metaphern und Konzepte etabliert, die die wissenschaftliche Weltwahrnehmung in den US-amerikanischen, französischen und deutschen Sozialwissenschaften prägen sollten⁸³⁹: der Bereich des Sozialen wurde immer selbstverständlicher als ein Teil der von ‚Gesetzmäßigkeitenʻ durchwirkten natürlichen Welt betrachtet; soziale Phänomene wurden analog zu natürlichen Phänomenen als Gegenstände wahrgenommen, die ohne ihre geschichtliche Dimension zu untersuchen wären; die daran beteiligten Menschen waren grundsätzlich triebgesteuert und interessegeleitet, während sie die Wirklichkeit akzeptierten, wie sie vermeintlicherweise ‚istʻ⁸⁴⁰; gesellschaftliche ‚Teilbereicheʻ, wie vor allem ‚die Ökonomieʻ, besaßen ihre je typischen Gegenstände, gehorchten einer spezifischen Logik und waren analysierbar als quasi-mechanische Abläufe, was die daran beteiligten Akteure auf maschinenhafte Wesen reduzierte. „In den neuen Sozialphysiken des 19. Jahrhunderts vervon Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung (Konstanz: UVK, 2005), 7– 21.  Vgl. Ashley, Three Modes of Economism, a.a.O., 485.  Vgl. dazu Walter O. Ötsch, Bilder in der Geschichte der Ökonomie: Das Beispiel der Metapher von der Wirtschaft als Maschine, in: derselbe & Silja Graupe (Hg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft. Zur Geschichte und Aktualität imaginativer Fähigkeiten in der Ökonomie (Wiesbaden: Springer VS, 2020), 170 – 219, 195.  Vgl. zur historischen Dimension dieser Denkfigur des ‚reaktiven Akteursʻ, Michel Foucault,Vorlesung 11 (Sitzung vom 28. März 1979), in: M. Sennelart (Hg.), Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978 – 1979 (Frankfurt: Suhrkamp, 2004), 367– 398, 370.

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blassen die primär menschlichen ‚Kräfteʻ, die im 17. und 18. Jahrhundert als Handlungsmotive im Vordergrund standen, wie die Angst bei Hobbes, das Eigeninteresse bei Quesnay oder die Sympathie und das Eigeninteresse bei Smith. Mit Malthus und Ricardo gewinnt gleichzeitig der ökonomische Mechanismus ein Eigenleben. Er nimmt die Gewalt eines Naturereignisses an, das unabhängig vom bewussten Wollen der Menschen abläuft.“⁸⁴¹ Vor allem war die Welt der Ökonomie in der Wahrnehmung vieler Eliten völlig unvereinbar mit der politisch-juristischen Welt geworden⁸⁴². Der wesentliche Unterschied zwischen dem laissez-faire Kapitalismus im 19. Jahrhundert und dem statist capitalism im 20. Jahrhundert bestand darin, „[…] that the modern statist form allows for the possibility that the state itself might intervene in ‚the economic sphereʻ, might participate as entrepreneur or consumer, or might perform as collective capitalist in the name of the public good. Statism allows for this while presupposing that in its practices bearing on material interests the state itself will obey the technical rational logic of economy.“⁸⁴³ Während sich im Mythos des laissez-faire Kapitalismus ‚die Ökonomieʻ über die rationalen Entscheidungen der an ihr beteiligten Maschinenwesen durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage analog zu einem hydraulischen System noch selbst in eine sogenannte ‚Gleichgewichtsordnungʻ brachte⁸⁴⁴ und in diesem Zusammenhang für ‚Wachstumʻ durch eine profitable Kapitalverwertung sorgte, trat ‚der Staatʻ im Bild des statist capitalism offensichtlich nicht nur als Krisenmanager auf, indem er durch entsprechende Maßnahmen auf den Feldern der Preis-, Zins- und Steuerpolitik für Stabilität im krisenanfälligen System der Ökonomie sorgte. „The state also acts to replace the market mechanism where the economic process has produced unintended and dysfunctional consequences: government consumption, enhancing material and non-material societal infrastructure (e. g. transportation and education), relieving the costs of social damages due to private enterprise (e. g. unemployment, welfare, or pollution), and helping to maintain foreign markets.“⁸⁴⁵ Gleichzeitig wurde bei allen Interventionen des Staates in den Wirtschaftskreislauf darauf geachtet, dass ‚die Ökonomieʻ in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin nicht nur jenseits von ‚der Gesellschaftʻ sondern auch außerhalb ‚der Politikʻ lag und als ein eigenständiger Bereich mit ihrer spezifischen Funktionslogik perzipiert werden konnte, was die diskursive Grenzziehung reproduzierte „[…] between the two most influential secular monotheisms struggling to respond to the death of a more transcendentally conceived deity.“⁸⁴⁶ Die Modellierung des Staates im Kontext der akademischen IB orientierte sich vor allem an der öffentlichen Rechtfertigung der im Namen des Staates sprechenden Kräfte

     

Ötsch, Bilder in der Geschichte der Ökonomie, a.a.O., 196 – 197. Foucault, Vorlesung 11, a.a.O., 388. Ashley, Three Modes of Economism, a.a.O., 486 – 487. (Hbg. im Original) Vgl. Ötsch, Bilder in der Geschichte der Ökonomie, a.a.O., 200 – 201. Vgl. Ashley, Three Modes of Economism, a.a.O., 487. Walker, Out of Line, a.a.O., 20.

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für seine Rolle als ‚kollektiver Kapitalistʻ⁸⁴⁷. Denn nicht die Erreichung selbstgewählter oder gar wünschenswerter politischer oder gesellschaftlicher Ziele diente als Rechtfertigung für Eingriffe in ‚die Ökonomieʻ: staatliche Interventionen galten der Problemlösung in einem vorgefertigten und autonomen System. ‚Der Staatʻ verhielt sich nach offizieller Lesart trotz seiner formalen ‚Souveränitätʻ ganz im Sinne der ökonomischen Logik als ein ‚rationaler Akteurʻ, d. h. als ein Maschinenwesen, das entsprechend der aufkommenden Computermetapher⁸⁴⁸ lediglich noch als Informationsprozessor agierte, um entsprechend der sich daraus ergebenden Nutzenerwägungen danach zu streben, die Stabilität und Funktionsfähigkeit ‚der Ökonomieʻ in einem gegebenen System als einen eigengesetzlichen Funktionsbereich mit dem Primat der Kapitalakkumulation aufrechtzuerhalten. Angesichts der Dichte und Komplexität des architektonischen Gerüsts, das die Redeweise/n vom Staat als einem rationalen interessegeleiteten Akteur unter der episteme des ‚Mechanismusʻ seit mittlerweile zwei Jahrhunderten zu immer neuen intellektuellen Blüten treibt, ohne dabei die axiomatische Grundfigur anzutasten, ist der kollektive Glaube an einen kumulativen Fortschritt bei der Wissensgewinnung im IB-Mainstream wirklich ganz erstaunlich. Im Ergebnis unterwarf sich ‚der Staatʻ nämlich für die ‚bestenʻ Vertreter/innen des IB-Mainstreams in jeder Generation aufs Neue einer ‚Logik der Ökonomie/Anarchieʻ – mit weitreichenden Konsequenzen für das dadurch immer wieder aufs Neue sanktionierte Bild des Gegenstandsbereichs. „Taking their cues from the stateʼs legitimations, and becoming more anxious to do so as economic crisis deepens, students of international politics compose their queries in terms of the system management problematic of the state. To formulate questions in these terms, however, they have no choice but to regard the state as an economic actor, a rational Homo oeconomicus, and to purge their understandings of politics of the logic of politics itself.“⁸⁴⁹ Für den Fall, dass man die Hauptbedrohungen für die organisierte Menschheit darin erkennt, dass militärische Konfrontationen zwischen den Staatsapparaten der Atommächte aufgrund ‚rationalerʻ Entscheidungen jederzeit in einen unkalkulierbaren Atomkrieg münden können, und dass die unveränderte Beibehaltung kapitalistischer

 Vgl. Ashley, Three Modes of Economism, a.a.O., 488.  Vgl. Ötsch, Bilder in der Geschichte der Ökonomie, a.a.O., 202.  Ashley, Three Modes of Economism, a.a.O., 489. (Hbg. im Original) Vgl. exemplarisch dazu die Beiträge zur Kriegsursachenforschung von Bruce Bueno de Mesquita, The War Trap (New Haven: Yale University Press, 1981) und derselbe, War and Reason: Domestic and International Imperatives (New Haven: Yale University Press, 1992), 3, der dort meinte, sich vom Maler Francisco Goya (!) inspirieren lassen zu müssen, um die alles entscheidende Frage zur Analyse des Kriegs auf genau zwei Akteurseigenschaften reduzieren zu können: „‚With reason or without it.ʻ This is the enduring question of warfare. Is war the product of blind passion or of reasoned judgment?“ Und um schließlich festzustellen, dass mathematische Modellierungen unter Rückgriff auf die Logiken der game theory dabei helfen würden, die richtigen Antworten zu finden, weil von vornherein klar sei, dass der ‚Staatʻ ein rationaler Entscheidungsträger ist, der zwar unter‚Unsicherheitʻ handelt, aber in der entsprechenden Situation Möglichkeiten findet, die für sich selbst beste Option auszuwählen.

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Produktionsweisen auf der Nordhalbkugel aufgrund ihrer ‚natürlichenʻ Wesensmäßigkeit mittelfristig das globale Ökosystem zerstört, wirkt jede zeitgenössische Redeweise von wie auch immer gearteten ‚Weltordnungenʻ und ihren staatlichen ‚Hüternʻ bzw. ‚Herausforderernʻ nachgerade zynisch. Nach wie vor lässt sich jedoch mit einem Blick auf die ‚bestenʻ Zeitschriften der Disziplin IB erkennen, wie die ‚bestenʻ Teilnehmer/ innen am akademischen Diskurs unter dem Einfluss weltanschaulicher Dispositionen und Praxisorientierungen „[…] read the present order of statist economism, not as a pathological order of domination subordinating alternative modes of order, but as a selfevident realization of an objective order of things hitherto obscured by a variety of atavistic factors. They thereby pitch allegedly scientific political theory in opposition to all attempts to expose the limits of the stateʼs technical rational legitimations or to establish an alternative political basis upon which to criticize or escape the dominance of the logic of economy.“⁸⁵⁰

Über ‚dieʻ Relevanz poststrukturalistischer Kritik Poststrukturalistische Kritik, so könnte man schlussfolgern, bleibt genau in dem Maß relevant, wie sie sich dafür eignet, Redeweisen zu delegitimieren, die einen Referenzrahmen reproduzieren, in dem die zutiefst gestörten realweltlichen Verhältnisse mit (großen) Narrativen als ‚Ordnungʻ beschrieben werden können. Angesichts der vielfältigen Formen von Ausbeutung, Unterdrückung, Zerstörung und Vernichtung würde es eigentlich um die Schaffung eines Vorstellungsraums gehen, in dem ‚andereʻ Wirklichkeiten denk- und sagbar werden. Dabei verstünde sich Widerstand gegen die herrschenden Sichtweisen und Deutungsschemata nicht mehr als ‚Stellungskriegʻ einer Gruppe von oppositionellen organischen Intellektuellen, die sich über das gemeinsame Ziel ihrer politischen Mission bereits einig sind. Der Kampf gegen die Unterdrückung durch staatliche Dispositive und ihre Diskurse der World Order und Global Governance würde zur „[…] Subversion eines im Kern unüberwindbaren Macht-, Gewalt- und Herrschaftszusammenhangs.“⁸⁵¹ Kritik wäre intellektueller ‚Partisanenkriegʻ, in dem sich einzelne dem Anpassungsdruck akademischer Disziplinen verweigern, um als Subjekte mehr Freiheit zur eigenständigen Deutung des Weltgeschehens zu gewinnen. Widerstand würde damit zu einem persönlichen Projekt der Positionierung⁸⁵², das unter Umständen Vorbildcharakter gewinnt, ohne aber als solches kanonisierbar zu

 Ashley, Three Modes of Economism, a.a.O., 490.Vgl. exemplarisch zur Aktualität der Vorstellung einer internationalen ‚Gleichgewichtsordnungʻ durch die great powers, Joshua R. Itzkowitz Shifrinson, Partnership or Predation? How Rising States Contend with Declining Great Powers, International Security 45:1 (2020), 90 – 126.  Uwe H. Bittlingmayer & Tatjana Freytag, Einleitung, in: dieselben & A. Demirović (Hg.), Handbuch Kritische Theorie (Wiesbaden: Springer, 2019), 3 – 38, 32.  Vgl. Aggie Hirst, Derrida and Political Resistance: The Radical Potential of Deconstruction, Globalizations 12:1 (2015), 6 – 24, 16.

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sein. Mit einer solchen poststrukturalistischen Kritik sind freilich gewisse Voraussetzungen verknüpft, die über ihre Relevanz entscheiden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für ‚die Relevanzʻ einer solchen Kritik ist das persönliche Gefühl, dass etwas an den vorherrschenden Redeweisen nicht stimmt. Wenn Foucault in geistiger Koalition u. a. mit Adorno und Althusser mit seiner Forderung in die Offensive ging, dass ‚wirʻ modernen westlichen Menschen auf der Nordhalbkugel aufhören sollten, uns den staatlichen Dispositiven und ihren Mechanismen der Disziplinierung zu unterwerfen, dann setzte er im Adressatenkreis dieser Forderung bereits ein Subjekt voraus, das die allgegenwärtigen Anpassungszwänge als solche erkennt, und das fühlt, ohne es im Detail schon genau zu wissen, dass im umliegenden Kulturraum und seinen konjunkturellen symbolischen Formen etwas grundsätzlich nicht stimmt. Poststrukturalistische Kritik steht und fällt ergo mit der Voraussetzung, dass ihre Sprecher/innen und Adressat/innen sich jeweils darüber bewusst geworden sind, dass die moderne bürgerliche Gesellschaft, völlig unabhängig von ihrer ästhetisierenden bzw. mystifizierenden Selbstbeschreibung, einen vermachteten Raum darstellt, in dem unablässig Wirklichkeitsvorstellungen geschaffen werden, die jede/n einzelne/n zu Affirmation und Konformität gegenüber den existierenden Verhältnissen ‚zwingenʻ. Poststrukturalistische Kritik wird nur unter der Voraussetzung relevant, dass Subjekte eine persönliche – keine politisch korrekte bzw. antrainierte bzw. klischeehafte – Betroffenheit gegenüber solchen Formen der Ausbeutung, Unterdrückung, Zerstörung und Vernichtung entwickeln, die innerhalb der vermeintlich bestehenden ‚Ordnungenʻ ‚normalʻ zu sein scheinen. Diese Betroffenheit resultiert aus eigenen Erfahrungen oder speist sich aus Empathie und Solidarität mit den konkreten Opfern willkürlicher (staatlicher) Gewalt. Zur Basis einer kritischen poststrukturalistischen Haltung wird diese Betroffenheit über den Prozess der je persönlichen ‚Distanzierungʻ⁸⁵³ und ‚Befreiungʻ vom Anpassungsdruck der etablierten Narrative, die dem Leid der Opfer keinen oder nicht den gebührenden Raum geben, um stattdessen die Legitimität und Funktionsfähigkeit des institutionellen Gefüges zu betonen. Poststrukturalistische Kritik wird unter der weiteren Voraussetzung relevant, dass ein persönlicher – kein politisch korrekter bzw. antrainierter bzw. klischeebehafteter – Drang entsteht, die vermeintliche Legitimität und Funktionsfähigkeit des institutionellen Gefüges einer zersetzenden oder gleich ganz zerstörerischen ‚Befragungsbewegungʻ⁸⁵⁴ auszusetzen. Ohne eine persönli-

 Vgl. treffend dazu auch Hilmar Schäfer, Kritik als Praxis der Distanzierung. Zum sozialwissenschaftlichen Analysepotenzial von Michel Foucaults Spätwerk, in: A. Langer, M. Nonhoff & M. Reisigl (Hg.), Diskursanalyse und Kritik (Wiesbaden: Springer VS, 2019), 169 – 191, 179: „Aus der Anerkennung der historischen Beweglichkeit der Dinge folgt somit auch die Prozesshaftigkeit kritischer Distanzierung und Refexion selbst. Foucault fordert von der Kritik daher ein Denken, das beweglich bleibt, ohne in der Beweglichkeit selbst bereits die Antwort auf die Anforderungen an eine kritische Haltung zu verorten.“ (Hbg. hinzugefügt)  Vgl. dazu Oliver Flügel-Martinsen, Negative Kritik, in: Bittlingmayer, Freytag & Demirović (Hg.), Handbuch Kritische Theorie, a.a.O., 701– 716, 709 – 711.

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che Positionierung gegenüber den Mechanismen zur Aufrechterhaltung und Mystifizierung des status quo gewinnt poststrukturalistische Kritik auch keine Relevanz. Poststrukturalistische Kritik lässt sich in der Textproduktion nicht auf eine Technik der Argumentation reduzieren, die ohne eine persönliche Haltung zum realweltlichen Geschehen ‚gelerntʻ werden könnte, um sie etwa in den typischen Formen einer ‚Diskursanalyseʻ bzw. einer ‚Dekonstruktionʻ zur ‚Anwendungʻ zu bringen; und auch das vielleicht nur, weil es die Regeln des Disziplinarregimes im akademischen Kontext so vorsehen. Ebenso wenig lässt sich poststrukturalistische Kritik als ‚politisches Projektʻ im Verbund von Gruppen, Parteien, oder sozialen Bewegungen praktizieren, die sich durch feststehende Identitäten und abstrakt formulierte Agenden auszeichnen. „Suspicious of the erasures entailed in narratives of identity and unity, those of a more poststructuralist bent have emphasised the transitory and contingent nature of activist politics. […] From such a perspective, there is no unified subject performing acts of resistance; rather, resistance acts are constitutive of an always incomplete subject, and are marked by strategic rationality, irony and contradiction.“⁸⁵⁵ Zumal ergeben sich für die Position einzelner im Kollektiv so gut wie immer weitreichende Anpassungszwänge, entweder in der Form einer ‚freiwilligenʻ Kompromissfindung zugunsten eines kleinsten gemeinsamen Nenners, der jede Gruppe als solche überhaupt als einen agent in Erscheinung treten lässt, oder in Gestalt von (subtilen) Mechanismen der Kooptierung. „The prevailing structures of knowledge are simultaneously structures of power. As a consequence, attempts to articulate critical and emancipatory positions – a discourse of dissent – become co-opted, deflected or even made self-defeating.“⁸⁵⁶ Die Relevanz poststrukturalistischer Kritik hängt unmittelbar davon ab, ob und inwiefern die ‚negativeʻ Positionierung gegenüber allen Narrativen der Bagatellisierung und Normalisierung von Ausbeutung, Unterdrückung, Zerstörung und Vernichtung als ein persönliches und ethisch motiviertes Anliegen empfunden wird; und ob die Angebote zur Teilnahme an einem ‚bürgerlichen Pluralismusʻ als Strategien der Kooptierung erkannt werden. Wenn beispielsweise Masala im Kontext des deutschen IB-Mainstreams darauf verwies, dass ‚poststrukturalistische Theorienʻ und ‚postmoderne Diskurseʻ, „[…] auf der Ebene der normativen Analyse [sic!] internationaler Politik [Gemeinsamkeiten mit dem Neorealismus aufweisen, weil sie ganz ähnliche …] normative Empfehlungen an die reale Politik […]“⁸⁵⁷ richten, dann ignorierte er bei seinem ‚Lesenʻ völlig, dass sich hinter ähnlich klingenden Worten ‚poststrukturalistischer Theorienʻ, wie zum Beispiel pluralism oder hegemony, je nach ‚Textʻ, ganz andere Wirklichkeitsvorstellungen verbergen. Der von Masala zitierte Text aus dem Dunstkreis ‚derʻ poststrukturalistischen IB artikulierte zwar die Herausforderung „[…] that every order [sic!] is a hegemonic order and  Vgl. Catherine Eschle & Bice Maiguashca, Rethinking Globalised Resistance Feminist Activism and Critical Theorising in International Relations, British Journal of International Relations, 9:2 (2007), 284– 301, 292.  Walker, Contemporary Militarism and the Discourse of Dissent, a.a.O., 304.  Masala, Are the boys back in town?, a.a.O., 179.

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that there is no possible order ‚beyond hegemonyʻ, but on the other side we also acknowledge the negative consequences of a unipolar world, organised around the hegemony of a hyper-power, [so] what is the alternative? My suggestion is that the only solution lies in the pluralisation of hegemonies.“⁸⁵⁸ Dieser Vorschlag hatte jedoch neben einer semantischen Ähnlichkeit zum Vokabular des Neorealismus keinerlei Berührung mit der mechanistischen Vorstellungswelt der staatstragenden warrior academics, in der die allgegenwärtigen Sicherheitsbedenken zwischen den Staaten unausweichlich in entsprechende Reflexe des (militärischen) balancing münden (sollen), was nichts anderes heißt, als dass nur immer noch mehr militärisches Gerät zu Frieden führt. Masala behauptete zudem, dass Chantal Mouffe in dem von ihr verfassten Text „[…] die Schaffung einer multipolaren Weltordnung [forderte], um Übermacht auszubalancieren“⁸⁵⁹. Davon ist in diesem Text freilich nirgendwo die Rede. Vor allem orientierte sich besagter Text in keinster Weise an der impliziten Vorstellung von einem wie auch immer gearteten ‚Mechanismusʻ als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach den Funktionsbedingungen einer ‚Weltordnungʻ. Tatsächlich liegt genau hier der wesentliche Unterschied zwischen der weltanschaulich vorkonfigurierten Vorstellungswelt von Neorealisten à la Masala und dem Vorstellungsraum, der von kritischen Poststrukturalist/innen wie Mouffe durch einen Verzicht auf parametrische Festlegungen immer wieder aufs Neue entwickelt werden soll. Das wird unmittelbar dadurch klar, dass Mouffe im besagten Text explizit betonte „[…] that what is at stake in both cases [: domestic and international politics,] is the importance of acknowledging the dimension of ‚the politicalʻ.We need to realise that, instead of trying to bring about a consensus that would eliminate the very possibility of antagonism, the crucial task is to find ways to deal with conflicts so as to minimise the risks of them taking an antagonistic form.“ Im Unterschied zur neorealistischen Politikberatung, die sich aufgrund ihrer vorgängigen Solidarität mit den Staatsapparaten und daraus resultierender Verpflichtungen auf konservative Grundannahmen hinsichtlich des Gegenstandsbereichs der internationalen Beziehungen an Regierungen mit den immer gleichen Rezepten (balancing) für die immer gleiche Krankheit (insecurity) der immer gleichen Akteursinstanzen (states) wendet, betonte Mouffe aus ihrer persönlichen Haltung gegenüber den Herausforderungen für die Herstellung einer (möglichst) friedlichen Welt die Wichtigkeit von als solchen unbestimmten politischen Strategien, die der Bewältigung von raumzeitlich konkreten Problemen in einer unipolaren Welt angemessen sind, ohne dass es für die Formulierung solcher Strategien jedoch bereits abstrakte Leitlinien oder gar fertige Skripte gäbe. Die fehlende Sensibilität auf der Seite Masalas als Repräsentant und privilegierter Sprecher des konservativen IB-Mainstreams für diese charakteristischen Alleinstellungsmerkmale einer poststrukturalistischen Kritik an den vorfindlichen rationalistischen Vorschlägen zur Herstellung von internationaler Ordnung zeigt eindrücklich, wie die Subjektivierungsmechanismen der Disziplin die ‚bestenʻ Fach-

 Mouffe, Democracy in a Multipolar World, a.a.O., 553.  Vgl. Masala, Are the boys back in town?, a.a.O., 179.

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vertreter/innen unentwegt zur Kooptierung und Assimilierung anderer Herangehensweisen anhalten. Dabei verkannte Masala zudem, dass er gerade wegen der von ihm als unproblematisch eingeschätzten positivistischen Grundhaltung in Wissenschaftsfragen daran scheitern mußte, in „[…] einen fruchtbaren Dialog mit postpositivistischen Theorieansätzen [zu treten]“.⁸⁶⁰ Die Relevanz poststrukturalistischer Kritik resultiert mit Blick auf die internationalen Beziehungen gerade nicht daraus, dass staatlichen Funktionseliten innerhalb des von ihnen geteilten Vorstellungsraums Lösungsvorschläge zur Stabilisierung der dort vorfindlichen prekären Verhältnisse unterbreitet werden. Wie bereits erwähnt, geht es poststrukturalistischer Kritik auf der Grundlage postpositivistischer epistemologischer Prämissen, die für den Gegenstand und die Stoßrichtung des Unterfangens ganz entscheidend sind, in aller Regel um subversiven Widerstand gegen jede sich selbst vollziehende diskursive Logik in der konservativen politischen Theorie als Praxis. Das Erkenntnisinteresse poststrukturalistischer Kritik richtet sich nicht auf pragmatische Lösungen innerhalb des etablierten Referenzrahmens, sondern auf eine Änderung des weithin geteilten Vorstellungsraums, der sowohl die politische als auch die akademische Praxis zu Normalfallbeschreibungen veranlasst, die sich vorrangig um falsche Zwänge und Notwendigkeiten drehen. Mit anderen Worten: weil „[…] power operates implicitly in the kinds of subjects or human identities deployed in discursive practices, resistance to the subjugating force of institutionalized discourses requires new discursive formations containing locations for oppressed subjects that they lack in prevailing ones.“ ⁸⁶¹ Poststrukturalistische Kritik gewinnt ihre Relevanz nicht aus objektiven Gründen sondern aus der je persönlichen Einschätzung, ob und inwiefern die amerikanisierten IB ein Disziplinarregime darstellen, das Konformitätsdruck in ideologischer und institutioneller Hinsicht ausübt. So ist es zum Beispiel auch kein Widerspruch, wenn mit Blick auf die Relevanz poststrukturalistischer Kritik zuweilen behauptet worden ist, dass es zwar für eine gewisse Zeit durchaus angebracht gewesen wäre, „[…] den internationalen Beziehungen einen Spiegel vorzuhalten und die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Disziplin infrage zu stellen […, dass aber ein solches] Problematisieren nicht endlos im Vordergrund stehen [kann].“⁸⁶² Je nach persönlicher Positionierung gegenüber dem IB-Mainstream kann man es für eine gewisse Zeit als angemessen erachten, sich dem Anpassungsdruck der Disziplin zu widersetzen, um etwas später die eigene Haltung aus welchen Gründen auch immer domestizieren zu lassen. Ob poststrukturalistische Kritik relevant sein kann, muss am Ende jede/r ‚selbstʻ entscheiden.

 Masala, Are the boys back in town?, a.a.O., 180.  Michael J. Shapiro, Toward a Politicized Subject: Peter Handke and Language, Boundary 13:2/3 On Humanism and the University II: The Institutions of Humanism (1985), 393 – 418, 405.  Thomas Diez, Postmoderne Ansätze, in: Schieder & Spindler, Theorien der Internationalen Beziehungen, a.a.O., 449 – 476, 472.

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Strategien poststrukturalistischer Kritik Poststrukturalistische Kritik hat sich auf unterschiedliche ‚Strategienʻ gestützt, um je persönliche Distanzierungen von den etablierten Narrativen im konkreten Fall zu bewerkstelligen. Unter den gängigeren Namen für diese Strategien finden sich häufig ‚Dispositivanalysenʻ, ‚archäologischeʻ bzw. ‚genealogischeʻ Rekonstruktionen diskursiver Praktiken, oder begrifflich motivierte Interpretationen von Texten im Sinne ihrer ‚Dekonstruktionʻ. Wichtig für das Verständnis solcher Strategien der Kritik ist zunächst, dass sie keine für sich stehenden ‚Methodenʻ oder gar ‚Forschungsprogrammeʻ mit ‚anwendbarenʻ ‚Technikenʻ gewesen sind, deren Weiterentwicklung zu einer kanonischen science einen ‚kumulativen Fortschrittʻ ermöglichen würde; zumindest nicht im Spektrum poststrukturalistischer Kritik⁸⁶³. Die Wahl und Umsetzung der jeweiligen Strategie ist vielmehr eng gekoppelt an die Art der persönlichen ‚Distanzierungʻ von den etablierten Narrativen, was mit einer gewissen Informiertheit über ‚die Weltʻ einhergeht, auf die sich solche Narrative vermeintlicherweise beziehen. Ausschlaggebend für die Wahl und Umsetzung der kritischen Strategie ist in der Regel, ‚wasʻ konkret als anstößig empfunden wird, d. h. welche Bestandteile des vorherrschenden Diskurses einem ‚Selbstʻ als problematisch erscheinen, was nach dem persönlichen Empfinden angemesseneren Sachverhaltsbeschreibungen und vernünftigeren Anschauungen der internationalen Beziehungen entgegensteht. Die eigene Haltung zum infrage stehenden Gegenstand bestimmt immer auch die Wahl und Umsetzung der kritischen Strategie. Die immer wieder aufs Neue aufflammende ‚Bedrohungʻ der freien Welt des Westens durch Russland bzw. die Sowjetunion liefert dafür ein gutes Beispiel. Ähnlich der Situation 1987/1988, in der sich die Regierung der Sowjetunion zu weitreichenden Schritten der Deeskalation gegenüber den USA entschied und die Schaffung einer‚Neuen Weltordnungʻ nach dem Ende des damit eingeläuteten Ost-West-Konflikts realistisch schien, kamen die Regierungen der drei Alliierten auf die Initiative der US-amerikanischen Regierung im Februar 1945 deklaratorisch überein, an der ‚Einheitʻ der Welt zu arbeiten und zu diesem Zweck sogar die Idee der ‚Vereinten Nationenʻ ins Werk zu

 Es sind im IB-Mainstream freilich durchaus Versuche angestellt worden, poststrukturalistisch motivierte argumentative Verfahren in methodologische Formen zu bringen.Vgl. Jennifer Milliken, The Study of Discourse in International Relations: A Critique of Research and Methods, European Journal of International Relations 5:2 (1999), 225 – 254, die es sich nicht nehmen ließ, das, was sie unter discourse analysis verstand, im Sinne eines emerging research programmes zu kanonisieren. Entsprechend firmierte die Aufarbeitung des Forschungsstands zur Gattung der discourse analysis dort auch unter der Rubrik Towards a Normal Science (sic!) of Discourse Analysis. Vgl. dazu jedoch Michel Foucault, The Politics of Truth (New York: Semiotexte, 1997), 132: „The critical ontology of ourselves has to be considered not, certainly, as a theory, a doctrine, nor even as a permanent body of knowledge that is accumulating; it has to be conceived as an attitude, and ethos, a philosophical life in which the critique of what we are is at one and the same time the historical analysis of the limits that are imposed on us and an experiment with the possibility of going beyond them.“

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setzen⁸⁶⁴. Diese Art des politischen Idealismus war im politischen System der USA jedoch schon immer eher rhetorischer Natur gewesen und obendrein im Schwinden begriffen⁸⁶⁵. Die Truman-Doktrin beendete die Anti-Deutschland Koalition zwischen den USA und der Sowjetunion schließlich offiziell im März 1947, indem sie als neue Rolle für die USA die (militärische) Verteidigung der ‚freienʻ Welt gegen den sowjetischen Totalitarismus beschrieb. Dieser abrupte Perspektivenwechsel wirkte für Außenstehende rätselhaft, wenn nicht sogar übertrieben. Angesichts der defensiven militärischen Ausrichtung der Sowjetunion einerseits und der militär-technologischen Überlegenheit der US-Streitkräfte andererseits, angesichts auch der krassen Unterschiede im Stand der jeweiligen sozioökonomischen Entwicklung, angesichts der geringen Reputation eines totalitären und repressiven sowjetischen Regierungssystems in der Weltöffentlichkeit und auch angesichts der geopolitischen Vorteile für die USA aufgrund ihrer günstigen geographischen Lage war es schwer nachvollziehbar, dass ‚dieʻ Sowjetunion tatsächlich eine so große politische Bedrohung für die ‚freieʻ Welt und den Einflussbereich der USA darstellen würde. Jede nüchterne Risikofolgenabschätzung des mit der Truman-Doktrin eingeläuteten Kalten Kriegs zwischen den USA und der Sowjetunion bot zumal Anlass zur Distanzierung vom Diskurs des Soviet threat, weil die Strategie des containment insofern unangemessen schien, als sie über die damit zusammenhängenden Rüstungswettläufe, Stellvertreterkriege und Umweltzerstörungen erhebliches Leid über unbeteiligte Menschen in den USA, Europa und anderen Regionen der Welt bringen würde⁸⁶⁶ – Leid, das mit vernünftigen Gründen eigentlich nicht zu rechtfertigen war. Konkreter Gegenstand poststrukturalistischer Kritik wurde mit Blick auf diesen Zusammenhang eine „[…] scriptural conviction nourished in the United States – and no doubt having its counterpart in Russia – that a determined Enemy was being driven by its inherent and unalterable nature to expand and eventually rule the world. […] It is this conviction that has fueled the arms race by leading the United States – and no doubt the Soviet Union, but somewhat less competently – to fund research on almost every imaginable weapons system.“⁸⁶⁷ Die besondere Eigenschaft dieser scriptural conviction des Soviet threat wurde aus der Perspektive poststrukturalistischer Kritik darin gesehen,

 Vgl. Reiner Marcowitz, ‚One Worldʻ oder Bipolarismus? Der Jalta-Mythos und seine Folgen, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51:2 (1999), 115 – 128, 118: „Gerade der amerikanische Präsident [Roosevelt] war Stalin in Jalta in vielen Fragen – insbesondere Polen und China betreffend – entgegengekommen, weil er eine Fortsetzung der Zusammenarbeit über das Kriegsende hinaus und den einvernehmlichen Aufbau einer ‚Weltorganisation […], in der alle friedliebenden Nationen endlich die Chance haben, sich zusammenzuschließenʻ, für möglich und zur Friedenserhaltung unabdingbar erachtete.“  Kees van der Pijl, The Making of an Atlantic Ruling Class, a.a.O., 133.  Vgl. Hugh Gusterson, Anthropology and Militarism, Annual Review of Anthropology 36:1 (2007), 155 – 175, 163: „U.S. nuclear weapons testing and production particularly harmed Pacific Islanders and residents of the American Southwest, who have suffered environmental contamination and high rates of cancer and birth defects.“  Charles E. Nathanson, The Social Construction of the Soviet Threat: A Study in the Politics of Representation, Alternatives 13:4 (1988), 443 – 483, 470.

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dass sie in der geteilten Vorstellungswelt der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitsbürokratie ein Phänomen erzeugte, dessen ‚Faktizitätʻ völlig ohne Indizien auskam, für dessen ‚Existenzʻ es in der materiellen Welt gar keine Entsprechung/en brauchte⁸⁶⁸. Die wesentliche Eigenschaft dieser scriptural conviction des Soviet threat bestand darin, dass sie sich nicht auf irgendeine ‚Seinsartʻ der Sowjetunion bezog, sondern eine rein symbolische Form war. Nach der ersten Verlautbarung eines Soviet threat im ‚langen Telegrammʻ von George Kennan anno 1946, das in der US-Regierungsbürokratie ‚einschlug wie eine Bombeʻ⁸⁶⁹, begann die besagte Bedrohungsvorstellung als ein einflussreicher ‚Textʻ ein Eigenleben zu entfalten, insofern mündliche und schriftliche Bezüge von den vielen beflissenen Mitarbeiter/innen im US-Regierungssystem auf die damit zusammenhängende Denkfigur einen riesigen Verweisungszusammenhang herausbildeten. Die außen- und sicherheitspolitische Theorie und Praxis der USA veränderte sich unmittelbar im Anschluss an dieses Telegramm ganz erheblich. Die entscheidende Frage richtete sich deswegen auf die konkreten Umstände, die einen so „[…] dramatic shift in the nature of the game […]“⁸⁷⁰ möglich werden ließen. Die kritische Strategie belief sich auf eine Rekonstruktion der Möglichkeitsbedingungen für den gewaltigen Einschlag besagter scripture, die in der Konsequenz zu einem markanten ‚Bruchʻ in der bisherigen Theorie und Praxis US-amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik führte. Ohne eine entsprechende Informiertheit über den relevanten Kontext der USamerikanischen Regierungsbürokratie zur fraglichen Zeit wäre es freilich schwierig gewesen, den Resonanzboden zu ‚entdeckenʻ, der für die Diskussionen über das ‚lange Telegrammʻ und den dort artikulierten Soviet threat verantwortlich war. Selbst die technisch anspruchsvollste ‚Diskursanalyseʻ wäre bei dieser kritischen historischen Rekonstruktion völlig ins Leere gelaufen, wenn die institutionellen Rahmenbedingungen der US-amerikanischen Außenpolitik unberücksichtigt geblieben wären. Es wäre mithin unwissenschaftlich gewesen, truisms über die historisch gewachsenen Eigentümlichkeiten der US-amerikanischen Regierungsdispositive nicht zu berücksichtigen⁸⁷¹. Ohne

 Vgl. ebda, 444: „US intelligence reports were then presenting a picture of the Soviet Union as responsive to US actions, concerned primarily with security on its own borders and incapable of sustaining a military attack on any area of vital interest to the United States.“  Vgl. Richard Ullman, The Fiftieth Anniversary of the Long Telegram: A Conversation with George Kennan, Princeton University Library Chronicle 66:2 (2005), 329 – 370, 329: „Kennanʼs dispatch from Moscow, where he was chargé d’affaires, of an 8,000-word critique of Soviet policies toward the world and of U.S. policies toward the Soviet Union […] soon came to be known as Kennanʼs Long Telegram. As he has described it in his memoirs […] the impact of the Long Telegram was like a bombshell. Most of all, it torpedoed the myth of the possibility of a close relationship between the United States and the Soviet Union in the aftermath of World War II.“  Nathanson, The Social Construction of the Soviet Threat, a.a.O., 445.  Vgl. Josef Braml, Der Preis der Pax Americana, Sicherheit und Frieden 35:3 (2017), 115 – 120, 115: „Ein äußerer Feind hat im Laufe der amerikanischen Geschichte immer wieder dazu gedient, die US-Wirtschaft mit Militär-Industriepolitik zu fördern, Geld für Rüstung und Geheimdienste zu mobilisieren, die

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einen informierten Blick auf wesentliche institutionelle Voraussetzungen im Kontext der US-amerikanischen Regierungsbürokratie hätten abstrakte und klischeehafte Vergegenständlichungen von ‚derʻ USA als einem ‚souveränen Staatʻ mit ‚rationalen Interessenʻ an der Selbsterhaltung in einem ‚anarchischenʻ System bzw. als einem ‚demokratischenʻ System mit einer ‚normengeleitetenʻ Außenpolitik leicht dazu geführt, eine Reifizierung des Sachverhalts auf der Basis weltfremder formaltheoretischer bzw. weltanschaulicher Prämissen mit einer empirisch-historischen Analyse zu verwechseln. Unter Berücksichtigung der institutionellen Voraussetzungen US-amerikanischer Außenpolitik wurde es demgegenüber möglich zu erkennen, dass die während der Zwischenkriegszeit entstandene anti-russische Lobby nach dem Zweiten Weltkrieg politisch in Erscheinung trat. „It represented a loose coalition of several influential groups, but the most important group included military hawks or advocates of American hegemony, who fought the Cold War not to contain the Soviet enemy but to destroy it by all means available.“⁸⁷² Dass die ‚Bedrohungʻ der USA durch die Sowjetunion unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem anschlussfähigen Gemeinplatz wurde, hatte aus poststrukturalistischer Sicht konsequenterweise nichts mit einer ‚Anarchieʻ des internationalen Systems zu tun. Es hatte viel mehr mit der Bedrohungszuschreibung durch privilegierte Sprecher zu tun, die aufgrund der im politischen establishment weit verbreiteten Anschauungsformen und Projektionsnormen unmittelbar nachvollziehbar war und in ihrer Eigenschaft als kollektiv geteilte Vorstellung eine existenzielle Gefahr für die USA implizierte, was dazu führte, dass auf Ebene der US-Regierung dringend politische Prioritäten gesetzt werden ‚musstenʻ. Und weil die ‚Zerstörungʻ der Sowjetunion seit der Demonstration ihrer nuklearen Zweitschlagsfähigkeit ab 1949 einstweilen kein realistisches Ziel mehr war, ‚mussteʻ wenigstens eine erfolgreiche ‚Einhegungʻ dieser Bedrohung durch eine gezielte nukleare Aufrüstung der Verteidigungskapazitäten sowie die Bildung von anti-sowjetischen Koalitionen mit Regierungen ‚befreundeterʻ Staaten unternommen werden. Die Festschreibung der Sowjetunion als einer Bedrohung für die freie Welt wurde von zwei Gruppen forciert: „One coalition, based in the War and State Departments, saw ‚the Soviet threatʻ as a resource for justifying US reliance on atomic weapons and overcoming the nationʼs isolationist tradition in peacetime. The other coalition, based on opposition to New Deal reforms, saw ‚the Soviet threatʻ as resource for combatting the new role which the federal government had begun to assume in redistributing power and privilege in US society.“⁸⁷³ Die poststrukturalistische Analysestrategie zog ihr Potenzial in diesem konkreten Fall sowohl aus einer historischen Rekonstruktion der USamerikanischen Regierungsdispositive, als auch aus einer archäologischen Rekonstruktion deskriptiver und programmatischer Sprachpraktiken innerhalb der RegieHeimatfront zu festigen, im Namen der nationalen Sicherheit die persönlichen Freiheitsrechte einzuschränken sowie von Konflikten abzulenken, die sich an sozioökonomischer Ungleichheit entzündeten.“  Vgl. Andrej P. Tsygankov, Russophobia: Anti-Russian Lobby and American Foreign Policy (New York: Palgrave, 2009), 13 – 14.  Nathanson, The Social Construction of the Soviet Threat, a.a.O., 445.

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rungsbürokratie, ohne aber dieses Vorgehen an einem Kanon mit feststehenden methodologischen Regeln zu orientieren – und auch, ohne den ‚Wahrheitsanspruchʻ wissenschaftlicher Forschung fallen zu lassen. Der ‚Mehrwertʻ solcher kritischen Strategien, die ihre Wahl und Umsetzung neben einer persönlichen Betroffenheit in einem erheblichen Maß einer Informiertheit und Kreativität der Kritiker/innen verdanken, liegt darin, dass sich über die vorgängige Distanzierung von weltanschaulich verengten Deutungsmustern sowie der Anstrengung eines ergebnisoffenen interpretativen Analyseverfahrens ein ‚realistischesʻ Bild von realweltlichen Sachverhalten gewinnen lässt⁸⁷⁴. Und ein realistisches Bild genügt den erkenntnistheoretischen Ansprüchen eines vernünftigen ‚Selbstʻ in der Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts zweifelsohne sehr viel mehr als formaltheoretische Modellierungen solcher Sachverhalte im Sinn einer neorealistischen oder neo/liberalen Argumentationslogik⁸⁷⁵, die sich bestenfalls für Publikationen in den ‚bestenʻ Zeitschriften der Disziplin eignen. Das zeigte sich u. a. auch in der kritischen poststrukturalistischen Analyse des Iraqi threat, der von den US-amerikanischen Regierungsnetzwerken in einer ganz analogen Weise wie der Soviet threat schon ziemlich bald nach den terroristischen Anschlägen auf New York anno 2001 popularisiert und für die Rechtfertigung der Kriegsentscheidung gegen den Irak anno 2003 instrumentalisiert wurde. Aus dem entsprechenden Beitrag von Ty Solomon ging hervor, dass hochgestellte Funktionäre der Bush Jr. Administration als ‚privilegierte Sprecherʻ auftraten und in einem breiten Verbund mit „[…] other major elites, pundits, institutions and media […]“⁸⁷⁶ an der Popularisierung eines Zusammenhangs zwischen den terroristischen Anschlägen und der Regierung des Irak arbeiteten, um diesen Zusammenhang, für den es zu keinem Zeitpunkt irgendwelche substanziellen Anhaltspunkte gab, mit der für die

 Interessanterweise bestätigte ausgerechnet der Autor des ‚langen Telegrammsʻ, der ehemalige USBotschafter George Kennan, anno 1987 die diesem Sachverhalt zugrunde liegende Logik: „Würde die Sowjetunion morgen in den Wassern der Ozeane untergehen, dann müsste der amerikanische militärisch-industrielle Komplex mehr oder weniger bestehen bleiben, bis irgendein anderer Feind erfunden werden könnte. Alles andere wäre ein unakzeptabler Schock für die amerikanische Wirtschaft.“ (Hbg. hinzugefügt) Zitiert in Braml, Der Preis der Pax Americana, a.a.O., 115.  Vgl. für eine neorealistische Interpretation Paul C. Avery, Confronting Soviet Power: U.S. Policy during the Early Cold War, International Security 36:4 (2012), 151– 188, 152: „U.S. policy was principally directed toward challenging Soviet state power. The rise of Soviet power and the collapse of Eurasia beyond initial postwar assessments generated broad concerns in the United States. U.S. policy subsequently moved to block Soviet expansion and restore a balance of power in Europe and Asia. As the relative power situation worsened, the United States increased the scope of its economic and military commitments.“ Vgl. für eine neo/liberale Interpretation Colin Dueck, Hegemony on the Cheap: Liberal Internationalism from Wilson to Bush, World Policy Journal 20:4 (2003), 1– 11, 4: „Containment was a pragmatic strategy, but it was also very much influenced by Wilsonian assumptions regarding the nature of international relations. The purpose of containment, after all, was not simply to check or balance the Soviet Union, but also to nurture the long-term vitality and interdependence of an American-led, liberal international order outside of the Communist bloc.“  Ty Solomon, Social Logics and Normalisation in the War on Terror, Millennium 38:2 (2009), 269 – 294, 282.

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politische Kultur der USA typisch gewordenen ‚Freund-Feindʻ bzw. ‚gut-böseʻ Rhetorik normativ aufzuladen bzw. moralisch zu überhöhen⁸⁷⁷. Kritiker/innen dieses Gebarens, die mit dem bevorstehenden Krieg gegen den Irak eine mehr als berechtigte Befürchtung verbanden, dass ein weiteres Mal Tausende unschuldiger Zivilist/innen unter dem Einsatz exzessiver (und völkerrechtlich geächteter) Waffengewalt ihr Leben verlieren würden, sahen sich durch die moralisierende Regierungspropaganda, die auf den beträchtlichen Einfluß der ultrakonservativen christlichen Fundamentalist/innen zurückzuführen war⁸⁷⁸, nicht nur in die Defensive gedrängt, sondern sprichwörtlich mundtot gemacht. Die Strategie der Kritik, die Solomon wählte, verzichtete im Unterschied zu derjenigen von Nathanson auf eine eingehendere Betrachtung von Regierungsdispositiven, um stattdessen der Reproduktion des Regierungsdiskurses durch ‚gelenkteʻ Meinungsumfragen mehr analytisches Gewicht zu verleihen⁸⁷⁹. Inwiefern bei einem Rekurs auf rein formal und technisch konzipierte ‚Diskursanalysenʻ, die keine Betroffenheit gegenüber den Konsequenzen etablierter Narrative erkennen lassen, die sich folglich auch nicht durch eine Distanzierung von diesen Narrativen auszeichnen, die sich bei ihrer ‚Anwendungʻ wenig auf Kreativität stützen, und die sich auch nicht durch eine historische Informiertheit des Gegenstands und seines Kontexts hervortun, jedwedes kritische Potenzial zum Erliegen kommt, verdeutlicht eine diskursanalytische Rekonstruktion des Russian threat, die im Rahmen einer Qualifikationsarbeit und unter den Regeln eines akademischen Disziplinarregimes angestellt wurde⁸⁸⁰. Die Analyse ‚desʻ Diskurses konnte angeblich verdeutlichen,  Vgl. Lemke, Ausnahmezustände als Dispositiv demokratischen Regierens, a.a.O., 307– 331, der auf die Aktualisierung dieser Denkfigur im Zuge des war on terror hinweist. In einem ähnlichen Tenor, vgl. Hacke, Die außenpolitische Doktrin der USA nach dem 11. September, a.a.O., 167– 178. Vgl. Kleinsteuber, Die Binnenstruktur der USA a.a.O., 65.  Vgl. Josef Braml, Die religiöse Rechte in den USA: Basis der Bush-Administration, SWP-Studie 35 (Berlin, 2004), 19: „Besonders nach dieser kriegsvorbereitenden Rede zur Lage der Nation vom 28. Januar 2003 wurde dem Präsidenten eine merklich größere Zustimmung für seine Politik von weißen, an die Wiedergeburt glaubenden (born-again) Protestanten zuteil als vom Rest der Bevölkerung. Mitte Februar 2003 befürworteten 59 % der Bevölkerung den Krieg, darunter 70 % derjenigen, die sich als ‚Mitglieder der religiösen Rechtenʻ identifizierten. Neben der parteipolitischen Unterstützung spielten also auch religiöse Motive eine Rolle: 62 % der Amerikaner, denen Religion ‚sehr wichtigʻ ist, unterstützten den Krieg und 49 % derjenigen, denen Religion ‚nicht sehr wichtigʻ ist. Mit seiner wegweisenden Rede zur Lage der Nation wollte der Commander in Chief seine Anhänger auf den Waffengang vorbereiten. Seine Wortwahl mag europäische Beobachter irritieren, vielen seiner Landsleute gab sie jedenfalls Zuversicht.“  Vgl. Solomon, Social Logics, a.a.O., 289: „These poll questions reproduced and maintained the ‚common-senseʻ understanding of the war on terror as between ‚us and themʻ, regardless of whether ‚theyʻ were terrorists or Saddam. The antagonisms and logics of equivalence and difference (re)constructing the positions and identities of the US and Iraq in the official discourse were reproduced in these polls as questions designed to discern respondentsʻ beliefs about the war on terror and Iraq. Rather than asking neutral questions about a ‚reality out thereʻ, these poll questions helped to discursively recreate the hegemonic understandings of the war on terror and the US invasion of Iraq.“  Vgl. die Masterarbeit von Anastasiia Peleshenko an der Karls-Universität in Prag, Evolution of the Idea of the ‚Russian threatʻ to the Security of the EU and NATO (Prag, 2022), 5, https://dspace.cuni.cz/ bitstream/handle/20.500.11956/176907/120429079.pdf?sequence=1 (zuletzt aufgerufen am 14.10.22).

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dass NATO und EU „[…] were careful in the definitions of the Russian threats, frequently using the label of a challenge instead [….] As the value of cooperation and diplomatic resolution of conflicts lied at the center of the identity of Euro-Atlantic security community, the discourse of a threat would be either avoided or minimized using through [sic!] the explanations of the specific threats, such as hybrid warfare or cyber-attacks, but not their attribution specifically to Russia.“⁸⁸¹ Dabei war der rein semantische Fokus auf die relative Häufigkeit solcher Termini wie threat und challenge noch ein vergleichsweise kleines Problem. Ein viel größeres Problem bestand bei dieser Herangehensweise darin, dass entscheidende Aspekte im historischen Kontext der transatlantischen Sicherheitsdispositive einer völlig verengten Betrachtung unterlagen und obendrein einer klischeehaften Verdinglichung durch Verwendung solcher misnomer wie ‚derʻ NATO als einer agentischen Instanz mit eigenen ‚Wertenʻ und ‚Zielenʻ zum Opfer fielen⁸⁸². Mit einer entsprechenden Informiertheit über den relevanten historischen Kontext wäre von vornherein klar gewesen, dass alle Versuche ‚derʻ NATO seit 2014, the return to the Cold War types of narratives zu vermeiden, lediglich empty rhetoric bleiben mussten, weil „[t]here has been a profound asymmetry in the transcendence of the Cold War. While the structures that fought the Cold War (including the ideological ones) were dismantled on the one side, they were retained on the other. The functions of bodies such as NATO have not been replaced by a common collective security regime, but instead have been strengthened and enlarged. […] The same applies to the ‚softerʻ Cold War structures, including the whole ideological security apparatus.“⁸⁸³ ‚Dieʻ NATO war mit anderen Worten seit 1990 nicht lediglich eine privilegierte agentische Instanz mit ‚Sprecherfunktionʻ, ‚dieʻ NATO war eine symbolische Form mit ganz erheblicher Bedeutung als Inbegriff der westlichen Militarisierung und als solche integraler Bestandteil des Diskurses über den Russian threat. Was ‚die NATO sagteʻ, stand immer im Zeichen dessen, was ‚die NATO im geopolitischen Kontext bedeutet hatʻ. Darüber hinaus konnte aus einer kritischen Perspektive von gemeinsamen ‚Wertenʻ und ‚Zielenʻ einer Euro-Atlantischen Sicherheitsgemeinschaft aufgrund des offensiv propagierten Unilateralismus der USA schon ab 1992 kaum mehr sinnvoll gesprochen werden⁸⁸⁴. Mit der außenpolitischen Kursänderung der USA während der ersten Bush Jr.

 Peleshenko, Evolution of the Idea of the ‚Russian threatʻ, a.a.O., 82. (Hbgen hinzugefügt)  Vgl. ebda, 48: „[T]he goals that NATO pursued in respect to Russia were close to the objectives of the EU on the level of promotion of peace and security, but different since following the Russian military aggression in Europe, the Alliance had to strengthen the defence and deterrence capabilities to ensure the security of the Allies, in particular the Central European and Baltic states. However, the discourse analysis has revealed that re-securitization of the Russian threat […] has certainly tried to avoid the return to the Cold War types of narratives.“  Richard Sakwa, ‚New Cold Warʻ or Twenty Yearsʻ Crisis? Russia and International Politics, International Affairs 84:2 (2008), 241– 267, 252.  Vgl. Gabriela Marin Thornton, The Paradox of the Transatlantic Security Project: From Taming European Power to Dividing It, International Politics 45:3 (2008), 382– 397, 391– 392: „The fight between the US and several European member states over the intervention in Iraq was just a consequence of the new

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Regierung ging schließlich jeder Rest von Gemeinsamkeit zwischen ‚Atlantiker/innenʻ und ‚Europäer/innenʻ völlig verloren⁸⁸⁵. „Dissonanzen zeigten sich vor allem im Hinblick auf den Waffengang im Irak und den Nahost-Konflikt. Die Missklänge sind nicht nur auf rhetorische Entgleisungen einiger Protagonisten und politische Stilfragen amtierender Regierungen zurückzuführen. Ihre Ursachen liegen in den veränderten geostrategischen Rahmenbedingungen seit dem Ende des Kalten Krieges und darüber hinaus in tiefergreifenden strukturellen Besonderheiten, die in der politischen Kultur und im politischen System der USA zu finden sind.“⁸⁸⁶ Letzterer Aspekt betrifft nicht zuletzt den stetig zunehmenden Einfluss fundamentalistisch-religiöser Kräfte aus den christlichjüdischen Milieus der US-amerikanischen Zivilgesellschaft, der sich insofern auf die USAußenpolitik ausgewirkt hat, als ihre Strategien in den USA zunehmend an der Verfolgung moralischer Zielsetzungen beurteilt werden⁸⁸⁷; was erklärt, dass und warum die Gallionsfiguren der US-Außenpolitik bei der Beschwörung von ‚Bedrohungenʻ so häufig auf ein entsprechendes Vokabular (evil, devil, hell, armageddon) zurückgreifen. Als Folge dieser Dissonanzen entbrannte hinter den diplomatischen Kulissen zwischen ‚Atlantiker/innenʻ und ‚Europäer/innenʻ immer wieder ein erbitterter Richtungsstreit, der vorrangig das Verhältnis des Westens gegenüber Russland betraf, der sich fast immer auch um energiepolitische Fragen drehte⁸⁸⁸, und der sich unter anderem in der Zuspitzung der Ukraine-Krise anno 2013/2014 manifestierte⁸⁸⁹.

dynamic that began to characterize the transatlantic security space once the Cold War ended.“ (Hbg. im Original)  Vgl. stellvertretend für die reichhaltige Literatur zum transatlantic divide seit der zweiten Amtszeit der Bush Jr. Administration, Marcin Zaborowski, Old Europe, New Europe and Transatlantic Relations, European Security 13:3 (2004), 187– 213; Vgl. David R. Draeger, Iraq, U.S. Policy, and the Future of the Transatlantic Alliance, Strategic Insights 4:7 (2005); Vgl. Jeffrey Kopstein, The Transatlantic Divide over Democracy Promotion, Washington Quarterly 29:2 (2006), 85 – 98; Sten Rynning, The Divide: France, Germany and Political NATO, International Affairs 93:2 (2017), 267– 289.  Josef Braml, Die religiöse Rechte in den USA: Triebfeder der transatlantischen Entfremdung, Internationale Politik 60:4 (2005), 36 – 43, 36.  Vgl. Braml, Die religiöse Rechte in den USA: Basis der Bush-Administration? a.a.O., 24.  Vgl. van der Pijl, Flight MH17 a.a.O., 90 – 91, der auf die Verhinderung einer weitergehenden wirtschaftlichen Annäherung über vertiefte Energiepartnerschaften zwischen den Staaten der EU und Russland durch die USA verweist, was sich u. a. in bullying gegenüber den Regierungen Bulgariens und Österreichs anno 2014 manifestierte.  Sichtbarer Ausdruck war etwa die Sabotage der unter Vermittlung der deutschen Regierung getroffenen Vereinbarung zwischen Putin und dem damaligen ukrainischen Regierungschef Poroschenko anno 2014 zur Befriedung der Situation in der Ostukraine im Zusammenhang mit geplanten Kompensationszahlungen von Russland an die Ukraine für die Annexion der Krim. Vgl. Margareta Padano, Land for Gas: Merkel and Putin discussed secret deal could end Ukraine crisis, Independent, 01 August 2014, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/land-for-gas-secret-germandeal-could-end-ukrainecrisis-9638764.html (zuletzt aufgerufen am 20.05.22); vgl. Simon Tomplinson, Germanyʼs ‚secret deal with Russia to end violence in Ukraine which would see Crimea officially annexed in exchange for $ 1 billionʻ, Daily Mail, 31 July 2014, https://www.dailymail.co.uk/news/article-2711739/Germanys-secret-dealRussiaend-violence-Ukraine-Crimea-officially-annexed-exchange-1billion.html (zuletzt aufgerufen am 20.05.22); vgl. Sakwa, Frontline Ukraine a.a.O., 171– 172; vgl. van der Pijl, Flight MH17, a.a.O., 114.

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Abgesehen vom Fehlen einer Sensibilität für solche wichtigen Sachverhalte in den nicht-diskursiven Rahmenbedingungen rekonstruierte die fragliche Diskursanalyse die ‚russische Bedrohungʻ seit 2014 als Ergebnis einer kollektiven Praxis auf Ebene der NATO, die vermeintlicherweise auf „[…] Russian hostile foreign policies […]“⁸⁹⁰ reagierte, die als solche objektiv gegeben waren; und zwar wie diese objektiv gegebenen „[…] hostile foreign policies were perceived by the EU and NATO […]“⁸⁹¹. Aus einer kritischen poststrukturalistischen Haltung wäre es viel relevanter gewesen, ob und inwiefern entsprechende Zuschreibungen an die Adresse Russlands als „[…] ‚a source of regional instabilityʻ […]“⁸⁹² auf einflussreiche transatlantische Netzwerke zurückgingen, die ihrerseits mit (ultra)konservativen und/oder anti-russischen Kräften und ihren zahlreichen Denkfabriken in den USA verflochten waren, denen es im Wesentlichen darauf ankam, in der US-amerikanischen und westlichen Wahrnehmung ein weiteres Feindbild als Vorbereitung für den nächsten Waffengang festzuschreiben⁸⁹³. Die Bündelung der anti-russischen Propagandaaktivitäten in den USA übernahm bekanntermaßen ab ca. 2004 das Project for a New American Century, für das sich hochrangige Funktionäre aus der politischen Gesellschaft (u. a. John McCain und Joe Biden) unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit gewinnen ließen. Im Ergebnis nahm zwischen 2004 und 2006 die von den US-Medien orchestrierte Dämonisierung Putins als Urheber einer aggressiven anti-westlichen russischen Außenpolitik immer mehr Fahrt auf, ohne dass sich dafür zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Anhaltspunkte in der außenpolitischen Praxis Russlands erkennen ließen⁸⁹⁴. Wenn also im offiziellen diplomatischen Jargon ‚derʻ NATO bis zum Kriegsausbruch im Februar 2022 eher selten von einer direkten ‚Bedrohungʻ des Westens durch Russland die Rede war, dann kann dieser isoliert betrachtete linguistische Aspekt aus einer kritischen poststrukturalistischen Perspektive nicht den Blick dafür verstellen, dass ‚dieʻ NATO seit 2014 nicht lediglich eine von mehreren privilegierten Sprecherinstanzen darstellte. ‚Dieʻ NATO ist schon seit den frühen 1990er Jahren in ihrer Eigenschaft als ein expandierendes Militärbündnis und als Plattform für diverse antagonistische Aktivitäten im post-sowjetischen Raum ein diskursives Element mit allergrößter Symbolkraft gewesen, weswegen semantische Artikulationen des Russian threat gar nicht mehr von Belang waren. Noch entscheidender ist freilich, dass Regierungsnetzwerke der USA und anderer westlicher Staaten unterhalb der multilateralen diplomatischen Ebene der NATO auf vielfältige – und mitunter aggressive – Weise ein eigentümliches Bild von der

 Peleshenko, Evolution of the Idea of the ‚Russian threatʻ, a.a.O., 48.  Ebda.  Ebda, 58.  Vgl. dazu Tsygankov, Russophobia, a.a.O., der auf 24– 46 eine Reihe von Einrichtungen nennt, deren Zahl seit dem Ende der 1990er Jahre rapide zunahm, und deren primäre Funktion darin bestand, auf 20, „[…] to manipulate the historical record to promote the image of Russia as a defeated and potentially revisionist power that seeks to challenge Americaʼs primacy.“  Vgl. Stephen F. Cohen,War with Russia: From Putin and Ukraine To Trump and Russiagate (La Vergne: Hot Books, 2019), 9 – 10.

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‚Bedrohungʻ des Westens durch Russland re/produzierten. Nicht nur erhöhten die USA ihre bereits laufenden bilateralen Militärhilfen an die Ukraine seit 2014 um das sechsfache⁸⁹⁵, der Krieg der ukrainischen Regierung gegen die Zivilbevölkerung im Südosten der Ukraine wurde unter direkter Beteiligung US-amerikanischer Staatsapparate geführt⁸⁹⁶, war aber nach dem Dafürhalten der westlichen Regierungen offensichtlich zu keinem Zeitpunkt einer diplomatischen Rede über ein mögliches Indiz für eine Provokation Russlands wert⁸⁹⁷. Stattdessen forcierten die westlichen Regierungen ihre finanzielle, logistische und militärische Unterstützung gegenüber den Nachbarstaaten Russlands⁸⁹⁸ – und schlossen die Augen gegenüber der immer weiter ausgreifenden transnationalen Vernetzung ultranationalistischer bzw. offen rechtsextremer Militäreinheiten in den osteuropäischen Staaten, inklusive der Ukraine⁸⁹⁹. Abgesehen von solchen dispositiv- bzw. diskursanalytischen Strategien profitierte eine poststrukturalistisch motivierte Distanzierung vom IB-Mainstream oft auch von sogenannten Verfahren der Dekonstruktion, bei der anfangs vor allem die Redeweise von ‚Staatenʻ als ‚souveränenʻ und ‚rationalenʻ Akteuren mit erkennbaren ‚Interessenʻ  Sabine Riedel, ‚Die Waffen nieder!ʻ Der Ukraine-Krieg im Kontext europäischer Politik und transatlantischer Interessen, Forschungshorizonte Politik und Kultur 6:7 (2022), 23.  Vgl. Chris K. de Ploeg, Ukraine in the Crossfire (Atlanta: Clarity, 2017), 224: „The United States was very closely involved with the ‚Anti-Terrorist Operationʻ in Ukraine. Directly after the operation was announced, CIA director John Brennan visited Kiev in early April 2014. According to German intelligence sources, the military effort was already aided by dozens of CIA advisers who helped to set up a ‚functioning security structureʻ in Ukraine. In addition, hundreds of mercenaries from the American private military contractor, Blackwater, infamous for widespread torture in Iraq, would soon be sent to the east according to another reported German intelligence briefing.“  Vgl. Stephen F. Cohen, Kievʼs Atrocities and the Silence of the Hawks, The Nation 299:5 – 6 (2014), 12– 15, 12: „For weeks, the US-backed regime in Kiev has been committing atrocities against its own citizens in southeastern Ukraine, a region heavily populated by Russian-speaking Ukrainians and ethnic Russians. While victimizing a growing number of innocent people, including children, and degrading Americaʼs reputation, these military assaults against cities, captured on video, are generating intense pressure in Russia on President Vladimir Putin to ‚save our compatriots.ʻ Both the atrocities and the pressure on Putin have increased since July 1, when Kiev, after a brief cease-fire, intensified its artillery and air attacks on eastern cities defenseless against such weapons.“  Vgl. Susan Stewart, Überraschende Entwicklung mit offenem Ausgang: die Ukraine-USA-Beziehungen, Bundeszentrale für Politische Bildung, 16.07. 2018, https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/ 272720/analyse-ueberraschende-entwicklung-mit-offenem-ausgang-die-ukraine-usa-beziehungen/ (zuletzt aufgerufen am 16.10.22).  Vgl. Oleksiy Kuzmenko, Far-Right Group Made Its Home in Ukraineʼs Major Western Military Training Hub, IERES Occasional Papers 11 (Washington, 2021), 1– 3. Vgl. Tim Lister, The Nexus Between Far-Right Extremists in the United States and Ukraine, CTCSentinel 11:4 (2020), 30 – 41, 34: „Dozens of Americans – possibly hundreds – have traveled to Europe to meet like-minded far-right activists and paramilitary groups. For example, rock concerts and mixed martial arts (MMA) events (discussed further below) frequently see white supremacists from the United States and Europe gather together. Ukraine holds a particular attraction for white supremacists—ideologues, activists, and adventurers alike.“ Und auf 38: „Ukraine remains, as evidenced in court documents and on social media, the favored destination of many American and European white supremacists. The National Corps welcomes and encourages them, even as the Ukrainian state regards their presence as an irritant or embarrassment.“

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neu interpretiert wurde⁹⁰⁰. Neue Lesarten suggerierten, dass das ‚Wesenʻ postmoderner Staatlichkeit weniger in einer imaginären ‚Souveränitätʻ als im Zusammenspiel von Gouvernementalitätstechniken zu verstehen wäre⁹⁰¹. In der Konsequenz einer solchen Betrachtung wären tradierte Verständnisse von ‚internationaler Sicherheitʻ und ‚Geopolitikʻ von ihrer konzeptuellen Verbindung mit der Kategorie des Staates als einem handelnden Subjekt und gleichermaßen bedrohten Objekt zu lösen. Im 21. Jahrhundert wäre etwa danach zu fragen, ob im Zeitalter des Anthropozäns nicht schon längst die globale ‚Menschheitʻ die angemessene Kategorie wäre, um über die angemessene Bedeutung der Konzepte ‚Sicherheitʻ und ‚Geopolitikʻ nachzudenken, was zu einem Verständnis von Sicherheitspolitik führen könnte, in dem es nicht mehr um die Realisierung von relativen Gewinnen bzw. partikularen Nutzenerwartungen auf staatlicher Ebene geht, sondern um den effektiven und nachhaltigen Schutz der menschlichen Lebensgrundlagen⁹⁰². Eine Schwierigkeit dekonstruktivistischer Verfahren lag oft darin, bei der Umsetzung der entsprechenden Strategie den Adressatenkreis nicht aus den Augen zu verlieren, beim Transfer entsprechender Überlegungen aus der Philosophie und Literaturtheorie nicht die dort geltenden Annahmen und Redevoraussetzungen einfach stillschweigend auf die akademische Diskussion über die Texte der internationalen Beziehungen zu übertragen. Eine andere Schwierigkeit ergab sich daraus, dass die kritische Strategie durch eine unverhältnismäßige Aufmerksamkeit für exotische Wortschöpfungen unkenntlich, dass der kritische Impetus einer Ästhetisierung des Verfahrens geopfert wurde⁹⁰³. Der entscheidende Punkt ist, dass Dekonstruktion im Zuge einer Distanzierung von etablierten Narrativen in einer Zeit der epochalen Krise eine Strategie des intellektuellen Widerstands sein kann, wenn man sich bei der Diskussion über die internationalen Beziehungen am poststrukturalistischen Ethos orientiert, dass es um die Fähigkeit geht, „[…] to see how modern simplifications can endanger our future.“⁹⁰⁴ In der heutigen Situation die geeignete Vorgehensweise für die Erreichung dieses Ziels zu finden, ist deswegen nicht immer so einfach, weil im Kontext der kritischen IB zahlreiche taktische Vorgehensweisen mit dem Verfahren der Dekonstruktion assoziiert worden sind; etwa die Identifikation eines ‚Zwischenbereichsʻ (intervals), der die Bedeutung eines Ausdrucks oder Satzes bzw. Texts von einer anderen Bedeutung trennt:

 Vgl. Ashley, Untying the Sovereign State, a.a.O., 248.  Vgl. dazu Ole Jacob Sending & Iver B. Neumann, Governance to Governmentality: Analyzing NGOs, States, and Power, International Studies Quarterly 50:3 (2006), 651– 672, 668 – 669.  Vgl. Simon Dalby, The Geopolitics of Climate Change, Political Geography 37 (2013), 38 – 47, 45 – 46.  Vgl. Tom Lundborg, The Ethics of Neorealism: Waltz and the Time of International Life, European Journal of International Relations 25:1 (2019), 229 – 249. Eine mögliche Frage, die sich beim Lesen dieses Textes u.U. stellt, ist, ob der Versuch einer Dekonstruktion ethischer Kategorien im Neorealismus von Waltz angesichts des Fehlens eines solchen ethischen Anspruchs bei Waltz nicht reiner Selbstzweck ist.  Donna U. Gregory, Foreword, in: Der Derian & Shapiro (Hg.), International/Intertextual Relations, a.a.O., xiii-xxi, xxi,

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„While the creation of a ‚conceptʻ outside of all previous structures of thought is impossible, it is possible to develop marks which inhabit the space between the old regime and an impossible new one. These are the ‚undecidablesʻ that a deconstructive reading seeks to reveal within a text, that ‚can no longer be included within philosophical (binary) opposition, but which, however, inhabit philosophical opposition, resisting and disorganising it, without ever constituting a third termʻ.“⁹⁰⁵ Eine andere Taktik lehnte sich an ‚ursprünglicheʻ Denkfiguren und ihren substanziellen semantischen Gehalt an, um damit zu zeigen „[…] how a very specific logic informing Derridaʼs work – the logic of the trace and survival – can be used for thinking about international ethics.“⁹⁰⁶ Anstatt hier die Vielzahl möglicher Verfahrensweisen aufzulisten, soll exemplarisch diejenige taktische Vorgehensweise illustriert werden, die mit Blick auf die internationalen Beziehungen vielleicht am intuitivsten mit dem Verfahren der Dekonstruktion verbunden worden ist⁹⁰⁷. Das Prinzip dieses Vorgehens lässt sich aus dem Akt des ‚Versetzensʻ (displacement) ableiten, bei dem ein Text in ein anderes Netz von sprachlichen Bezügen eingefügt wird, woraufhin sich die ursprüngliche Bedeutung und Funktion des Texts verändern. „Once inserted into another network, the ‚sameʻ philosopheme is no longer the same, and besides it never had an identity external to its functioning.“⁹⁰⁸ Diese ‚Versetzungʻ wiederum kann durch die Frage motiviert sein, welche Bedeutung des Texts mit der ursprünglichen ‚Einsetzungʻ in eine ganz bestimmte politische Ökonomie der sprachlichen Bezüge und ihrer Zirkulationslogik intendiert war: welche Lesart des fraglichen Texts sollte durch den ursprünglichen Verweisungszusammenhang privilegiert werden; welche Bedeutung des Texts sollte Konjunktur erhalten; und welche andere mögliche Bedeutung sollte an Prestige verlieren; welche mögliche Bedeutung sollte durch die ‚Schließungʻ des Zeichensystems und des dazugehörigen Interpretationsraums in ethischer und metaphysischer Hinsicht entprivilegiert werden⁹⁰⁹. Der Text, um den es gehen soll, beschreibt die aktuelle Situation der sogenannten ‚liberalen internationalen Ordnungʻ: „Der Irak-Krieg, der Krim-Krieg und der SyrienKrieg, insbesondere das regelrechte Gemetzel in Aleppo und anderen Orten des Landes, haben diese Ordnung [zwar] mehr geschwächt als der Angriff auf die Ukraine.“⁹¹⁰ Gleichwohl ist ‚dieʻ Ukraine im ‚liberalenʻ Narrativ der internationalen Ordnung seit

 Patrick Pinkerton, Deconstructing Dayton: Ethnic Politics and the Legacy of War in Bosnia and Herzegovina, Journal of Intervention and Statebuilding 10:4 (2016), 548 – 565, 554.  Lundborg, The Ethics of Neorealism, a.a.O., 235.  Vgl. Gregory, Foreword, a.a.O., xvi; vgl. auch Maja Zehfuss, Jacques Derrida, in: J. Edkins & N.VaughanWilliams, Critical Theorists and International Relations (London: Routledge, 2009), 137– 149, 141.  Jacques Derrida, Economimesis, Diacritics 11:2 (1981), 3 – 25, 3.  Vgl. Jacques Derrida, The Linguistic Circle of Geneva, Critical Inquiry 8:4 (1982), 675 – 691, 686: „Rousseau and Saussure grant an ethical and metaphysical privilege to the voice. Both posit the inferiority and exteriority of writing in relation to the ‚internal system of languageʻ (Saussure), and this gesture, whose consequences extend over the entirety of their discourses, is expressed in formulations whose literal resemblance is occasionally surprising.“  Michael Zürn, Macht Putin den (Neo‐)Realismus stark?, Leviathan 50:3 (2022), 395 – 412, 407.

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dem Kriegsbeginn im Februar 2022 zu einem Referenten mit herausragender Bedeutung aufgestiegen. Die vorherrschende Redeweise in akademischer Theorie und außenpolitischer Praxis impliziert, dass der Angriff Russlands auf ‚dieʻ Ukraine gleichbedeutend wäre mit einem Angriff Russlands auf die ‚westliche Demokratieʻ – und damit auch auf die ‚liberale Weltordnungʻ. Die Verteidigung ‚derʻ Ukraine durch den Westen wäre infolgedessen gleichbedeutend mit einer Verteidigung dieser Ordnung – und einer Verteidigung der ‚Demokratieʻ als dem konstitutiven Element dieser Ordnung, als einem schützenswerten ‚protestantischen Erbeʻ des liberalen Westens⁹¹¹. Mit anderen Worten: „Der Krieg ist das Ergebnis eines systemischen Kampfes zwischen einer Autokratie und einem sich demokratisierenden Nachbarn sowie zwischen einer sogenannten liberalen Weltordnung und den imperialen Ambitionen des Putin-Regimes. Aus dieser Sicht ist der Krieg weniger eine geostrategische Auseinandersetzung zwischen Großmächten um einen abstrakten Raum, sondern ein Systemkonflikt über Demokratie und die normativen Grundlagen der Weltordnung.“⁹¹² Im diskursiven Kontext des russischen Angriffs auf die ‚liberale Weltordnungʻ steht ‚dieʻ Ukraine interessanterweise nicht mehr für das gleichnamige Land mit der (nach Russland) höchsten Korruptionsrate in Europa⁹¹³; einer desaströsen sozioökonomischen Verfassung⁹¹⁴; einer stetig wachsenden sozialen Stratifikation und massenhafter Armut, Verelendung und Polarisierung⁹¹⁵; einer beträchtlichen ethnischen Heterogenität⁹¹⁶; einem unkontrollierbaren Rechtsextremismus⁹¹⁷; und einer prekären geopolitischen

 Vgl. Slavoj Žižek, Für Putin ist auch Deutschland eine potenzielle Kolonie, Die Welt, 23.06. 2022 https:// www.welt.de/kultur/plus239509037/Slavoj-Zizek-Ein-Krieg-des-protestantischen-Erbes-gegen-die-autoritaere-Orthodoxie.html [zuletzt aufgerufen am 19.07.22].  Zürn, Macht Putin den (Neo‐)Realismus stark?, a.a.O., 404.  Vgl. Transparency International, Die Ukraine wird immer noch von Korruption zerfressen, 20.06.22, https://www.transparency.de/aktuelles/detail/article/die-ukraine-wird-immer-noch-von-korruption-zerfressen/ (zuletzt aufgerufen am 18.10.22); Tagesschau, Korruption auf fast jeder Ebene, 24.06.22, https:// www.tagesschau.de/ausland/ukraine-korruption-101.html (zuletzt aufgerufen am 18.10.22).  Vgl. Yurchenko, Ukraine and the Empire of Capital: a.a.O., 1– 2.  Vgl. Vitalina Butkaliuk, The problems of socio-economic inequality and social justice in the modern Ukraine, Journal of Comparative Research in Anthropology and Sociology 11: 2 (2020), 19 – 28, 26.  Vgl. Dariia Melnykova, Current Issues of Protection of State Sovereignty of Ukraine in the Context of Globalization, Journal of Legal Studies 28: 42 (2021), 58 – 73, 67.Vgl. Bandeira, The World Disorder a.a.O., 177.  Johannes Rüger, Regierung hat Rechtsextreme nicht unter Kontrolle, Amnesty Journal, 28. August 2019, https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/ukraine-regierung-hat-rechtsextreme-nichtunter-kontrolle (zuletzt aufgerufen am 19.10.22); Vgl. Josh Cohen, Ukraineʼs Got a Real Problem with FarRight Violence (And No, RT Didn’t Write This Headline), Atlantic Council, June 20, 2018, https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraine-s-got-a-real-problem-with-far-right-violence-and-no-rt-didnt-write-this-headline/ (zuletzt aufgerufen am 19.10.22): „International human rights groups have sounded the alarm. After the March 8 attacks, Amnesty International warned that ‚Ukraine is sinking into a chaos of uncontrolled violence posed by radical groups and their total impunity. Practically no one in the country can feel safe under these conditions.ʻ Amnesty International, Human Rights Watch, Freedom House, and Front Line Defenders warned in a letter that radical groups acting under ‚a veneer of patriotismʻ and ‚traditional valuesʻ were allowed to operate under an ‚atmosphere of near total impunity that cannot but embolden these groups to commit more attacksʻ.“

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Lage im Einflussbereich konkurrierender imperialer Interessen⁹¹⁸. In den Redeweisen des liberalen Narrativs verschwinden so gut wie alle raumzeitlich konkreten materiellen Attribute der Ukraine. ‚Dieʻ Ukraine wird zum Zeichen für einen ‚souveränenʻ und (leidlich) ‚demokratischenʻ ‚Staatʻ, der gegenüber dem ‚autokratischenʻ und ‚aggressivimperialistischenʻ Staat Russland unverschuldet zur Kriegspartei geworden ist. Die sukzessive Anbindung der Ukraine an den liberalen Westen seit 2014 geschah demzufolge aus Gründen einer Stärkung von demokratischen ‚Werten und Institutionenʻ, durch die sich die Ukraine als ein westlicher Staat von autokratischen Staaten wie Russland grundlegend unterscheidet. Eine ‚Versetzungʻ solcher Redeweisen von der ‚Demokratieʻ, der ‚Ukraineʻ, den westlichen ‚Wertenʻ und der ‚liberalen Weltordnungʻ in ein anderes Netz von sprachlichen Bezügen mit mehr materieller und historischer Substanz hätte zur Folge, dass der dadurch entstehende Text eine völlig andere Bedeutung gewinnt. Mithin wäre das eine Bedeutung, die sowohl aus der Perspektive kritischen Denkens als auch vom Standpunkt einer historischen Informiertheit mit der konkreten politischen Praxis des Westens viel besser vereinbar wäre, als das nachgerade substanzlose Gerede von einer ‚werte- und regelbasierten liberalen Weltordnung‘. Mithin wäre in einem anderen Text ‚dieʻ maßgebliche Orientierung der politischen Praxis westlicher Staaten viel besser erkennbar; mithin wäre ein grundlegender Sachverhalt westlicher Politik vergegenständlicht, der als solcher weniger das ‚Opfer‘‚ als vielmehr Teil des Ursachenbündels hinter der Entstehung so vieler Krisen und Kriege wie u. a. derjenigen im Irak, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien und in der Ukraine gewesen ist: der Schutz der ‚westlichen Kapitalakkumulationʻ. Mit Kapitalakkumulation wäre auch in diesem Zusammenhang noch einmal sinnvollerweise auf den ursprünglich von den großen westlichen Erdölunternehmen, den ‚Sieben Schwesternʻ bzw. Supermajors, sowie den mit ihnen verflochtenen Industrien und Investmentbanken unablässig forcierten Zugang zu den globalen Öl- und Gasressourcen, deren Finanzialisierung an den wichtigen Börsen sowie deren profitable Inverkehrbringung auf den Weltmärkten verwiesen. Innerhalb dieser ‚westlichenʻ Kapitalakkumulation spielten anglo-amerikanische Kreise immer schon eine besondere Rolle, weil sie durch die besondere Form der ‚liberalen Demokratieʻ in ihren Ländern Privilegien gewinnen konnten, die sie zu den hauptsächlichen Triebkräften der Profitmaximierung im transatlantischen Raum haben werden lassen. Der Schutz dieser Form der Kapitalakkumulation durch die westlichen Regierungsapparate ist seit ca. hundert Jahren ein vorrangiges politisches Projekt gewesen, was sich u. a. darin erkennen lässt, dass trotz der in Paris anno 1919 verkündeten ‚Neuen Weltordnungʻ ausgerechnet bei den selbsterklärten ‚demokratischen Staatenʻ das tradierte imperiale Denken in etatistischen, militaristischen und nationalchauvinistischen Kategorien völlig unbeschadet überleben konnte. Die Regierungen der alliierten Siegermächte des Ersten Weltkriegs, allen voran diejenige der USA, sahen sich

 Vgl. Ruslan Dzarasov & Victoria Gritsenko, Colours of a Revolution. Post-communist Society, Global Capitalism and the Ukraine Crisis, Third World Quarterly 41: 8 (2020), 1289 – 1305, 1301.

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trotz aller feierlichen Beschwörungen einer neuen Zeit des Weltfriedens und einer ‚demokratischen Weltordnungʻ auch weiterhin dazu veranlasst, ihre jeweiligen Ansprüche auf die globalen Ölressourcen mit den gewohnten Mitteln imperialer Machtpolitik durchzusetzen. Das bedeutete im Wettbewerb mit den nicht-westlichen Konkurrenten, neben dem Kaiserreich Japan vor allem das rohstoffreiche Russland, bei der Sicherung der eigenen Ansprüche notfalls die militärische Konfrontation zu riskieren, um den Raum für die globale Expansion der westlichen Kapitalkräfte offen zu halten – auch wenn das die ideologische Spaltung der in Paris offiziell bekundeten society of nations nachhaltig vertiefte und alle Verweise der westlichen Regierungen auf die von ihnen angestrebte Schaffung einer imaginären Welt- oder Staatengemeinschaft als leere Phrase entlarvte. Dabei waren die Regierungen der ‚demokratischen Staatenʻ bei ihrem Streben nach Zugang zu den globalen Ölressourcen auch sonst nicht zimperlich, etwa wenn sie in den Ländern des Nahen Ostens Anstrengungen zum Regimewechsel unternahmen, um prowestliche bzw. anti-kommunistische Marionettenregierungen einzusetzen, oder wenn sie religiöse Fanatiker unterstützten und dabei blutige Bürgerkriege anzettelten⁹¹⁹. Offiziell geschah das alles zur Förderung von liberalen Werten wie ‚Demokratieʻ und ‚Fortschrittʻ, war freilich de facto ausgerichtet auf die Schaffung von günstigen Akkumulationsbedingungen für die ‚Schwesternʻ, ihre Partnerunternehmen und die jeweiligen Investoren. Im Wettbewerb untereinander versuchten die westlichen Staaten die Sicherung der eigenen Ansprüche so zu gestalten, dass die damit verbundenen Friktionen möglichst unterhalb einer kritischen Schwelle blieben⁹²⁰. Allerdings griffen sie in ihrer gegenseitigen Konkurrenz auf drastische Maßnahmen des Wirtschaftskriegs zurück, wenn sie es für notwendig erachteten. Dabei fiel die US-Regierung als Verteidigerin der ‚freien Weltʻ mitunter durch eine besonders aggressive Linie auf, völlig ungeachtet der Tatsache, dass die Angegriffenen ‚befreundeteʻ oder sonst wie ‚alliierteʻ Staaten waren. Aus die Vgl. Bandeira, The World Disorder, 114: „[T]he CIA had been meddling in Syrian affairs since March 1949 […]. Two CIA agents, Miles Copeland and Stephen Meade, advised and certainly bribed Colonel Husni al-Zaʼim […], Chief of Staff of the Army, who overthrew the democratically elected President Shukri alQuwatli because he had hesitated in approving the construction of the Trans-Arabian-Pipeline (Tapline) connecting the oil fields of Saudi-Arabia to the ports of Lebanon, which the United States wanted to build through Syria.“ Vgl. Crockatt, The Fifty Years War, a.a.O., 178 – 179: „[T]he Iranian crisis [of 1953] illustrated the dynamics of American relations with Third World countries which would be repeated later: American resistance to efforts by Third World nationalists to seize full control of their own resources; the difficulty of finding ‚acceptableʻ nationalist leaders who could chart a third way between communism and rightwing dictatorship; the pursuit by the United States of policies which would tend to polarize internal politics and render a third way more difficult to achieve; and the ultimate decision to back political forces whose chief attraction was the negative one of anti-communism.“  Vgl. dazu die Ausführungen zur Rivalität zwischen den Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und der USA zwischen 1918 und 1922 über den Zugang zu den Ölressourcen im Nahen Osten bei gleichzeitiger Missachtung der völkerrechtlichen Vereinbarungen über die Zuständigkeit der jeweiligen Staaten für‚ihreʻ Mandate bei Karl Hoffmann, Ölpolitik und angelsächsischer Imperialismus (Berlin: Ring, 1927), S. 128 – 141.

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sem Grund konnte die deutsche Bundesregierung davon ausgehen, dass die politischen Kräfte in den USA zugunsten US-amerikanischer Investmentbanken und Energieunternehmen mit einer ganzen Palette bewährter – und mit der souveränen Selbstbestimmung von Staaten völlig unvereinbarer⁹²¹ – Maßnahmen versuchen würden, das Nord Stream 2-Projekt zu sabotieren, um die Fertigstellung der Ferntransport-Gas-Pipeline zwischen Ust-Lug in Russland und Greifswald zu verhindern, mit der günstiges Gas zugunsten von Firmen und Privathaushalten auf direktem Weg nach Deutschland importiert werden sollte⁹²². Schließlich hatte die US-Regierung nach dem Ende des OstWest-Konflikts in ihrer eingeforderten Rolle als alleiniger Supermacht, getreu dem altimperialen Motto divide et impera, das Ziel ausgegeben, jede zu weitreichende wirtschaftliche und politische Annäherung zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und Russland mit allen Mitteln zu verhindern⁹²³; einerseits, um das Risiko eines wirtschaftlich und politisch wiedererstarkenden Russlands zu minimieren; andererseits, um ein Zusammenwachsen der europäischen und vorderasiatischen Räume aufzuhalten. Seit dem Ende der 1990er Jahre standen diese beiden Strategien ihrerseits im Licht der noch umfassenderen strategy of maximum extraction ⁹²⁴ Gemäß dieser Strategie würde die USA nicht mehr nur versuchen, den Zugang zu den globalen Öl- und Gasvorkommen der Welt zu kontrollieren. Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Konsolidierung Russlands nach 2001, angesichts des rasanten wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs Chinas zu einer Hegemonialmacht in Südostasien, und in Anbetracht der zwischenzeitlich hohen eigenen Importabhängigkeit von ausländischen Öllieferungen entschieden die einflussreichsten Kräfte hinter den US-amerikanischen Regierungsnetzwerken noch während der Clinton-Administration, Maßnahmen zu ergreifen, um die absoluten Fördermengen von Öl und Gas dauerhaft zu erhöhen und damit die eigene Versorgungssicherheit zu gewährleisten. „Seen in this light, the invasion and occupation of Afghanistan (the geopolitical doorway to Western access to Caspian Sea Basin oil and natural gas) following the 9/11 attacks, the 2003 invasion of Iraq, the rapid expansion of U.S. military activities in the Gulf of Guinea in Africa (where Washington sees itself as in competition with Beijing), and the increased threats now [2008] directed at Iran and Venezuela – all signal the rise of a dangerous new era of energy imperialism.“⁹²⁵

 Vgl. Matthias von Hein, Europa: Rüsten für den Wirtschaftskrieg?, DW am 02.11. 2020, https:// www.dw.com/de/europa-r%C3%BCsten-f%C3%BCr-den-wirtschaftskrieg/a-55464497 (zuletzt besucht am 01.12.22). Neben oft harmlos klingenden Maßnahmen, wie ‚Investitionsinitiativenʻ, ‚Währungsdumpingʻ, oder ‚Sanktionenʻ greifen Regierungen ansonsten wie selbstverständlich auch auf Industriespionage (unter Einschaltung der staatlichen Geheimdienste), Sabotage, Korruption, Devisenzwangsbewirtschaftung und Kapitalverkehrskontrollen zurück. Vgl. dazu Blum, Wirtschaftskrieg a.a.O., 723 – 806.  Vgl. Luhmann, Nord Stream 2 a.a.O., 566, https://doi.org/10.1007/s10273 – 020 – 2708 – 1 (zuletzt besucht am 12.09.22).  Vgl. für die Phase ab 1990, Gowan, The Global Gamble: a.a.O., 301; vgl. für dieselbe Strategie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, van der Pijl, The Making of an Atlantic Ruling Class, a.a.O., 145.  Vgl. zum Begriff, Michael T. Klare, Blood and Oil (New York: Holt, 2004), 82.  Foster, Peak Oil and Energy Imperialism, a.a.O., 12.

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In einer ‚versetzendenʻ Lesart ist es die brachiale Umsetzung dieses neuen/alten Energieimperialismus durch die Regierungen der USA und Großbritanniens, mit und zum Teil auch gegen die erklärten Interessen der übrigen westlichen Staaten, die sich hinter der Phrase von der ‚liberalen Weltordnungʻ verborgen und den geopolitischen Kontext für die Kriege im Irak, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien und in der Ukraine dargestellt hat. An der Plausibilität dieser Lesart ändert im Vorstellungsraum kritischen Denkens auch der Sachverhalt nichts, dass es gegenläufige Interpretationen gibt⁹²⁶. Die Ukrainekrise steht in dieser Lesart seit 2013/2014, mitsamt ihrer militärischen Eskalation ab dem Februar 2022, in einer langen Reihe von ‚Fällenʻ, zu denen etwa die iranische Abadan-Krise anno 1951, die chilenische Regierungskrise anno 1973, oder die griechische Staatsschuldenkrise⁹²⁷ anno 2015 gehören. Zwar ging es vordergründig in jedem dieser Fälle um etwas völlig anderes. Tatsächlich besteht eine verbindende Klammer zwischen diesen Fällen jedoch darin, dass sich wie auch immer ‚demokratischʻ gewählte Regierungen in geopolitisch wichtigen Regionen der Welt einer Diktatur der westlichen Kapitalfraktionen und ihrer politischen Agenten beugen mussten, weil sie entsprechend ihrem Wählerauftrag Entscheidungen getroffen hatten, die darauf abzielten, die sozioökonomischen Verhältnisse im jeweiligen Land für die überwiegende Mehrheit der dortigen Bevölkerung nicht noch schlechter werden zu lassen⁹²⁸. Der typische ‚Fehlerʻ, den diese demokratisch gewählten Regierungen gemacht hatten, bestand vor allem darin, dass sie die energiepolitischen Einmischungen aus dem liberalen Westen kontrollieren wollten und die Interessen der euro-atlantischen Kapitalfraktionen dem Wohl der eigenen Bevölkerung hintanstellten. Das führte in jedem dieser Fälle dazu, dass die Vertreter/innen dieser demokratisch gewählten Regierungen durch bewährte Maßnahmen der westlichen Staaten aus ihren Ämtern entfernt wurden. Diese ausgesprochen zynische imperialistische Logik der westlichen Kapitalakku-

 Vgl. z. B. die Schrift von Emily Meierding, The Oil Wars Myth: Petroleum and the Causes of International Conflict (Ithaca: Cornell University Press, 2020), die als Professorin für National Security Affairs an der Naval Postgraduate School in Monterey (Kalifornien) arbeitet, einer Forschungseinrichtung der US-Marine für die ‚wissenschaftliche Aus- und Weiterbildungʻ der Offiziere aller Teilstreitkräfte der USA.  Die berüchtigte ‚Troikaʻ, bestehend aus den nicht-gewählten Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission, bestand während der ersten Hälfte des Jahres 2015 darauf, eine selbst vom Europäischen Parlament anno 2014 als völlig unausgewogen kritisierte Austeritätspolitik gegen nachhaltigere Vorschläge der griechischen Syriza-Regierung um jeden Preis durchzusetzen – offensichtlich aus dem Kalkül heraus, um gegenüber anderen EUKrisenländern wie Spanien, Portugal, Italien und Frankreich deutlich zu machen, dass die transatlantischen Elitenetzwerke nur Maßnahmen zugunsten von Sparpolitik, Sozialstaatsabbau und Privatisierung dulden würden.  Im Fall der Ukraine hätte eine Assoziierung mit der EU u. a. eine erhebliche Verteuerung der Gaslieferungen aus Russland mit sich gebracht. „The country was dramatically impoverished, its reserves were almost exhausted, and it would likely not manage to meet the tough debt repayment program it would have to accept. Against this background, President Yanukovych signed Legal Ordinance 905-r on November 21, 2013, in Boryspil, Kievʼs International Airport, instructing the suspension of negotiations with the European Union with the support of Prime Minister Mykola Azarov and despite the pressures of some oligarchs and political sectors in Kiev.“ Bandeira, The World Disorder, a.a.O., 189.

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mulation bzw. dem materiellen protestantischen Erbe des Westens firmiert im offiziellen Sprachgebrauch oft unter Phrasen der ‚Modernisierungʻ, des ‚nation-buildingʻ, der ‚Demokratieförderungʻ, der ‚Globalisierungʻ oder auch des ‚Menschenrechtsschutzesʻ, lässt sich allerdings bei genauerem Hinsehen als immer derselbe strukturelle Hintergrund für viele Krisen/Kriege auf der Welt erkennen. Für die ‚bestenʻ Fachvertreter/innen der Disziplin bleibt das internationale System, trotz des immensen Leids aufgrund von Ausbeutung, Krieg und Zerstörung, im Zentrum weiterhin durch eine liberale Weltordnung geprägt, die sich per definitionem dadurch auszeichnet, dass demokratische Staaten miteinander aus rein normativen Gründen auf der Basis des Friedensvölkerrechts kooperieren und jede Form von Imperialismus und Chauvinismus in den Außenbereich dieser Weltordnung verbannen⁹²⁹. Mit einer versetzenden Lesart wird deutlich, dass das Problem solcher Redeweisen nicht nur in der fehlenden Distanz ihrer Autor/innen zur imperialistischen Praxis der leading democratic nations of the world liegt, sondern dass es für die ‚bestenʻ Vertreter/innen des IBMainstreams zumal in Kriegszeiten offensichtlich unmöglich ist, mit ihrem Gerede nicht völlig in Eskapismus abzugleiten: „National chauvinism rules, in peace as much as in war, although in peace claims about the compatibility of chauvinism with some sort of humanity can find plausible rhetorical ground. Limits are assumed, but scarcely acknowledged. Hypocrisies are cultivated, and bred into alluring displays of virtue. Scholarly parochialism is thereby vindicated.“⁹³⁰ Bei den gerade skizzierten Strategien geht es am Ende nicht darum, den Vertreter/ innen des IB-Mainstreams ‚erfolgreichʻ darzulegen, dass der vermeintliche record of accomplishment ihres rationalistischen Forschungsprogramms Einbildung, und dass das damit zusammenhängende Projekt einer kausalanalytischen science of IR zum Scheitern verurteilt gewesen ist⁹³¹. Ihre enge Verflechtung mit den Staatsapparaten unterstreicht, dass es ihnen weniger um eine wissenschaftliche Deutung der Welt als um eine theo-

 Vgl. Harold H. Koh, The Trump Administration and International Law (New York: Oxford University Press 2019), 3: „Since World War II, the leading democratic nations of the world have collectively worked toward an admittedly imperfect, but adequately functioning, Kantian vision [sic!] of a law-governed international society [sic!]. […] As the next years unfold, our challenge will be to preserve and improve upon this Kantian vision and to resist those who would discard it […].“ In einem ganz ähnlichen Tenor, Christopher Daase, Donald Trump und die Krise der liberalen Weltordnung, in: derselbe & St. Kroll, Angriff auf die liberale Weltordnung. Die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik unter Donald Trump (Wiesbaden: Springer, 2019), 3 – 17.  Walker, After the Globe, a.a.O., 56. Zu berücksichtigen wäre insbesondere die Bemerkung auf 58: „It might be comforting to assume that we live within political arrangements that have come to resemble the great Kantʼs ambition for an earthly perfection, and quite a few respectable people have certainly become a little carried away with the possibilities this implies. Nevertheless, Kant himself […] would be quite amused by the way his speculative account of a regulative idea that could never be reached has become the assumed, even if not quite perfected, condition of modern political life that can be taken for granted as the way political life must be: in fact is, and must continue to become.“  Vgl. dazu auch Ashley, The Achievements of Poststructuralism, a.a.O., 249.

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retische Fundierung und Legitimierung der außenpolitischen Praxis gegangen ist⁹³². In dem Maß, wie sich der IB-Mainstream weiterhin in seine praxisnahen Modellwelten einschließt und im Namen einer anwendungsorientierten Wissenschaftlichkeit auch eine Politik der militärischen Konfrontation bis hin zur totalen Vernichtung als ‚militärische Notwendigkeitʻ normalisiert⁹³³, kann es je nach persönlicher Betroffenheit angemessen erscheinen, daran zu erinnern, dass wissenschaftliche Verantwortung entgegen allen anderslautenden Rufen im ständigen Hinterfragen liegt, und zwar der „[…] things we take for granted in IR, like the very idea of the state. […] In so doing, they want to help us reassess not just the world as we see it but the very ways in which we think we see the world.“⁹³⁴

Kritische IB-Theorie als Affirmation (?) Die Radikalität poststrukturalistischer Kritik störte nicht nur den konservativen IBMainstream, sie weckte offensichtlich auch immer mehr Unbehagen im ‚progressivenʻ Milieu einer affirmativen Avantgarde. In Abkehr vom Projekt der ‚alten Kritikʻ entwickelte sich in den IB ein ‚postkritischesʻ Selbstverständnis, das sich von angesagten intellektuellen Trends in anderen sozialwissenschaftlichen Feldern inspirieren ließ⁹³⁵, das dem neuen postmaterialistischen Zeitgeist der angepassten bürgerlichen Mittelschicht

 Vgl. dazu Fareed Zakaria mit einer Zusammenfassung der major contribution zum Vietnam-Krieg von Leslie H. Gelb & Richard K. Betts, The Irony of Vietnam: The System Worked (Washington: Brookings, 2016), x: „The central conclusion of the book is that people were rational and the system worked.Vietnam was not the product of evil intent or massive stupidity. It was the logical consequence of a set of assumptions and concepts adopted by every president from World War II on, endorsed enthusiastically by Congress, and supported by the majority of the American people. Once those concepts were accepted, the American decision making system worked as it was designed, forcing policy toward middle-of-the-road solutions.“  Vgl. etwa zur Denkfigur der ‚military necessityʻ Neta C. Crawford, What is War good for? Background Ideas and Assumptions about the Legitimacy, Utility, and Costs of Offensive War, British Journal of Politics and International Relations 18:2 (2016), 282– 299, 286: „Specifically, the first place where background ideas [about legitimate warfare] might be articulated is in the educational institutions, think tanks, staff colleges, and halls of government where the ideas circulate as truths and are taught with little reflection.“  Daddow, International Relations Theory, a.a.O., 158 (Hbg. hinzugefügt)  Vgl. als Vorreiter dieses Trends in der Soziologie, Luc Boltanski & Eve Chiapello, Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel, Berliner Journal für Soziologie 11:4 (2001), 459 – 477; vgl. Elizabeth S. Anker & Rita Felski (Hg.), Critique and Postcritique (Durham: Duke University Press, 2017) für die postkritische Wende u. a. in den Kulturwissenschaften, dem Postkolonialismus und den American Studies; vgl. Rafael Alcadipani & John Hassard, Actor-Network Theory, Organizations and Critique: Towards a Politics of Organizing, Organization 17:4 (2010), 419 – 435 für die postkritische Wende in der Organisationssoziologie; und vgl. Koddenbrock, Strategies of Critique in International a.a.O., 245 – 246 mit der Bestätigung, dass sich eine postkritische Wende auch in den akademischen Internationalen Beziehungen vollzogen hat.

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besser zu entsprechen scheint⁹³⁶ – und das auch von finanzkräftigen Stiftungen mit beachtlichen Förderungen honoriert wird⁹³⁷. Ein zentrales Postulat dieser Orientierung besteht darin, die bisherigen Modi der Kritik wegen ihrer fehlenden Effektivität⁹³⁸ und noch viel mehr wegen ihrer‚nihilistischenʻ Neigung zur Radikalisierung zu überwinden. Konstruktivistische, strukturalistische und poststrukturalistische Modi der Kritik, so das Argument, wären aufgrund ihrer Ablehnung der vorfindlichen Verhältnisse als bloße Verkörperungen von Ideologien und Regimen einer Disziplinarmacht⁹³⁹ nicht nur orientierungslos geworden sondern gerierten sich zuweilen gar vulgär bzw. unzivilisiert, indem sie bei ihrem Blick auf realweltliche Zusammenhänge ständig von gezielten Versuchen der Manipulation ausgingen, jede offizielle Verlautbarung in Zweifel zögen, und obendrein dazu aufforderten, „[…] to fight the wrong enemies and, worst of all, to be considered as friends by the wrong sort of allies because of a little mistake in the definition of its main target.“⁹⁴⁰ Gegenüber einem solchen ‚Kult des Zweifel(n)sʻ wollen sich Postkritiker/innen den gesellschaftlichen Verhältnissen offensichtlich wieder mit einem ‚realistischenʻ, ‚affirmativenʻ⁹⁴¹ und vor allem nicht mehr so ‚verschwörungstheoretischʻ motivierten Gestus zuwenden⁹⁴². Im Zentrum der neuen Kritik soll nicht mehr die alte Frage nach den

 Das zeigt sich u. a. an der Aufmerksamkeit für eine neue Spezies von ‚Philosophenʻ, die sich, wie etwa der Publizist Wolfram Eilenberger, in den Medien betont affirmativ zum ‚Bestehenden‘ positionieren.  Vgl. Jeffrey R. di Leo,What is Critique without Pessimism? Postcritique, Neoliberalism, and the Future of the Humanities, The Comparatist 43:1 (2019), 6 – 25, 19.  Vgl. in diesem Sinn etwa Jane Bennett, Vibrant Matter: A Political Ecology of Things (Durham: Duke University, 2010), 12.  Vgl. Elizabeth S. Anker & Rita Felski, Introduction, in: dieselben, Critique and Postcritique, a.a.O., 15.  Bruno Latour, Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern, Critical Inquiry 30:2 (2004), 225 – 248, 231.  Vgl. zum Gestus der ‚Affirmationʻ, Kathrin Thiele, Affirmation, in: M. Bunz, B. M. Kaiser & K. Thiele (Hg.), Symptoms of the Planetary Condition: A Critical Vocabulary (Lüneburg: Meson, 2017), 25 – 29, 29: „What affirmation as critique and critique as affirmation suggest is to endure the turns things take, without ever letting go of the (critical) potential of ‚what our bodies can doʻ (radical immanence). It means continuing the work of critique ‚in-differently,ʻ because other realities and relations are always already with-in that which actually is.“  Die ‚verschwörungstheoretischeʻ Neigung der alten Kritik zeigte sich aus Sicht von Latour vor allem in ihrer Missdeutung des 11. September 2001. „The smoke of the event has not yet finished settling before dozens of conspiracy theories begin revising the official account, adding even more ruins to the ruins, adding even more smoke to the smoke.“ Latour, Why Has Critique Run out of Steam?, a.a.O., 228.Vertreter/ innen der alten Kritik wurden mutmaßlich selbst zu Verschwörungstheoretiker/innen, indem sie einem ohnehin schon ausgeprägten Relativismus und Zynismus in den Gesellschaften des Westens immer weiter Vorschub leisteten. Postmoderne und/oder poststrukturalistische Argumentationen lieferten Populisten mit ihren entsprechenden Verweisen auf ‚alternative Faktenʻ angeblich die Idiome der Rechtfertigung. Allerdings bleibt bei dieser etwas eigenwilligen Interpretation völlig unberücksichtigt, dass sich die Skepsis gegenüber der US-Regierung, innerhalb der USA wie auch im internationalen Kontext, aus ihrer unrühmlichen Rolle im Vorfeld des Irak-Krieges speiste: „The cultural and social destruction of Iraq was foreshadowed by a decade of ideological statements and policy planning. And with the controversial Presidential election of George W. Bush in 2000, and the casus belli provided by the 9/11 terrorist attacks,

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Möglichkeitsbedingungen für die Erkenntnis faktischer Zusammenhänge stehen; sei sie angetrieben von der Kantʼschen Furcht, dass unterprivilegierte Kräfte aus einem Mangel an Bildung einfach weiter in ihrer Unmündigkeit verharren und irgendwelche falschen Dogmen für die Wahrheit halten⁹⁴³; oder sei sie gestützt auf die Vermutung Marxʻ, dass privilegierte soziale Kräfte aus sinistren Motiven Illusionen über die realweltlichen Verhältnisse erzeugen⁹⁴⁴. Stattdessen wäre der Fokus wieder vertrauensvoller auf die ‚Empirieʻ zu richten, um sich von der Wirklichkeit ‚berührenʻ zu lassen und emotional affiziert⁹⁴⁵ danach zu fragen, welche Aspekte in den komplexen ‚materiellenʻ Zusammenhängen zwischen natürlichen Objekten und gesellschaftlichen Praktiken tatsächlich von Belang sind⁹⁴⁶. Bruno Latour scheint für viele einer der wichtigsten Referenzautoren geworden zu ⁹⁴⁷ sein , da von ihm auch einer der am häufigsten zitierten Programmsätze der postkritischen Bewegung stammt: „The critic is not the one who debunks, but the one who assembles. The critic is not the one who lifts the rugs from under the feet of the naive believers, but the one who offers the participants arenas in which to gather.“⁹⁴⁸ Die postkritische Grammatik entwickelt sich demzufolge nicht mehr aus einem Code der ‚Oppositionʻ, der ‚Entlarvungʻ, der ‚Konfrontationʻ oder gar des ‚Widerstandsʻ, sie sprießt stattdessen aus dem Anspruch zur ‚Einbettungʻ, ‚Vermittlungʻ und ‚Konstruktionʻ⁹⁴⁹. Das wirft die Frage auf, was diese neue Form der Kritik bezweckt bzw. anders macht und vor allem, für wen die sogenannte Postkritik für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ‚Politischenʻ in den internationalen Beziehungen ergiebig sein kann. Bei der Beantwortung dieser Frage wird sich zeigen, dass die interessanten Aspekte der Postkritik aus der Perspektive des kritischen Denkens nicht unbedingt neu sind, und dass die neuen Aspekte der Postkritik aus der Perspektive des kritischen Denkens nicht beson-

this ideological vision was put in practice, Iraq representing the preeminent test case.“ Raymond W. Baker, Shereen T. Ismael & Tareq Y. Ismael, Cultural Cleansing in Iraq: Why Museums Were Looted, Libraries Burned and Academics Murdered (London: Pluto, 2009), 7.  Vgl. Bruno Latour, Pandoraʼs Hope. Essays on the Reality of Science Studies (Cambridge: Harvard University Press, 1999), 5 – 7.  Ebda, 289.  Vgl. Bettina Papenburg, Affect, in: Bunz, Kaiser & Thiele, Symptoms of the Planetary Condition, a.a.O., 19 – 24, 21.  Vgl. zu diesem ‚neuen Empirismusʻ, Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to ActorNetwork Theory (New York: Oxford University Press, 2005), 114 „The discussion begins to shift for good when one introduces not matters of fact, but what I now call matters of concern. […T]he mapping of scientific controversies about matters of concern should allow us to renew from top to bottom the very scene of empiricism – and hence the divide between ‚naturalʻ and ‚socialʻ.“ Vgl. für Versuche der Übertragung solcher Ideen in den Bereich der akademischen IB die Beiträge zum Sonderheft ‚Critique and Affirmation in IRʻ, Global Society 33:1 (2019), 1– 145.  Vgl. Tom Mills, What has become of Critique? Reassembling Sociology after Latour, British Journal of Sociology 69:2 (2018), 286 – 305, 287.  Latour, Why Has Critique Run out of Steam?, a.a.O., 246.  Vgl. Kiene Brillenburg Wurth, Creation, in: Bunz, Kaiser & Thiele, Symptoms of the Planetary Condition, a.a.O., 37– 42, 40.

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ders interessant sind. Das wiederum wirft die Frage auf, ob sich die Vertreter/innen der neuen Postkritik überhaupt jemals ernsthaft mit dem traditionellen Projekt der Kritik auseinandergesetzt haben. Die postkritische IB zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen im Zeichen eines ‚neuen Empirismusʻ als einen Bereich von Mikro-Praktiken begreift, in dem gesellschaftlich relevante Fragen nach dem Ausmaß und den Gründen für Krieg, menschliches Leid und Umweltzerstörung allerdings keine Rolle mehr spielen. Etwas zugespitzt könnte man in diesem Zusammenhang behaupten, dass sich das Erkenntnisinteresse an realweltlichen Verhältnissen manchmal mehr, manchmal weniger in einer solipsistischen Nabelschau auflöst, mit der die Indifferenz gegenüber Krieg, gesellschaftlichem Leid und ökologischer Zerstörung mit dem genauso selbstverliebten wie arroganten Hinweis auf die Originalität einer idiosynkratischen Beschreibung von ‚Kompositionenʻ realweltlicher Geschehnisse mitsamt der damit verbundenen ästhetischen ‚Erfahrungenʻ als wissenschaftlicher Fortschritt gepriesen wird. Das wird deswegen so problematisch, weil die neue postkritische Bewegung für sich eine besondere Aufmerksamkeit reklamiert, ohne jedoch zeigen zu können, aus welchen Gründen der Gestus der Affirmation eine bessere Basis für die Beschäftigung mit den realweltlichen Verhältnissen darstellen könnte als eine ‚kritischeʻ Praxis. Dabei ist es freilich wichtig, zu differenzieren: diese Einschätzung betrifft nicht das postkritische Ethos generell, wie es sich zum Beispiel in Feldern der Literaturkritik manifestiert, wo es durchaus interessant sein kann, ästhetische Erfahrungen mit dem ‚Textʻ zum Gegenstand der Diskussion zu machen. Diese Einschätzung richtet sich auch nicht ohne Einschränkungen auf das postkritische Erkenntnisinteresse an einem ‚neuen Materialismusʻ und die Forderung nach einer objektiveren bzw. objektlosen Sozialwissenschaft⁹⁵⁰; die grundlegende Feststellung Latours, dass sich die Mainstream-Soziologie und mit ihr fast alle Mainstream-Sozialwissenschaften im Zeichen positivistischer Prämissen entgegen ihren eigenen Verlautbarungen niemals wirklich um die Empirie gekümmert, weil sie sich viel zu vorschnell auf künstlich verengte Gegenstandsbereiche festgelegt haben, um objektivierte Zusammenhänge zwischen verdinglichten Variablen in einem falsch verstandenen szientistischen Sinn kausal zu erklären⁹⁵¹, ist zwar nicht neu, bleibt als solche aber völlig richtig. Die Einschätzung, dass Postkritik in den akademischen IB ihre selbstformulierten Versprechungen nicht einlöst, richtet sich in erster Linie auf den deskriptiven Anspruch im Umgang mit sozialen Phänomenen⁹⁵², die kontraintuitive Umschreibung realweltlicher Zusammenhänge unter Zuhilfenahme eines selbstbezüglichen Vokabulars, die eingeschränkten Rezeptionsmöglichkeiten dieses Vokabulars bei der Beschäftigung mit  Vgl. Latour, Reassembling the Social, a.a.O., 84– 86 und 246: „There is no society, or rather, society is not the name of the whole terrain. Thus we may start all over again and begin exploring the vast landscape where the social sciences have so far only established a few tiny bridgeheads.“  Vgl. ebda, 1.  Vgl. Latour, Reassembling the Social, a.a.O., 136 – 137.

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sozialen Phänomenen sowie auf den dadurch bedingten Verlust von zentralen Gegenständen im Bereich der IB. Getragen wird diese Einschätzung zudem von der Beobachtung, dass sich Postkritik keinem ersichtlichen Erkenntnisinteresse mehr an ‚politischʻ relevanten Zusammenhängen verdankt, die in den reflexionslogischen Kontexten der gesellschaftlichen Lebenswelt/en eine zentrale Rolle spielen; und das, obwohl die grundsätzliche Bedeutung solcher politisch relevanten Zusammenhänge für die theoretische Arbeit in den Sozialwissenschaften von Latour selbst durchaus eingeräumt wird⁹⁵³. Umso fragwürdiger mutet es deswegen an, wenn sich Vertreter/innen der Postkritik dessen ungeachtet für eine affirmative Haltung gegenüber empirisch erfahrbaren Verhältnissen feiern und ‚Kritikʻ auf preziöse Bemerkungen zum ständigen Werden eines komplexen Zusammenhangs von ‚Etwasʻ reduzieren⁹⁵⁴. Aus postkritischer Sicht ist eine Abkehr von tradierten Formen der Kritik nicht nur deswegen geboten, weil alle (!) bisher populären Modi der Kritik in den Sozialwissenschaften als Manifestationen einer critical barbarity die Grenzen des guten Geschmacks überschritten hätten. Die realweltlichen Verhältnisse wären von den alten Formen der Kritik oft viel zu schematisch betrachtet worden, um nach einem festen Muster bestimmte ‚Akteureʻ herauszustellen und diese mit Verweis auf irgendwelche hintergründigen sozialen bzw. kulturellen Einflüsse bzw. ‚Strukturenʻ als Drahtzieher von Gemeinheiten und Verbrechen zu stigmatisieren. Damit begab sich die alte Kritik angeblich in eine Komplizenschaft mit populistischen Bewegungen von rechts bzw. links, weswegen sie auch zurecht ‚gestorbenʻ sei⁹⁵⁵. Zivilisierte Postkritik distanziert sich nach  Ebda, 63: „[T]here exist hierarchies, asymmetries, and inequalities; […] no amount of enthusiasm, free will, or ingenuity can make those asymmetries go away; […] any thinker who denies those inequalities and differences is either gullible or somewhat reactionary […].“  Vgl. David Chandler, The World of Attachment? The Post-humanist Challenge to Freedom and Necessity, Millennium 41:3 (2013), 516 – 534, 527: „The future is closed to us, but the processes of complex or emergent causality can be at least partially grasped, but only after the fact and only through the slow, laborious and complex work of tracing the associations of actors, or the assemblages at play in the production or emergence of a particular event. […] Explanation without subjects and without structures can have no analytical framework and by definition can only be descriptive.“ Vgl. ähnlich ergriffen von der komplexen Vielfalt in der Welt, Diana Coole, Agentic Capacities and Capacious Historical Materialism: Thinking with New Materialisms in the Political Sciences, Millennium 41:3 (2013), 451– 469, 468: „Reflecting on the emergence and direction of new materialist thinking, I have suggested that it covers a huge amount of ground, from the most rarefied reaches of generative becoming to the most visceral details of bodily well-being. During its brief history it has drawn together insights regarding a new ontological imaginary, novel approaches to agency, possibilities for a new sensibility and practical guidance for undertaking a critical social theory fit for the 21st century. […] In this sense, the materialist turn is an invitation to direct our attention once again to the material world; to plunge into its vibrant forms; to think afresh about the manifold ways human animals encounter, are affected by, respond to, destroy, rely upon and are generally imbricated with matter, and to assume a critical stance by exploring the dangerous ways matter is being reconfigured and distributed. The political sciences, I have argued, have an especially important role to play here, provided their critical investigations integrate evidence drawn from the bio-physical sciences in ways that are congruent with a flat ontology.“  Latour, Why Has Critique Run out of Steam?, a.a.O., 248. Konkret richtete sich dieser Vorwurf gegen die Einordnung der Terroranschläge auf New York anno 2001 durch Jean Baudrillard, Der Geist des

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eigenem Anspruch von allen kritischen Theorien, die in dieser Weise zu Verschwörungstheorien geworden sind und kultiviert deshalb ein Vokabular, mit dem sich die Beschreibung ausgewogen, rücksichtsvoll sowie unvoreingenommen den tatsächlichen und wirklich erfahrbaren Aspekten der Welt auf einer eher lokalen Ebene zuwenden kann; ein Vokabular, mit dem die Fokussierung auf typische Akteure und Strukturen aufgegeben und stattdessen eine ontology of becoming, complexity, und volatility beschrieben werden kann; ein Vokabular, mit dem soziale Verhältnisse bzw. Praktiken als compositions rekonstruiert werden können, die aus einer Vielzahl von miteinander verbundenen Elementen bestehen⁹⁵⁶.

Ein neuer Materialismus der internationalen Beziehungen Für die postkritische Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen wird damit eine Orientierung an neuen historisch materialistischen Prämissen essentiell: „A capacious historical materialism from this perspective will need to integrate detailed, empirical, fine-grained studies of micro-level phenomena with attention to intermediate structures of political economy and broader macro-level systems.“⁹⁵⁷ Dabei begreift eine postkritische Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen das Politische nicht mehr in anthropologischen Kategorien. Relevante Prozesse laufen nicht mehr nur zwischen humanoiden Akteursinstanzen ab, sondern befinden sich in materiellen

Terrorismus (Wien: Passagen, 2003), der die Zerstörung der twin towers als Allegorie zu einem möglichen Zusammenbruch des westlichen Kapitalismus beschrieben hatte. Für Latour ging diese Einordnung zu weit und offenbarte den ganzen Radikalismus alter Kritik mit ihren immer gleichen schematischen Assoziationen von ‚Machtʻ, ‚Kapitalismusʻ, ‚Unterdrückungʻ und ‚Hegemonieʻ. Dazu wäre jedoch anzumerken, dass Latour diesen oder auch einen anderen Text von Baudrillard zum ‚Ereignis 9/11ʻ entweder nicht wirklich gut gelesen und/oder die Geste des Autors nicht wirklich gut verstanden hat. Schließlich wirkt die kritische Haltung Baudrillards zu dem ‚Ereignisʻ der Terroranschläge durchaus reflektiert und differenziert in eben jenem Sinn, den Latour für sein eigenes Projekt reklamiert: „Zuerst ist das Ereignis da. Jeder Versuch, ihm einen Sinn zu unterstellen, eine Erklärung zu finden, und sei es die subtilste und wohlwollendste, seine Gründe oder Konsequenzen darzulegen oder es in irgendeine Strategie einzufügen, läuft auf die Behauptung hinaus, es sei gar kein Ereignis, indem es für alles objektive Voraussetzungen gebe. Das hieße, zur Nullhypothese zurückzukehren, nämlich dass nichts passiert ist, indem sich alles erklären lässt. Während aber das Ereignis, das, was es zum Ereignis macht, von einer Dissoziation seiner Folgen und Gründe ausgeht: Die Folgen eilen den Gründen voraus, sie überholen die Kausalität, als würde das Ereignis das Kausalitätsprinzip beseitigen. Und eben dadurch wird das Ereignis symbolisch – sonst wäre es bloß real.“ Baudrillard, ebda, 67.  Vgl. Latour, Pandoraʼs Hope, a.a.O., 182: „What interests me is the composition of action […]. The attribution to one actor of the role of prime mover in no way weakens the necessity of a composition of forces to explain the action. […] Flying is a property of the whole association of entities that includes airports and planes, launch pads and ticket centers.“  Coole, Agentic Capacities, a.a.O., 453.

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Kontexten, an denen auch nicht-humanoide Instanzen teilnehmen⁹⁵⁸. Macht- und geopolitische Aspekte sowie strukturelle Dimensionen der politischen Ökonomie bleiben für eine ‚empirischeʻ Betrachtung konkreter Vorkommnisse zwischen verschiedenen Instanzen, den sogenannten ‚Aktantenʻ⁹⁵⁹, prinzipiell auch auf einer Mikroebene relevant. Allerdings ist nicht mehr von vornherein klar, was solche Parameter dort konkret auszeichnet und worauf sich der Fokus dabei richtet: „A[ctor-N[etwork‐]T[heory]directed approaches are unique among this expansive and eclectic literature […] for working to ‚assume nothingʻ in their inquiries“⁹⁶⁰. Klar ist nur, dass sich die neue Postkritik nicht mehr automatisch für Phänomene interessiert, die bisher zu integralen Bestandteilen des Untersuchungshorizonts der akademischen IB gehört haben, etwa die Ausübung militärischer ‚Gewaltʻ zwischen ‚Staatenʻ bzw. der Einsatz militärischer Gewalt auf Geheiß der ‚Regierungʻ eines Staates im ‚Innernʻ eines anderen Staates. Es wirkt eher so, als wäre der ganze Problemkreis militärischer Sicherheit vor allem als ein weit verzweigtes Netzwerk, assemblage, interessant, in dem ein dichtes Geflecht von humanoiden und nicht-humanoiden Instanzen zusammenwirkt und immer neue Effekte zeitigt⁹⁶¹. Dieses Netzwerk mitsamt seinen Instanzen existiert als solches nicht mehr einfach als ein objektiver Untersuchungsgegenstand im Kontext einer theoretisch vermittelten Vorstellungswelt von ‚Staatenʻ, ‚Interessenʻ, ‚Zielen/Strategienʻ oder ‚Bedrohungenʻ. Dieses Netzwerk gewinnt seine Konturen in dem Maß, wie man seine Elemente bzw. Aktanten und ihr Zusammenspiel im Alltag konkret erfährt, zumal „[…]

 Vgl. Jane Bennett, The Force of Things: Steps toward an Ecology of Matter, Political Theory 32:3 (2004), 347– 372, 360. Vgl. zu weiteren Überlegungen zu diesem neuen ‚posthumanenʻ Forschungsschwerpunkt in den IB Erika Cudworth & Stephen Hobden, Of Parts and Wholes: International Relations beyond the Human, Millennium 41:3 (2013), 430 – 450, 444: „[A]gency may be attributed to any object or ‚actantʻ temporarily constituted by the emergent web of ‚materially heterogeneous relationsʻ. Here, agency is inflated conceptually (so that it becomes simply a capacity for action) and extensively (so that anything that has an effect on something else is seen as an actor or actant, from fishermen to scallops). […] It has been suggested that exploitative and oppressive relations exist and must be taken seriously, and that their challenge has seen the emergence of a posthumanist, non-anthropocentric way of understanding and relating to other animals and the natural world more generally.“ Vgl. mit Blick auf eine konkrete Illustration anhand von Drohnenangriffen, William Walters, Drone strikes, dingpolitik and beyond: Furthering the Debate on Materiality and Security, Security Dialogue 45:2 (2014), 101– 118.  Vgl. Latour, Reassembling the Social, a.a.O., 54.  Jonathan Luke Austin, We have never been Civilized: Torture and the Materiality of World Political Binaries, European Journal of International Relations 23:1 (2017), 49 – 73, 52. Heather Love, The Temptations: Donna Haraway, Feminist Objectivity, and the Problem of Critique, in: Anker & Felski, Critique and Postcritique, a.a.O., 50 – 72, 51– 52, meint dazu sogar, dass „[…] Latourʼs focus on objects and networks skirts crucial questions of power, inequality, and social structure.“  Vgl. mit Blick auf die Entstehung von (terroristischer) Gewalt zwischen Menschen, Jonathan Luke Austin, A Parasitic Critique for International Relations, International Political Sociology 13:2 (2019), 215 – 231, 217: „[T]he parasitic critique I lay out is conceptualized as an effort to build relations, connections, and points of communication between a multiplicity of (normatively, politically, socially) distant sites. The goal is to use this positionality to draw out the conditions of possibility for world political bads (or, indeed, goods) through a multivocal engagement with the tortured and the torturers, the terrorized and the terrorists, the critical theorist and her subjects.

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‚securityʻ is not only a discourse, manipulated for political interests, but also something grounded in everyday experience.“⁹⁶² Die Schwierigkeit liegt darin, dass gerade sicherheitspolitische Aspekte oft größtmöglicher Geheimhaltung unterliegen und deswegen nicht ohne gewisse Einschränkungen als „[…] just another domain in which to ‚applyʻ actor-network theory and other materialist approaches“⁹⁶³ angesehen werden können. Die Untersuchungsstrategie muss entsprechend angepasst werden, um sicherheitsrelevante Aspekte und ihr Zusammenwirken empirisch erfahren und in concreto beschreiben zu können⁹⁶⁴. Das bedeutet einerseits, dass militärische Sicherheit als empirisch erfahrbares Netzwerk nicht mehr mit Blick auf diejenigen Eigenschaften untersucht wird, die in der abstrakten Vorstellungswelt der internationalen Beziehungen wie auch im reflexionslogischen Kontext der gesellschaftlichen Lebenswelt/en angenommen werden. Stattdessen ist Sicherheit zusammengesetzt „[…] through little moments of sensibility.“⁹⁶⁵ Die Aufgabe der Kritik besteht dann darin, diese mitunter schwer wahrnehmbaren Aspekte einer kleinräumigen Wirklichkeit unter einer Fragestellung zu beschreiben, die bis auf Kant zurückgeht: „What is our actuality? What is the present field of possible experiences? It is not an issue of analyzing the truth, it will be a question rather of what we could call an ontology of ourselves, an ontology of the present.“⁹⁶⁶ Sicherheitspolitik ist am Ende das, was auf lokaler Ebene in einem kleinräumigen Netzwerk passiert, an dem z. B. offen‚sichtlichʻ Nichtregierungsorganisationen, Pressemitarbeiter/innen, Drohnen, Geschosse, getötete Zivilist/innen, zerstörte Gebäude, Straßen und/oder Marktplätze usw. ‚teilnehmenʻ und als Aktanten material-discursive practices konstituieren⁹⁶⁷. Durch diese Praktiken wiederum lässt sich Sicherheitspolitik-als-Netzwerk aus ihrem Mikrobereich herausholen, insofern die dadurch erzeugten Bilder und Narrative schlussendlich in einem größeren Maßstab zirkulieren und ihrerseits zum Bestandteil von Selbstreflexionen und Diskussionen über Sicherheit in einem globaleren Kontext werden können⁹⁶⁸.  Jonathan Luke Austin, Security Compositions, European Journal of International Security 4:3 (2019), 249 – 273, 250. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die übrigen Beiträge zu dem Schwerpunktheft, für das der Text von Luke als Einführungstext fungiert.  Walters, Drone strikes, a.a.O., 105.  Marieke de Goede, The Chain of Security, Review of International Studies 44:1 (2017), 24– 42, 41, weist zudem darauf hin, dass „[…] security has a specific temporality oriented toward urgency and preemptive action. This means that the practices of knowledge through which security claims are produced are less routine, and more speculative. In the field of security, perhaps even more than other practical fields, policies are controversy-driven and knowledge claims are continually contested.“  Austin, Security Compositions, a.a.O., 250.  Michel Foucault, What is Revolution?, in: S. Lotringer & L. Hochroth (Hg.), The Politics of Truth (Los Angeles. Semiotext(e), 1997), 83 – 100, 94– 95.  Walters, Drone strikes, a.a.O., 108.  Vgl. Austin, Security Compositions, a.a.O., 269: „A photograph can change the politics of (in)security, then, when it exists in everyday modes of circulation, augmented by contemporary technological flows, and is captured with an ineffable aesthetic that ‚does something to usʻ given its internal composition: resonates with us, symbiotically changes us and the world.“ Vgl. dazu auch den autoethnographischen

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Das heißt, der Fokus einer postkritischen Haltung ist nicht mehr wie bisher üblich auf die ‚Analyseʻ von politischen Praktiken auf Regierungsebene gerichtet, die man in gedanklicher Voraussetzung eines vorkonfigurierten institutionellen Zusammenhangs aus der Presse bzw. entsprechenden Dokumentationen kennt. Ein Beispiel für solche herkömmlichen und veralteten Verfahrensweisen wäre etwa die Analyse der sogenannten ‚Entscheidungenʻ der ‚Kennedy-Administrationʻ zum strategischen Einsatz von chemischen ‚Waffenʻ⁹⁶⁹ gegen südvietnamesische ‚Befreiungskämpfer/innenʻ im Zuge des ‚Vietnam-Kriegesʻ ab 1961, oder solchen der ‚Bush Jr.-Administrationʻ zur ‚Selbstverteidigungʻ im Zuge des ‚Kriegs gegen den Terrorʻ durch ‚Präzisionswaffenʻ gegen ‚militärische Zieleʻ im ‚Irakʻ anno 2003. Die Prämissen einer ontology of becoming, complexity, und volatility suggerieren stattdessen einen Fokus, der mit Blick auf sicherheitspolitische Phänomene die übliche Objektivierung von Zusammenhängen überwindet, in dem politische Entscheidungen Ausfluss strategischer Kalkulationen von Menschen als bestimmten Rollenträger/innen sind. Bei der Untersuchung von Kriegsgeschehnissen wie zum Beispiel denjenigen in Vietnam wären bei einer postkritischen Analyse nicht mehr die ‚Entscheidungsträgerʻ und ihre Aktivitäten im Fokus, sondern alle möglichen Aktanten, zu denen neben den diversen humanoiden Instanzen etwa auch die verschiedensten Herbizid-Mischungen der Agent-Klasse gehören würden, aber auch die Bodenflächen, in denen Pflanzengift eingedrungen ist, genauso wie die entsprechenden Gewässer der jeweiligen Ökosysteme, mitsamt den dazugehörigen Tieren und Pflanzen. Im Irak-Krieg wären neben den menschlichen Aktanten auch die verschiedenen M829-Versionen von Wuchtgeschossen mit abgereichertem Uran beteiligt, plus natürlich Panzer, Flugzeuge und ferngesteuerte Drohnen bzw. die Wüstenflächen, in denen panzerbrechende Projektile eingeschlagen haben. Ziel der Betrachtung wäre jedoch nicht mehr die Erklärung des Einsatzes von Pflanzengift gegen südvietnamesische Landarbeiter/innen, Reisfelder und Obstbäume bzw. Drohnenangriffe auf irakische Väter, Mütter und Wissenschaftler/innen⁹⁷⁰ als Ausfluss einer Strategie zur fahrlässigen, wenn nicht sogar gezielten Tötung. Die ganze Suche nach faktischen Zusammenhängen würde sich komplett neu ausrichten auf „[…] a less hierarchical and more horizontal transversal practice of knowledge creation and circulation.“⁹⁷¹ Die Frage bei der Beschäftigung mit Krieg wäre nicht

Ansatz von Roland Bleiker, Visual Autoethnography and International Security: Insights from the Korean DMZ, European Journal of International Security 4:3 (2019), 274– 299 sowie den Beitrag von Rune Saugmann, Military Techno-Vision: Technologies between visual Ambiguity and the Desire for Security Facts im selben Heft auf 300 – 321.  Vgl. dazu etwa Edwin A. Martini, Agent Orange: History, Science, and the Politics of Uncertainty (Amherst: University of Massachusetts Press, 2012), der auf 23 die zwischen 1961 und 1971 eingesetzten Herbizide unter ihrem militärischen Code (Agent Pink; Agent Green; Agent Purple; Agent Blue; Agent White und Agent Orange) sowie unter Nennung ihrer entsprechenden chemischen Zusammensetzung auflistet.  Vgl. dazu Baker, Ismael & Ismael, Cultural Cleansing in Iraq, a.a.O., 4.  Claudia Aradau & Jef Huysmans, Assembling Credibility: Knowledge, Method and Critique in Times of ‚Post-Truthʻ, Security Dialogue 50:1 (2019), 40 – 58, 54.

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mehr auf ‚den Kriegʻ als einem Bündel bloßer Fakten gerichtet, sondern eher darauf, wie Krieg als Zusammenspiel verschiedener Aktanten Affekte zwischen den jeweiligen Körpern erzeugt⁹⁷² und so zu einer materiell-ästhetischen Erfahrung wird: „From the compositional perspective, each of the everyday material-aesthetic encounters of the world produce ‚an interlocking of relations for each body, and from one body to another … [which] constitutes the ‚formʻ of social life in ways that undermine traditional conceptualizations of agency, choice, and responsibility.“⁹⁷³ Die viel wichtigere Frage als eine nach der Faktizität von Leid und Zerstörung sowie ihren Ursachen wäre in diesem Zusammenhang dann auch die, was Krieg mit ‚unsʻ als Wissenschaftler/innen⁹⁷⁴, mit Gesellschaft/en und schließlich mit der ganzen Menschheit macht; die Frage richtete sich mit anderen Worten auf Krieg als ein „[…] fragment that displaces thought, which forces thought to think rather than reproduce given forms.“⁹⁷⁵ Im Vergleich mit der neuen Postkritik beging die alte Kritik im Sinne einer Hermeneutik des Zweifels den Fehler, sich viel zu schnell mit den sogenannten ‚Opfernʻ zu solidarisieren, Schuldzuweisungen vorzunehmen, grundsätzlich zu viele Konturen der Welt einfach vorauszusetzen und etwa mit Blick auf den Gegenstandsbereich der internationalen Beziehungen vorgängige Überzeugungen als Möglichkeitsbedingung für Entscheidungen zu unterstellen, die den Status objektiver Sachverhalte erhielten. Die zu analysierenden Entscheidungen wurden von der alten Kritik gerade nicht als Teile eines komplexen und fluiden Prozesses emergenter Entwicklungen verstanden, und zwar möglicherweise nur deswegen, weil Kritiker/innen die Entscheidungen als solche nicht gutheißen wollten: „[…] they use objects they do believe in to resort to the causalist or mechanist explanation and debunk conscious capacities of people whose behavior they donʼt approve of.“⁹⁷⁶ Stattdessen wäre also zunächst immer von einem diffusen und komplexen Bild auszugehen, in dem etwa eine politische Entscheidung nur noch einen Ton in einem anhaltenden ‚Gesangʻ darstellt, der sich aus vielen Stimmen speist, und in dem eine Vielzahl von Instanzen ihre Anliegen betreffend die jeweilige Materie direkt oder indirekt zum Ausdruck bringt.

Das neue Erkenntnisinteresse der ‚Empathieʻ Gerade die Berücksichtigung der Rolle völlig unterschätzter Dimensionen nicht-humaner Instanzen in einem komplexen Prozess des „[…] mediating, assembling, gathering

 Vgl. Bennett, Vibrant Matter, a.a.O., 3.  Austin, Security Compositions, a.a.O., 268.  Vgl. etwa die Schilderung der Eindrücke von Migration und Flucht im östlichen Mittelmeer von Debbie Lisle & Heather L. Johnson, Lost in the Aftermath, Security Dialogue 50:1 (2019), 20 – 39.  Jef Huysmans & Joao P. Nogueira, International Political Sociology as a Mode of Critique: Fracturing Totalities, International Political Sociology 15:1 (2020), 2– 21, 12.  Latour, Why Has Critique Run out of Steam?, a.a.O., 241.

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[…]“⁹⁷⁷ wäre offensichtlich geeignet, Kritiker/innen politischer Aktivitäten zu mehr Sorgfalt im Umgang mit den letzten Endes völlig kontingenten Entstehungsbedingungen konkreter Entscheidungen anzuhalten. Das zwingt nicht zuletzt auch zu einer völlig neuen Bewertung der staatlichen Verwaltung und des Militärs, das von der alten Kritik viel zu lange stigmatisiert worden ist: „Should we not be thoroughly humiliated to see that military personnel are more alert, more vigilant, more innovative than we, the pride of academia […] who go on ceaselessly transforming the whole rest of the world into naive believers, into fetishists, into hapless victims of domination, while at the same time turning them into the mere superficial consequences of powerful hidden causalities coming from infrastructures whose makeup is never interrogated?“⁹⁷⁸ Der oft so negativ konnotierte ‚militärisch-industrielle Komplexʻ erstrahlt hier möglicherweise in einem völlig neuen und vor allem viel positiveren Licht als ein institutioneller und diskursiver Kontext, in dem eine Vielzahl von Personen als humanoide Instanzen angesichts vorhandener militärtechnischer Ressourcen in kontroversen Diskussionen versucht haben, ihre unterschiedlichen Vorstellungen darüber in Einklang zu bringen, wie das politisch ‚Wünschenswerteʻ und das militärisch ‚Notwendigeʻ aufeinander abgestimmt werden können, um die – am Ende irgendwie unvermeidlichen – Opferzahlen aus Legitimitätsgründen möglichst niedrig zu halten⁹⁷⁹. Das Problem der alten Kritik lag vermeintlicherweise in ihrer unablässigen Suche nach Sachverhalten, die zu schematisch betrachtet und in einem viel zu vereinfachten Sinn auf objektive Ursachen zurückgeführt worden sind. Das Problem der obsolet gewordenen Kritik lag angeblich in ihrer philosophischen Verpflichtung auf das Projekt einer Aufklärung im Sinne Kants, der damit begonnen hatte, „[…] to define agency in terms of the autonomous will of the person who submits to the moral law (whose form is inscribed in human reason).“⁹⁸⁰ Für die Zwecke der Erklärung hatte die alte Kritik angeblich rein formale Möglichkeitsbedingungen realweltlicher Phänomene ins Zentrum der kritischen Suche gestellt und dabei den Fehler gemacht, diese Möglichkeitsbedingungen als quasi objektive Gegebenheiten zu betrachten und sie dementsprechend begrifflich zu verdinglichen. Aus der Perspektive der Postkritik liegt das Problem der veralteten Kritik darin, dass sie den Fehler von Kant dadurch wettzumachen suchte, die objektiven Gegebenheiten anschließend im Bereich des Sozialen zu erkennen, sie historisch zu begreifen und/oder sie schlussendlich als symbolisch bzw. kulturell vermit-

 Latour, Why Has Critique Run out of Steam?, a.a.O., 248.  Ebda, 243. Vgl. dazu in einem grundsätzlichen Sinn auch David Kennedy, Of War and Law (Princeton: Princeton University Press, 2007), 32: „The more I have known military officers and military lawyers, the more obvious the parallels between our professions have become, and the more I’ve come to see us all as managers – with parallel passions. I’ve seen that when we differ, it is often the military who are the cooler heads. Military professionals also have desires for law. For starters, they also turn to law to limit the violence of warfare, to ensure some safety, some decency, among professionals on different sides of the conflict.“  Vgl. ebda, 30 – 32 und 41– 42.  Vgl. Bennett, Vibrant Matter, a.a.O., 29.

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telte Einflüsse zu verstehen⁹⁸¹, womit sie den ersten Fehler aber lediglich in den Formen des Kontextualismus, Historizismus, oder Poststrukturalismus reproduziert hat. Das Problem der erschöpften Kritik im Sinne einer Hermeneutik des Zweifels lag in ihrem Rückgriff auf eine Strategie, die sich in immer wieder neuer Form der Aufdeckung von scheinbar bewusst herbeigeführten und moralisch fragwürdigen matters of fact widmete – und eben nicht einer Beschäftigung mit den emergenten und komplizierten Dimensionen der matters of concern we cherish. Das wirft die Frage auf, was unter einem matter of concern konkret zu verstehen ist: „A matter of concern is what happens to a matter of fact when you add to it its whole scenography, much like you would do by shifting your attention from the stage to the whole machinery of a theatre. […] Matters of fact were indisputable, obstinate, simply there; matters of concern are disputable, and their obstinacy seems to be of an entirely different sort: they move, they carry you away, and, yes, they too matter.“⁹⁸² Anstatt also das militärische Vorgehen der US-amerikanischen Streitkräfte an bestimmten Orten in Vietnam oder im Irak nur on stage und mit einem entlarvenden Blick auf ‚Motiveʻ, ‚Interessenʻ und/oder ideologische Überzeugungen der ‚Täterʻ als matters of fact zu untersuchen, um damit eventuell eine ‚Schuldʻ konkreter Akteure am Tod von Menschen sowie Umweltzerstörungen erkennen zu können, wäre es in einem postkritischen Sinn möglicherweise angebrachter, Eindrücke vom jeweiligen Kriegsgeschehen auf die ganze scenography des Schauspiels zu erweitern, the whole machinery of a theatre in den Blick zu nehmen, die irreführenden Dualismen soziopolitischer Phänomene on stage wie z. B. ‚Täterʻ/‚Opferʻ miteinander zu integrieren⁹⁸³, und sich mit einem affirmativen und loyalen Gestus gegenüber dem Geschehen völlig neue Fragen nach dem größeren Zusammenhang des Ganzen zu stellen, um nicht vorschnell zu urteilen und damit ‚Gewaltʻ auszuüben. „While distant or‚externalistʻ critique is sometimes necessary, the violence it risks is obvious. […] Overall, it is a form of critique that treats its object as an enemy that needs to be exposed, rather than as a companion to be engaged.“⁹⁸⁴ Die Entscheidungsträger im US-amerikanischen System wären genausowenig Adressaten von Verdächtigungen wie die Streitkräfte, stattdessen wären sie ‚Partnerʻ bei der Suche nach matters of concern, d. h. Streitfragen, die im Kontext von Interaktionen aufgekommen sind. Der postkritische Fokus würde sich auf die unmittelbar Beteiligten an Mikro-Praktiken richten, sie zu Wort kommen lassen und dabei keine Seite vorschnell unter einen Verdacht stellen. Entsprechende Fragen an die Beteiligten könnten thematisieren, ob es ‚Opferʻ auf Seiten der ‚Täterʻ gab; ob die ‚Opferʻ nicht auch irgendwie ‚Täterʻ waren; und

 Latour, Why Has Critique Run out of Steam?, a.a.O., 245.  Bruno Latour,What is the Style of Matters of Concern? (Assen: Van Gorcum, 2008), 38, wo er dem noch hinzufügt, dass matters of concern „[…] have to be liked, appreciated, tasted, experimented upon, mounted, prepared, put to the test.“  Vgl. Austin, We have never been Civilized, a.a.O., 51.  Jonathan Luke Austin, Rocco Bellanova & Mareile Kaufmann, Doing and Mediating Critique: An Invitation to Practice Companionship, Security Dialogue 50:1 (2019), 3 – 19, 13 – 14.

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inwiefern Opfer und Täter jeweils eingebunden waren in eine viel komplexere Szenerie des gathering und becoming, in dem eine Vielzahl weiterer Aktanten eine wichtige Rolle bei der Einübung entsprechender Rollen gespielt hatte, weswegen die Frage nach den ‚Schuldigenʻ nicht nur den Blick auf den komplexeren Zusammenhang verstellt, sondern auch die Einbettung des Geschehens in diesen größeren Zusammenhang zwischen humanoiden und nicht-humanoiden Aktanten. Und schließlich wäre eine mögliche Frage auch, was von Analysten dieser Szenerie statt einer Dämonisierung der Schuldigen im ‚hierʻ und ‚jetztʻ dafür getan werden könnte, dass die Bereitschaft zur Gewaltanwendung zukünftig einem Versuch der Herstellung von Berührungspunkten weicht⁹⁸⁵. Und vielleicht müsste man mit der ‚Affirmationʻ des Geschehens sogar noch viel weiter gehen und offiziellen Auskünften staatlicher Instanzen Glauben schenken: vielleicht ging es zum Beispiel der US-Regierung in Vietnam um viel mehr als bloß um die Vernichtung von südvietnamesischen Urwäldern und Freiheitskämpfern. In einem wachsenden Bewusstsein um die aus ihrer Machtfülle fließende Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens ging es den diversen Teilnehmer/innen an den Prozessen im und um das US-Regierungssystem unter Umständen tatsächlich um die Eindämmung (containment) und auch Zurückdrängung (rollback) des sich ausbreitenden Sowjet- bzw. Sino-Kommunismus. Unter dem Einfluss pathetischer Selbststilisierungen wie dem land of the free und home of the brave wäre der militärische Einsatz in Vietnam vielleicht wirklich zu verstehen als kontingenter Teil eines ‚Kampfes für die Freiheitʻ und als ein matter of concern für die US-Regierung, resultierend aus einem Prozess des mediating, assembling, gathering zwischen Militärs, politischen Offiziellen, Zivilist/innen, Aktivist/ innen und passiven Beobachter/innen sowie militärtechnischen Ressourcen und ökologischen Voraussetzungen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Strata und geographisch-ökologischen Sphären. Dieses unvoreingenommenere Narrativ könnte eine Basis dafür werden, die Diskussion bei Bedarf noch einmal zu eröffnen und so schwierige Aspekte wie ‚Freiheitʻ oder ‚Befreiungʻ angesichts von Zusammenhängen zu thematisieren, die evtl. auch für Menschen außerhalb der USA und Vietnams heute noch ‚von Belangʻ sind. „Jedes wichtige Thema, jede Affäre, jedes Objekt, jedes Ding, jedes ‚Issueʻ, alles von Belang wird man wieder anfangen müssen. Es gibt nichts, was man als solches von einer Situation auf die andere übertragen könnte, jedes Mal wird man anpassen müssen und nicht anwenden können, entdecken und nicht ableiten […].“⁹⁸⁶

 Vgl. dazu aber die Schlussfolgerung von Vincent Pouliot, The Materials of Practice: Nuclear Warheads, Rhetorical Commonplaces and Committee Meetings in Russian–Atlantic Relations, Cooperation and Conflict 45:3 (2010), 294– 311, im letzten Absatz auf 307: „[I]t is doubtful that everyday coffee breaks at NATO headquarters might ever offset the practical weight of thousands of missiles or even that of catchy, recurring phrases in the media.“  Bruno Latour,Versuch eines ‚kompositionistischen Manifestsʻ, Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2:1 (2013), 8 – 30, 29.

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Die kritische Analyse wird zur ‚Kompositionʻ Im Projekt der Postkritik wird die Untersuchungsstrategie zu „[…] a multifarious inquiry launched with the tools of anthropology, philosophy, metaphysics, history, sociology to detect how many participants are gathered in a thing to make it exist and to maintain its existence. Objects are simply a gathering that has failed – a fact that has not been assembled according to due process.“⁹⁸⁷ Selbst Krieg und sicherheitspolitische Sachverhalte werden zu netzwerkartigen Beziehungen, die nicht stabil und abgeschlossen sind, weil eine große Zahl von ‚Aktantenʻ in einen komplexen Prozess involviert ist, in dem humanoide und militärisch-technische Ressourcen sowie natürliche Gegebenheiten als nicht-humanoide Instanzen zusammenspielen, sich immer wieder bestimmte Vorstellungen als matters of concern, als ‚Dinge von Belangʻ herausbilden und in Verbindung damit auch gewisse Entscheidungen getroffen werden⁹⁸⁸. Fast zwangsläufig ‚fehltʻ in solchen Netzwerken ein Zentrum der Macht, wo entsprechende Initiativen ihren Ursprung haben: „[…] a compositional approach refuses to accept there is any one ‚sourceʻ or‚centreʻ of power whose targeting will resolve our ailments. It makes the world messy. In doing so, however, it also erases the possibility of a singular outside challenger to power. Both despots and revolutionaries disappear.“⁹⁸⁹ Aus der Perspektive kritischen Denkens und etwas nüchtern betrachtet, wirkt dieser Aspekt an einer postkritischen Lesart von sicherheitspolitischen Praktiken etwas verstörend: Interaktionsdynamiken gelten als ‚politischʻ, solange sich darin matters of concern entwickeln, aber Macht, Privilegien, Willkür und Gewalt spielen dabei keine Rolle mehr. Vielleicht sind aber Kriegsbeispiele nicht so gut geeignet, um die Logik der postkritischen Argumentation zu veranschaulichen. Dann stellt sich allerdings die Frage nach der Heuristik dieser Perspektive und inwiefern diese Art der ‚Kritikʻ im Vergleich zu anderen Modi tatsächlich eine angemessenere theoretische Haltung beschreibt. Schließlich haben ‚Kriegeʻ wie diejenigen in Vietnam, im Irak und an diversen anderen Orten der Welt stattgefunden, sind Menschen in ihrer Eigenschaft als Kombattant/innen und als Zivilist/innen von staatlich sanktionierter Gewalt getötet, sind Ökosysteme zerstört worden. Rekonstruktionsversuche von Kriegen als Manifestationen von Kontingenz und Zufall wirken nachgerade zynisch. Die Frage nach der Verantwortung für Leid und Elend nicht (mehr) zu stellen, kommt einer Schicksalsergebenheit gleich, gemäß der die ‚Dingeʻ auf der Welt sind, wie sie eben sind – kompliziert, aber nicht fragwürdig. Wissenschaft liefert so das Vokabular für die Beschreibung dessen, was

 Latour, Why Has Critique Run out of Steam?, a.a.O., 246.  Vgl. dazu auch Josef Barla, ‚Ihr wortlos Lied, vielstimmig, scheinbar einsʻ. Die Frage nach dem Politischen in Bruno Latours Technikphilosophie, in: Mona Singer (Hg.), Technik und Politik. Von Benjamin und Deleuze bis Latour und Haraway (Wien: Löcker, 2015), 88 – 115, 93: „Tatsächlich gelangt Latour […] über das Vorhaben, Epistemologie unter Einbeziehung nichtmenschlicher Entitäten neu zu denken zu einer Philosophie der Technik, in deren Herzen eine relationale Ontologie steht, die als eine inhärent politische gelesen werden kann.“  Austin, Security Compositions, a.a.O., 270.

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Aktanten und uns daran ‚berührtʻ. Privilegierte können machen, was sie wollen, weil alles keinen ‚Sinnʻ mehr hat. Vielleicht ist es jedoch sinnvoller, die neue Postkritik stärker an ihrem eigenen methodologischen Anspruch zu messen, nämlich die Antithese zwischen ‚Naturʻ und menschlicher ‚Gesellschaftʻ zu überwinden: „The methodological symmetry this approach entails does not imply that the human and inanimate objects (for example) that make up such assemblages are the same, nor that they should be treated as such. But it does insist that animals, minerals, manmade objects and technologies should be seen as ‚actingʻ in the sense that they have an effect, or are afforded what critical realists call causal powers.“⁹⁹⁰ Auch nicht-humanoide Aktanten tragen zur Entstehung von matters of concern bei. Ein besserer Einblick in die Heuristik der postkritischen Betrachtung komplexer Zusammenhänge von menschlichen und natürlichen Kräften lässt sich vielleicht mit Blick auf die Diskussion über die Situation der Menschheit in der geologischen Epoche des Anthropozäns gewinnen, einem vom Menschen beeinflussten Zustand des Ökosystems, der die ‚natürlicheʻ Voraussetzung für alles Leben auf dem Planeten darstellt. Interessant wird die Beziehung zwischen Mensch und Ökosystem aus postkritischer Sicht deshalb, weil sie alles andere als einfach zu beschreiben ist, weil sie sich als ein unübersichtliches ensemble von Bestandteilen präsentiert. „What use to be ‚humanʻ and what use to be ‚naturalʻ are so mixed up that to get back a sense of order one has to do politics all over again – politics understood, that is, as the progressive composition of a common world.“⁹⁹¹ Und als Ergebnis stellt sich heraus, dass es aufgrund der schwierigen Komposition nicht einfach ist, die richtige Strategie im Umgang mit ökologischen Problemen zu bestimmen. Zwar ist der Klimawandel real, zudem mögen die Informationen alle stichhaltig sein, die Wissenschaftler/innen zur Gesamtbetrachtung des globalen Ökosystems im Auftrag des UN-Klimarats bisher beigesteuert haben. Gleichwohl bleibt es schwierig „[…] to say that global warming is a fact whether you like it or not […] that the argument is closed for good […].“⁹⁹² Daher greift es nach einer postkritischen Lesart auch zu kurz und bedient ein weiteres Mal die Hermeneutik des Verdachts, wenn die Klimawissenschaftler/innen mit einer in jeglicher Hinsicht völlig geeinten Partei assoziiert werden, die als einzige und letzte autoritative Instanz dienen könnte, um mögliche Entscheidungen zugunsten des Klimaschutzes gegenüber Skeptiker/innen und Abweichler/innen von einem vernünftigen Konsens zu rechtfertigen. „The sheer difficulty of modeling the Earthʼs climate on a computer will show that the objectivity of science cannot be confused with the unity of its decrees. The former domain of ‚natureʻ is neither harmonious nor unified. Nor is it ‚outsideʻ.“⁹⁹³

 Mills, What has become of Critique, a.a.O., 292.  Bruno Latour, War and Peace in an Age of Ecological Conflicts, Revue Juridique de lʼEnvironnement 39:1 (2014), 51– 63, 62.  Latour, Why Has Critique Run out of Steam?, a.a.O., 227.  Latour, War and Peace in an Age of Ecological Conflicts, a.a.O., 62.

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Aus postkritischer Sicht existiert hier wieder ein komplexes Netzwerk, in dem sich der eine vernünftige Maßstab für den Umgang mit der ökologischen Krise nicht hat finden lassen. Anstatt sich voreingenommen, wie die alte Kritik, einfach auf die Seite derer zu schlagen, die ihr mehr zusagt; anstatt sich dabei an den vermeintlich universellen Glauben an eine bessere Welt für die Menschheit zu klammern; und anstatt aus diesem Glauben heraus irgendwelche normativen Projekte für die Rettung der Menschheit abzuleiten, wäre es angebrachter, die anthropologische Fixierung als arroganten modernistischen Irrtum aufzugeben⁹⁹⁴, die Materialität der Welt als ontology of becoming, complexity, und volatility zu begreifen und in bewusster Affirmation komplexer Verhältnisse die naive Hoffnung auf eine bessere Welt für die Menschheit fahren zu lassen. „It is for this reason that the conceptual focus upon extinction is often seen as so important […].“⁹⁹⁵ Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass die Welt nicht für die Menschheit da ist und sich als solche nicht aus objektiven Fakten für die Menschheit sondern aus highly reactive matters of concern zusammensetzt. Im globalen Maßstab ist aufgrund der unterschiedlichen Kulturen, Erfahrungen und sich daraus speisenden Einstellungen zu animals, minerals, manmade objects and technologies ein breites Spektrum von Positionierungen und Strategien wahrscheinlich, die wie selbstverständlich zu Konflikten führen, Einigkeit über matters of concern verhindern und eine gemeinsame Strategie zur Rettung der Menschheit vereiteln. Die viel relevantere Frage betrifft deswegen, was die Situation mit uns als Wissenschaftler/innen und Menschen macht: „[…] are we at war with one another, or just in the usual normal disagreement that can be settled by appealing to some sort of Universal State?“⁹⁹⁶ Wissenschaft und Praxis sind trotz einer kollektiven Affirmation der Verhältnisse nicht zu Apathie und Untätigkeit verdammt. Die Schwierigkeit kann vielmehr Anlass sein, sich über eine neue ‚Materialitätʻ als thing-power und ihre Herausforderungen bewusst zu werden: „Thing-power materialism emphasizes the closeness, the intimacy, of humans and nonhumans. And it is here, in a heightened sense of that mutual implication, that thing-power materialism can contribute to an ecological ethos […]: thingpower materialism does not endorse the view, absorbed from the nineteenth-century roots of the science of ecology by deep ecologists, that ‚ecologicalʻ means ‚harmoniousʻ or tending toward equilibrium. To be ecological is to participate in a collectivity, but not all collectives operate as organic wholes.“⁹⁹⁷ Die Konfrontation mit unterschiedlichen Organismen bzw. Lebensformen und die Artikulation möglicher Umgangsweisen kann bei gleichzeitiger Toleranz gegenüber variierenden Überzeugungen und Einstellungen das neue Fundament für ein ‚gemeinsamesʻ Ethos sein, zusammen mit dem Ökosystem mehr

 Vgl. Pol Bargués-Pedreny, From Critique to Affirmation in International Relations, Global Society 33:1 (2019), 1– 11, 7.  David Chandler, The Death of Hope? Affirmation in the Anthropocene, Globalizations 16:5 (2019), 695– 706, 702.  Latour, War and Peace in an Age of Ecological Conflicts, a.a.O., 63.  Bennett, The Force of Things, a.a.O., 365.

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oder weniger spezifische Formen von resilience,Widerstandsfähigkeit, zu entwickeln⁹⁹⁸, was eben auch bedeutet, „[…] living with the problem rather than trying to fight it. Thereby, exploring the local and contextual possibilities revealed by the problem of flooding.“⁹⁹⁹

Die unerträgliche Kritiklosigkeit des postkritischen Seins So nachvollziehbar die Wertschätzung einer Ontologie des komplexen Werdens auf einer Mikro-Ebene unter Beteiligung humanoider und nicht-humanoider Aktanten ist, so wenig überzeugend wirkt die postkritische Wende mit ihrer Idolatrie der Affirmation für den Bereich der kritischen Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen. Das Problem beginnt schon damit, dass sich Postkritik dadurch zu legitimieren versucht, die verschiedenen Dimensionen kritischer Theorie auf ein intellektuell verkrüppeltes ‚Projekt in der Tradition Kantsʻ zu reduzieren, um diesem Projekt ein vermeintliches Scheitern oder gar die Neigung zur Verschwörung attestieren zu können. „Even the most depthless postcritical reading, so long as it commits to read, must eventually wonder whether the solution has been mistaken for the problem. Latour is right to advocate for the richest possible inquiry of our objects, but we can never be Latourian if the gathering called critique is denied this consideration.“¹⁰⁰⁰ Die behauptete Notwendigkeit einer Überwindung der ‚alten kritischen Theorieʻ suggeriert, dass objektiver Idealismus, historischer Materialismus und Poststrukturalismus im Kern dieselbe defekte Strategie verfolgten, nämlich verkürzt betrachtete soziale Phänomene auf verdinglichte Objektformen zurückzuführen. Diese Unterstellung erweist sich freilich als genauso absurd¹⁰⁰¹, wie der Vorwurf, kritische Theorie/n würden sich mit billigen Verschwörungstheorien gemein machen. „What distinguishes conspiracy theories from historically and theoretically informed accounts is precisely the refusal, by the latter, to

 Vgl. Peter Finkenbusch, On the Road to Affirmation: Facilitating Urban Resilience in the Americas, Global Society 33:1 (2019), 121– 136. Etwas differenzierter und mit einem umfassenderen Blick auf unterschiedliche Forschungsperspektiven gegenüber dem Konzept von resilience, vgl. Jonathan Joseph, Governing through Failure and Denial: The New Resilience Agenda, Millennium 44:3 (2016), 370 – 390.  Chandler, The Death of Hope?, a.a.O., 703.  Nathan Lee, Postcritique and the Form of the Question: Whose Critique Has Run Out of Steam?, Cultural Critique 108:1 (Summer 2020), 150 – 176, 171.  Vgl. dazu ebda, 152– 153: „It doesn’t take an especially suspicious turn of mind to wonder how a set of intellectual projects ranging from Immanuel Kantʼs Critique of Pure Reason (1781) to Achille Mbembeʼs Critique of Black Reason (2017) could be resisted as a consolidated project. Nor does it take much effort, as we will see, to locate within the range of authors taken to task by postcritique direct refutations of the crimes they supposedly perpetrate: dogmatism, negativity, the installation of a surface/depth binary, faith in strict causality and unilateral determination. One can, of course, find much of this being proffered in the name of critique. There is no shortage of critical labor devoted to the meticulous unveiling of the foregone conclusion.“

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be satisfied with reductive theories that account for everything. One of the main tasks of critique is to discern between the strengths of different explanations […].“¹⁰⁰² Wie bereits gezeigt, hatten schon die Ausführungen in der Hegelschen Phänomenologie und Logik das Kantʼsche Projekt der Kritik in eine prozessuale Betrachtung überführt, insofern die Denkfigur der Dialektik die erkennende Instanz und das zu erkennende Objekt in einen Prozess der gegenseitigen Bedingtheit auflöst, aus dem sich wiederum ein Akt der Spekulation ergibt, der sich zudem in einem historischen Kontext mit seinen Wahrheitsregimen abspielt¹⁰⁰³. Und bekanntlich hatte Marx diese idealistische Form der selbst‚bewusstenʻ Kritik zugunsten einer Verortung von realweltlichen Phänomenen, ihren Entstehungsbedingungen und den sich mit einer Dialektik zwischen Phänomen und Kontext beschäftigenden Analyst/innen – materialistisch – weitergeführt. Latour und seine IB-Adepten unterscheiden sich mit ihrer Vorstellung eines komplexen Werdens von matters of concern zwar begrifflich von der historisch-materialistischen Vorstellung einer Rückgebundenheit aller sozialen Phänomene an den jeweiligen Stand der Naturbeherrschung und die sich daraus ergebenden Produktivkräfte¹⁰⁰⁴. Aber diese Parameter lassen sich trotz allem nicht so einfach objektivieren und als verkürzte matters of fact betrachten. Das Denken in den Begriffen einer Prozessontologie ist damit genauso wenig neu, wie der Versuch einer post-faktischen Betrachtung von Natur und Mensch. Einerseits sind soziale, materielle und auch ökologische Seinsbereiche in eine kontinuierlich sich entfaltende Dialektik eingebunden; und daraus ergibt sich bereits ein doppeltes gegenseitiges Bedingungsverhältnis zwischen Hintergrund bzw. materieller Basis und dem sozialen Phänomen auf der Ebene realweltlicher Sachverhalte sowie zwischen theoretisch-analytischem Begriff und realweltlichen Sachverhalten auf der Ebene der ‚Theorieʻ. In diesem Zusammenhang ist dann auch nicht mehr zu erkennen, wie ‚neuʻ der postkritische Materialismus am Ende in epistemologischer Hinsicht eigentlich ist. Nicht zuletzt Marx problematisierte bereits jene materielle Bedingtheit von Prozessen der gesellschaftlichen Reproduktion, die von Menschen konkret erfahren werden können: „As participants in the technically elaborate ecology of our age, humans have a historically grounded potential to construct a richly material space for intersubjective becoming: a space in which they can recognize themselves in their open

 Joel Wainwright, Politics of Nature: A Review of Three Recent Works by Bruno Latour, Capitalism Nature Socialism 16:1 (2005), 115 – 122, 121.  Hier wäre überdies anzumerken, dass der vermeintlich empirische Fokus auf alle möglichen Mikro-Praktiken einerseits zeitgenössische Wahrheitsregime als Möglichkeitsbedingungen für Erkenntnis stillschweigend als unproblematisch voraussetzt; andererseits wirkt der Drang, die Materialität der Dingwelt als ‚bedeutungsschwangerʻ anzusehen, um die eigene (kognitive und/oder ästhetische) Affiziertheit zu thematisieren, wie ein Schritt zurück in den subjektiven Idealismus eines ‚autistischenʻ britischen Empirismus in der Tradition von Locke, Berkeley und Hume.Vgl. dazu auch Stekeler-Weithofer, Kritik der reinen Theorie, a.a.O., 31– 35.  Vgl. Horkheimer, Über den Zweifel, a.a.O., 128.

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engagements with a complex world of human and nonhuman others. But in more and more situations [!], they find the material world already appropriated as capital.“¹⁰⁰⁵ Zudem beschrieb Marx eingehend und kritisch die zunehmende Entfremdung der Produktivkräfte von ihren natürlichen Lebensgrundlagen als gemeinsame ‚Dinge von Belangʻ, weil sie zum Zweck der Produktion auf bloße Mittel und Ressourcen reduziert werden. „Die marxsche Vorstellung vom metabolischen Bruch bildete das Kernelement dieser ökologischen Kritik. Der menschliche Arbeitsprozess wird im Kapital definiert als ‚allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebensʻ. Daraus folgt, dass der Bruch in diesem Stoffwechsel nicht weniger bedeutet, als die Untergrabung dieser ‚ewigen Naturbedingung des menschlichen Lebensʻ.“¹⁰⁰⁶ Mit dieser Feststellung der natürlichen Ressourcen als allgemeinen ‚Dingen von Belangʻ erkannte Marx auch dezidiert an, dass menschliche und nicht-menschliche Instanzen in einem komplexen Prozess zusammenwirken, und dass sich daraus realweltliche Effekte ergeben, womit die Ontologie des postkritischen Materialismus auch in dieser Hinsicht nicht mehr als besonders originell erscheint. Kurz, „[…] postcritique habitually repudiates a nonexistent object.“¹⁰⁰⁷ Worin sich alte und Postkritik allerdings unterscheiden, ist ihr Fokus auf das Politische in der Gesellschaft. Für die alte Kritik entsprang aus der Orientierung am Menschen der ethische Auftrag, sich mit einer gewissen Solidarität für menschliches Zusammenleben und den Schutz der menschlichen Lebensbedingungen zu beschäftigen; und zwar umso mehr, je mehr diese Bedingungen durch Krieg und Zerstörung bedroht werden. ‚Gesellschaftʻ und ‚Naturʻ sind dabei begrifflich voneinander unterschieden. Das Politische definiert sich durch Prinzipien, die an einem vernünftigen Wollen des Menschen als Gattungssubjekt orientiert sind. Das Wollen richtet sich auf friedliche Formen der gesellschaftlichen Reproduktion, die sich aber aufgrund von identifizierbaren Praktiken und daraus entstehenden Institutionen bzw. Strukturen nicht entfalten können. Aus einer postkritischen Perspektive geht es nicht mehr um den abstrahierten Menschen als Gattungssubjekt. ‚Gesellschaftʻ und ‚Naturʻ sind nicht begrifflich voneinander unterschieden¹⁰⁰⁸. Aktanten tragen zur Entwicklung von Vorstellungen während eines komplexen Prozesses bei, in dem sich matters of concern als Streitpunkte herausbilden, wobei es angeblich aber anmaßend wäre, den Beteiligten aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive verallgemeinerbare Motive zu unterstellen. Ziel der postkritischen Untersuchung scheint es zu sein, konkrete Situationen als Bestandteile realweltlicher Prozesse des gathering, assembling oder auch caring zu begreifen. Vor diesem gedanklichen Hintergrund geht es nicht darum, aus einer ‚modernenʻ und allenthalben illusorischen Perspektive des menschlichen Gattungssubjekts

 Hylton White, Materiality, Form, and Context: Marx contra Latour, Victorian Studies 55:4, Special Issue: The Ends of History (2013), 667– 682, 679.  John Bellamy Foster, Die ökologische Revolution. Frieden zwischen Mensch und Natur (Hamburg: Laika, 2014), 176. (Hgb. im Original)  Lee, Postcritique and the Form of the Question, a.a.O., 152.  Vgl. Latour, Reassembling the Social, a.a.O., 262.

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Strategien zu konzipieren, die der menschlichen Situation angemessen sind; es geht stattdessen darum, dass „[…] we have to establish connections with the others that cannot possibly be held in the nature/society collectors. Or, to use another ambiguous term, we just might have to engage in cosmopolitics.“¹⁰⁰⁹ Nicht unähnlich dem diskursethischen credo, über die Infragestellung tradierter Interaktionsformen inklusivere Kommunikationsvoraussetzungen zu schaffen, um so zu gemeinsamen Sichtweisen betreffend die matters of concern zu gelangen, orientiert sich das Politische im Genre der Postkritik am Ende lediglich auf die Herstellung neuer Kollektive, um diesbezüglich aber unmissverständlich festzustellen, dass sich die eine Vision, sei es ‚Friedenʻ oder ‚Überlebenʻ, auf die sich alle kollektiven Bewegungen einigen können, schwerlich existiert¹⁰¹⁰. Für Postkritiker/innen stellt bereits die Beschreibung von Netzwerken, assemblages, und ihren möglichen Kompositionen eine Verbesserung gegenüber der alten Kritik dar, insofern die komplexe Wirklichkeit einerseits in einer unvoreingenommenen Art und Weise auf ihr Gewordensein befragt¹⁰¹¹ und andererseits mit Blick auf mögliche ‚Dinge von Belangʻ für neue überraschende Einsichten in bisher unbeachtete Zusammenhänge aufbereitet werden kann¹⁰¹². Allerdings ist damit nicht geklärt, ob und inwiefern diese Art des Verstehens realweltlicher Zusammenhänge mit Blick auf die internationalen Beziehungen tatsächlich in irgendeiner Hinsicht ein Fortschritt ist. Stattdessen könnte man Latour und noch viel stärker den postkritischen Vertreter/innen in IB den Vorwurf machen, dass ihre Beschäftigung mit der Welt auf der Basis eines Vokabulars stattfindet, dessen tragende Begriffe nur noch einen internen Bezug aufweisen und jede Beschreibung von Zusammenhängen für Außenstehende völlig unverständlich werden lassen¹⁰¹³. Zudem wirkt es abermals wie eine Verhöhnung der menschlichen und natürlichen ‚Opferʻ, wenn sich Postkritiker/innen lediglich noch mit der Frage beschäftigen, welche ‚Dinge von Belangʻ in existierenden Netzwerken für wen auch immer entstanden sind und welche Denkanstöße bzw. welches ästhetische Empfinden sich für die nächste Generation weltabgewandter, selbstbezüglicher und fatalistischer Wissenschaftler/innen damit verbinden mag. Die Hypostasierung einer Affirmation des Status Quo als Errungenschaft einer neuen Form von Kritik ist in intellektueller Hinsicht fragwürdig, weil „[…] postcritique […] doesnʼt know what comes after critique because it never thoroughly asks: ‚what is

 Latour, Reassembling the Social, a.a.O., 262.  Das scheint zumimdest eine zentrale Aussage von Bruno Latour, On a Possible Triangulation of Some Present Political Positions, Critical inquiry 44:2 (2018), 213 – 226, 218 zu sein. Vgl. dazu auch die Aussagen Latours in der Diskussion mit Hans Joachim Schellnhuber anlässlich der Anthropocene Lecture von Bruno Latour am 4. Mai 2018, https://www.youtube.com/watch?v=Z-n_44M2nLw (zuletzt aufgerufen am 20.08.21)  Silke van Dyk, Krise der Faktizität? Über Wahrheit und Lüge in der Politik und die Aufgabe der Kritik, Prokla 47:3 (2017), 347– 367, 363.  Vgl. Paulo Ravecca & Elizabeth Dauphinee, Narrative and the Possibilities for Scholarship, International Political Sociology 12:2 (2018), 125 – 138, 135.  Vgl. Wainwright, Politics of Nature, a.a.O., 119.

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critique?ʻ.“¹⁰¹⁴ Die emphatische Affirmation des Status Quo wird zudem aus einer weltimmanenten Haltung fragwürdig, insofern sie sich mit dem Hinweis auf die Irrelevanz und Unbotmäßigkeit einer Analysestrategie rechtfertigt, die sich bei ihrer Beschäftigung mit den realweltlichen Verhältnissen an einem vernünftigen menschlichen Wollen orientiert. In dem Maß, wie Postkritiker/innen als Ersatz dafür lediglich eine selbstbezügliche Betrachtung menschlicher Gesellschaft/en und der sie umgebenden Dingwelten vorschlagen, tilgen sie letztlich den letzten Rest einer der Weltgesellschaft zugewandten Sozialwissenschaft. „Postcritique aims to do away with critique and its social and political ‚baggageʻ. Rather than educate students in what is needed for them to be a critical citizenry that espouses democratic values, it reverses the educational process by focusing on their own personal likes and dislikes. If the aim of critique is to learn to think, then the aim of postcritique is to learn how to unthink.“¹⁰¹⁵ Die Nutznießer der realiter existierenden Deprivationen und Ungleichheiten könnten sich keine effektivere Bagatellisierung der organischen Krise und ihrer Reproduktionsmechanismen wünschen, als den selbstgefälligen Quietismus postmaterialistischer Postkritik.

 Lee, Postcritique and the Form of the Question, a.a.O., 152– 153.  Di Leo, What is Critique without Pessimism?, a.a.O., 22. (Hbg. im Original) Vgl. in einem ganz ähnlichen Sinn, Mills, What has become of Critique?, a.a.O., 302: „ANT […] is ill-suited both to the development of scientific knowledge about social structures, and to the interrogation, empirical or normative, of the centres of contemporary social power. As a philosophy and research programme, ANT is very much in keeping with the contemporary zeitgeist of precarious labour and information-technology driven capital accumulation, and equally is of limited application when it comes to addressing the concomitant challenges of democratic crisis, ‚post-truth politicsʻ, rising inequalities and environmental catastrophe.“

Nachwort Die Eingangsfrage zu diesem Buch richtet/e sich darauf, wie ‚man‘ sich die politische Praxis von Elite- und Regierungsnetzwerken aus einer interessierten und gleichermaßen besorgten ‚Beobachterperspektive‘ in Deutschland während des frühen 21. Jahrhunderts vorstellen soll. Das dazugehörige Problemverständnis rührte aus der Feststellung, dass typische und folgenreiche politische Praktiken in aller Regel übermäßig stark vereinfacht und ohne Berücksichtigung des relevanten raumzeitlichen Kontexts vergegenständlicht werden, was nicht nur im Bereich der Wissenschaft/en, sondern auch im Bereich der gesellschaftlichen Öffentlichkeit/en ein nachgerade karikaturhaftes Wirklichkeitsverständnis reproduziert. In letzter Konsequenz schwindet über die Verfestigung von entsprechenden Klischees die Fähigkeit der modernen Bürgergesellschaft/ en, sich über eine angemessene Form der menschlichen Selbstorganisation überhaupt ‚bewusst‘ zu werden. Kritisches Nachdenken über die (internationale) Politik wurde als ein möglicher Weg aus Ignoranz und Weltflucht postuliert. Ausgewählte ontologische, erkenntnistheoretische und methodologische Prämissen wurden als mögliche Anknüpfungspunkte für kritisches Denken skizziert und mit Verweis auf mehr oder weniger gut gelungene Versuche ihrer wissenschaftlichen Ausarbeitung dargestellt. Abschließend wäre dazu festzustellen, dass kritisches Nachdenken über die internationalen Beziehungen eine intellektuelle Herausforderung bleibt, die weder in der aktuellen Medienöffentlichkeit noch im Bereich der Wissenschaft/en eine besonders hohe Konjunktur geniesst. Die gezielte Förderung amerikanischer Theorien, mitsamt dem dazugehörigen Wissenschaftsverständnis, durch interessierte Kräfte außerhalb des Wissenschaftssystems bleibt eines der größten Hindernisse für eine stärkere Verbreitung kritischen Nachdenkens. Der eingeübte Kult um das amerikanisierte ‚Bestentum‘ liefert dafür illustrative Beispiele. So haben die Beiträge zu International Organization (IO), der angeblich ‚bestenʻ Zeitschrift in den akademischen IB¹⁰¹⁶, von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen, seit der Jahrtausendwende nicht den Eindruck vermittelt, dass die internationalen Beziehungen durch besonders dramatische Entwicklungen/Ereignisse geprägt gewesen wären. Phänomene wie ‚Konfliktʻ und ‚Kriegʻ sowie die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels können in der Zukunft selbstverständlich häufiger thematisiert werden. In den Heften aus dem Jahr 2019 fanden sich schon ein paar Beiträge zu Konflikt/Krieg. Freilich wurden solche Phänomene in IO eher als Phänomene interessant, die der Vergangenheit angehören¹⁰¹⁷ und/oder nicht-militärischer Art bzw. nicht  Vgl. Thomas Risse & Wiebke Wemheuer-Vogelaar, IB in Deutschland: jung, internationalisiert und eklektisch: Ergebnisse der TRIP-Umfrage 2014, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 23:2 (2016), 144– 172, 162.  Vgl. Didac Queralt, War, International Finance, and Fiscal Capacity in the Long Run, International Organization 73:4 (2019), 713 – 53; vgl. Lachlan McNamee & Anna Zhang, Demographic Engineering and International Conflict: Evidence from China and the Former USSR, International Organization 73:2 (2019), 291– 327. https://doi.org/10.1515/9783110471250-004

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systembedrohlich wären¹⁰¹⁸ und/oder in Frieden mündeten¹⁰¹⁹ und/oder sich in der Peripherie des Systems abspielten¹⁰²⁰. Weder der jahrelange Krieg amerikanischer und britischer Truppen im Irak, noch der zwanzig Jahre lang währende Krieg westlicher Streitkräfte gegen die Milizen der Taliban sowie die Zivilbevölkerung in Afghanistan sind jemals als solche zu ‚Gegenständenʻ in der ‚bestenʻ Zeitschrift der IB gemacht worden. Geopolitisch motivierte Stellvertreterkriege, wie z. B. derjenige in Syrien, der seit 2011 ca. eine halbe Million Tote gefordert hat, oder der im Jemen, der mit seiner Vorgeschichte schon seit 2004 währt und knapp 400.000 Menschen das Leben gekostet hat, oder auch der in der Ukraine, dessen Beginn durchaus auf das Jahr 2006 datiert werden kann¹⁰²¹, dessen fortdauernde Eskalation seit 2014 offensichtlich nicht allein Russland angelastet werden kann, sondern der durch die Aufrüstung und Aufwiegelung russophober Kräfte durch die US-Regierung und die von ihr unterhaltenen Elite- und Einflussnetzwerke gezielt vorbereitet wurde¹⁰²², und der aufgrund seiner emotionalen Aufladung und geopolitischen Bedeutung einen veritablen Nuklearkrieg auslösen

 Vgl. Eddy S.F. Yeung & Kai Quek, Relative Gains in the Shadow of a Trade War, International Organization 76:3 (2022), 741– 765; vgl. Henrikas Bartusevičius & Kristian Skrede Gleditsch, A Two-Stage Approach to Civil Conflict: Contested Incompatibilities and Armed Violence, International Organization 73:1 (2019), 225 – 248.  Vgl. Todd C. Lehmann & Yuri M. Zhukov, Until the Bitter End? The Diffusion of Surrender Across Battles, International Organization 73:1 (2019), 133 – 169.  Vgl. Gautam Nair & Nicholas Sambanis,Violence Exposure and Ethnic Identification: Evidence from Kashmir, International Organization 73:2 (2019), 329 – 363; vgl. Joseph OʼMahoney, Making the Real: Rhetorical Adduction and the Bangladesh Liberation War, International Organization 71:2 (2017), 317– 348. Erwähnenswert ist noch, dass manche Beiträge sich auch gänzlich ohne irgendeine weitere dimensionale Spezifizierung im Sinne von Geschichte, Geographie, Verlaufslogik usw. mit Konflikt/Krieg beschäftigen und ausschließlich an der formalen Beziehung zwischen den relevanten Variablen interessiert sind. Vgl. hierzu Nadav G. Shelef, Unequal Ground: Homelands and Conflict, International Organization 70:1 (2016), 33 – 63.  Vgl. Stephen F. Cohen, The New American Cold War, The Nation 283:2 (2006), 9 – 17, 17: „Extending NATO to Russiaʼs doorsteps has already brought relations near the breaking point (without actually benefiting any nationʼs security); absorbing Ukraine, which Moscow regards as essential to its Slavic identity and its military defense, may be the point of no return [sic!], as even pro-US Russians anxiously warn. Nor would it be democratic, since nearly two-thirds of Ukrainians are opposed. The explosive possibilities were adumbrated in late May and early June [2006] when local citizens in ethnic Russian Crimea blockaded a port and roads where a US naval ship and contingent of Marines suddenly appeared, provoking resolutions declaring the region anti-NATO territoryʻ and threats of ‚a new Vietnamʻ.“ (Alle Hbgen hinzugefügt).  Vgl. Wolfgang F. Haug, Das Blut der anderen: Editorial, Das Argument 338:3 (2022), 343 – 368, 358. Vgl. Sachs, Die Ukraine ist die neueste Katastrophe amerikanischer Neocons, a.a.O.Vgl. Katrina van den Heuvel & Stephen F. Cohen, Cold War Against Russia – Without Debate, The Nation 298:20 (2014), 3 – 4. Vgl. auch den Redaktionsbeitrag, Einsatz gegen Separatisten: Ukrainische Armee bekommt offenbar Unterstützung von US-Söldnern, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-krise-400-us-soeldner-von-academi-kaempfen-gegen-separatisten-a-968745.html (zuletzt besucht am 30.11.22).

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könnte, bekommen mitunter eine gewisse Aufmerksamkeit¹⁰²³. Aber wenn sich beiläufige Erwähnungen in IO auf diese Kriege bezogen haben, dann eher deswegen, weil sie trotz ihrer Eigenschaft als Phänomene in der Peripherie des internationalen Systems die konstitutiven Aspekte der ‚liberalen internationalen Ordnungʻ, also ‚Handelʻ, ‚Kooperationʻ, ‚Souveränitätʻ, oder ‚Normenʻ berühren, ohne jedoch die etablierte Ordnung als solche infrage zu stellen. Mit einer starken Fokussierung auf zwischenstaatliche ‚Kooperationʻ, ‚Friedenʻ und ‚Fortschrittʻ als Manifestationen einer ‚liberalen internationalen Ordnungʻ sowie der gänzlichen Absage an größere Dramen innerhalb dieser Ordnung demonstrieren die meisten Beiträge zu IO eine auffällige Unaufgeregtheit. Die meisten Texte sind hervorragend geeignet, dem interessierten Leserkreis eine gewisse Zufriedenheit mit der von den Regierungen der westlichen Staaten getragenen Organisation der internationalen Beziehungen zu vermitteln. Die Beiträge zu IO informieren außerdem nicht nur über den sich inkrementell verbessernden Zustand der internationalen Beziehungen, sie tun das nach eigenem Dafürhalten mit dem größtmöglichen Maß an scientific rigor, insofern sie die etablierten Standards ‚guten wissenschaftlichen Arbeitensʻ mehr als gekonnt für ihre Arbeit nutzen. Möglicherweise erkennen viele Leser/innen genau in dieser Mischung von Unaufgeregtheit, Optimismus, Neutralität und Objektivität eine besonders hohe wissenschaftliche Qualität der Beiträge. Möglicherweise ist das auch der Grund für die ungebrochene Popularität der Zeitschrift unter optimistischen und fortschrittsgläubigen Adepten des neo/liberalen Internationalismus, weswegen nachvollziehbar wird, warum es für dieses Klientel „[…] natürlich phantastisch [ist], in International Organization zu publizieren.“¹⁰²⁴ Nachdem mittlerweile nicht mehr lediglich einzelnen Wissenschaftler/innen und/ oder bestimmten Forschungseinrichtungen an ausgewählten US-amerikanischen Universitäten eine ‚führendeʻ Rolle im Bereich der akademischen IB nachgesagt wird¹⁰²⁵, sondern weil die Art der theoriegeleiteten Wirklichkeitskonstruktion im Mainstream

 Die Analyse von Alisha C. Holland & Margaret E. Peters, Explaining Migration Timing: Political Information and Opportunities, International Organization 74:3 (2020), 560 – 683, beschäftigte sich zwar am Rande auch mit dem Syrienkonflikt, interessierte sich aber viel mehr für das timing und die Umstände, abstrakt gesprochen, von Migration. Von den jüngeren Beiträgen, die sich mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunktsetzungen auf Dimensionen des Ukraine-Konflikts bzw. –Kriegs bezogen haben, vgl. Suparna Chaudhry, The Assault on Civil Society: Explaining State Crackdown on NGOs, International Organization 76:3 (2022), 549 – 590; vgl. Henry Farrell & Abraham L. Newman, The Janus Face of the Liberal International Information Order: When Global Institutions Are Self-Undermining, International Organization 75:2 (2021), 333 – 358; vgl. Zoltán I. Búzás, Racism and Antiracism in the Liberal International Order, International Organization 75:2 (2021), 440 – 463.  Mathias Albert & Michael Zürn, Über doppelte Identitäten: Ein Plädoyer für das Publizieren auch auf Deutsch, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 20:2 (2013), 141– 154.  Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass solche Einstufungen aufgehört haben – das Gegenteil ist der Fall.Vgl. Daniel Maliniak, Susan Peterson, Ryan Powers & Michael J. Tierney, U.S. scholars rank the top 25 IR programs for undergraduates, masterʼs, and Ph.D.s, https://foreignpolicy.com/2015/02/03/top-twentyfive-schools-international-relations/ (zuletzt besucht am 03.01. 2022).

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der US-amerikanischen Politikwissenschaft/IB per se als Inbegriff höchster akademischer Weihen gilt, die es zumal in Deutschland mit mehr oder weniger offen zur Schau getragener Unterwürfigkeit nachzuahmen gilt, dominiert auch hierzulande eine „[…] aspiration for descriptive and causal understanding […]“.¹⁰²⁶ Komplexe historische Sachverhalte der internationalen Beziehungen werden demnach über eine disziplinierte Verwendung des ‚internationalʻ üblichen Vokabulars und der darin eingebetteten Denkfiguren¹⁰²⁷ in ‚empirischeʻ Modelle übersetzt, in denen ex hypothesi – und wider jegliches bessere Wissen¹⁰²⁸ – ‚beobachtetʻ werden kann, wie sich rationale Akteure unter dem Einfluss der sie umgebenden Einflussfaktoren in einer typischen Weise verhalten. Verzichtet wird bei solchen Analysen gern auf jedwede Beschäftigung mit konkreten Praktiken, wenn diese irgendwie für das Leid und den Tod von Menschen verantwortlich sind. „Die begrifflichen Abstraktionen ebenso wie die Metaphern und Bilder, in denen Weltpolitik erklärt und vermittelt wird, treffen somit auf einen fruchtbaren Boden. Auf diese Weise wird eine virtuelle Schein-Welt gegenüber der Wirklichkeit etabliert, die nun ihrerseits als ‚zweite Wirklichkeitʻ ihrer eigenen Logik gehorcht und sich ihren eigenen Gesetzen unterwirft.“¹⁰²⁹ Kritische Erkenntnisinteressen gegenüber realweltlichen Problemlagen vermögen die Suche nach ursächlichen Abläufen kaum zu stören, denn Betrachtungsweisen mit vorgängigen Verpflichtungen auf die Theorieperspektive des neoliberalen „Institutionalismus als mid-range theory, die liberale global-governance-Forschung und der starke Fokus auf die relevante, aber nicht zwingend dominante Rolle der Ideen und Normen in der sozialen Konstruktion globaler Ordnung dominieren die [deutsche] IB.“¹⁰³⁰

 King, Keohane & Verba, Designing Social Inquiry, a.a.O., 7.  Vgl. etwa die Kontroverse über Anwendungsbedingungen von (kausalen) Theorien und die besondere Berücksichtigung von Akteurseigenschaften wie ‚Lernenʻ und ‚Rationalitätʻ zwischen Johannes Marx, Is There a Hard Core of IR? Eine wissenschaftstheoretische Betrachtung der Theorien der Internationalen Beziehungen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 17:1 (2010), 41– 74 und Christian Grobe, Die Lücke, die der empiristische rational choice-Ansatz lässt: Eine Replik auf Johannes Marx, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 18:1 (2011), 109 – 124, in der es den beiden Diskutanden nicht etwa grundsätzlich um die heuristische Brauchbarkeit von abstrakt definierten Akteurseigenschaften ging, sondern um ihre Verbesserung z. B. durch Eröffnung einer „[…] neue[n] Perspektive auf die Diskussion zwischen Rationalisten und Konstruktivisten.“ Grobe, ebda, 111.  Vgl. dazu Bull, International Theory, a.a.O., 369: „[T]he unmanageable number of variables of which any generalization about state behavior must take account; the resistance of the material to controlled experiment; the quality it has of changing before our eyes and slipping between our fingers even as we try to categorize it; the fact that the theories we produce and the affairs that are theorized about are related not only as subject and object but also as cause and effect, thus ensuring that even our most innocent ideas contribute to their own verification or falsification.“  Ekkehart Krippendorff, Kritik der Außenpolitik (Frankfurt: Suhrkamp, 2000), 171.  Kai Koddenbrock, Strukturwandel der Globalisierung? Brexit, Trump(ismus), Strategien Chinas und die politische Ökonomie der internationalen Beziehungen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 25:2 (2018), 126 – 143, 130.

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In der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB), der angeblich ‚bestenʻ deutschsprachigen Zeitschrift für Politikwissenschaft überhaupt¹⁰³¹, bestimmt sich durch die entsprechenden Projektionsnormen und Anschauungsformen dieser Theorieperspektiven auch der charakteristische Vorstellungsraum. „Die Welt globaler Politik, die in der ZIB gezeichnet wird, besteht mit anderen Worten primär aus IOs und NGOs. Sie ist eine stark institutionalisierte Welt, in der Regeln und Verfahren sowie Lobbyarbeit eine zentrale Rolle spielen.“¹⁰³² Etwas zugespitzt könnte man auch sagen: den Spitzenplatz in der Aufmerksamkeitsskala der deutschen IB-Forschung nehmen internationale Institutionen als ordnungsstiftende Elemente ein, womit sowohl formale Organisationen als auch vergleichsweise fluide Organisationsnetzwerke und Regime gemeint sein können. Die Manager des deutschen IB-Diskurses suchen damit ein Profil, das demjenigen solcher Zeitschriften wie IO und Global Governance mitsamt der darin kultivierten ‚Weltbildproduktionʻ ähnelt¹⁰³³ – und das deswegen auch überhaupt keine Antennen für die kritische Analyse realweltlicher Zusammenhänge besitzt. Typische Fragen richten sich in den Beiträgen zur ZIB auf eine ganz bestimmte Art der Initiativen und Auswirkungen internationaler Organisationen¹⁰³⁴ einerseits; und die Möglichkeiten ihrer Kontrolle durch (nicht‐)staatliche Akteure auf multilateraler bzw.

 Ich beziehe mich hier auf die englischsprachige Selbstbeschreibung der Zeitschrift: „According to a poll amongst German political scientists across various sub-fields conducted in 2009 it is also considered the best German-language journal in Political Science at large.“ Vgl. https://www-nomos-elibraryde.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.5771/0946 – 7165 – 2020 – 1/zib-zeitschrift-fuer-internationale-beziehungen-jahrgang-27– 2020-heft-1. (zuletzt aufgerufen am 15.11.21)  Stetter & Zangl, Qualität jenseits des SSCI, a.a.O., 109.  Solcherlei ‚Weltbilderʻ sind keineswegs nur vereinfachte Spiegelungen der Realität, die als solche mit den faktischen Geschehnissen der Welt korrespondieren. „Imaginaries, therefore, are not elite ideas coalescing with material realities in some contingent and unspecified way, but rather the lived meaning that emerges as material habits and practices are organized and reorganized within particular structured, material apparatuses.“ Kamola, US Universities and the Production of the Global Imaginary, a.a.O., 522.  Vgl. Matthias Ecker-Ehrhardt, Wie und warum kommunizieren internationale Organisationen? Zum problematischen Verhältnis von Politisierung und Öffentlichkeitsarbeit, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 27:1 (2020), 37– 68, der dort auf den Einfluss internationaler Organisationen auf öffentliche Debatten hinwies (39): „Die Kommunikation von IOs ist als essenzieller Bestandteil einer exekutiven Vermachtung öffentlicher Diskurse zu begreifen, ohne die weder Politisierungs- noch Legitimationsdynamiken in der global governance adäquat verstanden werden können.“ (Hbg. im Original); vgl. Gisela Hirschmann, To be or not to be? Lebensdynamiken internationaler Organisationen im Spannungsfeld von internationaler Autorität und nationalstaatlicher Souveränität, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 27:1 (2020), 69 – 93, die sich mit Reaktionen von int. Organisationen auf die Einschränkung ihrer Autorität beschäftigte; vgl. Christian Fehlker, Demosthenes Ioannou & Arne Niemann, Die Errichtung einer Europäischen Finanzmarktunion: Ein Fall von funktionalem spillover, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 20:1 (2013), 105 – 124; vgl. Tobias Böhmelt & Ulrich H. Pilster, Zur Problematik kollektiven Handelns: Eine quantitative Studie internationaler Umweltregime, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 18:2 (2011), 63 – 90.

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nationaler Ebene andererseits¹⁰³⁵. Daneben interessieren sich Forscher/innen auch für Aspekte, die sich eher aus organisationstheoretischen Betrachtungen aufdrängen, wie z. B. die Interaktion zwischen Organisationen und der ‚Weltgesellschaftʻ¹⁰³⁶; innere Dynamiken bzw. die Kultur internationaler Organisationen¹⁰³⁷; und wie Organisationen bzw. Bürokratien lernen¹⁰³⁸. Kritische Einlassungen auf die fehlende Lernfähigkeit von Organisationen und ihre ‚innere Entpolitisierungʻ wären demgegenüber mindestens genauso wichtig, sind aber bisher extrem selten gewesen¹⁰³⁹. In dem Maß, wie im internationalen, sprich: amerikanisierten Diskussionskontext ein stärkeres Bewusstsein für methodische Fragen z. B. betreffend die Datenerhebung im Rahmen der Organisationsforschung angemahnt wird, werden internationale Institutionen/Organisationen in der ZIB selbstverständlich auch in diesem Zusammenhang diskutiert¹⁰⁴⁰. Aus der Perspektive eines gesunden Menschenverstands, in dem vor allem die Sorge um die Existenzbedrohung der zivilisierten Menschheit wächst, wirken solcherlei thematische Orientierungen, mitsamt den dazugehörigen Projektionsnormen und Denkfiguren, weniger wie outstanding scholarship sondern eher wie notorious escapism und  Besonders aktuell ist u. a. die Debatte über die sogenannte ‚Politisierungʻ internationaler Organisationen durch nicht-staatliche Akteure. Vgl. Christian Kreuder-Sonnen & Bernhard Zangl, Zwischen Hoffen und Bangen: Zum Verhältnis von Autorität, Politisierung und Demokratisierung in internationalen Organisationen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 27:1 (2020), 5 – 36; vgl. Maximilian Terhalle, Kritische Anmerkungen zur „Politisierung internationaler Institutionen“, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 20:2 (2013), 119 – 139. Außerhalb dieser Debatte beschäftigen sich Autor/innen auch mit dem Einfluss von staatlichen Akteuren auf internationale Organisationen. Vgl. etwa Diana Panke, Aktivisten und Mitläufer: Die Einflussaktivitäten von Mitgliedsstaaten in Verhandlungen in der Europäischen Union, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 18:2 (2011), 35 – 62.  Vgl. Martin Koch, Weltorganisationen: Ein (Re‐)Konzeptualisierungsvorschlag für internationale Organisationen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 21:1 (2014), 5 – 38.  Vgl. Holger Niemann, Praktiken der Rechtfertigung im UN-Sicherheitsrat. Von der Konstitution zur Koordination normativer Ordnungen durch das Veto, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 25:1 (2018), 36 – 64, der sich für die Logiken typischer Rechtfertigungsstrategien im UN-Sicherheitsrat interessierte; vgl. Sophie Eisentraut, Autokratien, Demokratien und die Legitimität internationaler Organisationen: Eine vergleichende Inhaltsanalyse staatlicher Legitimationsanforderungen an die UN-Generalversammlung, Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 20:1 (2013), 105 – 124, die sich mit der Artikulation von Legitimationserwartungen der UN-Mitgliedstaaten gegenüber der Generalversammlung beschäftigte.  Vgl. Stefanie Dreiack, Lernen zwischen Individuum und Organisation: Die Struktur Internationaler Organisationen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 23:1 (2016), 105 – 134; vgl. Thorsten Benner, Stephan Mergenthaler & Philipp Rotmann, Internationale Bürokratien und Organisationslernen: Konturen einer Forschungsagenda, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 16:2 (2009), 203 – 236.  Vgl. Ben Christian, Dürfen sie nicht oder wollen sie nicht? ‚Kritik von innenʻ in staatlichen Entwicklungsorganisationen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 27:2 (2020), 65 – 93.  Vgl. Sebastian Knecht & Maria J. Debre, Die „digitale IO“: Chancen und Risiken von Online-Daten für die Forschung zu Internationalen Organisationen, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 25:1 (2018), 175 – 188 und im selben Heft Marlen Niederberger & Stefanie Dreiack, Wissensarten und ihr politischer Gehalt bei Expert_inneninterviews in Internationalen Organisationen, 189 – 198 sowie Angela Heucher, Andrea Liese & Leon Schettler, Methodischer Anspruch trifft organisationale Wirklichkeit: Interviewführung in Internationalen Organisationen, 199 – 210.

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disciplinary solipsism. In einem gewissen Sinn manifestiert sich die geistige Krise im akademischen Nachdenken über die internationalen Beziehungen als ein Phänotyp jener ‚Krise des Gewissensʻ, auf die u. a. Albert Camus nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen hatte¹⁰⁴¹. Denn im kleineren Kontext der akademischen IB lassen sich eben jene Fehlentwicklungen erkennen, die Camus für die moderne/n westlichen Gesellschaft/en insgesamt als symptomatische Defekte beschrieben hatte: Tod, Folter und sonstiges menschliches Leid werden bestenfalls mit einer distanzierten (wissenschaftlichen) Neugier (nach originellen Variablenbeziehungen) thematisiert. Wissenschaftliche Analysen dienen im IB-Mainstream selten dem Ziel einer Aufklärung über faktische Zusammenhänge, sondern gehorchen eher wissenschaftsimmanenten Geboten der ‚Sparsamkeitʻ im Umgang mit theoretischen Konzepten, der ‚Effizienzʻ im Umgang mit relevanten Informationen und der Fokussierung auf notwendige Bedingungen. Die prominentesten Fachvertreter/innen der akademischen IB agieren nicht als Angehörige einer in ihrer Existenz bedrohten Weltgesellschaft, sondern gerieren sich als menschliche Verkörperungen weltanschaulich fundierter Theorieperspektiven, die sich mit realweltlichen Geschehnissen primär unter dem Einfluss von Erwartungen einer zentral und hierarchisch verwalteten Forschungsgemeinschaft beschäftigen. Viele der ‚bestenʻ Wissenschaftler/innen suchen darüber hinaus die Nähe zur politischen Praxis, um mit einem Wissen um theoretische Notwendigkeiten auf neoimperialistische Strategiediskussionen einzuwirken. Zudem fällt auf, dass sich Nachwuchswissenschaftler/ innen aus Angst vor Nachteilen im herrschenden Verdrängungswettbewerb um rar gesäte Karrierechancen nolens volens dem Diktat einer kausalanalytisch konzipierten Erforschung politisch korrekter und damit meistens auch völlig belangloser Sachverhalte beugen (müssen). Als Teilnehmer an der französischen Résistance formulierte Camus seine Gedanken zur ‚Krise der Menschheitʻ noch im Geist des Widerstands und der Revolte gegen den deutschen Faschismus. Eine solche Haltung muss all denen als völlig deplatzierte Geste erscheinen, die bei ihrer Beschäftigung mit der Welt die Illusionen einer ‚liberalen und regelbasierten internationalen Ordnungʻ sowie einem ‚demokratischen Friedenʻ mit der politischen Realität verwechseln. Angesichts der militärtechnologisch und industriell bedingten Existenzbedrohung in Zeiten eines sich rapide verschärfenden Klimawandels mag es aus der Perspektive des gesunden Menschenverstands jedoch sinnvoll sein, nach wirksamen Formen des intellektuellen Widerstands gegen die Verbreitung von Indifferenz, Professionalisierung, Spezialisierung und Disziplinierung im Nachdenken über die Zukunft der Menschheit zu suchen. Dabei ist es überhaupt nicht notwendig, von der bürgerlichen Ordnungsillusion in die kritische Aufklärungsillusion zu verfallen. Der kritische Diskurs über die Organisation der Weltgesellschaft/en wird es angesichts des weit verbreiteten Konformismus in Wissenschaft und Gesellschaft ohne fremde Hilfe schwerlich vermögen, ein kollektives Umdenken zu bewirken.

 Vgl. Albert Camus, Die Krise des Menschen, Vortrag vom 28.03.1946 in New York, http://archiv.faust kultur.de/1481– 0-Camus-Die-Krise-des-Menschen.html#.Yb5 mm5KZM2w (zuletzt besucht am 15.12.22)

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Weltanschauliche Voreingenommenheit, gepaart mit Ignoranz und Zynismus, wird weiterhin einen beträchtlichen Teil der gelehrten Diskussionen unter den ‚besten‘ amerikanisierten Fachvertreter/innen in den ‚besten‘ Zeitschriften durchwirken. Unabhängig davon besteht die ethische Herausforderung in der welthistorischen Situation des frühen 21. Jahrhunderts darin, auch in einem noch so kleinen Bereich Verantwortung zu übernehmen und eben dort an einer wie auch immer gearteten ‚Bewusstʻwerdung zu arbeiten – und sei es nur aus dem egoistischen Wunsch nach persönlicher Integrität und for the sake of sanity.

Autorenverzeichnis Adorno, Theodor W. 22, 25, 30, 37, 40, 42 f., 45 f., 50 f., 59, 63, 80, 89, 94 f., 102, 182 – 184, 207 Ağcan, Muhammed A. 113 Agnew, John 201 Agnoli, Johannes 71 Ajami, Fouad 155 Albert, Matthias 252 Alcadipani, Rafael 229 Aldenhoff-Hübinger, Rita 65 Althusser, Louis 95, 182, 207 Amadae, Sonja M. 189 Ambrosino, Angela 101 Amin, Samir 115 Andernach, Norbert 53, 85, 89, 91 Andrews, Nathan 108 Anker, Elizabeth S. 229 f., 235 Apel, Karl-Otto 27 Apeldoorn, Bastiaan van 123, 146, 154, 160, 168 Aradau, Claudia 237 Arrighi, Giovanni 115, 136, 144 Arrow, Kenneth 56, 189 Ashley, Richard K. 107, 173, 175 – 177, 181 f., 184, 190, 193 – 195, 203 – 206, 221, 228 Aubourg, Valerie 140 Austin, Jonathan Luke 106, 235 f., 238, 240, 242 Avery, Paul C. 215 Azmanova, Albena 106 Badura, Peter 72 Baer, Susanne 77 f. Bahr, Erhard 106 Bair, Jennifer 131 Baisch, Anja 147 Baker, Raymond W. 231, 237 Balibar, Etienne 95 Bandeira, Luiz A. Moniz 142, 145 f., 149 – 151, 223, 225, 227 Bar-Siman-Tov, Yaacov 141 f. Baranków, Maria 84 Bargués-Pedreny, Pol 244 Barla, Josef 242 Baron, Christian 84, 98 Bartelson, Jens 191 Bartusevičius, Henrikas 251 Baruch, Bernard M. 198 Baumanns, Peter 24 https://doi.org/10.1515/9783110471250-005

Baylis, John 110, 112, 116, 121 Beard, Charles A. 198 Becker, Joachim 162 Becker, Lia 79, 154 Beckley, Michael 201 f. Bedall, Philip 163, 170 Behrens, Maria 116, 122 Bellanova, Rocco 106, 240 Benner, Thorsten 255 Bennett, Jane 230, 235, 238 f., 244 Bergeron, Louis 65 Bertram, Christoph IX Best, Heinrich 88 Betts, Richard K. 179, 229 Bevins, Vincent 162 Beyer, Wilhelm R. 50 Biddle, Stephen 201 Bieler, Andreas 114, 122, 168 Bieling, Hans-Jürgen 98, 122 f., 155, 166, 168 Bilgin, Pinar 167 Billé, Frank 130 Birner, Kathrin 69 Bittlingmayer, Uwe H. 206 Bittner, Jochen 80 Black, Duncan 58 Blaug, Mark 55 Bleiker, Roland 176 f., 184, 237 Blum, Sonja 82, Blum, Ulrich 145, 151, 226 Böhmelt, Tobias 254 Bogart, Ernest L. 197 Boltanski, Luc 229 Booth, Ken 110, 118, 121, 181, 193 Botzem, Sebastian 71, 82 Botzenhart, Manfred 88 Boyd-Barrett, Oliver VII, 160 Bracke, Jack 115 Braml, Josef 213, 215, 216, 218 Brand, Ulrich 61, 155 Breier, Horst 134 Brillenburg Wurth, Keine 231 Brincat, Shannon 113, 119, 126 f. ten Brink, Tobias 114 f. vom Brocke, Bernhard 51 Brown, Michael E. 196, 202 Buckel, Sonja 61, 155, 163 Budd, Adrian 122

Autorenverzeichnis

Bude, Heinz 62 Bueno de Mesquita, Bruce 179, 205 Bukold, Steffen 137 Bull, Hedley XI, 105, 111, 253 Bunte, Martin 24 Buschmann, Marco 78 Butkaliuk, Vitalina 223 Butterwegge, Christoph 67 Buttigieg, Joseph A. 158 Buzan, Barry 105 Búzás, Zoltán I. 252 Byrne, David 98 Calhoun, Craig J. 120 Callinicos, Alex 114, 135 Campbell, David 176 f., 184, 191 Camus, Albert 256 Candeias, Mario 154 Cantner, Uwe 57 Casier, Tom 126 Cassels, Alan 105 Christian, Ben 255 Cedrini, Mario 101 Cerny, Philip G. 161 Chandler, David 233, 244 f. Chaudhry, Suparna 252 Chiapello, Eve 229 Claesges, Ulrich 44 Clark, Brett IV Clary, Christopher 202 Closson, Stacy R. 134 Codd, L.A. 198 Cohen, Josh 223 Cohen, Stephen F. 160, 219 f., 251 Conant, James 18 Connolly, William E. 181, 183 Conway, Philip R. 106, 110, 129 Coole, Diana 233 f. Coralnik, Abraham 6 Corbridge, Stuart 201 Cox, Michael 146 Cox, Robert W. 92, 96, 107, 117, 119, 122 f., 125 – 129, 132, 134 – 136, 148, 153 – 155, 159, 163, 166 – 169, 171 f. Cox, Ronald W. 82 Cox, Wayne S. 165 Crawford, Neta C. 186, 229 Crockatt, Richard 141 f., 225 Croeser, Eve 153

Cudworth, Erika 235 Cunningham, Gustavus W.

33

Daase, Christopher 228 Daddow, Oliver 111, 229 Dahrendorf, Ralf 64 Dalby, Simon 181 f., 185, 191, 202, 221 Dauphinee, Elizabeth 248 Davenport, Andrew 114 Davis, John B. 101 De Crescenzo, Luciano 13 Debre, Maria J. 255 Deitelhoff, Nicole 106, 113, 121 f. Demirović, Alex 155, 206 f. Demmerling, Christoph 43 Denninghoff, Andreas 137 Der Derian, James 173, 180 f., 190, 195, 221 Derman, Brandon B. 156 Derrida, Jacques 180, 191, 222 Desch, Michael 179 Devetak, Richard 2, 118 Diamond, Sigmund 189 Didymus 13 Dietl, Ralph 141 Diez, Thomas 210 Dillon, John 11, 13 Dobbins, James VIII Dower, John W. 144 Downs, Anthony 58 Draeger, David R. 218 Dreiack, Stefanie 255 Druckman, James N. 172 Dueck, Colin 215 Dutkiewicz, Piotr 126 van Dyk, Silke 248 Dzarasov, Ruslan 224 Ecker-Ehrhardt, Matthias 254 Eckert, Georg 67 Edgerton, David 197 Edkins, Jenny 181, 222 Eichler, Martin 52 Eisentraut, Sophie 255 Ellison, James 133 Ellul, Jacques 52, 59 Elsässer, Lea 65 Emundts, Dina 44 Engels, Friedrich 63, 65, 89, 98 Engst, Benjamin G. 77 Enzler Denzler, Ruth 81

259

260

Autorenverzeichnis

Eschle, Catherine 208 van Evera, Steven 20 – 22, 27 Everett, Matt 162 Farrell, Henry 252 Farrigan, Tracey L. 159 Fehlker, Christian 254 Felbermayr, Gabriel 96 Felski, Rita 229 f., 235 Ferraresi, Franco 145 Ferris, John 198 Fetter, Steve 202 Filippini, Michele 125, 159 Fink, Steven 69 Finkenbusch, Peter 245 Finnemore, Martha 118 Fisahn, Andreas 62 Fischer, Wolfram iv Fischer-Lescano, Andreas 61, 155, 163 Fleck, Ludwik 3 Flügel-Martinsen, Oliver 207 Foertsch, Volker 145 Fontana, Benedetto 100, 104 Forcey, Linda R. 120 Forster, Edward M. 46 Foster, John Bellamy IV, 137, 226, 247 Foucault, Michel 123, 175, 182 f., 203 f., 207, 211, 236 Frank, Andre Gunder 115 Frey, Bruno S. 57, 188 Freytag, Tatjana 206 f. Frick, Verena 93 Friedell, Egon 7, 10 f., 14, 17 Friedman, George VIII Friesinger, Eva 170 von Fromberg, Daniel 15 Fromm, Erich 43 Führ, Martin 76 Fulda, Hans Friedrich 37, 44, 48 Furet, François 65 Furniss, Tom 29 Fusaro, Lorenzo 161 Gabriel, Markus 6, 8, 13, 15, 18, 25, 37, 43, 48 Gaddis, John Lewis 202 Galison, Peter 197 Gasteiger, Ludwig 185 Gehrau, Volker 21 Gelb, Leslie H. 229 Gendzier, Irene L. 190

George, Jim 190, 202 Germain, Randall D. 121, 126 Gill, Stephen 107, 118, 123, 127 – 130, 134 – 136, 151, 153, 155, 157 f., 160 f., 164 f., 167, 171 Gisler, Volkmar 78 Glaab, Katharina 186 Glaser, Charles L. 202 Glasius, Marlies 126, 123 Glasmeier, Amy K. 159 Glassman, Jim 161 Gleditsch, Kristian Skrede 251 de Goede, Marieke 161, 236 Görtemaker, Manfred 131 Götz, Elias 148 f. Goldstein, Judith 96 Gollwitzer, Heinz 64 Gowan, Peter 144, 148 f., 226 Graaf, Naná de 146, 154 Graf, Antonia 116, 122 Gramsci, Antnonio 60 f., 74 f., 79, 83 f., 87, 90, 92, 95 – 104, 121 – 127, 129, 131 f., 135 f., 138, 151, 154 f., 158 f., 161, 163 – 168, 171, 182 Grandin, Greg 162 Grant, Hardy 12 Graupe, Silja 203 Graves, Lucia 196 Gray, John 147, 182 Gregory, Donna U. 221 f. Grieco, Joseph 116 Gritsenko, Victoria 224 Groarke, Leo 15 Grobe, Christian 253 Gudehus, Timm 96 Günther, Linda-Marie 9, 10 f., 14, 16 Gumport, Patricia J. 94 Gusterson, Hugh 212 Habermas, Jürgen 27, 30, 52, 61, 109, 121, 123, 127 Hacke, Christian 200, 216 Hacke, Jens 61 Halbach, Uwe 134 Hamenstädt, Ulrich 122 Hannich, Günther 86 Hanusch, Horst 57, 59 Harris David 101 Hartig, Falk 145 Hartmann, Jürgen 90, 92 Hartmann, Klaus 33 Hartmann, Michael 67 Harvey, David 153

Autorenverzeichnis

Hassard, John 229 Hatzfeld, Jean 7 Haug, Wolfgang F. 251 Hegel, Georg W.F. 4, 8, 31 – 45, 47 – 48, 50 f., 60, 69, 87 – 90, 102, 109, 185, 246 Heidegger, Martin 9 Heidemann, Dietmar H. 12, 32 von Hein, Matthias 226 Heinimann, Felix 6 Heller, Hermann 71 Hellmann, Daniel 67 Hellmann, Gunther 1, 138 Hense, Svenja 66 Heraklit 6 – 9 Hermann, Rainer 139 Hertz-Eichenrode, Dieter 50, 60 Herzig, Arno IV, 60 Hesketh, Chris 142 Hesse, Helge 55 Hesselmann, Judith 71, 82 Heucher, Angela 255 van den Heuvel, Katrina 251 Hipp, Dietmar 76 Hill, Deb J. 104 Hirsch, Joachim 148, 193 Hirschberger, Johannes 12, 14 – 16 Hirschmann, Gisela 254 Hirst, Aggie 206 Hirte, Katrin 157 Hitzler, Ronald 82 Hobden, Stephen 235 Hoffman, Mark 116, 165, 172 Hoffmann, Christiane IX Hoffmann, Karl 225 Holland, Alisha C. 252 Hollander, Paul 188 Holman, Otto 126 Holsti, Kalevi J. 118 Holtkamp, Lars 92 Hopkins, Terence K. 136 Horkheimer, Max 20, 23, 45, 52, 66, 83, 85, 94 f., 102 f., 246 Horovitz, Liviu 148 f. Horsley, Thomas 78 Huber, Gerhard IV Humrich, Christoph 122 Huntington, Samuel 195, 202 Hutchings, Kimberley 112, 126 Hüttemann, Bernd 65

Huysmans, Jef 237 f. Hyde, Susan D. 22 Ikenberry, G. John 116, 189 Ioannou, Demosthenes 254 Iretzberger, Manuel 173 Irwin, Douglas A. 157 Ishchenko, Volodymyr VIII Ismael, Shereen T. 231, 237 Ismael, Tareq Y. 231, 237 Ives, Peter 126 Jackson, Patrick Thaddeus 21 Jackson, Richard 116 Jaeggi, Rahel 109 Jahn, Beate 107 f. Jesse, Eckhard 92 Jessop, Bob 147, 161 Jeuchel, Jan 77 Joffe, Josef 80 Johnson, Chalmers 145 f. Johnson, Heather L. 238 Joseph, Jonathan 245 Jung, Nicolas 65 Kahn, Paul W. 91 Kaldor, Mary 156 Kamola, Isaac 186, 254 Kant, Immanuel 4, 17 – 20, 23 – 31 Kastner, Lisa 156 Katchanovski, Ivan VII Kaufmann, Mareile 106, 240 Keller, Reiner 202 Kellner, Douglas 106, 117, 120, 198 Kennedy, David 239 Kennedy, Duncan 77 Kenny, Michael 121 Keohane, Robert O. 21, 105, 173, 253 Kepplinger, Hans M. 80 Kern, Otto 6 Kim, Hun Joon 113 King, Gary 21, 253 Kissinger, Henry 152 Kjaer, Poul F. 109 Klare, Michael T. 199, 226 Kleinschmidt, Harald 59 Kleinsteuber, Hans J. 200, 216 Kloepfer, Michael 67, 75 Klüfers, Philipp 194 Knafo, Samuel 119

261

262

Autorenverzeichnis

Knecht, Sebastian 255 Knox, Dean 93 Koch, Martin 255 Kocka, Jürgen 57 Koddenbrock, Kai 113, 229, 253 Koh, Harold H. 179, 228 Koistinen, Paul A.C. 197 f. Koppetsch, Cornelia X Kopstein, Jeffrey 218 Koselleck, Reinhart 65 Kramer, Daniel R. 151 Kranz, Walther 10 – 15, 17 Krasner, Stephen D. 178, 192 Kratochwil, Friedrich V. 107 Kraus, Hans-Christof 35, 50 Kreisky, Eva 96 Kreiß, Christian 87 Kreuder-Sonnen, Christian 255 Kreuter, Marco 80 Krippendorff, Ekkehart 253 Krüger, Uwe 81, 84 Kruse, Phillipp 169 Kuch, Hannes 109 Kuhn, Thomas 57 Kurki, Milja 107, 173 Kurz, Heinz D. 56 Kuzio, Taras VII Kuzmenko, Oleksiy 220 Labban, Mazen 137, 143 Lacey, Nicola 77 Laclau, Ernesto 152, 174 Lairson, Thomas D. 140 Lammers, David 169 Landau-Wells, Marika 201 Landolt, Laura K. 186 Lapid, Yosef 118 Latour, Bruno 230 – 235, 238 – 248 Law, David 167 Lee, Nathan 245, 247, 249 Lehmann, Todd C. 251 Leichter, Otto 134 Lemke, Matthias 200, 216 Lengfeld, Holger X di Leo, Jeffrey 230, 249 Levy, S. Leon 198 Ley, Isabelle 74 Liedtke, Stephan 189 Liese, Andrea 255 Lim, Woontaek 148

Lima, Laura 119, 126, 127 Linklater, Andrew 118 Liska, George 59 Lisle, Debbie 238 Lister, Tim 220 Little, Richard 105 Löschmann, Heike 143 Love, Heather 235 Lucas, Christopher 93 Lukacs, Georg 89, 98 Lundborg, Tom 221 Lynn-Jones, Sean M. 196, 202 Maasen, Sabine 53 Machtan, Lothar 63 Maiguashca, Bice 208 Maliniak, Daniel 252 Mankiw, Gregory N. 56, 59 Mann, Christian 10 f. Manwaring, Max G. 192 Marciano, M. Laura Gemelli 8 Marcowitz, Reiner 212 Marjit, Sugata 59 Martill, Benjamin 187 Martini, Edwin A. 237 Marx, Johannes 253 Marx, Karl 32, 60, 63, 66, 89 Masala, Carlo 179, 188, 208 – 210 Mastanduno, Michael 116 Matthes, Sebastian 84 Matthies, Volker 134 Maurer, Marcus 80 Maus, Ingeborg 72 Mausbach, Wilfried 130 Mause, Karsten 88 May, Christopher 164 Mayert, Andreas 70 McAllister, Jacqueline R. 201 McDermott, Rose 22 McKinlay, Michael 195, 202 McKirahan, Jr., Richard D. 6 McNamee, Lachlan 250 Mead, Lawrence M. 188 Mearsheimer, John J. 105, 178 Meidl, Christian N. 27 Meierding, Emily 227 Meinl, Susanne 145 Mejcher, Helmut 139 Melnykova, Dariia 223 Menzel, Ulrich 114, 129

Autorenverzeichnis

Mergenthaler, Stephan 255 Merkel. Wolfgang 57 Merton, Robert 52 ter Meulen, Jacob 29 Meyer, Fritz W. 145 Meyers, John Speed 202 Michelsen, Nicholas 118 Mieck, Ilja 54 Mills, Tom 231, 243, 249 Miller, Steven E. 196, 202 Milles, Dietrich 63 Milliken, Jennifer 211 Mintz, Alex 22 Mir, Asfandyar 201 Mladek, Klaus 42 Møller, Jørgen 116 Mommsen, Wolfgang J. 114 Morris, Michael 29 Morton, Adam David 114, 122 Mosca, Gaetano 96 Mosse, Werner 70 Mouffe, Chantal 101, 159 f., 166 f., 174, 209 Müller, Christian 88 Müller-Benedict, Volker 76 Murphy, Craig N. 165 Musgrave, Alan 24 Nair, Gautam 251 Narang, Vipin 202 Narr, Wolf-Dieter 92 f. Nathanson, Charles E. 212 – 214 Ned Lebow, Richard 2 Neumann, Iver B. 221 Newman, Abraham L. 252 Nicolin, Friedhelm 33 Niebel, Ingo 150 Niederberger, Marlen 255 Niemann, Arne 254 Niemann, Holger 255 Niggemann, Janek 154 Nipperdey, Thomas IV Noble, George B. 199 Nogueira, Joao P. 238 Nolte, Paul 46 Nuenlist, Christian 141 Nunes, João 119, 126, 127 Nussbaum, Martha C. 6, 16 Nye Jr., Joseph S. 145, 179

263

Öffner, Andreas 53 Oelrich, Ivan 201 Oermann, Nils Ole 149 Ötsch, Walter O. 58, 157, 203 – 205 Offe, Claus 85 Olsen, Niklas 109 OʼMahoney, Joseph 251 Onuf, Nicholas G. 118 Ordemann, Jessica X Oren, Ido 179 Osterloh, Margit 188 Ottmann, Henning 18 Overbeek, Henk 55, 114 f., 136, 147, 153 f., 161 Owens, Patricia 116 Padano, Margareta 218 Paganini, Claudia IX Panke, Diana 255 Papenburg, Bettina 231 Papier, Hans-Jürgen 75 Paes, Lucas de Oliveira 115 Paik, A. Naomi 199 Parmar, Inderjeet 189 Parmenides 7 Paschukanis, Eugen 70 Pascual, Carlos 178 Peleshenko, Anastasiia 216 f., 219 Peritz, Aki J. 48 Persaud, Randolph B. 179, 189 Peters, Margaret E. 252 Peterson, Spike 120 Peterson, Susan 252 Pfetsch, Frank R. 53 Pickel, Gert 35, 36 Pickel, Susanne 35, 36 Pignon, Tatiana 115 van der Pijl, Kees VIII, 114, 118, 130, 140 f., 147 – 149, 154, 157, 164, 175, 179, 189, 194, 212, 218, 226 Pilster, Ulrich H. 254 Pin-Fat, Véronique 181 Pinkerton, Patrick 222 Pinto, Roger 139 Pirani, Simon 152 de Ploeg, Chris K. 220 Podhorez, Norman 196 Pöggeler, Otto 33 f., 40, 45, 47 Posner, Richard A. 58 Pouliot, Vincent 241 Powers, Ryan 252

264

Autorenverzeichnis

Pradetto, August 134 Priewe, Jan 86 Protagoras 11 – 17 Pühringer, Stephan 157 Queralt, Didac 250 Quek, Kai 251 Rathbun, Brian 201 Rauschning, Dietrich 133 Ravecca, Paulo 248 Read, Oliver 134 Rehmann, Jan 100 Reimer, Franz 78 Rest, Jonas 153 Reus-Smit, Christian 115 Ricci, David M. 91, 182 Richter, Walther 77 Riedel, Sabine 220 Risse, Thomas 250 Riste, Olav 145 Ritschl, Albrecht 86 Ritter, Gerhard A. 64 Robinson, William I. 161 Röttger, Bernd 135 Röttgers, Kurt 37 Rohde, Joy 189 Roithner, Thomas V Rolke, Lothar 130 Rom, Mark Carl 187 Roose, Jochen 157 Rosenbach, Eric 48 Rosenberg, Justin 115 Rosert, Elvira 180 Ross, Carne 176 Ross, Dorothy 90 Rosso, Linda 162 Rotmann, Philipp 255 Rubenstein, Diane 181, 185 Rudling, Per A. VIII Rudolf, Peter 154 Rüger, Johannes 223 Rüthers, Bernd 75 Ruggeri, Andrea 126 Runyan, Anne Sisson 120 Rupert, Mark 97, 126, 154 f. Russell, Bertrand 11, 13 – 15 Rynning, Sten 218

Sachs, Jeffrey VIII, IX, 251 Sälzer, Bernhard 134 Sakwa, Richard VIII, 217 f. Sala, Roberto 85 f. Sambanis, Nicholas 251 Sandmann, Elena 65 Sartre, Jean-Paul 99 Sassen, Saskia 96 Saugmann, Rune 237 Saurin, Julian 121 Schaaf, Christian 69 Schadewaldt, Wolfgang 6 – 9 Schäfer, Armin 63 Schäfer, Hilmar 207 Schäfer, Stefan 134 Schellnhuber, Joachim 248 Scherpenberg, Jens van 134 Scherrer, Christoph 121, 138 f. Schettler, Leon 255 Schiffers, Maximilian 67 Schimmelfennig, Frank 2 Schindler, Danny 66 Schindler, Sebastian 187 Schlinker, Steffen 68 Schlipphak, Bernd 21 Schmidt, Brian C. 105 Schmidt, Manfred G. 62, 71, 74 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 65 Schmiljun, André 31 Schmitz, Winfried 10 Schmoller, Gustav 56 Schoenfleisch, Christopher 71 Scholte, Jan Aart 126 Schramm, Michael 12 – 14, 16 Schubert, Klaus 82 Schuler, Edgar 81 Schulman, Bruce J. 181 Schult, Christoph VIII Schwemmer, Oswald 22 Seidel, Helmut 12 Sen, Amartya K. 58 Sending, Ole Jacob 221 Seth, Sanjay 167 Sextus Empiricus 13 Shapiro, Michael J. 98, 173, 177, 181, 184 f., 191, 202, 210 Sharp, Travis 202 Shelef, Nadav G. 251 Shifrinson, Joshua R. Itzkowitz 206 Showstack-Sassoon, Anne 99, 124

Autorenverzeichnis

Siebenbrock, Heinz 87 Sinai, Tamir 162 Sjolander, Claire Turenne 165 Slaughter, Anne-Marie 189 Slonimsky, Heinrich 7 Smith, Alexander 137, 139, 143 Smith, Michael 196 Smith, Steve 105, 110, 112 f., 116, 121 Snidal, Duncan 115 Snyder, Jack 201 Sørensen, Georg 116 Söllner, Alfons 92 Solomon, Ty 215 f. Solovey, Mark 189 Sommer, Bernd 169 Sonne, Werner 133 Staab, Philipp 62 Stahl, Bernhard 173 Stahl, Michael 10 Stanley, Christopher 77 Stavenhagen, Gerhard 90 Steckner, Anne 154 vom und zum Stein, Heinrich Friedrich Karl 86 Stein-Hölkeskamp, Elke 10 Stekeler-Weithöfer, Pirmin 3 f., 45, 116, 138, 184, 246 Stephen, Matthew 160 Stetter, Stephan 187, 254 Stewart, Susan 220 Stolleis, Michael 64, 66, 68 – 70 Strasser, Peter 98 Suhay, Elizabeth 172 Suhm, Christian 47 Sum, Ngai-Ling 161 Sweezey, Paul M. 115 Sylvester, Christine 121 Tanner, Jakob 63 Tansel, Cemal Burak 112 Taylor, Mark P. 56, 59 Terhalle, Maximilian 255 Tétraeault, Mary Ann 136 Tetzlaff, Rainer 133 Teuteberg, Hans Jürgen 87 Thiel, Volker 31, Thiele, Kathrin 230 Thom, Martina 98 Thomas, Peter D. 60, 99 – 101 Thornton, Gabriela Marin 217 Tickner, J. Ann 120

265

Tierney, Michael J. 252 Tilly, Richard 64 Tirman, John 140, 143, 145 Tomplinson, Simon 218 Tomuschat, Christian 133 Treib, Oliver 21 Trepp, Gian 133 Treue, Wilhelm 87 Tribe, Keith 55 Tricarico, Antonio 143 Tsygankov, Andrej P. VIII, 214, 219 Türk, Henning 143 Turner, Scott 198 Turton, Helen Louise 179 Tuschoff, Christian IX, 81 Ullman, Richard 213 Unger, Roberto M. 70, 72 f., 87 in’t Veld 57 Viotto, Regina 62 Visoka, Gëzim 112 Vobruba, Georg 56 f. Voeten, Erik 179 de Vos, Luc 48 Voskressenski, Alexei D. Votsmeier, Volker 77

59

Wadhams, Peter 169 Waever, Ole 1 Wagner, Hardy 168 Wagner, Inga 80 Wagner, Jürgen 150 Wagner, Peter 85 Wahl, Achim 150 Wainwright, Joel 246, 248 Walewicz, Piotr 112 Walker, R.B.J. 111, 174 f., 177 f., 182, 184, 190, 193 f., 200, 202, 204, 208, 228 Wallerstein, Immanuel 115, 136 Walt, Stephen M. 179 Walter, Rolf 168 Walters, William 235 f. Waltz, Kenneth N. 3, 59 Warnaar, Maaike 126, 132 Weinbach, Heike 84 Weingart, Peter 53 Weinstein, Jeremy M. 178 Welch Larson, Deborah 189 Wemheuer-Vogelaar, Wiebke 250

266

Autorenverzeichnis

Wendt, Alexander 118 Wesche, Tilo 47 Wesel, Uwe 62, 78 Westphal, Kenneth 34 White, Hylton 247 Whitehead, Alfred N. 91, 93 Wibben, Annick T.R. 120 Wiegrefe, Klaus VIII Wiener, Antje 186 Wight, Colin 3 Wight, Martin 111 Willoweit, Dietmar 68 Winch, Peter 91 Winkler, Heinrich August 133 Wischmeyer, Nils 49 Wittig, Peter 134 Wolff, Emil 47 Worth, Owen 125 f. Wullweber, Joscha 116, 122, 152

Yang, Yi 22 Yeung, Eddy S.F. 251 Yu, Eden S.H. 59 Yurchenko, Yuliya VIII, 138, 223 Zaborowski, Marcin 218 Zakaria, Fareed 229 Zalewski, Marysia 110 Zangl, Bernhard 187, 254 f. Zehfuss, Maja 222 Zhang, Anna 250 Zhukov, Yuri M. 251 Zimmermann, Beat 140 Zimmermann, Lisbeth 186 f. Žižek, Slavoj IX, 223 Zöller, Günter 19, 20, 27, 36 Zöller, Jens 94 Zündorf, Lutz 137 Zürn, Michael 2, 62 f., 106, 113, 121 f., 222 f., 252

Sachregister Abschreckung 130, 153, 217 – atomare/nukleare 185, 189, 200, 202 Abstraktion 32, 90, 99, 253 Affirmation 48, 50, 93, 207, 229 – 232, 241, 244 f., 248 f. Afghanistan 137, 160, 182, 224, 226 f., 251 Aktant/en 235 – 238, 241 – 243, 245, 247 Amsterdamer Schule 123 Aristokratie 10, 47, 63, 87 – als Gegenteil zum ‚Bestentum‘ 46 – geistige 46 Aufhebung 45, 47, 50, 88, 97 f. Aufklärung 14, 30, 53, 88, 99, 193, 239, 256 – schottische 29 Aufklärungsillusion 256 Begriff 4 – 9, 12, 23 – 24, 26, 33, 35, 39, 40 – 50, 62, 69, 73, 88, 90, 92, 94 f., 97 – 98, 107 – 108, 110, 116 – 117, 122 – 129, 131, 134 – 136, 138 – 139, 156 – 157, 163 f., 174, 176, 184, 192, 195, 200 – 201, 211, 239, 246 – 248, 253 Bellizismus IX, X, 101, 109 Beobachtung 4, 7, 21 – 22, 36, 53, 59, 223 – aktive 19, 22, 24 – 25, – passive 24, 27, 36, 241 Bewußtsein IV f., 6, 9, 36, 40, 57, 64 f., 73, 83, 104, 116, 173 – gesellschaftliches 61, 83, 89 – historisches 89, 98, 172 – Klassen 174 – Könnens 6, 47 – kritisches 100, 183 – 185 – Methoden 255 – Mode 107 – Selbst 30, 45, 58, 71, 89 – sinnliches 38 – Standes 82 – Verantwortungs 241 – wissenschaftliches 173 Banken 49, 61, 67, 69, 70, 81 f., 130, 148, 154, 156, 161, 168, 224, 226 Bewegung/en 68, 86, 101, 159, 162 – 164 – alternative 160 – Arbeiter 64 – Befreiungs 162 – Bildungs 37 – Friedens 130 https://doi.org/10.1515/9783110471250-006

– Gegen 65, 98 – gegenhegemoniale 124 – globale 163 – Ketzer 15 – kollektive 248 – konservative 181 – politische 125, 164 – populistische 233 – postkritische 231 f. – Protest 130, 190 – soziale 129, 153, 155 f., 164, 170, 175, 208 – Umwelt 190 – Unabhängigkeits 125 – Volks 60 Bewegungsprinzip 56, 63, 95, Binnenmarkt 57, 71, 86, 130, 148, 167 Bretton-Woods System 136, 143 – 144, 146 Bürgergesellschaft 9, 12, 250 – Welt 127 Chauvinismus 61, 106, 109, 228 Chile 162, 227 China 130, 158, 201 – 202, 212, 226 Dekonstruktion, siehe auch Poststrukturalismus 15, 32, 181, 208, 211 – als ‚Befragungsbewegung‘ 207 – als Distanzierung 221 – als Verfahren 220, 221 – als Versetzung 222 Demokratie 16, 52, 57 f., 63, 224 – als Wert 225 – athenische 5, 10 f., 14 – bürgerliche 53, 71 – Kapitalismus und 57 – Krise der 93 – liberale 71, 224 – parlamentarische 31, 62 – soziale 71 – westliche 42, 223 Demokratieförderung 146, 228 Demokratiewissenschaft 92 Denken, siehe auch Erkenntnis, siehe auch Wissenschaft 16, 31, 37, 58 – akademisches 256 – als Prozess 32 – begriffliches 8 f., 25, 42, 95

268

Sachregister

– bewegliches 207 – deutendes 8 – dialektisches 39, 41 – einsames 35 – freies 35 – Freund-Feind 200 – gegenständliches 43 – geübtes 45 – Gleichgewichts 56, 57 – griechisches 6 – historisches 43 – imperiales 224 – komplizenhaftes 128 – konfrontatives 128 – 131 – kritisches 43, 64, 69 f., 80, 105, 112, 147, 152, 161, 166, 196, 224, 227, 231, 242, 250 – nachvollziehendes 35 – naturwissenschaftliches 18, 53 – ökonom/istisches IV, 56, 57 – privates 37 – prozessuales 246 – reflexives 43 – richtiges 8 – Schulen-/Schubladen 123 – sozialwissenschaftliches 5, 58 – synoptisches 46 – System 59 – theoretisches 90 – un/selbständiges 52, 87, 180 – vermitteltes 42 – verständiges 39 – verstehendes 22 – wissenschaftliches 35 f., 39, 42, 45 Denkschule/n 122 – 124 Dialektik, siehe auch Denken 7, 31, 46, 98, 246 – Aufhebung 45, 47, 50, 88, 98 – Bestimmung 31, 37 – 41, 43, 45, 47 – 49, 108 – gesellschaftliche 51 – globale 169 – historische 165 – Negation 38 f., 44 f., 47 – 49, 117, 119, 128 – ökonomis/tische 51, 167 – philosophische 116 – zerstörerische 85 Diskurs/e, siehe auch Poststrukturalismus 5, 6, 121, 159, 194 – akademischer 117, 165, 206 – als Aufklärung 53 – als Kontext 223, 239 – als Möglichkeitsbedingungen 195

– als Praktiken 211 – als Re/Produktion von Wirklichkeitsvorstellungen 202 – als Spezialdiskurs 93 – als Theoriebegriff 122 – als Verstand 36 f., 42 – als Verweisungszusammenhang 9 – als Zwang 180 – der Global Governance 206 – der Internationalen Beziehungen 4, 129, 186 f., 191, 254 – der World Order 206 – des Russian threat 217 – des Soviet threat 212 – Element 219 – Formationen 186, 203 – gelehrter 86 – kritischer 256 – nationaler Sicherheit 181, 184 – neoliberaler 130 – neorealistischer 130 – ökonomischer 55 – offizieller 63, 80 f. – postmoderne 208 – poststrukturalistischer 176 – Regierungs 216 – sicherheitspolitischer 181, 184, 199 – sozialwissenschaftlicher 103 – Strategien 220 – weltabgewandt 93 – wissenschaftlicher 119 Diskursanalyse 32, 172, 208, 213, 216, 219 Disziplin IB 21, 179, 203, 206 – weltanschauliche Prägung 1, 26, 105, 131, 172 f., 177 f., 200, 203, 206, 209, 214 f., 256, 257 – Mainstream 1 – 4, 21, 34, 58, 105 – 109, 111 – 115, 117 f., 120 – 123, 127 – 130, 148, 172, 176, 178 – 181, 184 – 186, 188 – 195, 200, 202 f., 205, 208 – 210, 220, 228 f., 256 – Praxisorientiertheit 2, 105, 192 f., 200, 206 Disziplinargesellschaft 175 Dogmatismus 18, 36, 54 Dominanz 138, 161, 165, 193, 200 Drohnen VIII, 236 f. – Angriffe 235, 237 Empathie 207 – als postkritisches Erkenntnisinteresse 238 – 241 Empirismus 3 – als begrifflich fundierte Spekulation 8, 23

Sachregister

– als Beschäftigung mit Daten 35 – als Dogmatismus 18 – als Hang zur Modellierung 108, 253 – als Illusion der ‚Dinge an sich‘ 6 – als Methode der Beobachtung 7 – als Mythos des ‚Gegebenen‘ 32, 34 f. – als sozialwissenschaftliche Haltung 27 – als Verfahren der Wahrheitssuche 36 – als Zugang zur Wirklichkeit 231 – britischer 246 – neuer postkritischer 231 f., 236, 246 – und der Anspruch auf Kausalanalysen 59, 96 – und der ‚Primat des Objekts‘ 95 – und die Bedeutung von Methoden 93, 99 – versus Empirie 232 Englische Schule 111 Erkenntnis, siehe auch Denken 38, 44, 193, 246 – als Leistung des Gemüts 24 – als Prozess 19, 31, 38 – als Vorstellung 38 – der Wahrheit 32, 34 – der Wirklichkeit 8 – empirische 23 – faktischer Zusammenhänge 231 – formale Bedingungen für 37 – gegenständliche 25, 27 – Grenzen für wissenschaftliche 27 – kausale 20 – menschliche 32 – objektive 26 – phänomenale 41 – soziale Bedingungen für 41 – spekulative a priori 20 – subjektive 31 – theoretische 20 – vermeintlich naturwissenschaftliche 90 – von Reflexionsobjekten 38 – vorläufige 39 – wissenschaftliche 25, 32, 36, 41, 48 Erkenntnisvorgang 31 – Einheit des 31 – wissenschaftlicher 31 Erkenntnisinteresse/n iii – am Ganzen (holistisches) 34, 39 – 42 – an realweltlichen Zusammenhängen 232 – als Empathie 238 – 241 – an Widersprüchen 121 – begriffliches III, 107, 108 – deutendes 127 – klassifikatorisches 39

269

– konfrontative XI – kritisches 97, 128, 253 – normatives 119, 127 f., 191, 193 – postkritische 232 f., 238 – 241 – poststrukturalistische 189 – 194, 210 – praxisorientierte 117 – widerständige XI, 172 f.174, 180, 193, 206, 210, 256 Europäische Gemeinschaft/en 157 – Krise der 133 – Norderweiterung der 134 – Sklerose der 134 Europäische Union 62 Existenz 6 – als Eigenschaft von Gegenstandsbereichen 25 – Bedrohung der Menschheit 169, 255 f. – der Götter 15 – der Marktwirtschaft 57 – der Menschheit 169 – der Phänomene 41 – der Wirklichkeit 23, 99 – des bürgerlichen Rechtsstaates 73 – einer transnational managerial class 107 – geteilter moralischer Empfindungen 28 – Grundlagen menschlicher x, 151, 153 – weltanschaulich vorgefertigter Wirklichkeitsvorstellungen 203 Expert/innen III, V, VII, 53 f. – akademische 177 f. – als organische Intellektuelle 81 – 83, 164 – rechtliche 75, 163 f. – wirtschaftliche 163 f. Fichte 30 – 31, 35, 37, 52 Fortschritt V, 33, 61, 65, 72, 83, 86, 89, 156, 225, 248, 252 – als Ideologie/Weltanschauung 89, 160 – als inhaltsleeres Gerede 98 – Ausbeutung und Zerstörung als 63, 90, 94 – ethischer 100 – geistiger 103 – gesellschaftlicher 56 – Gläubigkeit 55, 252 – im westlichen Sinn 142 – imaginärer 88 – in der Rechtsfortbildung 78 – intellektueller 103 – kein Bewusstsein in der Antike 6 – Produktivitäts 168 – technischer 52, 86

270

Sachregister

– Wandel als III – Widersprüchlichkeit des 89 – wirklicher 100 – wissenschaftlicher 102, 174, 205, 211, 232 – zivilisatorischer 69 Freiheit 28, 34, 46, 52, 61 – als Emanzipation 88, 94, 114, 162, 181 – als Begriff 40, 42, 45 – als ‚Bewusst‘werdung 52 – als eigenständige Deutung 206 – als inhaltsleeres Gerede 98 – als Kollektivgut 109 – als matter of concern 241 – als Merkmal der Weltordnung 93 – als vernünftige Wirklichkeit 65 – Ausbeutung/Unfreiheit mystifiziert als 63, 83, 90 – bürgerliche 42, 182 – Denken als Ausdruck von 35, 53 – der Wissenschaft 53 – der wohlhabenden weißen Minderheit 90 – geistige 47, 52 – gesellschaftliche Eintwicklung 58, 60 – Gewerbe III, IV – im real existierenden Sinn 52 – im Rechtsstaat 72, 75 – Kampf um/für die 241 – marktwirtschaftliche 57 – Meinungs 29 – negative 52 – Willens 28 – wirkliche 100, 184 – wirtschaftliche 146, 163 Freirechtsschule 78 Frieden XI, 26, 34, 43 f., 50, 136, 155 f., 160, 202, 248, 251 f. – als Abschreckung 209 – als Abwesenheit militärischer Gewalt 39 – als Begriff 40 – als Kollektivgut 109 – als Moment eines ‚Ganzen‘ 41 – als Nebeneinander zu Krieg 41 – als Nacheinander zu Krieg 41 – als Recht der Menschheit 30 – als Rhetorik 98, 197 – als Streben freier Menschen 30 – als vernünftige Wirklichkeit 34, 50, 65 – als Vorbereitung auf Krieg 198 – als Weltfrieden 241 – Ausbeutung und Zerstörung als 90

– Bedrohungen von 145 – demokratischer 187, 256 – demokratischer Rechtsstaat als Garant von 61, 72 – durch Abrüstung 129, 132 – feierliche Beschwörung anno 1919 225 – im Atomzeitalter 196 – in dialektischer Beziehung zu Krieg 40, 48 – moralische Frage XI – positiver 155 f., 191 – Realisierung von Partikularinteressen als 63 – Unwahrheit von 49 – wirklicher 100 Friedensbewegung 190 Friedensforschung 191 Friedensordnung 147 Friedenspflicht VII Friedensverhandlungen anno 1919 198 Friedensvölkerrecht 228 Hegemonie, siehe auch Historischer Materialismus 138 – regionale im Nahen Osten 142 – US-amerikanische 143 f. Hegemoniekonstellation 139, 149 Hegemoniezyklentheorie 136 Historischer Materialismus 98, 100, 123, 126, 128 f., 132, 153, 165, 170 f., 174 f., 181, 194, 245 – Erkenntnisziel der Entmystifikation 129 – 131 – Hegemonie 74, 100, 122, 124 – 126 – als Begriff 125 f. – friedliche Konstellation 136 – gesellschaftliche 74 – Kampf um 103, 125 – politische 79 – transnationale 161 – hegemoniale Ordnung 135 – historischer Block 122 – Institutionen 156 – 161 – konfrontatives Denken 128 f. – Kooptierung 142, 145 – Krise 131, 133 – 136 – Befehls-/Führungs 84 – globale 131, 147 – hegemoniale 135 – konjunkturelle 131 – organische 131 – 138, 151, 153 f., 172, 249 – passive Revolution 60 f., 124, 142, 165 – Philosophie der Praxis 95, 98 f., 104, 124 – Polemik als Methode 101 – 103

Sachregister

– trasformismo 163 – organische Intellektuelle XI, 50, 73 – 94, 160, 171, 202 – Ressourcen (Kapital) 152 – 156, 161, 169, 174 – soziale Kräfte 155, 165 – 172, 231 – Zivilgesellschaft 79, 81, 84, 94, 101 – transnationale 151, 152 – 165 Historische Schule 56, 57 Historizismus 95, 240 Ideologie/n, siehe auch Weltanschauung 45, 51, 54, 59, 61, 63, 89, 100, 171, 230 – des Fortschritts 89 – elitäre 119 – etablierte 171 – konservative 28, 51, 60 f., 81, 102, 128, 176 f., 181, 185, 195, 209 f., 229 – kritik 43, 52, 101 – liberale 128, 131, 140, 145, 171, 187, 222 – 225, 227 f., 252, 256 – neoliberale 82, 130, 163 – politische 100 – ‚totale‘ 83 – verdacht 23 Imperialismus 146, 153, 228 – Neo 153 – transatlantischer vii – westlicher Öl-/Energie 142 – 144, 227 – Ultra 136, 138, 144, 150 – US-amerikanischer 140, 146 Imperialismustheorie/n 114 Institution/en V, 14 f., 19, 41, 50 f., 91, 119, 122, 155, 166 f., 175, 190, 203, 224, 247, 255 – demokratische 159 – in/formelle 133 – intermediäre 76 – internationale 61, 63, 71, 91, 106, 109, 144, 171, 182, 254 – Kultur-/Bildungs 94, 183 – marktwirtschaftliche 54 – nicht-staatliche 156 – ökonomische 51 – politische 9, 15, 63, 73 – rechtstaatliche 60, 66, 68 f., 72 – repressive 29 – transnationale 61, 63, 71, 91, 106, 109, 153 – soziopolitische 88 f. – supranationale 61, 63, 71, 91 – zivilgesellschaftliche 79 Institutionengefüge 90, 92, 161, 175

271

Institutionenkunde 92 Interesse/n 97, 117, 119, 124, 133, 170, 177, 235, 240 – affirmatives 50 – allgemeines 163 – am positiven Frieden 155 – bürgerliche 70, 78 – der euro-atlantischen Kapitalfraktionen 227 – der Fachleute 55 – der Gesamtgesellschaft 17, 73, 160 – der Konzernindustrie 92, 170 – der Privilegierten 65 – des Finanzkapitals 148 – Eigen 204 – exklusive 133 – geostrategische der USA VIII – imperialistische 141, 224 – materielle 60 f., 72, 111 – nationale 167 – ökonomisch motivierte 153 – Öl(Energie‐) 146, 150 – parteiliche 34, 72 – Partikular 17, 51, 53, 61, 63, 65, 67, 79, 86, 94, 96, 119, 154, 165 – praktische 46 – Profit 88, 143, 151, 163, 165, 199 – rationale 56 – rationale staatliche 177, 179, 214, 220 – subalterne 132, 165 – transnationale 157 – westliche 140, 153, 227 – vernünftige 68 – wissenschaftsfremde 44 Interessendurchsetzung 146 Interessengruppen 61, 67, 76, Interessenjurisprudenz 78 Interessenkonflikte 140 Interessenverbände 154 Journalist/innen V, 101, 145 – aktive IX – als organische Intellektuelle – eingebettete 22 – kompetente 75 – unvoreingenommene VIII

79 – 81

Kapitalismus, siehe auch Produktionsweise 71 f., 148, 203 f., 229, 234 – Aufstieg des 88 – globaler 113 f. – Grüner 153

57, 62,

272

Sachregister

– Spät 94 Kausalität 19, 20 f., 23, 85, 118, 173, 234 Klassifikation 41 Klimawandel V, IX, 79, 101, 153, 156, 163, 169, 202, 243, 250, 256 Klischee/s III, X, 207, 250 – Problematisierung von XI – Verdinglichung ‚der‘ NATO als agentischer Instanz mit Werten und Zielen 217 – Vergegenständlichungen ‚der‘ USA 214 – Vorstellungen vom ‚guten‘ Westen VII – Vorstellungen vom ‚bösen‘ Russland VII Konformismus, siehe auch Nonkonformismus X, 103, 106, 196, 256 Kontextualismus 240 Kooptierung, siehe auch Historischer Materialismus 81, 208, 210 Korrektheit, politische IX, 81 Krieg/e VI, IX, XI, 3, 8, 22, 26, 28, 30, 38 – 40, 43 f., 83, 96, 101, 145, 150, 154, 173, 187, 191, 198, 228, 232, 237 f., 240, 242, 247, 250, 252 – Abwehr VII – als Bündel bloßer Fakten 238 – als netzwerkartige Beziehungen 242 – als ökologische Katastrophe IX – als Stellvertreter 114, 212, 251 – als Wirtschafts 48, 147 f., 151, 164, 225 f. – als Zusammenspiel von Aktanten 238 – an der Peripherie der westlichen Welt 48, 144 – Atom-(Nuklear‐) 185, 196, 205, 251 – Atom-, Gefahr des III, 111, 144 – Atom-, Szenarien 34 – Atom-, taktischer 154 – Beschwörung von -sgefahren 152 – Bewegungs 171 – Bilder und IX – Bürger 30, 48, 150, 225 – Erster Welt vi, 114, 136 f., 138, 144, 180, 197, 224 – gegen den Terror 237 – Gründe für 232 – im Irak ab 2003 135, 151, 215 f., 222, 224, 227, 230, 237, 242, 251 – im Iran 151 – im Jemen 251 – in Afghanistan 224, 227, 251 – in dialektischer Beziehung zu Frieden 40, 41, 43, 48 – in Georgien 151 – in Korea 1950 – 1953 140 – in Libyen 151, 224, 227

– in Syrien 151, 222, 224, 227, 251 – in der Ukraine VI, VIII, 151, 219, 220, 222 – 224, 227, 252 – Jom-Kippur 143 – Kalter 130, 212, 218 – Konzept des 38 – 40 – Krim 222 – Medienberichterstattung über 160 – Methoden der -führung 146 – Partisanen 206 – Peloponnesische 10 – Perser 9 – Ressourcen X – russische -smarine 150 – Stellungs VI, 101, 171 f., 206 – Technisierung des -sgeräts 152 – Vernichtungs VI – verstärkte -sbereitschaft V – Vietnamab 1961 229, 237, 242 – Wahrscheinlichkeit des 34 – zur Aneignung der globalen Energieressourcen V – Zweiter Welt 92, 130, 136, 140, 143, 151 f., 154, 161, 189, 192, 214, 226, 256 Kriegsbegeisterung VI Kriegsgreuel VI Kriegspropaganda 151 Kriegsrhetorik 142 Kriegsursachenforschung 205 Kriegsverbrechen 201 Krise/n, siehe auch Historischer Materialismus VII, X, XI, 150 f., 187, 224 – Abadan 227 – akute 135 – avantgardistisches -ngerede 106 – Begriff der 135 – chilenische Regierungsanno 1973 227 – der Demokratie 93 – der entwicklungspolitischen Institutionen 134 – der Europ. Gemeinschaften anno 1965 133 – der liberalen Weltordnung 228 – der Menschheit 256 – der NATO anno 1966 133 – der Pax Americana 136 – der Politikwissenschaft 93 – der Vereinten Nationen während der 1960er Jahre 134 – der Weltgesellschaft/en 109 – des Gewissens 256 – des IB-Mainstreams 106

Sachregister

– dem Kapitalverwertungsprozess inhärente 115 – epochale 221 – Finanzvon 2007/2008 134 – geistige 256 – gesamtgesellschaftliche 89 – Georgienvon 2008 134 – globale 101, 102, 153 – Griechenlandab 2009 134 – griechische Staatsschuldenanno 2015 227 – intellektuelle 187 – in Venezuela 151 – Klima 134 – Korea 133 – Kuba anno 1961 – 1962 196 – Legitimationsder parlamentarischen Demokratie 62 – Medienberichterstattung über (militärische) 160 – ökologische XI, 109, 112, 152, 244 – ökonomische 166 – Öl-/Energievon 1973/1974 134, 143 – organisches Element vieler 151 – realweltliche -nerscheinungen 117 – soziale XI – Suez 133, 140 – System 152 – Ukraineseit 2014 134, 218, 227 – verengte -ndiagnosen 134 – Vietnam 134 – Weltwirtschafts 86 – westliche Kapitalakkumulation als struktureller Hintergrund für viele 228 Krisenländer 227 Krisenregion/en 49 Krisensituation/en 83 Kritik, siehe auch Historischer Materialismus, siehe auch kritische Theorie, siehe auch Poststrukturalismus X, 45, 103, 105, 107, 110, 116, 123, 132, 171, 242 – abstrakte 139 – als Hermeneutik des Verdachts/Zweifels 238, 240 – als Herrschaftskritik 106 – als Verschwörungstheorie 15, 234 – ‚alte‘/traditionelle 229 f., 233 f., 238 f., 244, 247 f. – am empirischen Theorietest 59 – am Ursprung des Denkens (Fichte) 37 – an den Verhältnissen 51 – an der entsolidarisierten gesellschaftlichen ‚Masseʻ (Bauer) 60 – an der Regierungspolitik 74

273

– an reiner Parteilichkeit (Schelling) 31 – Begriff der 5, 17, 28, 32, 111, 121 – der Vernunft (Kant) 18, 23, 30 – des Erkenntnisvorgangs (Hegel) 31 – disziplinimmanente Form von 2, 4 f. – empirisch fundierte 97, 102 – epistemologisch motivierte 115 – Gebot zur Selbst 25 – Ideologie 101, 104 – Kant‘sches Projekt der 246 – konservative Reaktion auf 15 – konzeptuelle 138 – mancher Sophisten 10, 12, 14 – ‚neue‘ (Postkritik) 229 – 245, 247, 249 – philosophische 193 – poststrukturalistische 172 – 188, 191, 193, 194 – 229 – Praxis der 98 – praxisorientierte 6 – Religionsim antiken Athen 14 – Selbst(Kant) 89 – selbstbewusste 246 – System 155 – wirkliche 74 – Zielsetzung 100 – zivilisierte 233 Kritische IB-Theorie/n, siehe auch Historischer Materialismus, siehe auch Poststrukturalismus 2, 106, 108, 111 – 113, 117, 119, 121 – 123, 126 – ad absurdum 121 – 128 – im eigentlichen Sinn 116 – 121 – im klassischen Sinn 113 – 116 – praxisreflexiv 113, 116 Liberalismus

54 f., 68, 71, 82, 116, 157

Materialismus, siehe auch Historischer Materialismus, siehe auch Postkritik 60, 95, 100 Metaphysik 17 f., 33 f. Nachkriegsdeutschland 92 Nachkriegsordnung 136 Nachkriegszeit 82, 92 NATO V, VI, VIII, 80, 134, 140 f., 145, 149 f., 154 f., 188, 217, 219, 251 – Doppelbeschluss 130, 133 – Operation Unified Protecto 150 – stay behind-Verbände 162 Negation, siehe Dialektik

274

Sachregister

Neogramscianismus, siehe Historischer Materialismus Nihilismus 16, 34, 173 Nonkonformismus, siehe auch Konformismus 180 – 188 Nord Stream 2 151, 226 North Dome Pipeline 150 Nuklearzeitalter 34 Ochsentour 66 Ökologie 112 Ökonomie 49, 55 – 58, 60, 72, 81, 117, 152, 163, 178 – als ‚Basis‘ 174 – als Wissenschaft 56 f., 85, 88 f., 101 f. – der internationalen Beziehungen 136, 142 – der symbolischen Formen 203 – 206 – integrale 135 – internationale 96 – Mainstream 96 – National 86, 88 – politische 85 f., 90, 222, 235 – Primat der 72 – Russlands 149 – transnationale 151, 166 – Trennung von Recht und Politik 101 Ökonomismus IX f., 109 Opposition 74, 97, 103, 153, 156, 159, 161 – 164, 167, 169, 206, 231 Ordnung/en 111, 117, 131 f., 136, 144, 166, 195, 199, 206 f., 222 f., 252 – bürgerliche XI, 60 – 95 – Gleichgewichts 57, 204, 206 – globale 253 – hegemoniale 135, 138, 155 – internationale 59, 143, 165 f., 172, 199, 209 – liberale internationale/Welt 131, 140, 144 f., 147, 187, 222 – 224, 227 f., 252 – demokratische Welt 225 – multipolare Welt 209 – natürliche 183 – Neue Welt 211, 224 – öffentliche (νόμος) 15 f., 29 – regelbasierte internationale VI, 256 – stratifizierte 10 – Welt 63, 132, 136, 155, 166, 206, 209 – weltbürgerliche 34 – Neue Weltwirtschafts V, 129, 131, 133 f. Ordnungsillusion XI, 73 – 94, 256 Ordnungsvorstellung 34

Partei/en IX, 11, 66, 77, 89, 100, 154, 208 – bürgerliche 77 – Gegen 83 – kommunistische 63, 65 – Kriegs 224 – Oppositions 163 – politische 28, 58, 62, 64, 66 f., 73 f., 76, 94, 101, 103, 154, 156 f., 168 f., 208 – Regierungs 74 – Volks 73 – weltanschaulich festgelegte IX Parteieliten 66 Parteienstaat 62 Parteienstreit 16 Parteifunktionäre 74, 80 Parteipolitik 169 Parteispitzen 74 Parteilichkeit 17, 31, 34, 46, 64, 72, 81, 100 Polemik, siehe auch Historischer Materialismus 11, 31 Postkritik 229 – 249 – als Affirmation 229 – 234 – als Dinglichkeit (thing power) 235, 242, 244 – als Netzwerk (assemblage) 235 f., 242, 244, 248 – als neuer Materialismus 232, 234 – 238 – als Quietismus 249 – Betonung der Resilienz 245 – Erkenntnisinteresse 238 – Fokus auf Aktanten 235 – 238, 241 – 243, 245, 247 – Kritiklosigkeit der 245 – 249 – Dinge von Belang (matters of concern) 231, 240 – 242, 244, 246 – 248 – matters of fact 231, 240, 246 – Strategie der Komposition 232, 242 – 245, 248 Poststrukturalismus 32, 106, 121 – 123, 139 f., 245 – als Denkschule 123 – als Kampf um neue Formen von Subjektivität 183 – 188 – als Kritik 172 – 174 – Diskursanalyse 32 – archäologische 203 – 206 – genealogische 215 f. – unkritische 216 – 220 – ethische Motivation 191 – 194, 208 – Fokus auf Macht 175, 182 f. – Fokus auf den ‚Staat‘ 176 – 180 – Fokus auf Subjektivierungsmechanismen 181, 186, 194 – 202

Sachregister

– Frage nach der wissenschaftlichen Verantwortung 189 – 194 – Haltung des 177, 180 f. – Konzept der Disziplinargesellschaft 175 – Kooptierung 208, 210 – Misstrauen gegenüber dem Staat 180 – Relevanz 206 – 210 – Strategien der Kritik 211 – Dekonstruktion 220 – 229 – Dispositivanalyse 212 – 215 – Distanzierung 211 Pragmatismus 26 Praxis III, 2, 16 – akademische 36, 119, 189 – Begriff der 38, 50, 65 – der Folter 43 – der Industrialisierung 88 – gesellschaftliche 12, 16, 65, 88 f., 91, 94 – imperialistische 228 – internationaler Sicherheit 182 – juristische 101, 164 – kollektive auf Ebene der NATO 219 – kritische 98, 100, 104, 108, 232 – Nähe des IB-Mainstreams zur 4, 91, 105, 129, 172, 192 – 194, 199 – 200, 206, 229 – politische III, X, 30, 108, 117, 155, 177, 223 f., 250, 256 – Regierungs X – sozialwissenschaftliche 106 – Theorie und 28, 30, 130, 172, 210, 213 – ultraimperialistische 136, 138 – US-amerikanische 178 – wirtschaftspolitische 55 – wissenschaftliche 4, 20, 35, 189 Praxisrelevanz 30, 179 f. Preußen III, 46, 51, 53 – 55, 70, 87 Produktionsweise 52, 158 – kapitalistische 72, 95, 114, 117, 167, 174, 206 – ressourcenintensive V – westliche V, X Professor/innen 51, 103, 178 – fortschrittsgläubige 55 – Durchschnitts 93 – Nachkriegs 92 – preußische 54 – Parteimitgliedschaft der 92 – Parteinähe der 92 Propaganda VII, VIII, 17, 89, 160 – 162, 171 – anti-russische 219 – der public diplomacy-Programme 196

275

– Israel-feindliche 142 – Kriegs 151 – parteipolitische 101 – Regierungs 216 Qualitätsjournalismus

81, 168

Realität, siehe Wirklichkeit Rechtsstaat 33, 60 – 63, 68 – 75, 77, 87, 89, Relativismus 17, 34, 173, 185, 230 Revolution 171 – Französische 45, 87, 100 – industriell-technische 53, 69 – Russische 176 Rüstungs-(Kriegs)industrie 198 Russland VI, VII, VIII, 80, 149 f., 158, 211, 218 – 220, 223 – 227, 251 Schelling 31 Selbstgerechtigkeit X Sieben Schwestern (Mineralölkonzerne) 143, 224 Skepsis, siehe auch Skeptizismus XI, 5 – 17, 23, 37, 40 f., 48, 123, 190, 230 – als Kritik am Status Quo 14 – als Methode 23, 44 – als Zweifel 9, 10, 23, 41, 44 – gegenüber der sozialen Wirklichkeit 9 – 17 – gegenüber der Wirklichkeit 7 – 9 – gegenüber Ursachen 23 Skeptizismus 13, 17 f., 23, 32, 44 – authentischer 36 – dogmatischer 19, 23 – interner 43 – intuitiver 36 – ‚krankhafter‘ 36 – praktischer 43 – reflektierter 32, 36, 39 Souveränität 122, 146, 166, 177, 185, 195, 205, 221, 252, 254 Subjekt/e 13, 51, 128, 206 f., 221 – angepasstes 182 – erkennendes 25, 31, 37 f., 40, 42, 46 – erkenntnistheoretisches 99 – forschendes 44 – historisches 37 f., 40, 41, 43 – in Relation zu einem Objekt 25, 26, 30 – 39, 45 – kleinbürgerliches 183 – konformes 183 – kritisches 46 – menschliches 13

276

Sachregister

– verallgemeinertes (Kollektiv‐) 247 – vernünftiges 100 Suprematie 138, 165

III, 19, 37, 43, 98,

Theorie 1 f., 3, 30, 46, 57, 59, 110, 121 – als Abstraktion 90 – als Ideologie 80, 83, 87, 89, 194 – als Normallfallbeschreibung 3, 117, 176, 210 – als Vorstellung XIV, 1, 3, 9, 13, 18, 24 f., 27, 32 f., 37 f., 41, 43 f., 47, 87, 93, 116 f., 129, 167, 174, 176 f., 187, 192, 201, 206, 209, 236, 246 – amerikanische 1, 118, 127, 250 – Anwendung 23 – basierend auf Anschauungsform/en XI, 4, 18, 24 – 26, 33, 36, 58, 108, 114, 119, 123, 128, 132, 138, 147, 167, 172, 176, 186, 194, 196 f., 211, 214, 254 – bezogen auf einen Gegenstandsbereich XI, 1, 20 f., 23, 25, 27 f., 32, 39, 40 f., 46, 95, 108, 115 – 121, 139, 176, 178, 187, 200, 205, 209, 232, 238 – Denkfigur/en X, 4, 6, 20, 29, 55, 93, 105, 124, 127, 156, 171, 187, 203, 222, 253 – Erkenntnis 24, 26 – formale 3, 57, 90, 107, 122, 126, 173 – gebunden an Vorstellung/en X, 1, 6, 9, 13, 16, 18, 24, 27, 32 – 37, 41, 47, 65, 87, 111, 116 f., 129, 133, 158, 161, 174, 176 f., 183 f., 187, 195 f., 201 – 203, 208, 242 – Gleichgewichts 57 – Hypothese 20 – Imperialismus 114, 176 – Kanon/isierung 1, 3 f., 119, 121, 123, 127, 184, 206, 211, 215 – Konjunkturzyklen 136 – konservative 195, 210 – Konzept/e 102, 165 – kritische 1, 5, 30, 46, 57, 61, 100, 105 f., 108, 110 f., 113, 116 – 122, 128 f., 234, 245 – liberale 54, 128, 145, 171, 187 f., 215, 222 f., 225, 228, 252 f., 256 – Mainstream 1, 103, 106, 123, 127, 130, 194 – marxistische 110, 113 – 116, 176 – metaphorische Dimension 138 – neo/realistische 1, 115, 127, 130, 153, 171, 177, 180, 188, 208 f., 215, 221 f. – neoliberal institutionalistische 128, 130, 153, 171, 188, 215, 252 f. – Orientierungsrahmen 4

– Parameter X, 4, 131, 209, 235, 246 – politische 28 – postkoloniale 106 – problemlösende 129 – Projektionsnormen 3 f., 20, 24, 117, 197, 214, 254 f. – reine 26, 165 – Reflexionsbestimmungen 38 – Reflexionsobjekte 38 – Reflexionskontext/e 5, 124, 233, 236 – Relevanzbereich 4, 107, 109 – Souveränitäts 190, 192 f. – Sozial 128, 173 – Unklarheit über 2 – Vergegenständlichung 4, 173 – vermittelt durch Kategorie/n 3 f., 23, 31 – 34, 37, 43, 83, 91, 111 f., 119 f., 125, 127, 165, 174, 181, 193, 201 f., 221, 224, 234 – Verschwörungs 15, 80, 100, 234, 245 – Vorhersagen 59, 184 – Vorstellungsraum 4, 61, 254 – Weltsystem 110, 135 – Wirtschafts 54, 57 f. – Wissenschafts 27, 47 – Zeichensystem 4, 222 Ukraine VI–VIII, 149, 178, – als symbolische Form 224 – Krise seit 2014 134, 151, 218, 220, 227 – Krieg seit 2022 222 f., 227, 251 UNO, siehe auch Vereinte Nationen Universität/en V, 53, 83, 94, 190 – ‚beste‘ 168, 171, 177, 181, 189, 199 – Einflussnahme auf 89 f. – preußische 50, 52, 54, – unternehmerische 53 – US-amerikanische 129, 153, 171, 189, 252 – westliche 160 Ursache, siehe Kausalität 3 f., 19 – 23, 27, 38 f., 43, 82, 90, 116, 132, 218, 224, 238 – objektive 239 – strukturelle 113 – unmittelbare 131 – vermeintliche 172 USA, siehe Vereinigte Staaten Vereinigte Staaten VIII, 4, 48, 141, 143. 157, 196 – 201 – als Hegemonialmacht 136 – als military empire 147

Sachregister

– als Ordnungsmacht 142 – als warfare state 180, 197 – 199, 202 – Angriff auf den Irak 80 – außen-/sicherheitspolitisches Freund-Feind-Denken 200, 216 – außenpolitischer Moralismus 218 – forcieren globale enclosure 151 – Führungsrolle 140 – hegemonialer Abstieg 144 – Idealismus 212 – imperialistischer Außen– und Sicherheitspolitikdiskurs 184 – in der NATO 140, 149 – Irakkrieg der 230, 242 – Konflikt mit China 202 – Krieg in Vietnam 241 f. – Militärhilfen an die Ukraine seit 2014 220 – Militärinterventionen 192 – neo/konservative Weltbilder 185 – Öl-/Imperialismus 114, 142, 150, 225 – 227 – Ost-West-Konflikt 211 – 214 – Praxisrelevanz der Wissenschaft 177 – Putschversuche gegen arabische Regierungen 139 – Regierungsnetzwerke 131 – religiöse Rechte 218 – Rüstungsindustrie 49, 198 – Truman-Doktrin 212 – Umweltzerstörung in den 159 – Unilateralismus ab 1992 217 – Wolfowitz-Doktrin 146 Vereinte Nationen 131, 134, 170, 211 – Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates 150 Vernunft 6, 17, 18, 23, 28 – 30, 34, 39, 43, 45 f., 48, 50, 89 – aufgeklärte 51 – Gerichtshof der 25 – Herrschaft der 91 – kritische 44 – Kultur der 37 – weltbürgerliche 29 – wissenschaftliche 27 Verstand 18, 26 f., 29, 31, 40, 45 – Alltagsverstand als ‚gesunder‘ Menschenverstand III, IX f., 99, 124, 255, 256 – diskursiver 36 f., 42 – Sach 54 – Un 194

277

Wahrheit 6 f., 9, 13, 17, 32, 36, 41 – 45, 47 f., 84, 89, 114 – absolute 33, 48 – als begrifflich fundierte Spekulation 8 – als Korrespondenz 27, 47 – begriffliche 43, 48, 50, 94 – des Ganzen 43 – Dogmen als 231 – empirische 36, 47 – formale 193 – historische 41 – internalistische 47 – kontingente 35, 48 – mathematische 11 – objektive 8, 12 f., 47 – paradoxe Suche nach der 181 – realistische 36 – Relativität von 16 f. – Spiele mit der 185 – Veränderlichkeit von 16, 48 – vernünftige 8, 12 – Zweifel an der 44 War Studies-Programme V Weltanschauung, siehe auch Ideologie Weltgesellschaft/en IX, 34, 97, 100, 117, 161, 177, 215, 249, 255, 256 – existenziell bedrohte 256 – kapitalistisch organisierte 164 – moderne 116 – stratifizierte 98 – Systemkrise der 109 – Umgestaltung der 171 – vernünftige 40, 43 – Widersprüche in 108 – Zerstörung zivilisierter 154 Widerstand 45, – als persönliches Projekt der Positionierung 206 – gegen inter-/transnationale Institutionen 106, 109 – gegen konservative politische Theorie als Praxis 210 – gegen Subjektivierungsmechanismen 200 – intellektueller 193, 221, 256 – subversiver 128, 172 – 229 Wirklichkeit XI, 8, 13, 18, 23, 33, 47, 85, 90, 99, 107, 116, 128, 134, 173, 174, 183, 200, 203, 231, 253, 255 – als Begriff 48 – ‚andere‘ 206 – historische 117

278

Sachregister

– kleinräumige 236 – komplexe und sich verändernde 102, 138, 248 – Konstruktionen der 59, 176, 190, 200, 202, 252 – künstliche/kontingente Verfassung der 95 – lebensweltliche 118, 174, 188 – objektive 100, 183, 184 – objektive Existenz der 99 – parteiübergreifende Sichtweise auf 100 – phänomenale 27 – soziale 87, 99, 106, 107, 184 – sozio-ökonomische 54

– Zerrbild der 59 – ‚zweite‘ 253 Wirklichkeitsvorstellung X, 158, 176, 183, 195 f., 202 f., 207 f. Wissenschaft, siehe auch Denken – Disziplinierung 5, 103, 180, 186, 256 – Professionalisierung 91, 180, 256 – Spezialisierung 5, 101, 256 Zwischenkriegszeit

105, 214